Preußen – eine besondere Geschichte: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947 [1 ed.] 9783666352096, 9783525352090


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German Pages [533] Year 2019

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Preußen – eine besondere Geschichte: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947 [1 ed.]
 9783666352096, 9783525352090

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Hartwin Spenkuch

Preußen – eine besondere Geschichte Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947

Hartwin Spenkuch

Preußen – eine ­besondere Geschichte Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947

Vandenhoeck & Ruprecht

Zum Gedenken an das Lebenswerk der während der Entstehungszeit dieses Bandes Dahingegangenen Helmut Berding – Karl Dietrich Bracher – Rüdiger vom Bruch – Helga Grebing – Ernst Hinrichs – Karl Holl – Georg G. Iggers – Stefi Jersch-Wenzel – Johannes Kunisch – M. Rainer Lepsius – Ilja Mieck – Hans Mommsen – Gerhard A. Ritter – Karl Rohe – Reinhard Rürup – Ernst Schulin – Hagen Schulze – Fritz Stern – Klaus Tenfelde – Rudolf v. Thadden – Rudolf Vierhaus – Hans-Ulrich Wehler – Klaus Zernack

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rainer Ehrt, Tafelrunde von Sanssouci – Reverenz an das gleichnamige (kriegszerstörte) Bild von Adolph Menzel und eine brandenburgisch-preußische Variante der zweifelhaften Maxime „Männer machen Geschichte“. Sitzend von rechts im Uhrzeigersinn: König Friedrich Wilhelm I., Josef W. Stalin, Carl Philipp Emanuel Bach, Harry S. Truman, François-Marie Voltaire, Manfred Stolpe, König Friedrich II., Adolph Menzel, Winston Churchill; stehend von rechts: Georg W. v. Knobelsdorff, Karl Friedrich Schinkel, ein Kellner, der Ähnlichkeit mit einem ehemaligen Potsdamer Bürgermeister hat, Gräfin Wilhelmine Lichtenau. Am oberen Rand formatbedingt abgeschnitten: Albert Einstein im Kronleuchter. Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-35209-6

Inhalt

Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Preußen in Forschung und Öffentlichkeit – Buchkonzept, ­Leitfrage, Wertmaßstab I.

Preußen zwischen Ost und West  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Außenpolitik 1648 bis 1933

1. 1618–1740: Kurfürstentum und Status als Auxiliarmacht (19) 2. 1740– 1815: Von der Schwellen- zur Großmacht (21) 3.  1815–1870: Von der ­ eutschland (27) 4.  Analyse: Faktoren Großmacht zur Hegemonie in D für Preußens machtpolitischen Aufstieg (33) 5.  1871–1945: Kaiserreich, Kriegsschuld, Freistaat, ­späte ­Westorientierung (38) II.

Preußens Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Landesausbau, Staatswirtschaft, Industrialisierung, Zoll- und Finanzpolitik

1. Das 18. Jahrhundert: Merkantilismus und Staatswirtschaft (49) 2. 1810– 1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung (59) 3. Staatliche Intervention und politische Ökonomie: Zoll-, Steuer- und Sozialpolitik sowie Regionalpolitik und Osthilfe (71) 4. Kommunale Daseinsvorsorge, Staatsbetriebe im Freistaat und Bilanz preußischer Wirtschaftspolitik (84) III.

Preußens Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Autonomiestreben und Integration in den (eroberten) ­Territorien

1.  Das 17. und 18.  Jahrhundert (87) 2.  Die ab 1815 und ab 1866 neuen Provinzen (91) 3. Zweierlei Osten: Ostpreußen und Oberschlesien (105) IV.

Preußens Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Bauern, Adel, Bürger – Arbeiterbewegung – Militär – ­Minderheiten

1.  Bauern und Grundherren (109) 2.  Städtisches Bürgertum im 18. und frühen 19.  Jahrhundert (112) 3.  Adel und Bürgertum 1871–1933 (118) 4.  Preußens Arbeiterbewegung – Die Sozialdemokratie 1863–1933 (127) 5.  Preußens Militär (141) 6.  Juden als Minderheit zwischen Verfolgung und Integration (158) 7.  Polen und slawophone Gruppen als ethnische ­Minderheiten (170)

6  Inhalt V.

Preußens politisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Monarchischer Absolutismus und innere Staatsbildung – Reform­ phasen und Reformblockaden – Verfassungs­entwicklung und ­politische Kultur 1848 bis 1914 – ­demokratischer Freistaat

1. Stände, Absolutismus, innere Staatsbildung (185) 2. Reformzeit, Reaktionsperiode, Provinziallandtage, ­Vormärz (193) 3.  Revolution 1848/49, Konstitutionalismus wider Willen, Verfassungskonflikt (202) 4.  Preußen als „konservativer Treibanker“ im Kaiserreich (214) 5. Preußen als demokratischer Freistaat 1918–1932/33 (236) VI.

Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Bildende Künste, Musik, Literatur, Architektur – Denk­mäler und politische Feste – Bildung und Wissenschaft – Protestantismus und Katholizismus

1. Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert (253) 2.  Aufbrüche ins 19.  Jahrhundert: Klassizismus, Spree-Athen, Zensur (263) 3. Musik und Theater (271) 4. Literatur (274) 5. Malerei (282) 6. Berlin als moderne Kulturmetropole und Kulturhauptstädte in den Provinzen (291) 7.  Moderne Architektur (297) 8.  Denkmäler und Feiern in der Monarchie bis zum ­Jubeljahr 1913 (302) 9. Denkmäler und Feiern im Freistaat Preußen (318) 10.  Das wahre Mirakel Preußens: Bildung und Wissenschaft ab  1810 (323) 11.  Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933 (342) VII. Preußen und die Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Historiographie und Erinnerungsgeschichte im Wandel – internationale Verflechtung und transnationale Bezüge als (künftiges) Forschungsfeld

1.  Grundzüge der Historiographie im 19. und 20.  Jahrhundert (371) 2. Preußen-Kritiker, Preußen-Apologeten und die ­ausländische Sicht (386) 3. Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945 (399) 4. Internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens (406) Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520

Einleitung Preußen in Forschung und Öffentlichkeit – Buchkonzept, ­Leitfrage, Wertmaßstab

Zwei Jahrhunderte prägte Preußen die Geschichte in Nordostdeutschland, agierte im Reich und war Mitspieler in Europa. Diese Rolle, die Erträge der jüngeren Forschung und die phasenweise beachtliche mediale Präsenz rechtfertigen eine neue, konzise Behandlung, die als Darstellung mit spezifischer Leitfrage anhand zentraler Debatten der wissenschaftlichen Diskussion konzipiert ist. Für die historische Forschung bot und bietet die Geschichte Preußens von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert einen lohnenden Untersuchungsgegenstand für säkulare Prozesse und zentrale Koordinaten: Nach der strukturellen Lage zwischen Ost und West, nach den Triebkräften und den Stationen von innerer Staatsbildung und Regionalismus, nach dem Militärsystem und den Folgen staatlicher Wirtschaftsintervention, nach der Wirkungsmacht von Elitengruppen und dem Umgang mit Minderheiten, nach der Bedeutung von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Kirchen, nach Demokratisierung und Nationsbildung. Seit den 1990er Jahren treten vermehrt kulturalistische und postnationale Fragestellungen hervor: Konstruktion und Dekonstruktion von Geschichtsmythen und Erinnerungskultur, sozialhistorische Militärgeschichte, mikrohistorische Rekonstruktion von Lebenswelten und Geschlechtergeschichte, internationale Verflechtung und transnationaler Transfer in allen Bereichen von Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Kultur- und Bildungspolitik. Das ist gut so, denn die Preußen-Historie muß sich neueren wissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden weit deutlicher als bisher öffnen, um im 21. Jahrhundert Interesse unter Jüngeren zu finden. Medial ist Preußen in periodischen Abständen sehr präsent. Es gab die sog. Preußen-Welle anläßlich der Berliner Preußen-Ausstellung 1981, das PreußenJahr 2001 und die Diskussion über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses; vielerlei Berichterstattung begleitete die Publikation von Christopher Clarks preisgekröntem Werk 2007; 2012 folgten bei Friedrichs II. 300. Geburtstag ein Festakt mit Bundespräsident und Symposien. Anlaßbezogenes Geo-Sonderheft, Spiegel-Buch und Stern-Extra erreichten auflagenstark breite Leserkreise. Das mediale Urteil ist seit der Preußen-Ausstellung 1981 sowohl wegen des veränderten Zeitklimas wie im Gefolge neuerer Forschungsarbeiten deutlich positiver gestimmt. Berlins damaligem Bürgermeister Eberhard Diepgen geriet schon die Rede beim Festakt zum 300. Jahrestag der Königskrönung am 18. Januar 2001 zu einer Eloge auf Preußen: Toleranz und Modernität, Reformen und Rechtsstaat,

8  Einleitung Sozialpolitik und Bildungsförderung seien so vorbildlich gewesen, daß man „einiges von Preußen lernen“ könne. Preußen-Vorstellungen bestehen heute weithin aus gefälligen Bildern: Klassizistische Bauten, Menzels Gemälde und Fontanes Romane, Schlösser in BerlinPotsdam und anmutige Kunstwerke wie die Prinzessinnen-Gruppe Schadows, Lobpreis der preußischen Tugenden von Bescheidenheit, Redlichkeit, Toleranz und Opferbereitschaft, natürlich der Flöte spielende „Philosoph von Sanssouci“ Friedrich II. Prächtige Ausstellungen und opulente Kataloge der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie der Stiftung Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg transportieren meist glänzende Inszenierungen. Als blinder Verklärer Preußens betätigte sich jahrelang der 2016 verstorbene Berliner Ex-Bankier Ehrhardt Bödecker mit Publikationen und großen Zeitungsanzeigen über die ehedem vermeintlich geringe Arbeitslosigkeit (Juli 2005), Preußens „Wurzeln des Erfolgs“ in der Marktwirtschaft (November 2010) oder Sparsamkeit à la Friedrich II. (September 2011). Allerdings findet sich solche Glorifizierung Preußens regelmäßig politisch rechts der Mitte angesiedelt, deutlicher im (protestantischen) Nord(ost)als im (katholischen) Süd- und Westdeutschland. Viele Besucher frequentieren preußische wie sonstige Erinnerungsorte bloß aus Schaulust und wegen der Aura prunkender Festlichkeit, ohne damit aktuelle politische Ziele zu verbinden. Den negativen Pol bilden deftige Demonstrationsaufrufe linker Gruppierungen unter dem Motto „Preußen bleibt Scheiße“ wie 2012 und 2017 in Potsdam.1 Die Preußen-Forschung litt lange unter politischen Rahmenbedingungen, denn nach 1945 gab es keinen fördernden Staat wie in Bayern, Württemberg oder später Sachsen, zentrale Archive waren in der DDR schwer zugänglich und in den vormals preußischen Gebieten Westdeutschlands betrieb man nun rheinische, westfälische, niedersächsische oder hessische Landesgeschichte. Die Forschung erfolgte jahrzehntelang im Rahmen der Historischen Kommission zu Berlin, deren Veröffentlichungen die umfangreichste Reihe von Borussica beinhalten, der Preußischen Historischen Kommission am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem und der Arbeitsgemeinschaft für preußische Geschichte sowie am Marburger Herder-Institut. Trotzdem erschien das ehemals 1 Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2007. Geo-Epoche Heft Preußen 1701–1871, Hamburg 2006; Stephan Burgdorff u. a. (Hg.), Preußen. Die unbekannte Großmacht, München 2008; Stern-Extra, Preußen, Die eigenwillige Supermacht, Hamburg 2012. B. Sösemann/G. Vogt-Spira (Hg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, 2 Bde., Stuttgart 2012; Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (Hg.), Friederisiko. Katalogbuch zur Ausstellung in Potsdam sowie Essayband, München 2012. Eberhard Diepgen, Rede zum 300.  Jahrestag der Krönung des ersten preußischen Königs am 18.  Januar 2001, URL: Preussen-2001.de/de/das_projekt/festreden2.html. Ehrhardt Bödecker, Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, München 2004; Ders., Preußen, eine humane Bilanz, München 2010.

Einleitung 

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preußische Ostdeutschland dem Historiker Hartmut Boockmann 1989 als weit unterbelichtet im Vergleich zur „rheinisch-donauländischen Heimatkunde“, speziell im Schulunterricht. Nach 1990 wurden aber u. a. das Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte in Oldenburg und die Bismarck-Stiftung Friedrichsruh gegründet. Einrichtungen ín Würzburg, Stuttgart und Lüneburg nahmen die Provinzen Schlesien bzw. Preußen in den Fokus; in Leipzig entstand das interdisziplinäre Zentrum Ostmitteleuropa; in Potsdam wurden konzentriert europäische Aufklärung, ostelbische Gutsherrschaften sowie preußisch-deutsche Militärgeschichte untersucht; die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften etablierte Vorhaben zu Preußen. Seit Jahrzehnten widmeten sich polnische Historiker vornehmlich in Poznan, Torun, Olsztyn oder Wroclaw der Geschichte der Polen zugeschlagenen preußischen Ostprovinzen und legten den polnischen Anteil betonende regionalhistorische Synthesen vor. In den 1990er Jahren erschienen Arbeiten zu Preußens Verwaltung, Adel oder Kulturgeschichte in deutlich größerer Zahl, zumal wenn man Landes- bzw. Stadt-Geschichten oder Biographien preußischer Persönlichkeiten aller Jahrhunderte einbezieht, die den expliziten Bezug auf Preußen mieden. Aus den Publikationen des Musters „Preußen und …“ fügt sich aber dem Historiker Ewald Frie zufolge noch kein Gesamtbild.2 Meinungsdifferenzen kennzeichneten die Wissenschaft auch im 21. Jahrhundert. 2002 beklagte der Berliner Historiker Bernd Sösemann einen „reflexartig hervorbrechenden Antiborussianismus der Gegenwart“, der die unterschied­ lichen Epochen Preußens vorschnell auf den Wilhelminismus reduziere. Hingegen befürchtete Hans-Ulrich Wehler in Bielefeld eine „neurotische Preußenrenaissance“, die als politische Nekrophilie zu werten sei. Dieter Langewiesche in Tübingen wandte sich gegen die vom Land Berlin gewünschte Erklärung des 18. März 1848 zum nationalen Gedenktag, denn weder tauge dieses rein preußische Datum als Gedenktag für ein föderatives Deutschland noch sei Preußen zum Geburtsort der Demokratie in Deutschland zu stilisieren. Aus katholisch-kölnischer Sicht begrüßte Rudolf Lill das Verschwinden Preußens; dadurch erst habe „ein nach Westen ausgerichteter deutscher Bundes- und Bürgerstaat“ entstehen können. Denn der Beamten- und Militärstaat Preußen habe seit Friedrich II. die „Gleichgewichte in Mitteleuropa unter Opferung sehr vieler Menschen gewalt-

2 Die Rahmenbedingungen skizziert Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-preußische Geschichte nach der deutschen Einheit, in: W. Buchholz (Hg.), Landesgeschichte in Deutschland, Paderborn 1998, S. 179–212. Hartmut Boockmann, Deutsche Geschichte ist mehr als rhein-donauländische Heimatkunde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.5.1989. Ewald Frie, Rezension J. Luh u. a. (Hg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, in: Historische Literatur, 2,1 (2004), S. 379 f. http://fuckofffritz.blogsport.de

10  Einleitung sam zerstört“ und das stets plurale Deutschland mit eminenten Kulturzentren von Karlsruhe bis Dresden und anderen mehr hegemonial beherrscht.3 Diese leicht vermehrbaren Äußerungen zeigen an, daß beim Thema Preussen lange politische Kontroversen und Volkspädagogik mitschwangen – um schätzenswerte bzw. verhängnisvolle politische Traditionen, um langfristige Ursachen des Nationalsozialismus, um Selbstbild und Identität der Deutschen, um außenpolitische Maximen und Erinnerungspolitik der Bundesrepublik. Die Diskussion spiegelte Positionskämpfe in der Geschichtswissenschaft nach 1945, die deutsch-deutsche Konkurrenz bis 1989 und war untergründig nicht zuletzt vom politischen Standort der Betrachter beeinflußt. In den letzten Jahren nahmen Leidenschaft und Eifer im Zuge von Entideologisierung, Pluralisierung der Zugänge und Europäisierung, ab; Preußen erscheint kaum mehr als „Geschichte, die noch raucht“, sondern wird in vielen Facetten betrachtet, häufig geradezu versöhnlich. Die preußenfreundliche, sog. borussische Sichtweise bis 1918/33 rechtfertigte Preußen mit Verweis auf die harten Notwendigkeiten von Machtpolitik in Europa. Schon nach 1918 übten Preußen-Historiker auch vorsichtige Kritik an Einzelaspekten, aber wählten metaphorische Formulierungen, um das positive Gesamtbild zu retten. Die neueste Forschung bedient sich des innerdeutschen oder internationalen Vergleichs und gelangt dabei nicht selten zu einem milderen Urteil. Vergleiche sind aber eine heikle, teils autorenabhängige Sache. Vor allem: Selbst neue Studien entwerten nicht die Evidenz älterer, kritischer Forschung etwa bezüglich Militär oder Staatsmacht, wie noch zu zeigen sein wird.4 Wie definiert man nun preußische Geschichte territorial und zeitlich? Räumlich ist das in verschiedenen Zeiten höchst unterschiedliche Staatsgebiet zu berücksichtigen, also um 1600 Brandenburg-Preußen, um 1900 die große Flächenausdehnung zwischen Aachen und Memel, nicht dagegen das selbständige Kurköln um 1700 oder die Reichsstadt Frankfurt/M. um 1800. Wann begann, wann endete preußische Geschichte? Das Kurfürstentum Brandenburg wie Ostpreußen als Land des Deutschen Ordens reichten ins Mittelalter zurück. Ihre gemeinsame 3 Bernd Sösemann, Borussica rediviva? Ein kritischer Rückblick auf das „Preußenjahr“, in: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 2002, Berlin 2003, S.  187– 220, S. 199. Hans-Ulrich Wehler, Artikel „Preußen vergiftet uns“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.2.2002. Albrecht Funk, Artikel „Aber bitte nicht Preußen …“, in: Tagesspiegel (Berlin) 6.7.2008. Rudolf Lill, Leserbrief „Preußen, ein Staat der Beamten und Militärs“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.2.2012. 4 Nicolas Berg, Preußen – ein lieu de mémoire der deutschen Geschichtsschreibung zwischen Weimar und Bonn, in: F. Hadler/M. Mesenhöller (Hg.), Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa – Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, Leipzig 2007, S. 171–195, 178 f. Eine Anthologie von 55 zentralen, auch publizistischen Quellenstücken zum Preußen-Diskurs nebst konziser Einleitung jetzt bei Hans-Jürgen Bömelburg/Andreas Lawaty (Hg.), Preußen. Deutsche Debatten 18. bis 21. Jahrhundert, Stuttgart 2018.

Einleitung 

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Geschichte begann mit der Personalunion unter den Hohenzollern ab 1618. Mit dem Erwerb von Westgebieten 1609/14 entstand die Ost-West-Lage und etwas später begann rudimentär die Formierung frühmoderner Staatlichkeit. Bereits der Historiker Otto Hintze setzte den Beginn des Gesamtstaates BrandenburgPreußen auf die Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640–1688) an. Der Zeitabschnitt bis 1871 kann nicht fraglich sein. Aber mit der Reichsgründung habe das „eigentliche“ Preußen geendet, argumentieren seit Hans-Joachim ­Schoeps und Sebastian Haffner manche Autoren; es folge nurmehr „Nachgeschichte“. Dieser Ansicht liegt eine stark idealisierte, statische Vorstellung vom aufgeklärten Musterstaat des 18. Jahrhunderts zugrunde, die spätere Wandlungen einfach übersieht oder als Verformung einer idealen Essenz abtut. Deshalb forderte Otto Büsch schon 1981 eine analytische Betrachtungsweise, die weder einen überzeitlichen „Staatsgedanken“ als Verbindungselement behauptet, noch die großen Transformationen Preußens zwischen dem Kurfürstentum des 17. Jahrhunderts und dem republikanischen Freistaat ab 1919 vernachlässigt. Im Kaiserreich war seine Prägewirkung immens: Königlich-preußische Institutionen mutierten zu kaiserlich-deutschen, der deutsche Nationalstaat wurde in Berlin von gebürtigen Preußen geführt. Preußens Staatlichkeit, Militär, Politikstile und Mentalitäten strahlten auf das ganze Reich aus, was Zeitgenossen vielfach registrierten. Noch der Freistaat Preußen bildete ein (reduziertes) Schwergewicht im Rahmen der Republik von Weimar. Bis 1932/33 blieben Preußens Institutionen, Ost-West-Strukturen und Eliten, Gesellschaftsvorstellungen und Mythen wirksam erhalten. Preußen war spätestens ab 1815 wichtigster reichsdeutscher Einzelstaat, freilich vor wie nach 1871 nicht alles – ohne Preußen jedoch wäre vieles anders verlaufen. Deshalb muß deutsche Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte Preußens als Einflußfaktor bis 1932/33 betrachten; seine Verschränkung mit der Reichsentwicklung ab 1866 hebt es über bloße Landesgeschichte weit hinaus. Transnationale Bezüge und die Erinnerungsgeschichte – nicht nur im Namen von Fußballvereinen wie Borussia Dortmund oder Preußen Münster – reichen bis heute.5

5 Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Frankfurt/M. u. a. 1975, S. 275; Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, Hamburg 1980, S. 336 f. Anfangs- und Enddaten diskutieren: Rudolf v. Thadden, Fragen an Preußen, München 1981, S. 13–24; Karl Dietrich Bracher, Das Ende Preußens, in: Karl Dietrich Erdmann u. a., Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, Stuttgart 1985, S.  281–307, 283  f., 301  f. Jürgen Kocka, Preußen und Deutschland – ein Spannungsverhältnis, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 58 (2007), S. 186–194; Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3, hg. v. W. Neugebauer, Berlin 2001, S.  149–311, S.  309  f. Aspekte des Preußenbildes und ihre Rezeption nach Otto Büsch (Hg.), Das Preußenbild in der Geschichte, Berlin 1981, S. 3–14. Monika Wienfort, Geschichte Preußens, 2. Aufl., München 2015, S. 83. Thomas Raithel, Preußen im Fußball. Borussische Vereinsgründungen im Deutschen Kaiserreich, in: K. Hildebrand u. a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis, München 2008, S. 99–115.

12  Einleitung Inhaltlich geht diese Definition über die landläufig bestehende (engere) Vorstellung hinaus, Preußen-Forschung bearbeite „typisch“ preußische Themen wie Staat, Dynastie oder Militär unter der Überschrift Preußen, bediene sich dabei recht traditioneller Methoden bzw. Fragestellungen und beabsichtige tendenziell eine Ehrenrettung des untergegangenen Staates. Betrieben Gelehrte wie Gustav Schmoller, Otto Hintze, Friedrich Meinecke und ihre Schüler bis in die 1920er Jahre vergleichsweise exzellente Forschung, so wirkten die Ansätze und Werthaltungen vieler Preußen-Historiker nach 1945 (Gerhard Ritter, Hans-Joachim Schoeps, Walther Hubatsch, Oswald Hauser, Gerd Heinrich) traditionalistisch. Als Gegenstand diskreditiert, in den Methoden antiquiert, politisch häufig nationalkonservativ – aufgrund all dessen besaß Preußen-Historie in den Nachkriegsjahrzehnten auch selbstverschuldet ein „uncooles“ Image (B. Sösemann) und wurde als Etikett gemieden. Nicht grundlos konstatierte Paul Nolte noch 1996, die Preußen-Historiographie habe „die inhaltlichen, paradigmatischen und theoretischen Neuerungen der allgemeinen Geschichte nicht oder nur unzureichend nachvollzogen“ und verharre „vor einer Innovationsschwelle, die es zu überwinden gilt“. Seitdem sind jedoch – befördert durch die Rückverlagerung der zentralstaatlichen Quellenbestände in das Geheime Staatsarchiv Berlin-Dahlem 1993 und den leichten Zugang zu Regionalarchiven von Koblenz bis Magdeburg, Potsdam, Olsztyn und Wroclaw – vermehrt mancherlei Themen zu mindestens zeitweise preußischen Territorien innovativ bearbeitet worden. Darüber hinaus gab und gibt es „versteckte“ Preußen-Forschung in den Disziplinen Kunst- oder Religionsgeschichte, Rechtswissenschaft oder Germanistik, die beachtlich ist. Diese Kennzeichnung gilt zudem für zahlreiche Publikationen unter dem Rubrum deutsche Geschichte, die gutenteils Preußen als Gegenstand haben, darunter in den 1970er bis 1990er Jahren auch Werke der politischen Sozialgeschichte, die in Bielefeld entstanden.6 Angesichts begrenzten Druckraums kann dieser Band weder detaillierte Gesamtdarstellung noch voll umfassender Forschungsbericht sein; er will sich weder im Nachzeichnen der Historiographie erschöpfen noch einen kulturalistischen Essay zum Thema Preußen als Erinnerungsort bieten oder gar von dramatischen 6 Bernd Sösemann, Borussica rediviva?, S.  190. Paul Nolte, Preußische Reformen und preußische Geschichte. Kritik und Perspektiven der Forschung, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 6 (1996), S.83–95. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001. Hans-Georg Herrlitz u. a., Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, 5. Aufl., Weinheim/Münche 2009, S. 13. Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Margaret L. Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. Oliver Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890–1914, Paderborn 2007.

Einleitung 

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Episoden und berühmten Männern amüsant erzählen – wie Christopher Clarks Erfolg zeigt, im breiten Publikum überaus populär.7 Das Buchkonzept folgt vielmehr einem spezifischen eigenen Ansatz: Eine an Leitfragen orientierte Darstellung wird mit der Erörterung von Forschungsansätzen verbunden. Einer Skizze der wesentlichen Abläufe und unabdingbaren Fakten folgt also jeweils die kritische Diskussion der Ergebnisse neuerer, fachwissenschaftlicher Arbeiten. Dabei geht es stets um ursächliche Faktoren und Strukturentwicklungen, die Hauptargumente bei zentralen jüngeren Kontroversen zwischen Fachhistorikern und um den Wandel sowie auch die Überzeugungskraft von Interpretationslinien. Dies bedingt textliche Verdichtung in der Darstellung und Reduktion von Komplexität ohne Vereinfachung in der Analyse. Bereits im Plan für ein letztlich nicht zustande gekommenes PreußenForschungsinstitut wurden 1995 spezifische Themenfelder zur genaueren Erforschung empfohlen: Preußen in der Sicht von außen und transnationale Beziehungsgeschichte, Minderheitenpolitik und sozialgeschichtlich ausgerichtete Militärgeschichte, quellenfundierte Bildungsgeschichte sowie Preußen im 20. Jahrhundert. Hans-Ulrich Wehler benannte 1981 bzw. 2007 die Themenfelder, die in Darstellungen zu kurz kommen: Jüngere Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte der Schichten, die Innenpolitik ab 1848 sowie Wissenschaftsund Kulturpolitik in Kaiserreich und Demokratie. Wehler mahnte dabei eine „stringente Ursachenanalyse“ und den „expliziten Vergleich der Vorzüge und Defizite Preussens“ an. Dies wird hier versucht. Der subtilen Erlösungsbotschaft für untergründige Schuldkomplexe, die Christopher Clarks zwei deutsche Publikumserfolge wesentlich erklärt, wird hier mit kritischer Analyse und expliziten Wertmaßstäben widersprochen.8 7 Zur Historiographie vgl. vor allem: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980. Dirk Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte, Königstein/Ts. 1980. Hellmut Seier, Region, Modernisierung und Deutschlandpolitik. Die „Preußenwelle“ in landesgeschichtlicher Sicht, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 33 (1983), S. 347–401. Barbara Vogel, Bemerkungen zur Aktualität der preußischen Geschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 25 (1986), S. 467–507. Ältere Titel in: Otto Büsch/ Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne preußische Geschichte 1648–1947, 3 Bde., Berlin 1981. Weitgespannt, aber in Definitionen, Interpretationen und Wertungen anfechtbar: Wolfgang Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018. 8 Empfehlungen der Gründungskommission zu Forschungsaufgaben – „Forschungsinstitut für die Geschichte Preußens“ in: Informationen der Historischen Kommission zu Berlin, H. 20, Mai/Juni 1995, S. 9–16. Hans-Ulrich Wehler, Preußen ist wieder chic. Der Obrigkeitsstaat im Goldrähmchen, in: Ders., Preußen ist wieder chic, Frankfurt/Main 1983, S. 11–18, und Ders., Aufstieg und Niedergang der Großmacht Preußen [3.5.2007], in: Ders., Land ohne Unterschichten? München 2010, S. 177–180, 179 f. Clark formulierte seine Wertungen im Nachgang klarer als im Buch. Er propagierte dabei, Junker seien „vielfach geplagte Arbeitgeber“ gewesen, weit entfernt vom „Spottbild“ süddeut-

14  Einleitung Unter welche zentrale Leitfrage läßt sich angesichts dieses Konzepts heute ein Band zur Geschichte Preußens stellen? Altbekannte Muster wie das Janus-Gesicht Preußens oder Kontinuität und Wandel sind relativ inhaltsleer; weder die außenpolitische Expansion vom Territorien-Konglomerat (composite state) zur ostmitteleuropäischen Großmacht und zum Hegemon im Reich noch ökonomisches Wachstum, weder die nie gelungene Nationswerdung noch die Gesellschaft als diffuser Begriff scheinen für Preußen passend. Zugleich ist die Realhistorie nicht adäquat durch historiographische oder sektoral-kulturalistische Betrachtung zu ersetzen. Als Leitfrage soll daher das – im Grundsatz gemeineuropäische – Phänomen der Staatsbildung dienen. Dabei geht es nicht um Wiederholung der Stereotypen von Preußens „idealer Staatsidee“, Fixierung auf Monarchen oder verengte Verwaltungsgeschichte. Der Begriff Staatsbildung soll vielmehr komplexe Felder wie Territorialexpansion und Herrschaftsausübung, Bürokratieaufbau und Militärentwicklung, Entstehung von Steuer-, Rechts- und Interventionsstaat bündeln und heuristisches Instrument sein, ohne jeweils teleologische Alternativlosigkeit zu behaupten.9 Es geht dabei über die formale Organisation hinaus um das wirtschaftliche Fundament, um Regionalismen als Konkurrenz zu zentralstaatlicher Formung, um die Wandlungen des politischen Systems und der Bürgerpartizipation, um Eliten, Frauenrollen und Minderheiten, um den sehr wichtigen Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturbereich als Arenen relativer Freiheit – kurz, um all jene säkularen Prozesse, die zwar teils unter oder jenseits der Staatsebene abliefen, aber sich gerade in Preußen stetig in Wechselwirkung mit ihr vollzogen. In diesem Verständnis lassen sich die bekannten Hauptachsen Max Webers: Wirtschaft, Gesellschaft, politische Herrschaft und Kultur im Rahmen einer breiten Leitkategorie Staat(sbildung) fassen. Diesem Modell sind Autor und Band verpflichtet – das Gelingen bewerten die Leser. Entsprechend der aktuellen Forschungsagenda werden dabei transnationale Dimensionen der preußischen Geschichte von den ostmitteleuropäischen Beziehungen über Migrationen bis zu (post-)kolonialen Bezügen einbezogen. Preußen war nicht Deutschland, aber beeinflußte viele Entwicklungen in erheblichem scher Karikaturen, ihren Bauern ging es „auch nicht so schlecht“; die durch „stilisierte Kontrasteffekte“ erzeugte negative „Meisterzählung der preußischen Geschichte“ müsse nun „weniger scharf gezeichnet“ und die Analyse von Herrschaftsverhältnissen, sozialer Ungleichheit und Anti-Preußen-Haltungen durch zeitgemäßere „Fragen zum Glauben (…), zur Bildung, zur Berufsethik oder zur Identität“ ersetzt werden; Christopher Clark, Preußenbilder im Wandel, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S.  307–321, S. 313, 320 f. Clarks Botschaft lt. Andreas Wirsching, Schlafwandler und Selbstmitleid, in: Süddeutsche Zeitung 27.7.2014. 9 Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“?, in: R. Asch/ D. Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß, Köln 2005, S. 429–438, 437 f. Staatsbildung als zentrales Kennzeichen Preußens betont bereits Peter Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, Berlin 1983, S. 7 und 495.

Einleitung 

15

Umfang. Deshalb wird – platzbedingt knapp gehalten – möglichst ein regional, binnendeutsch und europäisch vergleichender Blickwinkel versucht. In den folgenden sieben Kapiteln geht es somit um: 1. Preußen zwischen Ost und West: Außenpolitik 1648 bis 1933; 2. Preußens Wirtschaft: Landesausbau, merkantilistische Staatswirtschaft, Industrialisierung mit den Leitsektoren Montanbereich und Eisenbahnbau; staatliche Zoll- und Finanzpolitik; 3. Preußens Regionen: Integration und provinziales Autonomiestreben in den erworbenen oder eroberten Territorien vom 18. zum 20. Jahrhundert; 4. Preußens Gesellschaft: Bauern, Adel, Bürgertum; Arbeiterbewegung; Militär und gesellschaftliche Militarisierung; die Minderheiten Juden, Polen, slawophone Gruppen; 5. Preußens politisches System vom monarchischen Absolutismus zum demokratischen Freistaat: Innere Staatsbildung durch Dynastie und Beamtenschaft; Reformphasen und Reformblockaden; Verfassungsentwicklung und politische Kultur; der Freistaat ab 1919; 6. Staatskultur, Kulturstaat und gesellschaftliche Kulturen in Preußen vom Mo­ narchen-Hof zur großstädtischen Moderne: Bildende Künste, Musik, Literatur, Architektur; Denkmäler und politische Feste; Bildung und Wissenschaft; Protestantismus und Katholizismus; 7. Preußen und die Welt: Historiographie und Erinnerungsgeschichte im Wandel; internationale Verflechtung und transnationale Bezüge als (künftiges) Forschungsfeld. Schließlich sei der Standpunkt des Verfassers explizit gemacht. Christopher Clark will in seinem preisgekrönten Buch Preußens Geschichte weder beklagen noch feiern. Dieser Grundriß ist kritischer gestimmt und will analytisch erklären sowie, wo nötig, Euphemismen oder Halbwahrheiten, die selbst bei Clark nicht ganz fehlen, zurechtrücken. Entgegen den im breiten Publikum geläufigen Erwartungshaltungen heißt die Aufgabe von Wissenschaft definitiv nicht Affirmation von Erfolgsgeschichten oder Herstellung von Identität(en) und Harmonisierung; Andreas Wirsching hat jüngst mit Recht darauf beharrt. Nach Ernst Schulin geht es in der Geschichtswissenschaft vielmehr um Traditionskritik und der quellenfundierte Rekonstruktionsversuch ist dabei die Methode. Realhistorisch verankerte Traditionskritik kann durchaus zur höheren Schätzung bestimmter Aspekte oder Abschnitte der Vergangenheit führen. Mit vorgeblich wertfreier Darstellung „wie es eigentlich gewesen“ im Sinne Leopold von Rankes, also historistischem Verstehen, und Konzentration auf die Sieger gerät eine Darstellung leicht zur Apologie der Realhistorie, wie der Historiker Thomas Nipperdey bereits 1979 anmerkte. Dabei finden sich häufig die Farben schwarz oder weiß nicht klar geschieden, jedoch ganz unterschiedliche Grautöne. Solche Abstufungen ergeben markante Unterschiede zwischen den realhistorisch Siegreichen und Herrschenden, aber

16  Einleitung letztlichen Verderbern Preußen-Deutschlands und Oppositionellen bzw. Unterlegenen, indes bestimmt keine harmonisierende Synthese. Gegensätzlichkeit und Konflikte kennzeichneten Preußen über lange Perioden. Die Aufklärer und die Reformer ab 1807, die 1848er Demokraten und die Sozialdemokratie, regionale oder konfessionelle Minderheiten und moderne Kunstbewegungen, alle diese hochachtbaren anderen Preußen stritten mit den jeweiligen Beharrungskräften in Staatsverwaltung, Militär und etablierten Eliten. Konflikte in früheren Zeiten sind generell weder ex post zu harmonisieren noch mit geläufigen Argumenten wie „unabänderlichen Zeitumständen“ oder „gebotener Zurückhaltung“ bei Nachgeborenen zu rechtfertigen. Gerade zeitgenössische Preußen-Kritiker des In- und Auslands zeigen nicht genutzte Handlungsspielräume und denkbare andere Wege auf. Ihre alternativen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen bilden auch einen Maßstab zur keineswegs anachronistischen, sondern historisch adäquaten Beurteilung der Vergangenheit, die im Sinne Nipperdeys ein Objektivitätspostulat ernstnimmt. Dabei mahnt Carl Hinrichs’ Satz: „Das Emporkommen des preußischen Staates ist mit einer Unsumme von Opfern an menschlichem Glück erkauft worden, und um diese Opfer sind die damaligen Generationen nicht gefragt“ worden.10 Dieser Befund mag für Staatsbildungen häufiger zutreffen, aber kennzeichnet Preußen gleichwohl auch im Vergleich noch deutlich. In der historischen Wissenschaft geht es um empirisch belegbare Wahrheit, aber auch um rückblickende Gerechtigkeit und vor allem die Menschen.

10 Clark, Preußen, S.  13. Andreas Wirsching, Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft? Zur Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft heute, in: www.zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/von-der-luegenpresse-zur-luegenwissenschaft, Teil II, IV. Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 16 f. Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992, S.  82–86. Thomas Nipperdey, Kann Geschichte objektiv sein? [1979] in: Ders., Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, hg. von Paul Nolte, München 2013, S. 62–83, S. 71 f. Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem, Berlin 1964, S. 56 (Zitat).

I.

Preußen zwischen Ost und West Außenpolitik 1648 bis 1933

Preußen erstreckte sich seit dem frühen 17. Jahrhundert zwischen den Niederlanden und Polen bzw. Rußland auf einer West-Ost-Achse von über 1000  km. Das seit 1415 von den Hohenzollern regierte Kurfürstentum Brandenburg mit Berlin bildete das Zentrum, das seit 1618 in Personalunion regierte Herzogtum Ostpreußen den östlichen Pfeiler, ab 1609 ererbte Gebiete um Kleve, Bielefeld (Grafschaft Ravensberg) und zwischen Hagen und Hamm (Grafschaft Mark) die westlichen Ausläufer. Weitere Territorialerwerbungen seit dem Westfälischen Frieden 1648 wie Pommern und Magdeburg-Halberstadt vergrößerten den mittleren Block, während im Westen kleinere Exklaven wie Mörs, Geldern, Minden, Lingen sowie das schweizerische Neuchâtel hinzukamen. Kurzzeitig gehörten auch das fränkische Ansbach-Bayreuth, jahrzehntelang das schwäbische Hohenzollern-Hechingen zu Preußen. Ostorientiert und direkter Nachbar Rußlands wurde Preußen durch die großen Gewinne aus den Teilungen Polens 1772–95. Alle westelbischen Gebiete sowie kurzzeitige Zugewinne ab 1802 (Münster, Paderborn und Hannover) gingen mit der Niederlage gegen Napoleon 1807 verloren. 1815 sprach der Wiener Kongreß Preußen einen kompakten Westblock aus dem Rheinland von Kleve bis Kreuznach und Saarbrücken sowie den Territorien Westfalens bis an die Weser zu. Der davon getrennte, dreimal größere östliche Landblock wuchs durch sächsisch-thüringische Gebiete nach Mitteldeutschland. Preußen war damit nach Österreich größter deutscher Einzelstaat. Die Verbindung zwischen seinen Landblöcken schuf 1866 die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau sowie Schleswig-Holstein. Preußen umfaßte mit 348.500 km2 64,4 % des Reichsgebiets von 1871 und mit gut 40 Mio. 62 % der rd. 65 Mio. Einwohner von 1910. Nach dem Ersten Weltkrieg mußten 56.000  km2 abgetreten werden, der Großteil Posen-Westpreußens sowie Ost-Oberschlesien an das neuerstandene Polen, Nordschleswig an Dänemark, das Memelgebiet an Litauen, Eupen-Malmédy an Belgien.11 Mit der geographischen Lage zwischen West und Ost korrespondierten grosso modo historisch-rechtliche und sozioökonomische, konfessionelle und traditionale, dialektale und mentale Unterschiede. Neue Territorien besaßen alte Historien als vordem reichsunmittelbare Gebiete oder geistliche Herrschaften, Teile 11 Zur Gebietsentwicklung detailliert W. Fix, Die Territorialgeschichte des preußischen Staates, Berlin 1884. Die Kerndaten auch bei Manfred Schlenke (Hg.), Preussen Ploetz, ND Köln 2003, S. 40–52 und Schoeps, Preußen, S. 394–399.

18  I. Preußen zwischen Ost und West deutscher Monarchien oder der Nachbarstaaten Polen, Schweden, Dänemark. Konfessionell dominierte im Westblock sowie Oberschlesien und einigen Sprengeln (westliches Hannover, Eichsfeld, Ermland) der Katholizismus, im Gros der Protestantismus lutherischer bzw. reformierter Prägung. Sozialökonomisch dominierte westelbisch die Grundherrschaft, in der rechtlich relativ freie Bauern dem Grundherrn Pacht zahlten. In den ostelbischen Kolonisationsgebieten gab es die Gutsherrschaft als Eigenwirtschaft von adeligen Besitzern (sog. Junkern), betrieben durch erbuntertänige, rechtlich unfreie Kleinbauern, so daß dort die Wirtschaftsform mit Herrschaftsrechten auch im Polizei- und Gerichtsbereich zusammenfiel. Landwirtschaftserträge und Gewerbeanteil waren im Westen meist höher, die ökonomische Entwicklung besser. Dieser Vorsprung hatte mit historisch gewachsenem, größerem Städteanteil, günstigerer Lage zu den westeuropäischen Wirtschaftszentren und monarchisch-adeliger Wirtschaftspolitik zu tun. Er wurde nach 1840 via Industrialisierung verstetigt, wenngleich Berlin, die Ostseestädte (Stettin, Danzig, Königsberg) und das textil- bzw. montanindustrielle Schlesien exportierende Zentren im Osten waren. Eine ideologisch aufgeladene Kontroverse lautete noch um 1900 Agrar- oder Industriestaat, während diese Alternative realhistorisch längst nicht mehr bestand. Dezidiert preußische Identität besaßen die Altgebiete Brandenburg-Pommern-Ostpreußen, während die Bewohner der nach Kriegen erworbenen, zumal westelbischen Gebiete an Rhein-Ruhr, Ems, Eider und Leine sich lange als eroberte „Muß-Preußen“ (Jakob Venedey 1839) fühlten. Durch Wirtschaftsentwicklung, regionale Selbstverwaltung und der Macht des Faktischen gewann Preußen an Loyalität, aber die Berliner Herrschaftszentrale blieb, zumal bei katholischen und polnischsprachigen Untertanen, oft unbeliebt. Preußen war Teil Europas, sein Westen gehörte zu den Kerngebieten des 1806 aufgelösten Alten Reichs, aber als Staat lag es geographisch, wirtschaftlich, sozialkulturell zwischen dem französisch-niederländisch-englischen Westeuropa und dem slawisch-russisch-polnischen Ost(mittel) europa. Politisch-ideologisch war nach 1789 jahrzehntelang umstritten, ob sich Preußen als altständische, vornationale, konservative Monarchie wie Rußland und (modifiziert) Österreich begreifen sollte oder als neuer Nationalstaat mit (erzwungener) ethnischer Homogenität, aber bürgerlich-liberaler Prägung nach westeuropäischen Mustern. Die skizzierten Ost-West Unterschiede sind idealtypische Verallgemeinerungen, deshalb nach Phasen und en Detail differenzierbar, es gab Ambiguität und Übergänge, z. B. zwischen (westlicher) Grund- und (östlicher) Gutsherrschaft. Der Historiker Reinhart Koselleck hat gemeint, „daß die Zwischenlage zwischen West- und Osteuropa, zwischen Ancien Régime und Moderne am ehesten erlaubt, die oft beschworene Ambivalenz Preußens historisch zu erklären.“ Wenn gar von Verschmelzung west- und osteuropäischer Strukturen in Preußen die Rede ist, dann bleibt zu klären, ob, wann, warum und in welchen Bereichen dies geschah. Das zwischen 1815 und 1860 anstelle der zuvor gängigen Nord-Süd Gegenüberstellung entstandene gedankliche Konzept

1. 1618–1740: Kurfürstentum und Status als Auxiliarmacht  

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des Westens beeinhaltet bekanntlich von der Aufklärung herrührende humane Werte, Rechtsstaatlichkeit und die sukzessive Ausweitung politischer Partizipation im Rahmen einer wachsenden liberal-demokratischen politischen Kultur. Dies bildet eine historische Meßlatte. Bedingte Preußens Mittellage und Territorialzersplitterung eine Außenpolitik des stetigen Gebietserwerbs? Gab es nur die Alternative Hammer oder Amboß (Otto Hintze) und war dies die Realpolitik aller anderen Fürstenstaaten? Waren Preußens Herrscher nach der Verwüstung im Dreißigjährigen Krieg, der Gegnerschaft dreier Mächte im Siebenjährigen Krieg und der Beinahe-Auslöschung unter Napoleon durch ein „bleibendes Gefühl der Verwundbarkeit“ (Christopher Clark) zur Gewinnung von Sicherheit durch Expansion gezwungen? Daß eine geographische Mittellage allein wenig erklärt, zeigen die Niederlande: Obwohl von Frankreich, England an der Gegenküste und Habsburg umgeben, blieb das Land Republik, Handelsmacht, Bürgernation und wurde nicht Militärstaat oder Autokratie. Lage war also keineswegs geopolitisches Schicksal, sondern ließ außenpolitische Alternativen und innenpolitische Entwicklungswege zu. Eine Betrachtung der Grundlinien preußischer Außenpolitik muß deshalb tiefer schürfen und mehrere relevante Faktoren einbeziehen.12

1.

1618–1740: Kurfürstentum und Status als Auxiliarmacht

Am Beginn der Territorialerweiterung Brandenburgs stand eine Frau: Anna von Preußen. Durch ihre Heirat mit dem Berliner Kurfürsten Johann Sigismund 1594 brachte sie das Herzogtum Ostpreußen an die Hohenzollern-Hauptlinie und als Nichte des letzten Herzogs von Jülich-Kleve-Berg zudem die Erbansprüche auf niederrheinische Gebiete mit. 1609/1618 entstand so ein dreiteiliges Konglomerat Brandenburg-Ostpreußen-Niederrhein. Brandenburg-Preußen hatte in dem Jahrhundert vom Regierungsantritt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1640 (81.000 km2, eine Mio. Einwohner) bis zur Thronbesteigung Friedrichs II. 1740 (120.000 km2, 2,3 Mio. Einwohner) mit sechs, teils weit überlegenen Mächten zu rechnen: Schweden und Dänemark im Norden, Polen im Osten, Habsburg im Süden, Frankreich und die Niederlande im Westen. Deren Konflikte bzw. Kriege 12  Zu Grund- und Gutsherrschaft detailliert Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt/M. 1991, S. 108–128, kritisch Markus Cerman, Agrardualismus in Europa? Die Gutsherrschaft im östlichen Mittel- und Osteuropa, www. europa.clioonline.de [17.3.2010]. Reinhart Koselleck, Lernen aus der Geschichte Preußens [1984], in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S.  151–174, Zit. 163. Wolfgang Neugebauer, Die Geschichte Preußens, München 2006, S. 8. Riccardo Bavaj/ Martina Steber (Hg.), Germany and ‚the West‘. The History of a Modern Concept, Oxford 2015, S. 1–39. Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, 8. Aufl., Berlin 1916, S. 203 (Hammer oder Amboß). Clark, Preußen, S. 16, ähnlich S. 661.

20  I. Preußen zwischen Ost und West untereinander möglichst auszunutzen, um Gewinne zu erzielen, war die Maxime der Außenpolitik seiner Monarchen. Dazu wechselte Preußen bei Mächtekonflikten am Niederrhein, um Pommern und Ostpreußen im „Wechselfieber“ mehrfach die Fronten, um stets bei der Sieger-Allianz zu sein. Es paktierte im 17.  Jahrhundert zeitweise mit dem Reichsfeind Frankreich, aber vermied auch scharfe Konfrontation mit dem Kaiserhaus Habsburg. In den Konflikten der Großmächte, den Nordischen Kriegen (1655–1660, 1700–1721) sowie dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714), kämpften preußische Truppen mit, freilich regelmäßig als Hilfskorps gegen Geldzahlungen (Subsidien) der Großmächte. Preußen gewann mit hartnäckigem Lavieren nach Hinterpommern (1648) die Souveränität im bisher polnischen Kronlehen Ostpreußen (1657/60) und einige Gebiete im Westen, so 1680 das sehr wichtige Magdeburg und Halberstadt. Mit der Zusage der Unterstützung im spanischen Erbfolgekrieg erreichte Friedrich I. 1701 beim Habsburger Kaiser die Zustimmung zur Annahme des Königstitels im außerhalb der Reichsgrenzen gelegenen Ostpreußen. Diese lang ersehnte Rangerhöhung blieb machtpolitisch zunächst kaum mehr als Prestigegewinn.13 Den ersten größeren Schlachtensieg, den die Armee Friedrich Wilhelms 1675 im märkischen Fehrbellin ohne fremde Alliierte gegen angreifende Schweden errang, nutzte der Monarch, um sich 1678 auf einer Berliner Ehrenpforte als „Großer Kurfürst“ feiern zu lassen; diese dynastische Stilisierung verstärkte Friedrich II. und nahm sie sich zum Vorbild. Otto Hintze sprach dem Kurfürsten panegyrisch „eine welthistorische Stellung“ zu, und schrieb pointiert, der „ehrgeizige Trieb, eine Großmacht zu werden“ sei Friedrich Wilhelms Erbschaft gewesen. Historische „Größe“ ist primär eine Frage von (nachträglicher) Zuschreibung, aber der Kurfürst kann als strukturbildende Persönlichkeit, als Rollenmodell für Preußens spätere Herrscher gelten. Hierfür lassen sich calvinistisches Erwählungsbewußtsein und Selbstherrschaft als Fürst, massiver Heeres- und sukzessiver Verwaltungaufbau, staatliche Einhegung der Stände, politischer Machtwillen und Machtstaatsdenken anführen. Preußen agierte nach 1714 als Alliierter der unter Zar Peter I. westwärts gerichteten neuen Großmacht Rußland und gewann so 1720 das bisher schwedische Vorpommern mit Stettin, ohne dadurch, wie zeitweise erhofft, noch Seeund Handelsmacht zu werden. Die vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. eingeleitete grundsätzliche Anlehnung an Rußland ergab nach Einbezug Habsburgs die dauerhaft gegen Polen gerichtete Entente cordiale der drei Schwarzen Adler (M. G. Müller). Das von Königin Sophia Dorothea ab 1725 gegen ihren 13 Grundlinien nach Klaus Malettke, Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht (1648/58–1713/14), Paderborn 2012, 3, S. 212 ff., 364, 523 und Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785, Paderborn 1997, S.  154  ff. Michael Kaiser, Anna von Preußen und der Kampf um das Jülicher Erbe, in: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (Hg.), Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde, Dresden 2015, S. 230–239.

2. 1740–1815: Von der Schwellen- zur Großmacht  

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Gemahl betriebene dynastische Projekt der Doppelheirat ihrer Kinder Friedrich (II.) und Wilhelmine mit den Erben des hannover-englischen Königshauses hätte eine folgenreiche Westorientierung Preußens einleiten können, wenngleich ganz dahin steht, ob monarchische Heiratspolitik nachhaltig die Politik des Landes verändert hätte. Mit Glück unterblieb in Preußen seit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm jede dauernde Hohenzollern-Erbteilung, die das Staatsgebiet aufgespalten hätte. Der Kurfürst, König Friedrich I. und der Soldatenkönig drängten in wechselnden europäischen Mächte-Konstellationen auf territoriale Vergrößerungen sowohl im Nordosten wie am Niederrhein, wo man das Herzogtum Berg beanspruchte und mit Wien dazu verhandelte. Zugleich erstrebten sie stetig, Beschränkungen ihrer Souveränität durch Reichsrecht, etwa die Existenz von Reichslehen in Westelbien, abzuschütteln. Aber alle drei Monarchen schreckten bis 1740 vor dauerhaften Konflikten mit den habsburgischen Kaisern zurück. Preußen war nach 1648 nicht mehr bloßes Objekt von Großmächten, aber immer noch auf Allianzen mit diesen verwiesene Schwellenmacht.14

2.

1740–1815: Von der Schwellen- zur Großmacht

Die Schwelle überschritt erst die Alles-oder-Nichts-Politik Friedrichs II. Skrupellos etablierte er die europäische Großmacht Preußen gegen Habsburg. Dieser Satz gilt jenseits des lange üblichen personalistischen Heroenkults, denn frühneuzeitliche Außenpolitik war wesentlich Monarchensache. Als höchstselbst regierender absoluter Monarch nutzte Friedrich für seinen Machtwillen die ganze Bevölkerung und nahm ungerührt Zehntausende von Kriegstoten hin. Von preußischen Bedrohungsängsten konnte beim Einmarsch in das habsburgische Schlesien Ende 1740 keine Rede sein, wohl aber von Hochrisikopolitik und HasardeurHaltung. Friedrich schrieb 1740/41, er wolle entweder untergehen oder mit Ehre bestehen, „j’aime la guerre pour la gloire“, und 1745 ganz egozentrisch, er wolle seine „Machtstellung behaupten oder es mag alles zugrunde gehen und bis auf 14 Hintze, Hohenzollern, S. 252 f. (Zitat). Zur Bedeutung des Monarchen Peter Baumgart, Der Große Kurfürst. Staatsdenken und Staatsarbeit eines europäischen Dynasten, in: G. Heinrich (Hg.), Ein sonderbares Licht in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des Großen Kurfürsten von Brandenburg (1640–1688), Berlin 1990, S. 33–57; Heinz Duchhardt, Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst (1640–1688), in: F.-L. Kroll (Hg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., 2. Aufl., München 2009, S. 95–112 (Verwaltungs- und Heeresaufbau legen Grundlagen für Preußens Aufstieg). Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Brandenburg, 2  Bde., Göttingen 1971/78. Strukturbildende Persönlichkeit nach Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, 2. Aufl. München 1968, S.  191. Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772–1793–1795, München 1984, S. 14. Peter H. ­Wilson, Prussia and the Holy Roman Empire 1700–1740, in: German Historical Institute London Bulletin 36 (2014), S. 1–36.

22  I. Preußen zwischen Ost und West den preußischen Namen mit mir begraben werden“. Wiederum nutzte Preußen eine günstige Konstellation – Ablenkung der Großmächte und den Habsburger Thronwechsel zu Maria Theresia –, aber diesmal klar als Angreifer, der rasch die reiche Provinz von 38.000  km2 und 1,1  Mio. Einwohnern einnahm. Damit lag Preußens Schwerpunkt nun im Osten und der Gegensatz zwischen Hohenzollern und Habsburg in Deutschland bis 1866 war begründet. Der räuberische Erfolg, gleichsam die Ursünde der Folgezeit, traumatisierte Österreich. Der Wiener Staatskanzler Kaunitz bereitete die Wiedergewinnung Schlesiens vor, indem er eine antipreußische Koalition mit Rußland und Frankreich anbahnte, aber speziell Frankreich zögerte mit dem Renversement des alliances und Österreich ging auf ein russisches Angriffsangebot gegen Preußen nicht ein. Friedrich II. trat Anfang 1756 dieser Entwicklung durch einen Nichtangriffspakt mit England (Westminster Konvention) entgegen – und begann den Krieg Ende August 1756 mit Einmarsch ins neutrale Sachsen. Ob beim Siebenjährigen Krieg ein gerechtfertiger Präventivschlag oder rechtswidrige Aggression vorlag, darüber stritten Historiker schon um 1900 und differieren die Urteile bis heute – letzte Ausläufer von preußenfreundlicher bzw. borussischer und nichtpreußischer Perspektive. Englische Historiker wie Thomas B. Macaulay 1842 und G. P. Gooch 1947 zählten den „Raub Schlesiens“ zusammen mit den Teilungen Polens zu den „sensationellen Verbrechen“ der Neuzeit; Franz Szabo nannte Friedrich II. gar einen „heartless killer“.15 In preußenfreundlicher Sicht agierte Friedrich im Rahmen des im kriegerischen 18. Jahrhundert Üblichen, lag dem Konflikt die auf Ostpreußen gerichtete, kriegstreibende Rolle Rußlands zugrunde und strebte dieses mit Österreich für 1757 gemäß einem Wort Kaunitz‘ die „destruction totale de la Prusse“ an. Überwiegend lesen Forscher aus Wiener und Pariser Akten aber weniger dortige Kriegsoffensive als das Ziel der Eindämmung Preußens heraus. Sie identifizieren eine Stufenfolge: Die defensive Koalition Paris–Wien sei erst nach Preußens England-Vertrag geschlossen und erst Friedrichs Einfall in Sachsen habe diese beiden Mächte zum gemeinsamen Vorgehen gegen Preußen mit dem unter Zarin Elisabeth kriegsbereiten Rußland zusammengeschweißt. Eine bevorstehende Offensive dreier verschworener Feinde, die einen Präventivkrieg rechtfertigen könnte, gab es 1756 demnach nicht, wohl aber Preußens Selbstisolation durch Friedrichs Agieren. Auch danach verfolgten Frankreich, Österreich und Rußland

15 Zitate nach Johannes Kunisch, Friedrich der Große, München 2004, S. 173, 167, 213; George P. Gooch, Friedrich der Große [1947], 9. Aufl., München 1991, S. 19; Johannes Kunisch, Der Historikerstreit über den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges (1756), in: Ders., Friedrich der Große in seiner Zeit. Essays, München 2008, S. 48–105, S. 56– 70; Franz A.J. Szabo, The Seven Years War in Europe 1756–1763, Harlow 2008, S. 427.

2. 1740–1815: Von der Schwellen- zur Großmacht  

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nicht identische Ziele gegen Preußen, sondern unterschiedliche Vorstellungen über dessen territoriale Verkleinerung (démembrement).16 Wie konnte Preußen trotz gegnerischer Übermacht und Niederlagen in fast der Hälfte aller Schlachten 1756–1763 bestehen? Erstens mobilisierte man kriegswirtschaftlich maximal: Friedrich beutete das besetzte Sachsen rigoros aus (ca. 48 Mio. Taler), er empfing 27 Mio. Taler englische Subsidien und beschaffte sich mit Münzmanipulationen ca. 30 Mio. Taler, so daß ein Großteil der etwa 125 Mio. Taler Kriegskosten damit zu decken war. Der Historiker Bernhard Kroener urteilte, Friedrichs Preußen „war der einzige Staat, der sein militärisches Instrument und (…) Potential auf lange Sicht und planvoll auf kriegerische Aggression und territoriale Expansion ausgerichtet hat.“ Zweitens konnte mittels reger Publizistik Preußen als Verteidiger des Protestantismus und Gegner des expansiven Frankreich positiv herausgestellt werden; beispielsweise war ein Teil von Goethes Familie in Frankfurt „fritzisch gesinnt“. Drittens besaß die preußische Armee militärgeographisch den Vorteil der sog. inneren Linie und hielt, von Friedrich Wilhelm I. gut ausgebildet und loyal zum König, hartnäckig in der Defensive aus. Viertens war Friedrich fähiger Militärbefehlshaber, alleiniger Staatslenker und ging hohe Risiken ein, während die gegnerischen Heerführer jeweils Weisung abwarten mußten. Fünftens schließlich behinderten Uneinigkeit und Unentschlossenheit die antipreußische Koalition. In ihr gab es von Anfang an Meinungsdifferenzen über Kriegsziele und Strategie; Frankreich zeigte früh Kriegsmüdigkeit und die Koalition nutzte Schlachtensiege wie 1759 bei Kunersdorf/Oder nicht aus. Damals schon sprach Friedrich vom „Mirakel des Hauses Brandenburg“. Dieses Wort bezog man später auf den plötzlichen Tod der Zarin Elisabeth Anfang 1762 und den schnellen Separatfrieden Rußlands. Das skizzierte Faktorenbündel ist aber keinesfalls auf ein einziges Zufallsereignis zu verkürzen. 16 Kriegstreibende Rolle Rußlands betonen: Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 1, S. 113–407, S. 335 f. und Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 326– 335. Friedrichs Verantwortung betonen: Kunisch, Friedrich, S. 331–334, 351; Michael G. Müller, Rußland und der Siebenjährige Krieg, in: Jahrbücher für Geschichte Ost­ europas 28 (1980), S. 198–219, S. 208–211; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, Stuttgart 2006, S.  424, 433  ff.; Wilhelm Bringmann, Friedrich der Große. Ein Porträt, München 2006, S.  177–200; Klaus Malettke, Frankreich und Preußen im 18. Jahrhundert, in: Ders. u. a. (Hg.), Französisch-deutsche Beziehungen in der neueren Geschichte, Berlin 2007, S.  205–220; Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18.  Jahrhundert, München 2009, S. 140–142, 161; Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, 4. Aufl., Darmstadt 2009, S.  134  ff.; Ilja Mieck, Preußen und Westeuropa, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 1, S. 411–853, S. 591–594; Sven Externbrink, „Die Verschwörung der Mächte Europas gegen Preußen“?, in: B. Sösemann/Vogt-Spira (Hg.), Friedrich der Große in Europa, Bd. 2, S. 116–131.

24  I. Preußen zwischen Ost und West 400.000 bis 500.000 Militär- bzw. Ziviltote, somit etwa jeden zehnten Einwohner, kostete Preußens Krieg. Binnendeutsch entstand der langfristig fatale Friedrich-Mythos des „großen Mannes“, der die Risikostrategie des „Alles oder nichts“ mittels Durchhaltens gegen eine „Welt von Feinden“ zum Sieg-Wunder führt, und ein früher, antifranzösischer Nationalismus, zumal in Kernpreußen und protestantischen Reichsteilen (Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 1761). Der Konflikt war der europäische Teil des in Amerika und Asien ab 1755 global ausgetragenen Hegemonialkampfs zwischen Frankreich und Großbritannien – des ersten Weltkrieges –, der sowohl Grundlagen zur nordamerikanischen Unabhängigkeit 1776 wie zur französischen Revolution 1789 legte. Trotz aller globalen Handlungsdynamik gilt: Friedrich II. persönlich trug 1756 den großen Krieg in die Mitte Europas.17 Das wiederhergestellte preußisch-russische Einvernehmen und der Hubertusburger Frieden des Status quo ante mit Österreich 1763 erlaubten diesen drei Ostmächten 1772 die erste Teilung Polens. Friedrich II. hatte in seinem Politischen Testament von 1768 den Erwerb des zu Polen gehörigen Westpreußen als Landbrücke von Pommern nach Ostpreußen gewünscht. Russisch-österreichische Konflikte um bisherige Osmanische Gebiete konnten durch Einvernehmen beim Aufteilen Polens kompensatorisch gelöst werden. War so dreiseitig Interesse gegeben, so ging von Friedrich 1771 die konkrete Initiative aus, die zum ersten Teilungsvertrag 1772 führte. Nicht die 40 % deutschsprachigen Einwohner im preußischen Annexionsgebiet galten als Rechtfertigung, sondern das zynische machtpolitische Argument, man müsse Bürgerkriegswirren und Anarchie beenden. Später wurde die Annexion dann als deutsche Kulturmission glorifiziert. Erst von 1772 datiere der Großmachtstatus Preußens, hat bereits der Historiker Leopold von Ranke notiert. Der Anti-Polen-Konsens, die negative Polenpolitik (Klaus Zernack), einte Preußen mit Rußland; sie erstrebten weitere Expansion zulasten Polens, Preußen speziell Danzig, Thorn und die Weichsel. Da Frankreich durch die Revolution abgelenkt war, konnten beide 1793 bzw 1795 die restlose Aufteilung vereinbaren; Österreich machte zögernd mit, um gewisse Kompensationen zu erhalten. Die dezentral organisierte, von Rußland seit langem destabilisierte polnisch-litauische Rzeczpospolita war gerade nach inneren Reformen und der progressiven Verfassung von 1791 den Großmächten unerwünscht. Trotz des 17 Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 366 f.; Burkhardt, Vollendung, S. 424– 435. Bernhard Kroener, Herrschaftsverdichtung als Kriegsursache. Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg, in: B. Wegner (Hg.), Wie Kriege entstehen, Paderborn 2003, S.  172. Tim Blanning, Frederick the Great. King of Prussia, New York 2016, S. 288–299. Hans-Martin Blitz, Der Vaterlandsdiskurs im Siebenjährigen Krieg, in: P. Haslinger (Hg.), Regionale und nationale Identitäten, Würzburg 2000, S.  41–52. Manfred Messerschmidt, Das „friderizianische Exempel“. Nachwirkungen Friedrichs II. in Preußen-Deutschland, in: Ders., Militarismus, Vernichtungskrieg, Geschichtspolitik. Paderborn 2006, S. 23–42. Marian Füssel, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2010, S. 21–31.

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in Polen bis heute legendären Kosciuszko-Aufstands 1794 besaß die Adelsrepublik gegenüber russisch-preußischem Militär keine Chance. Preußen erhielt 1793/95 über 100.000  km2 kernpolnisches Territorium (Wielkopolska, Kujawy, Mazowsze inklusive Warschau, Bezirk Czestochowa) mit rd. 3 Mio. polnischsprachigen Einwohnern und war danach bei rd. 8,7 Mio. Untertanen klar binationale ostmitteleuropäische Großmacht.18 Eine neue Phase nicht nur der Außenpolitik begann nach 1789 mit dem Sieg der Revolution in Frankreich. Die konservativen Mächte Österreich und Preußen marschierten 1792 in das revolutionäre Frankreich ein, aber im erfolgreichen Gegenschlag rückte die französische Armee 1794 an den Rhein vor. Nach den Landgewinnen aus den polnischen Teilungen schwenkte Berlin um. Im Basler Frieden 1795 erklärte Preußen seine Neutralität, gab Frankreich seinen linksrheinischen Besitz preis und sah Norddeutschland als Friedenszone unter Preußens Führung. Vier Gründe waren dafür maßgeblich: Preußen war finanziell rundum kriegsunfähig; der Blick richtete sich auf die Einverleibung der unruhigen polnischen Gebiete, wo zudem Konkurrenz zum benachbarten Rußland bestand; die französischen Armeen sollten sich gegen Österreich am Oberrhein, in den Niederlanden, in Italien richten; Preußen konnte sich zum Friedensstifter für das Reich stilisieren, wurde als Vormacht in Norddeutschland anerkannt und konnte wenig später zudem Gewinne zu Lasten bisher katholisch-geistlicher Territorien erwarten. Diese bereits von Friedrich II. propagierte Idee wurde 1802/03 (Reichsdeputationshauptschluß) Realität: Preußen erlangte die Bistümer Münster, Paderborn, Hildesheim, das Eichsfeld und Erfurt. Das Kalkül von 1795 war zunächst erfolgreich; Preußen profitierte vom Lavieren zwischen Frankreich und Österreich. Trotz aller Gewinne bildete Preußen um 1800 die schwächste europäische Großmacht und trieb eine schwankende Politik der Neutralität, nicht zuletzt Folge der institutionellen Zersplitterung der Berliner Regierung, wo Minister, Kabinettsräte und Militärs abwechselnd das Ohr des Königs erreichten und widersprüchliche Aktionen folgten. Eine Gruppierung um Graf Christian von Haugwitz bevorzugte das Arrangement mit Frankreich, eine andere um Hardenberg und Stein die Anlehnung an Rußland und/oder England. Dazwischen stand ein verunsicherter Friedrich Wilhelm III., der im Bewußtsein persönlicher wie auch staatlicher Schwäche den Krieg scheute und versuchte, sich mit Frankreich zu arrangieren. Angesichts stetiger Expansion Napoleons schloß Preußen 1805 ein Bündnis mit Rußland, aber stand noch beiseite, als der Korse Ende 1805 bei Austerlitz gegen das Zarenreich und Österreich die Hegemonie in Europa errang. Der Kontinentalherrscher, weltweit weiter England bekämpfend, ermun18 Klaus Zernack, Preußen–Deutschland–Polen. Aufsätze zur Geschichte der preußischpolnischen Beziehungen, Berlin 1991, S. 225 (negative Polenpolitik). Müller, Teilungen Polens, S.  81–87. Hamish M. Scott, The Birth of a Great Power System 1740–1815, Harlow 2006, S. 201–213.

26  I. Preußen zwischen Ost und West terte Preußen zur Besetzung der welfischen Stammlande Hannover und zwang es in seine antienglische Wirtschaftsblockade (Kontinentalsperre), was Preußen ökonomische Krisen und die Kriegserklärung Londons eintrug. 1806 sondierten Berliner Politiker um Hardenberg einen preußisch geführten Nordbund mit Sachsen, Kurhessen und kleineren Territorien unter Rückendeckung Rußlands. Die umworbenen Staaten verhandelten zögerlich, der Status der Hansestädte war labil und Napoleon ging daran, das Preußen überlassene Hannover zugunsten eines Friedens mit England zurückzufordern. Nach gereiztem Notenwechsel über Preußens Forderung des Abzugs aller französischen Truppen aus Norddeutschland war Napoleon alarmiert. Ohne starken Alliierten erklärte Preußen am 9. Oktober 1806 den Krieg. Fünf Tage später schlug Napoleon die in getrennten Kolonnen anrückende Armee Preußens je separat, das Gros der ohne kombinierte Divisionen operativ rückständigen Armee bei Jena und Auerstedt vernichtend. Im Folgejahr unterlagen russisch-preußische Korps auch in Ostpreußen französischen Truppen. Napoleon halbierte Preußen im Tilsiter Frieden 1807 auf 158.000 km2 seiner ostelbischen Stammprovinzen ohne die polnischen Teilungsgewinne; Rußlands Fürsprache verhinderte weitere Reduktion. Ob durch entschiedene Teilnahme Preußens an den antifranzösischen Koalitionen der Aufstieg des Kontinenteroberers militärisch zu stoppen gewesen wäre oder ob Preußen als willfähriger Statthalter Napoleons in Norddeutschland kriegerische Verwicklung dauerhaft hätte umgehen können, sind nicht entscheidbare kontrafaktische Fragen. Konflikte waren vermutlich unvermeidlich, solange der machtbesessene Napoleon ganz Europa bekriegte. Jedenfalls folgte Preußens Niederlage nicht aus der Neutralität seit 1795 an sich, sondern aus politischen Führungsmängeln, militärtaktischer Rückständigkeit und aus Napoleons überlegenem Kriegsherrntalent. Ab 1807 konnte Preußen nur mit inneren Reformen die eigenen Kräfte stärken und wie in früheren Epochen auf günstigere Mächtekonstellationen hoffen.19

19 Philip G. Dwyer, The Politics of Prussian Neutrality 1795–1805, in: German History 12 (1994), S. 351–373; Wilhelm Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786– 1797), Frankfurt/M. 2001, S. 545–561; Peter Baumgart, Preußische Außenpolitik vor 1806 und ihre finanziellen Dimensionen, in: J. Kloosterhuis/W. Neugebauer (Hg.), Krise, Reformen – und Finanzen, Berlin 2008, S. 91–117; Andreas Wirsching, Die letzte „Ruhe des Nordens“. Preußens Neutralitätspolitik und die Beziehungen zu Frankreich 1795–1806, in: K. Hildebrand u. a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis, München 2008, S.  67–81, bes. S.  72  f., 77  f. Amir D. Bernstein, Von der Balance of ­Power zur Hegemonie, Berlin 2006, S. 185–212 (Nordbundplan).

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1815–1870: Von der Großmacht zur Hegemonie in ­Deutschland

Das Fiasko Napoleons im Rußlandfeldzug erlaubte den drei Ostmächten in der Leipziger Völkerschlacht 1813 zu siegen und Preußen mit England 1815 den Sieg von Waterloo. Auf das dabei gefallene Wort des Herzogs von Wellington, die drohende Niederlage könnten nur der Einbruch der Nacht oder die Ankunft von Blüchers Truppen abwenden, waren Preußen stets stolz. Durch den Sieg und die antifranzösisch geprägte bürgerliche Militärbegeisterung gelang es Preußen, sich publizistisch als Befreier Deutschlands darzustellen. Bürgerliche Freiheit und deutsche Einheit hieß die populäre Parole der aufkommenden national-liberalen Bewegung. Der Wiener Kongreß 1815 ordnete Europa und die Gewichtsverteilung zwischen den Mächten neu. „Altes Ziel brandenburgisch-preußischen Vergrößerungsehrgeizes“ (Karl Griewank) war das zu lange mit Napoleon verbündete Sachsen; Rußland erstrebte ganz Polen. Beide Wünsche begegneten englisch-österreichisch-französischem Einspruch. Nach mehreren Wendungen in den Territorialfragen erhielt Rußland den Großteil Polens und Preußen wurde in Westpreußen-Posen nahezu mit Gebietsstand von 1793 restitutiert. Von Sachsen wurde ihm nur die Hälfte (21.000 km2) ohne Leipzig zugestanden. Zum Ausgleich erhielt Preußen den damals unerwünschten Westblock Rheinland-Westfalen, von England im Sinne europäischer Mächtebalance als „Wacht am Rhein“ gegen Frankreich intendiert. Österreich gab nach der deutschen Kaiserkrone 1806 nun freiwillig seine süd(west)deutschen Besitzungen auf und wuchs Richtung Italien bzw. Südosteuropa aus dem neuen Deutschen Bund hinaus. Thomas Nipperdey hielt dies für zentral: „Die Versetzung Preußens an den Rhein ist eine der fundamentalen Tatsachen der deutschen Geschichte, eine der Grundlagen der Reichsgründung von 1866/71“. Preußens territoriale Stärkung in West- und Mitteldeutschland zog sein vitales wirtschaftliches wie politisches Interesse an allen Zeitfragen im Deutschen Bund nach sich. Von Publizisten erhielt Preußen als stilisierter Vorkämpfer der antinapoleonischen Befreiung bereits eine „nationale Mission“ zugeschrieben, was in den konservativ gestimmten Berliner Regierungskreisen aber bis 1848 mehrheitlich abgelehnt wurde. Frühe preußische Vorschläge, in Militärorganisation und Gremien des künftigen Bundes festere Strukturen unter eigener Dominanz im Norden bzw. Österreichs im Süden zu etablieren, lehnten Österreich und die auf Eigenständigkeit pochenden mittelgroßen Staaten ab.20

20 Karl Griewank, Preußen und die Neuordnung Deutschlands 1813–1815, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 52 (1940), S. 234–279, Zitat S.  250. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, München 1983, Zitat S. 91.

28  I. Preußen zwischen Ost und West Im Deutschen Bund, dem von Großmächten und direkten Nachbarn (Niederlande, Dänemark) beeinflußten Staatenbund, verschränkten sich Außen- bzw. Deutschlandpolitik stark mit innenpolitischen Motiven. Wesentlich um die alte monarchische Ordnung gegen alle National-, Verfassungs- und Liberalisierungsbestrebungen abzuschirmen, folgte das konservativ regierte Preußen unter Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. bis in die 1840er Jahre der Linie des österreichischen Staatskanzlers Metternich und akzeptierte Österreichs Stellung als Präsidialmacht im Deutschen Bund. Die Monarchen der drei Ostmächte schlossen eine „Heilige Allianz“ zur Aufrechterhaltung des außen- und innenpolitischen Status quo, was jahrzehntelang gleichermaßen äußere Ruhe wie Barrieren gegen innere Opposition bedeutete. Als schwächste der Großmächte, mit einer 127.000 Mann Arme weder kriegsfähig noch primär aus Angst vor inneren Unruhen kriegswillig, betrieb Preußen defensive Außenpolitik. Dies galt angesichts der französischen Revolution 1830, bei der Hilfestellung für England zur Etablierung Belgiens 1831, bei der Assistenz für Rußland zur Niederschlagung des gleichzeitigen polnischen Aufstandes, bei der friedlichen Beilegung der durch Ambitionen Frankreichs auf linksrheinische Gebiete ausgelösten Rheinkrise 1840. Der Versuch einiger Regierungspolitiker um Außenminister von Canitz-Dallwitz 1846/47, die Bindung an Rußland gegen Annäherung an England auszutauschen, blieb ebenso Episode wie anfangs der Revolution 1848 die Erwägung des kurzzeitigen Außenministers von Arnim-Suckow, mit Frankreich und Polen gegen Rußland zu agieren. Europas Regierungen waren mit Preußen zufrieden. Zahlreiche binnenpreußische Oppositionelle sahen das anders.21 Preußens Politik im Bund war bis zu Bismarcks Machtantritt 1862 mit fünf grundlegenden Entwicklungsprozessen konfrontiert. Erstens nahm die nationalliberale Bewegung zu und mündete, gefördert durch innenpolitischen Reformstau, in die Revolution 1848 mit den Forderungen politische Freiheit und deutsche Einheit. Die Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin schafften die Staatsgründung von unten nicht, weil die konservativen Regierungen in Wien und Berlin 1849 mit Militärgewalt die liberal-demokratische Bewegung niederkämpften. Danach löste zweitens offene preußisch-österreichische Rivalität die Kooperation der Metternich-Zeit ab. Obschon Preußens König im April 1849 die von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone als „Hundehalsband“ der Revolution abgelehnt hatte, versuchten Berliner Außenpolitiker um Joseph von Radowitz wenig später die schwärende deutsche Frage durch 21 Jürgen Angelow, Geräuschlosigkeit als Prinzip. Preußens Außenpolitik im europäischen Mächtekonzert zwischen 1815 und 1848, in: W. Pyta (Hg.), Das europäische Mächtekonzert, Köln 2009, S. 155–173, S. 164. Hans Henning Hahn, Polen im Horizont preußischer und deutscher Politik im 19. Jahrhundert, in: K. Zernack (Hg.), Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland 1772–1871, Berlin 1987, S. 1–19.

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Verträge mit Nachbarstaaten anzugehen (Erfurter Union). Diese Ersatzlösung im preußischen Interesse wie Preußens Eintreten zugunsten von Liberalen in Schleswig-Holstein oder in Kurhessens Landtag begegnete als Änderung der Ordnung von 1815 massivem Widerstand Österreichs und Rußlands. Preußen mußte im November 1850 (Olmützer Punktation) zurückstecken. Umgekehrt startete auch Österreich Reform-Initiativen und schlug einen weiteren Bund mit der ganzen Habsburger-Monarchie (Schwarzenberg-Plan) sowie eine mitteleuropäische Zollunion (Bruck-Plan) vor, die aber wirtschaftlich kaum praktikabel und verfassungspolitisch unzureichend erschienen sowie dem Nein Preußens begegneten. Österreich verweigerte Preußen volle Gleichstellung im Bund, Preußen blockierte den Eintritt Gesamtösterreichs in den Bund. Drittens gebot Preußen über zwei Vorteile. Als weitgehend deutscher Macht- und Verfassungsstaat besaß es die nationale Option und konnte den engeren nationalen Zusammenschluß der deutschen Staaten anstreben. Hingegen besaß das multinationale, neoabsolutistische Habsburger-Reich diese Möglichkeit in Wiener wie binnendeutsch-liberaler Sicht kaum. Wirtschaftlich auf ein Kleindeutschland ohne Österreich verwies der Zollverein. Dieser „Bund im Bund“, 1834 aus finanziellen Gründen etabliert, garantierte steigende Staatseinnahmen und hob, wie die Berliner Initiatoren um Finanzminister Motz gehofft hatten, mittelfristig Preußens Ansehen. Dessen Wirtschaftsaufschwung und Handelspolitik fanden weite Teile des Bürgertums attraktiv – zum Entsetzen des konservativ-katholischen bayerischen Ministers Karl v. Abel. Damit entstanden Grundlagen für Preußens nationale Führungsrolle. Freilich bedeutete der Zollverein keinen politischen Automatismus, denn die Regierungen des sog. Dritten Deutschland (Bayern, Sachsen, Württemberg, Hannover) hielten bis in den Krieg 1866 zu Österreich. Sie erstrebten Bundesreform als Föderation von Gleichberechtigten, aber konnten sich weder gegen die streitenden Vormächte durchsetzen noch viele Anhänger in der Nationalbewegung gewinnen, da sie kein gewähltes Bundesparlament konzedierten.22 Viertens stellte der Bund eine föderale Friedensordnung Mitteleuropas dar und wird heute – in Kenntnis des folgenden Jahrhunderts der Gewalt sowie der europäischen Einigung – positiver beurteilt; Forschungen konstatierten speziell Modernisierung in Wirtschaft und Recht (Handelsgesetzbuch 1861). Österreichische Historiker wie Helmut Rumpler bestreiten darüber hinaus die Alternativlosigkeit des kleindeutschen Nationalstaats. Bismarcks Gewaltpolitik und die „Droge Nation“ erst hätten die friedliche, entwickelbare mitteleuropäische Föderation mit Österreich gesprengt; durch dessen Ausgrenzung habe sich aus Bismarck-Kult, Nationalismus und Militärdenken ein verhängnisvoller Komplex gebildet. Weniger weit gehen Historiker wie Dieter Langewiesche, die bis 1870 22 Heinz Gollwitzer, Karl von Abel, München 1993, S.  471  f. Zum Zollverein Anselm Doering Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815– 1871, München 2010, S. 108 ff., zur neueren Forschung vgl. Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006, bes. S. 80 ff.

30  I. Preußen zwischen Ost und West eine „föderative Nation“, d. h. ein engeres Band ohne preußische Dominanz als Möglichkeit ansehen, aber Habsburg-Österreichs langjährige „Politik der Selbst­ isolation von der deutschen Nationalbewegung“ verbunden mit der Verweigerung politischer Bürgerteilhabe als entscheidend einstufen. Thomas Nipperdey bezeichnete 1866 als tragische „erste moderne Teilung der Nation“, aber konstatierte auch die historische Folgerichtigkeit. Denn der Deutsche Bund als Kongreß teils reaktionärer Regierungen machte sich durch innere Unterdrückung seit 1819 (Karlsbader Beschlüsse), die Nicht-Reaktion auf Verfassungskämpfe in Hannover (1837) oder Hessen (1850) und stete Überwachung (Polizeiverein deutscher Staaten) unbeliebt. Immer wieder nährte er politische Unzufriedenheit. Dies erlaubte Bismarck, die Nationalbewegung auf Preußen auszurichten. Beider Stärke und Habsburgs Festhalten am Vielvölkerreich ohne Parlament sprechen gegen Alternativen zum Nationalstaat damals; als Forschungsthema bleibt die Frage stimulierend.23 Fünftens ließ sich die deutsche Nationalstaatsgründung kaum gegen interventionsfähige Großmächte durchsetzen. Solange das Zarenreich die Neuordnung Mitteleuropas in liberal-parlamentarischen Formen strikt ablehnte, Frankreich Eingriffsmöglichkeiten im deutschen Süden besaß und linksrheinische Kompensation anpeilte, blieb die Konstellation schwierig. Grundsätzlich positiv gegenüber einem kleindeutschen (National-) Staat unter Führung Preußens war Großbritannien gestimmt. Denn Preußen war Alliierter von 1814/15, kein weltpolitischer Konkurrent, offener Absatzmarkt für Waren und schien mit der Neuen Ära 1858–62 auf dem Pfad der Liberalisierung. Ein Leitartikel der Londoner Times kritisierte 1860, Preußen lehne sich stets an Großmächte an, sei auf Kongressen, aber nicht auf Schlachtfeldern präsent, agiere als wenig verläßlicher Freund und ungefährlicher Feind. Häufig als Beweis für Preußens Friedfertigkeit interpretiert, besaß das Zitat jedoch eine innenpolitische Stoßrichtung. Der konservative Autor Robert Lowe wollte nämlich der in Londoner Regierungskreisen erwogenen Allianz mit Preußen widerraten, denn es weise neben liberalen noch viele absolutistische Züge auf. Auch bekannte englische Zeitschriften stellten damals gewaltsame Expansion als Charakteristikum Preußens seit Friedrich II. heraus.24 23 Helmut Rumpler, „Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der noch lange nicht aus ist“. Bismarcks Erfolgspolitik und das deutsch-österreichische Problem, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 101 (1993), S. 37–67. Dieter Langewiesche, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 187. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 791. 24 Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878, 2. Aufl., Paderborn 2007, S.  237  ff. Frank Lorenz Müller, ‘The Enlightened Views of the Prussian Monarch’: Preußen als Hoffnungsträger britischer Reformvorstellungen für Deutschland 1830–1863, in: J. Luh u. a. (Hg.), Preußen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, S. 197–215. British Envoys to Germany 1816–1866, Bd. 4, hg. von Markus Mößlang, Cambridge 2010, S. 21: Preußen

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Die europäische Konstellation änderte sich mit dem Krimkrieg 1853; England und Frankreich bekämpften Rußlands Streben Richtung Balkan bzw. Dardanellen militärisch und Österreich schloß sich ihnen politisch an. Als Resultante außenpolitischer Uneinigkeit in der Staatsspitze – erneut ging es um West- oder Ostorientierung – hielt Preußen sich neutral. Dies war sogar vorteilhaft, denn sowohl als Sekundant Rußlands wie als Alliierter der Westmächte hätte Preußen Kriegslasten tragen, ja feindliche Einmärsche über seine West- oder die Ostgrenzen gewärtigen müssen. Nach seiner Niederlage war Rußland von Österreich entfremdet, jedoch mit Preußen verbunden, auch familiär, und speziell in der antipolnischen Zielrichtung einig, was bei der Kooperation gegen den polnischen Aufstand 1863 erneut hervortrat. Der neue österreichisch-russische Gegensatz und Frankreichs Ambitionen auf westrheinische territoriale Kompensationen ergab eine für Otto von Bismarcks Pläne günstige Konstellation. Bereits als Gesandter am Frankfurter Bundestag lieferte er in einem Strategiepapier (sog. Prachtbericht, April 1856) eine konfrontative Situationsanalyse: Preußens Anhänglichkeit an Österreich sei sentimental, die Rivalität mache Krieg auf Dauer unvermeidlich, Preußen müsse gegen Österreich kämpfen. Günstige außenpolitische Lagen seien präventiv zu nutzen – die Anklänge an Friedrich II. 1740/56 sind erkennbar  –, um Österreich mit Duldung Rußlands und Frankreichs niederzuringen und Preußens Vormacht zu erringen. Es gab alternative Ansätze. So zielten die Außenpolitiker der Neuen Ära um Alexander von Schleinitz 1858–61 auf „moralische Eroberungen“ durch friedlichen Ausgleich mit Österreich und Annäherung an England; aber sowohl diese Mächte wie die liberale Nationalbewegung folgten dem nicht. Bismarck ging riskanter vor und konterte als Ministerpräsident 1863 den Bundesreformvorschlag Wiens nach einer einzelstaatlich beschickten Delegierten-Versammlung geschickt mit der Österreich unannehmbaren liberalen Forderung nach einem gewählten Nationalparlament. Anfangs besaß Bismarck wenig Glaubwürdigkeit – als Minister des scharfen Konflikts mit dem liberalen Landtag und wegen seiner bekannten Rede, nicht mit Debatten, sondern mit Eisen und Blut würden Machtfragen entschieden. Er gewann aber Renommé, als er im Bunde mit Österreich den Versuch Dänemarks 1864, Schleswig-Holstein staatsrechtlich einzuverleiben, kriegerisch verhinderte, ohne daß andere Großmächte intervenierten. Bismarcks Kurs war in Preußens Staatsspitze umstritten, indes im Februar 1866 setzte er seine Strategie durch und löste den Krieg gegen Österreich Mitte 1866 aus. Rußland und Frankreich blieben neutral, ein geheimes Bündnis mit dem jungen Italien sei „the exponent of the principles of political liberty and commercial freedom in the Confederation”. Christoph J. Franzen, Zivilisation und Konflikt. Die Macdonald Affäre 1860/61, Bonn 2001, S. 155 f. (Times 6.11.1860). Julia Gross, Das Bild Friedrichs II. im England des 19. Jahrhunderts anhand von Macaulay und Carlyle, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 2 (1992), S. 47–121, S. 110 (u. a. British Quarterly Review 1859).

32  I. Preußen zwischen Ost und West ergab eine zweite Kriegsfront für Österreich. Preußen und seine norddeutschen Alliierten setzten sich militärisch gegen Österreich und die Süddeutschen sowie Hannover und Sachsen durch. Danach ließ Bismarck ohne Zögern drei Monarchen enthronen und Hannover, Kurhessen, Nassau, die Stadt Frankfurt/M. sowie Schleswig-Holstein annektieren. Diese 73.000 km2 mit fast 5 Mio. Einwohnern waren die letzten Gebietsgewinne; Preußens 350.000 km2 besaßen nun territoriale Geschlossenheit. Warum siegte Preußen? Es besaß ein erst kurz davor reformiertes, wohlausgerüstetes und gut geleitetes Militär, es rang separat Österreich bei Königgrätz, seine Verbündeten andernorts nieder. Österreichs Truppen waren in Führung und Kampfmoral unterlegen, eine ganze Armee in Italien gebunden. Trotzdem gingen Bismarck politisch und Generalstabschef Moltke mit der Strategie dreier getrennter Armeen, die sich punktgenau vereinigen mußten, hohe Risiken ein; dabei war Kriegsglück wichtig und der Schlachtensieg ungewiß. Bismarck und Moltke nahmen 10.000 Kriegstote billigend in Kauf, aber wurden trotzdem wie Friedrich II. populäre Helden. Eine Niederlage hätte ihre Absetzung, eine Rückstufung der Großmacht Preußen und ungewisse Folgen für Deutschlands Gestalt bedeutet. Nach dem Sieg jubelte die norddeutsche Nationalbewegung und ließ sich auf Kooperation mit Bismarck ein, der im neuen Norddeutschen Bund, im Kern Großpreußen, ein Parlament einzurichten und Reformpolitik zu führen versprach. Trotz defensiver Militärbündnisse mit den süddeutschen Staaten blieben dort, in Bayern und Württemberg zumal, starke antipreußische Vorbehalte bestehen: Preußen bedeute Steuern zahlen, Soldat sein, Maul halten, meinte man weithin.25 Süddeutschlands Selbständigkeit wurde 1866 friedensvertraglich festgeschrieben und von Frankreich garantiert, das Preußen das Überschreiten der Mainlinie verwehrte. Dafür hielten viele in der antifranzösisch gesinnten Öffentlichkeit einen Krieg für nötig. Bismarck lavierte jahrelang, aber glaubte am Ende auch, die Militärallianzen nur in einem Krieg für Preußen aktivieren zu können. Die äußere Konstellation gestaltete sich günstig, als Napoleon III., innenpolitisch bedrängt und deshalb außenpolitisch einen Prestige-Erfolg suchend, 1870 die Rücknahme 25 Winfried Baumgart, Zur Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV. 1840–1858, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 36 (1987), S.  132–156. Zu Bismarck ab 1856 vgl. Doering-Manteuffel, Deutsche Frage, S. 35 ff. Bastian Peiffer, Alexander von Schleinitz und die preußische Außenpolitik 1858–1861, Frankfurt/M. 2012, S. 154 ff., 216  ff. Winfried Baumgart, Bismarck und der Deutsche Krieg 1866, in: Historische Mitteilungen 20 (2007), S. 93–115. Clark, Preußen, S. 609–624. Wolf D. Gruner, Bismarck, die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und die Gründung des preußisch-kleindeutschen Reiches 1862–1871, in: Jost Dülffer u. a. (Hg.), Otto von Bismarck. Person – Politik – Mythos, Berlin 1993, S. 45–81, S. 81, hält bis 1870 „einen engeren Nordbund bzw. Südbund unter dem Dach eines weiteren Allgemeinen Deutschen Bundes“ für möglich. Herbert Michaelis (Bearb.), Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871, Bd. 9, Berlin 1936, S. 774 (Stuttgart 1868).

4. Analyse: Faktoren für Preußens machtpolitischen Aufstieg  

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der Kandidatur eines Hohenzollern-Prinzen für den vakanten Thron Spaniens erzwang. Die nachgeschobene Forderung, Hohenzollern müsse für alle Zeiten verzichten, nutzte Bismarck geschickt zur glatten Zurückweisung Napoleons aus (Emser Depesche). Dieser erklärte Mitte Juli 1870 Preußen den Krieg – Bismarcks mehrgleisiges Kalkül ging auf. Er konnte nun, in den Worten H.-U. Wehlers, einen geschickt „‚provozierten Defensivkrieg’ führen, der als nationalpolitischer Unionskrieg, innenpolitischer Integrationskrieg und einigungspolitischer Legitimationskrieg“ die süddeutschen Staaten zum Anschluß an Preußen bewog, die Nationalbewegung einband und im neuen Deutschen Kaiserreich die Dominanz der Hohenzollern-Monarchie inklusive ihres Militärs befestigte. Außenpolitisch resultierte aus dem noch gegen die neue französische Republik fortgesetzten Kampf inklusive Beschießung von Paris, Plünderungen und Mißhandlungen von Zivilisten sowie der – binnendeutsch schon 1814/15 geforderten – Abtrennung Elsaß-Lothringens jahrzehntelange Feindschaft mit Frankreich. Der deutsche Sieg sei, so der britische Premierminister Disraeli 1871, die größte Revolution im Staatensystem seit 1789, des Reiches Macht bedrohe Europas Gleichgewicht. Britischen Beobachtern wie Arthur Russell erschien in der Folge Preußen-Deutschland zunehmend als unzeitgemäß anti-liberales System der Militärgewalt sowie der Verachtung für Verhandlungslösungen, Minderheiten und die öffentliche Meinung in Europa. Ein unheilvoller Pfad zeichnete sich ab.26

4.

Analyse: Faktoren für Preußens machtpolitischen Aufstieg

Resümieren wir an dieser Stelle systematisch die Faktoren für den Aufstieg Preußens zur Großmacht seit dem späten 17.  Jahrhundert, während Konkurrenten wie Kursachsen oder Kurbayern im Status deutscher Mittelmächte verblieben. Dabei sind nicht bloß Diplomatie und Monarchen zu betrachten, sondern weitere Faktoren einzubeziehen: Lage und politische Konstellationen, Staatsorganisation und Wirtschaftspolitik, zufällige Entwicklungen und Glück in Kriegsperioden. Erst dieses Faktorenbündel erklärt Preußens Aufstieg zureichend. Um 1700 umfaßte Preußen ca. 110.000 km2 und gut 1,5 Mio Einwohner, das mit 36.000 km2 deutlich kleinere, aber dichter besiedelte Kurfürstentum Sachsen etwa gleichviel Menschen. Altbayern war von ähnlicher Fläche und besaß um 26 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 322, folgt Argumenten von Josef Becker, detailliert in Ders. (Hg.), Bismarcks „spanische Diversion“. 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg, 3 Bde., Paderborn 2003–2008. Vgl. auch Josef Becker, The Franco-Prussian conflict of 1870 and Bismarck’s concept of a „provoked defensive war“– A response to David Wetzel, in: Central European History 41 (2008), S. 93–109. Klaus Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/70, München 1997, S.  395 (Arthur Russell 1872).

34  I. Preußen zwischen Ost und West 1700 rd. 1  Mio., um 1770 rd. 1,2  Mio. Bewohner; Kurfürst Karl Theodor, der auch die Kurpfalz und am Niederrhein Jülich-Berg besaß, herrschte 1785 über ca. 1,9  Mio. Menschen auf 61.000  km2. Mit dem eroberten Schlesien übertraf Preußen Sachsen wie Bayern nach Fläche und Einwohnern klar: 1755 standen 3,4 Mio. Preußen nur 1,7 Mio. Sachsen gegenüber und 1786 lauteten die Zahlen 5,5 Mio. zu knapp 2 Mio. Einwohner. Seit 1815 umfaßte Preußen 278.000 km2 mit 10,4 Mio. Menschen, Sachsen nur 15.000 km2 mit 1,2 Mio., Bayern wegen des Gewinns geistlicher und reichsadeliger Territorien in Franken bzw. Schwaben 76.000 km2 bei 3,5 Mio. Bevölkerung. Diese Verhältnisse gründeten erstens darauf, daß die Wettiner Gebiete in Mitteldeutschland seit der Erbteilung von 1485 in mehrere Territorien gespalten waren. Zwischen Erzgebirge, Thüringer Wald, Harz und Fläming lagen das (albertinische Kur-) Sachsen, die (ernestinischen) thüringischen Staaten, bis 1746 die drei Sekundogenituren Zeitz, Merseburg und Weißenfels sowie ein selbständiges Anhalt. Im Gefolge des Westfälischen Friedens gingen bis 1680 die wichtigen Nachbargebiete Magdeburg und Halberstadt verloren. In Preußen unterblieben Erbteilungen, wenngleich dies nicht allein die Hausverträge (von 1598/99 und 1710) bewirkten, sondern auch biologischer Zufall. Durch Erbschaft und Verträge erwarb es westliche Gebiete (Kleve-Mark, Minden-Ravensberg, Lingen, Ostfriesland) bzw. Ostpommern. Die dynastische Heiratspolitik der Hohenzollern zielte – regional different zu Wiener Heiratskreisen – jahrhundertelang auf ein Klientelsystem unter den benachbarten protestantischen Staaten von Mecklenburg über die (Braunschweiger) Welfen bis Hessen und die Thüringer Ernestiner ab. Seit 1648 bemühten sich die Berliner Monarchen ökonomisch um ein Aufholen durch Technologie- und Experten-Import. Gleichwohl blieb Sachsen lange Zeit an Bodenschätzen wie Gewerbe reicher, Altbayern weithin agrarisch geprägt.27 Zweitens erlaubte seine nordöstliche Randlage Preußen den Gewinn von Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen (Ostpreußen, polnische Gebiete) bzw. gegen Fremdmächte (Pommern). Hierbei kam ihm der Niedergang der benachbarten Mächte Schweden und Polen zustatten. Es ähnelte hier Österreich im Südosten, das aber häufiger und europaweit in Konflikte verwickelt war. Sachsen wie Bayern hingegen gehörten in Gänze zum Heiligen Römischen Reich, das Status quo, legitime Herrschaft und Frieden untereinander bewahren sollte. Wittelsbacher 27 Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie, S. 207–214 und Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763, Berlin 1994, S. 183–197, 368–377, beide auch für die folgenden Absätze. Andreas Pečar, Dynastie. Norm und Wirklichkeit im Hause Hohenzollern, online: perspectivia.net/content/publikationen/ friedrich300-colloquien/friedrich-dynastie/ pecar_dynastie. Daniel Schönpflug, Funktionale Verbindungen. Hohenzollernsche Heiraten vom 15. bis 20. Jahrhundert bzw. Anja Hirsch/Eric Hartmann, Statistiken zur Heiratspolitik der Hohenzollern von 1401 bis 1918, in: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (Hg.), Frauensache, S. 78–88 bzw. 92–99.

4. Analyse: Faktoren für Preußens machtpolitischen Aufstieg  

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wie Wettiner waren durch Heiraten, Katholizismus und Mentalität mit dem Habsburger Kaiserhaus verbunden. Im frühen 18. Jahrhundert begehrten beide Länder zwar gegen Habsburg-Österreich auf: Bayern unter den Kurfürsten Max Emanuel und Karl Albrecht im Bündnis mit Frankreich, Sachsen als Sekundant Preußens im ersten schlesischen Krieg. Nach massiven Niederlagen gaben sie dieses Großmachtstreben aber auf, agierten seit 1745 defensiv und erstrebten Zuwachs allenfalls im Einvernehmen mit Habsburg bzw. Preußen. Stete Gefährdung demonstrierten Besetzungen durch ihre großen Nachbarn: Bayern durch das es umgreifende Österreich 1705–13, 1742–44, 1778, Sachsen durch Preußen 1756–63, 1813/14. Die strategische Lage und höhere Reichstreue erschwerte beider Großmachtbildung. Drittens gab es fehlgeschlagene Chancen für Sachsen und Bayern. So erlangte ersteres mit Friedrich August I. zwar 1697 – um den Preis der Konversion und des Verlusts der Führung des Protestantismus im Reich – die Krone Polens, aber nur in Form der Personalunion. Polen blieb, anders als Ostpreußen, selbständige Wahlmonarchie; eine fixierte Landverbindung zu Sachsen verweigerten erst Österreich, dann Preußen. Durch die Krone Polens wurden Sachsens Herrscher in schwächende Konflikte mit Schweden und Rußland verstrickt (Großer Nordischer Krieg, polnischer Thronfolgekrieg) und ein von Sachsens Minister Brühl erstrebtes antipreußisches Bündnis gelang nicht. Potentielle Anwartschaften am Niederrhein, in Ostfriesland und Hessen scheiterten und die diversen thüringisch-sächsischen Territorien konnte Dresden nicht vereinnahmen. Das Haus Wittelsbach war 1698 durch das Testament des letzten spanischen Habsburgers zugunsten des Kurprinzen Joseph Ferdinand kurz davor, die Krone Spaniens zu erben, aber der Prinz starb vor Erbanfall. Wittelsbacher-Prinzen trugen jahrzehntelang westdeutsche Bischofsmützen, gehäuft z. B. Clemens August 1723–61 in Kurköln, Münster, Osnabrück, Paderborn und Hildesheim. Aber diese geistlichen Wahl-Fürstentümer blieben selbständig und wegen des Reichsrechts nicht staatlich zu inkorporieren. Im Windschatten des preußischen Überfalls auf Schlesien gewann 1742 der Wittelsbacher Karl Albrecht die Kaiserkrone; diese Wendung gegen Habsburg endete indes schon 1745 mit dem Tod des Kaisers. Danach blieb Bayern quasi im Schlepptau des übermächtigen Nachbarn Habsburg. Die Wittelsbacher Max Emanuel nach 1700 und Karl Theodor 1778/1784 erwogen den Tausch Kurbayerns gegen das habsburgische Belgien – erfolglos. Der Erwerb Kurbayerns hätte Habsburg-Österreich eine viel stärkere Verankerung im Reich gebracht, mit erheblichen Folgen für die österreichisch-preußische Konkurrenz. Deshalb verteidigte Friedrich II. 1778 Bayerns Eigenständigkeit gegen Österreich und suchte dieses mit dem Fürstenbund-Projekt 1785 zu isolieren. Die dabei bestätigte Anwartschaft auf die Territorien Ansbach-Bayreuth (7000 km2, 0,4 Mio. Einwohner) brachte Preußen 1792–1807 sogar an den Main.

36  I. Preußen zwischen Ost und West Viertens ging Preußen aus zwei großen Kriegsperioden territorial unversehrt bzw. sogar gestärkt hervor. Friedrich II. ließ im Siebenjährigen Krieg (1756–63) Sachsen wirtschaftlich-finanziell für seine Zwecke rigoros ausbeuten und behauptete so Schlesien und seinen Staat. Große Gewinne aus den mit Rußland vereinbarten Teilungen Polens 1772–95 ließen Preußens Gebiet anwachsen. Die Wettiner hingegen verloren 1763 die Krone Polens und Sachsen lag damit klar hinter der Großmacht Preußen zurück. 1806/07 schien mit Preußens Niederlage gegen Napoleon kurzzeitig das Ende dieses Großstaats bevorzustehen. Hingegen wurde Sachsen nun Königreich, aber erlangte (fast) kein preußisches Gebiet, nicht einmal Zuwachs aus den ab 1802 mediatisierten kleinen Territorien, sondern von Napoleon erneut die Krone Kernpolens. Unklugerweise blieb Sachsen 1813 zu lange Bündnispartner Napoleons, während Preußen als stilisierter Befreier von französischer Herrschaft weithin an Prestige gewann. Beim Wiener Kongreß 1815 erlitt Sachsen die Landesteilung: Preußen erhielt 58 % von dessen Gebiet (21.000 km2) mit 42 % von dessen Bevölkerung und – noch wichtiger – die Provinzen Rheinland-Westfalen. Deren Gewerbetradition und Rohstoffe erlaubten die Industrialisierung und folglich Preußens Führungsrolle in Deutschland. Das Habsburgerreich war um 1815 noch stärker als Preußen, um 1860 war Preußen der führende Industriestaat. 1866 bedeutete Preußens Siegesglück bei Königgrätz den Ausschluß Österreichs. Sachsen wie Bayern hatten sich gemäß ihrer Tradition Preußens Bundesbruch verweigert und auf Seiten Österreichs gekämpft. Die erneut erwogene Annexion ganz Sachsens scheiterte wie 1815 am Widerspruch der Großmächte, aber Preußens Führungsposition in Deutschland wurde nun evident. Fünftens sind in der Innen- und Militärpolitik Unterschiede erkennbar. In Preußen siegte der zentralstaatliche Absolutismus gegen die Landstände und Städte bis ca. 1720. In Sachsen und Bayern hingegen sprachen die Stände trotz mehrerer antiständischer Anläufe der Monarchen weiterhin mit, denn hohe Schulden aus den Kriegen bis 1745 und der Hofhaltung gaben ihnen einen Hebel in die Hand, und Reichsrecht schützte sie. Nicht zuletzt wegen landständischen Widerstands blieben Sachsens wie auch Bayerns Heeresstärken schon bis 1740 hinter Preußen zurück und wurden danach auf je unter 30.000 Mann reduziert. Ein Preußen ähnliches militärstaatliches Modell war nicht durchsetzbar. Dagegen vermehrten Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. die Armee systematisch von 1713: 40.000 über 1740: 83.000 auf 1786: 194.000 Mann. Dafür gab Preußen 70–80 % seines Staatsetats aus, Sachsen und Bayern meist nur ca. 30 %, Österreich um 50 %. Systematischer als Sachsen und Bayern strafften Preußens Monarchen zudem die Verwaltungsorganisation und betrieben merkantilistischen Protektionismus, um gegen die Nachbarn die eigene Wirtschafts- und Finanz-Basis zu stärken. Preußens Staatsorganisation sei ab 1713 auf die Unterhaltung der großen Armee ausgerichtet worden, urteilte Otto Hintze. Kurbayern hingegen blieb agrarisch und Sachsen setzte auf Handel und Entwicklung marktgerechter Privatwirt-

4. Analyse: Faktoren für Preußens machtpolitischen Aufstieg  

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schaft. Aufgrund dessen lagen Sachsens Bildungswesen, Wirtschaftsleistung und Wohlstandsniveau im 18. Jahrhundert vor den preußischen Äquivalenten. In Sachsen wie Bayern waren die Monarchen seit Friedrich August II. und Max III. Joseph (1733/45) unmilitärisch und primär auf Hofhaltung, Bauten, Kunst orientiert. Bayern setzte Alois Schmid zufolge ab 1745 auf Friedenserhaltung. Hingegen betrieben mehrere ehrgeizige Herrscher Preußens seit Kurfürst Friedrich Wilhelm Ressourcen-Mobilisierung, vergrößerten das Heer und strebten in den Mächte-Konflikten konsequent nach dem Großmachtstatus, den Friedrich II. mit Aggression errang. Deshalb hat der Dresdener Historiker Karlheinz Blaschke prononciert die Differenz zwischen Preußen und Sachsen auf den Unterschied zwischen expansivem Militär- und friedfertigem, wirtschaftlich erfolgreichem Kulturstaat zugespitzt. Der Leipziger Germanist Detlef Döring wertet Sachsens Entwicklungsweg als weder politisch noch kulturell defizitär im Vergleich mit dem normativ gesetzten Modell Preußen. Als letzter Faktor lassen sich Glück und Zufall anführen. Schon die nordöstliche Randlage Preußens ergab einen Vorteil; hingegen blieben Sachsen wie Bayern aufgrund ihrer langen Grenzen zu Österreich machtpolitisch eingehegt. Hätte Bayerns Kurprinz 1700 das spanische Reich geerbt, wäre Wittelsbach-Bayern europäische Macht geworden. Wäre Friedrich II. bei Kunersdorf (1759) gefallen bzw. die gegnerische Allianz bis 1763 siegreich gewesen, wäre kein Mirakel, sondern ein Debakel des Hauses Brandenburg (M. Füssel) gefolgt und Preußen auf den Status einer Mittelmacht zurückgefallen. Durch Napoleon drohte Preußen sogar die territoriale Aufteilung. In beiden Szenarien hätte Sachsen Gewinner werden können, während es realhistorisch bis 1763 wie auch 1815 massiv verlor. Zentraler Vorteil für Preußen war 1815 der Erwerb Rheinland-Westfalens anstelle des Großteils der polnischen Gebiete bei gleichzeitigem Rückzug Österreichs aus seinen südwestdeutschen Besitzungen. Preußens Niederlage 1866 hätte Sachsen und Bayern Gestaltungsspielraum gegeben und vermutlich zu einer Föderation gleichberechtigter deutscher Staaten anstelle des preußisch dominierten Reichs von 1871 geführt. All diese Möglichkeiten blieben indes unrealisiert. Insgesamt war 1871 somit der Abschluß einer nicht unvermeidlichen, jedoch folgerichtigen Entwicklung von anderthalb Jahrhunderten. Drei Faktorenbündel zusammen bedingten Preußens Aufstieg: Geographische Lage und Mächtekonstellationen als gegebene strukturelle Grundlagen, konsequent ihre Politikziele und Wirtschaftsmaximen verfolgende, ehrgeizige Monarchen und ihnen folgende Eliten als Träger individueller und staatlicher Leistung sowie nicht zuletzt Glück in Erbfolge bzw. Kriegen als kontingentes Element. Der Verweis auf ein bloßes „Gefühl der Verwundbarkeit“ (Ch. Clark) seit dem 17. Jahrhundert greift zu kurz.28 28 Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830, Paderborn 2004, S. 153–166. Reiner Groß, Geschichte Sachsens, 4. Aufl., Leipzig 2007, bes. S. 131–156, 166 ff., 186 ff.; Karlheinz Blaschke, Sachsens geschichtlicher Auftrag, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landes-

38  I. Preußen zwischen Ost und West

5.

1871–1945: Kaiserreich, Kriegsschuld, Freistaat, ­späte ­Westorientierung

Würde die kaiserlich-deutsche Außenpolitik königlich-preußischen Expansionslinien folgen? Die Außenpolitik des neuen Reichs wurde in Berlin betrieben, von größtenteils preußischem Personal unter Leitung von Preußens Außenminister Bismarck, der zugleich Reichskanzler war. Geopolitisch lag das Reich weiterhin zwischen Ost (Rußland) und West (Frankreich); durch eine Koalition dieser Großmächte drohte existentielle Gefährdung. Folgerichtig erklärte Bismarck nun Preußen-Deutschland für saturiert und desinteressiert an weiterer Vergrößerung. Dazu gab es – nach Andreas Hillgruber – drei außenpolitische Strategien: Erstens konnten einvernehmlich Interessensphären zwischen den Mächten abgegrenzt und durch traditionelle Ost-Allianz der Status quo gehalten werden. Demgemäß schloß Bismarck ein Drei-Kaiser-Bündnis 1873, gewann Österreich als Partner 1879 und rückversicherte sich der wohlwollenden Neutralität Rußlands 1887, denn Frankreich war ja Feind. Zweitens konnte gegen erwartete Gegner ein Präventivkrieg geführt werden. Bismarck sondierte die endgültige Ausschaltung Frankreichs 1875 diplomatisch in der Krieg-in-Sicht-Krise, aber England wie Rußland sahen darin den Kriegsfall. Bismarck steckte zurück und lehnte seitdem Kriegsforderungen preußischer Militärspitzen mehrfach entschieden ab. Drittens konnte Deutschland wie früher Preußen zwischen den Mächten lavieren, die außereuropäischen Konflikte zwischen Frankreich–England–Rußland nutzen und als „ehrlicher Makler“ antideutsche Bündnisse verhindern. Diese Strategie favorisierte Bismarck im berühmten Kissinger Diktat von 1877. Er wolle eine „politische Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unserer bekunde 21 (1997/98), S. 21–47; Frank Göse, „Die Preußen hätten keine Lust zu beißen“. Wahrnehmungsmuster im brandenburgisch-kursächsischen Verhältnis (…), in: C. Klettke/R. Pröve (Hg.), Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa, Göttingen 2011, S.  153–182; Winfried Müller u. a., Sachsen und Preußen. Geschichte eines Dualismus (= Dresdener Hefte 111), Dresden 2012; Detlef Döring, Brandenburg-Preußen und Sachsen in der Frühen Neuzeit im Vergleich, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 85 (2014), S. 153–185; Frank Göse u. a. (Hg.), Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft (Ausstellungskat.), Dresden 2014. Hans-Jürgen Bömelburg, Die Politik Friedrichs II. gegenüber Polen-Litauen, in: Olga Kurilo (Hg.), Friedrich II. und das östliche Europa. Deutsch-polnisch-russische Reflexionen, Berlin 2013, S. 13–44. Michael Kaiser, Die verdeckte Konkurrenz. Bayern und Preußen 1701–1871, in: Luh a. u. (Hg.), Preußen, Deutschland und Europa, S. 90– 127; Ernst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000, S. 80–86. Alois Schmid, Max III. Joseph und die europäischen Mächte. Die Außenpolitik des Kurfürstentums Bayern 1745 bis 1765, München 1987, S. 509–520. Marian Füssel, Das Debakel des Hauses Brandenburg 1762: Ein anderer Ausgang des Siebenjährigen Krieges, in: Ch. Nonn/T. Winnerling (Hg.), Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017, Paderborn 2017, S. 87–102.

5. 1871–1945: Kaiserreich, Kriegsschuld, Freistaat, ­späte ­Westorientierung 

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dürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“. Mit einem „System der Aushilfen“ suchte Bismarck der Entstehung einer feindlichen Koalition vorzubeugen. Dazu schloß er 1887 den Rückversicherungsvertrag mit Rußland und machte 1889 England das Angebot eines antifranzösischen Defensivbündnisses, das jedoch abgelehnt wurde. Er balancierte auf des Messers Schneide, denn Deutschlands Hauptpartner Österreich und Rußland stritten über die Erbschaft des Osmanischen Reichs, und Rußland orientierte sich im Zuge des Panslawismus sowie nach Bismarcks Sperrung des deutschen Kapitalmarkts für russische Kreditaufnahme 1887 wirtschaftlich in Richtung Frankreich. Als letzten Ausweg bezeichnete es Bismarck intern, Österreichs Großmachtstatus den Ambitionen Rußlands auf dem Balkan zu opfern. Einer als weitere Möglichkeit erwogenen Annäherung an England stand 1889 und erneut um 1900 nicht der neue deutsche Kolonialbesitz im Wege. Deren Erwerb hatte Bismarck nämlich 1884/85 für die kurzzeitig erwogene Entspannung gegenüber Frankreich und den Wahlkampf gegen die Liberalen sowie zugleich gegen eine künftige englandfreundliche Regierung unter dem Kronprinzen-Paar instrumentalisiert. Zentraler Grund blieb der asymetrische Stellenwert füreinander: Weder wollte die englische Weltmacht das Deutsche Reich auf dem Kontinent gegen Frankreich stärken, noch Bismarck mit dem ungeliebten liberal-parlamentarischen System Englands in Konflikte mit dem alten Verbündeten Rußland geraten. Bismarck war ein geschickter, meist mehrgleisig fahrender Außenpolitiker, der gefährliche Lagen umsichtig meisterte und den 1871 erreichten Status des Reichs in Europa allen Experimenten vorzog.29 Nach Bismarcks Abgang 1890 aber glaubten die Außenpolitiker der Berliner Wilhelmstraße wegen diverser Konflikte zwischen Frankreich, England und Rußland freie Hand zu haben. Die Außenpolitik wurde nun von Wirtschaftsexpansion und populistischem Nationalismus beeinflußt. Aber nicht aufgeputschte Massenleidenschaften machten deutsche außenpolitische Mäßigung unmöglich; vielmehr kritisierten die Mitte-Links Parteien Zentrum, Freisinn und SPD im Reichstag häufig die Regierungspolitik, wenngleich ihre zuweilen lautstarken Forderungen auch der Taktik folgten, sich selbst als bessere Wahrer deutscher Interessen darzustellen. Auf Welt- und Kolonialpolitik oder außenpolitische Provokation 29 Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht, Düsseldorf 1980, S. 19 ff., Zit. S. 22. Bismarcks Außenpolitik nach Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871–1918, 3. Aufl., München 2008, S. 15–23. Gregor Schöllgen/Friedrich Kießling, Das Zeitalter des Imperialismus, 5. Aufl., München 2009, S. 72 ff. Die Motivierung der Kolonialpolitik einzig gegen den Kronprinzen wie Winfried Baumgart (Hg.), Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883–1885, Berlin 2011, behauptet, bezweifelt Ulrich Lappenküper, „Ausgleich mit Frankreich“? Bismarck und die deutsche Kolonialpolitik, in: Historische Mitteilungen 24 (2011), S. 177–205.

40  I. Preußen zwischen Ost und West drängten weder Parteienmehrheit noch die Wirtschaft. Zumal die alltägliche Diplomatie blieb ein Arcanum der Berliner Staatsspitze. Die neue Führung um Kanzler Bernhard von Bülow, einer Unheilsgestalt, verfolgte expansive Ziele: Angesichts der Aufteilung des Globus müsse man Welt­ politik treiben und zur Weltmacht aufrücken, was die Monarchie auch innenpolitisch stabilisiere. Seit 1893 bestand mit dem französisch-russischen Bündnis die Zweifrontenlage, aber Bülow sabotierte dennoch 1899/1901 eine Annäherung an England, und Berlin ignorierte das Warnsignal des englisch-französischen Ausgleichs 1904. Bei Krisensituationen in Südostasien, in Marokko, auf dem Balkan agierte Berlin mit martialischen Drohgesten; die Flotte wurde verstärkt. Bülows fatale Weichenstellungen konnte sein Nachfolger Bethmann Hollweg nicht mehr korrigieren. Erst im Rückblick 1914 erkannte dieser den Grundfehler der Berliner Außenpolitik: „gleichzeitig Türkeipolitik gegen Russland, Marokko gegen Frankreich, Flotte gegen England“. Umgekehrt war für Frankreichs Präsident Poincaré im Gefolge der 2. Marokko-Krise 1912 klar, daß Berlin bei Entgegenkommen auftrumpfte und die Sicherheit Frankreichs von der Allianz mit Rußland abhing. Da zudem in Paris bekannt war, daß der deutsche Hauptstoß im Westen erfolgen würde, knüpfte Poincaré das Bündnis mit Rußland fester. Er ging im Juli 1914 vom Kriegswillen in Berlin aus und versicherte sich des Beistands Rußlands gegen den erwarteten deutschen Angriff. Indes drängte Frankreich weder zum Krieg noch erklärte es ihn, sondern zog ostentativ seine Truppen 10 km von der Grenze zurück.30 England wurde jahrelang durch martialische Reden und Schwanken zwischen antibritischer Kontinentalliga und antirussischer Balkan- bzw. Asienpolitik irritiert. Man sehe nicht, welche Ziele Berlin habe, ob man friedlich wirtschaftlich expandieren oder – ähnlich wie Preußen 1740 bzw. 1866/70 – kriegerisch volle Herrschaft über Europa erringen und Großbritannien als Weltmacht verdrängen wolle, stand in einer Denkschrift des englischen Diplomaten Eyre Crowe 1907. Öffentlichkeit, Admiralität und Politiker wie Lloyd George betrachteten Preußen-Deutschland als illiberalen Staat, der mit Heer und Flotte die Dominanz in Europa anstrebe. Zwecks Sicherung des globalen Empire vollzog England den 30 Martin Mayer, Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung. Die Parlamente in Frankreich, Deutschland und Großbritannien und die erste Marokkokrise 1904–1906, Düsseldorf 2002, S. 324–328 (Arcanum). Peter Winzen, Reichskanzler Bernhard von Bülow. Mit Weltmachtphantasien in den Ersten Weltkrieg, Regensburg 2013, S.  291 (1899/1901). Karl Dietrich Erdmann (Hg.), Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972, S. 188 (Zitat Bethmann Hollweg). Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914, München 2009, S. 228 (Poincaré). Eberhard Demm, Rezension Ch. Clark, Die Schlafwandler, online: www.ilcea4.u-grenoble3.fr/ fr/ressources/recensions-et-comptes-rendus; Gerd Krumeich, France’s Armaments and Military Situation in July 1914, in: A. Gestrich/H. Pogge von Strandmann (Hg.), Bid for World Power? New Research on the Outbreak of the First World War, Oxford 2017, S. 163–180.

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Ausgleich mit Japan und 1904 mit Frankreich, 1907 auch mit Rußland, während Wilhelms II. Björkö-Vertrag mit dem Zaren 1905 in Petersburg und Berlin nicht ratifiziert wurde. In Deutschland sprach man von „Einkreisung“. In Wahrheit hatte sich die Berliner Regierung durch plumpes, aggressives Auftreten selbst ins Abseits manövriert; sie galt als unberechenbarer Störenfried ohne jede Rücksichtnahme auf reziproke Sicherheitsbedürfnisse anderer Staaten. Die Berliner Führung pochte auf legitime Gleichrangigkeit mit anderen Großmächten, aber ihr Handeln erschien den Nachbarn als um internationales Recht unbekümmertes Drängen, ja Erpressung. Die von von Admiral Tirpitz ab 1898 gegen England konzipierte Kriegsflotte war Hauptgrund für Londoner Besorgnis. Flotten-Begrenzung lehnten er und Wilhelm II. 1912 dezidiert ab. Dies hielt Spitzendiplomat Gottlieb v. Jagow, der zwecks Front gegen Rußland Annäherung an England befürwortete und in der Julikrise vor dem Krieg gegen Rußland „nicht kneifen“ wollte, Tirpitz schon am 6.8.1914 als Kardinalfehler vor.31 Einige Historiker, etwa Christopher Clark, relativieren neuerdings die Bedeutung des Flottenbaus für den deutsch-englischen Gegensatz und verringern so Berliner Verantwortung: Die Führung Englands habe primär die Macht Rußlands als Bedrohung gesehen, nicht die deutsche Flotte, aber diese innenpolitisch instrumentalisiert. Meist habe Deutschland nur reagiert, etwa bei den MarokkoKrisen 1905/11, den Balkankriegen und bis zum Juli 1914; treibend seien hier Frankreich, Serbien und Rußland gewesen. Alle Länder trügen Schuld und seien schlafwandelnd in den Krieg getaumelt. Jedoch hält die Mehrheit der Forscher daran fest, daß uferlose deutsche Welt- und Machtpolitik, die Gefahr einer deutschen Hegemonie in Europa und der Flottenbau für die anderen Großmächte zentrale Bedrohungen waren.32 31 Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 275–289 (Auskreisung). Reiner Pommerin/Michael Fröhlich (Hg.), Quellen zu den deutsch-britischen Beziehungen 1815–1914, Darmstadt 1997, S. 108–120, bes. 110 f., 116 f. (Crowe). Magnus Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe, politische Kultur: Britanniens Bild von Wilhelms Deutschland in: B. Heidenreich/ S. Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011, S. 201–219; Peter Alter, Herausforderer der Weltmacht. Das Deutsche Reich im britischen Urteil, in: K. Hildebrand (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871–1945), München 1995, S. 159–177, S. 170 f. Gerd Krum­ eich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014, S. 252–255 (Jagow 18.7.1914); Michael Epkenhans, Tirpitz. Architect of the German High Seas Fleet, Washington 2008, S. 55 (Jagow). 32 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, überzeugt wegen Selektion der Quellen und widersprüchlicher Interpretation viele Historiker nicht. Jan Rüger, Revisiting the Anglo-German Antagonism, in: Journal of Modern History 83 (2011), S. 579–617, bes. 608–617, rückt die revisionistische Sicht, deutsche Flotten- und Weltpolitik seien für London irrelevant gewesen, zurecht; ähnlich auch P. J. Cain/A. G. Hopkins, British Imperialism 1688–2000, 2. Aufl., Harlow 2002, S. 383–395 und zuletzt anhand vieler Dokumente Matthew S. Seligmann

42  I. Preußen zwischen Ost und West Allerdings gab es keine Einbahnstraße zum Krieg, sondern mehrfach Phasen von Entspannung und kooperativer Kriegsvermeidung. Aber mit dem ab 1912 verschärften Rüstungswettlauf und wegen der vom Generalstab vertretenen Zwangsvorstellung, nur noch bis 1916/17 den Zweifrontenkrieg gewinnen zu können, war die Berliner Staats- und Militärführung zur Offensive bereit, um befürchteter künftiger Unterlegenheit zu begegnen. Krieg galt als unausweichlich: „je eher desto besser“ formulierte Generalstabschef Moltke seit 1912 mehrfach. Wirtschaftsführer wie Hugo Stinnes versicherten zwar, „3 oder 4 Jahre Frieden, und ich sichere die deutsche Vorherrschaft in Europa im Stillen“, und der Bankier Max Warburg äußerte zu Wilhelm II., daß Deutschland mit jedem Friedensjahr stärker werde. Aber weder Wirtschafts- noch Parteiführer sprachen im Juli 1914 mit. Vielmehr entschieden an der Staats- und Militärspitze einige wenige Männer um Kaiser, Kanzler, Generalstab. Alle waren in der Wolle gefärbte Preußen. Diese Berliner Führung ermutigte nach dem Attentat von Sarajewo mit dem sog. Blankoscheck das schwankende Österreich zum jetzt nötigen „kleinen Krieg“ gegen Serbien, dabei wohl wissend: „Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen“. Mit diesen Worten resümierte Kanzlerberater Riezler die Meinung von Kanzler Bethmann Hollweg am 7./8.7.1914. Der Kanzler meinte demnach: „Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente mit dieser Aktion auseinanderzumanoevrieren“. Selbst als mit Rußlands Unterstützung für Serbien der große Krieg zu erwarten stand, gingen Bethmann, Jagow und Berliner Entscheider das Risiko bewußt ein, um definitiv einen Prestigeerfolg für Deutschland wie Österreich zu erzielen. Bei echtem Willen zur Friedenswahrung hätte Berlin im Juli 1914 die Deeskalation betreiben können, aber die Berliner Führung nutzte die Serbien-Krise gezielt zu einem Test auf die Kriegsfähigkeit Rußlands. Bethmann Hollweg taktierte geschickt, um den Verteidigungsfall gegen Rußland behaupten zu können und damit die kriegswichtige Unterstützung der Sozialdemokratie zu gewinnen. In der letzten Juli-Woche schlug die Berliner Führung zwei diplomatische Vermittlungsangebote Englands aus und hoffte zugleich illusionsbefangen auf dessen Neutralität. Rußlands Ersuchen, Berlin möge Österreich vom bewaffneten Balkankonflikt zurückhalten, ließ man beiseite, und deckte die Kriegserklärung Österreichs an Serbien am 28. Juli. Selbst die (zeitaufwendige) russische Generalmobilmachung am 31. Juli war nicht irreversibel, aber in Berlin hatte man genau auf diesen Vorwand gewartet: Bewußt und sehenden Auges begann man den europäischen Krieg. u. a. (Hg.), The Naval Route to the Abyss. The Anglo-German Naval Race 1895–1914, Aldershot 2015, S. XIV–XXX, XLVIII. Die Ansicht der Mehrheit britischer Historiker bei: J. Paul Harris, Great Britain, in: Richard F. Hamilton/Holger H. Herwig (Hg.), The Origins of World War I, Cambridge 2003, S.  266–299, zuletzt bei Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S.  42–71, 43  f., 54  f. (deutsche Hauptschuld wegen Blankoscheck und Risikopolitik).

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Denn gemäß Militärplanung sollte Frankreich im 6-Wochen-Blitzkrieg besiegt werden, bevor Rußland voll mobilisierte; deshalb war der Feldzug im Westen rasch zu beginnen, zwecks Umgehung der ostfranzösischen Festungen mit Einmarsch in das neutrale Belgien. Getragen von preußischer PräventivkriegsMentalität erklärte Berlin am 1. bzw. 3. August 1914 den Krieg an Rußland bzw. Frankreich. Der Bruch der Neutralität Belgiens und damit die Gefahr deutscher strategischer Hegemonie in (West-)Europa gaben den Ausschlag für das Eingreifen Englands, dessen Regierung und öffentliche Meinung angesichts des Berliner Handelns in einem Großkonflikt mit ungewissem Ausgang nicht neutral bleiben wollten. Das Kalkül beim „Sprung in’s Dunkle“ gestand Bethmann Hollweg Anfang 1918 ein: „Ja, Gott, in gewissem Sinn war es ein Präventivkrieg“, denn ein Krieg zwei Jahre später habe als nicht mehr gewinnbar gegolten. Der Kanzler schloß sich also im Juli 1914 der fixen Zwangsvorstellung der Militärspitze an, daß einer für die Zukunft befürchteten Unterlegenheit mit offensiver Gewalt begegnet werden müsse. Riezler hielt Bethmann Hollweg privatbrieflich Ende August 1914 die wohlberechnete Inszenierung des Krieges explizit zugute, so daß dieser nicht als überrumpelt gelten kann. Für Angriffsabsichten seitens Rußlands oder Frankreichs gibt es keinerlei Beweise. Deshalb konstatieren viele sachkundige Historiker beim aktengestützten Vergleich der Rollen der europäischen Mächte bis 1914 und in der Juli-Krise unverändert, daß die Regierungen in Berlin und Wien nicht Alleinschuld rundum, aber unabweisbar die Hauptverantwortung bei der Kriegsauslösung 1914 trugen. Drei Punkte sind der Berliner Führung konkret anzulasten: Die bedingungslose, mehrfache Ermutigung Österreichs zum Militärschlag, das Ausschlagen aller Deeskalationsmaßnahmen selbst auf das Risiko des großen Krieges hin und die besinnungslose Akzeptanz des riskanten Schlieffen-Plans, der jeden Konflikt im östlichen Europa mit Westeuropa verknüpfte und das Eingreifen Englands wahrscheinlich machte.33 33 Stig Förster, Im Reich des Absurden: Die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: B. Wegner (Hg.), Wie Kriege entstehen, Paderborn 2003, S.  211–251, S.  214 (Stinnes). Erdmann (Hg.), Riezler, S. 183 f. (Zitate).Guenther Roth/ John C. G. Röhl (Hg.), Aus dem Großen Hauptquartier. Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann 1914–1915, Wiesbaden 2016, S. 124. Auf Deutschlands Hauptverantwortung beharren: Schöllgen/ Kießling, Zeitalter des Imperialismus, S. 184–196; Dieter Hoffmann, Der Sprung ins Dunkle oder wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde, Leipzig 2010, S. 93 ff., 188 ff., 325 ff. (Präventivkriegs-Verlangen der Militärs); Annika Mombauer, Die Julikrise, München 2014, bes. S.  117–120; Dies. (Hg.), The Origins of the First World War. Diplomatic and Military Documents, Manchester 2013, S. 15 ff., 155–164, 303–310; Oliver Janz, 14 – Der Große Krieg, Frankfurt/M. 2013, S. 17 ff., bes. S. 59–69; Krumeich, Juli 1914, S. 183 f., 252 ff.; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 95, 116, 119, 124; Ulrich Wyrwa, Zum Hundersten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), S. 921–940; Heinrich August Winkler, Die Konti-

44  I. Preußen zwischen Ost und West Preußische Besonderheiten lassen sich im Bereich von Militär und Kriegführung erkennen. Daß Macht vornehmstes Kennzeichen von Staaten sei und der Machtstaat sich nicht vom Völkerrecht beschränken lasse, Kriegsnotwendigkeit über internationalen Kriegsregeln stehe, diese Maximen besaßen jahrzehntelang unbestritten Geltung. Bethmann Hollwegs Wort, daß die belgische Neutralität nur auf einem Fetzen Papier stehe, gab dem Ausdruck. Deutsche Militärs oder Juristen beharrten auch im Kriegsverlauf auf dem Vorrang des Machtstaatsgedankens gegenüber allen rechtlichen Reglementierungen. Die Alliierten reagierten mit völkerund kriegsrechtswidrigen Maßnahmen, etwa der Seeblockade, aber regelmäßig trieb das Reich zuerst die Eskalation voran. Losschlagen selbst gegen eine „Welt von Feinden“, gefaßt im markigen Wort „viel Feind, viel Ehr“, bildeten eine eigenartig irrationale Vorstellung in Preußen; alle Opposition dagegen hielt man für naiv-lächerlich. Auf vermeintlich bedrohliche Isolierung mit Präventivkrieg zu reagieren und künftig erwartete Gegner durch Offensive je separat zu besiegen, hieß die etablierte militärstrategische Vorstellung. Der Schlieffen-Plan, der den nicht bestehbaren langen Zweifrontenkrieg in zwei schnelle, gewinnbare Feldzüge aufspalten sollte, war in sich ein tollkühnes Risikospiel, abhängig vom plangenauen Gelingen aller Teilschritte. Daß ein Zweifrontenkrieg nur mit viel Glück überhaupt gewonnen werden konnte, diese Wahrheit gab Preußens Militärführung nicht zu. Um die wirtschaftliche Ressourcenbasis für einen langen Krieg kümmerte sie sich wenig. Vor allem: Militärplanung und Außenpolitik liefen ohne Koordination nebeneinander, ja die Politiker folgten der Militärführung im Sommer 1914 blindlings. Die Heeresleitung Hindenburg/Ludendorff ab 1916 baute auf der in Preußen institutionellen Unabhängigkeit der preußischen Militärführung von der politischen Leitung auf. Die Alles-oder-Nichts-Strategie mit dem U-Boot-Krieg 1917 oder der Westoffensive vom März 1918 entsprach der Mentalität preußischer Militärs. Sie sahen Siege als Folge des stärkeren Willens an und riskierten lieber „ehrenvollen Untergang“ als Kompromißfrieden zu schließen. Kriegsminister Falkenhayn gab dem im August 1914 Ausdruck: „Selbst wenn wir darüber zugrunde gehen, schön war‘s doch!“ Zwar plädierten er und Tirpitz 1915 zwecks Konzentration auf England für einen Separatfrieden mit Rußland, aber fanden dafür wegen des alten Zwiespalts von Ost- oder Westorientierung bereits in Preußens Führung wenig Anklang. Frieden ohne Annexionen, den eine Reichstagsmehrheit, Kaiser nuität der Kriegspartei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.8.2014; Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue Politische Literatur 60 (2015), S.  5–25; Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg – Jahrestagsgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), S. 135–165, 159, 165; Wolfram Wette, Ernstfall Frieden, Bremen 2017, S.  145–168; Andreas Wirsching, Ursachen des Ersten Weltkriegs: Deutschland, in: H. Möller/A. Cubar’jan (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Rußland im europäischen Kontext, Berlin 2017, S. 1–9; Manfred Hildermeier, Ursachen des Ersten Weltkriegs: Rußland, in: Ebd., S. 10–19, 17 f.

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Karl von Österreich mit der Sixtus-Mission und süddeutsche Regierungskreise 1917/18 tendenziell anpeilten, lehnten Preußens Spitzen explizit ab.34 Ob die Tötung von ca. 6.500 Zivilisten in Belgien und Frankreich 1914 einzigartige Massaker und Kriegsverbrechen darstellten, wird unter Hinweis auf etwa 1.500 Zivilopfer bei der russischen Invasion Ostpreußens sowie 3.500 getötete serbische bzw. bis zu 30.000 zu Tode gekommene ukrainische Nichtkombattanten bei Österreichs Angriff 1914/15 noch debattiert. Daß sie völkerrechtswidrig und in Westeuropa zu Kriegsbeginn ohne Parallele waren, steht aber ebenso fest wie die Existenz von Greueltaten, ja Genoziden andernorts, etwa gegen die Armenier 1915, und daß die NS-Kriegsführung ab 1939 ungleich verbrecherischer war. Allerdings gründete die Idee eines Ost-Imperiums auf Preußens Polenpolitik, den Erfahrungen von 1917/18 und den Machtphantasien wilhelminischer Ultranationalisten. Mentaler „Wiederholungszwang“ (J. Burkhardt) des Losschlagens gegen eine vermeintliche Feindkoalition wie 1756 und Befangenheit in der Denkblockade Sieg oder Untergang resultierten 1914–18 in der Opferung von Millionen Kriegstoten. Für die Niederlage wurden dann leichthin das „Versagen der Truppe“, fatalistisch „die Vorsehung“ oder arglistig der „Dolchstoß“ aus der Heimat vorgeschoben und damit jede eigene Verantwortung geleugnet.35 Die Außenpolitik der Weimarer Republik stand im Zeichen der Revision des Versailler Friedensvertrags von 1919. Es ging um Streichung von Reparationen und Rüstungskontrolle, Rückgewinnung abgetrennter Gebiete (maximal 56.000 km2), Zurückweisung der alleinigen Kriegsschuld und Erringung politischer Gleich34 Clark, Preußen, S. 691–694, sieht nur die Militärdominanz als spezifisch an, überzeugender argumentiert Max Plassmann, Sieg oder Untergang. Die preußisch-deutsche Armee im Kampf mit dem Schicksal, in: Luh u. a. (Hg.), Preußen, Deutschland und Europa, S. 399–426; ähnlich bereits Adolf Gasser, Preußischer Militärgeist und Kriegsentfesselung 1914, Basel/Frankfurt a. M. 1985, S.  83–133, 92  ff., 117  ff. Verachtung allen Rechts stellt heraus: Isabel V. Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, Ithaca 2014, S. 73 ff., 317 ff. Manfred Nebelin, Ludendorff – Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2011, S. 401 ff. Mombauer, Julikrise, S. 113 (Falkenhayn). Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955), Regensburg 2007, S. 143 ff. 35 Alan Kramer, Dynamics of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007, S. 114 ff. und Ders., Deutsche Kriegsverbrechen 1914/1941: Kontinuität oder Bruch, in: S. O. Müller/C. Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 341–356. Alexander Watson, „Unheard-of Brutality“: Russian Atrocities against Civilians in East Prussia 1914–1915, in: Journal of Modern History 86 (2014), S. 780–825, 822 f. Johannes Burkhardt, Kriegsgrund Geschichte? 1870, 1813, 1756 – historische Argumente und Orientierungen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 9–86, S. 70. Holger Afflerbach (Bearb.), Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914–1918, München 2005, S. 117 (Vorsehung).

46  I. Preußen zwischen Ost und West berechtigung – freilich mit konzeptionell unterschiedlichen, nämlich kooperativ oder konfrontativ angelegten Strategien. Ein preußisches Außenministerium gab es nicht mehr, Preußens Dominanz in der Berliner Wilhelmstraße war geschwächt; formal betrachtet, gab es nur noch deutsche Außenpolitik. In mancherlei Sachfragen aber wirkten preußische Prägungen nach. Das Leitbild des nationalen Machtstaates folgte weiter Bismarckschen, die Weltmachtambition Wilhelminischen Linien. Strategisch lautete die Frage, ob Revision mit Sowjetrußland, wie im Rapallo-Vertrag 1922 angedeutet, oder mit den Westmächten erreichbar sei. Zentrale außenpolitische Krisenzonen lagen in Preußen, im Westen das demilitarisierte und 1923 besetzte Rhein-Ruhrgebiet, im Osten die nach Abstimmungen 1920/21 beschnittenen Provinzen Ostpreußen und Oberschlesien, beides Erprobungsfelder für republikfeindliche Freikorps. Der Streit um diese gemischtnationalen Gebiete mit dem wiedererstandenen Polen befeuerte deutschen territorialen Revisionismus, den der Berliner Neutralitätsvertrag mit der Sowjetunion 1926 offenhielt, ohne jedoch auch nur entfernt dem Hitler-Stalin Pakt zur Aufteilung Polens 1939 gleichzukommen. Vor allem verließen die Regierungsparteien von Republik und Freistaat, zuvörderst die Sozialdemokratie, konflikttreibende preußisch-deutsche Traditionen. Sie trieben rechtsstaatliche Minderheitenpolitik, z. B. bei der Zulassung fremdsprachiger privater Volksschulen in Schleswig und Ostpreußen/Ostpommern 1926/28; dort nahm die Stimmenzahl für dänische bzw. polnische Minderheiten-Parteien bei Wahlen klar ab. Die meist mit Gustav Stresemann assoziierte Verständigungsund kooperative Außenpolitik konzipierte der sozialdemokratische Außenminister der Jahre 1919/20 und Kanzler 1928/30, Hermann Müller, erst neuerdings historiographisch recht gewürdigt. Dieser versöhnliche Kurs speziell gegenüber Frankreich (Stichwort Locarno-Vertrag 1925) bedeutete Verzicht auf Elsaß-Lothringen, aber Aussicht auf Rheinland-Räumung, Eintritt in den Völkerbund und das Ende außenpolitischer Isolation. Ökonomisch sinnvolle Weltwirtschaftspolitik statt drohender Weltpolitik verbesserte die Beziehungen zu Großbritannien, das bis 1938 legitime deutsche Ansprüche anerkannte, und zu den USA, deren Kredite ökonomische Stabilisierung erlaubten. Parlamentarisch trugen SPD, Zentrum und Linksliberale die neue Politik des Gewaltverzichts und der Vereinbarungen; die Rechte, die im preußischen Osten starken Deutschnationalen, verteufelte sie. Die Nationalisten nutzten dazu neben Kriegsschuld-Leugnung und Dolchstoß-Legende borussische Mythen wie Friedrich II. oder Bismarck. Der kooperative republikanische Revisionismus bildete zwar in der Rückschau einen gewissen Anknüpfungspunkt, war aber in Methoden wie Zielen grundsätzlich verschieden von den menschenfeindlichen radikalrassistischen Maximen, die stufenweise seit der deutschnationalen Regierung 1932 und der Machtübergabe an Hitler 1933 Platz griffen.36 36 Forschungsüberblick: Gottfried Niedhart, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2. Aufl., München 2006, S. 53–62, 77–80 (kooperativer bzw. konfrontativer Revisionismus). Thomas Göthel, Demokratie und Volkstum. Die Politik gegenüber den na-

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Vier Punkte lassen sich für die außenpolitische Entwicklung vom 17. zum 20. Jahrhundert festhalten. Erstens gebot anfangs der Status Preußens als mittlere Macht das Lavieren zwischen den Großmächten, um bei den Siegern zu sein und Territorium zu gewinnen; bis 1740 handelte Preußen opportunistisch, aber im Rahmen des Zeittypischen. Zweitens gelangte Preußen in drei Sprüngen zur Großmacht: durch Friedrichs II. Aggression, durch die Gewinne beim Wiener Kongreß, durch Bismarcks Kriege. Die langjährige Anlehnung an Rußland und der antipolnische Konsens waren hierfür zentrale Basis: Karl Marx hat den Sachverhalt 1863 in das Bild gefaßt, Preußen sei der „Schakal Rußlands“. Drittens war der unverbrämte Machtstaatsgedanke seit Bismarck Denkmaxime; aber erst der in Selbstüberschätzung mit Drohgesten unternommene Aufbruch zur Weltmacht der Wilhelminer nach 1890 wurde im Ausland als Bedrohung der Sicherheit in Europa wahrgenommen. Hatten bis 1870 primär kleinere Nachbarn wie Sachsen (1756, 1815), Hannover (1805, 1866), Polen (ab 1772) oder Dänemark (1864) Preußen außenpolitisch gefürchtet, so präsentierte sich Preußen-Deutschland nach 1890 aufgrund irrlichternder Welt- und desaströser Flottenpolitik weithin als Gefahr Europas und beförderte bis 1907 den Zusammenschluß von Frankreich, Rußland und England. Viertens kennzeichnete nach der Niederlage 1918 ein von Problemlagen und Mentalitäten Preußens geprägter Revisionismus die Außenpolitik der Weimarer Republik, hielt sich aber noch bis 1932 an kooperative Vereinbarungen. Preußische Problemlagen und Mentalitäten bildeten so eine gewisse Brücke zur nationalsozialistischen Außenpolitik, deren Endziele und Methoden jedoch deutlich anderen, radikalrassistischen Maximen folgten. Antipreußische Reflexe aus früheren Zeiten kamen ins Spiel, als die Anti-Hitler Koalition 1943/44 die territorial-staatliche Nachkriegsordnung plante. In Großbritannien und den USA, aber auch in Frankreich, führte man die NS-Herrschaft auf preußische Traditionen von Militarismus, Obrigkeitsstaat und generell antiwestliche Mentalität zurück, zumal selbst Widerstandskreise bei Kontakten in England am vordemokratischen, preußisch dominierten Machtstaat zwischen Ost und West festhielten. Angesichts des deutschen Vernichtungskriegs in Osteuropa billigten die Westmächte Gebietsansprüche Polens in Preußens Osten und Stalins Gewaltpolitik schuf Fakten. In Umkehrung von Preußens Anti-Polenpolitik wurde Polen durch Zuweisung des Landes östlich der Oder restituiert – nach der polnischen zahlte damit die jahrhundertelang ansässige deutsche Bevölkerung den Preis für inhumane Politik. Die westalliierte Überzeugung von der unheilvollen tionalen Minderheiten in der Weimarer Republik, Köln 2002, bes. S. 387–405. Rainer Behring, Hermann Müller und Polen. Zum Problem des außenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 55 (2015), S. 299–320, und Ders., Hermann Müller (1876–1931) und die Chancen der Weimarer Republik, in: P. Brandt/D. Lehnert (Hg.), Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich 1918–1983, Bonn 2017, S. 127–157.

48  I. Preußen zwischen Ost und West Rolle Preußens und seiner Eliten zumal ab 1870 lag dem Kontrollrats-Dekret zur Auflösung Preußens vom 25.2.1947 zugrunde. Der föderal-demokratische Neustart West- und Süddeutschlands schien nur ohne das russisch besetzte Altpreußen möglich. Das war Realismus, nicht, wie Christopher Clark nahelegt, irrationaler Exorzismus. Schwankende Großmachtpolitik zwischen Ost und West wie Preußen durfte und konnte die westdeutsche Bundesrepublik nicht treiben; sie wurde Teil des atlantischen Bündnissystems. Seit dem historischen Umschwung 1989/91 sind das „rote Preußen“ der DDR wie die polnisch gewordenen Ostprovinzen bündnispolitisch im Westen angekommen (Heinrich August Winkler). Die unter riesigen Menschenopfern gescheiterte Großmacht (Andreas Hillgruber) ist definitiv Geschichte.37

37 Lothar Kettenacker, Preußen in der alliierten Kriegszielplanung 1939–47, in: Ders. u. a. (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, München 1981, S. 312–340, bes. S. 332 f. Robert Cooper, The Myth of Prussia, in: C. Buffet/B. Heuser (Hg.), Haunted by History. Myths in International Relations, Oxford 1998, S. 223–234, 232 f. Bernd-Jürgen Wendt, München 1938. England zwischen Hitler und Preußen, Frankfurt/M. 1965, S. 17–28. Henning Köhler, Das Ende Preußens in französischer Sicht, Berlin 1982, S. 58 f., 75 ff. Clark, Preußen, S. 761 ff. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000.

II. Preußens Wirtschaft Landesausbau, Staatswirtschaft, Industrialisierung, Zoll- und Finanzpolitik

Nichts ist spannender als Wirtschaft lautete früher der Werbeslogan einer Fachzeitschrift und schon im Werk von Karl Marx spielt die ökonomische Basis für die gesellschaftliche Entwicklung bzw. Ideologie eine wichtige Rolle. Epochenübergreifend besaß die Ökonomie für die Macht von Staaten wie den Alltag und die Lebensqualität von Bürgern größte Bedeutung. Im Falle Preußens blieb die Rolle des Staates für die wirtschaftliche Entwicklung vom Merkantilismus über die Reformzeit bis zum Kaiserreich durchgängig erkennbar. Die Leitfrage hat machtpolitische, strukturelle und finanzpolitische Dimensionen. Es geht um ökonomische Zielsetzungen und Wirtschaftspolitik, um Infrastrukturausbau und Gewerbeförderung sowie um die säkuläre Revolution der Industrialisierung, zumal deren Leitsektoren Montanbereich und Eisenbahnbau. Dabei sind sowohl die Ost-West-Disparitäten zwischen den Wirtschaftsregionen Preußens zu betrachten wie speziell die Interaktion von Staat und Wirtschaft, die ins politische Feld hinüberspielt. Es sind distinkte Phasen zu unterscheiden, mehrere Streitfragen der Wirtschaftsgeschichtsschreibung zu beleuchten und die ökonomischen Effekte staatlicher Rahmensetzungen wie auch die Rückwirkungen von wirtschaftlichen Entwicklungen auf die Staatspolitik zu betrachten. Nicht zuletzt geht es um Finanzen, Steuern, Geld, denn vielfach gilt in der Geschichte: Pecunia nervus rerum.

1.

Das 18. Jahrhundert: Merkantilismus und Staatswirtschaft

Der vorindustrielle Staat des 17. und 18. Jahrhunderts war arm; Landwirtschaft, Handwerk und etwas Handel bildeten seine ökonomische Basis. Produktion und Steuereinnahmen nahmen wenig durch technische Verbesserungen, stärker durch Bevölkerungswachstum zu, konnten aber vor allem rasch durch Territorialgewinne gesteigert werden – dies war ein wirtschaftlicher Grund für die Expansionspolitik Preußens wie anderer Staaten. Insgesamt stand das an Bodenschätzen arme, geographisch abseits der großen europäischen, dann sogar überseeisch ausgerichteten Gewerbe- und Handelszentren gelegene Land gegenüber dem entwickelteren Westeuropa klar zurück. Aufholen hieß das Motto ab 1648. Kurfürst Friedrich Wilhelm nahm sich die Niederlande zum wirtschaftlichen Vorbild. Er und seine Nachfolger forcierten den inneren Landesausbau: Durch Kanalbau ab

50  II. Preußens Wirtschaft 1662 – gute Straßen baute man wegen militärischer Bedenken erst nach 1787 –, durch Werbung für Einwanderung, durch Gewinnung neuer Ackerflächen und Aufbau staatlicher Domänen, durch Förderung von Tuchproduktion (1713 Königliches Lagerhaus Berlin) und Gewehrfabrikation (1722 Fabrik Potsdam/Spandau), durch verstärkte Steuererhebung in Stadt (Akzise) und Land (Kontribu­ tion), durch protektionistische Wirtschaftspolitik. Es ging darum, den Abfluß von knappem Edelmetall-Geld zu verhindern und bei wichtigen Waren sukzessive Autarkie zu erreichen. Die Doktrin hieß Merkantilismus oder Kameralismus im deutschen Kontext.38 Merkantilwirtschaft und Militäraufbau standen Wolfgang Neugebauer zufolge eindeutig im Mittelpunkt der frühneuzeitlichen preußischen Staatstätigkeit. Die Stärkung der eigenen Wirtschaftskraft unternahm man zuvörderst für Heereszwecke, deren Anteil an den Staatsausgaben 1713: 55 %, 1740: 71 % und 1763– 86: 80 % betrug. Dazu bauten Preußens Herrscher Verwaltungsstrukturen auf: 1679 das Generalkriegskommissariat, 1723 das Generaldirektorium, zugeordnet provinziale Kriegs- und Domänenkammern, und entmachteten so bisher autonome lokale Korporationen. Nach 1712 beaufsichtigten regionale Kriegs- und Steuerkommissare (commissarius loci) je 6–12 Städte; um 1765 gab es 52 solcher Kommissare. Es war die Absicht der Monarchen, die Städte in die landesherrliche Verwaltung einzubinden, die kommunale Autonomie in Personalauswahl und Haushalt abzuschaffen und die Steuer Akzise als Staatseinnahme auszuweiten. Kommunale, bürgerschaftliche Vertretungen konnten allenfalls bei der lokalen Umsetzung staatlicher Vorgaben mitwirken, so daß manche Forscher die Charakterisierung beauftragte (und staatlich kontrollierte) Selbstverwaltung“ benutzen – ein ambivalenter Begriff, der eindeutiges Urteil scheut. Da Preußen weithin ein Agrarstaat war, wurden staatliche Agrarbetriebe, die Domänen, ausgebaut. Nach umfangreichen Ankäufen umfaßten sie 1740 ein Drittel allen land- und fortwirtschaftlichen Nutzlandes Altpreußens und lieferten rd. 35 % der Staatseinnahmen, 1805 noch 28 %, deutlich mehr als in Bayern oder Sachsen (je unter 20 %), im Habsburger Reich (16 %) oder in Frankreich (11 %). Preußen baute so vergleichsweise massiv auf Staatswirtschaft und Lenkung der Ökonomie „von oben“ – mit allen Vor- und Nachteilen.39 38 Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens, Berlin 1984 sowie Ders., Preußens Wirtschaft, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, hg. v. O.  Büsch/W. Neugebauer, Berlin 1992, S.  449–604. Hier finden sich Abschnitte zu mehreren der nachfolgend berührten Themenfelder. Zu Problemen des Idealtypus Moritz Isenmann (Hg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte, Stuttgart 2014. Zur frühen Wirtschaftspolitik Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 173 ff., 250 ff., Bd. 2, S. 50, 294 ff. 39 Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S.  296. Frank Göse, Die Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I., in: H.-Chr. Kraus/F.-L. Kroll (Hg.), Historiker und Archivar im Dienste Preußens (Fs. J. Kloosterhuis), Berlin 2015, S.  63–101, 85–90, 100  f. Zu Preußen als Domänen-Staat Eckart Schremmer,

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Zehntausende von Zuwanderern leisteten Entwicklungshilfe: Protestantische Hugenotten aus Frankreich seit 1685, 7.000 Pfälzer und 2.000 Schweizer ab 1689, Franken und Schwaben ab 1724, ca. 20.000 Salzburger seit 1731, daneben Böhmen und Holländer, also meist Menschen aus dem (Süd-)Westen. Unter vorteilhaften Bedingungen vor allem in Brandenburg und Ostpreußen staatlich angesiedelt, sollten sie als Fachkräfte dem Gewerbe, als Bauern der Vieh- und Ackerwirtschaft aufhelfen. 1755 waren ca. 11 % aller Berliner Migranten – Berlin profitierte stets von Zuwanderern. Schon um 1800 waren schätzungsweise ein Fünftel der Einwohner ganz Preußens Nachkommen von Einwanderern. Freilich ließ nicht nur Preußen 15.000 Hugenotten ins Land, die Mannheimer Kurfürsten und andere Herrscher agierten genauso; den Hauptteil von 200.000 Franzosen nahmen die Niederlande und England auf.40 In den gut einhundert Jahren nach 1648 wurden die Fundamente von Preußens Ökonomie verbreitert; ab Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr sie eine spezifische Wendung. Die inländische Gewehr- und Militärausrüstungsproduktion wurde forciert. In ausgewählten Branchen sollten durch Zuschüsse des Staates Manufakturen, d. h. größere, arbeitsteilige Gewerbebetriebe mit Serienproduktion entstehen. Konzentriert auf die Räume Berlin und Magdeburg, aber dadurch zum Nachteil von Nachbarstädten wie Halle, Halberstadt oder Frankfurt/Oder, wurden Verarbeitungsbetriebe, vor allem im Textilbereich, privilegiert. Bis heute besteht die Berliner Porzellanmanufaktur (KPM), ab 1763 ein Staatsunternehmen aus Prestigegründen als Konkurrenz zum älteren sächsischen Meißen. Nach den Kriegsverwüstungen leitete Friedrich II. persönlich ab 1763 den Wiederaufbau mit Hunderten von Dekreten selbst für kleinste Fragen. Dieses sog. Retablissement – im Kern die Reparatur der selbstverschuldeten Kriegsschäden – wurde später vielfach verklärt, und oft gar nicht gesehen, daß der bis 1786 angehäufte Staatsschatz (51 Mio. Taler abzüglich 12 Mio. Taler Schulden) teils aus selbst verfälschten, außerpreußisch minderwertigen Münzen bestand. Pure Legende ist die Ansicht, Friedrich II. habe die Kartoffel in Deutschland eingeführt, denn sie wurde längst in der Pfalz angebaut, in süddeutschen Kochbüchern traktiert und war auch in Preußen bekannt. 1756–68 ergingen allerdings Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas. England, Frankreich, Preußen und das Deutsche Reich 1800 bis 1914, Berlin 1994, S. 111, 116; Mark Spoerer, The Revenue Structure of Brandenburg-Prussia, Saxony and Bavaria, in: S. Cavaciocchi (Hg.), La fiscalità nell’economia europea Secc. XIII–XVII, Bd. 2, Florenz 2008, S. 781–791. Peter H. Wilson, Prussia as a Fiscal-Military State 1640–1806, in: Ch. Storrs (Hg.), The Fiscal-Military State in Eighteenth-Century Europe, Farnham 2009, S. 95–124, 102–104. 40 Stefi Jersch-Wenzel, Preußen als Einwanderungsland, in: Preußen – Versuch einer Bilanz, Bd. 2, hg. v. M. Schlenke, Reinbek 1981, S. 136–161. Alexander Schunka, Migranten und kulturelle Transfers, in: B. Sösemann/G. Vogt-Spira (Hg.), Friedrich der Große in Europa, Bd. 2, S. 80–96.

52  II. Preußens Wirtschaft mehrfach „Kartoffelbefehle“ Friedrichs, um Getreide als Heeresproviant aufzusparen, aber die Bauern blieben skeptisch. Erst nach der Hungersnot 1772 stieg der Kartoffelanbau in Preußen auf breiter Front. Daß Friedrich ein Kartoffelfeld von Soldaten bewachen ließ, um mißtrauischen Bauern vom Wert der Feldfrucht zu überzeugen, verkürzt jahrzehntelange Entwicklungen auf eine Episode. Die Rübenzucker-Herstellung hingegen, 1747 erstmals in Berlin erprobt und nach 1805 ein Katalysator moderner Landwirtschaft, entging seiner Aufmerksamkeit ganz.41 Friedrichs wohl bekannteste Initiative bildete die Seidenherstellung. Aus brandenburgischen Maulbeerbäumen sollte das wertvolle Wirtschaftsgut Seide hergestellt werden, um so ohne teure (französisch-italienische) Importe Preußens Handelsbilanz und Steuereinnahmen zu verbessern. Staatsseitig wurde Anbau angeordnet, propagiert, und hoch subventioniert (rd. 2  Mio. Taler). Aber viele Bäume gingen klimabedingt ein und bäuerliches Lebensinteresse galt eßbaren Feldfrüchten; preußische Seide war teuer und nicht hochwertig, so daß die interne Produktion 1783/84 nur einen Bruchteil der Importe ausmachte – in der Gesamtbilanz somit ein Fehlschlag, denn Autarkie war gegen widrige Standortfaktoren nicht gewinnbringend erreichbar. Die einfachere und weniger standortspezifische Leinen- und Baumwollherstellung hingegen gedieh in Brandenburg, zumal Einfuhrverbote in Preußens mittleren Provinzen hier und bei anderen Waren einen starken Kaufzwang für inländische (Manufaktur-)Erzeugnisse schufen. Manche Unternehmen scheiterten jedoch wegen Fachkenntnismangel, Marktferne und etablierter außerpreußischer Konkurrenz, z. B. eine großgewerbliche Uhrenfabrikation in Berlin. In einer quellenfundierten Studie hat Rolf Straubel argumentiert, daß Abschottung nach außen, Staatsdirigismus und Subventionen notwendige Vorgehensweisen bildeten. Die merkantilistischen Maßnahmen seien als regionale Entwicklungspolitik für Berlin-Brandenburg positiv zu werten, weil über die angesetzten Manufakturbetreiber hinaus auch kleinere Betriebe entstanden und allmählich ein selbstbewußtes Wirtschaftsbürgertum in Berlin erwuchs. Dagegen hält Wilhelm Bringmann Dirigismus und Bevormundung für schädlich in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit, unternehmerische Eigeninitiative und bürgerliches Selbstbewußtsein. Auf diese Streitfrage ist nachfolgend noch zurückzukommen. 41  Grundlegend: Hugo Rachel, Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, in: O. Büsch/W. Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte, Bd. 2, S. 951–993; der Aufsatz enthält die Essenz von Ders. (Bearb.), Acta Borussica. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. Handels-, Zoll- und Akzisepolitik, 3 Bde., Berlin 1911–28. Zu Friedrich Wilhelm I. vgl. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S.  22–50. Peter Blastenbrei, Der König und das Geld. Studien zur Finanzpolitik Friedrichs II., in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 6 (1996), S. 55–81. Antonia Humm, Friedrich II. und der Kartoffelanbau in Brandenburg-Preußen, in: F. Göse (Hg.), Friedrich der Große und die Mark Brandenburg, Berlin 2012, S. 183–215.

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1765/66 sah Friedrich II. seine Beamten als unfähig an und steigerte den fiskalischen Druck. Ausländer sollten dem Staat mehr Geld bringen; etwa 300 Franzosen übergab er die Régie, d. h. im Staatsauftrag und gegen Gewinnbeteiligung die zentrale Leitung von Steuerwesen und Zöllen sowie (halb)staatlichen Unternehmen. Dies erbrachte bis 1786 höhere Staatseinnahmen (gut 7 statt 4–5 Mio. Taler jährlich 1766), vor allem aus der Akzise. Kritik duldete Friedrich II. nicht: Als im Generaldirektorium Finanzrat Erhard Ursinus 1766 die Subventionierung unrentabler Seidenproduktion sachlich kritisierte und statt Zollkriegen und Monopolen eine liberalisierte Handelspolitik forderte, ließ ihn Friedrich absetzen sowie wegen letztlich unbeweisbarer Korruption in Spandau inhaftieren. Aber die Régie blieb die bestgehaßte Institution der Zeit. Eingaben von Bürgern, Publizisten, sogar Staatsbeamte klagten vielfach über Steuerdruck, Korruption und Durchsuchungen zwecks Auffindung besteuerbarer Waren. Hätte Friedrich Wilhelm II. 1787 die knebelnde Régie der bleiernen Zeit unter Friedrich II. nicht rasch abgeschafft, wäre vielleicht eine revolutionäre Situation wie in Frankreich entstanden. Dieser Widerruf markierte einen späten Sieg für die debattierende Öffentlichkeit und – immerhin – eine Selbstkorrektur des preußischen Beamtenstaats.42 Die Régie sollte auch die Staatsmonopole (Salz, 1765 Tabak, 1781 Kaffee) strikt durchsetzen, erbrachte aber wegen Schmuggel und trotz Einsatzes von 200 Invaliden als berüchtigte „Kaffeeriecher“ nicht die erhofften Summen. Erheblich mehr Einnahmen lieferte die ab 1720 flächendeckende Verbrauchssteuer Akzise, die städtischen Konsum belastete und zu deren Kontrolle um Berlin wie andere Städte regelrechte Akzise-Mauern unterhalten wurden. Eine zentral wichtige Maßnahme unterließ Friedrich II., die Bauernbefreiung. Zwar schrieb er 1777, die Lage der leibeigenen Bauern sei „die unglücklichste und muß das menschliche Gefühl am tiefsten empören“. Deren Ortsbindung (Schollenzwang) und entgeltlose Frondienste für Grundherrn (3 Tage pro Woche) abzuschaffen, vermied er aber, denn „diese widerwärtige Einrichtung“ abzuschaffen, würde die „ganze Landwirtschaft über den Haufen werfen“ und den Adelsstand schädigen. Den Adel als Basis des Heeres nämlich stützte Friedrich II. stets massiv, mit der Reservierung der Offizierstellen, mit dem Verbot des Kaufs von Rittergütern durch Bürgerliche oder der Einrichtung von Kreditinstituten 42 Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, 129 ff. Rolf Straubel, Kaufleute und Manufakturunternehmer. Eine empirische Untersuchung über die sozialen Träger von Handel und Großgewerbe in den mittleren preuß. Provinzen (1763–1815), Stuttgart 1995, S. 430 (Uhren), 475 f. Bringmann, Friedrich der Große, S. 490–494 (Seide) und Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797), S.  48–68 (generelle Kritik). Rolf Straubel, Zwischen monarchischer Autokratie und bürgerlichem Emanzipationsstreben. Beamte und Kaufleute als Träger handels- und gewerbepolitischer Veränderungen im friderizianischen Preußen, Berlin 2012, S. 48–64 (Ursinus). Florian Schui, Taxpayer opposition and fiscal reform in Prussia, c. 1766–1787, in: Historical Journal 54 (2011), S. 371–399 (Widerruf der Régie).

54  II. Preußens Wirtschaft für die adeligen Grundbesitzer, die sog. Landschaften (Schlesien 1770, Ostpreußen 1788). Zwecks Gewinnung potentieller Rekruten betrieb Friedrich II. auch sog. Bauernschutz: Skrupellosen Gutsherren wurde das Einziehen von bäuerlichen Höfen und die blanke Vertreibung der Stelleninhaber grundsätzlich untersagt und die Bauern auf staatlichen Domänen lebten gesicherter. Einen positiven Aspekt des Wiederaufbaus und der ökonomischen Reglementierung bildete die Anlage von staatlichen Getreidespeichern, die in den 1770er Jahren Hungersnöte infolge Mißernten linderten. Diese Maßnahmen galten Otto Hintze als „Höhepunkt seiner Leistungen“ und wurden von der borussischen Historiographie gefeiert. Das Hauptziel des Merkantilismus war aber nicht Wohlfahrt der Untertanen an sich, sondern Finanzierung des wachsenden Heeres und Staatsschatzbildung zwecks Kriegsfähigkeit Preußens. Ganz am Lebensende ließ Friedrich II. sich auf einen wegweisenden Neuansatz ein. 1785 kam der Freundschafts- und Handelsvertrag mit den USA zustande, allerdings vor allem auf deren Initiative, denn die junge Nation erstrebte solche Verträge mit europäischen Mächten (1778 Frankreich, 1783 Holland und Schweden). Um den Export von Leinen und Tuchen, Porzellan und Eisenwaren in die USA zu fördern, wurde der Import amerikanischer Waren von Indigo bis Pelzen zollfrei gestellt und für die Waren galt freie Preisvereinbarung. US-Unterhändler Benjamin Franklin brachte in den Vertrag sogar humanitäre Bestimmungen für Zivilisten im Kriegsfall und Kriegsgefangene ein, die freilich bei der Erneuerung 1828 entfielen. Der Vertrag von 1785 diente späteren Handelsverträgen deutscher Staaten als Vorbild. Ebenfalls in längerfristiger Perspektive positiv wirkte die Konzentration Preußens auf die Waren-Produktion, später die Industrie. Staatliche Gewerbeförderung kam unter Friedrich vornehmlich den Räumen Berlin und Magdeburg zugute, aber damit wurde in Preußen, freilich auch in anderen Regionen des Reichs, eine gewisse Weichenstellung vorgenommen. Bis heute stellt die Stärke des Industriesektors ein wichtiges Charakteristikum der deutschen Wirtschaftsstruktur dar, allen postindustriellen Tendenzen seit den 1980er Jahren zum Trotz. Aber eine staatlich verordnete, forcierte Produktion wird erst selbsttragend, wenn reale Faktoren wie Rohstoffbasis, Technik, Arbeitskräfte und Marktverhältnisse zureichend in Rechnung gestellt werden. Die Nachteile und Kosten der merkantilistischen Staatswirtschaft à la Friedrich II. waren bereits für die Zeitgenossen im späten 18. Jahrhundert evident.43 43 Zu den Bauern: Kunisch, Friedrich, S. 467–469; Zitate Friedrichs II. nach: Regierungsformen und Herrscherpflichten (1777), in: Gustav Berthold Volz (Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen, 10 Bde., Berlin 1912–14, Bd. 7, S. 233; Hintze, Hohenzollern, S.  387 (Zitat). Lars Atorf, Der König und das Korn. Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht, Berlin 1999, überbewertet Getreidemagazine im Gesamtkontext. Ingeborg Schnelling-Reinicke, Der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und

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Ein Fazit zu Preußens Wirtschaftssystem im 18. Jahrhundert läßt sich in folgenden sechs Punkten ziehen. Erstens blieben die Sozialverhältnisse von Land und Stadt ständisch verfestigt, der Adel privilegiert, aber die 20 % Stadt- wie die 80 % Landbevölkerung stärker belastet. Die adeligen Rittergutsbesitzer waren gutenteils steuer- und zoll-, grundsätzlich sogar militärfrei und konnten Steuern auf ihre Gutsuntertanen oder die Bauern abwälzen, die den Großteil der ländlichen Steuer (Kontribution) zahlten. Die Belastung der Bauern damit betrug geschätzte 33 % –40 % des Bodenreinertrags und traf sie hart. Die Steuerbelastung pro Kopf (direkte und indirekte Steuern) der vergleichsweise armen Einwohner Preußens lag 1765 mit 1,9 Talern jährlich schon über der in Kurbayern (1,5 Taler) und gleichauf mit Habsburg, übertraf letztere bis 1778/79 mit 2,8 Talern und kam dem reicheren Kursachsen (3,1 Taler) nahe, obschon die Hansestadt Hamburg (gut 6 Taler) die deutsche und das vorrevolutionäre Frankreich die europäische Spitze markierten. Zweitens trennte die Akzise als Binnenzoll Stadt und Land, hemmte das Städtewachstum und den Aufbau ländlicher Gewerbe gleichermaßen. Friedrich II. regierte auf vielerlei Weise in die Städte in die Ökonomie der Städte hinein, beschnitt deren Verfügung über kommunales Eigentum und erntete vielfache Proteste gegen seine Dekrete. Der Wirtschaftshistoriker Schlesiens, Hermann Fechner, konstatierte ebenso wie aktuell die Frühneuzeitlerin Karin Friedrich, daß alles in allem weder die schlesischen noch die westpreußischen Städte vom rigiden Berliner Merkantilismus profitierten. Die Förderpolitik für Preußens Mitte zahlten Schlesien und die Westgebiete, wie publizierte Handelsbilanzen der 1780er Jahre belegen.44 Drittens entzog die Anhäufung eines Staatsschatzes primär für Kriegszwecke knappes Geld dem Wirtschaftskreislauf und generell wurde der Handel durch innere Zollschranken und äußere Abschottung stark gehemmt. Dabei setzte nicht den USA von 1785, in: 100 Schlüsselquellen zur Geschichte von Berlin, Brandenburg und Preußen, online: www.hiko-berlin.de/Freundschaftsvertrag-1785 44 Meine Abwägung folgt Karl Heinrich Kaufhold, Preußische Staatswirtschaft – Konzept und Realität 1640–1806, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994, H. 2, S. 33–70 (positiv akzentuiert) und Jutta Hosfeld-Guber, Der Merkantilismus und die Rolle des absolutistischen Staates im vorindustriellen Preußen, München 1985, S. 283–344 (negativ akzentuiert). Zu den Steuern: Blastenbrei, König, S. 64 (Kontribution); Peter Claus Hartmann, Das Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Regime, München 1979, S. 219 (40 % Belastung lt. O. Hintze), S. 325 f. (Gesamtsteuerbelastung). Hermann Fechner, Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schlesien, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 7 (1909), S. 315–323; ausführlich Ders., Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741–1806, Breslau 1907, S. 725–735. Karin Friedrich, The development of the Prussian town 1720–1815, in: Ph. G. Dwyer (Hg.), The Rise of Prussia. Rethinking Prussian History, 1700–1830, Harlow 2000, S. 129–150, S. 142–148.

56  II. Preußens Wirtschaft eine durch Partizipation legitimierte Instanz einen Rechtsrahmen und gewährte allen Interessenten den Marktzugang, sondern der Monarch und seine Mitarbeiter konzessionierten fallbezogen Betriebe und gewährten weithin (regionale) Monopole oder Subventionen.  Jahrzehntelang hielt beispielsweise der Berliner Großkaufmann David Splitgerber das Zuckersieder-Monopol, was zu hohen Preisen, lauten Klagen anderer Kaufleute und Verzögerung der Entwicklung dieser wichtigen Branche führte. Viertens spricht gegen das rigide System Friedrichs II. – selbst wenn bekanntlich manche papierne Dekrete der List der Untertanen in der Praxis nicht standhielten – die schon erwähnte Tatsache, daß unter dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. ab 1786 rasch Restriktionen gelockert wurden (Régie und Monopole, Transitverkehr und Textilzölle). Nun hielten Berliner Spitzenbeamte Privilegien und Monopole für wirtschaftsschädlich und peilten gleiche Rahmenbedingungen für alle Marktteilnehmer an, ohne daß diese neuen Grundsätze überall realisiert wurden. Erst die Reformer ab 1807 setzten sich dezidiert von den ökonomischen wie gesellschaftspolitischen Maximen Friedrichs II. ab. Zur Heroisierung liefert die friderizianische Wirtschafts- und Steuerpolitik keinen Anlaß. Von einer modernen Ökonomie unter Friedrich II. kann Philipp R. Rössner zufolge keine Rede sein, denn speziell hinsichtlich Produktivitätssteigerung und Marktexpansion schnitt Preußen nur durchschnittlich ab.45 Fünftens schritten auch andere Länder deutlich voran, Manufakturen waren dort nicht seltener. Sachsen etwa, von alther begünstigt durch Handelszentren wie Leipzig und die Metallgewinnung im Erzgebirge, trieb ab 1763 freiere Wirtschaftspolitik und gestattete freier Konkurrenz und Außenhandel. Wegen der Kontinentalsperre und der Handelskriege der Nachbarn litt Sachsen zwar, aber behauptete sich, zumal nach staatlicher Rahmensetzung zugunsten der Frühindustrialisierung ab 1830, als stärkste deutsche Gewerberegion. Auch in Preußen entwickelten sich im 18. Jahrhundert die Westgebiete Preußens sogar besser als der Osten – ohne scharfen Staatszugriff. Sie waren wirtschaftlich Ausland im Inland – schon für Hugo Rachel „eine der sonderbarsten Folgeerscheinungen jenes Systems“ –, aber pflegten steten Austausch mit den Niederlanden und nutzten die Märkte Westdeutschlands. Am Niederrhein prosperierte die Krefelder Seidenindustrie, z. B. die Familie von der Leyen, im südlichen Westfalen die Metallverarbeitung um Hagen, Iserlohn, Lüdenscheid, im östlichen Westfalen um Bielefeld der Textilbereich als marktbezogenes Heimgewerbe mit Fernwirkung auf die Industrialisierung (sog. Protoindustrialisierung). 45 Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II., S. 162 ff. Johann von Diest, Wirtschaftspolitik und Lobbyismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 2016, S. 349 f. Philipp Robinson Rössner, Das friderizianische Preußen (1740–1786) – eine moderne Ökonomie?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 98 (2011), S. 143– 172, 153 ff.

1. Das 18. Jahrhundert: Merkantilismus und Staatswirtschaft  

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Ohne Staatsdirektion kamen auch die großen Ostseehäfen Königsberg, Memel, Stettin und die Freie Stadt Danzig aus, denn dahinter standen die Export- und Import-Bedürfnisse des baltischen Raumes (Getreide/Rohstoffe). Berlins Hafen Stettin profitierte allerdings vom staatlichen Kanal- und Odermündungsausbau. Stettin und Königsberg übertrafen beim Schiffsvolumen die Nordseehäfen Hamburg und Bremen 1790, Stettin noch um 1840, und besaßen Kaufmannschaften, die auf freien Warenhandel setzten. Kontinentalsperre, englische Schiffahrts­ restriktionen und Wachstum des Übersee-Verkehrs verwiesen die Ostseehäfen danach primär auf den baltischen Raum.46 Sechstens ist für das eroberte Schlesien eine ambivalente Bilanz zu ziehen. Friedrich II. ließ ab 1763 Siedlungen gründen und besuchte die Provinz oft. Aber die Zugehörigkeit zu Preußen bedeutete für Schlesien Kappung der bisherigen Wirtschaftswege nach Böhmen, Galizien, Polen, somit eine neue Randlage wegen des Verlusts offener benachbarter Märkte. Gemäß merkantilistischer Doktrin wurden Steuern erhöht und gegenüber Sachsen, Österreich und Polen/Rußland jahrzehntelang Zollschranken aufgebaut, die Wien und Petersburg ihrerseits mit Importsperren erwiderten. Dies bedeutete weniger Außen- und Transithandel für Schlesien und Breslau zumal. Der Historiker Hermann Fechner hat deshalb die „Ausnützung der wirtschaftlichen Kräfte Schlesiens“ zugunsten Brandenburgs, Pommerns und Magdeburgs konstatiert. Hingegen interpretiert neuerdings Rolf Straubel unvollständige Datenreihen als gelungene Ersetzung früheren Außenhandels durch binnenpreußischen Handel. Grundsätzlich ist dabei zu berücksichtigen, daß die Datenerfassung damals schwierig war, Doppelzählungen oft vorkamen und Beamte mit den Statistiken Erwartungen zu erfüllen hatten, ja Friedrich II. zuweilen Statistiken solange „bearbeiten“ ließ bis positive Zahlen herauskamen. Insoweit erscheint die nachträgliche Widerlegung zeitgenössischer Klagen mit Statistik problematisch. Schlesiens Produktion, speziell Leinen- und Wollwaren, machte zwar noch im späten 18.  Jahrhundert über 40 % des Gewerbeexports Preußens aus, mehr als alle Mittel- und Ostprovinzen zusammen. Jedoch war dafür nicht der zentralstaatliche Merkantilismus verantwortlich, sondern Marktnachfrage in Westeuropa. Deren Wegfall infolge der Kriege und der Marktabschließung durch die Kontinentalsperre Napoleons beschädigten die schlesische (Textil-)Produktion fundamental; mit der Marktöffnung ab 1815 lag sie gegenüber der inzwischen 46 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., München 1989, S. 97–102 (Protoindustrie), S. 106 f. (Manufakturen). Zu Sachsen: Burkhardt, Vollendung, S. 185 f. nach Groß, Geschichte Sachsens, S. 171–174. Rachel, Merkantilismus, S. 988 (Zitat). Wolfram Fischer/Adelheid Simsch, Industrialisierung in Preußen. Eine staatliche Veranstaltung? in: W. Süss (Hg.), Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit, Berlin 1989, S.  103–122, S.  110–112 (Krefeld). Rolf Straubel, Die Handelsstädte Königsberg und Memel in friderizianischer Zeit, Berlin 2003, bes. S. 420 ff., 664 ff. (Seehäfen).

58  II. Preußens Wirtschaft mechanisierten westeuropäischen Konkurrenz zurück. Wirtschaftspolitische Direktiven aus Berlin legten – neben starkem Bevölkerungswachstum – Grundlagen zur Armut in den Textilgebieten Schlesiens, die 1844 im Weberaufstand kulminierte.47 Hingegen nahm der Staat nach 1780 in Oberschlesien eine Anregungsfunktion bei der Entwicklung von Kohlebergbau und Eisenproduktion wahr. Schlüsselfiguren dafür waren der aus Sachsen gerufene Bergbauspezialist Friedrich Anton von Heynitz und sein hannoverscher Neffe Friedrich Wilhelm von Reden. Heynitz hatte den Merkantilismus Friedrichs II. jahrelang erfolglos kritisiert und forderte mehr Mittel für den Bergbau, aber Friedrich nannte diesen ein Faß ohne Boden. Erst unter dem neuen König konnte 1788 in Tarnowitz die erste Dampfmaschine des Kontinents zum Wasserpumpen eingeführt und 1796 auf der Hütte Gleiwitz der innovative Kokshochofen eingesetzt werden. Die frühen Staatsbetriebe bildeten Vorbilder für ein Dutzend Adelige, später Magnaten genannt, die ab 1805, vermehrt seit den 1830er Jahren, auf ihrem Großgrundbesitz von herbeigeholten Fachleuten montanindustrielle Privatbetriebe, speziell Hütten, aufbauen ließen. Die modern-industrielle Kohlen- und Eisenproduktion setzte sich im weit von westlichen Absatzmärkten gelegenen Oberschlesien nur langsam und in Abhängigkeit vom Technik-Fortschritt durch. Die neuere Forschung sieht deshalb die staatlichen Initiativen um 1800 als nicht direkt in die Industrialisierung mündend an, zumal das bis 1851/65 geltende Direktionsprinzip hinderlich wirkte. Trotzdem war Oberschlesien bis 1857 die größte Eisenproduktionsregion; dann errang das rein privatwirtschaftliche, durch Wasserwege marktnähere und technisch führende Ruhrrevier, wo die Förderung „fetter“ Steinkohle deutlich größer war, den Spitzenplatz. Bei Zink, das im Westen nicht vorkam, blieb Oberschlesien bis 1918 europaweit führend. Bergbaubedingte Abholzung oder andere Umweltschäden nahm man erst allmählich als Problem wahr; (polizei)behördliche Auflagen gegen Wasserverschmutzung oder Rauch ergingen frühzeitig in Städten und wurden mit der Gewerbeordnung 1845 landesgesetzlich fixiert, aber erfolgten zögerlich-fallbezogen, da meist Bergbau- und Industrieinteressen Vorrang erhielten. Insofern war der Staat Preußen auch industriefreundlich.48 47 Peter Baumgart, Schlesien als eigenständige Provinz im altpreußischen Staat (1740– 1806), in: N. Conrads (Hg.), Schlesien, Berlin 1994, S.  346–464, bes. 390  ff., 418  ff. Kritisch: Fechner, Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schlesien, Zitat S. 320. Weit positiver: Rolf Straubel, Breslau als Handelsplatz und wirtschaftlicher Vorort Schlesiens (1740–1815), in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 49 (2003), S.  195–299. Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763–1815, Berlin 1994, S.  222  f. (Schlesiens Exporte). Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II., 56 f. (Statistiken). 48 Toni Pierenkemper (Hg.), Industriegeschichte Oberschlesiens im 19.  Jahrhundert, Wiesbaden 1992, S.  10–22 und S.  77–106; Toni Pierenkemper, Vorrang der Kohle. Wirtschafts-, Unternehmens- und Sozialgeschichte des Bergbaus 1850–1914 , in:

2. 1810–1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung  

2.

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1810–1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung

Liberale ökonomische Ideen kursierten um 1800 vielerorts, z. B. in Ostpreußen wegen der dortigen Getreide-Exporte nach England. Provinzialminister von Schroetter schrieb 1805 in einer Denkschrift für das Generaldirektorium, daß freier Getreidehandel bessere Versorgung und Schutz gegen Hungerunruhen bedeute. Aber die etablierte Bürokratie agierte unsicher und schwankend. Schon Otto Hintze urteilte über diese sogenannten Vorreformen, daß erst die Katastrophe 1806/07 die Bahn brach für die entschiedenen Reformbeamten und deren weitgehendes wirtschaftliches Modernisierungsprogramm. Mit einer berühmten, seither oft adaptierten Formulierung spitzte Thomas Nipperdey die französische Herausforderung auf die Formel zu: Am Anfang war Napoleon. Nicht alles gelang, aber klar bleibt: Hier wurde eine wesentliche Grundlage für Preußens Bedeutungszunahme im Rahmen des Deutschen Bundes bis 1866 gelegt. Das Debakel der bisherigen Ordnung gab einer Gruppe von Beamten – meist keine geborenen Preußen – um den hessischen Freiherrn vom Stein und den Hannoveraner Hardenberg die Chance, Reformen durchzusetzen. Es ging ihnen gemäß einer Formulierung in Hardenbergs Rigaer Denkschrift vom September 1807 um die „Herstellung des möglichst freien Gebrauchs der Kräfte der Untertanen aller Klassen“. Ihr weitgespanntes Liberalisierungsprogramm bedeutete aber nicht schrankenlosen Marktradikalismus, sondern Gewährung von Spielraum für alle, zumal bisher brachliegende wirtschaftliche Kräfte, die das merkantile System mit dem staatlichen Lenkungsanspruch in Fesseln gehalten hatte. Als Gruppe folgten sie aufgeklärtem Staatsdenken und den liberalen Wirtschaftsideen von Adam Smith. Läßt man die konzeptionell zugehörigen Verwaltungs-, Heeres- und Bildungsreformen zunächst außer Betracht, betraf das auf ökonomisch-sozialem Feld die drei Bereiche Landwirtschaft, das Gewerbe sowie das Steuer- und Zollsystem. Das Ziel hieß Mobilisierung von Menschen und Ressourcen zur Modernisierung Preußens, zunächst zur Aufbringung der Kriegs- und Besatzungskosten. Die meisten Maßnahmen begegneten massiven Widerständen, in der Bürokratie selbst, im Adel, im Stadtbürgertum der Handwerker und Kleinhändler. Die Reformer mußten ihre neue Ordnungspolitik gegenüber einer traditionalen Gesellschaft mit staatlichem Zwang durchsetzen, so

K. Tenfelde/T. Pierenkemper (Hg.), Motor der Industrialisierung. Deutsche Bergbaugeschichte des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts, Münster 2016, S.  45–102, bes. 95– 102. Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 118 ff., 200 ff., 366 ff. Ilja Mieck, Umweltschutz in Preußen zur Zeit der Frühindustrialisierung, in: Büsch/Neugebauer (Hg.), Moderne preußische Geschichte, Bd. 2, S. 1141–1167; Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 11, 19.

60  II. Preußens Wirtschaft daß man wegen der ähnlichen Konstellation von Perestroika auf preußisch gesprochen hat.49 1807 verkündete Steins Oktoberedikt die Bauernbefreiung, nämlich die Abschaffung der Erbuntertänigkeit und der bisherigen Dienstpflichten der Gutseinsassen zugunsten von Eigentumsrecht und freier Berufswahl. 1811 zielte eine Direktive Hardenbergs auf Auflösung der bisherigen nutzungsrechtlichen Gemengelage und sprach den Bauern Bodeneigentum zu, freilich gegen Entschädigung für die Gutsherren. Je nach Rechtsstatus erfolgte diese sog. Regulierung durch Abtretung von 1/3 bis 1/2 des Landes oder als sog. Ablösung durch Geldzahlung. Adelige Großgrundbesitzer hielten diese Regelung für schlimmer als die Niederlage gegen Napoleon: Lieber noch drei Auerstedts als ein Oktoberedikt, äußerte einer. Als die Konservativen mit dem Sieg von 1815 politisch erstarkten, wurden die Bedingungen mit Anordnungen 1816/21 zuungunsten der Bauern gestaltet; diese durften dabei gar nicht mitsprechen. Die Ablösung verzögerte sich in einigen Regionen, vor allem Schlesien, und erst als in der Revolution 1848 Bauernrevolten losgingen, wurde sie per Gesetz abgeschlossen. Insgesamt verloren die Bauern einige Prozentpunkte allen Landes an die Gutsherren (geschätzt 7000 km2), die sich zudem Teile des früheren Gemeinbesitzes (Wiesen, Weiden) aneigneten und somit weitere rd. 10.000 km2 Land gewannen. Bis 1865 erhielten sie zudem beträchtliche 600 Mio. Mark Ablösungsgelder von den Bauern. Großgrundbesitzer profitierten damit, entgegen ihrer massiven Ablehnung, kräftig von der Agrarreform. Zwar ließ sich bereits im 18. Jahrhundert eine gewisse landwirtschaftliche Produktionssteigerung erkennen, aber die Bauernbefreiung legte doch Grundlagen zur enormen weiteren Zunahme im 19. Jahrhundert. Sie bedeutete neben der Stärkung des Großgrundbesitzes die Festigung selbständiger Mittel- und Großbauern, aber auch das Anwachsen einer unterbäuerlichen Landarbeiter-Schicht. Letztere und nachgeborene Bauernkinder bildeten ein Reservoir von Arbeitskräften, das in die Städte bzw. in Gewerbe und später die Industrie abwandern konnte.50 49 Manfred Gailus, „Moralische Okonomie“ und Rebellion in Preußen vor 1806. Havelberg, Halle und Umgebung, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 11 (2001), S. 77–100, S. 95 f. (Schroetter). Otto Hintze, Preußische Reformbestrebungen vor 1806, in: Ders. Geist und Epochen der preußischen Geschichte, Leipzig 1943, S. 537–562, 538, 561. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 11. Kurzbiographien von 18 wichtigen Beamten bei Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 269–272. Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001. Michael Kopsidis, Liberale Wirtschaftspolitik im Zeitalter der Industrialisierung, in: R. H. Tilly (Hg.), Geschichte der Wirtschaftspolitik, München 1993, S. 51–68, S. 52 (Perestroika). 50 Zum Reformministerium Stein 1807/08 vgl. Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S.  178–235. Zur Regulierung/Ablösung in Preußen detailliert Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland, Stuttgart u. a. 1980, S. 56–69,

2. 1810–1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung  

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Die in Hardenbergs Gewerbeedikt 1810 verkündete Gewerbefreiheit beendete bisherige Monopole und Privilegien, jedermann konnte ohne Zugehörigkeit zur Zunft ein Gewerbe betreiben. Das bedeutete erhöhte wirtschaftliche Mobilität für das städtische Handwerk, die Etablierung als Unternehmer wurde erleichtert, Bürgerliche durften nun offiziell Rittergüter kaufen. Ab 1812 genossen auch bisher bloß geduldete Juden Erwerbsfreiheit, ohne jedoch im Staatsdienst zugelassen und politisch Vollbürger zu werden. Die städtischen Bürgerschaften aus Zunfthandwerkern, die sich in ihrem Geschäft bedroht sahen, opponierten heftig gegen die Gewerbefreiheit. Auf dem Lande zumal konnte sich das Handwerk besser entwickeln; handwerklicher Nebenerwerb gab der mit dem Bevölkerungswachstum zunehmenden Menge notleidender Unterschichten (Kleinbauern, Landlose) eine Verdienstmöglichkeit.51 Man muß nicht unkritisch das Lobpreis des freien Unternehmers anstimmen – denn sie wirkten aus freien Stücken, zum eigenen materiellen Vorteil, für persönliche Geltung und Umsetzung ihrer Weltanschauung – aber erst die Reformen ließen jene Schicht bedeutender Eigentümer-Unternehmer in Preußen zur Geltung kommen: Hansemann und Mevissen, Borsig und Krupp, Siemens und Rathenau, Friedrich Bayer und Fritz Henkel, Dynastien wie Haniel, Stinnes oder Thyssen, zahlreiche weitere Erfinder, Firmengründer und Kaufleute zuerst im Montanbereich, dann im Maschinenbau, im Elektrobereich und in der Chemie. Sie, konzentriert in Berlin und den ab 1815 neuen Provinzen, bauten Preußens Wirtschaftskraft maßgeblich mit auf und damit nolens volens seine politische Macht. Ohne findige Unternehmer gäbe es weniger segensreiche Innovationen, geringere Produktvielfalt, weniger Arbeitsplätze und Konsum für zunehmend breitere Schichten. Ihre Beschäftigten wurden im besten Falle nach den Maßstäben der Zeit anständig behandelt und allmählich besser entlohnt. Im Zollbereich konnten umfassende Neuregelungen erst nach 1815 getroffen werden. Unter Abschaffung der Akzise auf 2775 (!) Warenarten wurden VerZahlen über Landverluste und Ablösegelder S. 117–120 sowie Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, S. 134–143. Francis L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988, S.  80  ff. (Adelsproteste gegen Bauernbefreiung), Zitat S.  82. Jüngste Untersuchung: Sean A. Eddie, Freedom’s Price. Serfdom, Subjection, and Reform in Prussia 1648–1848, Oxford 2013, S.  291  ff. (lebensfähige Bauern nach der Reform). Reiner Prass, Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 2, Köln 2016, S. 118 ff. (landwirtschaftliche Intensivierung). 51 Barbara Vogel, Hardenberg und die Modernisierung der Wirtschaft, in: Th. StammKuhlmann (Hg.), Freier Gebrauch der Kräfte, S. 107–123. Detailliert Dies., Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820), Göttingen 1983, S. 135 ff. und auch einschlägige Aufsätze im Sammelband Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807–1820, Königstein/Ts. 1980. Konzis: Rudolf Boch, Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, München 2004, S. 8–11.

62  II. Preußens Wirtschaft brauchssteuern nur noch auf Branntwein, Bier und Wein, Tabak und Zucker bzw. Salz erhoben. Sie ergaben nach 1820 noch ca. 25 % der Staatseinnahmen. Mit dem Zollgesetz von 1818 wurde Preußen als barrierefreier Binnenmarkt konstituiert und ab 1828 diplomatisch die Bereitschaft der anderen deutschen Staaten zum Abschluß von Zollverträgen sondiert. Mit der Etablierung des Zollvereins 1834 entstand allmählich ein größeres Wirtschaftsgebiet im Deutschen Bund, was die Marktnachfrage stärkte. Freihandel erleichterte den für Preußens Osten sehr wichtigen Agrarexport über See nach Westeuropa. Moderate Erziehungszölle auf Importe von Fertigprodukten (10 %, bei Baumwolle zum Schutz eigener Textilproduktion bis 40 %) gaben der inländischen gewerblichen Produktion Zeit zum Aufholen gegenüber dem fortgeschrittenen Westeuropa, primär England, aber wirkten nicht als protektionistische Konservierung technisch überholter Gewerbeberufe. Auch im Steuersystem erfolgte eine langfristig günstige Rahmensetzung. Nachdem Versuche Hardenbergs, eine landesweite Einkommen- bzw. Verbrauchssteuer mit einheitlichen Sätzen überall zu etablieren in der Zeit der französischen Besatzung bis 1813 an praktischen Erhebungsproblemen wie am Widerstand von Besteuerten und Beamten gescheitert waren, erfolgte 1820 eine moderate Steuerreform. Sie legte für das Land und die kleineren Städte in vier Klassen (höherer, mittlerer, geringerer Bürgerstand, Arbeiterstand) eine pauschalierte Einkommensteuer fest. Aufgrund Behördeneinschätzung zahlten bei dieser Klassensteuer die reichste Klasse (4 % der Veranlagten) 432 M., die ärmste (45 % der Veranlagten) 1,5 M. pro Jahr. In 132 (ab 1851: 83) größeren Städten galt als Fortführung der Akzise eine den Konsum belastende Mahl- und Schlachtsteuer, was sich als steuerliche Privilegierung höherer, nicht rein vom Konsum aufgebrauchter Einkommen auswirkte. Auf Landbesitz wurde eine regional unterschiedlich hoch fixierte Grundsteuer erhoben, jedoch in sechs Ostprovinzen bis 1861 über 50.000  km2 gutenteils vom Adel besessene Landgüter steuerfrei gelassen. Aber auch die ergänzende Gewerbesteuer traf das Handwerk in Stadt und Land nur mäßig, zumal entstehende Großunternehmen schonte sie. Die anderen deutschen Staaten hielten mit vergleichbaren Steuersystemen ähnliche Mäßigung. Umgekehrt bedeutete eine moderate Steuerpraxis, daß das nach 1815 proklamierte Staatsziel des Schuldenabbaus eine jahrzehntelange Begrenzung des Etatvolumens erforderte, zuweilen Schattenhaushalte entstanden und systemische Geldknappheit die Wirtschaftsentwicklung hemmte. Das Steuersystem Preußens belastete Wohlhabende relativ geringer; die Erträge wuchsen aufgrund pauschaler, fester Sätze und behördlicher Einschätzung unterproportional zur Bevölkerungszahl. Zölle und Verbrauchssteuern (Bier, Branntwein, Zucker) erbrachten nach 1830 über die Hälfte der Staatseinnahmen. Große Agrareinkommen, aber auch (städtische) Gewerbeeinkommen wurden schonend besteuert. Landwirte und Gewerbetreibende der westlichen Provinzen klagten jedoch über Bevorzugung der Ostprovinzen, Städter glaubten sich höher

2. 1810–1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung  

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besteuert als die Landbevölkerung. Erst im Gefolge der Revolution 1848/49 wurde 1851 die Einkommensteuer auf größere Einkommen erhöht; danach zahlten 1,4 % der veranlagten Bestverdiener ein rundes Drittel der Gesamtsteuersumme. Allerdings betrug der höchste Steuersatz 3 % und die maximale Steuersumme auf Einkommen 21.600 Mark jährlich. 1861 schaffte das altliberale Kabinett der „Neuen Ära“ die Grundsteuerfreiheit der ostelbischen Rittergüter ab. 1873 wurde die Mahl- und Schlachtsteuer für verbliebene 75 Städte und damit – eine zentrale Modernisierung des Abgabensystems – die steuerliche Trennung zwischen Stadt und Land endgültig aufgehoben. Die reformierten Personalsteuern erhob der Staat seitdem auf von den Zensiten selbst erklärte bzw. steuerbehördlich nach Pauschalsätzen geschätzte Einkommen.52 Waren die Wirtschaftsreformen Vorbedingungen der Industrialisierung im 19.  Jahrhundert? Die Forschung bejaht diese Frage in dem allgemeinen Sinne, daß bürgerliche und bäuerliche Wirtschaftsfreiheit, Binnenmarkt und relativer Freihandel günstige Rahmenbedingungen darstellten. Hingegen bedeutete weder die Gewerbefreiheit für Handwerker bereits Industrialisierung, noch finanzierte neues bäuerliches Kapital sie merklich oder gab vermehrte ländliche Konsumnachfrage den großen Anstoß. Ohne die Reformen jedoch hätte sich die Frühindustrialisierung schwerer durchsetzen können. Entscheidend für deren Fortgang wirkten sich später Kohleförderung, Eisenproduktion und technische Verbesserungen aus. Im Vergleich der preußischen Wirtschaftsreformen 1807–20 mit denen im französisch besetzten linksrheinischen Gebiet, im napoleonischen Modellstaat Königreich Westphalen und den süd(west)deutschen Rheinbund-Staaten (Baden, Bayern, Württemberg) erkennt man Ähnlichkeiten wie Unterschiede. Linksrheinisch und in Westphalen wurde nach französischem Vorbild umfassend modernisiert; das niederrheinische Roer-Departement erlebte eine Gewerbeblüte. Die Reformen der Rheinbund-Staaten wurden von der borussischen Historiographie lange als „undeutsch“ abgewertet, obwohl die dortigen Reformbeamten ähnlich modernisierend agierten wie die preußischen und bereits 1807–12 den Binnenmarkt zur Integration der durch Napoleon stark vergrößerten Länder schufen. Da im Agrarbereich aber Grundrenten-, nicht gutsherrliche Verhältnisse dominierten, gab es einen geringeren Problemdruck und etwas günstigere Bedingungen für die Bauern, freilich auch langwierige Ablösungen bis in die 1850er Jahre.

52 Zur Steuerpolitik vgl. Takeo Ohnishi, Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongreß, in: B. Vogel (Hg.), Preußische Reformen, S. 266–284, Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen, S. 123–149 und Rosemarie Siegert, Steuerpolitik und Gesellschaft. Vergleichende Untersuchungen zu Preußen und Baden 1815–1848, Berlin 2001, S.  402–424 (Baden steuerpolitisch ohne Adelsmacht und Exemtionen moderner als Preußen).

64  II. Preußens Wirtschaft Im Gewerbebereich schlugen die süddeutschen Staaten ein etwas langsameres Tempo an, zumal gegen Zünfte; indessen: kleinstädtische Gewerberegionen existierten dort ja bereits. Sozialökonomische Unterschiede unterfütterten also den Kontrast. Gewerbeförderung ähnlich wie Preußen betrieb man in Süddeutschland und Sachsen vermehrt nach 1830. Die Frühindustrialisierung setzte in Sachsen massiv, im deutschen Süden jedoch nur in wenigen Inseln ein. Zentral blieb dies: Während Preußen ohne Verfassung war, die Beamtenschaft führte, nach 1820 politisch einen konservativen Kurs einschlug und so Konflikte mit der Gesellschaft entstanden, kamen in den süd(west)deutschen Landtagen seit 1814–20 Bürger und Bauern politisch stärker zur Geltung, gutenteils auch gegen Wirtschaftsliberalisierung. Preußen war wirtschaftlich vergleichsweise liberalisiert, aber politisch langjährig von Partizipationsdefiziten geprägt, während Süd(west) deutschland mehr ökonomische Traditionalität aufwies, aber Verfassungen und einheitliches Rechtssystem die Gesellschaft politisch früher integrierten. Diese Differenz ließ sich noch im Kaiserreich bemerken.53 Einen epochal neuen Faktor für Preußens Wirtschaftsgeschichte und wesentliche Grundlage für die Industrialisierung bedeutete 1815 der Hinzutritt der in der französischen Zeit modernisierten gewerbe- und bodenschatzreichen Westprovinzen Rheinland und Westfalen. Ohne den liberal-demokratisch dominierten Westen wäre die Reaktionsphase nach 1820 noch schärfer ausgefallen, die Ökonomie nach der Revolution 1848 nicht suzessive von Fesseln befreit worden, die Durchsetzung gegen Österreich schwerer gefallen und die Grundlage für Bismarcks Machtpolitik kaum gegeben gewesen, hat Wilhelm Treue geurteilt. Tatsächlich wurden vom Westen aus nachhaltig und wirkungsmächtig Verfassung, Parlament, Rechtsstaat und Wirtschaftsliberalisierung gefordert, denn die Staatswirtschaft bestand im Bergbau, den Unternehmungen der „Staatsholding“ Seehandlung unter Präsident Christian (v.) Rother, ideell im restriktiven Wirtschaftsrecht fort. Große Teile der Berliner Spitzenbeamten inklusive der Minister hielten in den 1820er bis 1850er Jahre die Wahrung staatlicher Eingriffsrechte gegenüber den Marktkräften für notwendig, verstanden sich als fachkundig-unparteiische Entscheider im Kampf der einseitigen Interessen und Wahrer des Gemeinwohls. Allerdings bezog diese Beamtenschaft nicht stets einheitlich Stellung, es gab in Sachfragen Unterschiede, innerbürokratische Differenzen, ja Blockade zwischen verschiedenen Ministerien, zudem auch Meinungswandel über die Zeit hinweg. 53 Zur Bedeutung der Reformen für die Industrialisierung und den Vergleich mit Süddeutschland Boch, Staat und Wirtschaft, S. 57–72; Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland, 3. Aufl., München 2011, S. 76–84; Hans-Peter Ullmann/ Clemens Zimmermann (Hg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, bes. S.  99–187 (Ullmann, H. Harnisch) und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 368–445, 531 ff.

2. 1810–1870: Reformzeit, Industrialisierung, Liberalisierung  

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Staatsorientierte Nationalökonomen seit Gustav Schmoller und eingeschränkt noch Reinhart Koselleck sahen die preußische Staatsbürokratie insgesamt als Förderer der Industrialisierung. Die Reformen ab 1807, die Zollvereinspolitik und die steigenden Produktionszahlen galten als Beweis. Seit den 1960er Jahren wiesen jedoch amerikanische wie deutsche Wirtschaftshistoriker aktenfundiert nach, daß die staatliche Politik speziell von Mitte der 1830er Jahre bis zur Revolution 1848, ja bis zur Neuen Ära ab 1858 keineswegs durchgängig modernisierungsoffen und industriefreundlich war. Aktenfundiert belegte Eric D. Brose, daß nach dem Tode der Ressortchefs Friedrich v. Motz und Karl Georg Maaßen 1830/34 eine hochkonservative Ministergruppe Marktkräfte, Unternehmer und moderne wirtschaftliche Organisationsformen kritisch beäugte und zu reglementieren suchte. In den Köpfen maßgeblicher Spitzenbeamter blieb die staatliche Kontrollmöglichkeit der dominante Bezugspunkt des Denkens bis 1848, ja bis zur Neuen Ära ab 1858.54 Wie Spitzenbeamte Preußens Öffnung zur marktfreien Industrie- und Bankenpolitik im Vormärz zeitweise hemmen konnten, zeigt zuvörderst Christian (v.) Rother, Leiter der 1772 als Förderstelle für Außenhandel gegründeten Seehandlung. Dieser rührige soziale Aufsteiger propagierte den Staat als besten Wirtschaftsakteur und gewann Ansehen, als er 1818/22 zwei Kredite der Londoner Rothschilds für Preußen im Umfang von ca. 150 Mio. M. realisierte und so den Staatsbankrott vermied. Die hochpolitische Funktion von Rother bestand seit damals darin, daß die als Privatbank deklarierte Seehandlung für den Staat Kredite aufnahm, was gemäß dem Staatsschulden-Edikt von 1820 die Einberufung eines Landtags erfordert hätte. Mit Rothers Seehandlung als ausgelagerter Agentur konnten König und konservative Staatsführung dies bis 1847/48 vermeiden. Nach 1830 dehnte Rother das Geschäftsfeld der Seehandlung enorm aus; sie vergab nicht nur Kredite, sondern erwarb Unternehmen im Textil- und Metallbereich. Der Schlesier Rother engagierte sich besonders in notleidenden schlesischen Leinengebieten und Berlin. Grundlage dieser vielfältigen Aktivitäten wie auch des nun endlich umfangreich durchgeführten Straßenbaus waren Provisionen aus Kreditvermittlungen und Staatshaushaltsmittel. Rothers Seehandlung war um 1845 mit über 10.000 Beschäftigten bei einem investierten Kapital von 54 Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S.  448  f. (Urteil). Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, ND Stuttgart 1989, S. 609, 617 (der Staat treibt Industrialisierung voran). Neue Sicht: Eric D. Brose, The Politics of Technological Change in Prussia. Out of the Shadow of Antiquity, 1809–1848, Princeton 1993, S. 259–265 (Ministergruppen) S. 18, 253 (bürokratische Differenzen), S. 12, 244 (Phasen). Die neueren Arbeiten zur Rolle des Staates systematisierend und eine restriktive Phase nach etwa 1835 sowie durchgreifende ökonomische Liberalisierung erst nach der Revolution 1848 bzw. ab 1858 erkennend Boch, Staat und Wirtschaft, S. 19–31, 62 f.; etwas positiver zur Rolle des Staates urteilt H.-W. Hahn, Die industrielle Revolution, S. 79–83.

66  II. Preußens Wirtschaft 30 Mio. Mark Preußens größtes Unternehmen. Diese Konkurrenz für die Privatwirtschaft kritisierte beispielsweise David Hansemann in einer berühmten Denkschrift 1840. Unter Direktion von Beamten sollten die disparaten Staatsbetriebe primär Arbeitsplätze bieten, Vorbild bei sozialpolitischen Leistungen sein und bei Notständen einspringen. Diese Kombination leistete sich der Staat jahrelang. Zugleich widerriet Rother mehrfach dem Eisenbahnbau und der Liberalisierung im Banken- und Aktienrecht. Indes vermochten Staatsbeamte dem Konsumentenverhalten und der Marktentwicklung nicht dauerhaft besser zu entsprechen als Privatunternehmer. Betriebe Rothers arbeiteten defizitär, da die Verbraucher beispielsweise von Woll- oder Leinen- zu Baumwolltextilien wechselten. Im Konjunkturtief 1846/47 wurden Barmittel knapp, Rother trat Anfang 1848 zurück; sein Nachfolger veräußerte viele Betriebe an Unternehmer, die Berliner Maschinenbauanstalt etwa an den Eisenbahnunternehmer August Borsig. Der Staat als Unternehmer nahm sich zurück.55 Die jahrelangen wirtschaftspolitischen Kämpfe seit Mitte der 1830er Jahre lassen sich auf den Feldern Bankenpolitik, Aktienrecht und Eisenbahnbau sowie modifiziert im Bergbaurecht detailliert verfolgen. Im Finanzbereich war Metallgeld (Silber) begrenzt und Preußens Staatsbank als (fast) einzige Notenbank hielt das Papiergeld lange knapp – 20  Mio. Taler Umlauf 1847, 32  Mio. 1856, hingegen 290 Mio. 1873 –, erlaubte neben bestehenden Privatbanken keine Neugründungen, aber erschwerte damit Kredite für neue Unternehmen. Gründe dafür waren Abneigung gegen „Geldmacht“ und Gefahren von Spekulation generell, Furcht vor Anlage-Konkurrenz für Staatsanleihen bzw. adelig-landwirtschaftlichen Grundkredit (Pfandbriefe) sowie Beharren auf voller Haftung von Unternehmern. In diesem Sinne verbot 1844 eine von konservativen Ministern durchgesetzte Börsen-Verordnung den Handel mit ausländischen Papieren und erschwerte ihn mit inländischen. Geldleihe bei Verwandten, Geschäftspartnern oder lokalen Privatbanken reichte für Großprojekte und breite Industrialisierung aber nicht aus; Aktienbanken konnten effektiver Kapitalbildung und dessen ökonomisch aussichtsreiche Verwendung bewerkstelligen. Daß Firmen als Aktiengesellschaften firmieren durften, wurde durch das nach langer ministerieller Debatte erlassene Aktiengesetz von 1843 erleichtert, denn 55 Positiv zur Rolle der Seehandlung: Wolfgang Radtke, Die preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung, Berlin 1981, bes. S. 265 ff., 365 ff., dagegen kritisch Hans Pohl/Manfred Pohl, Deutsche Bankengeschichte, Bd. 2, Frankfurt 1982, S. 50 f., Ilja Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, S.  3–292, S.  133–135 und Brose, Politics of Technological Change, bes. S.  204–208. Zeitgenössisch: David Hansemann, Denkschrift über Preußens Lage und Politik (August/Sept. 1840), in: Joseph Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850, Bd. 1: 1830–1845, Essen 1919, ND Osnabrück 1967, S. 197–268, 209–211.

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die Gesellschaften hafteten fortan nur mit ihrem Grundkapital, nicht dem ganzen Gesellschafter-Besitz. Freilich wurden bis 1850 erst 32 industrielle Aktiengesellschaften mit 48 Mio. Mark Kapital konzessioniert, in den 1850er Jahren aber 107 mit 323 Mio. Kapital. Hingegen erfolgte der Durchbruch bei Eisenbahn-AGs schon in den 1840er Jahren, als 26 Gesellschaften mit 413  Mio. Mark Kapital entstanden, im folgenden Jahrzehnt waren es weitere sieben AGs mit 577 Mio. Mark.56 Die Bereitschaft der bürokratischen Staatsführung zur Aufgabe ökonomischer Restriktionen wurde wesentlich durch die Eisenbahnen herbeigeführt. Diese Revolution im Verkehr, auch militärisch bedeutsam und von rheinischen Unternehmern nachdrücklich propagiert, war einfach durchschlagend.  Jahrelang opponierten Rother und andere Spitzenbürokraten gegen die Zulassung von Eisenbahngesellschaften wie seit 1828 debattiert; dies sei schädlich für das gerade teuer erstellte Straßennnetz und die Post, biete geradezu ein Spielfeld für Spekulanten. Daß die 1835 eröffnete Bahn Nürnberg–Fürth 1835 und die 1837 befahrene Teilstrecke Leipzig–Dresden wesentlich das Werk dortigen Bürgertums war, wirkte gerade in Adelskreisen Preußens abschreckend. Aber Preußen mußte nolens volens reagieren. Im Eisenbahngesetz von 1838 behielt sich der Staat die Konzessionsvergabe und große Eingriffsrechte inklusive der Möglichkeit des späteren Ankaufs vor und fügte Auflagen wie die Entschädigung der Post und günstigere Transportpreise für das Militär an. Zu Hilfszusagen beim Bau oder Zinsgarantien verstand Preußen sich 1838 nicht. Erst fünf Jahre später erlaubten Steuereinnahmen einen staatlichen Baufonds einzurichten, der Bahngesellschaften anfängliche Zinsgarantien gegen spätere Gewinnabgaben gewährte, staatliche Eingriffsrechte nicht restriktiv wahrnahm und ab 1848 den Ankauf von Linien erleichterte. Bis 1843 habe der Staat Preußen den Eisenbahnbaubau verzögert, urteilte deshalb schon die ältere Analyse von Helmut Paul mit Recht. Unter dem Zwang staatlicher Konkurrenzfähigkeit und ökonomischer Entwicklung entschied sich die Staatsführung 1845/46, selber eine Eisenbahnlinie zu bauen, nämlich die wichtige Ostbahnstrecke Berlin–Küstrin–Bromberg–Königsberg–Russische Grenze. Die Wirtschaft wirkte sich damit als entscheidender Anstoß auf die Politik aus. Die Projektkosten von rd. 100 Mio. Mark erforderten Anleihen; diese sollte der Vereinigte Landtag 1847 als Versammlung aller ständisch gegliederten Provinziallandtage bewilligen. Die Abgeordnetenmehrheit weigerte sich jedoch, unbesehen eine Anleihe zu genehmigen, ohne daß – gemäß den Ver56 Zum Kapitalmarkt: Richard H. Tilly, Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1980, S.  15–91 und Jörg Lichter, Preußische Notenbankpolitik in der Formationsphase des Zentralbanksystems 1844 bis 1857, Berlin 1999. Richard H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, München 1990, S. 213 (Zahl der Aktiengesellschaften).

68  II. Preußens Wirtschaft fassungsversprechen von 1815/20 – ein periodisch tagendes Parlament und Mitsprache beim Staatshaushalt garantiert würden. Verfassungsfrage, Finanzpolitik und infrastrukturell-industrielle Entwicklung waren somit verknüpft. Mit aus politischen Gründen dirigistischer Staatswirtschaft war die breite Modernisierung Preußens nicht möglich. Erst als im Gefolge der Revolution 1848 ein Landtag bestand und der Staat hohe Kreditwürdigkeit erlangte, konnte ab den 1850er Jahren der flächendeckende Ausbau des Eisenbahnnetzes erfolgen.57 Bedeutete die frühe Industrialisierung nicht Massenelend, bekannt als Pauperismus, schlimme Arbeitsbedingungen, schlechte Wohnungssituation, insgesamt Ausbeutung der Arbeiter? Rechtfertigt man diese Mißstände nicht durch eine positive Sicht der Industrialisierung? Nein, denn die vorindustrielle Zeit war keine ländliche Wohlstandsidylle, sondern gekennzeichnet durch materielle Knappheit, persönliche Unfreiheit in der Landwirtschaft, ausgeprägte ländliche Hierarchien und Hungerkrisen, zuletzt 1846/47. Nicht die frühe Industrie, sondern das vorgängige Bevölkerungswachstum, Überbesetzung im Handwerk, unterentwickeltes Transportwesen und regional zu geringe Nahrungsmittelproduktion bewirkten Pauperismus. Eisenbahnbau, agrartechnische und industrielle Entwicklung brachten Besserung, Arbeit für die wachsende Bevölkerung, ganz langsam höhere Bezahlung, soziale Mobilität und größere Lebenschancen für folgende Generationen. Der Lebensstandard stieg erheblich in der Moderne. Die soziale Industriegesellschaft brauchte über 100 Jahre zur Realisierung, doch verhungerten keine Menschen mehr wegen Krisen. Ein überlegener, alternativer Weg für das 19. Jahrhundert ist realistisch kaum erkennbar und noch im 21. Jahrhundert profitieren die Menschen in Deutschland von einem starken industriellen Sektor.58

57 Zur frühen Eisenbahnpolitik bereits Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, ND Leipzig 1927, S. 582 ff. Helmut Paul, Die preußische Eisenbahnpolitik von 1835–1838. Ein Beitrag zur Geschichte der Restauration und Reak­ tion in Preußen, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 50 (1938), S.  250–303, 301 (Urteil); W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia 1740–1870, Liverpool 1958, S. 150 ff.; Dietrich Eichholtz, Junker und Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin (Ost) 1962, S. 94 ff., und die fundierten kritischen Analysen bei Brose, Politics of Technological Change, Kap. 7 sowie James M. Brophy, Capitalism, Politics, and Railroads in Prussia, 1830–1870, Columbus/ OH 1998, S. 107–134. Zu positiv urteilt Werner Schubert, Das preußische Eisenbahngesetz von 1838, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abt., Bd. 116 (1999), S. 152–203. 58 Toni Pierenkemper, Umstrittene Revolutionen. Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, S. 115 f.; Ders., Wirtschaftsgeschichte. Zur Entstehung der modernen Volkswirtschaft, 2. Aufl., Berlin 2015, S. 15 ff., 34, 126; H.-W. Hahn, Industrielle Revolution, S. 132 f. (Lebensstandard steigt infolge der Industrialisierung).

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Mit der Revolution 1848 gelangten liberale Wirtschaftsbürger zeitweilig in Ministerränge, die rheinischen Großkaufleute Ludolf Camphausen und David Hansemann zuvörderst. Und in der Staatsbürokratie wirkten Männer wie Rudolf Delbrück und Otto Camphausen bis 1878 für eine wirtschaftsliberale Rahmensetzung. Speziell in den Jahren des Norddeutschen Bundes 1867–70 beförderten sie in Kooperation mit liberalen Parlamentariern durch Dutzende von Gesetzen und Verträgen die moderne, reichsweit einheitliche Wirtschaftsordnungspolitik: Maß- und Gewichtsnormen, Mark-Währung und (wenig später) Reichsbank, Handels- und Aktienrecht, Freizügigkeit und Gewerbeordnung. In der Dekade 1867–1878 betrieben preußische Beamte und Politiker auf dem Forum des Bundes bzw. Reiches die fällige, irreversible Anpassung an die moderne Wirtschaftsordnungspolitik. Zuvor bereits hatte man in Preußen auf den Feldern Bergbau, Eisenbahn- sowie Bankwesen modernisiert. Das überkommene Bergrecht hatte in den 1830er Jahren beispielsweise die rheinischen Montanunternehmer Franz Haniel und Matthias Stinnes beim Übergang zum Tiefbergbau behindert. Mit Reformen von 1851/1865 wurde das hinderliche strikte Direktions- durch ein weiterhin gegen Auswüchse wirksames Inspektionsprinzip ersetzt, was eine Minorität der Bergbeamten seit langem vorgeschlagen hatte. Zechenunternehmer konnten nun wirtschaftliche Planung und technische Leitung ohne Vorgaben des Bergamts ausführen, Abgaben wurden ermäßigt. Sog. Mutungsfreiheit sicherte dem Finder von Mineralien das Ausbeutungsrecht; in der Folge wuchs die Förderung von Kohle und Erzen enorm. Freilich hielt das Gesetz dem Staat die Intervention gegen Sicherheitsmängel und „gemeinschädliche Einwirkungen des Bergbaus“ offen. Zugleich wurde die korporative Organisation der Bergleute, die jahrhundertelang auf Staatstreue abgezielt hatte, in der Knappschaft, die sie gegen Unfall, Krankheit und Alter absicherte, modifiziert fortgeführt. Diese Verbindung von Liberalisierung und Wahrung von Staatseingriffsrechten entsprach der Linie des langjährigen Handelsministers August von der Heydt generell. Dieser liberalkonservative Elberfelder ließ bis 1859 knapp die Hälfte aller preußischen Eisenbahnlinien durch den Baufonds staatlich bauen bzw. verwalten. Dies erleichterte Bismarck 1866 die Kriegsfinanzierung durch den Verkauf von 50 Mio. Mark Anteilswerten der Köln-Mindener Bahn – ohne das oppositionelle liberale Abgeordnetenhaus zu fragen. Überhaupt entwickelte sich in den 1850er Jahren ein eigentümlicher konservativer Interventionsstaat gerade in Preußen, der sozialpolitische Schutzmaßnahmen einleitete, etwa das Verbot des Zahlens in Waren (Truckverbot 1849) oder der schlimmsten Kinderarbeit (1853), und Hygienemaßnahmen oder Bauvorschriften per Polizeiverordnungen erließ; in Berlin stand Polizeipräsident Hinckeldey dafür. Mittels Handelskammern als Korporationen mit Anhörungsrecht wurde seit 1848 die Wirtschaftswelt in den bürokratischen Instanzenzug einbezogen. Durch die Erfüllung wichtiger wirtschaftspolitischer Forderungen konnte

70  II. Preußens Wirtschaft die im Vormärz oppositionelle (westliche) Großbourgeoisie bis 1862 an den Staat gebunden werden; im folgenden Verfassungskonflikt verhielt sie sich großenteils neutral bis wohlwollend gegenüber Bismarck. Ökonomische Liberalisierung schwächte so den parteipolitischen Liberalismus, eine folgenreiche Paradoxie.59 Im Bankwesen ließ Preußen die früheste Aktiengesellschaft 1848 erst zu, als der krisenbedingt kurzfristig zahlungsunfähige Schaaffhausensche Bankverein in Köln nur in dieser Form konsolidiert werden konnte. Aber in der Reaktionsdekade der 1850er Jahre verhärtete sich die staatliche Haltung wieder; es gab mehrfache Kämpfe zwischen industriefreundlichen und -feindlichen Gruppierungen. Besonders im Innen- und im Landwirtschaftsministerium, teilweise im Finanzministerium sowie in Hofkreisen, bestanden weiter Vorbehalte gegen Industrialisierung und Liberalisierung, die vom Handelsministerium nun meist unterstützt wurden. 1856 lehnte die Regierung die Anträge von zwei Konsortien (Mevissen, Mendelssohn, Oppenheim bzw. Rothschild/Bleichröder) auf Errichtung von Aktienbanken ab. Als die Discontogesellschaft (1853) und die Berliner Handelsgesellschaft (1856) die erlaubte Form einer haftungsbeschränkten Kommanditgesellschaft auf Aktienbasis annahmen, optierte das Kabinett für deren Verbot. Aber Ministerpräsident Otto v. Manteuffel erzwang die Zurücknahme, um den Finanzplatz Berlin mit außerpreußischen Aktienbanken (z. B. Darmstädter Bank 1853, Österreichische Credit-Anstalt 1855) konkurrenzfähig zu halten, und weil eine Verbotsverordnung deutschlandpolitisch inopportun sowie verfassungsrechtlich zweifelhaft war. Die konservativen Opponenten erreichten die Beschränkung von Industrie und Handel nicht dauerhaft, weil man mit Restriktionen mittelbar Preußens Wirtschaftskraft geschädigt hätte. Dieser Ablauf zeigte sich öfter in der preußischen Wirtschaftspolitik im 19. Jahrhundert: Selbst konservative Bürokraten oder Minister suchten mittelfristig ein Arrangement mit den Wirtschaftskreisen, um Preußen ökonomisch an der Spitze zu halten. Ohne Probleme konnte Anfang 1870 in Berlin die Deutsche Bank als erste reine Aktienbank begründet werden. Berlin avancierte nach 1871 (und bis 1945) zur deutschen Bankmetropole, denn auch andernorts gegründete Häuser verlegten ihren Hauptsitz in die politische Hauptstadt. Die Geldinstitute waren sog. Universalbanken, die neben Staatsfinanzierung und Einlagengeschäft vor allem anlagesuchende Gelder sammelten, sie als Kredite ausgaben und so kapitalinten59 Zur Gesetzgebung 1867–70 vgl. Klaus Erich Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 457–501. Zur Bergrechtsreform Brose, Politics of Technological Change in Prussia, S. 159–163 und Dieter Ziegler, Die Industrielle Revolution, Darmstadt 2009, S.  63–71. Zur Eisenbahnpolitik der 1850er Jahre Dieter Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1996, S. 46–55. Boch, Staat und Wirtschaft, S. 33 (konservativer Interventionsstaat). James M. Brophy, The Juste Milieu: Businessmen and the Prussian State during the New Era and the Constitutional Conflict, in: H. Spenkuch/B. Holtz (Hg.), Preußens Weg in die politische Moderne, S. 193–223 (geschwächter Liberalismus).

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sive Investititionen in Eisenbahnbau und Industrie ermöglichten. Ihr Kerngeschäft der Industriefinanzierung, das bis zum Schwenk deutscher Großbanken auf das spekulativ-riskante Investmentbanking in den 1990er Jahren kennzeichnend blieb, brachte ihnen bedeutenden Einfluß gerade in den Aufsichtsräten von Großunternehmen ein. Diese besondere Verquickung seit dem Kaiserreich trug zeitgenössisch dem vermeintlich herrschenden Finanzkapital Kritik von links wie rechts ein. In der Forschung wurde diskutiert, ob der deutsche Industrieerfolg auf der leitenden Rolle von Großbanken beruhte, was aber zugunsten des Faktors wissensbasierter, innovativer Produktentwicklung verneint wurde. Banken gewannen zweifellos mehr Einfluß, aber noch im späten Kaiserreich herrschten weder die (Berliner) Geldhäuser noch die (rheinisch-westfälische) Schwerindustrie von Krupp bis Thyssen noch die neuen Branchen Elektro- und Chemieindustrie (Siemens, AEG, Hoechst, Bayer) in außen-, innen- oder wirtschaftspolitischen Fragen. Die Wirtschaftsführer waren nicht einflußlos, aber blieben bis 1914 auf wohlwollende Kooptation durch die Berliner Spitzenbürokratie verwiesen.60

3.

Staatliche Intervention und politische Ökonomie: Zoll-, Steuer- und Sozialpolitik sowie Regionalpolitik und Osthilfe

Mit Industrialisierung und Migration bildeten sich ab 1840 regionale Disparitäten heraus. Die Westprovinzen, zumal die führenden Gewerberegionen an Rhein und Ruhr sowie der Berliner Raum, zogen Menschen an (1840–1910 rd. 2,5 Mio. Zuwanderung); die landwirtschaftlich dominierten fünf Ostprovinzen blieben, trotz Ostseehäfen und Zentren wie Breslau, in ökonomischen Kennzahlen zurück und erfuhren Abwanderung (rd. 3,6 Mio.). Fortschreitende Urbanisierung im Westen Preußens – 1914 anhand von 30 Großstädten westlich von Berlin und nur sechs östlich klar erkennbar – verschärfte die alte Stadt-Land Differenz. Zwei an ausgewählten Kennziffern orientierte wirtschaftshistorische Modellstudien sehen in diesem Zusammenhang einerseits die landwirtschaftliche Produktivität am stärksten durch städtische Nachfrage bedingt und folglich im Osten dauerhaft niedriger, an-

60 Zur Bankenpolitik zumal der 1850er Jahre Tilly, Kapital, S.  29–64, Brophy, Capitalism, S.  87–106 und Pohl/Pohl, Deutsche Bankengeschichte, Bd.  2, S.  174–186. Zur Debatte um die Bedeutung von Großbanken Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 93–95, 199 f. und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 628–632. Zur politisch nachgeordneten Rolle von Bankiers Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854–1918, Düsseldorf 1998, S. 435 ff. (Deutsche Bank-Direktor Gwinner 1909) und breit belegt Morten Reitmayer, Bankiers im Kaisereich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999, S. 273–300.

72  II. Preußens Wirtschaft dererseits die ökonomischen Ost-West-Differenzen als bis 1914 deutlich erkennbar und interne Integration erst als bis 1933 weitgehend erreicht an.61 Die dynamische Entwicklung stellte staatliche Wirtschaftspolitik vor neue Aufgaben. Der nun formal kaiserzeitlich-deutsche, aber politisch preußisch dominierte Staat versuchte in Anknüpfung an merkantilistische Traditionen auf verschiedenen Feldern zu intervenieren, um beispielsweise zurückbleibende Ostprovinzen zu kräftigen, den (adeligen) Großgrundbesitz als staatstragende Schicht zu erhalten und um sich die Loyalität einer Bevölkerung zu sichern, die viel vom Staat erwartete. Für einen Abstieg fürchtende Handwerker und Ladenbesitzer gab es – das Wort ist bezeichnend – Mittelstandspolitik (Meisterbrief-Zwang, Warenhaus-Steuer, Abwehrhaltung gegen Konsumvereine), für die Landwirte Agrarprotektionismus, für die Arbeiter ab 1881 erste Anfänge der Sozialversicherung. Den ökonomischen und sozialen Strukturwandel in der Hochindustrialisierung sollten alle diese Maßnahmen (etwas) abfedern, aber blieben selbst als Stückwerk heftig umstritten, denn häufig gab es antagonistische Interessengruppen. Das Leitbild ökonomischer Ordnung blieb im Grundsatz, aber bei nicht belanglosen Abweichungen en détail, die freie, kapitalistische Marktwirtschaft, der auch das Rechtssystem oder die Rahmensetzung für Arbeitsbeziehungen entsprachen. Drei zentral wichtige Felder staatlicher Intervention im Spannungsfeld politischer Ökonomie seien nachfolgend beleuchtet. Eine scharfe Kontroverse betraf erstens die Zoll- und Außenwirtschaftspolitik, wobei es ideologisch um Agrarund Industriestaat ging. Hier wurde ein innenpolitischer Machtkampf gegen den seit 1867 dominanten Liberalismus ausgetragen. Dessen Renommee nahm mit den Folgen der Wirtschaftsflaute ab 1873, der bekannten Gründerkrise, als im Boom entstandene Aktiengesellschaften dutzendfach Bankrott gingen, ab. Angebliche Gier von Kapitalisten, besonders Juden, wurde angeprangert, ohne zu bedenken, daß Strukturkrise, überhitzte Konjunktur und weltwirtschaftliche Momente zugrundelagen. Denn verkehrstechnisch konnten nun Massengüter weltweit Märkte erreichen; eine Welle von Globalisierung, ähnlich wie seit 1990, verstärkte den Ruf nach Schutz für binnenländische Produkte. Ihn erhoben zuerst Textil- und Eisenindustrielle, dann die getreideproduzierende ostelbische Großlandwirtschaft unter Führung von Bismarcks adeligen Standesgenossen. 1879 nahm Bismarck die Forderung auf, politisch, um die Reichseinnahmen zu vermehren und unabhängiger vom Budgetrecht des Reichstags wie den zu mächtigen Liberalen zu werden, wirtschaftlich, um die Getreideproduzenten wie auch 61  Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, Stuttgart 1985 (Städte). ­Michael Kopsidis/Nikolaus Wolf, Agricultural Productivity Across Prussia During the Industrial Revolution: A Thünen Perspective, in: Journal of economic history 72,3 (2012), S.  634–670; Nikolaus Wolf, Was Germany Ever United? Evidence from Intra- and International Trade, 1885–1933, in: Journal of economic history 69,3 (2009), S. 846–881.

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die Schwerindustrie vor billigeren überseeischen bzw. osteuropäischen Importen zu schützen. Spezifizierte, eher mäßige Industrie- und in Etappen auf rd. 40 % des Warenwerts gesteigerte Getreidezölle ab 1887 sicherten den Produzenten in Preußen-Deutschland hohe Inlandspreise. Agrarier wie Schwerindustrielle standen dabei gegen Linksliberalismus bzw. SPD, die zugunsten der neuen Industrien (Elektro/Chemie) sowie des Handels bzw. zugunsten der Verbraucherinteressen für Zollsenkung und offene Märkte eintraten. Eine zeitweilige Reduktion des Zollschutzes brachten die Handelsverträge der frühen 1890er Jahre, die Bismarcks Nachfolger Caprivi einleitete, gestützt auf einige Minister wie den sozialpolitisch engagierten Hans v. Berlepsch im Handelsressort und exportwirtschaftlich denkende Fachleute im Auswärtigen Amt, in Reichsinnenoder Reichsschatzamt. Die zugrundeliegende wirtschaftliche Maxime, Deutschland müsse Industriewaren oder Menschen exportieren, ging mit Arbeiterschutz-Maßnahmen und vorsichtiger politischer Öffnung nach links einher, aber blieb wegen Caprivis Amtsverlust im Herbst 1894 Episode. Der 1902 vom Reichstag verabschiedete Hochzolltarif ließ sich aber nicht gegen andere Staaten erzwingen; großen Abnehmern wie Rußland und wichtigen Lieferanten wie den USA mußten Konzessionen gemacht werden, und Handelsverträge mit Zielländern deutscher Exporte fußten auf Gegenseitigkeit (Meistbegünstigung); auch die meisten Protektionisten suchten Handelskriege möglichst zu vermeiden. Eine Belastung für das Verhältnis zu Rußland und den USA blieb der ab 1906 geltende sog. Bülow-Tarif gleichwohl. Zwei Folgefragen haben die Forschung intensiv beschäftigt: Nützten Schutzzölle nur den beiden Interessengruppen Schwerindustrie und Großlandwirtschaft, aber schadeten der Entwicklung von Industriestaat bzw. Export? Wie ist das Verhältnis von innenpolitischer Motivierung und Anstössen der Globalisierung zu bestimmen? Grundsätzlich ist klar, daß beide Sektoren besonderen Nutzen zogen: Die Industrie entging scharfem Importwettwerb, der Bedeutungsverlust der Großlandwirtschaft wurde verlangsamt, beide erhielten Profite quasi staatlich garantiert. Dagegen wurde eine schnellere industriell-exportierende Entwicklung vermutlich leicht gebremst und insbesondere ein höherer Lebensstandard der Konsumenten durch niedrigere Lebensmittelpreise behindert. Von tarifären oder gesundheitspolizeilichen Einfuhrhindernissen für Fleisch oder Zucker profitierten auch Hunderttausende kleinerer Landwirte, die Viehwirtschaft und Rübenzuckerhersteller. Realiter florierte nicht nur die Schwerindustrie, sondern die neuen Branchen Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik wuchsen ebenso wie die Ausfuhren insgesamt. Exportorientierung hatte die Industrie in Preußen, Sachsen oder Württemberg seit den 1860er Jahren gekennzeichnet. Die Exportquote der deutschen Volkswirtschaft stieg von 8,5 % (1874/78) auf 15,8 % (1909/13). 1913 betrug der deutsche Anteil am Welthandel 12,3 %, der Englands 14,2 %, der der USA 11 %. Bei Industrieprodukten kamen 22 % aus dem Reich, 27 % aus England, 10 % aus den USA. Margenstarke Exporte von Industriefertigwaren ließen die Fertigungsanlagen im Inland anwachsen; Verlagerung von Produktion ins Ausland war

74  II. Preußens Wirtschaft damals noch keine Alternative. Seit den 1890er Jahren nahm auch der deutsche Kapitalexport stark zu. Hierbei stand Europa mit 12,5 Mrd. M Auslandsinvesitionen (1897 bis 1914) klar an erster Stelle, je ca. 4 Mrd M gingen nach Nord- und Südamerika, nur 2 Mrd. bzw. 1 Mrd. M nach Afrika bzw. Asien. Protektionismus behinderte die Exportwirtschaft offenkundig wenig, bedeutete allerdings höhere Lebensmittelpreise und beschränkten Massenkonsum bei Zucker und Fleisch. Hinsichtlich der zweiten Folgefrage werden die Initiativrolle und die einseitige Orientierung der autoritären preußisch-deutschen Staatsführung heute geringer eingeschätzt, denn der protektionistische Wettlauf war eine europaweite Bewegung – freilich nicht in Großbritannien, den Niederlanden oder Dänemark. Im Unterschied zu anderen Ländern verband sich der deutsche Zolltarif jedoch innenpolitisch mit der Wende gegen den Liberalismus und war zudem antisemitisch aufgeladen. Von den Absichten her betrachtet, gehörte der Protektionismus integral zur konservativen Umorientierung Bismarcks, der früher vieldiskutierten, heute skeptischer betrachteten „zweiten Reichsgründung“, und sollte unabhängig vom Reichsparlament Einnahmen generieren.62 Die Entscheidungskompetenz der Regierungsebene wird nicht dadurch entwertet, daß wichtige Wirtschaftskreise die protektionistische Wende nachdrücklich forderten. Dies traf namentlich auf den schwer- und textilindustriell dominierten Centralverband deutscher Industrieller (gegründet 1876) und den von (adeligen) Großgrundbesitzern geführten Bund der Landwirte (gegründet 1893) zu. Sie nahmen als Verbandslobby Einfluß auf Regierung wie Parteien. Parallel zur Reduktion von Konkurrenz durch Zölle bildeten Unternehmen seit den 1890er Jahren autonom Kartelle, besonders im montan- und schwerindustriellen Bereich Preußens, wo 1907 gut die Hälfte der 100 größten deutschen Unternehmen angesiedelt waren. Sie teilten Produktion und Binnenmarkt auf und trafen Preisabsprachen, was gleichmäßigere, tendenziell höhere Gewinne anstelle freier Konkurrenz und konjunkturell bedingter Schwankungen ergab. So kontrollierte das Rheinisch-westfälische Kohlensyndikat ab 1893 die Ruhrgebietsproduktion. 25 % der Industrie sollen kartelliert gewesen sein – nicht unähnlich den in den letzten Jahren aufgedeckten (Preis-) Kartellen bei Eisenbahnschienen, Zucker, Matratzen und selbst Gummi­ bärchen. Die Interaktion von Dachverbänden und Kartellen mit Regierung und Parteien wurde historiographisch im Begriff des Korporativismus zu fassen ver62 Boch, Staat und Wirtschaft, S. 38 ff., 85–101. Die Streitfragen thematisieren Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 113 ff., dort S. 219–221 die Exportzahlen; Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 2002, S. 59, 112, 221–225 und zuletzt Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005, S. 72 (Exportquote) und S. 355–370 sowie Ders., Von Junkern und Schlotbaronen. Zur Interpretation des deutschen Protektionismus vor 1914, in: Saeculum 60/1 (2010), S. 143–169. Christoph Nonn, Das Deutsche Kaiserreich, München 2017, S. 48 f.

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sucht, ein heute als zu statisch verworfenes theoretisches Modell, in dem ferner Gewerkschaften als Vertretungen der Arbeitnehmer nicht vorkamen. Dem Korporativismus leistete von staatlicher Seite seit Bismarck die sog. Verkammerung Vorschub. Denn staatlich beaufsichtigte Handels- und Landwirtschafts-, zudem Handwerks- und Ärztekammern, wurden zuvörderst in Preußen als Zwangskörperschaften nach 1870 etabliert. Mittels behördlich regulierter Kammern oder personell ausgewählter Beiräte konnte obrigkeitliche Intervention legitimiert werden. Den antiliberalen, antimarktwirtschaftlichen Impetus verkörperte zuvörderst die ostelbische, gutenteils adelige Großlandwirtschaft. Bismarck hat zugunsten dieser seiner Schicht gewirkt und sich dabei auf Preußens Ministerien und konservative Parteien gestützt. H.-U. Wehler urteilte, via Protektionismus habe die Regierung seit Bismarck das sie tragende konservative Machtkartell abgesichert und autoritäre Strukturen in Wirtschaft wie Gesellschaft verstärkt, allerdings ohne vitale Interessen anderer Wirtschaftssektoren und die Massenloyalität dauerhaft zu vernachlässigen. Letzteres ist zu unterstreichen, denn ohne Zustimmung der katholischen Zentrumspartei mit starker ländlich-bäuerlicher, protektionistischer Basis hätte man keine Mehrheit gefunden, und die Sammlung der elitären „staatstragenden Kräfte“ in Landwirtschaft und Großindustrie, 1897 von Finanzminister Johannes v. Miquel erneut proklamiert, blieb in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht labil bis brüchig. Agrarier-Forderungen wie Garantiepreise, lockere Währungspolitik und Verbot von Landflucht blieben unerfüllt. In den neuen Industrien, in Handel und Häfen herrschte Weltmarktorientierung, die nichtkonservativen Parteien vertraten die Interessen ihrer jeweiligen Klientel und die SPD profilierte sich als Verbraucherpartei gegen Brotwucher bzw. Fleischteuerung. Bloß eigensüchtige Wirtschaftspolitik hätte politische Stabilität untergraben. Im Rückblick auf die damalige Situation fallen noch heute vertraute Elemente ins Auge: Globalisierungsherausforderung und nationalstaatliche Reaktion, mächtige Lobbyverbände und materielle Interessen der Bevölkerung, Durchsetzung organisierter Interessen gegenüber kaum organisierten. Selbst die autoritäre Staatsführung mußte mehrere politische Ziele vereinbaren, nämlich Machterhalt für Preußens Eliten und Loyalität der Beherrschten, Staatseinnahmen und internationale Konkurrenzfähigkeit. Aber sie blieb Mediator oder Clearing-Stelle „über den Parteien“ und bei den konkreten Aushandlungsprozessen des Protektionismus maßgeblich, von Bismarck bis Bülow. Die „Anfänge des autoritären Interventionsstaats“ (H.-U. Wehler), unterlagen im Grundsatz ähnlichen internationalen, innenpolitischen und sozialen Rahmenbedingungen wie der spätere Wohlfahrtsstaat bis heute, freilich stehen dessen Ziele und Resultate natürlich nicht auf gleicher Linie.63 63 Boch, Staat und Wirtschaft, S.  80–84 (Modell Korporativismus); Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 624 (100 Großunternehmen 1907: 31 metall-, 23 montan-, 17 chemie-, 13 maschinenbau-, 4 elektroindustrielle Firmen), S. 632–637 (Kartelle),

76  II. Preußens Wirtschaft Zweitens verknüpften sich in der Steuerpolitik gleichfalls finanzwirtschaftliche mit politischen Strängen. Ausgangspunkte waren offenkundige Unzulänglichkeiten des Steuersystems, die Sachsen und Baden 1878/82 bereits beseitigt hatten, ferner die gemäß Verfassung erfolgte Übertragung der indirekten Steuern an das Reich, aber steigender Finanzbedarf Preußens sowie die Einsicht in nötigen sozialpolitischen Ausgleich angesichts klassengesellschaftlicher Zerklüftung und schließlich Bismarcks persönliche Vorstellung von Steuergerechtigkeit. Sein Bestreben, indirekte Steuern zu mehren – um das parlamentarische Budgetrecht auszuhebeln –, kleine Einkommen (seit 1873 waren bis 420 Mark jährlich einkommensteuerfrei gestellt) weiter zu entlasten, aber speziell bisher kaum besteuerte Kapitaleinkommen höher zu belasten, fand keine Mehrheit. Umgekehrt blockierte Bismarck die Lösungsvorschläge des Landtags bis 1890. Andreas Thier hat das detailliert untersucht. Erst unter Finanzminister Miquel kam 1891/93 eine Reform zustande, und zwar obwohl im Dreiklassen-Landtag die Wohlhabenden dominierten sogar mit gewissen Steuererhöhungen. Die Steuererklärung ab mittlerem Einkommen wurde nun Pflicht, Vermögenserträge (milde) erfaßt und Vermögen mit einem Satz von 1 Mark pro 2000 Mark Besitz besteuert. Eine Erbschaftssteuer wurde als zu scharfer Staatszugriff abgelehnt.  Jahreseinkommen unter 900 Mark, das waren über 60 % aller potentiell Steuerpflichtigen, blieben völlig frei von Staatseinkommensteuer, die Mittelschicht zahlte 2–3 %, Großverdiener maximal 4 % Steuersatz. Die Kommunen konnten Zuschläge in lokal variierender Höhe erheben, zudem erhielten sie (wie bis heute) Grund- und Gewerbesteuer als eigene Steuerbasis. In selbständigen ostelbischen Gutsbezirken bedeutete dies weitgehende Entlastung der Besitzer als Zahler und Empfänger der Grundsteuer in einer Person. Reichs-, Staats- und Kommunalsteuern betrugen 1914 bei niedrigen Einkommen 6–9 %, bei mittleren 7–9 %, bei hohen 9–13 %. In Baden und Württemberg lag Mark Spoerer zufolge die Steuerquote etwas niedriger als in Preußen, aber überall lag die Progression weit unter der heutigen. Die Steuerentlastung der Unter- und Mittelschichten besaß in politischer Hinsicht zwei wichtige Rückwirkungen: Erstens gewannen steuerzahlende Bemittelte noch höheres Stimmgewicht im Dreiklassenwahlrecht und zweitens bildete Preußens im Vergleich zum defizitären Reichsetat gestärkte Finanzkraft eine faktische Barriere gegen Versuche zur politischen Systemreform. Entgegen der Legende durchgängiger Sparsamkeit häufte Preußen durchaus etliche Milliarden Staatsschulden an (1880: 1,4 Mrd. Mark, somit 14 % des Sozialprodukts, 1913: 9,9 Mrd., somit 33 % des Sozialprodukts) und übertraf den Schuldenstand des Reichs (1913: 4,8 Mrd.). Die Ausgaben erfolgten freilich gutenteils für Investitionen wie Bauten, S. 936–938 (autoritärer Interventionsstaat). Zur SPD als Verbraucherpartei vgl. Christoph Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996.

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Straßen, Eisenbahnen. Aus den Überschüssen von Staatsbetrieben, zuvörderst der Staatseisenbahnen, daneben Staatsbergbau, Domänen, Heeresfabriken und Staatsbank resultierten im späten Kaiserreich über 40 % der Staatseinnahmen. Hingegen waren die zu ca. 55 % in Rüstungsausgaben fließenden Reichsfinanzen trotz Zolleinnahmen und Länderbeiträgen defizitär, weshalb jahrelang eine Finanzreform versucht, aber mit viel Mühe erst 1913 (zeitlich befristete) Einkommen- und Vermögensteuern als sogenannter Wehrbeitrag zur Finanzierung der Heeresvermehrung eingeführt wurden. Diese im erwarteten Umfang von einer Milliarde Mark projektierte große direkte Reichssteuer war ein politisch umstrittenes Novum gegenüber der bisherigen Beschränkung des Reichs auf indirekte Abgaben und traf Gewerbe und Handel stärker als Landwirte. Damit erhöhte sich das deutsche Gesamsteueraufkommen von 3,27 Mrd. M. auf 4,87 Mrd. M jährlich, prozentual von 8,5 % (1907) auf 10,0 % des Sozialprodukts.64 Selbst damit blieben 1914 Selbständige und Wohlhabende im Vergleich mit späteren Zeiten steuerbehördlich milde erfaßt sowie die ostelbische Großlandwirtschaft weiterhin relativ begünstigt. Den Konsum von Arbeitern verteuerten Verbrauchssteuern (Bier, Branntwein, Tabak) und Zölle auf Getreide, Fleisch, Zucker klar. Von Umverteilung kann nach den genannten Zahlen nur ansatzweise die Rede sein, aber durch Wirtschaftswachstum stiegen die Staatseinnahmen deutlich und auch die Einkommen der Arbeiter moderat. Der Index der Industrie-Reallöhne nahm von 66 (1871) über 100 (1895) auf 125 (1913) zu. Freilich lag die Kaufkraft der Löhne noch 1905 deutlich hinter den englischen zurück und erreichte je nach Branche erst 70 % bis 80 % der Kaufkraft auf der Insel. Wegen hoher Produktivität geringere Lohnstückkosten trugen maßgeblich zum deutschen Erfolg auf dem Weltmarkt bei. Nur bei Staatseisenbahnen bzw. Reichspost und speziell im öffentlichen Dienst Preußen-Deutschlands wurde (bis zu 60 %) mehr gezahlt als in Großbritannien, Indiz des paternalistischen Staates, der seine getreuen Diener belohnte. Den Fundamentalfakt aller Steuerpolitik damals

64 Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen, S. 149–162; Andreas Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, Frankfurt/M. 1999; Mark Spoerer, Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815–1913), Berlin 2004, S. 193–198; Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat, München 2005, S. 82–84 (Steuerbelastungsquoten). Zeitgenössisches Standardwerk: Wilhelm Gerloff, Die Finanz- und Zollpolitik des Deutschen Reiches nebst ihren Beziehungen zu Landes- und Gemeindefinanzen von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur Gegenwart, Jena 1913. Grundlegend sind: Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck 1970, S. 356 ff. und Rudolf Kroboth, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches während der Reichskanzlerschaft Bethmann Hollwegs und die Geld- und Kapitalmarktverhältnisse (1909–1913/14), Frankfurt/M. 1986, S. 189 ff. (Wehrbeitrag), 302–304 (Steuerquote).

78  II. Preußens Wirtschaft wie heute formulierte 1910 Friedrich Naumann: „Ist die Leistungsfähigkeit der Staatskassen ein Verdienst der Steuerämter oder der Steuerzahler?“65 Als zukunftsweisende Staatsintervention gilt drittens die Sozialversicherung, wenngleich bis 1914 weder von starker Umverteilung noch wirklicher sozialer Sicherheit gesprochen werden kann. Ihr Beginn wurde 1881 in der Tradition der paternalistischen Hohenzollern-Monarchie als Ankündigung Wilhelms I. inszeniert, aber schon die Zeitgenossen sahen die Sozialpolitik eher als autoritär konzipiertes Gegenstück zum Sozialistengesetz von 1878, denn der zeitliche Zusammenhang ist evident. Es war Bismarcks Absicht, Arbeitern eine steuerfinanzierte Zuwendung zu gewähren, sie zu „Staatsrentnern“ zu machen, und damit gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren. Im Gesetzgebungsprozeß des Reichstags wurden die drei Gesetze, 1883 die Kranken-, 1884 die (Arbeits-)Unfall-, 1889 die Alters- und Invaliditätsversicherung, gegen Bismarcks Absicht als Beitragssysteme ausgestaltet. Die Krankenversicherung ersetzte allmählich (teils auch weiter) bestehende Hilfskassen, erhielt vom Arbeitnehmer 2 %, vom Arbeitgeber 1 % der Lohnsumme als Beitrag, wurde von Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) mit Vertretern beider Beiträger, darunter bald Gewerkschafts- und SPD-Mitgliedern wie dem späteren Ministerpräsidenten Otto Braun, verwaltet und sukzessive auf viele Branchen ausgeweitet. Landarbeiter blieben jedoch ausgeschlossen. Die Unfallversicherung administrierten Berufsgenossenschaften, ganz von Beiträgen der Arbeitergeber getragen; dabei blieben chronische Berufskrankheiten ausgeschlossen und Unfallentschädigungen mußten häufig erstritten werden. Die aus einem Festzuschuß des Reichs (50 Mark pro Kopf) und Beiträgen finanzierte Rentenversicherung verwalteten aus föderalen Rücksichten (vertreten vom Zentrum) Landesversicherungsanstalten, die je ein Drittel Staatsbeamte, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter kontrollierten. Erst ab 24 Jahren Beitragszahlung und mit dem 70. (1916: 65.) Lebensjahr, das nur ein Bruchteil der Arbeiter erreichte, gab es eine kleine Rente von 160–200 Mark/Jahr. 1911 wurde eine separate Versicherung für mittlere Angestellte etabliert (später als BfA bekannt) und mit dieser Reichsversicherungsordnung erst die Witwenrente (40 % der Versichertenrente) eingeführt. Obligatorisches Versicherungsprinzip mit gesetzlichem Leistungsanspruch und staatlich beaufsichtigte Selbstverwaltung bestehen bis heute. Einen „Sozialstaat“ gab es bis 1914 indes erst ansatzweise, denn zwar umfaßten die drei Versicherungen Millionen Menschen (10,6  Mio. Unfall-, 23  Mio. 65 Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970, Frankfurt/M. 1984, S.  75 (Lohnanstieg nach A. Desai). Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011, S. 64 f. (Löhne im Vergleich mit England), 87 (Schulden), S. 91 f. (Steuerbelastungsquoten). Friedrich Naumann, Werke, Bd. 5: Schriften zur Tagespolitik, hg. v. Th. Schieder, Köln/Opladen 1964, S. 446.

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Krankenversicherung), aber die verteilten Leistungen machten gerade 2 % des Nettosozialprodukts aus. Scharfe soziale Ungleichheit blieb dominant und Landwirtschaft wie Schwerindustrie kritisierten den Sozialstaat, während die anfangs Staatszwangssysteme ablehnenden Liberalen ab 1887/90 mitwirkten. Die Sozialversicherung stoppte den Aufstieg der Sozialdemokratie nicht, aber untergründig stieg die Nationsbindung bei Arbeitern an. Bestand ein spezifischer Anteil Preußens? Erstens lag die staatliche Reglementierung mittels Reform „von oben“ im bürokratisch gelenkten Preußen näher als in den vom Liberalismus dominierten Staaten Europas, die länger ganz auf Selbstorganisation aus der Gesellschaft heraus bauten und erst nach 1900 allmählich Sozialsysteme errichteten. Zweitens bleibt in Preußen die Kombination von patriarchalischem Fürsorgegedanken und dem Zweck politischer Beruhigung auffällig; Bismarcks Sozialpolitik war Glied einer historischen Kette, die auch den Bauernschutz im 18.  Jahrhundert, die Armenreglements des Vormärz und die sog. Wohlfahrtspolizei nach 1848 umfaßt. Drittens wirkten als Vorkämpfer der Sozialversicherung sozialprotestantische Beamte wie Theodor Lohmann oder Robert Bosse auf der Basis einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung für Sozialreform, und (beamtete) Experten in den wachsenden Versicherungsbürokratien entwickelten sie fort. Aber auch deren Gegner saßen in den Behörden und konservativen Elitegruppen Preußens. Viertens stagnierten in Preußen unter Bismarck und jahrzehntelang nach der Amtszeit des reformerischen Handelsministers Hans von Berlepsch (1890–96) zentrale Bereiche von Arbeitsrecht und Arbeiterschutz: Gerichte belegten Streikende nach § 153 Gewerbeordnung mit Strafen (1903–12: 10.536 Personen), die Koalitionsfreiheit und gewerkschaftliche Vereine wurden behindert, Tarifverträge – 1913 erst für 13 % aller Industriearbeiter – galten als rechtlich unverbindlich; über zehnstündige Arbeitstage sowie Sonntagsarbeit blieben vielfach erlaubt. Betrieblich mitwirkende Arbeiterausschüsse besaßen nur wenige fortschrittliche Unternehmen. Der Staat begünstigte im Zweifel die Arbeitgeber. Jedoch spielten Arbeitervertreter in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung eine Rolle und diese Inklusion legte Grundlagen zur Integration der Arbeiterschaft. Die angedeuteten Defizite beseitigten ab 1919 die langjährigen Sozialstaatsparteien SPD und Zentrum und erzielten epochale Durchbrüche im Arbeitsrecht sowie der Sozialpolitik. Die preußische Gesindeordnung von 1810, noch im BGB von 1896/1900 auf Drängen preußischer Ministerien konserviert, fiel endlich weg. Rechtsverbindliche Tarifverträge galten 1925 für 64 % aller Beschäftigten; Gewerkschaften wurden staatlich anerkannt. 1920 Betriebsräte, 1926 Arbeitsgerichte und 1927 die Arbeitslosenversicherung kamen neu hinzu. Die Krankenversicherung galt endlich auch für Millionen Landarbeiter und Hausbedienstete. Staatlich bzw. kommunal mitfinanzierten Wohnungsbau nahm man breit in Angriff. 1929 kostete die gesamte soziale Sicherung reichsweit über neun Milliarden Reichsmark, fünfmal soviel wie 1913 und machte nun knapp 13 % des Volks-

80  II. Preußens Wirtschaft einkommens aus statt früher bloß gut 2 %. Der Sozialstaat gewann in Republik und Freistaat die Gestalt, an die die frühe Bundesrepublik anknüpfen konnte. Im Rückblick auf die Anfänge gilt: Sozialpolitik und Sozialversicherung waren keineswegs allein Bismarcks Werk, aber positives Erbe des patriarchalischen preußischen Beamtenstaates, denn sie linderten die Not der Menschen.66 Auch die Anfänge staatlicher Regionalpolitik fallen in die Jahre um 1880. Dazu diente die Verstaatlichung großer Eisenbahnlinien gegen Entschädigung, die 1879/84 parallel zur Schutzzollpolitik mit Druck, List und guten Abfindungen für die Direktoren durchgesetzt wurde. Die jährlichen Betriebsüberschüsse stärkten Preußens Finanzkraft erheblich (1892–1904 rd. ein Drittel aller Staatseinnahmen) und erlaubten den Ausbau der Nebenlinien, die ihrerseits Firmenansiedlung auch jenseits der Hauptstrecken begünstigten. Regionalbahnbau konnten sich aufgrund der economy of scale auch Sachsen oder Bayern leisten, während deutsche Kleinstaaten vorrangig mit Privatbahnen auskommen mußten. Als Arbeitgeber von (1907) rd. 500.000 im Transportbereich Beschäftigten erwartete der Staat auch politisch die Loyalität dieser zahlreichen (teils beamteten) Wähler. Für landwirtschaftliche Produkte und etwas später für industrielle Massengüter wurden spezielle (Langstecken-) Tarife eingeführt, wovon die entlegenen Ostprovinzen besonders profitierten. Seit den 1880er Jahren betrieben Provin­ zialverbände den Kleinbahnbau zur Erschließung der ländlichen Peripherie – im vom Großgrundbesitz dominierten Pommern deutlich mehr als im dichter besiedelten Westfalen, wo eine sparsame Provinzialspitze finanzielles Engagement ablehnte. Als weitere Maßnahme wurde gegen starke agrarisch-konservative Widerstände der Kanalbau zum Gütertransport zwischen West und Ost forciert (1905 Mittellandkanal Rhein-Dortmund-Hannover, ab 1920 bis zu Elbe und Oder). Solche Infrastrukturmaßnahmen wirkten mittelbar zugunsten der Wirtschaftsentwicklung. Einen frühen gesellschaftlichen Anstoß hierzu kann man in staatlichen Notstandshilfen seit der regionalen Hunger- und Seuchenkrise 1867/68 in Ostpreußen erblicken. Die Berliner Regierung stellte auf öffentlichen Druck hin 66 Michael Stolleis, Historische Grundlagen. Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.  1, Baden-Baden 2001, S.  199–332, bes. 223–267; Volker Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880–1980, Frankfurt/M. 1983, S. 9–54. Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 27–52. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Abt. II, Bd.  1: Grundfragen der Sozialpolitik, bearb. v. Wolfgang Ayass u. a.,Darmstadt 2003, S. XV– XXVIII und Abt. 3, Bd. 4: Arbeiterrecht, bearb. v. Wilfried Rudloff, Darmstadt 2011, S. XXXVIII–LXIII. Michael Kittner, Geschichte und Entwicklung des Arbeitsrechts, S. 1–18 [2009]: www.bund-verlag.de/wglobal/eddy/downloads/Die_Geschichte_des_ Arbeitsrechts_pdf. Florian Tennstedt, Bismarcks Anteil an der Entstehung der deutschen Arbeiterversicherung und des Sozialstaats, in: Ch. Juranek u. a., Positive und organische Reformen. Otto v. Bismarck und die Innenpolitik, Wettin 2015, S. 35–47.

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mehrere Millionen Taler für Meliorationen, Bauten und eine Bahnlinie im Regierungsbezirk Gumbinnen zur Verfügung. Später kamen auch westliche Regionen in den Genuß solcher Staatshilfen, was politisch Loyalitätsgewinn bedeutete, aber im Volumen nicht ausreichte, um ökonomische Strukturen zu transformieren. Als direkten regionalen Wohlstandsausgleich hat Werner Abelshauser staatliche Zuschüsse (Dotationen) an Provinzen und Kreise, mittelbar auch Gemeinden, seit 1873 bezeichnet, die diese zu Straßenbau – wiederum wichtig in östlichen Provinzen – und für soziale Anstalten (Armen- und Krankenpflege) verwandten. Über die seit dem Vormärz betriebene Förderung von Gewerbeschulen, Gewerbeausstellungen und die nach 1870 entstehenden Technischen Hochschulen (Aachen, Berlin, Hannover, Danzig, Breslau, 1908/10 in Dortmund staatlich verweigert) hinaus gab der Staat stetig wachsende Zuschüsse für die kommunalen Volksschulen, besonders die ländlichen im Osten, was vollständiger Alphabetisierung und dem Bildungsgrad künftiger Arbeitskräfte zugute kam. In städtischen Zentren des Ostens staatsseitig industrielle Unternehmen zu implantieren, lehnte die östliche Großlandwirtschaft ab, da so mehr Landarbeiter abwandern würden, klagte aber zugleich über den Vorsprung des Westens. Direkte Industriepolitik betrieb der Staat somit kaum. Ein Versuch des westpreußischen Oberpräsidenten Gustav von Goßler, ab 1898 in Danzig mit Staatshilfen Waggonbau, Elektroindustrie und ein Stahlwerk anzusiedeln, mißlang. Subventionen dafür verweigerten – aus unterschiedlichen Motiven – Landwirtschaftswie Handelsministerium; die Verkehrslage und das Management waren nicht optimal. Bei diesem Beispiel wie in anderen Industriezweigen gelangen Neugründungen in Ostelbien gegen die um 1900 fest etablierte Konkurrenz in Sachsen, West- und Süddeutschland nur selten dauerhaft erfolgreich.67 Als teuer-erfolgloses Kapitel landwirtschaftlicher Förderpolitik erwies sich die Ansiedlung von Bauern in den Ostprovinzen. In Form von kreditverbilligten 67 Ziegler, Eisenbahnen, S.  218–229. Tibor Süle, Preussische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871–1914, Göttingen 1988, S.  31 (staatlich Beschäftigte). Andreas Geißler, Nichtstaatlicher Bahnbau in Pommern und Westfalen 1880–1914, Essen 2004, S. 317–328. Albrecht Hoppe, Der Notstand von 1867/68 in Ostpreußen als Forschungsproblem, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 61 (2015), S. 169–200, 180, 196. Werner Abelshauser, Staat, Infrastruktur und regionaler Wohlstandsausgleich im Preußen der Hochindustrialisierung, in: F. Blaich (Hg.), Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive, Berlin 1980, S. 9–58. Th. Stamm-Kuhlmann (Hg.), Pommern im 19. Jahrhundert. Staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in vergleichender Perspektive, Köln u. a. 2007, S. 233 ff. (H. Kiesewetter zur Nicht-Industrialisierung). Marjorie Lamberti, State, Society, and the Elementary School in Imperial Germany, New York 1989, S. 104 ff. Friedrich Richter, Preußische Wirtschaftspolitik in den Ostprovinzen. Der Industrialisierungsversuch des Oberpräsidenten von Goßler in Danzig, Berlin 1938, S. 23–51.

82  II. Preußens Wirtschaft Rentengütern wurden ab 1891 17.160 Höfe geschaffen, die aber die Strukturen in Ostpommern, West- und Ostpreußen nicht grundsätzlich änderten. 500 Mio. Mark gab Preußen ab 1886 für die Ansiedlung von 21.250 Familien auf 3300 km2 in Posen-Westpreußen aus. Ab 1895 sollte nationalistisch motivierte „Deutschtumspolitik“ eine weitere Zunahme der polnischsprachigen Bevölkerung und die Abwanderung von Deutschen verhindern. Die Maßnahmen bewirkten jedoch zugleich stark steigende Bodenpreise, erfolgreiche Abwehrorganisationen der Polen und verschärften den Nationalitätenkonflikt. Aus übergreifender Perspektive bleibt festzuhalten, daß die aufwendigste Einzelmaßnahme regionaler Strukturförderung aus politisch-nationalistischem Kalkül entsprang und die ökonomische Stärkung des Ostens strukturell nicht gelang. Der ökonomischen Staatsintervention lagen auch nach 1918 politische Antriebe zugrunde. Die Grenzziehung und ein Wirtschaftskrieg gegenüber dem neuen Polen trafen Ostpreußen, durch den „Korridor“ von Ostpommern getrennt, und die Ostprovinzen insgesamt stark. Ohne Zollschutz fielen Getreidepreise auf das Weltmarktniveau bei zugleich steigenden Löhnen, Abgaben und Zinsen aus Altschulden, was die Mechanisierung erschwerte; Großbetriebe auf ungünstigen Böden verloren Rentabilität. Ohne das frühere russische Hinterland marktferne Gewerbebetriebe und Werften hatten Kosten- und Absatzprobleme. Oberpräsident Ernst Siehr und Königsbergs Oberbürgermeister Hans Lohmeyer bemühten sich jahrelang, wirtschaftliche Kontakte zu den neuen Nachbarstaaten anzubahnen und Königsberg als Messeort zu etablieren. Beide Demokraten erreichten nur kleine Erfolge. Als in Berlin politisch durchsetzungsfähig erwies sich hingegen Reichspräsident Hindenburg, selbst ostpreußischer Rittergutsbesitzer. Er ordnete 1927 ein Hilfsprogramm für Ostpreußen an; ab 1928 erweiterte man es und ab 1931 gab es trotz Haushaltsknappheit und Kürzung von Sozialleistungen eine stark aufgestockte Osthilfe für weitere Grenzgebiete. Sie ähnelte der späteren bundesrepublikanischen Zonenrand-Förderung gegenüber der DDR. Billige Darlehen zur Umschuldung erhielten primär strauchelnde Großbetriebe; Fördergelder kamen aber auch Infrastruktur und Industrie zugute, 1929/30 z. B. der in Schwierigkeiten geratenen Schichau-Werft in Elbing (13.500 Beschäftigte). Bald traten Skandale zutage; die Sanierung abgewirtschafteter Rittergüter erfolgte teils aus Rücksichtnahme auf deren stramm deutschnationale Besitzer. Um hier ungestört vorgehen zu können, drängten die Kreise um Hindenburg die kritisch gestimmten sozialdemokratischen, zentrumskatholischen und linksliberalen Vertreter Preußens aus den Gremien zur Verteilung der Osthilfe heraus. Auch die preußischen Demokraten waren nicht ganz frei vom Motiv, den „deutschen Osten“ gegen „die Polen“ zu stärken, aber sie waren verhielten sich nicht aggressiv antipolnisch, sondern sahen die Osthilfe als Nothilfe und zielten primär auf Bauern-Ansiedlung. Insgesamt sind mehrere 100 Mio. RM in die Osthilfe geflossen – ohne die säkularen Trends des Bedeutungsrückgangs von Guts-

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wirtschaft, der schwachen Industrialisierung des preußischen Ostens und der generellen Probleme grenznaher Gebiete umkehren zu können. Die strukturelle Wirtschaftsnotlage hielt an; aggressiv antipolnischer Nationalismus nahm zu; die NSDAP erzielte in Preußens Ostprovinzen schon 1930 Spitzenwahlergebnisse. Als ohne Haushaltsrücksichten und im Zuge der Aufrüstung nach 1933 Staatsgelder auch im Osten wirtschaftliche Belebung ermöglichten, stand dies ähnlich wie im 18. Jahrhundert im Kontext von Autarkiestreben und Kriegsvorbereitung.68 Bis 1914 ergaben alle genannten Maßnahmen (Zölle, Steuerreform, Sozialpolitik, Eisenbahn- und Infrastrukturpolitik) keine weitgehende Umverteilung – der Staatsanteil am Nettosozialprodukt betrug 1913 ca. 15 % – oder gar den Wohlfahrtstaat von 1975. Das Wirtschaftssystem des Kaiserreichs blieb grundsätzlich im Rahmen des zeitgenössischen europäischen Hochkapitalismus. Aber die genannten Interventionen stärkten die Position und das Ansehen des autoritären Staates. Dazu trug nicht zuletzt die Sozialversicherung bei. Politische Absichten wie die Wahrung der Loyalität der Bevölkerung spielten in diversen Bereichen stark mit. Und handeln war möglich, weil die Industrialisierung, die entwickelten Westprovinzen und gute Steuereinnahmen dem Großstaat Preußen die nötige Finanzkraft zur Verfügung stellten. Beim Blick auf die Epochen wird klar, daß Preußen nie bedingungslos wirtschaftsliberal regiert wurde, sondern es durchgängig staatspolitisch begründete Rahmensetzung und gewisse staatswirtschaftliche Bereiche gab. Hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Wende um 1879, aber auch bezüglich des 19. Jahrhunderts insgesamt urteilte Dieter Ziegler zu Recht: „Den wirtschaftsliberalen Staat hat es in Preußen nie gegeben.“ 69 Das Mischungsverhältnis war umkämpft und machte wohl – bei aller Kritik und Unzulänglichkeit – den relativen Erfolg aus. Dieser war jedoch nicht ganz außergewöhnlich im Vergleich deutscher Staaten, die auch Strukturpolitik trieben, freilich keine antipolnische Ansiedlung. Starke ost-westliche und regionale Disparitäten ließen aber die Verwerfungen in Preußen schärfer hervortreten und das autoritäre 68 Roland Baier, Der deutsche Osten als soziale Frage, Köln/Wien 1980, S. 85 f. (Zahlen). Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016, S. 131–146 (Bilanz der Ansiedlungspolitik). Uwe Müller (Hg.), Ausgebeutet oder alimentiert? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteluropa (1867–1939), Berlin 2006, S. 9–57, 141–165 (U. Müller). Zu Siehr und Lohmeyer vgl. Rikako Shindo, Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik. Wirtschaft und Politik im deutschen Osten, Berlin 2013. Zur Osthilfe Treue, Preußens Wirtschaft, S. 587–595; Rainer Gömmel, Die Osthilfe für die Landwirtschaft unter der Regierung der Reichskanzler Müller und Brüning, in: G. Schulz (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20.  Jahrhundert, Paderborn 1996, S.  253–274; Wolfgang Wessling, Die staatlichen Maßnahmen zur Behebung der wirtschaftlichen Notlage Ostpreußens in den Jahren 1920 bis 1930, in: Jahrbuch für Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 6 (1957), S. 215–289, S. 234. 69 Boch, Staat und Wirtschaft, S. 49 (Staatsanteil). Ziegler, Eisenbahnen, S. 544 (Zitat).

84  II. Preußens Wirtschaft politische System als realer wie perzipierter wahrgenommener Verantwortlicher wurde deshalb von allen Seiten massiver angegangen.

4.

Kommunale Daseinsvorsorge, Staatsbetriebe im Freistaat und Bilanz preußischer Wirtschaftspolitik

Neben der Sozialversicherung leisteten Preußens (wie anderer Bundesstaaten) Städte den größten positiven Beitrag zur Intervention in Ökonomie und Klassengesellschaft. In den Kommunen wurden frühe und weiterwirkende Grundlagen moderner Sozialeinrichtungen gelegt. Mit Grund- und Gewerbsteuer, Zuschlägen zur Einkommensteuer und Erträgen aus eigenen Erwerbszweigen konnten neben Infrastruktur und bürgerlichen Prestigeinstituten wie Theatern und Museen speziell das Bildungswesen in enormer Breite ausgebaut sowie bestimmte Wohlfahrtseinrichtungen eingerichtet werden. Dazu zählten Krankenhäuser und Gesundheitsämter, Schulspeisung und Arbeitsnachweise. Wasser- und AbwasserSysteme minimierten Seuchen. Kommunal gab es einen gemeinwirtschaftlichen Zug, indem Städte Gasanstalten, Straßenbahnen, sogar Binnenhäfen betrieben. In den Städten dominierten meist liberale Stadtverordnete und Magistratsmitglieder, aber in der Praxis weiteten sie ohne doktrinären Marktliberalismus die Daseinsvorsorge aus. Dieser sog. Munizipalsozialismus war nicht sozialistisch, aber effektiv sozialstaatlich. Preußische linksliberale Oberbürgermeister wie Georg Bender (Breslau) beklagten sogar, daß ihnen soziale Einrichtungen durch das Erfordernis der staatlichen Genehmigung erschwert würden, und Staatsbehörden die Einbeziehung von Sozialdemokraten in kommunale Gremien argwöhnisch beäugten. Zurückhaltung bestand bis 1914 im Wohnungsbau als Domäne von Privateigentümern und bei der obligatorischen Arbeitslosenversicherung, da man beides für weder wünsch-, noch finanzierbar hielt. Die kommunalen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialbereich, Verkehr und gewerbliche Anlagen stiegen zwischen 1883 und 1911 jedoch um das fünf- bis sechsfache – Beleg für positive, den Menschen helfende Intervention. Nach 1900, besonders in den 1920er Jahren, beteiligten sich Kommunen/Städte auch an den entstehenden Elektrizitätswerken, die als Überlandzentralen in Public-Private-Partnership operierten; die Kommunalbeteiligung am RheinischWestfälischen Elektrizitätswerk (RWE) besteht bis heute. Verkehrsbetriebe wurden konsolidiert, z. B. 1929 die Berliner Verkehrs AG (BVG), die gleich den nun vielerorts aktiven städtischen Wohnungsbau-Gesellschaften bis in die Gegenwart wirken. Am Ende der Republik stand, wie im frühen 18.  Jahrhundert, ein begrenzter Bereich direkter Staatswirtschaft, nämlich die 1923 gegründete Preußische Bergwerks- und Hütten AG (Preussag) mit 31 Bergwerken/Hütten und 29.000 Beschäftigten sowie die Preußische Elektrizitäts AG, 1929 konsolidiert als Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerke AG (Veba). Auch ihre Spuren reichen

4. Kommunale Daseinsvorsorge, Staatsbetriebe im Freistaat und Bilanz 

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bis an die Gegenwart heran, denn aus der Preussag ging der Reisekonzern TUI hervor, die Veba wurde 2000 Teil der Eon AG. Den alten Namen PreussenElektra nutzte Eon 2016 für den abgespaltenen Bereich auslaufender Kernkraftwerke – vielleicht letztmaliger Bezug auf Preußen im Wirtschaftsbereich. Preußen als ab 1815 größter Staat im (späteren) Reichsgebiet besaß unzweifelhaft hohe Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands – als Protagonist der Beseitigung überkommener ökonomischer Fesselungsstrukturen, als Initiator des Zollvereins, als Territorium mit den drei wichtigsten Montanrevieren, als Agent wirtschaftsrechtlicher Liberalisierung im Norddeutschen Bund, als Herkunftsland der meisten Vordenker der Sozialversicherung, als primärer (aber keineswegs einziger) Standort für die neuen Industrien Elektrotechnik und Chemie, als Großwirtschaftsraum mit Großbanken und Großunternehmen, Kartellen und ambivalenten Ansätzen regionaler Entwicklungspolitik. Die Bilanz preußischer Wirtschaftspolitik fällt zwiespältig aus. Politisch motivierte Interventionen zur Wirtschaftsentwicklung vom Merkantilismus bis zur Osthilfe belegen, daß der Staat als Akteur zur Wohlstandsmehrung nicht nachhaltig innovativer wirkte denn Private. Phasen staatlicher Reglementierung – die Régie ab 1765 oder die Restriktionen im Vormärz – wechselten mit Phasen der Öffnung, speziell den Reformen nach 1807 und der Modernisierung von Rechtssystem und Wirtschaftsfreiheit in der Reichsgründungszeit. Diese mehrfachen Korrekturen sowie stete indirekte Förderung durch Infrastruktur und Bildungssystem, nicht zuletzt weltwirtschaftliche Impulse verhinderten längere Rückstände. Staatsinterventionen haben meist positive und negative Folgen; welche dominieren bleibt fallabhängig. Im europäischen Vergleich gehörte Preußen seit der Reformzeit und zumal der Reichsgründungsdekade zu den westlich-hochkapitalistischen Wirtschaftssystemen. So gelang bis 1914 ein enormer ökonomischer Aufstieg – ohne daß die politische Verfassung demokratisiert und gesellschaftliche Strukturen grundlegend umgestaltet wurden. Als Modell der Verknüpfung von entfesselter Wirtschaft unter Staatsaufsicht und autoritärem politischen System erschien Preußen noch bei einer Konferenz 2007 führenden Chinesen nachahmenswert. Ob das Nebeneinander der Wohlstandsmehrung mittels staatlich gelenkter Volkswirtschaft und gleichzeitig restringierter politischer Partizipation (Freiheit) auf Dauer zu halten ist und längerfristig nicht die Einparteienherrschaft unter Druck gerät wie beispielsweise im sowjetisch dominierten Osteuropa, bleibt abzuwarten.70

70 Zur kommunalen Daseinsvorsorge Wolfgang R. Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 99–128 und Treue, Preußens Wirtschaft, S. 597– 601. Klage Benders nach Spenkuch, Herrenhaus, S. 343–350. Hans-Joachim Winkler, Preußen als Unternehmer 1923–1932, Berlin 1965. Zur positiven Sicht in China auf Preußen als wirtschaftliches Entwicklungsmodell vgl. Mark Siemons, Der alte Preuße, das ist der Mann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 291, Dezember 2007.

III. Preußens Regionen Autonomiestreben und Integration in den (eroberten) ­Territorien

„Preußen ist eigentlich schwach, aufgrund seiner Entstehungsgeschichte ohne historische Gemeinsamkeit, ohne religiöse Einheit, ohne stammesmäßige und dialektale Homogenität; Preußen besteht aus Provinzen mit unterschiedlicher Geschichte, unterschiedlichen Wünschen und Interessen, so daß die Antipathien gegen den Zentralstaat lebendig bleiben. Statt eines gemeinsamen Bandes von Traditionen und Vorstellungen hält den Staat nur die Kette zusammen, die einander fremde Völker zusammenpreßt.“ Dies schrieb der preußenkritische liberalkatholische Franzose Gustave de Failly nach einer Studienreise durch Rheinpreußen 1842. Sogar noch bis 1906 lautete die offizielle Bezeichnung des jahrweisen Rechtskodex‘ „Gesetzsammlung für die Königlichen preußischen Staaten“. Die geringe kollektive Identität des stark regional geprägten Staates Preußen stellte kürzlich auch Christopher Clark heraus. Die Leitfrage im Blick auf die Regionen und Provinzen ist somit die nach der Integration. Die Fragestellung besitzt drei Richtungen: im traditionellen verwaltungstechnischen Sinne sollen die Einverleibung und der Umgang mit den (Eigenheiten der) Provinzen resümiert werden; zweitens geht es um regionale Opposition und Streben nach Autonomie bis hin zu staatlicher Selbständigkeit; drittens ergeben sich daraus die eine historisch-politische Landschaft konstituierenden Faktoren, die zusammen und unter Einbezug kultureller Umstände sogar nationale Eindeutigkeit übersteigen konnte. Zeitgenössisch wurde – und Zentralstaaten weltweit tun dies noch heute, z. B. China gegenüber Tibet oder die Türkei gegenüber den Kurden – selbst friedliches und von Mehrheiten getragenes regionales Autonomiestreben als Separatismus und Verrat im Dienste auswärtiger Mächte geschmäht. Forscher dekonstruieren heute den lange Zeit unhinterfragten ethnisch-kulturell homogenen Nationalstaat, betrachten dabei vertieft die Widerstände, Kosten und Alternativen und fragen nach der (gewaltsamen) Konstruktion von Nation im Widerstreit mit regionaler und kultureller Identität.71

71 Gustave de Failly, De la Prusse et de sa domination sous les rapports politiques et religieux spécialement dans les nouvelles provinces, Paris/Leipzig 1842, S. 275 f. (Übersetzung H. S.). Clark, Preußen, S. 14, 778 f. Karl Ditt/Klaus Tenfelde (Hg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2007.

1. Das 17. und 18. Jahrhundert  

1.

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Das 17. und 18. Jahrhundert

Die Zeile „Niemand wird Preuße ohne Not, ist er’s geworden, dankt er Gott“ faßte im 19. Jahrhundert die preußische Integration beschönigend in einen Reim. Die preußenfreundliche Historiographie hat lange die Toleranz bei der Einverleibung, die effektive Verwaltung und (wirtschaftliche) Landesentwicklung herausgestellt, aber sich auf Verwaltungsgeschichte konzentriert, Konfliktfelder heruntergespielt, die Akzeptanz der Bevölkerung mit wenigen Indizien belegt. Jüngere regionalhistorische Forschungen, die die verwaltungsgeschichtliche Perspektive in Richtung Identitätsbildung erweiterten, erbrachten kritischere Ergebnisse. Anfangs, ab 1609, dominierten tatsächlich Erwerbungen durch Erbschaften erloschener Herrscherhäuser (Niederrhein, Ostpreußen, Magdeburg) und Friedensverträge (Minden, Hinterpommern), nicht kriegerische Eroberung. Die Absicht gesamtstaatlicher Integration bestand schon bei Kurfürst Friedrich Wilhelm – seine Formel membra unius capitis steht dafür –, aber eine Planmäßigkeit der Verwirklichung ist im Westen angesichts unzureichender Mittel nur partiell zu konstatieren. Vielfach bestanden hergebrachte Rechte weiter und die lokale Verwaltung verblieb den lokalen Institutionen. Potentiell widerständige ständische Strukturen indessen wurden allmählich entmachtet, jedenfalls was Mitsprache in Außen-, Militär- oder Steuerpolitik anbetraf. Einmal hat Preußen sogar um den Zuschlag der über den neuen Fürsten entscheidenden Stände geworben, 1707 im schweizerischen Neuchâtel. In einem dort verteilten Manifest versprach König Friedrich I. Religionsfreiheit, Infrastrukturausbau, Beschäftigungssicherung und stellte die weite Entfernung von Berlin als Vorteil dar, denn somit sei Fürstenautokratie ausgeschlossen, ständische Autonomie garantiert. Wegen der Lage inmitten der Eidgenossenschaft und der sekundären Bedeutung einer Exklave von 800 Quadratkilometern konnten sich die Eliten Neuchâtels Berliner Zugriffen entziehen und besassen tatsächlich Spielräume zum Aushandeln ihrer Interessen.72 Die Bevölkerung wurde bei Herrschaftswechseln der Frühneuzeit generell nicht gefragt; gefordert wurde Loyalität zum Herrscherhaus, aber nicht sprachliche, religiöse oder gar alltägliche Assimilierung. Preußen war zunächst – gleich 72 Zum 17. Jahrhundert: Opgenoorth, Friedrich Wilhelm, Bd. 1, S. 222 ff., 246 ff., Bd. 2, S.  21  ff., 339  ff.; M. Kaiser/M. Rohrschneider (Hg.), Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640–1688), Berlin 2005, S. 12–17, 77 ff. Der Band Peter Baumgart (Hg.), Expansion und Integration, Köln 1984, vereint 13 materialreiche, aber zu eng verwaltungsgeschichtlich konzipierte, meist preußenfreundliche Aufsätze. Philippe Henry, Niemand wird Preuße ohne Not – außer Neuchâtel und Valangin, in: Preußen 1701. Eine europäische Geschichte, Berlin 2001, S. 133–138. Nadir Weber, Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preußen (1707–1806), Köln 2015, S. 31, 589 ff.

88  III. Preußens Regionen anderen Staaten Europas – ein von der Dynastie geleitetes Territorien-Gefüge (composite state), dessen Zusammenhalt jenseits der Dynastie erst allmählich mittels Verwaltung und Heer, Steuererhebung und politischer Symbolik wachsen sollte. Traditionell waren die Stände, primär Adel und Städte, zu politischer Mitsprache berechtigt; soweit ihre Rechte im Steuer-, Militär- und Konfessionsbereich (sog. ständische Libertät) gewahrt wurden, konnten sie sich mit neuen Herren arrangieren. Wegen Steuer- und Militärpflichten ergaben sich aber auch in Preußen, so in Kleve/Mark und Ostpreußen schon um 1660, Konflikte der Stände mit dem Berliner Kurfürsten, die trotz gewisser Zugeständnisse an die ständische Mitwirkung mit der Befestigung der Berliner Oberherrschaft über Ostpreußen endeten. Vom Niederhein lag Berlin jedoch fern und eine neuere Einschätzung wertet Preußens Präsenz im 18. Jahrhundert dort nicht nur in wirtschaftlicher wie konfessioneller Hinsicht „kaum als Erfolgsgeschichte“, sondern konstatiert zudem, daß die Effizienz der Verwaltung dort „deutlich geringer veranschlagt werden“ muß „als dies noch in den klassischen Verwaltungsgeschichten borussischer Prägung der Fall“ war. Analog verurteilte Friedrich II. in seinem politischen Testament von 1768 die selbstbewußten rheinischen Besitzungen als die Gebiete, „von denen man am wenigsten Nutzen ziehen kann“. Den Adel der Flügelprovinz Ostpreußen nannte er „mehr Russen als Preußen“. Denn im Siebenjährigen Krieg arbeiteten sowohl katholische Stände von Kleve wie Adels-Repräsentanten in Ostpreußen mit den neuen österreichischen bzw. russischen Herren zusammen. In Schlesien huldigten Städte, ja Beamte der Breslauer Oberamtsregierung 1757 Maria Theresia. Ständische Eliten band keine unwandelbare Loyalität an die preußische Monarchie. Gegen Eingriffe des Zentralstaats in alte ständische Rechte erhoben selbst langjährig preußische Städte wie Magdeburg Beschwerde beim Wiener Reichshofrat bzw. beim Reichskammergericht; mit dem 1746/50 vom Kaiserhof erteilten privilegium de non appellando wurde den Ständen jedoch der Rechtsweg vor Reichsinstanzen verbaut.73 Wenig Streitpunkte gab es in Ostfriesland, das 1744 (bis 1806) preußisch wurde. Ständische Organe für Landesverwaltung, Steuererhebung und Rechtsprechung bestanden vertraglich garantiert weiter; Emden wurde preußischer Hafen, aber Ostfriesland blieb militärfrei und nicht in den Berliner Merkantilismus einbezogen. Eine kleine preußische Verwaltung war auf das Arrangement mit

73 Michael Rohrschneider, Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit. Aspekte und Perspektiven der neueren Forschung am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 321–349. Hintze, Hohenzollern, S. 209– 217. Horst Carl, Nachbarn auf Distanz. Brandenburg-Preußen und die Rheinlande im 17. und 18. Jahrhundert, in: G. Mölich u. a. (Hg.), Preußens schwieriger Westen, Duisburg 2003, S. 1–26, Zitate S. 15 f., 19. Wolfgang Neugebauer, Zwischen Preußen und Rußland. Rußland, Ostpreußen und die Stände im Siebenjährigen Krieg, in: E. Hellmuth u. a. (Hg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart 1999, S. 43–76.

1. Das 17. und 18. Jahrhundert  

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den Ständen angewiesen und das entfernte „Anhängsel“ Ostfriesland lebte mit Preußen einvernehmlich, auch nach Fremdbesatzung im Siebenjährigen Krieg. Im ersten großen Annexionsgebiet Schlesien hingegen wurden ab 1741 die Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzverhältnisse tiefgreifend umgeformt. Friedrich II. ließ die Gesamtständevertretung auflösen, das Akzise-Steuersystem einführen, gemäß Kantonsystem zehn Mal mehr Militär als früher Habsburg rekrutieren, neue Behörden und neues Personal die Berliner Staatsmacht vertreten. Nur im Rechtssystem wurde Rücksicht auf das Herkommen genommen, zumal die lokalen Gerichte des Adels beibehalten, und im Kirchenbereich die protestantische Bevölkerungshälfte von der massiven Benachteiligung unter Habsburg befreit wurde. Trotzdem gab es bei Katholiken, zuvörderst Klerus und Adel, jahrzehntelange Vorbehalte gegen Preußen. Manche Adelige verlegten nach 1741 ihren Familiensitz auf österreichisches Gebiet, Disziplinierungsmaßnahmen betrafen verbliebene Adelshäuser und selbst die Privilegierung einiger Aristokraten, z. B. mittels des neuen Titels „freier Standesherr“ oder der Grafenwürde, pazifierte den Adel erst in späteren Generationen. Zumal in Oberschlesien mit seiner alltäglich oft polnische Dialekte sprechenden Bevölkerung bildete sich mehr als ein Jahrhundert kaum preußische Identität aus.74 Einige Parallelen zu Schlesien findet man im jahrhundertelang und bis 1772/93 zur polnisch-litauischen Föderation gehörigen Teil des östlichen Preußen, die danach als Provinz Westpreußen firmierte. Bis in die 1760er Jahre ökonomisch relativ florierend und an den polnischen Reichstagen (Sejm) teilnehmend, erfuhren Städter und Adelige sowie katholische Geistliche und Bauern die Einverleibung ab 1772 weniger als Befreiung, denn als Verlust. Die deutschsprachige und evangelische Thorner Bürgerschaft hielt dezidiert am Verbleiben in der polnischen Föderation fest. Bürgermeister Christian Klosmann schrieb privatbrieflich vom „despotismo berolinensi“ und „Gott behüte uns vor diesen Nachbahr“, er wolle „lieber unter Pohlen bey 6 Huben Landes als unter Preußen bey 18 leben“. Die Handelsstadt Thorn litt ökonomisch stark unter der Wirtschaftsgrenze zu Danzig bzw. dann zu russisch-Polen und preußischem Steuerdruck; Wegzug und Wohlstandsverlust folgten. Ein Chronist schrieb später: „Die Stadt war gebrochen an Leib und Seele, die Königin der Weichsel war eine Bettlerin geworden.“ Thorn erreichte erst 1850 wieder 10.000 Einwohner wie um 1772. Das noch selbständige Danzig sollte infolge einer eng gezogenen Wirtschaftsblockade für Preußen optieren. Johanna Schopenhauer, Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, gab die Stimmung der Kaufleute 1772 wieder: Damals „überfiel das Unglück wie ein Vampir meine dem Verderben geweihte Vaterstadt und saugte jahrelang ihr bis zur völligen Entkräftung das Mark des Leben aus! 74 Enno Eimers, Die Eingliederung Ostfrieslands in den preußischen Staat, in: Baumgart (Hg.), Expansion und Integration, S. 119–168. P. Baumgart, Schlesien, in: Conrads (Hg.), Schlesien, S. 360 ff. und 450 ff.

90  III. Preußens Regionen (…) Der Zorn der Bürger, den das Gefühl ihrer Ohnmacht bis zu verzweiflungsvoller Wut erhöht hatte, wandelte, als der erste Schrecken überstanden war, in verbissenen Ingrimm, in immer tiefer eingreifenden Haß gegen Preußen und alles, was preußisch war“. Als Danzig schließlich 1793 preußisch wurde, verließen die Schopenhauers wie andere Kaufleute die Stadt. Die borussische Historiographie hat die Annexion Westpreußens 150 Jahre lang als kostenintensives Werk Friedrichs II. und große Kulturleistung für eine abgewirtschaftete Region gefeiert. Neuere, quellenfundierte Studien zeichnen ein anderes Bild und betonen den tiefen politischen Bruch wie sozialökonomische Verwerfungen damals. Demnach finanzierte Westpreußen das gerühmte friderizianische Retablissement weitgehend selbst, denn es trug zu Staatsschatz und Heeresunterhalt etwa ebensoviel bei wie Berlin in der Provinz für Infrastrukturmaßnahmen ausgab. Die ökonomische Umorientierung des Handels und die Integration in das preußische Wirtschaftssystem dauerten Jahrzehnte; von staatlicher Förderung profitierten jedoch Elbing (gegen Danzig) und Graudenz (gegen Thorn). 1772/93 stellte sich auf politischer Ebene als klarer Bruch dar, denn die städtischen Freiheiten und ständischen Gremien wurden abgeschafft, Magistrate staatlich ernannt und das neue administrative Personal des Landes von Berlin aus eingesetzt. Die dagegen gesetzte These „ständischer Latenz“, die sich auf Einzelbeispiele und Petitionen an die Zentralverwaltung stützt, ist zurückgewiesen worden, weil Petitionen nicht mit der Wahl ständischer Vertreter, selbständigen Stadträten oder institionell fixierten Landtagen gleichgesetzt werden können. Eine Nationalitätenpolitik im Sinne zielstrebiger Germanisierung der Bevölkerung gab es anfangs nicht, aber im katholischen Klerus förderte Berlin das deutschsprachige Element. Der polnischsprachige Adel als katholische, auf ständische Freiheit bedachte Führungsschicht wurde staatlicherseits bedrängt und unter Steuerdruck gesetzt, so daß ein Großteil die Region verließ; kooperative Adelige konnten als Agenten preußischer Staatlichkeit Ämter, z. B. Landratsposten, erlangen. Viele Güter von Emigranten wurden an bürgerliche Besitzer vergeben oder zu königlichen Domänen gemacht. Deren Flächenanteil erreichte hohe 50 % in Westpreußen, weil speziell umfangreicher katholischer Kirchenbesitz darin aufging. Westpreußen und Danzig profitierten bis 1806 und je nach Weltmarktkonjunktur auch im 19.  Jahrhundert von Getreideexporten; aber, nicht zuletzt als Folge von Berliner Dirigismus und Beschränkung der Städte-Autonomie, Abwanderung und finanzieller Abschöpfung via Steuern, blieben Manufakturen rar, private Investitionen schwach und später die Industrie auf die Hafenstädte Danzig und Elbing beschränkt. Ob diese Faktoren als Erklärung vergleichsweiser Unterentwicklung Westpreußens bis 1914 ausreichen, steht noch dahin, denn im benachbarten Pommern gelang gleichfalls keine durchgreifende Industrialisierung. Ein westpreußisches Provinzialbewußtsein entstand nach 1793 nicht, denn nebeneinander existierten unverbunden Danziger oder Elbinger Stadtstolz, eine

2. Die ab 1815 und ab 1866 neuen Provinzen  

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rudimentäre kaschubische Identität, polnisches Adels- und Bauernbewußtsein und ab der Jahrhundertmitte ein deutsch-protestantisches Nationalgefühl. Es entstand, als sich der etwa ein Drittel umfassende deutschsprachige Bevölkerungsteil Westpreußens wegen der französischen Besatzung 1807–13 und des nationalen Aufbruchs in der Revolution 1848/49 zunehmend mit Preußen bzw. Deutschland identifizierte. Komplementäre polnisch-katholische Nationalbestrebungen entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten. Um 1914 war Westpreußen ein national gespaltenes Land, ohne daß sich dieses Faktum allein auf 1772/93 zurückführen läßt. Jedenfalls ist der Ansatz von Hans-Jürgen Bömelburg und Karin Friedrich, die königlich preußische/westpreußische Landesgeschichte nicht in den Mustern der lange dominanten polnischen bzw. deutschen nationalgeschichtlichen Narrative zu erfassen, wegweisend.75

2.

Die ab 1815 und ab 1866 neuen Provinzen

Die größten Integrationsprobleme stellten sich nach 1815 und nach 1866, als je drei neue Provinzen zu den sechs altpreußischen hinzukamen. Hinterpommern oder Minden gehörten bereits rund zwei Jahrhunderte zu Preußen und fühlten sich als solche; die hinzutretenden Gebiete besaßen hingegen eigenständige Traditionen. Der Übergang an Preußen ist damals nicht begrüßt worden; Vorbehalte sind zahlreich überliefert. Ein junger Münsteraner drückte die allgemeine Stimmung aus, als er schrieb, Gott möge „uns von der schrecklichsten aller Sorgen, von der Furcht, preußisch zu werden, (…) befreien“. Ein Erfurter Thüringer notierte: „Militär, Einquartierung, brutale Steueroffizianten, miserable, lumpige Beamte wurden uns aus den alten preußischen Provinzen zu unserem Gräuel überwiesen und ein für unsere geographische Lage mit vexatorischen Revisionen, Thorvisitationen und Prozessen durchaus ungeeignetes Steuersystem aufgezwängt“. Über die jahrzehntelange antipreußische Stimmung in ehem. Reichsstädten wie Mühlhausen und Nordhausen in Thüringen, die sich Preußen 1802 unter Militärdrohung einverleibt hatte, schrieb ein Chronist, daß „wohl der größ75 Hans-Jürgen Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806), München 1995, S. 234 f. (Zitat Klosmann), 398 (Thorner Chronist), 379 (Zitat Schopenhauer), 272 ff. (Retablissement, Domänen, Unterentwicklung), 469 ff. (westpreuß. Provinzialbewußtsein). Ders., Die königlich preußische bzw. westpreußische Landesgeschichte in der Frühen Neuzeit – Probleme und Tendenzen, in: Nordost-Archiv 6 (1997), S. 607–647, hier S. 620–623 (keine ständische Latenz). Karin Friedrich, Facing Both Ways: New Works on Prussia and Polish-Prussian Relations, in: German History 15 (1997), S.  256–267 und Dies., Brandenburg-Prussia 1466–1806, Basingstoke 2012, S.  73  ff., 97  f. Weniger kritisch gestimmt ist Peter Oliver Loew, Danzig. Biographie einer Stadt, München 2011; S. 79 ff. zu den preußenfreundlichen, nationalisierenden Entwicklungsstationen bis nach der Revolution 1848/49.

92  III. Preußens Regionen te Teil unserer Bürger (…) dem Staate, dem sie nun angehörten, ihre Liebe nicht zuwandten, sondern mit Sehnsucht in die Vergangenheit zurückblickten.“76 Im Rheinland soll es 1814 häufig geheißen haben „noch lieber französisch als preußisch“. Umgekehrt betrachteten Altpreußen den Westen als fremd. Noch 1837 stand in einem Reisebericht des Innenministers zu lesen, die Rheinländer entbehrten „eigentlicher preußischer patriotischer Empfindungen und Regungen. Sie betrachten ihr Land (…) als ein Eurer Königlichen Majestät Scepter unterworfenes besonders Land, mit eigenen Institutionen und Gesetzen, occupirt und verwaltet von fremdem Militair und fremden Beamten. (…) Auch mir gewährte es den Eindruck eines von Preußen occupirten und verwalteten fremden Landes.“ Jürgen Herres zufolge stellte das Rheinland bis etwa 1870 „einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegenentwurf “ dar.77 Wie ging Preußen mit den neuen Gebieten um? In bisher sächsischen Gebieten wurde 1815 die Verwaltungsorganisation gänzlich geändert, die Niederlausitz zu Brandenburg, die Oberlausitz Schlesien zugeschlagen, der Rest um Merseburg der neuen Provinz Sachsen zugeordnet; etwaiger Opposition wurde so vorgebeugt. 1866 verloren drei Monarchen in Hannover, Kassel, Wiesbaden ihre Throne und die Freie Stadt Frankfurt/M. ihre Selbständigkeit. In den neuen Provinzen bestanden teils starke Loyalitäten gegenüber den bisherigen Herrschern, in den dortigen acht katholischen Bistümern (Köln, Trier, Münster, Paderborn, Limburg, Fulda, Osnabrück, Hildesheim) alte kirchliche Bindungen in Distanz zum preußischen Protestantismus. Wie früher ging es um die zentralen Bereiche Staatsbehörden und Selbstverwaltung, Wirtschaft/ Steuern und Justiz, Religion und Bildung. Als Maxime wurde typischerweise wie 1867 gegenüber Schleswig-Holstein, formuliert, man wolle „die Gesetze und Ein76 Hans-Werner Hahn, „Die Spinne im Kleinstaatennetz“. Preußische Herrschaft in Thüringen im 19. Jahrhundert, in: Thüringer Landtag (Hg.), Das preußische Thüringen, Rudolstadt 2001, S.  47–76, S.  52 (Zit.). Thomas T. Müller, „…um allgemeiner Ruhe und des Friedens willen“. Die Einverleibung der Reichsstädte Mühlhausen, Nordhausen und Goslar in das Königreich Preußen, in: R. A. Müller u. a. (Hg.), Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum, München 2007, S.  260–287, Zit. 287. 77 Jürgen Herres, „Und nenne Euch Preußen!“ Die Anfänge preußischer Herrschaft am Rhein im 19.  Jahrhundert, in: H. Schnabel-Schüle/A. Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher, fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Trier 2006, S. 103–137, S. 119, 132; Ders., Rhein-Preußen. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: M. Groten (Hg.), Die Rheinlande und das Reich, Düsseldorf 2007, S. 159–202; Walter Rummel, Gegen Bürokratie, Steuerlast und Bevormundung durch den Staat. Anliegen und Aktionen der ländlichen Gebiete der Rheinprovinz während der Revolution 1848/49, in: St. Lennertz/G. Mölich (Hg.), Revolution im Rheinland. Veränderungen der politischen Kultur 1848/49, Bielefeld 1998, S. 109–162. Hans-Joachim Behr, Die preußische Verwaltung in der Provinz Westfalen im Spannungsfeld von Zentralismus und Regionalismus, in: Teppe/ Epkenhans, Westfalen und Preußen, S. 24–46, S. 33, 41, 44.

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richtungen der Herzogtümer erhalten, soweit sie Ausdruck berechtigter Eigentümlichkeiten sind und in Kraft bleiben können, ohne den durch die Einheit des Staates und seiner Interessen bedingten Anforderungen Eintrag zu tun“. Diese Doppelung: Erhaltung von Besonderheiten soweit nicht vorrangige Interessen des Zentralstaats dem entgegenstanden, bildete das Muster nach 1815/1866. So wurde die Behördenorganisation (Provinz, Regierungsbezirk, Kreis etc.) übertragen, aber einige regionale Besonderheiten bewahrt; z. B. deckten sich die Regierungsbezirke mit den hannoverschen Landdrosteien und in den neuen Landkreisen blieben, wie auch in Nassau und Westfalen, mehrere Gemeinden umfassende Ämter bestehen, in Schleswig-Holstein Hardesvögte. Die Verwaltungsspitzen wurden ausgetauscht, das übrige Personal großenteils übernommen. Ähnliches geschah in der Gerichtsorganisation, wobei die Obergerichtsbezirke teils neu zugeschnitten wurden und ein Oberappellationsgericht in der jeweiligen Provinz oder in Berlin mit altpreußischen Richtern quasi die Aufsicht übernahm. Das bisher gültige Recht behielt man teilweise bei, führte also nicht durchwegs das Allgemeine Landrecht ein. Linksrheinisch blieb es beim französischen Rechtssystem (Gleichheit aller vor dem Gesetz, öffentliches Verfahren, Geschworene) – nach jahrelangem innerbürokratischen Ringen, da man eine gesamtpreußische Rechtsrevision abwarten und die auf rheinisch-französischem Recht beharrenden Rheinländer nicht durch diese „hochwichtige Staatssache“ (so Friedrich Wilhelm III.) entfremden wollte. Die Rechtsvereinheitlichung geschah erst im Zuge preußischer bzw. deutscher Kodifikationen bis 1900 (BGB). Kirchlich wurde Sachsen der altpreußischen Union und damit Berliner Dominanz unterstellt; die anderen Provinzen behielten eigene protestantische Synoden und Kirchenbehörden, was in Hannover den Ansatzpunkt für lutherische, teils mit den Welfen verbundene Opposition ergab. Im Bildungsbereich wurde das bestehende Schulwesen übernommen und auch die bisherigen Lehrer durchgängig übernommen. Bis 1818 hob Preußen Universitäten ohne realen Lehrbetrieb wie Duisburg oder Paderborn auf und stufte das katholische Münster auf eine Jura- und Theologie-Akademie zurück. Zugleich gründete man aber mit integrativen Absichten die Universitäten Bonn und Breslau neu, und führte die Landeshochschulen Greifswald, Kiel, Marburg, Göttingen sowie die TH Hannover unter preußischer Ägide auf beachtliche Höhen. Professoren und Gymnasiallehrer waren gutenteils bereits Anhänger protestantischer Kulturstaatlichkeit und Generationswechsel verstärkten dies.78 78 Richard Dietrich, Die Eingliederung der ehemals sächsischen Gebiete in den preußischen Staat nach 1815, in: P. Baumgart (Hg.), Expansion und Integration, S. 255–297. Klaus Erich Pollmann, Die innere Konstituierung der Provinz Sachsen nach 1815, in: U. Höroldt/S. Pabstmann (Hg.), 1815: Europäische Friedensordnung – Mitteldeutsche Neuordnung, Halle/S. 2017, S. 209–225. Preußische Gesetzsammlung 1867, S. 129 (Zitat). Thomas Klein, Hessen-Nassau. Von der Annexion zur Integration, in: Hans Patze (Hg.), Staatsgedanke und Landesbewusstsein in den neupreussischen Gebieten (1866),

94  III. Preußens Regionen Trotzdem gab es jahrzehntelange Klagen und Petitionen aus den neuen Provinzen bezüglich Beamten-Rekrutierung und Selbstverwaltungs- bzw. Verfassungsinstitutionen. In der Beamtenschaft blieben Einheimische durch das gesamtpreußische Versetzungssystem, aber auch wegen politischer Diskriminierung in der Minderheit; höhere Anteile Einheimischer fanden sich unter Landräten, da sie lange unter Ortsansässigen rekrutiert wurden. Weithin unbeliebt machten sich die Bezirksregierungen als Genehmigungs- und Polizeibehörden; vielfach wurde über altpreußisch-schroffe Dekretierung geklagt. Der Münsteraner Verleger und Bürgermeister Johann Hermann Hüffer kritisierte, daß bis 1848 keine einzige Maßnahme der Bezirksregierung die Stadt gefördert und man deren Initiativen abgelehnt habe. In einem Polizeibericht aus Paderborn stand noch 1854 zu lesen, die dortige Bevölkerung, zumal der Adel, hege kein „warmes Gefühl für unser Königliches Haus“, sondern mehr Sympathien für Österreich, sei politisch indifferent oder huldige gar „democratischen Tendenzen“. Allerdings konnte Berlin sich teils auf eine preußenfreundliche Fraktion der Amtsträger stützen, besonders nach 1866, denn (National-) Liberale hatten in Hannover, Kurhessen und Schleswig-Holstein lange (Verfassungs-) Konflikte mit ihren bisherigen Landesherrn geführt. Sympathien in ihrer Provinz erwarben manche der neuen Oberpräsidenten, weil sie weiter als Reformbeamte wirkten (im Westen: Vincke, Sack, Motz, im Osten: Merckel, Schön, Zerboni) oder aus ihrer Provinz stammten (Solms-Laubach, Bennigsen, Stolberg-Wernigerode, Scheel-Plessen), und vitale Interessen ihrer Provinz vom Infrastrukturaufbau bis zu Kultur- Instituten vertraten. Zwar folgten Oberpräsidenten in den 1830er, 1850er und 1880er Jahren aus Überzeugung oder Anpassung dem konservativen Berliner Kurs, aber oft versuchten sie, Konflikte zu entschärfen, verteidigten gegenüber Berlin besondere örtliche Verhältnisse. In Provinzen, die aus disparaten Teilen erst langsam zusammenwuchsen – Westfalen z. B. aus 22 Territorien –, avancierten Oberpräsidenten wie v.Vincke zu provinzialen Symbolfiguren. Integration wurde dann befördert, wenn Berlin den örtlichen Sozialgruppen und Interessen Spielraum gewährte. Um diese Idee der Selbstverwaltung tobten in Preußen ein Jahrhundert lang heftige Konflikte, die von der Städteordnung (1808) und Hardenbergs vom Großbesitz vereitelter Administrationsreform (Gendarmerie-Edikt 1812) über die Kreis- und Provinzial-Ordnungen (1823/25 bzw. 1872/75) sowie eine Landgemeindeordnung (1891) bis zur ergebnislosen Verwaltungsreformkommission 1909/14 reichten. Stets ging es um Begrenzung oder Wahrung zentraler Staatsmacht und um Beschneidung oder Aufrechterhaltung der (adligen) Großgrundbesitzer-Interessen des Ostens gegenüber Reformfraktionen in der Beamtenschaft, den bürgerlich geprägten Städten und den Marburg 1985, S. 19–55, S. 46 und Manfred Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, Köln 1992, S. 488 (Verwaltung). Herres, „Und nenne Euch Preußen!“, S. 114 (Staatssache). Wolfgang Rädisch, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und der preußische Staat 1866–1885, Hildesheim 1972, S. 271–280.

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auf größere Spielräume drängenden liberalen und katholischen Parteien. Da der Westen reich an Städten (rd. 70 in Westfalen, rd. 120 in der Rheinprovinz,), aber vergleichsweise arm an selbständigen Gutsbezirken war, bildete die kommunale Selbstverwaltung das erste große Feld, auf dem Berliner Großzügigkeit die (neuen) Provinzen für Preußen gewinnen konnte. Die Stein’sche Städteordnung von 1808 befreite die Kommunen von langjähriger Staatsvormundschaft und gestand Autonomie in ihren eigenen Angelegenheiten zu. Doch schon nach 1815/20 obsiegten in der Berlin Machtzentrale restriktive Tendenzen. Mit Dekreten engte sie die stadtbürgerliche Demokratie wieder ein, beispielsweise die anfänglich hohen Wahlberechtigtenzahlen von rd. 50 % der Männer, und eine revidierte Städteordnung von 1831 stärkte die staatlichen Genehmigungs- oder Eingriffsrechte gegenüber den Kommunen. Diese revidierte Städteordnung wurde in Westfalen eingeführt, obwohl die Städte die freiere Ordnung von 1808 bevorzugt hatten. Es gab stetige Konflikte über Bürgerrechtsverleihung, Kommunalhaushalt, Armenpflege, Polizeiverwaltung. In der Rheinprovinz kam es erst 1845 durch die rheinische Gemeindeordnung zu einer Regelung. Aufgrund langjährigen, einstimmigen Drängens der Rheinländer wurden drei Abweichungen von Altpreußen zugestanden: Stadt und Land wurden kommunalrechtlich nicht wie im Osten, wo dies Grundlage der Großgrundbesitzer-Dominanz war, getrennt; die französische Mairie blieb als Landbürgermeisterei/Samtgemeinde erhalten; der Bürgermeister bildete die starke Verwaltungsspitze. Diese Regelung war freilich keine wirkliche Konzession, denn der hauptamtliche Bürgermeister wurde wie seit der französischen Zeit staatlich ernannt; gewählt wurde nur der Gemeinderat. Als bedeutsam bis 1918 erwies sich die Einführung des Dreiklassenwahlrechts: Es garantierte dem Bürgertum die Herrschaft in den Städten und, nachdem es seit 1849 auch für das Abgeordnetenhaus verordnet wurde, den Konservativen die Dominanz im Landtag, zumal der Wahlkreis-Zuschnitt das Land bevorzugte.79 79 K. Teppe/M. Epkenhans (Hg.), Westfalen und Preußen, Paderborn 1991, S. 3 f. (Zit. J. H. Hüffer). GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 413 Nr. 82 (Polizeibericht v. 1.11.1854). Rüdiger Schütz, Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1866, in: K. Schwabe (Hg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, Boppard 1985, S. 33–81, bes. S. 67–76. Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19.  Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1969, hier S. 212–215. Manfred Botzenhart, Landgemeinde und staatsbürgerliche Gleichheit, in: B. Sösemann (Hg.), Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993, S. 85–105. Benjamin Conrad, „Ein höchst wert gehaltenes königliches Geschenk“. Zur Umsetzung der Städteordnung des Freiherrn vom Stein in Schlesien 1808–1853, in: Historische Mitteilungen 24 (2011), S.  148–176, 151 (50 % wahlberechtigt). Horst Conrad, Kommunaler Konstitutionalismus und preußischer Parlamentarismus. Die revidierte Städteordnung in der Provinz Westfalen 1831–1850, in: K. Teppe/M. Epkenhans (Hg.), Westfalen und Preußen, S.  47–81. Norbert Wex, Staatsbürgerliche Gleichheit und politische Mitwirkung – Aspekte der kommunalen Selbstverwaltung in der preußischen Rheinprovinz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 25 (1999), S. 363–399, 387.

96  III. Preußens Regionen Mit der Städteordnung von 1853 wurde die Magistratsherrschaft weiter befestigt und der Kerngedanke der Selbstverwaltung, die staatsfreie Regelung eigener Angelegenheiten durch kommunal gewählte Amtsträger und Bürgergemeinde, zugunsten staatlicher Genehmigungs- und Eingriffsrechte durchlöchert. Die bis 1856 trotz städtischer Proteste in Rheinprovinz und Westfalen eingeführten Städte- und Landgemeindeordnungen beendeten die Sonderrechte der Westprovinzen. Eine freiheitlichere Städteordnung scheiterte 1876 am Dissens von liberaler Abgeordnetenhaus- und konservativer Herrenhaus-Mehrheit sowie an Bismarcks Widerstand. In Frankfurt/M. und Schleswig-Holstein gewährten Städteordnungen von 1867/69 breiteren Schichten die Wahl von Bürgermeistern und Stadtverordneten, so daß hier Demokraten bzw. Linksliberale dominierten und früh Sozialdemokraten ins Stadtparlament gelangten. Dutzende staatlicherseits öffentlich geleugnete Konflikte entspannen sich im Westen (Aachen, Bonn, Düsseldorf) wie im Osten (Königsberg, Tilsit, Posen) zwischen dem Vormärz und den 1890er Jahren, weil gewählte Bürgermeister nicht bestätigt und ministeriell Regierungsbeamte eingesetzt wurden, um anfangs altliberale, im Kulturkampf zentrumskatholische, bis nach 1900 noch linksliberale Kandidaten zu verhindern. Konservative Staatspolitik setzte stets zu eigenständiger Stadtpolitik einen beschränkenden Rahmen. „Wir werden also konservativ regiert mit Hilfe der Selbstverwaltungskörper“, klagte Lothar E. Schücking, linksliberaler Bürgermeister von Husum, und wegen publizierter Kritik disziplinarisch amtsenthoben.80 Schon ab 1815 und wieder nach 1840 wogte in den Provinzen, gerade in Rheinland-Westfalen, aber auch in Ostpreußen, eine große (Petitions-) Bewegung für die versprochene preußische Verfassung; sie blieb bis 1848 erfolglos. Als unzulänglicher Ersatz existierten seit 1823 ständisch gegliederte Provinziallandtage mit gut 50 % Anteil des (adeligen) Großgrundbesitzes in den sechs Ostprovinzen, aber mit einer Mehrheit für Städte und Landgemeinden im Westen (Rheinprovinz 50 von 80, Westfalen 40 von 71 Abgeordneten); bis 1918 bestand diese neuständische Zusammensetzung (Großgrundbesitz, Landgemeinden, Städte). Die Befugnisse der zweijährlich tagenden Provinziallandtage blieben begrenzt, aber sie waren das Forum der Provinz, erstellten Gutachten, artikulierten vielerlei Provinzialinteressen und sandten Petitionen mit Reformwünschen von der Agrar- bis zur Schulpolitik nach Berlin – politisches Gehör dann findend, so Roland Gehrke, „wenn ihre Beschlüsse sich ohnehin mit der Linie der Regierungspolitik deckten“. Die westlichen und die ostpreußischen Abgeordneten bildeten den Kern der Opposition im Vereinigten Landtag 1847. Mit den Pro80 Spenkuch, Herrenhaus, S.  315–327 (Bestätigungskonflikte), 519–537 (Selbstverwaltungsgesetze 1872–83); Ders., „Es wird zuviel regiert“. Die preußische Verwaltungsreform 1908–1918 zwischen Ausbau der Selbstverwaltung und Bewahrung bürokratischer Staatsmacht, in: Ders./B. Holtz (Hg.), Preußens Weg in die politische Moderne, Berlin 2001, S. 321–356. Lothar E. Schücking, Die Mißregierung der Konservativen unter Kaiser Wilhelm II., München 1909, S. 7.

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vinzialordnungen seit 1875, die wegen Vorbehalten gegen katholische Zentrumspartei, Welfen und Regionalisten im Westen erst bis 1889 eingeführt wurden, gab es für jede Provinz drei Zuständigkeitsfelder (Wohlfahrtspflege, Infrastrukturausbau, Kulturförderung) und einen Etat; Vorreiter war hier Hannover, wo bereits 1868 aus dem Sparkapital des ehem. Königreichs ein millionenschwerer Provinzialfonds eingerichtet wurde. Landesdirektoren und Provinzialausschüsse hießen die entscheidenden Gremien für Verkehrswegebau, Denkmalpflege, Landesbibliotheken und -museen, Kunstförderung. Entscheidungsmöglichkeiten auf diesen Feldern stärkten provinziales Selbstbewußtsein, wirkten aber mittelbar auch integrativ. Die Ausweitung provinzialer Selbstverwaltung blieb hinter den Wünschen von Liberalen und Regionen bis 1914 zurück, da von der Berliner Zentrale her die Kontroll- und Eingriffsbefugnisse der Staatsmacht gewahrt wurden. Die Gruppen in den Provinziallandtagen näherten sich an, als im späten 19. Jahrhundert sowohl die kommunalen Vertreter, meist Bürgermeister, und die Landräte studierte Juristen waren und vom Staat her dachten. Allerdings blieb der Stadt-Land-Gegensatz gutenteils erhalten, und die parteipolitischen Gegensätze (konservativ-liberal-zentrumskatholisch) wuchsen nach 1918 an, als die im Osten starken Deutschnationalen und die im Westen dominanten Zentrumskatholiken in den seit 1921 demokratisch gewählten Provinziallandtagen erstmals auf Sozialdemokraten trafen. In den 1920er Jahren gab es Debatten über weitere Dezentralisierung des Freistaats Preußen und die Aufwertung der Provinzen zu Bundesstaaten wie Sachsen oder Württemberg. Aber diesen Weg, der in letzter Konsequenz zur Auflösung Preußens geführt hätte, befürworteten nur Teile von Zentrum und Demokratischer Partei, während zentralistisch denkende deutschnationale Rechte wie sozialistische Linke bereits in den Provinziallandtagen klar widersprachen, und die Berliner Staatsregierung ihrer Entmachtung zugunsten der Provinzen noch weniger abgewann. Um Preußens frühere Dominanz im Reich zu brechen, sprach die Reichsverfassung 1919 den Provinzen das Nominierungsrecht für die Hälfte der Vertreter Preußens im Reichsrat zu. Innerpreußisch blieb es bei den begrenzten Kompetenzen der Provinzen, aber hier leisteten sie viel; die 1953 als Nachfolger eingerichteten Landschaftsverbände Rheinland bzw. Westfalen-Lippe begreifen sich bis heute als dem kultur- und sozialpolitischen Erbe dieser Zeit verpflichtet.81 81 Roland Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825–1845, Köln 2009, S. 437 (Zitat). Werner Schubert (Hg.), Preußen im Vormärz. Die Verhandlungen der Provinziallandtage (…) 1841–1845, Frankfurt/M. 1999. Hans-Joachim Behr, Die preußischen Provinzialverbände: Verfassung, Aufgaben. Leistung, in: K. Teppe (Hg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung, Münster 1987, S. 11–44. Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen (1789–1947), Münster 2008, S. 390 f. ­Georg Mölich u. a. (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 10. www.netzwerk-preussen-in-westfalen.de.

98  III. Preußens Regionen Zentral bedeutsam für das Wachsen von Loyalität war die nach 1848/66 insgesamt positive Wirtschaftsentwicklung, besonders für das kommunalpolitisch bestimmende Bürgertum. Beispielsweise konnte die Maschinenfabrik Henschel in Kassel ab 1866 besser expandieren; Kiels Marinebetriebe wuchsen; Wiesbaden wurde Weltbad. Wohl blieben manche Orte vergleichsweise zurück, etwa durch Festungen eingeengte Kommunen wie Wesel, Minden, Torgau oder Glogau, aber umgekehrt profitierten etliche Städte von Garnisonen. Der Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Bahnen, Postwesen), schuf verdichtete Kommunikationsräume und förderte so Loyalität zum Staat, sei es Preußen oder Bayern. Manchmal überlagerten besondere Umstände die Ökonomie: Im westpreußischen Elbing erinnerte man sich noch Jahrzehnte nach der Einverleibung 1772 an die stadtbürgerliche Freiheit in der polnischen Adelsrepublik, die Stadt opponierte im Provinziallandtag gegen den preußischen Zentralstaat und erntete mehrfach ministerielle Zurechtweisungen. In Münster gab es bis in die 1880er Jahre starke Vorbehalte gegen die preußische Herrschaft und Anhänglichkeit an großdeutsch-katholische Traditionen. In der bisherigen Freien Stadt Frankfurt a. M., deren Bürgermeister Carl Fellner sich 1866 aus Verzweiflung über Okkupation und geforderte 25 Millionen-Kontribution erhängte, empfand man den Verlust der Selbständigkeit, die Überrundung als Bankenplatz durch Berlin und das militärische Gepränge schwer, bevor ein starker Wirtschaftsaufschwung Preußen gutgeschrieben wurde. Dennoch fühlten sich die Main-Städter keineswegs als Preußen; noch um 1910 sollen Einladungskarten zu privater Geselligkeit mit dem Vermerk „o. P.“ versehen gewesen sein – ohne Preußen. Mit Erinnerungspolitik und Denkmalbauten, z. B. den Kölner Statuen der ­Hohenzollern, dem Niederwaldmonument oder dem Deutschen Eck in Koblenz, setzte sich Preußen als Vorkämpfer deutscher Einigung ins Bild und nutzte den steigenden Nationalismus für seine Legitimierung. Die Umdeutung symbolisierte schon 1815 ein Denkmal aus der französischen Zeit bei Aachen, das demontiert und neu aufgestellt wurde mit der Inschrift: „Denkmal. Gallischem Uebermuthe einst geweiht, mit dem Tyrannen zugleich gestürzt am 2. April 1814. Wiedererrichtet der Wissenschaft und deutscher Kraft am Tage der feierlichen Huldigung der preussischen Rheinländer am 15. Mai 1815. Über die Generationen hinweg beförderten nicht zuletzt die Sozialisationsagenturen Schule, Militär und evangelische Kirche die Akzeptanz Preußens; hier dominierte borussisch gestimmte Geschichtsinterpretation.82

82 Wolfgang Neugebauer, Altstädtische Ordnung–Städteordnung–Landesopposition, in: B. Jähnig (Hg.), Elbing 1237–1987, Münster 1991, S. 243–277. Andreas Heinemann, Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen zur Reichsgründungszeit, Duisburg 2013, S.  431–440. Bernd Heidenreich/Evelyn Brockhoff (Hg.), 1866. Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich, Berlin 2018, S. 11 (Frankfurt o. P.). Rüdiger Haude, „Kaiseridee“ oder „Schicksalsgemeinschaft“. Geschichtspolitik beim

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Dies kam um 1900 in zahlreichen regionalen Festschriften anläßlich der hundertjährigen Zugehörigkeit zu Preußen zum Ausdruck. Die Verfasser, meist Lehrer oder Aktivisten in Geschichtsvereinen, lobten nun Preußen hymnisch, frühere Konflikte wurden als überwunden abgetan. Binnen drei Generationen hatte sich das stadtoffizielle und bürgerliche Meinungsbild stark zugunsten Preußens gewandelt. Der Erfurter Stadtarchivar schrieb in einer Festschrift 1902, daß Erfurt inmitten thüringischer Kleinstaaterei den Segen der Zugehörigkeit zum großen Preußen erfahren und nur so den Rang als Haupstadt Thüringens erlangt habe. Im Westen, z. B. im Siegerland, verwies man aber auch auf die eigenen Leistungen für Preußen und betonte Siegerländer zu sein. Aus kölnisch-katholischer Sicht formulierte Julius Bachem: „Die Rheinlande haben von Preußen viel, sehr viel empfangen, aber sie haben Preußen auch viel gegeben.“ Anfängliche Reibungen wolle man nicht verschweigen, aber mancherlei Reformen seien „eine – wenn auch späte – Sühne für die Fehler der preußischen Regierung in den ersten Jahrzehnten.“ Umgekehrt wurden manche Regionalismen erst nach 1900 neu konstruiert, z. B. in Westfalen, und es konnte eine verblaßte regionale Tradition wiederbelebt und antipreußisch gewendet werden. 1899 separierte sich ein Rügisch-vorpommerscher vom gesamtpommerschen Geschichtsverein in Stettin. Man erforschte stärker die schwedische Zeit Vorpommerns 1648–1815 und wertete sie positiv; Friedrich II. und Preußens Neutralität bis 1806 hingegen wurden als Hindernis für das deutsche Nationalbewußtsein kritisiert – klarer Gegensatz zur dominanten borussischen Historiographie. Linksliberale Universitätsdozenten und Stadtbürger aus Greifswald und Stralsund, nicht die sonst dominanten Beamten, Lehrer und Pfarrer, verbanden so eigene politische Haltung, Heimatstolz und Nationalstaat.83 Insgesamt wird man dem hymnischen Urteil Oswald Hausers, daß „die Integra­tion so sehr gelungen ist, daß dieser Staat ein einmaliges, unverwechselbares Phänomen im Bewußtsein der ganzen Welt geblieben ist“ nicht zustimmen können. Zugunsten Preußens wirkten sich meist zwei Grundtatsachen aus: Erstens gab es realpolitisch keine Alternativen zu Preußen, es war starke Staatsmacht, offener Widerstand zwecklos. Zweitens bewirkte der Nationalstaat ab 1871, daß Preußen nachrangig wurde: Man konnte primär Rheinländer, Hannoveraner oder Frankfurter und national Deutscher sein, Preußen wurde quasi übersprungen. Heimatort, Region Projekt „Aachener Krönungsausstellung 1915“ und bei der „Jahrtausendausstellung Aachen 1925“, Neustadt/Aisch 2000, S. 35. 83 Hahn, Spinne, S. 62, 69 f., S. 75. Julius Bachem (Hg.), Zur Jahrhundertfeier der Vereinigung der Rheinlande mit Preußen, Köln 1915, S. 7, 63 (Zitat). Thomas Küster, „Regionale Identität“ als Forschungsproblem. Konzepte und Methoden im Kontext der modernen Regionalgeschichte, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 1–44. Kyra Inachin, Nationalstaat und regionale Selbstbehauptung. Die preußische Provinz Pommern 1815–1945, Bremen 2005, S. 217–230.

100  III. Preußens Regionen und deutsches Reich machten den Staat Preußen nach 1871 tendenziell entbehrlich. Man wird deshalb sagen können, daß die Integration der neuen Provinzen von 1815/1866 erst wirklich gelang, als sich durch deutschen Nationalstaat und die inneren Reformen der 1870er Jahre eine dezidierte preußische Identifikation erübrigte. Gleichzeitig verstärkte sich jedoch ein spezifisch preußischer Standpunkt bei den adeligen, bürokratischen und militärischen Eliten Preußens, zumal seiner alten Provinzen – in Absetzung vom zu liberal-modernen Reich. Die altpreußischen Eliten wurden nach 1870 gar borussische Partikularisten und verteidigten ihre Idee von Preußen als Verknüpfung von Monarchie und Militär, Land, Bürokratie und Landeskirche verbissen. Dem schlossen sich viele beamtete Professoren, Gymnasiallehrer und sonstige Bildungsbürger an, während große Bevölkerungsteile dieses spezifische Preußen ablehnten. Ewald Frie schlußfolgerte deshalb, daß (Alt-) Preußen im Grunde erst nach 1871 eine spezifisch preußische Identität gekennzeichnet habe, als seine Westprovinzen sich als reichsdeutsch verstanden. Die spezifisch preußische Ausrichtung bei den Eliten und die mangelnde preußische Identität weithin erleichterten den Preußenschlag 1932 und das Staatsende 1947.84 Zur politischen Wirkungsmacht, zur Forderung nach Autonomie oder gar Separation von Preußen, gelangte das existente Regionalbewußtsein erst unter bestimmten Voraussetzungen. Vier Motivbündel von Preußen-Aversion lassen sich ausmachen; verknüpften sich mehrere, ergab das besonders massive Gegnerschaft. Ständische Opposition bezog sich auf eher kleine Sozialgruppen, z. B. den Altadel des Münsterlandes oder Bürgergruppen ehem. Reichsstädte. Historische Legitimität bewog die ihrem abgesetzten Königshaus treuen hannoverschen Welfen und die ein eigenes Land unter dem Haus Augustenburg unterstützenden Schleswig-Holsteiner. Konfessionelle Gründe fanden sich bei den Katholiken im Westen. Diese drei Motivbündel lagen regionalistischen Autonomieforderungen zugrunde. Als stärkste Motivierung erwies sich die fremdnationale, da hier autonome Geschichte, eigene Sprache, Konfession und (kulturelle) Unterdrückungserfahrung zusammenfielen – bei den Polen oder slawophonen Oberschlesiern im Osten, prodänischen Schleswigern im Norden und den Frankophonen im mittelbar preußischen Reichsland Elsaß-Lothringen. Sozialdemokraten zielten auf Demokratisierung des Obrigkeitsstaats, kaum auf regionale Autonomie ab, denn ihr Staatsideal war demokratisch-zentralistisch. Friedrich Engels hatte allerdings schon 1891 notiert, Preußen müsse in selbstverwaltete Provinzen aufgelöst werden, damit Ostelbien nicht länger Deutschland dominieren könne. 84 Oswald Hauser in: Baumgart (Hg.), Expansion und Integration, S. 485. Alternativlosigkeit als Grund benannte man in der Rheinprovinz bereits 1815, vgl. Koltes, Rheinland, S. 447. Argument nach Helmut Berding, Identität, Integration und Regionalismus, in: Ders., Aufklären durch Geschichte, Göttingen 1990, S. 284–309, S. 298 f. Ewald Frie, Preußische Identitäten im Wandel (1760–1870), in: HZ 272 (2001), S. 353–375; Ewald Frie, Tagungsbericht Preußen und der Westen, in: www.hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=1418.

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Historische Umbruch- und Krisenzeiten, zuerst die Revolution 1848/49, dann die Jahre 1919–23, gaben die wichtigsten Gelegenheiten zum Ruf nach Autonomie und Unabhängigkeit von Berlin. 1918/19 gab es vielerlei Stimmen, die nach dem Ende von Hohenzollern-Monarchie und Bismarck-Reich die Aufspaltung Preußens in selbständige Territorien befürworteten. Der linksliberale Staatsrechtler Hugo Preuss konzipierte 1919 die Republik als dezentralisierten Einheitsstaat mit den preußischen Provinzen als Ländern. Der Historiker Friedrich Meinecke schloß sich dem an, revidierte freilich 1921 sein Urteil und schrieb, daß, „wenn Preußen jetzt zerfiele, statt eines großen acht bis neun kleine neue Partikularismen geschaffen“ würden. Die sozialdemokratische Regierung Preußens hielt an der Staatseinheit fest, aber es gab regional unterschiedliche Tendenzen. So lehnte man es 1919 im preußischen Regierungsbezirk Erfurt ab, sich dem neuen Land Thüringen anzuschließen, und propagierte umgekehrt das Aufgehen der Thüringer Kleinstaaten in einer preußischen Provinz. In Kurhessen hatte die kleine Hessischen Rechtspartei angesichts des diskreditierten Kurfürsten nach 1866 nie große Popularität erreicht und Zentrumskatholiken, Sozialdemokraten und Nationalliberale gehörten zu reichsweiten Parteien. Auch das Bestreben des 1918 in Kassel gegründeten Hessischen Volksbundes, Kurhessen mit Hessen-Darmstadt und Nassau zu Groß-Hessen zu vereinen, scheiterte an politischen und konfessionellen Differenzen; Groß-Hessen entstand erst 1946.85 In Schleswig-Holstein war die preußische Annexion 1866 zwar von national-liberalen Bevölkerungsteilen begrüßt worden; andere, demokratisch und regionalistisch gesinnte Teile zogen jedoch einen eigenen Bundesstaat unter Herzog Friedrich von Augustenburg als Landesmonarch vor. Militärpflicht, preußisches Steuersystem und schneidige Beamte versetzten vielen Einwohnern einen „Kulturschock“. Trotzdem nahm die auf Selbständigkeit pochende Deutsch-Schleswig-Holsteinische Partei schon in den 1870er Jahren ab und die grundsätzliche Akzeptanz des Reichs zu. Vorbehalte gegen Preußen blieben; bei Wahlen kam dies dem Linksliberalismus zugute, der die Interessen von Bürger- und Bauernschaft in Berlin vertrat und grundsätzlich gute Nachbarschaft mit Dänemark wünschte. Die Aufhebung der Friedensvertragsklausel von 1866, wonach in Nordschleswig eine Volksabstimmung über eventuellen Anschluß an Dänemark entscheide, durch Bismarck 1879 85 Möller, Preußen von 1918 bis 1947, S. 190–197. Friedrich Meinecke, Das preußischdeutsche Problem im Jahre 1921, in: Ders., Werke, Bd. 5, Darmstadt 1963, S. 455–465, S. 458. Steffen Raßloff, Landesbewusstsein und Geschichtsbild im preußischen Thüringen, in: M. Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln 2005, S. 45–64. Friedrich Kahlenberg, Großhessenpläne und Separatismus, in: Festschrift L. Petry, Bd. 2, Wiesbaden 1969, S. 355–395. Ingmar Arne Burmeister, Annexion, politische Integration und regionale Nationsbildung. Preußens „neuerworbene“ Provinzen: Kurhessen in der Reichsgründungszeit 1866–1881, Darmstadt/Marburg 2012, S. 565 ff.

102  III. Preußens Regionen markierte den Beginn der nationalistischen Politik. Die Durchsetzung der deutschen Sprache in Schule und Verwaltung bis 1888 förderte die Selbstorganisation in dänischen Vereinen; die Politik des Oberpräsidenten Köller ab 1898 mit Massenausweisung von Einwohnern, die (auch) die dänische Staatsbürgerschaft besaßen, und Verfolgung prodänischer Aktivitäten verschärfte sie. 1914 wurden dänisch gesinnte Nordschleswiger verhaftet oder zum Militärdienst gezogen, was verbitterte. Konsequent stimmten bei der gemäß Friedensvertrag 1920 durchgeführten Abstimmung in den vier nördlichen Kreisen Schleswigs 75 % für Dänemark. Auch im verbliebenen Schleswig gab es eine regionalistische Strömung. Der 1923 gegründete Friesisch-schleswigsche Verein propagierte Eigenständigkeit in Sprache und Kultur und war antipreußisch, denn in seiner Sicht verkörperten Friesen „reines Germanentum“, anders als slawische Preußen oder Juden. Dieses Eindringen völkischen Denkens in Autonomie-Bewegungen markierte die hochproblematische Seite des Regionalismus der 1920er Jahre.86 Die Selbstbestimmung Hannovers forderte nach 1866 die Deutsch-Hannoversche Partei, jahrzehntelang anhänglich an das entthronte Königshaus der Welfen, und, wiewohl überwiegend evangelisch, im Kaiserreich parlamentarisch mit der Zentrumspartei verbunden. Sie vereinte Adel, Geistliche, Bauern und Handwerker, gewann dauerhaft einige Reichstagsmandate, lehnte Preußens Herrschaft ab und verlangte neben der Förderung des bürgerlich-bäuerlichen Mittelstands die gleichberechtigt-föderale Gestaltung des Reichs mit Selbständigkeit für Hannover. Diese Welfen-Partei wurde seit Bismarck als partikularistisch und reichsfeindlich staatlich diskriminiert, ja strafrechtlich verfolgt, zumal sie 1878 das Sozialistengesetz, später Militäraufrüstung, Flotte und Kolonien ablehnten. Ihre Anhänger artikulierten sich nicht zuletzt in Kirche und Wohltätigkeitsbereich, an Feiertagen und in der Schule, indem sie symbolhaft an das Welfenhaus erinnerten oder preußische Festtage nicht begingen. Über die Jahrzehnte freilich schwächten Eingewöhnung und Generationswechsel, die wirtschaftliche Entwicklung und ein gewisses Eingehen Preußens auf hannoversche Befindlichkeiten im Militär-, Kirchen- oder Schulbereich die Bewegung. Die Traditionen der welfisch-hannoverschen Geschichte wurden allmählich nicht mehr im Sinne einer Rivalität, sondern als symbiotisches Neben- oder gar Miteinander von Niedersachsen und Preußen interpretiert, so daß die legitimistische welfische Bewegung Geltung verlor. Aber noch Ende 1918 erhielten die Welfen 600.000 Unterschriften für ihre „Freiheitsliste“ und als 1924 die von der Deutsch-Hannoverschen Partei initiierte Volksabstimmung für ein Land Hannover-Niedersachsen stattfand, erzielte sie mit 0,45 von 1,8 Mio. Stimmen nicht das gemäß Art. 18 Weimarer Verfassung nö86 Hans Schultz Hansen, Demokratie oder Nationalismus, in: U. Lange (Hg.), Geschichte Schleswig-Holsteins, Neumünster 1996, S. 427–485. Martin Schlemmer, „Los von Berlin“. Die Rheinstaatsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Köln 2007, S. 624–641, zu den Friesen S. 635.

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tige Drittel Ja-Stimmen für diese Neubildung. Der Fehlschlag resultierte aus der Ablehnung durch Sozialdemokratie und Liberalismus, Rechtsparteien und Wirtschaft, die aus unterschiedlichen Gründen den Großstaat Preußen bevorzugten. Im Rahmen der Reichsreform zur Neugliederung des Reichsgebiets forderte die Deutsch-Hannoversche Partei noch um 1930 ein Land Niedersachsen; die Partei stand bis 1933 gegen den Nationalsozialismus. Die parallele niedersächsische Heimatbewegung aber gebrauchte gutenteils antimodern-antiurbane und selbst krude völkische Ideen. Das Land Niedersachsen konnte erst 1946 entstehen.87 In der preußischen Rheinprovinz und Nassau, aber auch dem linksrheinischen Rheinhessen und der bayerischen Pfalz, entwickelte sich 1919 die zweite große Regionalismus-Bewegung, die mehr Autonomie und zeitweise eine selbständige Rheinische Republik im Reich erstrebte. In einer Broschüre des mittelrheinischnassauischen Bauernvereins stand 1919 zu lesen: „Wir wollen nicht mehr von Berlin regiert, das heißt majorisiert, drangsaliert, ausgebeutet werden, wir wollen frei werden und frei sein von allem, was aus Berlin und östlich Berlin herkommt. Wir sind rheinisch nach unserer Art und wir wollen es auch staatspolitisch werden als freie Bürger einer rheinischen Republik. Rheinisch und deutsch, deutsch bis auf die Knochen und ins Mark, deutscher als die berlinischen Russen, Polen, Galizier, Wenden, Tschechen und, weiß Gott, was für sonstige Angehörige östlicher Volksstämme“. „Los von Preußen“ lauteten 1918/19 vielfache Zeitungsschlagzeilen und Autonomieforderungen wurden speziell von rheinischer Zentrumspartei, einfachem Klerus sowie einem Gutteil der katholischen Bevölkerung artikuliert, während Rechtsparteien und Sozialdemokratie, Wirtschaft, evangelische Kirche und Kölner Erzbischof die Staats- und Reichseinheit bedroht sahen. Die französische Besatzung stellte quasi den Schutzraum dar, in dem alte antipreußische Einstellungen, regionale Wünsche und aktuelle Ablehnung der Regierung in Berlin aktiviert werden konnten. Bei einer Parteien-Konferenz Anfang 1919 erklärte der Kölner Oberbürgermeister Adenauer die Teilung Preußens für unbedingt nötig, da dessen System gescheitert sei. Die „Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geist des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen“ sei beendet, wenn „die nach ihrer ganzen Gesinnungsart an sich den Ententevölkern sympathischeren Stämme“ des Westens eine autonome Westdeutsche Republik, freilich 87 Ernst Schubert, Verdeckte Opposition in der Provinz Hannover. Der Kampf der „Welfen“ um die regionale Identität während des Kaiserreichs, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), S. 211–272; Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866–1918, Düsseldorf 1987. Schlemmer, „Los von Berlin“, S. 641 ff. Jasper Heinzen, Hannover als preußische Provinz im Kaiserreich – ein Kampf gegenläufiger Traditionen in Niedersachsen?, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 86 (2014), S. 49–70. Stenogr. Berichte der Verhandlungen des Reichstags 11.6.1929, S.  2278  ff. Andrea-Katharina Hanke, Die niedersächsische Heimatbewegung im ideologisch-politischen Kräftespiel zwischen 1920 und 1945, Hannover 2004.

104  III. Preußens Regionen im Rahmen des Reiches, bildeten. Dadurch würden diese Gebiete Deutschland erhalten, aber auch französische Sicherheitsinteressen gewahrt. Vorbedingung seien legaler Weg und Einheit aller Parteien. Dazu ist es nie gekommen, denn schon die westfälischen Zentrumspolitiker um Carl Herold lehnten rheinischwestfälische Eigenstaatlichkeit ab und versuchten das neue Preußen ab 1919 in ihrem Sinne auszugestalten. Die von kleinen linken Gruppen 1919 und erneut 1923 ausgerufene Rheinische Republik blieb von der Bevölkerung massiv abgelehnte Episode. Den Vorwurf des Separatismus benutzte die politische Rechte ständig gegen regionale Autonomie-Bestrebungen und noch nach 1945 gleichermaßen SPD und Ost-Berlin, um Kanzler Adenauer zu diskreditieren. Bis 1933 bestand in Westdeutschland aber der kleine Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken, der für die Zerlegung Preußens in föderale Länder im Rahmen des möglichst um Österreich ergänzten Reichs, Völkerverständigung mit Frankreich und sozialkatholische Innenpolitik eintrat. Dessen Vorsitzender, der Kölner Professor Benedikt Schmittmann, der Kontakte in das an Belgien abgetretene Gebiet Eupen-Malmedy hielt, wurde als Agent Belgiens geschmäht, 1933 von Nationalsozialisten verhaftet und 1939 im KZ Sachsenhausen ermordet. Ob die rheinische Autonomie-Bewegung 1918/19 eine Bevölkerungsmehrheit erfaßte oder nicht, ein regionales Eigenbewußtsein als Mischung aus katholischer Prägung, antipreußischer Mentalität und Gefühlen kultureller Überlegenheit bestand im Rheinland über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Mindestens so deutlich fiel die Abneigung gegen Preußen in Süddeutschland nach dem verlorenen Weltkrieg aus. Einem Bericht des preußischen Geschäftsträgers in Karlsruhe, Hugo von Schmidthals, an Legationsrat Friedrich v. Prittwitz und Gaffron in Berlin von Mitte 1919 zufolge, hatte Schmidthals den starken Eindruck, „daß Preußen, d. h. überhaupt die norddeutsche Hegemonie, hier in allen Kreisen in einem Maße verhaßt ist, das ich mir nie hätte träumen lassen. In mehr oder weniger verhüllter Form tritt immer wieder die Auffassung zu Tage, daß wir nun einmal an der Entwicklung der Dinge die Schuldigen seien. Unter unserer Führung sei Deutschland und damit auch Baden ins Verderben gestürzt worden, und es sei höchste Zeit, daß nun die norddeutsche Hegemonie durch eine süddeutsche Hegemonie abgelöst werde. Eine süddeutsche Hegemonie, das wird dabei frei zugegeben, würde Deutschland nie zu den Höhen führen können, wie eine norddeutsche, sie würde das Reich aber auch nie in die Tiefen geführt haben, zu denen die norddeutsche es führte. Und man ist müde und will seine Ruhe haben, hustet auf Weltgeltung.“88 Beliebt war Preußen nicht. 88 Schlemmer, „Los von Berlin“, S.  485 (Zit.) und S.  584  f. (Westfalen). Karl Dietrich Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem 1. Weltkrieg, Stuttgart 1966, S.  220  f. Zu Schmittmann vgl. Schlemmer, „Los von Berlin“, S.  181–189. Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, Serie A, Bd.  2: 1919, bearb. von Peter Grupp, Göttingen 1984, S. 135 (Zitat Schmidthals 22.6.1919).

3. Zweierlei Osten: Ostpreußen und Oberschlesien 

3.

105

Zweierlei Osten: Ostpreußen und Oberschlesien

Eine ganz andere Motivation lag beim in Ostpreußen ventilierten Oststaatsplan 1919 vor; es ging darum, absehbare Gebietsabtretungen gemäß Versailler Friedensvertrag durch Ausrufung eines neuen Staats abzuwehren und militärischen Widerstand gegen Polen und vielleicht die Westmächte aufzubauen. Nicht regionalistische Bevölkerungsteile erstrebten Autonomie, sondern einigen monarchistischen Provinzgrößen passte die „Erfüllungspolitik“ der Berliner sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung nicht; sie gaben auf, als die preußische Heeresführung den Oststaatsplan für militärisch aussichtslos erklärte. Im seit 1919 durch polnisches Gebiet vom Reich getrennten Ostpreußen gewannen nationalistisch-völkische Strömungen starken Anhang. Deutschnationale nutzten den Mythos des „Siegers von Tannenberg“ 1914 Hindenburg sowie den Abstimmungsstreit 1920 und stilisierten die bis um 1880 liberal geprägte Provinz zur bedrohten „Bastion des Deutschtums“ gegen Polen. Im katholischen Ermland allerdings entzogen sich kirchentreue Einwohner dem nationalistischen Hauptstrom gutenteils.89 Neben Hannover und dem Rheinland wirkte in Oberschlesien eine dritte kulturell verankerte Autonomiebewegung. Mit industrieller Entwicklung und Germanisierungspolitik seit den 1890er Jahren geriet eine gutenteils zweisprachige Arbeiter- und Landbevölkerung (sog. Schlonsaken) von zwei Millionen in den Fokus des deutschen wie des polnischen Nationalismus. 1918 beanspruchte der neue polnische Staat das rohstoffreiche Gebiet, da ca. 60 % im Alltag polnischen Dialekt sprachen. Im Umfeld der von den Alliierten angeordneten Volksabstimmung über die Zugehörigkeit entbrannte ein von Berlin und Warschau angeheizter Nationalitätenstreit; bei Kämpfen von Freikorps starben 4000 Menschen. Die Oberschlesier gerieten in die Zwangslage der Entscheidung zwischen zwei Nationalismen und stimmten auch aus wirtschaftlichen Gründen 1921 mit 60 % zu 40 % für Deutschland. Da die industriereichen Grenzkreise mehrheitlich für Polen votiert hatten, sprach der Völkerbund sie Polen zu. Im bei Preußen verbliebenen Großteil verlangten die katholischen Oberschlesier Autonomie – gegen Berliner Bevormundung, eingesetzte protestantische Beamte und von Nationalisten verordnete Germanisierung, für ein nach den Grundsätzen katholischer Soziallehre ausgerichtetes Sozialsystem, Gebrauch des polnischen Dialekts in der Grundschule, Mitsprache bei Infrastruktur-Entscheidungen und Wahrung der 89 Zum Oststaatsplan Schlemmer, „Los von Berlin“, S. 699–706. Zum Nationalismus in Ostpreußen vgl. Robert Traba, Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933, Osnabrück 2010; Ders., Der politische Katholizismus im Ermland. Eine Studie zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte 1871–1914, Münster 2016, S.  355; Andreas Kossert, Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft, München 2014, S. 63–72.

106  III. Preußens Regionen katholischen Gewohnheiten. Die regional dominierende Zentrumspartei (Katholische Volkspartei) unter Pfarrer Carl Ulitzka oder Oberpräsident Hans Lukaschek, beide 1945 Mitbegründer der CDU in Berlin, machte sich diese Linie weithin zu eigen. Trennung von Preußen und ein autonomer Bundesstaat ließ sich wegen Widerstands auch der demokratischen Berliner Regierung und Befürchtungen der anderen Parteien vor alleiniger Herrschaft des Zentrums nicht umsetzen. Das Argument, Oberschlesien müsse mehr Selbstverwaltung erhalten, damit die zweisprachigen Bevölkerungsteile trotz polnischen Werbens gegen den Staat Polen votierten, überzeugte die Reichsregierung, und Berlin gestand daraufhin die Bildung einer eigenen Provinz 1922 zu. In einer Volksabstimmung wurde dies mit 90 % gegen 10 % für eine volle staatliche Autonomie gebilligt. Die Konstellation der frühen Nachkriegszeit hat den Oberschlesiern die Durchsetzung gewisser regionaler Autonomie erlaubt. Im Sinne des Genfer Minderheitenheitenschutz-Abkommens von 1922 betrieben Zentrum und SPD eine versöhnliche Kulturpolitik, was die polnischen Stimmen bei Reichstagswahlen im Oppelner Gebiet von 25 % (1924) auf 5 % (1932) stetig sinken ließ. Propolnische Zeitungen beklagten deshalb die nationale Indifferenz. Die von Ulitzka vertretene Magnettheorie, derzufolge Oberschlesien bei Minderheitenrechten, Wirtschaftsentwicklung und Sozialpolitik so attraktiv sein müsse, daß im polnischen Ostoberschlesien die Abkehr von Polen gefördert werde, wurde durch die Not der Weltwirtschaftskrise und später die rabiate NS-Herrschaft hinfällig. Konrad Adenauers Magnettheorie für die Bundesrepublik gegenüber der DDR scheint hier ihren Ursprung zu haben. Die neuere Forschung hat klar herausgearbeitet, daß in Oberschlesien eine vor- und übernationale multiple Identität bestand. Nicht die deutsche oder die polnische Nation rangierten obenan in der Werteskala, sondern sozialkatholische Weltanschauung, Zweisprachigkeit und regionales Bewußtsein. Preußische Politik und polnische Reaktion darauf trugen Nationalitätenstreit und Zwang zur Eindeutigkeit in das Milieu der Multi-Identität hinein. Dieses Kulturmodell der „Mehrsprachigkeit und der kulturellen Hybridität“ (Kai Struve) als Alternative zur mit Druck und Gewalt erzwungenen mono-nationalen Homogenisierung – übrigens auch in Gebieten der Habsburgermonarchie erkennbar – kann für Europa in postnationaler Perspektive eine historische Orientierungsfunktion besitzen.90 Die bis heute anwendbare Lehre für die Probleme von Minderheiten 90 James E. Bjork, Neither German nor Pole. Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor 2008. Historischer Problemaufriß: Manfred Alexander, Oberschlesien im 20. Jahrhundert – eine mißverstandene Region, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 465–489. Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873– 1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 1287–1305. Juliane Haubold-Stolle, Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919–1956, Osnabrück 2008. Anregender Forschungsüberblick: Kai Struve, Nationalismus- und Minderheitenforschung, in: J. Bahlcke (Hg.),

3. Zweierlei Osten: Ostpreußen und Oberschlesien 

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und Regionalismus scheint zu sein, daß die Gewährung von mindestens kultureller Autonomie und diskriminierungsfreier politischer Partizipation befriedende Wirkungen hat, und längerfristig in Verbindung mit merklicher Wohlstandsmehrung den Bestand eines staatlichen Integrationsrahmens wesentlich wahrscheinlicher macht. Wäre das Autonomieabkommen für Catalunya von 2006 in Kraft getreten, hätte sich Spanien die Konfrontation 2017 wohl erspart. Geschichte und Traditionen, Konfession und Sprache speisten in den Regionen Preußens ein Eigenbewußtsein, das direkt nach Einverleibung stark war, dann aber mangels realistischer Alternativen und parallel zum Wirtschaftsaufschwung, zur allmählichen Gewöhnung sowie zur Wirkung der Sozialisationsinstanzen Schule, Militär, Kirche abnahm. Gewisse Integration konnte durch die in Reformperioden ausgebaute Selbstverwaltung von Städten und Provinzen erreicht werden. Da auch die 1815 geformten preußischen Provinzen nicht homogene Regionen, sondern von konfessionellen, sozialstrukturellen und historischen Bruchlinien durchzogen waren, traten auch die antipreußischen Haltungen unter den diversen Minoritäten je separat motiviert und partikular auf, so daß ihre Durchsetzungskraft schwach blieb. Im Nationalstaat ab 1871 wurde einerseits Preußen als Identifikationspunkt zugunsten des Reichs entbehrlich, andererseits aber der deutsche Nationalismus gesteigert, der Regionalismus als Landesverrat schmähte und antipolnisch war. Die ethnisch-sprachlichen Minderheiten-Volksgruppen der Polen, Dänen und Elsaß-Lothringer wurden bedrängt, aber bildeten sich unter Germanisierungsdruck erst voll aus und erreichten ihre Selbstbestimmung durch die Siegermächte des Weltkriegs. Auch die übrigen Regionalisten traten in den Krisenjahren 1918/23 hervor, weil Preußen bis dahin eben nicht fühlbar ein „halbföderales Staatswesen“ (Ch. Clark) war und nun reale Alternativen denkbar wurden. Autonomie-Befürworter erstrebten meist die Aufteilung Preußens in eine Föderation gleichberechtigter deutscher Territorien bei Wahrung kultureller Eigenart. Aber selbst im demokratischen Preußen fehlte solchen Forderungen die nötige Nachdrücklichkeit: Der Appell an Einigkeit angesichts der Kriegsniederlage und ökonomische Gründe, eine vom Nationalstaat her denkende, relativ homogene Beamtenschaft und die Experimenten mit ungewissem Ausgang abgeneigten Parteien in Berlin standen dagegen. Eine parallele Heimatbewegung orientierte sich auf die Trias Heimat-Raum-Volkstum; diese völkische Komponente markierte die hochproblematische Seite des Regionalismus, dessen Ziel nicht durchgängig allseitige Inklusion bildete, sondern teils gerade Exklusion. Regionale Spannungen gab es auch in Bayern (protestantische Pfalz) oder Württemberg (katholisches Oberschwaben), aber Preußen war gebietlich größer, Historische Schlesienforschung, Köln 2005, S. 293–322, Zitat S. 318. Zu Österreich vgl. Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 8,1, hg. v. H. Rumpler/P. Urbanitsch, Wien 2006, S. 101 ff.

108  III. Preußens Regionen sozioökonomisch, konfessionell, mental disparater und historisch fundierte Territorien von beachtlicher Größe als Alternativ-Modelle reaktivierbar. Insoweit wurde Preußens von Monarchen errungene Großstaatlichkeit einereits durch Regionalismus, andererseits durch den deutschen Nationalstaat erodiert. Die bisherigen Studien zu den West- wie zu den Ostprovinzen zeigen in aller Regel, daß stärkere Identifikation mit Preußen bloß in den bis 1763 erworbenen Gebieten bestand. In Neupreußen wandelte sich die Zwangsheirat allmählich zur Vernunftehe, die aber auch in der demokratischen Periode ab 1919 nicht zur Identifikation voranschritt. Parallel nahm dort unter Zentrumskatholiken, Linksliberalen und anderen Gruppen die Bereitschaft zur Aufgabe von Preußens Staatlichkeit zu. Den konkreten Ablauf der Beseitigung Preußens freilich bestimmten 1932/34 die Deutschnationalen um Papen/Hindenburg und dann die Nazis. Deren Wege und Methoden bei der gewaltsamen Beseitigung von Demokratie und Republik entsprachen den Vorstellungen der meisten regionalistischen Gruppen nicht, aber setzten den längeren Erosionsprozeß des Konglomerats Preußen fort. Als die Berliner Zentrale 1946/47 kriegsbedingt ausfiel, erfolgte konsequenterweise die Gründung mehrerer Bundesländer – vergleichbar der Ausrufung selbständiger Staaten nach dem Ende des Imperiums Sowjetunion 1991. Keines der westdeutschen Bundesländer rekurrierte auf seinen früheren Status als preußische Provinz. Von Nordrhein-Westfalen über Kurhessen und Hannover bis nach Schleswig-Holstein griff man in der Geschichts- und Identitätspolitik auf die historischen Territorien der vorpreußischen Zeiten (wie Kurköln, Westfalen, die Welfen-Gebiete) zurück, und auch die Bundesländer bzw. Regionen der ehem. DDR von Sachsen-Anhalt bis zur Oberlausitz vermieden nach 1990 Bezüge auf Preußen. Die Debatte zur Umbenennung von Brandenburg-Berlin in Preußen blieb 2001/2002 auf die Feuilletonspalten einiger Zeitungen beschränkt. Der Großstaat Preußen ist aus dem in seinen Nachfolgeterritorien gepflegten Geschichtsbewußtsein weitgehend geschwunden – die Hauptgründe dafür sollten klar geworden sein.91

91 Begleitbände zu historischen Ausstellungen wie Stephan Sensen u. a. (Hg.), Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609–2009, Essen 2008 oder Eckhard Trox/Ralf Meindl (Hg.), Preußens Aufbruch in den Westen, Lüdenscheid 2009, versuchen mit ihren provokanten Titeln primär viele Museumsbesucher zu gewinnen, aber spiegeln nicht weitverbreitetes Neoborussentum wider. Zur Debatte 2001/2002 vgl. Gavriel D. Rosenfeld, A Mastered Past? Prussia in Postwar German Memory, in: German History 22 (2004), S. 505–535, 521–525 und online: www.faz.net/ aktuell/feuilleton/gesellschaft-wollen-wir-unser-preussen-wiederhaben-149738.html.

IV. Preußens Gesellschaft Bauern, Adel, Bürger – Arbeiterbewegung – Militär – ­Minderheiten

Preußens Gesellschaft war stets vielfältig, wandelte sich in Verbindung mit wirtschaftlichen wie politischen Entwicklungen über die Zeit, aber wurde in ihren adeligen, bürgerlichen und bäuerlichen Teilen erst in den letzten drei Jahrzehnten wirklich breit erforscht. Im späteren 18. Jahrhundert erlebte die ständische Gesellschaft Veränderungsdruck, moderat auf dem Lande bei Adel und Bauern, stärker in den Städten, wo neben das alte Stadtbürgertum aus Handwerkern und Kleinhändlern ein neues gebildetes oder großgewerblich tätiges Bürgertum trat; parallel gewannen Beamtenschaft wie Militär an Umfang. Im 19.  Jahrhundert mutierten Geburtsstände zu Erwerbsklassen, definiert durch die Position in der Marktwirtschaft und spezifische Lebenslagen, freilich mit ständischen Überresten und unter staatlicher Interferenz. Eine große (Industrie-) Arbeiterschaft entstand, krasse soziale Ungleichheit herrschte. Die Klassengesellschaft erodierte nur langsam durch Bildungsentwicklung und berufliche Ausdifferenzierung, Wohlstandszunahme und Intervention des demokratischen Staats. Die Idee der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ mit Rechtsgleichheit, sozialer Chancengerechtigkeit und politischer Teilhabe für alle blieb gleichwohl lange Utopie. Nachfolgend werden Strukturkennzeichen und historiographische Ergebnisse für die Sozialgruppen Bauern, Adel, Bürgertum, Arbeiter, Militär sowie Minderheiten behandelt und im Lichte der Forschung etwaige Spezifika der Gesellschaftsgeschichte Preußens benannt. Dabei wird sozio-kulturellen Minderheiten breiter Raum gegeben, denn ihre Behandlung in Staat und Gesellschaft ist ein Indikator für den zivilisatorischen Stand eines Gemeinwesens.

1.

Bauern und Grundherren

Ein erstes großes Forschungsfeld betrifft die Beziehungen zwischen Bauern und adeligen Gutsherren im 18./19.  Jahrhundert. Die ostelbische Gutsherrschaft ist oft als ökonomisch rückständig und von Junkerwillkür wie Untertanengesinnung geprägt beschrieben worden. Dies wird nun zuvörderst mit William Hagens quellennaher Langzeitstudie über Stavenow (Prignitz) in Frage gestellt. Er beschreibt dicht Familienstrukturen und Alltagsverhalten von Bauern, sieht agrarische Produktivitätsfortschritte bei den Gutsherren, aber kein steigendes Elend der Landbewohner, da die Gutsherren die knappe bäuerliche Arbeitskraft schonen muß-

110  IV. Preußens Gesellschaft ten. Als die Junkerfamilie von Kleist um 1720 versuchte, bäuerliche Frondienste von drei auf vier Wochentage zu erhöhen, verteidigten Bauern ihr „gutes Recht“ und wurden von staatlichen Obergerichten gutenteils bestätigt. Vielfacher Streit um bäuerliche Dienste wurde seit 1784 durch schriftliche Dienst- und AbgabenVerzeichnisse (sog. Urbare) entschärft, wobei staatliche Stellen vermittelten. Insgesamt treffe auch in Ostelbien die Formel „ländliche Konfliktgemeinschaft“ zu; bäuerliches Selbstbewußtsein und eine materielle Lage vergleichbar mit südwestdeutschen Bauern seien zu konstatieren. Rezensenten des Buches sehen dagegen zwei Spezifika Ostelbiens: Prügel blieb ein übliches Disziplinierungsmittel der Gutsherren und die Landbevölkerung in Pommern, Ostpreußen oder Brandenburg glaubte mehrheitlich an den gerechten König, verhielt sich großenteils monarchietreu. Dies trat noch in der Revolution 1848/49 zutage, als bei freien Wahlen zum Abgeordnetenhaus 75 % der Brandenburger, 72 % der Pommern sowie über 50 % der Ost- und Westpreußen für konservative Kandidaten stimmten. Heinrich Kaaks Lokalstudie untermauert die Kritikpunkte: Gerichte entschieden keineswegs nur für Bauern; renitente Anführer riskierten um 1730 umstandslose Vertreibung von ihren Höfen durch Gutsherren. Der Staat untersagte grobe Bauernmißhandlung, die steuerlich wie militärisch dysfunktional gewirkt hätte, aber stützte auch die Gutsherren-Rechte. Gegen Bauernrevolten, die es primär in Schlesien mehrfach 1765–1793, 1811 anläßlich schleppender Bauernbefreiung und zuletzt 1848 wegen verzögerter Ablösungen gab, setzte er kurzerhand Militär ein. Defensive Widerständigkeit der Bauern konnte Frondienste und Schollenzwang nicht beseitigen, jedoch förderten passive Resistenz und gemächliches Fronen den Übergang zur effektiveren Lohnarbeit. Gutsherren mußten zuweilen zurückstecken und gemeinschaftsstiftende Symbolik einsetzen. Sie profitierten davon, daß die Landbevölkerung in Brandenburg oder Pommern „vor allem geduldig und vorsichtig“ war (H. Kaak), Widerständigkeit die Ausnahme darstellte und überörtliche Initiativen oder Bewegungen mit einem politischen Programm fehlten. Mit dem Überleben beschäftigte Bauern dachten pragmatisch auf ihre Höfe bezogen und lokal, waren wenig engagiert in staatspolitischen Fragen. Ostelbiens Agrarverhältnisse blieben durch starke rechtliche und politische Herrschaftsrechte der (adligen) Großbesitzer gekennzeichnet; diese markierten den wichtigsten Unterschied zur rechtlich und politisch freieren süd(west)deutschen Grundherrschaft bis ins 20. Jahrhundert.92 92 William W. Hagen, Ordinary Prussians. Brandenburg Junkers and Villagers 1500– 1840, Cambridge 2002; Ders., Two ages of seigneurial economy in Brandenburg-Prussia: structural innovation in the 16th century, productivity gains in the 18th Century, in: www.zeitenblicke.de/2005/2/Hagen; auf Hagen basierend Clark, Preußen, S. 196 ff. Kritik an Hagen: J. Sperber in: English Historical Review 481 (2004), S.  458–461, W. Rummel in: Rheinische Vierteljahrsblätter 70 (2006), S.  288–295 und Friedrich, Brandenburg-Prussia, S.  57–63. Kritische Lokalstudie: Heinrich Kaak, Eigenwillige Bauern, ehrgeizige Amtmänner, distanzierte fürstliche Dorfherren, Berlin 2010, bes.

1. Bauern und Grundherren 

111

Vor wie nach 1807 gab es im ländlichen Ostelbien nicht nur adlige Rittergutsbesitzer und Gutseinsassen, sondern auch bürgerliche Gutsbesitzer oder Gutspächter und etwa 500.000 Groß- und Mittelbauernhöfe. Diese Gruppen in der lokalen (Selbst-)Verwaltung stärker zur Geltung zu bringen, war jahrzehntelang liberalbürgerliches Politikziel. Mit der Aufhebung von gutsherrlicher lokalen Gerichten (Patrimonalgerichten) 1849 wurde die junkerliche Macht auf dem Lande etwas begrenzt. Die 1872 reformierte Kreisordnung setzte stärkere Akzente. Denn in den neuen Vertretungsgremien erhielten neben den Großgrundbesitzern auch Landgemeinden bzw. Bauern rd. 40 % Anteil, Landstädte etwa 20 %. Dies hätte ihre Dominanz in den Gremien und politische Relevanz bedeuten können, aber in Preußen kam es – anders als in Schweden oder der Schweiz – nicht dazu. Mit Grund bilanziert Patrick Wagner: „Die Bauern bildeten um 1900 keine eigenständig handlungsfähige Kraft“. Denn zentrale Figuren stellten nun die Landräte dar, die Agrar- und Infrastruktur-Interessen ihrer Kreise im Staatsapparat vertraten, aber im Gegenzug die Loyalität der Landbevölkerung einforderten, speziell durch die Wahl regierungsfreundlicher Abgeordneter. Bürokratische Staatsmacht vor Ort trat an die Stelle gutsherrlicher ständischer Macht, aber ein realer Freiheitsgewinn war das für die ländlichen Bewohner Ostelbiens meist nicht. Wagner zitiert zu Recht Hugo Preuß‘ Einschätzung von 1910, im Osten herrsche seit Jahrzehnten ein „Kondominium von Staatsbürokratie und erstem Kreisstand.“93 So wichtig der Ansatz ist, die bäuerliche Bevölkerung von stummen Objekten zu Akteuren aufzuwerten: Solange adelige Gutsbesitzer Geldmacht, vielerlei Posten und faktisch Herrschaftsrechte besaßen, die Gesindeordnung Landarbeiter einengte, Dreiklassenwahlrecht und Staatsmacht bäuerliche Artikulation, Liberalismus und SPD begrenzten, lassen sich der ländliche Osten nicht als moderne Bürgergesellschaft und auf Herrschaft bzw. Privilegien pochende Junker nicht als

S. 364–380, Zitat S. 342. Zu Meliorationen vgl. Heinrich Kaak, Impulse aus Holland und England. Preußische Junker im 18.  Jahrhundert zwischen Innovation und Reform, online: www.perspectivia.net/content/publikationen/Friedrich300-colloquien/ friedrich-kulturtransfer/kaak_impulse. Zu Bauernrevolten Dipper, Bauernbefreiung, S. 154–172 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 167 f., 357 f., 414 (bis 1811); Bd. 2, S. 713–715 (1848). Dirk Mellies, Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 282 (Wahlergebnisse 1849). 93 René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz, Berlin 2003, S. 254 ff. (Bürgerliche Gutsbesitzer). Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen, Göttingen 2001, S. 353 ff. Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 581 (Zitat) und 591 f. (1918 ff.); Ders., Junkerherrschaft – Anstaltsstaat – Fundamentalpolitisierung. Politik im ländlichen Ostelbien des 19. Jahrhunderts, in: W. Neugebauer (Hg.), OppenheimVorlesungen zur Geschichte Preußens, Berlin 2014, S.  241–264, S.  260 (Zitat Hugo Preuß).

112  IV. Preußens Gesellschaft „geplagte Arbeitgeber“ gegenüber einer „selbstbewusste(n) und einfallsreiche(n) Bauernschaft“ (Ch. Clark) beschreiben. Wirkungsmächtige Emanzipation gegen die Vormacht der Großgrundbesitzer gab es erst seit 1918, als die gerade genannten, einengenden Rahmenbedingungen entfielen. Nun mußten die Großgrundbesitzer den Bauern entgegenkommen, um ihren Massenanhang im Rahmen von Pressure Groups wie den provinzialen Landbünden zu behalten. Aber die Prägung durch den monarchischen Staat und die späte Emanzipation von der Anleitung durch Bürokratie oder Großgrundbesitz wirkten mental fort. Im Kontext von weltmarktbedingten Agrarkrisen und Verschuldungsproblemen nach dem Ende der für Bauern profitablen Inflationszeit wuchsen sozialökonomische Verunsicherung und politische Unzufriedenheit im Landvolk. Die Schuld gab man dort der Republik, der Linken, den Städten. Im Rahmen des (deutschnationalen) Reichslandbundes und von (katholischen) Bauernvereinen forderten Bauern die Wiederherstellung des kaiserzeitlichen Agrarprotektionismus. Seit 1928 schwenkten Bauern in rechtspopulistische Interessenorganisationen bzw. Parteien ab und unterstützten speziell in protestantisch geprägten Gebieten seit 1930 mehrheitlich das Agrarprogramm und die Land-Ideologie der NSDAP, von deren Autarkiepolitik Bauern nach 1933 erheblich profitierten.94

2.

Städtisches Bürgertum im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Stadtbürgertum bildete seit dem Spätmittelalter einen wesentlichen Gegenspieler von Landesfürsten und Adel. Da es in Altpreußen zwar durchaus (Klein-)Städte gab, aber nur wenige große (Berlin, Breslau, Königsberg, Stettin, Danzig, Magdeburg) und landesherrliche Kommissare die Städte mitverwalteten, ist lange Zeit auf ein schwaches Bürgertum geschlossen worden. Allerdings erkannte Klaus Schwieger bereits 1971, daß in Städten eine aktive Kaufmannschaft existierte und selbstbewußte Manufakturbetreiber aufkamen, und Berliner Kaufleute um 1740 (erfolglos) gegen das Königliche Lagerhaus oder Breslauer Kaufleute 1782/86 für freien Transithandel petitionierten. Die Schwäche dieser Teilgruppe resultierte für Schwieger erstens aus der Separation der Bürgerschaft in mehrere Gruppen. Das Allgemeine Landrecht trennte nämlich akademisch Gebildete und staatsnahe Berufe (Beamte, Juristen, Geistliche, Lehrer, Mediziner, Militärs), die sog. Eximierten, von den Stadtbürgern, und auch zugezogene sog. Schutzverwandte sowie natürlich Unterschichten waren keine Vollbürger in der Stadt. Zweitens sei 94 Clark, Preußenbilder, S. 313. Zur Lage der Bauern ab 1918 vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  4, München 2003, S.  331–342, zur Mobilisierung im Brandenburgischen Landbund vgl. Rainer Pomp, Bauern und Großgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich, Berlin 2010, S. 263 ff.

2. Städtisches Bürgertum im 18. und frühen 19. Jahrhundert 

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die städtische Autonomie durch rigide Aufsicht von Staatsbeamten im Auftrag einer prestigereichen Monarchie begrenzt worden. Neue Studien betonen deutlich stärker bürgerliche Selbsttätigkeit, aber bekräftigen zugleich ein ambivalentes Bild. Preußens Stadtbewohner haben demnach nicht alles hingenommen; städtische Bildungsexpansion infolge Aufklärung und Protestantismus, Bürger-Feste und karitative Maßnahmen belegten Bürgeraktivitäten; die Entwicklung sei dynamisch wie in anderen Regionen verlaufen. Brigitte Meier hat das Stadtbürgertum deshalb als Mitgestalter der Moderne bezeichnet und für Brandenburg ab 1808 einen Gemeindeliberalismus wie in Südwestdeutschland konstatiert, denn Stadtbürger in Neuruppin oder Frankfurt/Oder hätten nicht anders als in Baden, Württemberg oder Hessen agiert. Vier Argumente können gegen dieses neue, positive Bild angeführt werden. Erstens opponierten nachweislich gerade traditionelle Stadtbürger – später als alter Mittelstand bzw. Kleinbürgertum bezeichnet – zwischen Reformzeit und Revolution 1848 aus Furcht vor sozialen Verwerfungen und Armenlasten gegen die Abschaffung lokaler Privilegien, die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, waren insoweit defensiv und modernisierungsskeptisch. Gleichzeitig existierten aber auch Bürgeraktivität und kommunaler Gemeinschaftssinn, so daß HansWerner Hahn die Kompromißformel verwandte, das Stadtbürgertum habe „gemäßigten Fortschritt“ durchaus begrüßt.95 Zweitens überwogen bei sachkundigen Rezensenten Zweifel hinsichtlich der Gleichsetzung der Ackerbürgerstädte Ostelbiens mit den (ehemals reichsstädtischen) Kommunen des deutschen Westens. Quantitativ lebten 1831 88 % der Stadtbewohner Preußens in Kommunen unter 5.000 Einwohner; von 980 Städten besaßen noch 1848 lediglich 15 mehr als 30.000 Einwohner. Fehlende reichsstädtische Tradition, Charakter als Ackerbürgerstädte, Stärke von Großgrundbesitz und Staatsverwaltung, nicht zuletzt preußisch-dynastische Anhänglichkeit in der Bevölkerung seien zu berücksichtigen. Allerdings besteht für das Stadtbürgertum in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen eine durch die Katastrophen preußischdeutscher Zeitgeschichte bedingte Forschungslücke, die quellenfundiert nicht leicht zu schließen ist. Drittens belegte die vorliegende Untersuchung von Manfred Gailus zu sozialen Protesten 1847–49, daß es in der ostelbischen Städtelandschaft nur einzelne 95 Klaus Schwieger, Das Bürgertum in Preußen vor der französischen Revolution, Phil. Diss. Kiel 1971, S. 181 ff., 263 ff., 379 ff., 421 ff., 441 ff. (aufgrund publizierter Quellen); zur Rolle der Eximierten Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 88 ff., 571–575. Brigitte Meier, Das brandenburgische Stadtbürgertum als Mitgestalter der Moderne, Berlin 2001, S. 25 ff., 134, 235 ff., 279 ff. Hans-Werner Hahn, „Brutöfen des Philistertums“ oder Träger des Wandels? Die deutschen Mittel- und Kleinstädte in den Modernisierungsprozessen des frühen 19. Jahrhunderts, in: K. Neitmann (Hg.), Das brandenburgische Städtewesen im Übergang zur Moderne, Berlin 2001, S. 19–37, Zitat S. 34. Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln 2009, S. 36 ff. (altes und neues Bürgertum).

114  IV. Preußens Gesellschaft Inseln von modernem stadtbürgerlichem Liberalismus gab, neben Königsberg oder Breslau etwa im anglophilen, frühindustriellen Elbing, wo seit 1845 die Fortschrittspartei bestand und einen modernen Forderungskatalog vorlegte. An vielen anderen Orten verlangten Stadtbürger aber staatlichen Schutz vor nichtzünftiger Konkurrenz, wandten sich zumal seit der konfrontativen Wende im November 1848 gegen Nationalversammlung wie Revolution insgesamt und unterstützen die Maßnahmen von Preußens König bzw. Regierung. Nach Gailus existierte in den Städten Ostelbiens eine antiliberale, modernisierungskritische Negativkoalition aus konservativ gesinnten städtischen Eliten, Handwerkern und Teilen der Unterschichten. Viertens gab es 1848 zwar in manchen brandenburgischen und schlesischen Städten Aktivitäten von Demokraten, aber diese erlahmten seit November, nicht zuletzt wegen der Mobilisierung konservativer Vereine, dem Wirken der Staatsbürokratie und dem Einsatz örtlicher Militärgarnisonen, die in rund der Hälfte dieser Kommunen schnell für Ruhe sorgen konnten. Insoweit traten deutliche Unterschiede zwischen dem Großteil Ostelbiens und dem Westen, zumal der Rheinprovinz, zutage, wo die Mobilisierung in mehreren Wellen bis Mai 1849 zunahm, und nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Lande weiter Demokraten als Abgeordnete gewählt wurden. Massiv artikulierte Distanz gegenüber dem bürokratisch-autoritären Herrschaftskonzept kennzeichnete katholische Rheinländer in Stadt und Land deutlicher als das ostelbische, protestantische Altpreußen mit seiner gutsherrlich-ländlichen Struktur. Diese Struktur, Loyalität zur Monarchie und staatlicher Druck lasteten dort stärker auf den Kommunen als im (Süd-) Westen. Aufgrund solcher struktureller Faktoren konnten die vergleichsweise schwächeren Städte Ostelbiens eine allmähliche bürgerliche Prägung des Gesamtstaats wie sie dem südwestdeutschen Gemeindeliberalismus gelang nicht erreichen.96 Beim neu entstehenden Wirtschaftsbürgertum, teils aus altem Stadtbürgertum erwachsen, ergibt sich ein helleres Bild. Forschungen von Rolf Straubel zeichneten den Aufstieg ortsansässiger Manufakturunternehmer und Großkaufleute wie auch jüdischer Bankiers in Berlin und andernorts quellenfundiert nach. Der Wirtschaftserfolg der Kaufmannschaften der Ostseehäfen sowie großer Städte wie 96 Harald Engler, Rezension B. Meier, Das brandenburgische Stadtbürgertum, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 50 (2004), S.  392–398, 397  f. Zahlen nach Ilja Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd.  2, S.  3–292, S.  94  f. Man­ fred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847–1849, Göttingen 1990, S. 448–465, 492–494. Wolfgang Radtke, Brandenburg im 19. Jahrhundert (1815–1914/18). Die Provinz im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum, Berlin 2016, S. 83–105. Rummel, Gegen Bürokratie, Steuerlast und Bevormundung durch den Staat, passim.

2. Städtisches Bürgertum im 18. und frühen 19. Jahrhundert 

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Breslau unterfütterte die Artikulation ihrer Interessen mittels ihres Anteils von rd. einem Viertel in städtischen Magistraten; sie traten vielfach mit Petitionen an die Berliner Regierung hervor. Sogar staatliche Steuerräte haben demnach öfter die Interessen der ihnen unterstellten Kommunen vertreten, deren Konflikte mit Zentralbehörden bürgerliches Selbstbewußtsein belegten. Die neueren Arbeiten modifizieren somit die borussische Sichtweise, die stets das fördernde, segensreiche Wirken des Staates gegenüber städtischen Cliquen betonte, aber auch die weithin kritische Sicht friderizianischer Städtepolitik bei Johannes Ziekursch.97 Hier wie bei vielen anderen Themenkomplexen gilt: Neue Studien entwerten ältere quellenfundierte Arbeiten nicht zur Gänze; deren empirische Belege bleiben bestandskräftig und deren Interpretationen sind oft nicht so überholt, wie eilfertiger Revisionismus glauben machen will. Durch Differenzierung in Phasen – Reglementierung unter Friedrich II. bis 1786, Lockerung danach sowie erweiterte Freiräume mit der Reformzeit – lassen sich neue Forschungsarbeiten mit älteren Ansichten auch durchaus vereinbaren. Wichtig bleibt hierbei die Leitfrage, inwieweit Staatshandeln auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Felde die Gesellschaft mit formte. Wirtschaftlich förderte der Merkantilismus Friedrichs II. privilegierte Manufakturunternehmer im Textil- und LuxuswarenBereich, aber beschränkte die liberale Bastion Handel. Sozial wurde bis zu Friedrichs Tod die per Geburt definierte Ständegesellschaft fixiert – Adel in Militär, Staatsverwaltung und Rittergut, Stadtbürger im Gewerbe, Bauern als Landwirte und Gutsuntertanen –, Wechsel (Adel im Gewerbe, Bauern in Städten) mit Dekreten untersagt und so das Wachstum von Städten behindert. Deren Finanzkraft unterlag der Abschöpfung der Erträge bürgerlichen Erwerbs durch Abgaben für den Staatsschatz. Im Stadtregiment wurden Amtsträger (Bürgermeister, Stadträte) staatlich eingesetzt und durch Kriegs- und Steuerkommissare kontrolliert. So gingen auch andere Fürstenstaaten vor, es gab die von Straubel und anderen gezeigte Kooperation, aber als Konsens sind die vielfach konflikträchtigen Verhältnisse nicht deutbar. Selbst manchen Beamten vor Ort erschien die staatliche Gängelung kontraproduktiv. Beispielsweise schrieb der Steuerkommissar und Königsberger Polizeidirektor J. G. Frey 1808 den Entwurf von Steins Städteordnung und wandte sich darin gleich eingangs gegen Einmischung von Garnison und Domänenkammer in städtische Belange. Seit 1786 konnten, wie Straubel belegt, Wirtschaftsbürger der Ostseehäfen oder Breslaus ihre Petitionen koordinieren; sie schlugen eine marktoffene Zollund Handelspolitik vor und ernteten nicht mehr rundheraus Ablehnung. Aber 97 Rolf Straubel, Die Handelsstädte Königsberg und Memel; Ders., Kaufleute und Manufakturunternehmer; Ders., Zum Wechselspiel von „Wirtschaftsbürgern“, mittleren Beamten und Kommunalbehörden in den mittleren und östlichen Provinzen Preußens ausgangs des 18.  Jahrhunderts, in: K. Neitmann (Hg.), Das brandenburgische Städtewesen im Übergang zur Moderne, S. 77–95. Johannes Ziekursch, Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins, Jena 1908, S. 81 ff.

116  IV. Preußens Gesellschaft in korporativen Gremien, etwa dem Stettiner Kommerzkollegium, saßen weiterhin (vier) Staatsbeamte neben (fünf) Kaufleuten, um das Kaufmannsinstitut zu kontrollieren. Für Breslau in der zweiten Häfte des 18. Jahrhunderts wurde eine beauftragte und kontrollierte Selbstverwaltung, in der der Magistrat bei geringen Spielräumen staatliche Vorgaben lokal umzusetzen hatte, konstatiert. Daß politische Diskussionen inklusive der Forderung nach einer Verfassung bis 1848 nicht zuletzt in den gemäß Steins Städteordnung gewählten Stadtverordnetenversammlungen stattfanden, stellte bereits Koselleck klar heraus. Berthold Grzywatz irrt, wenn er die Reform von 1808 vorrangig als Stärkung der Kompetenzen der Staatsverwaltung deutet, und Kommunen um 1900 zum „konstitutiven Element des preußischen Immobilismus“ erklärt. Dazu kam es erst infolge staatlicher Restriktionen und Städteordnungs-Novellen seit den 1830er Jahren. Intentional gewährte die Reform ab 1808 städtische Selbsttätigkeit und die Wählerschaft in den Städten betrug infolge der Reform meist gut die Hälfte der männlichen Erwachsenen; dies ergab kommunal das „Übergewicht des niedrigen Bürgerstandes“. Da konservative Beamte dies später als städtische „Renitenz“ wahrnahmen, reduzierte man in einer Novelle zur Städteordnung 1831 die Zahl der Wahlberechtigten durch erhöhte Mindeststeuerzahlung auf wenige Prozent. Die Novelle beinhaltete zugleich weite Genehmigungs- und Interventionsrechte für Regierungspräsident bzw. Innenministerium; so wurde der Magistrat den Stadtverordneten als verlängerter Arm der Staatsgewalt übergeordnet und der Landrat erste Aufsichtsinstanz für kleine Städte. Damit wurde Steins Städteordnung im Sinne staatlicher Autorität zurechtgebogen. Zur Isolierung des Stadtbürgertums aus Handwerk und Ladenbesitzern hatte indes die gerade im Allgemeinen Landrecht (ALR) von 1794 enthaltene Separation der bereits genannten Eximierten, die Staats-, aber keine wahlberechtigten Stadtbürger waren und kaum Kommunalsteuern zahlten, wesentlich beigetragen. Diese Privilegierung von Beamten und akademischen Berufen, Kerngruppen des Bildungsbürgertums, schwächte einerseits die Bürger-Macht, denn diese Berufsgruppen blieben staatsorientiert. Andererseits bewirkten bürgerliche Beamte und staatsnahes Bildungsbürgertum, daß der Staatsapparat bürgerliches Leistungsdenken aufnahm und der Geist der Reformzeit bis 1848 nicht völlig schwand. Der Staat schrieb damit zugleich ständische Strukturen fort; rechtlich wie mental blieben so neben der Klassenlage nach Einkommen/Vermögen ständische Überhänge bei Adel, Beamten, Bildungsbürgern und Handwerkern bestehen, in seit damals vielgenutzten Begriffen wie „Mittelstand“ oder „standesgemäß“ bis heute erkennbar.98 98 Die ökonomisch-sozialen Phasen explizit in der Gliederung von Wolfgang Radtke, Gewerbe und Handel in der Kurmark Brandenburg 1740 bis 1806, Berlin 2003, S. 5 f. Stefan Brakensiek, Staatliche Amtsträger und städtische Bürger, in: P. Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000, S. 138–172, 149–156. Anne-Margarete Brenker, Aufklärung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im aus-

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Schon vor dem (generell subsidiär geltenden) Allgemeinen Landrecht (ALR) war Preußen ein Gesetzesstaat (Günter Birtsch), d. h. es gab formulierte Rechtsvorschriften, obschon teils erst nach Jahren publiziert, auf deren Grundlage richterliche Urteile ergingen. Aber der Monarch blieb Gerichtsherr, etwa Friedrich II. im Fall des Müllers Arnold 1779, und gegen hoheitliche Akte galt nur erheblich eingeschränkter Rechtsschutz, denn das ALR zielte auf Stärkung der Staatshoheit, nicht Bürgeraktivität und Freiheitsrechte. Aber dieser formal ausgebildete Rechtswege-Staat, der noch kein Rechtsstaat war, weil das ALR keineswegs gleiches Recht für alle bedeutete und ständisch-adelige Privilegien als geschützte Eigentumsrechte definierte, bremste zugleich politische Forderungen und diente der Rechtfertigung, ja ideologischen Glorifizierung Preußens. Die angesehene bürgerliche Richterschaft, eine liberale Kerngruppe bis 1848, die der konservativen vormärzlichen Staatsverwaltung kritisch gegenüberstand und weithin moderat liberale politische Ansichten hegte, konnte mildern, aber in zugespitzten Konfliktlagen (1848, Verfassungsstreit) die Loyalität zum Dienstherrn nicht kappen. Dieses Doppelgesicht des Staatshandelns schwächte ideell wie realiter die freie Bürgergesellschaft in Preußen. Die Monarchie und deren Bürokratie waren die älteren Machtfaktoren im Staate – trotz des bürgerlichen Wirtschaftserfolgs, erfolglosen oder erfolgreichen Petitionen und dem Bedeutungsgewinn der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Der gewachsene starke Staat setzte den Rahmen, gestattete dem Bürgertum wirtschaftliche Aktivität, aber formte es sozial mit und begrenzte institutionalisierte Mitsprache bis hin zur Verweigerung eines Landtages. Als Innenminister Gustav v. Rochow Mitte Januar 1838 eine Eingabe Elbinger Bürger zugunsten der Göttinger Sieben mit dem Satz zurückwies, Staatspolitik sei vom Untertanen nicht mit dem „Maßstab seiner beschränkten Einsicht (…) in dünkelhaftem Übermute“ öffentlich zu beurteilen, entstand das seither berühmte Wort vom „beschränkten Untertanenverstand“. Rochow erfaßte damit das Selbstbild und den Leitungsanspruch preußischer Bürokraten und Monarchen. Bürger verharrten nicht in der Position von Untertanen, aber staatliche Interventionen prägten ihre Lebenswelt.99 gehenden 18. Jahrhundert, Hamburg/München 2000, S. 132. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 583. Irrig: Berthold Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, Berlin 2003, S. 9, 1111. 99 Günter Birtsch/Dietmar Willoweit (Hg.), Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. 200 Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht, Berlin 1998, S. 253; Jörg Wolff (Hg.), Das Preußische Allgemeine Landrecht. Politische, rechtliche und soziale Wechsel- und Fortwirkungen, Heidelberg 1995, bes. G. Birtsch, S. 133–147; Monika Wienfort, Zwischen Freiheit und Fürsorge. Das Allgemeine Landrecht im 19. Jahrhundert, in: P. Bahners/G. Roellecke (Hg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, S. 294–309. Christina von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815–1848/49, Göttingen 1996, S.  265  ff., 317 ff. Rochow nach Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, S. 664 und Bruno Satori-Neumann, Elbing im Biedermeier und Vormärz, Elbing 1933, S. 42.

118  IV. Preußens Gesellschaft

3.

Adel und Bürgertum 1871–1933

Seit dem 18. Jahrhundert standen Wirtschaftsbürgertum (Bourgeoisie) und Bildungsbürgertum (Professionen) in Konkurrenz zur Jahrtausendelite Adel, dessen preußisch-ostelbische Variante, die Junker, quantitativ stark und das einflußreichste gesellschaftliche Segment war. Ihre Zahl betrug etwa 20.000 Familien. Seit Friedrich II. im engen Bunde mit der Monarchie, im Reformjahrzehnt wie 1848 zeitweise von Privilegienverlust bedroht, behielten Junker ungeachtet kurzzeitiger Friktionen bis 1914 durch Protektion der Monarchen zahlreiche Positionen in Militär, Hof, Diplomatie, Verwaltung, Großgrundbesitz und damit gesellschaftliches Prestige. Auf der Ebene von Weltanschauung und Habitus einte den Adel im langen 19. Jahrhundert ein Bündel von fünf Elementen, die Heinz Reif mit dem Begriff Adeligkeit idealtypisch zu erfassen suchte. Dazu gehören der Glaube an soziale Ungleichheit und ererbte eigene Sonderqualitäten, der Anspruch auf Vorrang in Politik und Gesellschaft, ausgeprägte Familien- und Standesorientierung, das Beharren auf Herrschaft über Menschen sowie ein Konglomerat aus zunehmend imaginierter Landbindung, (protestantischer) Religion, Repräsentation als ganzheitliche Persönlichkeit und der Fähigkeit zur Neuerfindung als Elite in unterschiedlichen Zeiten. Dieses begriffliche Konzept ist zwar eine idealtypische Synthese, trifft aber für den ostelbischen (Junker-)Adel in besonderem Maße zu. Bei näherer sozial- und politikgeschichtlicher Betrachtung stellte die jüngere Forschung freilich auch fest, daß die Sozialformation Adel keinen uniformen Block bildete, sondern diachron Differenzierungen aufwies. Ein halbes Jahrhundert hielt sich in Ost- und Westpreußen eine starke liberale Strömung in der (adeligen) Gutsbesitzerschicht. Als Ursachen hierfür hat Herbert Obenaus ein traditionelles Landesbewußtsein der peripheren Provinz, die diskursive Erfahrung des autonomen provinzialständischen Komités ab 1807 und die Führung durch liberale Provinzialbeamte wie Theodor von Schön benannt. Unmittelbaren Anstoß lieferten die ländlichen Problemlagen von Unterschichten-Unruhe, Mißernten und Notständen, die adelige wie bürgerliche Gutsbesitzer gemeinsam zu bewältigen hatten. So dominierte seit den 1820er Jahren ein Liberalismus, der Reformen in Kommunalorganisation und Armenwesen, eine Verfassung und für den Getreideexport Freihandel forderte. Geänderte sozioökonomische Rahmenbedingungen und massive Staatsintervention in Selbstverwaltungsgremien, Vereine und bei Wahlen bewirkten, daß dieser Liberalismus um 1880 ein Ende fand. Zwei andere von den Junkern geschiedene Teilgruppen lassen sich identifizieren: Die sog. Standesherren, der höhere, teils früher souveräne Adel, der freilich in Preußen dünn gesät und in Süd(west)deutschland konzentriert war sowie der katholische Adel in spät zu Preußen gekommenen Regionen von Schlesien bis zum Rheinland. Die standesherrlichen Grafen und Fürsten waren materiell gut gestellt, weniger auf Offiziersstellen angewiesen und weniger spezifisch borus-

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sisch eingestellt, aufgrund dessen phasenweise modernisierungsoffener, speziell in den 1860er, 1870er Jahren, etwa im Rahmen der 1867 gegründeten Freikonservativen Partei. Seit den 1880er Jahren konvergierte diese Gruppe allmählich mit dem Kleinadel, ohne bis 1918, ja 1933 eine gewisse Distanz aufzugeben. Rückblickend bezeichnete sie der linksliberale Journalist Theodor Wolff als „eine sympathische Gruppe liberalisierender Grandseigneurs“, die „auf die Masse der ostelbischen Junker“ „mit Abneigung hinunter“ blickten. Aber diese Grand­seigneurs waren zahlenmäßig schwach und im Zeitalter des politischen Massenmarkts wenig einflußreich.100 Eine zweite, teils mit der ersten überlappende Teilgruppe bildete der katholische Adel des preußischen Westens und Schlesiens, besonders stark zudem in den süddeutschen Staaten. Hierbei handelte es sich um Neupreußen mit Reichstradition in westlichen Gebieten der Grundherrschaft mit historisch divergierender Siedlungs- und im 19.  Jahrhundert modernerer Wirtschaftsstruktur. Das entscheidende Merkmal bildete die Konfession. Im Zeichen des im ganzen 19. Jahrhundert virulenten, mentalen Antikatholizismus gerade Preußens übten viele katholische Adelige konfessionelle Solidarität über die soziale Hierarchie hinweg und verstanden sich als Fürsprecher des Volkes gegenüber dem Staat. Sie traten für Verfassung, Rechtsstaat und Sozialpolitik ein, wirkten in Vereinen sowie maßgeblich bei Gründung der Zentrumspartei 1870 mit und standen noch Jahrzehnte danach in Distanz zum dominanten protestantisch-ostelbischen Adel. Diesbezüglich formulierte der aus süddeutschem Hochadel stammende Reichskanzler Fürst Hohenlohe 1898: „Wenn ich so unter den preußischen Exzellenzen sitze, so wird mir der Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschland recht klar. Der süddeutsche Liberalismus kommt gegen die Junker nicht auf. Sie sind zu zahlreich, zu mächtig und haben das Königtum und die Armee auf ihrer Seite.“ Die enge Verflechtung des Adels mit dem Staat Preußen war indessen nicht nur Stärke, sondern auch Achillesferse. In Wirtschaft und Politik erlebte der preußische Kleinadel seit der Jahrhundertwende massive Krisenphänomene, unterlag Bedrohungsängsten und antizipierte Verlusterfahrungen: Die Landwirtschaft sah sich schwankenden Marktkonjunkturen ausgesetzt und war auf 100 Maßgeblicher Forschungsüberblick bei Heinz Reif, Adel im 19. und 20.  Jahrhundert, 2. Aufl., München 2012, S. 102 ff., 110 ff. (altliberaler und katholischer Adel). Ders., „Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adel in Deutschland seit der Wende um 1800, in: Ders., Adel, Aristokratie, Elite. Sozialgeschichte von Oben, Berlin 2016, S. 323–337, 324 f. Herbert Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus. Zur regionalen Sonderentwicklung der liberalen Partei in Ost- und Westpreußen während des Vormärz, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S.  304–328. Zum Begriff Junker bzw. zum Unterschied von Grand Seigneurs und Junkern näher Spenkuch, Herrenhaus, S. 178–180 bzw. S. 258 ff., Zitat Wolff S. 277 f. Zur Zeit nach 1918 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 198 ff.

120  IV. Preußens Gesellschaft Getreideschutzzölle wie staatlich wohlwollende Besteuerung angewiesen; in Berufsfeldern wie der Medizin und der Industrie blieben Adelige schwach vertreten und bekamen selbst in der Staatsbürokratie vermehrt bürgerliche Konkurrenz; die veröffentlichte Meinung war zunehmend adelskritisch eingestellt, bis heute in bekannten Karikaturen des „Simplicissimus“ gegenwärtig. Im politischen Bereich blieb die Protektion durch die Regierung unerläßlich und das umstrittene Dreiklassenwahlrecht die unabdingbare Basis politischer Macht in Preußen, während die Position der Deutschkonservativen im Reichstag tendenziell abnahm, zudem von der ultranationalistischen, völkischen Rechten an der Wahlurne wie in der ideologischen Herrschaftslegitimation bedroht. Mit traumatischem Pessimismus und gleichzeitiger Kampfbereitschaft standen große Teile gerade der alten Herrenklasse Junker dem perhorreszierten „sozialistischen Demokratismus“ gegenüber. In ihrer Gutswirtschaft wie Führungspositionen nicht bloß rückständig, aber herrschaftsgewohnt, in modernen Berufsfeldern schwach vertreten, und, bei einigen Ausnahmen, über lange Phasen streng konservativ, hielten Junker weitgehend Abstand zur neuen Welt von Industrie und Kulturmoderne, zum Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bei.101 Diese Schichten umfaßten nur 5 % – 7 % Prozent der Bevölkerung, mit dem Kleinbürgertum in Handwerk und Gewerbe, später mittleren Angestellten sowie technischen Berufen ergab das 15 % – 20 % aller Köpfe. Außengrenzen bestanden sozial-kulturell gegenüber den übrigen 80 %, den Bauern, Handwerksgesellen, Arbeitern, Unterschichten. Bürgerliche dominierten im Industrie-, Handelsund Bankbereich, in den modernen Professionen (Anwälte, Ärzte, Ingenieure, Ökonomen, Naturwissenschaftler), in Presse, Bildungsbereich und Kunst. Das Wirtschafts-, Zivil- und Prozeßrecht folgte nach der Reformperiode 1867–78 bürgerlichen Prinzipien, wenngleich im öffentlichen Recht – speziell Militärrecht und Ausnahmezustand, Polizeiverfügungen und Verwaltungsrecht – obrigkeitsstaatliche Züge konserviert wurden. Trotz Dominanz in Volkswirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kunst verdrängte das Bürgertum den Adel nicht rundum als gesellschaftliche und politische Elite in Preußen. Als Ursache vermuteten Zeitgenossen wie Max Weber oder 101 Zum katholischen Adel jetzt Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), Düsseldorf 2015. Zit. Hohenlohe nach Hartwin Spenkuch, Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderwegs“, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 262–293, S. 276, zum Faktor Staat dort S. 271–277. Zu den Krisenphänomenen im Adel knapp Hartwin Spenkuch, Herrenhaus und Rittergut. Die Erste Kammer des Landtags und der preußische Adel von 1854 bis 1918 aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S.  375–403, 400–402. Informative Artikel zu Begriffen wie Adelsliberalismus, Frauen oder Preußens Adel in: Eckart Conze (Hg.), Kleines Lexikon des Adels, 2. Aufl., Müchen 2012, S. 28–201.

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Werner Sombart, daß Bürgerliche bisherige Werthaltungen aufgaben und sich einem adeligen Lebensstil annäherten, womit ihre „Feudalisierung“ oder „Aristokratisierung“ den Adel verstärkte. Streben nach Titeln wie Kommerzien- oder Justizrat, gar der Adelsverleihung, mindestens den Reserveoffzier, Bau schloßartiger Villen und Kauf von Rittergütern, Aufgabe der Firmen und adelige Heirat seien die Anzeichen dafür. Diese These haben detaillierte Untersuchungen etwa von Dolores Augustine für Preußen, wo der Großteil der Reichtums- und Bildungselite lebte, weithin verworfen, freilich mit Differenzierungen. Grundsätzlich kam die enge Verbindung mit dem Adel nur für Teile der Bürgerschaft in Frage, nämlich ländliche Gutsbesitzer, die Reichtumselite der Wirtschaftsbürger an einigen Orten, am ehesten für Beamte und Militärs. Die Verkehrskreise blieben schon wegen der Stadt–Land-Differenz, aber z. B. auch in Vereinen getrennt; Adelsverleihungen an Bürger per se gab es unter rund 450 (1790–1848) und weiteren 1700 (1861–1918) insgesamt vermutlich kaum 200. Titel und Orden waren geschäftlich vorteilhaft und bedeuteten staatliche Anerkennung, weshalb ein Großteil der Bürger sie gerne annahm und im Sinne dieses „Regierungsmittels“ zuweilen politische Kritik einschränkte. Wirtschaftserfolg wurde mit aufwendigem Lebensstil demonstriert, aber bürgerliches Geschäftsdenken schwand nicht, wenngleich Bürger aufgrund umfangreicher sozialer Aktivitäten wohl bloß sechs Stunden täglich arbeiteten. Adelig-bürgerliche Heiraten nahmen etwas zu, aber reichten zur verschmolzenen Elite nicht hin. Diese gab es am ehesten im Patriziat alter Handels- und Gewerbestädte wie Hamburg, Mannheim, Elberfeld; in neuen Industrieregionen blieben Unternehmer unter sich, z. B. die Schwerindustriellen in Rheinland-Westfalen; Annäherung gab es in Kleinstaaten wie Hessen oder Thüringen, sofern dort Monarchen Adel und Bürgertum zusammenführten. Nicht eine adlig-bürgerliche Oberschicht wie im England der Gentlemen und im Frankreich der (Grand) Notables war das Kennzeichen besonders Preußens, sondern sozial separierte, zudem regional unterschiedliche Milieus. „Insgesamt blieben die Gräben zwischen der Welt des Adels und dem Kapitalismus tief “, die begehbaren Brücken bis 1914 schmal, urteilte H. Berghoff. Weil aber Adelige in Staatsfunktionen sehr präsent waren suchten Wirtschaftsund Bildungsbürger den Kontakt aus Eigeninteresse. In Staatsbürokratie und Militär sah Otto Hintze 1911 eine „adlig-bürgerliche Amtsaristokratie“ walten, aber selbst hier blieben Gräben zwischen adlig bzw. bürgerlich geprägten Regimentern oder Ministerien (Außen-, Innen-, Landwirtschafts- versus Handels-, Justiz- und Kultusministerium). Von einem Aufgehen des Adels, weder des höheren noch des junkerlichen, in einer Kapitalistenklasse kann nach Indikatoren von der Berufswahl über das Heiratsverhalten bis zum Habitus keine Rede sein. Vielmehr charakterisierten den Junkeradel in Preußen bis 1914 Militärorientierung und Monarchietreue, Standesdenken und Beharren auf gottgegebenen Privilegien, Distanz zu Stadt und Kulturmoderne, Charakter- statt Wissensbildung. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es vermehrt soziale Amalgamierung mit Bür-

122  IV. Preußens Gesellschaft gerkreisen und erst nach 1918 eine innere Ausdifferenzierung des Standes sowie jene Radikalisierung im besitzarmen Adelssegment, jene Suchbewegungen im völkischen Dunstkreis, die 1933 mit ermöglichten.102 Der Faktor preußischer Staat überwölbte an sich divergente soziale Gruppen. Staatslastigkeit nennen Historiker das, nicht nur mit Blick auf die beamteten Bildungsbürger. Schon 1861 berichtete der britische Gesandte nach London, unverkennbar sei „the military education to which Prussians one and all have been subjected, and the bureaucratic influence incessant in its interference which pervades everything and which prevails everywhere“. Denn Bildungwesen und -abschlüsse waren staatlich normiert, Pfarrer, Gymnasiallehrer, bis 1878 sogar Anwälte waren mittelbare Beamte, Bahn- und Postbeamte dominierten vielerorts das Kleinbürgertum. 950.000 unmittelbare und mittelbare Beamte Preußens zählte man 1907, 5 % der Erwerbstätigen; inklusive der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Bereich waren es rd. 8 %. Dieses zahlreiche beamtete oder angestellte Bildungs- und Kleinbürgertum bildete eine Besonderheit im europäischen Vergleich und war Anker des Staates in der Gesellschaft. Ordnet man das gutenteils beamtete, staatsnahe Bildungsbürgertum nicht der Gesellschaft, sondern der Sphäre des Staates zu, erscheint Preußen deutlich weniger bürgerlich geprägt. Weithin überformten staatliche Regelungen die Organisation und Hierarchie der Gesellschaft. Der Ratstitel – (Geheimer) Regierungs-, Justiz-, Bau-, Berg-, Ökonomie-, Medizinal- oder Sanitätsrat – band die Professionen, nämlich Anwälte/Notare, Ingenieure, Ärzte, Gymnasial- bzw. Hochschullehrer, und der Titel Geheimer Kommerzienrat Wirtschaftsbürger an den Staat. Bereits vor 1800 hatte der Königsberger Kant vom auf Rangdifferenz erpichten „Titelland“ gehandelt und nach 1918 ließen sich arrivierte Professoren wie Werner Sombart bevorzugt als „Geheimrat“ oder Firmendirektoren als „Assessor (a. D.)“ anreden. Angestell102 Gegen die Feudalisierungsthese Dolores Augustine, Patricians and Parvenues. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, New York 1994, bes. S. 239 ff. Adelsverleihungen nach Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 679 und Johann Karl v. Schroeder, Standeserhöhungen in Brandenburg-Preußen 1663–1918, in: Der Herold, N. F. 9 (1978), S. 1–18, S. 7, 12. Zu Orden und Titeln als Regierungsmittel vgl. Reitmayer, Bankiers im Kaiserreich, S. 67–81 und Hartwin Spenkuch (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, hg. von der Berlin– Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7: 1879 bis 1890, Hildesheim u. a. 1999, S. 15 f. Hartmut Berghoff, Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich – Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: H. Reif (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, Berlin 2000, S. 233–271, S. 270 (Zitat). Otto Hintze, Der Beamtenstand, in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Bd.  2, hg. von G. Oestreich, 2. Aufl., Göttingen 1964, S.  66–125. Zitat S.  99. Reif, Adel, S.  52  ff., 112  ff., 124  ff. Verkürzte Lesart neuerer Forschungen mit der Behauptung einer modernen adelig-bürgerlichen Kapitalistenklasse bei Dennis Sweeney, Class, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, Farnham 2015, S. 261–286, S. 275 ff.

3. Adel und Bürgertum 1871–1933 

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te nannten sich Privatbeamte und erstrebten Sonderstellung; Großunternehmen kopierten bürokratische Organisationsmodelle; der „Mittelstand“ aus Handwerkern und Kleinhändlern verlangte jahrzehntelang staatliche Protektion gegen Industrie und Großhandel. Die Erwartungen an staatliche Problemlösungskapazität waren – teils zu Recht – hoch, und Bildungsbürger wie Gustav Schmoller feierten den wohltätigen Staat als Wahrer des Gemeinwohls. In der Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Demokratisierung näherten sich konservative Adelige und nationalliberale Bürger politisch an, wenngleich Adelige eher den Staat Preußen, Bürger das Deutsche Reich als Bezugspunkt betonten. Im Vergleich mit den „reinen“ Bürgergesellschaften Schweiz, den Niederlanden, den USA oder weithin Skandinavien formulierte Manfred Hettling: „Deutschland blieb im Unterschied zu diesen Staaten geprägt durch den Dualismus einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft (…) und einer hierarchischen staatlichen Ordnung. Intermediäre Scharniere gab es nur wenige, zudem erwies sich das staatliche System als überaus stabil, bis 1918 blieb es im Kern unverändert“. Dies unterschied PreußenDeutschland von (westlichen) Bürgergesellschaften.103 Die Folgefrage lautet, ob die seit der Aufklärung gedachte Gesellschaftsvision des friedlichen, rechtsgleichen Zusammenlebens freier Bürger mit breiter politischer Partizipation und ohne krasse soziale Ungleichheit bei Toleranz für Minderheiten-Kulturen vom realen Bürgertum wirklich vertreten wurde. Begrifflich differenziert formuliert: Ob die soziale Formation Bürgertum nicht nur Bürgerlichkeit als kulturellen Wertekanon lebte, sondern auch die bürgerliche Gesellschaft als zivilgesellschaftliches Ordnungsmodell beförderte. Das Bild ist sehr ambivalent. Die Bürger-Welt war in Politik und öffentlichem Leben eine männliche, Frauen wurden auf Familie, Haushalt und Karitatives begrenzt, ja aufgrund der Rechtsordnung bevormundet; später unterstützten mehr Väter bessere Bildungschancen oder gar Berufstätigkeit für Töchter. Die 1848/65 einsetzende Frauenbewegung war vornehmlich bürgerlich und beeindruckende, bis heute bekannte Frauenpersönlichkeiten (Luise Otto-Peters, Minna Cauer, Helene Stöcker oder Anita Augspurg) agierten unermüdlich als Protagonistinnen. Ihr couragiertes Engagement für Gleichberechtigung und Emanzipation wurde jedoch jahrzehntelang nur von einer Bürger-Minderheit unterstützt und Antifeminismus kennzeichnete besonders Preußen, ablesbar etwa an Mitglie103 Für die Argumentation bahnbrechend: Jürgen Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19.  Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: Ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, München 1988, 11–76, S.  70–75. British Envoys to Germany 1816–1866, Bd.  4: 1851–1866, S.  139 (Zitat 1861). Aufgliederung der Beamtenschaft bei Hintze, Der Beamtenstand, S. 67 ff., Beamtenzahl nach Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 29. Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 344 (Zitat).

124  IV. Preußens Gesellschaft derzahlen antifeministischer Vereine. Erst im 20. Jahrhundert errang die Frauenrechtsbewegung allmählich Erfolge. Bürger argumentierten mit Bildung und Leistung, aber lebten in Hierarchien und reproduzierten sie durch exklusive höhere Bildung für sich. Bürger schätzten etablierte Kunst, manche auch moderne Künstler, recht wenige die Avantgarde. Bürgerliche Wohltätigkeit für sozial Schwache war weit verbreitet, aber die harte Seite der Realität beschrieb der Historiker Treitschke, als er 1874 unverblümt formulierte, „Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausend forschen, malen und regieren können“, kurzum „keine Kultur ohne Dienstboten“. Als Misogyn schrieb der gleiche Historiker, es gebe „‘keinen Staat, der so wenig Weiberherrschaft gesehen hätte wie der preußische‘“. Daß die das Bürgertum primär einigende gehobene Lebensführung, sein Bildungsstand und sein Genuß von Hochkultur weithin zu Lasten der unterbürgerlichen Schichten und vieler Frauen gingen, nahm man billigend hin. Seit den 1870er Jahren nahm die Frontstellung gegen den Adel deutlich ab, wichtiger wurde für das Bürgertum die Abgrenzung „nach unten“, gegenüber Mittelstand, Arbeiterschaft und allen Unterschichten. Exklusivität nahm zu und das Ziel der Ausweitung von politischen oder sozialen Rechten trat in den Hintergrund. Kulturkampf, Antisemitismus, Nationalismus gegen Minderheiten, selbst völkische Sichtweisen fanden Unterstützer. Teils staatlich reglementiert, teils interessenegoistisch angelehnt an die Macht des Obrigkeitsstaats konnte oder wollte das mehrheitlich national-liberale Bürgertum in Preußen nicht stärker auf die Teilhabe und Reformen fordernde Arbeiterschaft zugehen; für Sachsen hat dies James Retallacks große Studie zu den Wahlrechtskämpfen (1896–1909) quellendicht belegt. Das Bürgertum verfolgte seine finanziellen und Status-Interessen, aber hing gutenteils nicht mehr der Zielutopie einer rechtlich-politisch egalitären, partizipatorischen, soziale Aufstiegschancen ausweitenden Gesellschaft an. Diese Ziele forderten nun die Arbeiterbewegung und das Gros des Linksliberalismus ein. Die schärfste Anklage formulierte Walther Rathenau im Rückblick 1919. Er beklagte pointiert die „geistige Verräterei des Großbürgertums, das seine Abkunft und Verantwortung verleugnete, das um den Preis des Reserveleutnants, des Korpsstudenten, des Regierungsassessors, des Adelsprädikats, des Herrenhaussitzes und des Kommerzienrats die Quellen der Demokratie (…) vergiftete, das feil, feig und feist durch sein Werkzeug, die nationalliberale Partei, das Schicksal Deutschlands zugunsten der Reaktion entscheiden ließ: Diese Verräterei hat Deutschland, hat die Monarchie zerstört.“104 104 Peter-Christian Witt, Monarchen und Bürger. Über Untertanen und Untertänigkeit im wilhelminischen Deutschland (1890–1914), in: H. Lademacher/W. Mühlhausen (Hg.), Freiheitsstreben, Demokratie, Emanzipation. Aufsätze zur politischen Kultur in Deutschland und den Niederlanden, Hamburg 1993, S. 139–187. Thomas Mergel, Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515–538. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, Zi-

3. Adel und Bürgertum 1871–1933 

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Am fortschrittlichsten waren in Preußen-Deutschland die (Groß-)Städte und (dort) die Bereiche Daseinsvorsorge und Kultur. Lokal konnte das im Staat nicht regierende Bürgertum freier bestimmen – freilich nur aufgrund besitzbasierter Kommunalwahlrechte – und ein Gutteil unternahm im Bildungswesen, im Sozialbereich, im Feld Kultur (Theater, Museen, Bibliotheken) beachtliche Anstrengungen zur Ausweitung von Teilhabe. Speziell in Kommunen außerhalb Altpreußens, z. B. Frankfurt, Jena oder München, gab es mehrheitlich sozial-liberale Bürgerschaften, die die Klassenschranke gegenüber den Arbeitern durch Kooperation in kommunalen Gremien und Integration in Einzelbereichen zu überwinden suchten. Die preußischen bürokratischen Spitzen haben dergleichen mißtrauisch beäugt und mit staatlichen Behörden oft dagegen gewirkt. In den süddeutschen Staaten (Baden, Württemberg, Bayern, Hessen) waren strukturell bedingt wie mental geprägt die Klassengegensätze schwächer, Arbeitervertreter in den Landtagen stärker (18 %–27 %) und bei einzelnen Projekten mit Liberalen oder Zentrum verbündet. 124 SPD-Anhänger in 57 Städten amtierten als Magistratsmitglieder bzw. Stadträte (1913), in Preußen ganze zwei. Das starre Festhalten von Staatsautorität, politischem Status quo und klassengesellschaftlicher Ausgrenzung kennzeichnete besonders Preußen. In diesem Sinne erinnerte sich der Berliner Historiker Fritz Hartung noch 1933, südlich der Mainlinie sei vor 1914 „die Ignorierung der in Norddeutschland üblichen Klassenschichtung, jene süddeutsche Volkstümlichkeit, die sich etwa im Münchener Hofbräu oder (vor dem Kriege!) im 4. Klassefahren der Offiziere in Zivil mit ihren Familien“ ausdrückte, verbreitet gewesen. Der politikulturelle Unterschied zwischen Preußen und Süd(west)deutschland fiel auch dem 1848 in der Kurmark geborenen Kommunaljuristen Emil Kraatz auf, ab 1884 Oberbürgermeister im badischen Pforzheim und später in Naumburg/Saale: „Diese Abneigung gegen die Preußen ist mir also zu meinem großen Schmerze in verschiedenen Gegenden des deutschen Vaterlandes entgegengetreten. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin dabei zu der Überzeugung gelangt, daß sie (…) im allgemeinen ausgeht von den Leuten, die instinktiv in den Preußen die Gegner wittern, die ihren unsinnigen politischen Bestrebungen feindlich gegenüberstehen. (…) Preußen ist auf einem armen Boden groß geworden in harter Arbeit und unter schweren Kämpfen (…). Das ist jener Geist patriotischer Gesinnung (…), der den eigenen Willen freudig den Aufgaben des Staates unterordnet, (…) dem der Sinn für Ordnung und Autorität (…) als etwas ganz Selbstverständliches erscheint, der in der Erfüllung der harten Gebote der Pflicht allein seine höchste tate Treitschke S. 189, 193. Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, 3. Aufl., München 2018, S.  28–81, auch zu Frauen-Persönlichkeiten. Zitat Treitschke nach Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich, Göttingen 1998, S.  36, Mitgliedschaft antifeministischer Vereine S.  138. James Retallack, Red Saxony. Election Battles and the Spectre of Democracy in Germany, 1860–1918, Oxford 2017, S. 616 ff. Walther Rathenau, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1919, Zitat S. 11.

126  IV. Preußens Gesellschaft Befriedigung findet. Das ist der echt preußische Geist, (…) die straffe Zucht der Autorität.“ 105 Nach 1918 litt das Bürgertum ökonomisch unter Kriegsfolgen und Inflation, mit Vermögens- und Einkommensverlusten Bildungsbürger mehr als Wirtschaftsbürger; betrieblich wie sozial fühlten sich beide Gruppen durch die Aufwertung von Arbeitern, SPD und Gewerkschaften bedrängt, ähnlich der von Wirtschaftskonjunkturen und Steuererhöhungen getroffene alte Mittelstand sowie die Bauern. Der neue Mittelstand von Angestellten, Technikern und mittleren Beamten profitierte in der Republik, aber bedeutete zugleich verschärfte Konkurenz für das sozial exklusive Bürgertum. Bildungsreformen, Förderung moderner „häßlicher“ Kunst oder pazifistische Literatur wurden als „Kulturbolschewismus“ abgelehnt. Bürgerliche Abstiegsängste und gefühlte Angriffe auf die im Kaiserreich innegehabte „Sonderstellung als beamtete Bildungsaristokratie“ legten Grundlagen zur Radikalisierung in den ökonomischen und politischen Krisen. Die Republik war mit Niederlage, Traumata und Unsicherheit behaftet. Akademiker mußten den standesgemäßen Lebensstil, z. B. das Dienstmädchen, aufgeben; die jüngere Generation besaß jahrelang schlechte Berufsaussichten; frühere Heraushebung in Status, Kultur und Konsum war dahin. Arbeiten, die diese Prozesse für das Land und die Städte zumal der Provinzen Schlesien, Pommern und Ostpreußen nachzeichnen, sind dünn gesät, aber einige Lokalstudien haben den Weg großund kleinbürgerlicher Gruppen nach rechts rekonstruiert. Anstelle einer riskanten Marktgesellschaft und der Massendemokratie wünschten breite bürgerliche Kreise eine überparteiliche, sozialharmonische „nationale Volksgemeinschaft“, in der jeder seinen angemessenen Platz erhielte: Das Bürgertum als Elite, mittelständisches Kleinbürgertum ohne sozio-ökonomische Bedrohungen, Arbeiter mit Abstand in der dritten Klasse. Schon vor 1914 gab es konservative Milieus im Bürgertum mittlerer Städte wie Erfurt oder Greifswald, zentriert um Beamte, selbständigen Mittelstand, Bildungsbürger, evangelische Kirche. Nach 1918 entstand vielerorts ein „Bürgerblock“, ein „nationales Lager“ in heftiger Konfrontation zu SPD und KPD, aber zunehmend unter Einbezug rechtsradikaler Strömungen. Ein Gutteil des Bürgertums dachte nun völkisch; ehedem bürgerliche Werte wurden völlig von Klassenegoismus und Nationalismus verdrängt. Gewalterfahrung hatte die Generationen seit 1914 geprägt; die krisenbehaftete Lage 1931/32 105 Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, München 1996, S.  633  ff. und Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992, S. 509–524 kontrastieren mit Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870– 1914, Göttingen 2005, S. 293 ff. GStA PK, Rep. 76, Va Sekt. 8 Tit. 4 Nr. 32 Bd. 10, Bl. 366 ff. (Zitat Hartung). Emil Kraatz, Aus dem Leben eines Bürgermeisters und der von ihm in den letzten 37 Jahren verwalteten Städte, Leipzig 1914, S. 176 f.

4. Preußens Arbeiterbewegung – Die Sozialdemokratie 1863–1933  

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ließ viele eine autoritäre Staatsform wie im Kaiserreich ersehnen. Der Schriftsteller Thomas Mann forderte in seinem „Appell an die Vernunft“ 1930 vergeblich, „daß der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie ist (…), die geistigen Überlieferungen deutscher Bürgerlichkeit gerade sind es, die ihr diesen Platz anweisen“. Große Teile des protestantischen Bürgertums, markant weniger die Katholiken, votierten 1932/33 für die NSDAP als probatem Mittel gegen Krisenphänomene und sozialistische Arbeiterbewegung. Bürgertum und liberale Bürgerlichkeit waren weithin entkoppelt.106

4.

Preußens Arbeiterbewegung – Die Sozialdemokratie 1863–1933

Die Arbeiterbewegung war die größte demokratische Emanzipationsbewegung Preußens. Gleichwohl kommt sie z. B. in Christopher Clarks Darstellung kaum vor, was wohl etwas aussagt über die populäre Preußen-Historiographie. Vermutlich besteht die Vorstellung, Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie seien nur deutsche, nicht (auch) preußische Phänomene gewesen, von geringer kultureller Relevanz, ihre Erforschung sei hinreichend erfolgt und zumal nach dem Ende des Staatssozialismus keiner näheren Befassung mehr wert. Doch bleiben Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie wichtige historische Kräfte mit Erfolgen, Schwächen und durchaus preußischen Prägungen, die die Betrachtung erfordern. Es geht schließlich um Millionen von Menschen und – im Kontrast zum Preußen der Monarchen, Militärs, junkerlichen Großgrundbesitzer – viele Vorkämpfer der friedlichen, sozial gestalteten Gegenwart, die die Aufmerksamkeit der Historiographie nach wie vor beanspruchen dürfen. Die erste nationale Organisation, die 1848 gegründete „Arbeiterverbrüderung“ bestand wesentlich aus rd. 15.000 Handwerksgesellen und Mitgliedern von Bildungsvereinen; Sachsen, Hamburg, Hannover und Rhein-Main-Neckar hießen die Zentren. Ziel war ein demokratischer Staat (gleiches Wahlrecht, Koali­tionsrecht, gerechte Steuern) mit sozialen Komponenten (Mindestlohn, Arbeitsnachweis, 106 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 299 (Zitat). Schäfer, Geschichte des Bürgertums, S. 179 ff. Klaus Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: Ders./­ H.-U. Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317– 353. Lokalstudien: Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933, Düsseldorf 1996; Steffen Raßloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln 2003, S. 412 ff.; Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990, Düsseldorf 2000; Hans-Walter Schmuhl, Halle in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Halle/S. 2007, S. 87 ff. H. Kurzke (Hg.), Thomas Mann, Essays, Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, S. 124 (Zitat 1930).

128  IV. Preußens Gesellschaft Staatshilfe für Arme/Kranke, kostenfreie Bildung). Die Arbeiterverbrüderung folgte im Kern dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; Marx’ Kommunistisches Manifest („Proletarier aller Länder vereinigt euch“), spielte fast keine Rolle. Die Arbeiterverbrüderung wurde im Deutschen Bund verboten. Nicht Kommunismus, sondern konkrete demokratisch-soziale Reformen erstrebten auch die beiden Ursprungsorganisationen der Sozialdemokratie, der 1863 von F. Lassalle in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Der in Sachsen, Hamburg und am Rhein starke ADAV setzte politisch auf allgemeines Wahlrecht und wirtschaftlich wegen seiner Handwerker-Mitgliedschaft auf selbstverwaltete Genossenschaften, was 95 % der Bevölkerung zugutekommen sollte. Lassalle erhoffte sich dazu gerade vom Preußen Bismarcks Staatshilfe und bekämpfte die liberale Bourgeoisie im Verfassungskonflikt. Als Gründer der ersten eigenständigen Partei wurde der schon 1864 bei einem Duell getötete Lassalle zur Ikone vieler Sozialdemokraten. Als Parteiführer amtierten danach jedoch Liebknecht und Bebel. Beider aus der Sächsischen Volkspartei und linksliberal geführten, mittel- und süddeutschen Arbeitervereinen hervorgehende SDAP war dezidiert antipreußisch und (großdeutsch-) demokratisch. Sie nahm die politischen Forderungen der Arbeiterverbrüderung auf und propagierte wirtschaftlich ähnlich dem ADAV Bildung von Genossenschaften, um Arbeitern den vollen Lohnertrag zu sichern. Die politischen Freiheits-Forderungen standen obenan; nur im demokratischen Staat sei die soziale Frage lösbar. Ökonomisch-betrieblich trat in der Hochindustrialisierung nach 1870 ein Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit offener zutage; immer mehr Arbeiter in Handwerk und Fabriken teilten Arbeitsplatzprobleme, Wohnquartiere und Kommunikationsorte, kurz eine Lebenslage. Zur bewußten Klasse formten Streikwellen für Lohnerhöhung und bessere Arbeitsbedingungen die Arbeiter, aus Arbeitskämpfen erwuchs Solidarität; Niederlagen bestätigten das Bild vom Klassenstaat und vom raffgierigen Kapital. Noch 1870 waren jedoch von 60.000 Arbeitern in Gewerkschaften nur 40 % sozialdemokratisch, gleichfalls 40 % liberal und 20 % christlich orientiert. Wichtiger als ökonomische Konflikte waren für die konkrete Ausformung jedoch politische Ereignisse. Erstens zerstob mit der Reichsgründung 1871 unter Zustimmung der Nationalliberalen und bei Bedeutungslosigkeit bürgerlicher Linksliberaler bzw. Demokraten besonders in Preußen jede Aussicht auf den demokratischen Nationalstaat. Zweitens lehnten ADAV wie SDAP im September 1870 die Fortführung des Krieges gegen die neue französische Republik und die Annexion Elsaß-Lothringens entschieden ab; Bebel, Liebknecht und andere wurden verhaftet, wegen Hochverrats verurteilt; sie saßen – höchst symbolträchtig – am 18. Januar 1871 im Gefängnis. Allerdings erschreckte Bebels Satz, die blutige Ausrufung der Pariser Kommune sei nur ein „kleines Vorpostengefecht“ der kommenden Revolution weite bürgerlich-liberale Kreise. Drittens

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erlaubten Liberalisierung im Recht, der Wirtschaftsaufschwung der Gründerzeit und das gleiche Männerwahlrecht zum Reichstag ab 1867 ADAV und SDAP die Eigenständigkeit als politische Partei; sie erzielten bei ca. 30.000 Mitgliedern 1874 bereits 352.000 Stimmen (7 %), was ihr Selbstbewußtsein stärkte. Zugleich begann 1874 in Preußen und Sachsen staatliche Repression gegen beide Parteien und „kontraktbrüchige“ Streikende; dieser Druck führte sie zusammen. Die 1869 angelegte Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie, so die berühmte Formulierung des Historikers Gustav Mayer, schloß man 1875 in Gotha ab: ADAV und SDAP vereinigten sich zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP, ab 1890: Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Diese im Vergleich zum industrialisierten England und zum republikanischen Frankreich um Jahrzehnte frühere Bildung einer von Liberalen und Demokraten gelösten, separaten Partei, war wesentlich durch die Reaktionsdekade, den Ausgang des Verfassungskonflikts und die Erfolge Bismarcks in Preußen bedingt. Dagegen hielt sich in Württemberg, Baden, dem Rhein-Main-Gebiet und einigen Städten Bayerns die 1868 gegründete Deutsche Volkspartei über Jahrzehnte als beachtliche Kraft von Demokraten mit Leitfiguren wie Carl Mayer, Leopold Sonnemann, Friedrich Payer, Conrad Haußmann, Ludwig Quidde oder Ludwig Haas; sie errang je sieben bis zehn Mandate im Reichstag. Die Volkspartei war preußenkritisch, trat nach 1895 für demokratische Wahlrechte und Regierung aus der Parlamentsmehrheit ein, wollte föderale wie kommunale Selbstverwaltung stärken, befürwortete den badischen Großblock 1905 und allmähliche Brückenbildung zur SPD, initiierte den linksliberalen Zusammenschluß zur Fortschrittlichen Volkspartei 1910 und engagierte sich für Abrüstung sowie deutsch-französische Verständigung. In Preußen gab es eine Demokraten-Partei nach 1866 faktisch nicht mehr: Als Symbol kann der Übertritt des Königsberger 1848er Demokraten Johann Jacoby zur Sozialdemokratie 1872 gelten. Sie führte nun die demokratischen Positionen von 1848/49 fort. Die SAP propagierte im Gothaer Programm 1875 keineswegs die kommunistische Revolution, sondern die Schaffung des sozialen Volksstaats mit friedlichen Mitteln. Die Kernanliegen der Partei blieben auch in späteren Jahrzehnten politische Demokratie, soziale Gerechtigkeit und außenpolitischer Ausgleich, nie leninistische Avantgarde-Partei und gewaltsame Ausmerzung anderer Schichten. Der antagonistisch denkende Marx kritisierte aus dem Londoner Exil das Gothaer Programm heftig: Wirkliche soziale Fortschritte seien im von Preußen dominierten Kaiserreich nicht erreichbar. Dieses war Marx zufolge „ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“. Daß diese Sichtweise in der Folge an Plausibilität gewann, hatte mit der Repression in Preußen zu tun.107 107 Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland 1863–1870 [1912], in: Ders., Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt/M. 1969, S. 108–178; Thomas Welskopp,

130  IV. Preußens Gesellschaft Seit 1872 initiierte Bismarck Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie; ab 1874 ließ er Staatsanwalt Tessendorf in Berlin mit dem Strafrecht vorgehen. Es gehe ihm um den „Vernichtungskrieg“ gegen die sozialdemokratische Bewegung inklusive Ausweisung und Internierung, äußerte Bismarck am 5. Juni 1878 im Staatsministerium. Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. konnte er das Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ durchsetzen, trotz im Bundesrat zögernder Regierungen nichtpreußischer Staaten. Im Reichstag stimmten 221 konservative und nationalliberale Abgeordnete dafür, 149 zentrumskatholische, linksliberale und Minderheiten-Abgeordnete dagegen. Es folgten Auflösung von Vereinen, polizeiliche Überwachung und strafrechtliche Verfolgung wegen „Aufreizung zum Aufruhr“, „Pressevergehen“ oder „Majestätsbeleidigung“. Rund 1500 Jahre Gefängnis wurden verhängt und etwa 1900 Funktionäre nebst ihren Familienangehörigen aus ihren Wohnorten ausgewiesen, 330 Vereine und 155 Presseorgane (zeitweise) verboten. Als „vaterlandslose Gesellen“ wurden Sozialdemokraten rundum ausgegrenzt. Offen wirken konnten nur sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und im Inland gegründete Tarnvereine. Presse und Funktionäre operierten oft von der Schweiz oder Dänemark aus. Das Sozialistengesetz wurde in Preußen besonders rigoros angewendet, in süddeutschen Staaten oder den Hansestädten war der Verfolgungsdruck geringer, so daß preußische Behörden dort striktere Anwendung anmahnten. Für viele um 1880 junge Sozialdemokraten stellte die Verfolgung dieser Dekade die prägende Erfahrung ihres politischen Lebens dar. Die unbeabsichtigte Wirkung des Sozialistengesetzes bestand also darin, daß Marx’ antagonistische Sichtweise an Geltung gewann. Dem Repressionsstaat und dem unveränderlich unmenschlichen Kapitalismus würde nur mit Systemumsturz beizukommen sein; erst dieser würde grundlegende Besserung für die Arbeiterklasse bringen, nicht AlmosenSozialpolitik oder um Deeskalation bemühte Gesten mancher Linksliberaler. Der Marxismus gewann damals eine dreifache Attraktivität: er war die im ärmlichen Alltag stabilisierende Weltanschauung, quasi-religiöse Erlösungshoffnung der Entrechteten und wissenschaftlicher Beweis des künftigen Siegs des Sozialismus. Im konfrontativen Klima zumal Preußens entstand der Widerspruch zwischen marxistisch-revolutionärer Theorie und auf reformistische Praxis beschränkten Handlungsmöglichkeiten. Er wurde auch nach 1890 immer wieder durch fortlaufende staatliche Repression bestätigt, beispielsweise rd. 1300 Jahre Gefängnis und

Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 614–621, 751 f. James C. Hunt, The People‘s Party in Württemberg and Southern Germany, 1890–1914, Stuttgart 1975, S. 167–182; Ludwig Elm, (Süd-) Deutsche Volkspartei 1868–1910, in: D. Fricke u. a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 4, Leipzig 1986, S. 171–179. K. Marx/F. Engels, Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin 1980, 568 (Zitat).

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knapp 600.000 M. Geldstrafe für Vergehen von Arbeitern gegen politisch gesetzte Strafrechtsparagraphen, und blieb jahrzehntelang unaufgelöst.108 Ökonomische Besserstellung erstrebte die freie Gewerkschaftsbewegung, die 1890 rund 200.000 und 1913 2,5 Mio. Mitglieder besaß, damit liberale Gewerkvereine (0,1 Mio.) und christliche Gewerkschaften (0,35 Mio.) klar überflügelnd. Organisiert waren vor allem Industrie(fach)arbeiter, 1913 gut 1/3, überwiegend in (Groß-)Städten und in mittelgroßen Fabriken. Preußens Ost-West Unterschiede und die daraus folgende Westwanderung erschwerten die Gewerkschaftsarbeit. Funktionäre beklagten 1896, dem Niedriglöhne gewohnten Ostelbier erscheine die Metallindustrie an Rhein und Ruhr als ein Arbeiter-Eldorado, in dem Gewerkschaften unnötig seien. Tatsächlich gab es gewerkschaftlich schwer erreichbare Gruppen, nämlich Millionen Heimarbeiter, Tagelöhner, Dienstboten, Landarbeiter, Frauen. Somit vertraten 1914 weder Gewerkschaften noch SPD alle körperlich Arbeitenden. Ungeachtet großer Einkommensunterschiede zwischen den Branchen – Metall- oder Druck- entlohnten besser als Nahrungsmittel- oder Textilbranche – waren Gewerkschafter stolz auf ihre Erfolge bei Löhnen oder Arbeitsschutz; die Funktionäre gerieten zum Bollwerk des Reformismus. Schon 1899 wies der Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien die marxistische Zusammenbruchserwartung zurück; man wünsche nicht den „großen Kladderadatsch“, sondern ruhige Fortentwicklung. Massenstreiks für politische Ziele wie Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts oder Kriegsverhinderung lehne man ab. Umgekehrt kritisierte 1906 Rosa Luxemburg, daß in den Gewerkschaften Arbeiter statt zur Zertrümmerung des kapitalistischen Systems zu Disziplin und passivem Gehorsam erzogen würden. Daß an sich revolutionäre Arbeiter von reformistischen Führern fehlgeleitet worden seien, lautete seitdem ein Vorwurf von links außen. Diese Kritik überhöht aber die realen Zukunftshoffnungen der meisten Arbeiter um 1900: Nach Umfragen waren ihnen zuvörderst mehr Lohn, Freizeit und Kulturgenuß wichtig. Umgekehrt kann nicht, wie Christopher Clark nahelegt, von Versöhnung und Zustimmung zu Aufrüstung, Weltpolitik, Bismarckkult oder Wilhelm II. nach 1890 die Rede sein. Denn als Unterschicht erfuhren die Arbeiter individuell und die organisierte Arbeiterbewegung kollektiv die Monarchie

108 Klaus Tenfelde, Bismarck und die Sozialdemokratie, in: L. Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn u. a. 2001, S. 111–135, S. 124 ff. Wolfgang Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878–1890, Düsseldorf 1961, S. 94 ff., 239 ff. Gerhard A. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland, Bonn 1980, S. 42 (Strafen). Mildere Praxis: Stephan Resch, Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890, Düsseldorf 2012, bes. S. 296–310. ­Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und Interessenvertretung bis 1914, 3.  Aufl., München 1993, S.  181  f. Stefan Berger, Marxismusrezeption als Genera­ tionserfahrung im Kaiserreich, in: K. Schönhoven/B. Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 193–209.

132  IV. Preußens Gesellschaft oft genug repressiv; sie lehnten die kaiserzeitliche Politik ab, weit überwiegend auch Welt- bzw. Kolonialpolitik.109 Als 1890 das Sozialistengesetz endete, wuchs die Partei auf 200.000 Mitglieder und gewann bei Reichstagswahlen 1,4  Mio. Stimmen (19,7 %), bereits 59 % in Hamburg, 53 % in Berlin, 42 % in Sachsen. Vor allem in Städten gab es Arbeiterviertel-Milieu und sozialdemokratische Subkultur „von der Wiege bis zur Bahre“ – Konsum- und Sportvereine, Festtage (18. März, 1. Mai), Feuerbestattungsbund. Bei den Reichstagswahlen 1912 wurde die SPD mit 4,25  Mio. Stimmen (34,8 %) weitaus stärkste Partei; sie zählte eine Mio. Mitglieder, davon 16 % Frauen. Aber zugleich stieß die Sozialdemokratie an Grenzen: Wegen ihrer Theorie des sicheren Untergangs der Mittelschichten beim Kleinbürgertum; wegen ihrer Kirchenfeindschaft bei vielen Katholiken, die im Ruhrgebiet oder Oberschlesien mehrheitlich der sozialpolitisch engagierten Zentrumspartei anhingen; aufgrund strikter Herrschaftsverhältnisse bei den Landarbeitern; wegen der Ablehnung von Kleinlandwirtschaft bei den Bauern. Diese Faktoren bildeten auch die Haupthindernisse im östlichen Preußen, wo zwar städtische Reichstagswahlkreise in Breslau oder Königsberg bereits ab 1878/81 gewonnen werden konnten, aber das flache Land von Konservativen oder Freisinn dominiert wurde und wegen staatlichen Drucks noch 1894–99 die SPD-Parteiorganisation erst ab etwa 1900 entstand. In Ostpreußen geborene Funktionäre wie Otto Braun, Gustav Bauer, Arthur Crispien oder Hugo Haase wechselten in der Regel zeitig in Ämter in Berlin, der Breslauer Paul Löbe erst 1920 als Reichstagspräsident. Die Entwicklung der SPD und später auch der KPD in Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen bis 1933 näher zu untersuchen, stellt bis heute ein Desiderat der Forschung dar. Dreiklassenwahlrecht und konservative Machtdominanz im Staat erbitterten jahrzehntelang. Aus Protest dagegen beteiligte sich die SPD lange nicht an den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus. 1897 empfahl Bebel jedoch die Teilnahme und der Parteitag folgte ihm. 1903 reichten 18,8 % Wähleranteil zu keinem Sitz. 1904 fand der erste Preußen-Parteitag statt und eine Landesor109 Zu den Segmenten der Arbeiterklasse vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd.  3, S. 772–804. Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, Bonn 2000, S. 77 ff., 102 f. (Luxemburg-Kritik). Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848–1983, Frankfurt/M. 1983, S. 97 (Legien). Das gültige Gesamturteil geben: Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 84 ff., 688 f. Clark, Preußen, S. 679, interpretiert die von Richard J. Evans, Kneipengespräche im Kaiserreich, Reinbek 1989, gesammelten Arbeiter-Äußerungen gegen Bismarck-Kult, Militarismus, Kolonialismus und Weltpolitik unverständlicherweise als Zustimmung; dies moniert zu Recht Eberhard Demm, „Sic volo sic jubilo“. Das 25. Regierungsjubiläum Wilhelms II. im Juni 1913, in: Archiv für Kulturgeschichte 93,1 (2011), S. 165–207, S. 204 f. Zum Thema Arbeiter und Kolonialismus vgl. Kap. 7.

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ganisation entstand. Sie verblieb jedoch ein Jahrzehnt im Schatten des Berliner Hauptvorstandes, der eine separate Preußen-SPD als schwächende Zersplitterung empfand. Preußens SPD thematisierte die Wohnungsfrage, das Volksschulwesen, die Polenpolitik, die Lage der Landarbeiter sowie zentral das Dreiklassenwahlrecht, wogegen 1910 Hunderttausende auf die Straße gingen. Wegen des sehr ungleichen Wahlrechts erreichte die Partei 1913 mit 776.000 Stimmen (28,4 %) ganze 10 (großstädtische) Mandate, die beiden konservativen Parteien mit 460.000 Stimmen (16,8 %) volle 200, denn von 2,7 Mio. Männern wählten 2 Mio. in der dritten Klasse. Bebel formulierte 1910, nur wer die Macht in Preußen hat, hat sie in Deutschland – aber dafür bestand auch in den letzten Vorkriegsjahren keine Aussicht. Als Resultante aus politischer Handlungsrestriktion, marxistischer Zusammenbruchserwartung und ansatzweiser Integration in den Nationalstaat rechtfertigte Parteitheoretiker Karl Kautsky die Taktik des Abwartens mit der berühmten Formel, die SPD sei eine revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei.110 In Süddeutschland hingegen begann früh der Reformismus; beispielsweise stimmte man in den Landtagen von Baden und Hessen erstmals 1891 dem Staatsetat zu. Denn in süddeutschen sowie in einigen thüringischen (Klein-)Staaten waren die Verhältnisse weniger konfrontativ: aufgrund langsamerer Industrialisierung ohne mächtige Schwerindustrie, aber verbreitetem Kleinlandbesitz unter Arbeitern; wegen des Fehlens von starken (adels)konservativen Parteien und zu parlamentarischen Zweckbündnissen bereiten Zentrumskatholiken oder Liberalen; wegen daraus erwachsender Staats- und Kommunalwahlrechtsreformen ab 1900; aufgrund des Fehlens von großen Kontroversen wie im Reichstag; wegen geringerer Repression unter beamtenliberalen Regierungen und weithin geteilter Ablehnung preußischer Dominanz und Härte. Süddeutsche Strukturen und Reformismus führten im Landtag Badens dazu, daß 1905/09–13 ein Arbeitsbündnis aus Liberalen und SPD bestand und 1914 kein süddeutscher Abgeordneter gegen die Kriegskredite votierte. In Preußen vor allem blieb die SPD ausgegrenzt – trotz gewisser parlamentarischer Gemeinsamkeit mit dem Zentrum gegenüber der Regierung bis 1893 und lokalen Stichwahlbündnissen mit Linksliberalen ab 1903.111 110 Wilhelm Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer, Würzburg 1973; Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004, S. 439 ff. Theodor Oliwa, Paul Löbe. Ein sozialdemokratischer Politiker und Redakteur. Die schlesischen Jahre (1875–1919), Neustadt/ Aisch 2003, S. 34 ff.; Manfred Rexin (Hg.), Preußen und die Sozialdemokratie, Berlin 1981, S. 6–54; Helga Grebing, Die Bedeutung der Sozialdemokratie im historischen deutschen Osten für die Geschichte der Arbeiterbewegung und der Demokratie http://helgagrebing.de/doks/grebing_sozialdemokratie_deutschen_ osten.pdf. Thomas Kühne, Handbuch der Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus 1867–1918. Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten, Düsseldorf 1994, S. 54 f. 111 Die Differenz Preußen–Süddeutschland betonen Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S.  95–101, Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als

134  IV. Preußens Gesellschaft Ungeachtet aller Ablehnung Preußens wies die sozialdemokratische Arbeiterbewegung auch preußische Züge auf, wie auswärtige Beobachter vor 1914 und der Historiker H.-J. Puhle 1980 erkannten: Fixierung auf den Staat und Ordnungssinn, Organisationskult und autoritäres Funktionärsgebaren als aus der Staatsbürokratie entlehnter Habitus, Fehlen einer Strategie zur Gewinnung von Kleinbauern. Politische Machtlosigkeit in Preußen bei zugleich wachsenden Organisations- und Wählerzahlen unterfütterten den unaufgelösten Dualismus von reformistischer Praxis und Revolutionserwartung und -rhetorik. Die Parteistrategie wurde 1907 beim Stuttgarter Kongreß der Internationalen Arbeiter-Association, in der die SPD die führende Rolle beanspruchte, von europäischen, speziell französischen Sozialisten kritisiert. Die SPD, so Jean Jaurès, verurteile die Kooperation französischer Sozialisten mit Linksliberalen zur Demokratisierung der Republik als Reformismus, aber verwerfe zugleich das Mittel des politischen Streiks gegen Militarismus und Kriegsgefahr, den die französischen Sozialisten als Hauptdruckmittel ansahen. Die SPD verharre in Revolutionserwartung, aber tue zu wenig gegen die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, die das reaktionäre preußisch-deutsche Reich unbeirrt durch SPD-Reden aggressiv betreibe. August Bebel hielt dem entgegen, in Frankreich gingen Polizei und Militär härter gegen Streiks und Arbeiter vor; auch die Republik sei Klassenstaat. Der Soziologe Robert Michels, Parteimitglied, pflichtete der westeuropäischen Kritik 1907 publizistisch bei. Die inaktive Haltung der SPD zur Marokkokrise 1906, als französische Sozialisten demonstrierten und inhaftiert wurden, bestärkte seines Erachtens „die Abneigung, die die gesamte europäische Demokratie gegen Preußen-Deutschland erfüllt“. Die SPD sei mit dem „Schatten der Komplizität“ belastet, schrieb Michels. Tatsächlich verhinderte die SPD einen Beschluß der Internationalen Sozialistenkongresse, bei Kriegsgefahr den Generalstreik auszurufen. Dahinter stand Bebels Furcht, daß der Massenstreik gegen den Krieg nicht durchführbar sei und im Reich zur Militärdiktatur führen müsse. Im August 1914 votierten freilich auch alle sozialistischen Abgeordneten in Paris und fast alle in London für die jeweiligen Kriegskredite, denn man sah sich in Verteidigung gegen die Kriegserklärung aus Berlin. Ob bei einem Streikaufruf der Parteiführungen die Basis gefolgt wäre, ist zweifelhaft, da die gefürchteten „teutonischen Barbaren“ ja in Frankreich und Belgien einfielen. So trugen die meisten französischen Arbeiter im Zuge der Union sacrée die nationale Einheitsfront mit. Selbst gewerkschaftlich organisierte britische Arbeiter bewog Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: G. Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S.  215–242, S. 229–231 und zuletzt Karl Heinrich Pohl, Süddeutsche Wege zur Parlamentarisierung? Die SPD in Bayern, Baden und Württemberg (1890–1903), in: D. Lehnert (Hg.), SPD und Parlamentarismus. Entwicklungslinien und Problemfelder 1890–1990, Köln 2016, S. 69–95. Zum „Block“ in Baden Langewiesche, Liberalismus, S. 224 f.

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die brutale Mißachtung von Belgiens Neutralität und das Vordringen des offenkundig expansiven preußischen Heeres an die Kanalküste ab Mitte August zu regierungsloyalem Verhalten und hunderttausendfach zur Meldung als Kriegsfreiwillige. Die länderspezifischen politischen Kulturen prägten das Handeln der sozialistischen Bewegungen Europas stärker als sich deren Führungen bis 1914 eingestanden. Die internationale Klassen-Solidarität war im Klima des aufgeputschten Nationalismus und der von allen Regierungen propagandistisch zum eigenen Vorteil dargestellten Lage schwer organisierbar. Das Ausklinken aus „nationaler Solidarität“ im Konfliktfall fällt ja bis heute weltweit regelmäßig schwer und gelingt nur selten.112 In Berlin versuchten Kanzler und Kriegsminister im April 1913, die Reichstagsabgeordneten der SPD für die kostspielige Wehrvorlage zu gewinnen, indem sie die Aufrüstung anderer Mächte und die isolierte außenpolitische Lage des Reichs schilderten. Aktuell wolle niemand Krieg, aber käme er künftig, drohe Zweifronten- und Weltkrieg. Dies bewog Bebel, der zuvor die englische Regierung über Mittelsmänner mehrfach vor der Illusion der Kriegsvermeidung durch die deutsche Sozialdemokratie gewarnt und 1910 privatbrieflich geschrieben hatte, Preußen sei „ein fürchterlicher Staat, von dem in England Fürchterliches erwartet werden muß“, sich für die Landesverteidigung, zumal gegen Rußland, auszusprechen. 60 % der SPD-Fraktion votierten bei einer Probeabstimmung dafür. Um damit eine künftige innenpolitische Reformkoalition mit Linksliberalen und Zentrum anzubahnen und wegen der Finanzierung der Wehrvorlage durch direkte Besitzsteuern für Wohlhabende stimmte die SPD im Reichstagsplenum zu. Selbst die Andeutung, vermutlich die Neutralität Belgiens mißachten zu müssen, ließ die Mehrheit der SPD-Abgeordneten nicht am Friedenswillen des als ehrlich eingeschätzten Kanzlers Bethmann Hollweg zweifeln. Diesen Probelauf zur Gewinnung der SPD-Führung vor Augen war es im Juli 1914 oberstes Ziel des Kanzlers, Rußland als Kriegsschuldigen hinzustellen. Die geschickte Inszenierung der Berliner Regierung, es gehe um Landesverteidigung gegen den „russischen Despotismus“ war ein erster Hauptgrund, der die SPDReichstagsfraktion am 4.8.1914 zur Zustimmung zu den Kriegskrediten moti112 Hans-Jürgen Puhle, Preußen: Entwicklung und Fehlentwicklung, in: Ders./Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, S. 11–42, 33–35. Robert Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im Internationalen Verbande, in: Ders., Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung, Essays hg. von Timm Genett, Berlin 2008, S. 135–197, Zit. S. 191 f. Wilfried Knauer, Die Kritik französischer Sozialisten an der deutschen Sozialdemokratie zur Zeit der II. Internationalen 1889–1914, in: W. Alff (Hg.), Deutschlands Sonderung von Europa 1862–1945, Frankfurt/M. 1984, S. 79–148. Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918– 1933/39), München 2010, S. 27–55, 102–106, 1091 ff. Friedrich Weckerlein, Streitfall Deutschland. Die britische Linke und die „Demokratisierung“ des Deutschen Reiches 1900–1918, Göttingen 1994, S. 101–125.

136  IV. Preußens Gesellschaft vierte, wenngleich bei 14 fraktionsinternen Gegenstimmen. Andere Gründe, die auf der Entwicklung in Preußen gründeten, traten in unterschiedlicher Mischung hinzu. Es gab zweitens die Ängste vor Repression schlimmer als beim Sozialistengesetz; Verhaftungen von Funktionären und Parteiverbot wurden in Preußen auch tatsächlich vorbereitet. Die sozialdemokratischen Organisationen zu erhalten, galt vielen als Primärziel und Basis künftigen Wirkens. Drittens hegte man auf der Linken die ideologisch begründete Erwartung, daß ein (kurzer) Krieg die sozialistische Revolution befördern werde, und bei Reformisten die Perspektive, daß große politische Reformen folgen müßten. Dies galt zumal für das Dreiklassenwahlrecht, durch dessen Wegfall die SPD in die Regierung gelangen werde. Der Abgeordnete Ludwig Frank schrieb, er sei zur Beseitigung dieses ungerechten Systems ausgerückt. Viertens gab es eine Erschütterung der Oppositionshaltung durch die bloße Tatsache des Krieges, der vielen keine Alternative zum Ja, etwa mittels naheliegender Stimmenthaltung, zuzulassen schien. Dieses Motivbündel bewirkte, daß Ludwig Frank, 1913 Anreger eines versöhnlichen deutsch-französischen Parlamentariertreffens, sich als Kriegsfreiwilliger meldete und noch 1914 an der Westfront fiel. Ein sozialpsychologischer fünfter Grund war, daß eine Wendung gegen die eigene Nation und der Vorwurf der Reichsfeindschaft insbesondere Führungsfiguren unerträglich waren. Aus der bisherigen Ausgrenzung, der Wirkung der Sozialisationsinstanzen und Organisationsstolz folgte eine Sehnsucht nach Teilhabe, Gleichberechtigung, Integration. Lange vorhandenes Nationalgefühl und der partielle Einbezug vieler Arbeiter in den deutschen Nationalstaat durch Wohlstandszunahme, Kulturteilhabe oder Mitgliedschaft in Gremien der Sozialversicherung trugen dazu bei. Ende 1913 sprach der Gewerkschafter Gustav Bauer offen aus, daß Arbeiter großen Nationalpatriotismus besäßen und schon wirtschaftlich am Gedeihen, ja dem Kriegssieg Deutschlands interessiert seien. Der sozialpsychologisch erklärbare Wunsch, statt bisheriger Isolierung in der bürgerlichen Welt nun Anerkennung zu ernten, schien mit der stilisierten nationalen Einheit im August 1914 in Erfüllung zu gehen, zumal für die Funktionäre. Die 750.000 Menschen der Parteibasis, die noch in der letzten Juli-Woche 288 Demonstrationen in 163 Städten besucht hatten, folgten der Führung, als diese das staatlich verhängte Demonstrationsverbot hinnahm und sich damit aller Druckmittel begab. Das Ja führender SPD-Funktionäre zu den Kriegskrediten – obwohl Berlin den Krieg erklärte und Belgien überfiel – kann man ihnen rückblickend zum Vorwurf machen. Zugleich ist aber auch erkennbar, daß preußische Prägungen diese Haltung erklären. Denn jahrzehntelange repressive Ausgrenzung, Organisationskult und Sehnsucht nach Akzeptanz bildeten das innenpolitische Motivbündel; Aversion und Angst gegenüber Rußland als einer gewalttätigen zaristischen Despotie, seit Marx und Engels ideologische Tradition, bildeten den außenpolitischen Grund für die Zustimmung der SPD 1914. Die verfehlte Außenpolitik bis 1914

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sowie die Eskalationsschritte der Berliner Reichsführung während der Julikrise hat die Sozialdemokratie jedoch sicherlich am wenigsten zu verantworten. Sie hatte lange Jahre dagegen gewirkt und davor gewarnt.113 Als 1915/16 allmählich klar wurde, daß Deutschlands Eliten Gebietseroberungen anpeilten, die sog. Burgfriedenspolitik nicht zu substantiellen politischen Zugeständnissen an Partei und Arbeiter, etwa beim Dreiklassenwahlrecht oder in den Betrieben, führte, und trotz Chancen zum Friedensschluß der Krieg mit vielen Toten weiterging, nahm die Zahl der Kriegsgegner zu. Karl Liebknecht konstatierte Ende 1914 öffentlich den kapitalistischen Angriffs- und Eroberungskrieg. 1917 spaltete sich die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD) ab. Millionen Tote, Friedenssehnsucht und die Hinhaltetaktik preußischer Eliten nährten die Revolte 1918. SPD und Gewerkschaften erstrebten in der Folge überwiegend den Verständigungsfrieden mit den Alliierten und eine parlamentarische Republik, demokratische Selbstbestimmung, fixierte Bürgerrechte, Sozialstaat und humanisierte Arbeitswelt, insgesamt die schon im Erfurter Programm 1891 fixierten Nahziele. Die Alternative einer Minderheit, die Partei-Diktatur wie in Rußland, fürchteten sie, einem Wort Friedrich Eberts zufolge, wie die Sünde. Mit Gewalt und erneutem Blutvergießen, Rechtsbrüchen und Enteignung von (Groß-) Betrieben eine sozialistische Revolution zu erzwingen, widerstrebte ihnen aufgrund anerzogener und internalisierter Mentalität. Die ehrliche Kooperation mit moderaten bürgerlichen Gruppen hielten viele Sozialdemokraten für nötig, um den neuen republikanischen Staat dauerhaft zu etablieren. Die Kehrseite davon, die Spaltung der Linken, wirkte indessen mehrfach als Schwächung von Republik und Freistaat. Erst im Rückblick wurde SPD-Funktionären klar, daß sie ihren Handlungsspielraum zum Abbau alter Machtstrukturen nicht ausgenutzt und zu eng mit bürokratischen wie wirtschaftlichen Eliten kooperiert hatten. Speziell das Militär hätte umfassender republikanisiert werden müssen. Zumal der brutale Einsatz von Freikorps gegen eigene (frühere) Parteigenossen mit weitreichenderen politischen Zielen unter Noske 1919 wirkte langjährig vergiftend im Sinne des bekannten Schlagworts „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“. Gerade 113 Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M. 1973, S.  427  ff. und Helmut Bley, Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904–1913, 2. Aufl., Hannover 2014, S. 28 ff., 64 ff. (Wehrvorlage). Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993, S. 18–89. Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S.  54–64, 88  ff., 121  ff., Zitat Bauer S. 153 f., Zitat Frank S. 160. Argumente konzentriert bei Janz, 14. Der große Krieg, S. 195–202 und Walter Mühlhausen, „Völker, hört die Signale“? Internationalismus und Nationalismus der SPD am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: D. Mares/D. Schott (Hg.), Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bielefeld 2014, S. 169–192.

138  IV. Preußens Gesellschaft in der ersten Zeit nach dem November 1918 hätte man mutiger demokratisieren können, aber Legalität und Disziplin, Ordnungsdenken und zudem die feste Hoffnung, nach dem Ende der Hohenzollern-Monarchie werde eine breite Volksmehrheit sukzessive sozialistische Reformen unterstützen, bestimmten das Handeln – erneut ein Indiz für das preußische Erbe. Die Demokratie im Staat wurde 1918/19 eingeführt, kein geringer Erfolg, aber sie blieb in Wirtschaft, bürgerlicher Gesellschaft und politischer Mentalität gefährdet.114 Die SPD war die größte Trägerpartei der Weimarer Republik wie des Freistaats Preußen, die nun als soziale Demokratie gestaltet werden sollten. Von Anfang an bedeuteten schwere außen- wie innenpolitische Kriegsfolgen eine objektive Überbürdung mit Problemen. Die hohen Erwartungen der Parteianhänger endeten in Frustration, weil die Demokratisierung zu langsam voran ging und kaum Schritte in Richtung sozialistische Gesellschaft erkennbar waren, stetige Verteilungskonflikte in der Wirtschaft mit mageren Kompromissen endeten und die bereits erwähnte Kooperation von Männern wie Gustav Noske mit der Reichswehr, ja Freikorps gegen sozialistische Arbeiter 1919–23 langwirkende Verbitterung erzeugte. Nicht nur die Arbeiterbewegung war gespalten, sondern Arbeiter- und Bürger-Milieus nach wie vor getrennt, ab 1930 sogar polarisiert. Das Milieu der Arbeiterbewegung umfaßte ca. 40 % der Bevölkerung, in industriellen Zentren deutlich mehr; wie vor 1914 blieben vielfältige Organisationen arbeiterspezifisch abgegrenzt. Von offeneren Bildungswegen profitierte nach 1945 die Kindergeneration Weimars. In den wenigen republikanischen Jahren selbst erfolgte sozialer Aufstieg nur begrenzt; vor allem über Gewerkschaft und Partei waren höhere Posten erreichbar. Nicht zuletzt erhielten die Frauen durch die sozial-demokratische Republik das Wahlrecht, leichteren Bildungszugang (27 % der Abiturienten von 1932 waren junge Frauen), mehr berufliche Möglichkeiten und neue Räume individueller Selbstbestimmung; in den Führungsrängen von Partei oder Gewerkschaften blieben sie jedoch rar. Drei zentrale Felder der Auseinandersetzung in der Republik seien skizziert. Erstens erstarkte auf betrieblicher Ebene der Allgemeine deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) mit 1920 rd. 8 Mio. Mitgliedern, 1930 noch knapp 5 Mio. Positiv zu bilanzieren waren freies Streik- und gewerkschaftliches Tarifrecht, prinzipiell achtstündige Arbeitszeit (freilich an sechs Tagen), Lohnsteigerungen 1924–29 und 3–12 Tage bezahlte Urlaubstage. Daß bei Tarifkonflikten seit 1924 letztlich Staatsstellen zu schlichten hatten, zog den Staat in Verteilungskonflikte hinein und beide Seiten betrachteten ihn deshalb kritisch. Viele Arbeitgeber sprachen 114 Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik, 8. Auflage, München 2013, S. 22 f., 173–177. Erfurter Programm in: Thomas Meyer u. a., Lern- und Arbeitsbuch Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd.  1, Bonn 1984, S.  190  f. Simone Ebert, Wilhelm Sollmann. Sozialist – Demokrat – Weltbürger (1881–1951), Bonn 2014, S. 161 ff., 178 ff., 557 f.

4. Preußens Arbeiterbewegung – Die Sozialdemokratie 1863–1933  

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gar vom „Gewerkschaftsstaat“, obwohl der Schlichterspruch von SPD-Ministern beim Ruhreisenstreit Ende 1928 eher zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit der Metallindustriellen ausfiel. Seit 1920 gab es Betriebsräte, aber deren Mitsprache blieb in der Praxis begrenzt. Gewerkschafts-Vorstellungen von Wirtschaftsdemokratie im Sinne von Mitbestimmung in Großbetrieben bezeichnete der vom kaiserzeitlichen Herr-im-Hause-Standpunkt geprägte Ruhrindustrielle Emil Kirdorf als „Untergang des Deutschtums“. Wenngleich der sozialdemokratische ADGB mit 85 % dominierte, gab es Konkurenz: die zentrumsnahen christlichen Gewerkschaften (0,6 Mio. Mitglieder), den rechtsstehenden Deutschnationalen Handlungsgehilfen Verband (DHV) mit Hunderttausenden Angestellten und seit 1929 die KPD-nahe Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (0,3 Mio. Mitglieder). Die letzte sozialpolitische Errungenschaft, die 1927 etablierte Arbeitslosenversicherung, lieferte 1930 dann Arbeitgebern und rechten Kreisen den Anstoß, die Verdrängung der SPD aus der Regierung zu betreiben. Zweitens kulminierte die 1917/18 erfolgte Spaltung der Arbeiterbewegung im erbitterten Gegensatz zwischen SPD und KPD. Die lange Zeit doppelt so große SPD organisierte primär (ältere) Industriefacharbeiter, die KPD (jüngere) Angelernte und viele Erwerbslose. Die KPD erstrebte revolutionäre Umgestaltung nach sowjetischem Vorbild und verteufelte die SPD seit dem sog. Blutmai des 1.5.1929 – Straßenschlachten zwischen Rotfrontkämpferbund und preußischer Polizei in Berlin führten zu 30 Toten – als „Sozialfaschisten“. Nicht im Linksbündnis stärkere sozialistische Umgestaltung der Republik durchgesetzt zu haben, wurde der SPD von zeitgenössischen Kritikern, z. B. Heinrich Ströbel, und Historikern später vorgeworfen. Wohl war die SPD recht zaghaft, aber breite Sozialisierung besaß allenfalls eine Mehrheit in der Arbeiterschaft, nicht jedoch in der Gesamtbevölkerung oder im Parlament. Mehrheitsentscheidung, Rechtsstaat und Gewaltablehnung waren alte Prinzipien der SPD. Unter dieser Vorgabe konnte sozialistische Umgestaltung nur im Parteiprogramm als Fernziel formuliert werden; eine sofortige Umsetzung wäre in der realen Republik wie in Preußen nur unter Bruch des demokratischen Rechtsstaats zu erreichen gewesen. Da selbst Parteilinke wie Ströbel, der 1931 die SPD verließ und 1932 in die Schweiz zog, die revolutionärgewalttätige Vorgehensweise der KPD ablehnten, sind praktikable Alternativen kaum erkennbar. Unter den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie blieb die SPD seit 1919 auf bürgerliche Koalitionspartner (Zentrum, Liberale) angewiesen und konnte so nur reformistische Politik der kleinen Schritte betreiben. Das enttäuschte manche Anhänger: „Republik, das ist nicht viel, Sozialismus bleibt das Ziel“, reimten Jungsozialisten, darunter 1931 auch Willy Brandt. Drittens spitzte sich die Situation in Preußen zu. Der Ökonom und Parteitheoretiker Rudolf Hilferding lobte noch auf dem Kieler Parteitag 1927 das sozialdemokratische Preußen als „stolze Feste im Lager der Republik“ und proklamierte als Aufgabe der SPD, „es zu einer stolzen Feste im Lager des Sozialismus zu machen“. Aber mit der Weltwirtschaftskrise ab Herbst 1929 verlor die Arbeiterbe-

140  IV. Preußens Gesellschaft wegung Marktmacht und mußte Sozialstaatskürzungen zur Haushaltskonsolidierung hinnehmen. Die deswegen 1930 aus der Reichsregierung ausgeschiedene SPD befand sich zunehmend auch politisch in der Defensive. Denn mit den Präsidialkabinetten im Reich und bei dem Rechtsdrall von Reichspräsident Hindenburg, ökonomischer Verzweiflung im Lande und einem Anstieg der KPD ging es bald nur noch um die Verteidigung der Republik. Aus Verantwortungsgefühl und um die Koalition in Preußen zu erhalten, tolerierte die SPD im Reich das Präsidialkabinett von Zentrumskanzler Brüning. Angesichts dessen und bei Massenarbeitslosigkeit infolge der Wirtschaftskrise konnte die SPD nur noch eine Minderheit der Arbeiter an sich binden. Ihr Stimmenanteil sank in Preußen von 36 % (1919) über 29 % (1928) auf 17 % (1932), während die KPD auf 13 % stieg (im Reich auf 17 %) und die Rechte (DNVP/DVP) zwar von 26 % (1928) dramatisch auf 8 % (1932) abnahm, viele Wähler jedoch zur allen alles versprechenden ­NSDAP wechselten (36 % 1932). Nun votierten auf dem Land und in Kleinstädten 40 % der Handarbeiter für die NSDAP und deren „Volksgemeinschaft“; die SPD schien diskrediert, die Extreme verhießen Rettung. Ein Straßenkampf zwischen KPD- und NSDAP-Aktivisten (Altonaer Blutsonntag 17.7.1932) gab der deutschnationalen Reichsregierung Papen den gesuchten Vorwand, die preußische Regierung per Reichspräsidenten-Dekret abzusetzen. Gegen diesen Preußenschlag vom 20.7.1932 mit Generalstreik anzugehen, lehnten Partei- und Gewerkschaftsführung mit großer Mehrheit ab. Ihre Haltung ist später vielfach kritisiert worden. Aus der Sicht von 1945 hätte jede Chance zum Stopp der NS-Diktatur ergriffen werden müssen; deshalb formulierte Karl Dietrich Bracher schon 1955, daß eine Bekundung des Selbstbehauptungswillens der Demokratie selbst gegen überlegene Gewaltaktionen den neuen Machthabern ihren Triumph erschwert hätte. Aber die im Juli 1932 bei der SPD maßgebenden Gründe waren ehrenhaft: Die Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 erschien noch wenig wahrscheinlich und die Menschheitsverbrechen der NS-Herrschaft sowie der Weltkrieg waren gar nicht absehbar; der Einsatz preußischer Polizei und sozialdemokratischer Organisationen hätte voraussichtlich blutigen Bürgerkrieg gegen die Reichswehr sowie die paramilitärischen Verbände Stahlhelm bzw. SA bedeutet und leicht in einer auf der Rechten begrüßten Militärdiktatur geendet; ein Generalstreik konnte bei Millionen Arbeitslosen wenig wirken; die große Autorität des Reichspräsidenten Hindenburg deckte den Preußenschlag. Die seit den Landtagswahlen des April 1932 abgewählte, nur noch geschäftsführende Preußen-Regierung und die vom Kampf gegen die braunen und roten Extremisten zermürbte Sozialdemokratie waren in dieser Lage kaum zu Widerstand fähig. „Wir konnten am 20. Juli 1932 nicht mehr kämpfen“, resümierte der an diesem Tag kurzzeitig verhaftete Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski später. Auch die Gewalteinsatz nicht scheuende KPD verhinderte Hitler nicht; sie unterschätzte die unlimitierte Staatsgewalt wie die fanatisierte NS-Massenbewegung gleichermaßen, so daß ab 1933 Zehntausende ihrer Anhänger Inhaftierung, ja Ermordung erlitten. Klar ist: Hitlers

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Weg zur Macht führte über die Ausschaltung von SPD, organisierter Arbeiterbewegung und demokratischer Preußen-Koalition.115

5.

Preußens Militär

Preußen sei kein Land, das eine Armee, sondern eine Armee, die ein Land habe, so lautet ein lange dem Grafen Mirabeau zugeschriebenes, aber tatsächlich bei dem Anhaltiner Georg Heinrich von Berenhorst nachlesbares Wort. Diverse Autoren des 18. Jahrhunderts urteilten so. Dem Piemontesen Vittorio Alfieri erschien Preußen 1769 als „ein einziges großes Militärkorps“, als „riesige preußische Staatskaserne“, ein Topos, der die Perzeption in Italien lange prägte. Der Engländer Neville Wyndham (1790) oder der Amerikaner William S. Smith (1785) äußerten sich ähnlich. Der Franzose Comte de Guibert staunte 1787 über den Respekt für das Militär und namentlich die Kenntnis berühmter Generale wie ihrer Schlachten selbst in den Unterschichten. Im Ersten Weltkrieg war die Beseitigung des preußischen Militarismus ein alliiertes Kriegsziel und der Frankfurter Kurt Riezler notierte Anfang 1917 ähnlich: „Die wenigen Sehenden in Deutschland haben insgeheim ein Kriegsziel, das ist die Vernichtung des preußischen Militarismus (des politischen) oder dessen, was dieser geworden ist, seit der Soldat aufgehört hat, gebildet zu sein. Niemand darf es sagen, weil es das englische Kriegsziel ist.“ Analog lautete die Begründung zum alliierten Auflösungsbeschluß von 1947, Preußen sei „from early days a bearer of militarism and reaction in Germany“ gewesen.116 115 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 310–323; Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, drei Bde., Berlin/Bonn 1984–87. Rüdiger Graf, Die Politik der reinen Vernunft – Das Scheitern des linken Sozialdemokraten Heinrich Ströbel zwischen Utopie und Realpolitik, in: A. Wirsching/J. Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2008, S. 131– 155. Groh/Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“, S. 194 Zitat Hilferding. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Berlin 1977, S. 746–755; Kolb/ Schumann, Weimarer Republik, S. 264 f. und Eberhard Kolb (Hg.), Albert Grzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, München 2001, S. 274–277 (Gründe am 20.7.1932). 116 Christian Graf v. Krockow, Warnung vor Preußen, Berlin 1993, S. 105, 213. Vittorio Alfieri, Mein Leben, übersetzt von G. Schlüter, Mainz 2010, S. 150 f. (Zitat); generell: Otto Weiß, Staat, Regierung und Parlament im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich im Urteil der Italiener (1866–1914), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Bibliotheken und Archiven 66 (1986), S.  310–377. Karin Friedrich, Brandenburg-Prussia 1466–1806, S. 76 f. (Wyndham); Grete Klingenstein, Lessons for Republicans: An American Critique of Enlightened Absolutism in Central Europa, 1785, in: S. Wank u. a. (Hg.), The Mirror of History (Festschrift F. Fellner), Oxford 1988, S. 181–211, 191 ff. (W. S. Smith); Timothy Blanning, The French Revolutionary Wars 1787–1802, London 1996, S. 9 (Guibert). Erdmann (Hg.), Riezler, S. 398 (Zitat Riezler 1917).

142  IV. Preußens Gesellschaft Wie kam es zu diesem Außenbild? Betrachtet man quantitative Indikatoren, dann ist die Größe des Heeres von rd. 30.000 Mann (1688) auf 83.000 (1740) und 194.000 (1786) gestiegen, wurde in der Friedenszeit (1819) auf 127.000 Mann beschränkt, um mit der Heeresreform Roons 1861 auf 212.000 zu wachsen. Im Kaiserreich betrug das Reichsheer 419.000 Mann (1874) bzw. 578.000 (1899), nach der 1913 beschlossenen Vergrößerung sollte es auf 793.000 Mann zunehmen. Dies ergab im Verhältnis zur Bevölkerungszahl vergleichsweise hohe 3,8 % bzw. 3,4 % (1740/1786), deutlich geringere 1,2 % (1819) bzw. 1 % (1874) und ähnliche 1,2 % (1914) – prozentual doch mehr als die Bundeswehr bis 1989 mit 0,8 %. 1740 besaß Preußen die viertgrößte Armee Europas, lag aber bevölkerungsmäßig nur an 13. Stelle; das Kaiserreich verfügte über die nächst Rußland zweitgrößte Heeresstärke. Zwischen 1648 und dem Zweiten Weltkrieg war das preußisch-deutsche Militär an 23 kriegerischen Konflikten beteiligt – neun bis 1750, sechs bis 1850, drei bis 1900, fünf bis 1939 – und damit quantitativ weniger involviert als die übrigen Großmächte. Die Militärausgaben von 70 % des Staatshaushalts unter Friedrich Wilhelm I. und 75 %–84 % unter Friedrich II. lagen allerdings über den ca. 50 % in Österreich oder den Niederlanden und sind mit den 74 % in England für Flotte und Subsidien wegen der anderen Gegebenheiten nicht kongruent. Der Militarismus-Vorwurf geht primär auf die spektakulären Kriege Friedrichs II. und Bismarcks sowie die Weltkriege zurück. Jedoch geht es beim Systembegriff Militarismus definitorisch nicht um numerische Militärstärke. Entscheidende Parameter waren vielmehr a) die institutionelle Sonderstellung des Militärs im Staat und b) die große Präsenz von militärischen Denkkategorien in Politik und Gesellschaft, somit in den sozialen Normen bzw. den Mentalitäten von Menschen. Jede Analyse des Phänomens Militarismus muß sich diesen begrifflichen Dimensionen stellen und kann nicht stattdessen mit prozentualer Kriegsbeteiligung oder impressionistischen Einschätzungen argumentieren.117 Im folgenden geht es um fünf überlappende Fragenkomplexe: Das Militärsystem des 18. Jahrhunderts und die These der frühen Sozialmilitarisierung Preußens; die Entwicklungslinie Befreiungskriege–Heereskonflikt–Reichseinigungskriege; 117 Armeestärke nach Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19.  Jahrhundert, München 2006, S.  15, 28; Manfred Messerschmidt, Das preußische Militärwesen, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3, S. 319–546, 366; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd.  3, S.  1112  f. Statistik nach Quincy Wright, A Study of War, Chicago 1942, S. 642 ff. Wolfgang Neugebauer, Staatsverfassung und Heeresverfassung in Preussen während des 18. Jahrhunderts, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, N. F. 13 (2003), S. 83–102, 101 (Etatzahlen). Zur Militarismus-Definition vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, Militärstaat Preußen. Zum Stand der Debatte über den „preußischen Militarismus” im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ch. Liermann u. a. (Hg.), Italien und Preußen. Dialog der Historiographien, Tübingen 2005, S. 109–121.

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das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in Preußen-Deutschland; die Rolle des Militärs in der Politik von der Bismarckzeit bis zum Ende Weimars; die mögliche Fernwirkung preußischer Prägungen in Kolonial- und Weltkriegen. Als Otto Büsch in den 1950er Jahren die Grundlegung des Militärstaats zu Zeiten Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. untersuchte, formulierte er Besonderheiten Preußens. Hier seien Heeres- und Agrarverfassung dadurch verschränkt gewesen, daß Adelige als Offiziere Soldaten befehligten, die sie in ihren Gutsbezirken durch das Kantonsystem von 1733 rekrutierten, und zuvor wie danach als Gutsherr beherrschten. Diese doppelte Herrschaft habe die Adeligen Ostelbiens zur Junker-Schicht werden lassen und die Bauern zu disziplinierten Untertanen geformt. Die im 18. Jahrhundert begründete Symbiose zwischen den Junkern und der Monarchie habe Preußen bis 1918 ebenso gekennzeichnet wie die Dominanz des Militärischen in Staat und Gesellschaft; die Armee sei Herrschaftsinstrument von Monarch und Junkern über das Land geblieben. Neuere, quellenbasierte Forschungen haben dieses kompakte Bild modifiziert. Die Identität von Offizier und Gutsherr bildete eine Ausnahme und eine kantonweise Rekrutierung zum Heeresaufbau ist in deutschen Staaten wie auch Schweden üblich gewesen, aber erfaßte nur Bruchteile aller Männer, zumal es erkleckliche Ausländer-Anwerbung gab. Die monatelange Beurlaubung von Soldaten zur heimischen Arbeit war die Regel und häufig desertierten sie. Bauern wie Städtern charakterisierten weder besinnungslose Militärfreudigkeit noch stete Untertänigkeit gegenüber Gutsherren/Staat. Militarisierung nahm nicht einbahnstraßenartig vom 18. ins 20. Jahrhundert zu, zumal Reform- und Revolutionszeiten dazwischen lagen. Die Kritik an der Sozialmilitarisierungsthese Otto Büschs muß aber mehrere Fakten anerkennen. Bauernschutz war nicht zuletzt Soldatenschutz und Adelsschutz war zugleich Offiziersschutz. Als Mittel der Sozialdisziplinierung von Untertanen läßt sich Militärdienst durchaus beschreiben. Besonders Friedrich II., der 1763 schrieb, der Soldat müsse den Offizier mehr fürchten als den Feind, begünstigte Adel bzw. Junker in Offiziersstellen und Rittergutsbesitz. Zwar wählten nicht alle Junker die Berufsoffizierlaufbahn, aber zeitweiligen Militärdienst leistete ein Großteil; die Stellenzahl wuchs von 1.000 (1688) auf über 5.000 (1786) und stieg bis 1914 auf 22.100, womit die militärische Prägung bei Junkern zunahm. Wenngleich auch in Österreich oder Frankreich ein Militäradel entstand, besaß Preußens Militäradel als staatliche Elite besondere Wirkungsmacht. Der Staat vergab an ehemalige Militärs sowohl subalterne Beamten- wie auch Landratsstellen. Der Militärhistoriker Bernhard Kroener bilanzierte, daß Preußens Großmachtwerdung „eine Verdichtung militärischer Präsenz, wie sie in den anderen großen Mächten nicht erreicht wurde“ bedeutet habe. Das Prestige des Militärs wurde seit dem „Soldatenkönig“, der ab 1725 stets in Uniform auftrat, durch die Kriege Friedrichs II. und 1864–71 Bismarcks enorm gehoben. Die besondere Stellung und Wertschätzung des Militärs in Preußen fiel auswärtigen Besuchern im Staate Friedrichs II. und

144  IV. Preußens Gesellschaft später im Reich Bismarcks bzw. Wilhelms II. auf, wie viele Berichte bezeugen. Auch wenn es breite gesellschaftliche Militarisierung nicht im 18. Jahrhundert, sondern erst nach 1866 gab: Daß Preußens Staatlichkeit lange Zeiträume in enger Verbindung mit militärischen Komponenten stand, ist nicht zu verkennen.118 Das 1806 unterlegene altpreußische Militärsystem wollten die Reformer um Scharnhorst, Gneisenau und Boyen ändern: Adelsprivileg im Offiziersstand (1806: 90 %), Prügelstrafe und ausländische Söldner sollten entfallen; institutionell wurden Militärbildungsanstalten auf akademischem Niveau und das Kriegsministerium begründet; operative Neuerungen sollten die Kampfkraft des Heeres erhöhen. Vor allem: die bisherige soziale und berufliche Sondergruppe Militär sollte mittels allgemeiner Wehrpflicht und Reserve-Landwehr mit der Gesellschaft so verknüpft werden, daß grundsätzlich jeder männliche Einwohner als Bürger motivierter Verteidiger des Landes würde. Die Reformer waren Offiziere und erstrebten Preußens Befreiung durch einen Volkskrieg gegen Napoleon; insofern propagierten sie die Verbindung von Militär und Bevölkerung massiver als der altpreußische Staat. Zu dem Urteil, nie vorher sei es in Preußen militaristischer zugegangen, berechtigt ihr Konzept jedoch nicht. Denn die Heeresreform beinhaltete auch Bürgerrechte und Leistungsprinzip, wohl Loyalität zum Monarchen, aber mehr noch zur Nation; Bürgerteilhabe sollte gestärkt werden. Die Reform stand in Bezug zur Verfassungsforderung und zur Kulturstaatlichkeit. In diesem Sinne schrieb Gneisenau 1814, nur „der dreifache Primat der Waffen, der Konstitution, der Wissenschaften“ zusammengenommen bringe Preußen nach vorn und garantiere die Loyalität der Bürger zum Staat. Das Heer sollte nicht länger Monarcheninstrument sein, die Landwehr eine Bürger-Miliz bilden. Diese Idee scheiterte nach 1815; Gneisenau und Kriegsminister Boyen traten zurück. Eingebunden in eine monarchisch-autoritäre Staatsordnung blieb die exklusive Linienarmee doch Königsheer, die (Reserve-)Landwehr der Bürger zweitrangig. Diese Entwicklung spiegelte sich auch in den unterschiedlichen Interpretationen der Feldzüge 1813–15 wieder. Die liberal-demokratische Sicht betonte die 118 Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713–1807, Frankfurt/M. 1981, Bauernschutz S. 56, Adelsschutz S. 105. Peter H. Wilson, Prusso-German Social Militarisation Reconsidered, in: Luh u. a. (Hg.), Preußen, Deutschland und Eu­ropa, S.  355–384. Ralf Pröve, Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit – Perspektiven, Entwicklungen, Probleme, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 597–612. Bernhard Kroener, „Des Königs Rock“. Das Offizierskorps in Frankreich, Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert, in: P. Baumgart u. a. (Hg.), Die Preußische Armee zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, Paderborn 2008, S. 72–95, Zit. S. 89; Michael Hochedlinger, Rezension Martin Winter, Untertanengeist durch Militärpflicht? in: www.sehepunkte.de/2006/03/8798.html. Jürgen Kloosterhuis, „Solide Menage“ und „formidable Armee“. Determinanten des preußischen Kantonsystems im 18.  Jahrhundert, in: www.hiko-berlin.de/schluesselquellen-verwaltung.

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Verbindung von Freiheitskrieg nach außen mit Bürgerrechten, Verfassung und Partizipation innen, formulierte also ein wesentlich emanzipatorisches Narrativ. Dagegen stellte die konservativ-monarchische Position heraus, der König habe gerufen („An mein Volk“, März 1813) und das Volk sei ihm treu ergeben gefolgt; sie benutzte konsequent das Wort Befreiungskrieg. Beide Sichtweisen waren preußenzentriert und die borussische Sicht legitimierte damit später Preußens Führung im Kaiserreich. Hingegen sah man im von diversen Heeren geplünderten Süddeutschland die Jahre 1813/14 bloß als Kriegsschrecken und empfand diese Zeit keineswegs als „nationale Erhebung“ gegen den Erbfeind. Auch in Preußens Westen, zumal katholischen Gebieten, gab es wenig Freiwillige und beträchtliche Desertion aus der Zwangsrekrutierung. Militär blieb dort jahrzehntelang unbeliebt und die preußische mythisierende Erinnerung als Befreiungskrieg drang nur allmählich, voll erst nach 1871, in das Gedächtnis breiter Schichten. Die Geschlechtergeschichte arbeitete klar heraus, daß Wehrpflicht und Kriegsteilnahme das Bild von Männlichkeit prägten: Trotz einiger weiblicher Kämpferinnen 1813/14 wurde die Nation danach exklusiv männlich gedacht und beschrieben. Demgegenüber wurden Frauen definitorisch auf Haushalt und Familie beschränkt, im Militär auf karitative Aufgaben wie Verwundetenpflege. Diese Rollenzuschreibung glaubten manche Frauen später durch Übernahme besonders nationaler Attitüden aufbrechen zu können und engagierten sich in patriotischen Frauenvereinen.119 Da im Vormärz (Hunger-)Unruhen und Proteste in 178 von 281 erfaßten Fällen durch Militäreinsatz niedergeschlagen wurden, forderten die demokratischen Revolutionäre 1848 allgemeine Volksbewaffnung; zur Verteidigung der 119 Pröve, Militär, S. 9 f., 61 ff.; Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit, Darmstadt 2003, S.  57–65; die Heeresreformen detailliert bei: Dierk Walter, Preußische Heeresreformen 1807–1870, Paderborn 2003, S. 248–389. Abwegig: Michael Salewski, Preußischer Militarismus – Realität oder Mythos? in: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 53 (2001), S. 19–45, S. 26 (Militärreformer als reinste Militaristen). Georg Heinrich Pertz/Hans Delbrück, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. 4, Berlin 1880, S. 280 f. (Zitat). Helmut Berding, Das geschichtliche Problem der Freiheitskriege 1813–1814, in: K. O. Frh. v. Aretin/G. A. Ritter (Hg.), Historismus und moderne Geschichtswissenschaft. Europa zwischen Revolution und Restauration 1795–1815, Stuttgart 1987, S. 201–215 (Interpretationen). Ute Planert, Dichtung und Wahrheit. Der Mythos vom Befreiungskrieg und die Erfahrungswelt der Zeitgenossen, in: M. Rink (Hg.), Völkerschlacht bei Leipzig. Verläufe, Folgen, Bedeutungen 1813–1913–2013, Berlin 2016, S. 269–284 (aufgrund Dies., Der Mythos vom Befreiungskrieg, Paderborn 2007, S. 482 ff., 620 ff.). Bärbel Sunderbrink, Ein nationaler Volkskrieg gegen Napoleon? Erfahrungen aus den „befreiten“ Westprovinzen Preußens 1813 bis 1815, in: R. Gehrke (Hg.), Von Breslau nach Leipzig. Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der antinapoleonischen Befreiungskriege, Köln u. a. 2014, S.  101–113. Rüdiger Hachtmann, Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution 1848, Tübingen 2002, S. 152–162 (Frauenrolle).

146  IV. Preußens Gesellschaft Revolution entstanden vielerorts Volkswehren. Seit Herbst 1848 jedoch gewannen die monarchischen Regime ihre Herrschaft mit Militäreinsatz zurück, etwa gleichzeitig in Österreich und Preußen. Der Mißerfolg der Revolutionsbewegung entschied sich daran. Warum gelang es nicht, die regulären Armeeeinheiten auf ihre Seite zu ziehen? Pointiert lassen sich Peitsche, Zuckerbrot und Propaganda als Faktoren benennen. Nicht nur wegen Disziplinierung, Eid auf die Monarchen und Korpsgeist bzw. Kameradschaft blieben Truppen regierungstreu. Positive Anreize wie Versorgung ausgedienter Unteroffiziere in der Zivilverwaltung, einige Zugeständnisse (Abschaffung der Prügelstrafe, vermehrte Fürsorge) kamen hinzu. Propagandistisch galten Pflichterfüllung, Treue, Gehorsam als die preußischen Bürgertugenden, vaterländisch sei einzig die Loyalität zum Monarchen. Hingegen wurden Aufständische als „scheußliche Verräter im Dienste fremder Mächte“ zum Feindbild stilisiert. Angesichts all dessen gab es Einberufungsverweigerung und Verbrüderung mit Revolutionären nur in einigen Landwehr-Einheiten; das Offizierskorps und die Liniensoldaten aus Altpreußen, die heimatfern an Unruheherden dienten, blieben königstreu. Nur wo die Legitimität einer Regierung gering, die Revolutionsbewegung stark und somit die Erfolgschancen hoch erschienen, kam es bei Einsatz- und Schießbefehlen zu Nichtgehorsam. Da die meisten Regierungen scheinbar mit der Frankfurter Zentralgewalt kooperierten und zu Reformen bereit schienen, hielten die Truppen gegen den vermeintlich zu radikalen Umsturz treu zu Regierungen und Monarchen. Die „einfältigen Leute glauben, dass die ganze Welt zugrunde ginge, wenn keine solchen Herren von Gottes Gnaden existieren würden“, notierte der Schweizer Beobachter J. U. Furrer über Berlin und Preußen Mitte 1848 desillusioniert. Auf Gehorsam in der Bevölkerung setzend, ließ Preußens Monarch Ende 1848 durch General v. Wrangel die Revolution in Berlin beenden und Preußens Nationalversammlung auflösen. Mitte 1849 schossen primär preußische Einheiten in Baden und der Pfalz die die Reichsverfassung verteidigenden Volkswehren nieder. Karl v. Griesheim, Oberst im Kriegsministerium, überschrieb 1848 ein Flugblatt mit der seither bekannten Titelzeile: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. 1848/49 erwies sich das Militär als starke Bastion der Monarchien. Wilhelm I. hatte schon 1832 gefordert: „Die Disziplin, der blinde Gehorsam sind aber Dinge, die nur durch lange Gewohnheit erzeugt werden (…) und zu denen daher eine längere Dienstzeit gehört, damit im Augenblick der Gefahr der Monarch sicher auf die Truppe rechnen könne. Dieser blinde Gehorsam ist es aber gerade, was den Revolutionären am störendsten entgegentritt.“ In diesem Sinne betrieb Kriegsminister Roon die preußische Heeresreorganisation nebst Rückstufung der Landwehr. Dies wurde von der linksliberalen Landtagsmehrheit 1860/62 abgelehnt, weil sie darin die Stärkung des unkontrolliert, auch nach innen einsetzbaren Königsheeres erkannte. Trotz des jahrelangen Streits, der in einen Verfassungskonflikt mündete und erst 1866 gelöst wurde: Das Militär an sich lehnten bürgerliche Liberale nicht ab. Vielmehr ist jüngst etwa von Christian Jansen

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betont worden, daß gute Teile davon in Preußen gerade wegen der 1848 nicht geschafften Nationalstaatsgründung eine Hochschätzung von Heer und Macht entwickelten. „Nur wenn das ganze preußische Volk militairisch durchgebildet ist, wenn es wirklich ein Volk in Waffen ist“, könne Preußen Deutschland einigen, schrieb der 1848-er Demokrat Heinrich Simon 1860. Realpolitisch denkende Liberale zogen Krieg zur Erringung eines Nationalstaats in Betracht.120 Die Anerkennung der preußischen Heeresverfassung ab 1866 war unter vielen bürgerlichen Liberalen somit mental vorbereitet – das Prestige der Armee in der Gesellschaft gewaltig gehoben haben aber erst die Kriegssiege unter Bismarck und Moltke. Der 1848 als Besatzer von Berlin verschriehene „Marschall Druff “ wurde zum populären „Papa Wrangel“; Ludwig Quidde publizierte 1893 eine sehr anschauliche „Anklageschrift“ gegen den Militarismus von Staat und Bürgern; ein anonymer Systemkritiker hielt es 1906 für „lächerlich, wenn ein Gelehrter, Industrieller, ein hoher Richter, ein Abgeordneter sich auf den ‚Sommerleutnant‘ mehr einbildet, als auf alles, was er sonst im Leben erreicht hat“, und Friedrich Meinecke formulierte im Rückblick 1946 den vielzitierten Satz: „Der preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt“. Lange hielt deshalb eine politikgeschichtliche Sichtweise dem Bürgertum Kapitulation vor dem Militärstaat vor. Hingegen betont ein kulturgeschichtlicher Ansatz etwa von Frank Becker neuerdings die bürgerliche Wahrnehmung des Militärs 1871 als Synthese von eigenen und monarchischaristokratischen Anteilen. Das nationalliberale Bürgertum habe sich als Partner bei der Nationalstaatsgründung gesehen und damit nicht politisch abgedankt, sondern vielmehr durchaus seine Interessen verfolgt, analog der Mitsprache von Abgeordneten im konstitutionellen Verfassungssystem.121 120 Michael P. Vollert, Für Ruhe und Ordnung. Einsätze des Militärs im Innern (1820– 1918). Preußen – Westfalen – Rheinprovinz, Bonn 2014, S. 10 (281 Fälle 1820–47). Manfred Hettling, Bürger oder Soldaten? Kriegerdenkmäler 1848 bis 1854, in: R. Koselleck/M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 147–193, S. 161 ff., 189 ff.; Sabrina Müller, Das preußische Heer in der Revolution von 1848/49, in: P. Baumgart u. a. (Hg.), Die Preußische Armee zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, Paderborn 2008, S. 196–214 und Hachtmann, Epochenschwelle, S. 126 ff. Johann Ulrich Furrer, Schweizerländli 1848. Das Tagebuch eines jungen Sternenbergers, hg. v. J. und P. Ganther-Argay, Stäfa 1998, S. 24 (Zitat). Walter, Heeresreformen, S. 341 (Wilhelm I.). Christian Jansen, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Der Bürger als Soldat, Essen 2004, S. 9–23, 16 (Zitat H. ­Simon). 121 Pröve, Militär, S. 41–45. Ludwig Quidde, Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, hg. von H.-U. Wehler, Frankfurt/M. 1977, S.  81–130; Anonymus, Unser Kaiser und sein Volk. Deutsche Sorgen, von einem Schwarzseher, Freiburg 1906, S. 108; Hartmut John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Frankfurt/M. 1981, S.  298 (Zitat Meinecke); Revisionistische Sicht: Bernd Ulrich/ Jakob Vogel/B. Ziemann (Hg.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871–1914, Frankfurt 2001, S.  9–23; Benjamin Ziemann, Sozialmilita-

148  IV. Preußens Gesellschaft Freilich muß diese Interpretation zugeben, daß die bürgerliche Mitsprache sich schon 1874 als begrenzt erwies, denn im damaligen Militärgesetz (sog. Septennat) wurde das jährliche Budgetrecht des Reichstags auf sieben (später fünf) Jahre suspendiert. Die Wahrung der monarchischen Kommandogewalt läßt sich als klare Verbindungslinie vom Ende der Reformzeit über die Revolution 1848/49 und die Reichsgründungszeit bis 1914 ziehen. Allerdings wurde die national-liberale, prinzipiell militärfreundliche Sicht keineswegs von allen Gruppen geteilt. Damit sind zwei Themenfelder umrissen, die in letzter Zeit mit neuen Ansätzen und teils international vergleichend untersucht wurden, nämlich Militär und Gesellschaft, Militär und Politik im Kaiserreich. Die neuere Militärgeschichte hat zum Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft zunächst die Wehrpflicht als Sozialisations-Erfahrung betrachtet. Das preußische Modell weitgehender Erfassung wurde ab 1866/71 auch in Süddeutschland, wo das Bürgertum bisher militärfern gewesen war und Wehrdienst durch bezahlte Stellvertreter aus der Unterschicht leisten ließ, durchgesetzt. Zur Akzeptanz trug die Regelung bei, daß die 10. Klasse höherer Schulen zum Einjährig-Freiwilligen Dienst und Wahl des Orts anstelle zwei- oder dreijähriger Dienstzeit unter Garnisonszuweisung berechtigte. Durch Reserveübungen konnten Einjährig-Freiwillige auch den zunehmend begehrten Status als Reserveoffizier erlangen. Nach zwölf Jahren Dienstzeit erwarben in Preußen speziell Unteroffiziere den Zivilversorgungsschein, d. h. die Übernahme in den mittleren Verwaltungsdienst, wo der erlernte Kommandoton weiter hallte. Die Armee wurde nun als „Schule der Nation“ verklärt. Zugleich war sie in der Phase der Adoleszenz eine „Schule der Männlichkeit“ mit erster Selbständigkeit, Freizeit, Trinken, sexuellen Erfahrungen. In Uniform stellte ein junger Mann etwas dar, konnte sich einen Anteil an der Macht mindestens einbilden; der übliche Drill wurde im Rückblick weniger erinnert. Ob daraus Militarisierung fürs Leben erwachsen mußte, wird neuerdings eher bezweifelt, denn es gibt Zeugnisse, daß sich sowohl Zentrumskatholiken wie auch sozialdemokratische Arbeiter an Schikanen im Militär erinnerten und dies gedanklich mit der Ausgrenzung ihrer Partei verknüpften. Zudem wird das lange gehegte Bild der Kriegsbegeisterung im August 1914 für Arbeiter und bäuerliche Bevölkerung stark in Frage gestellt, so daß die militaristische Indoktrination nicht durchgängig gewirkt haben dürfte. Trotzdem: Schon Schulkindern wurde Bewunderung des Militärs und seiner Verhaltensmuster nahegebracht (Schlachtenerzählungen, Kriegsspielzeug), öffentliche Anerkennung und die in Preußen gängige staatliche Prämiierung von rismus und militärische Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1870–1914, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 148–164; Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation, München 2001, S.  505  f. und Ders., Strammstehen vor der Obrigkeit? Bürgerliche Wahrnehmung der Einigungskriege und Militarismus im Deutschen Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 87–113.

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Militärdienst stärkten die Militärfreudigkeit. Im „Bund Jungdeutschland“ unter Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz organisierte man 1914 fast eine Million Jugendliche. Die wichtige Frage lautet nun: Wies das Kaiserreich einen höheren Grad sozialer, d. h. ziviler Militarisierung auf als die französische Republik oder Großbritannien? Und welchen Anteil hatte Preußen? Historiker haben mehrere Indikatoren untersucht. Offenkundig ist, daß der Offiziersberuf nach 1866 an Prestige gewann; der Bürgeranteil am preußischen Offizierskorps betrug 46 % 1817–19, 35 % 1860 und stieg auf etwa 70 % 1913. Bürgersöhne erstrebten den Beruf, der Aufnahme in die staatsnahen Schichten versprach und Gleichwertigkeit mit dem Adel. Aber auch in anderen Ländern war die Armee bürgerlich dominiert, sogar deutlicher als in Preußen mit starkem Adelsanteil im hohen Offizierskorps, so daß Prozentzahlen von Bürgerlichen kaum den Vorwurf sozialer Militarisierung tragen. Als weiterer Indikator sind Duelle untersucht worden. Daß Bürgerliche dieses Ritual um verletzte Ehre, das dem Militär entstammte und anfänglich Adeligen vorbehalten war, zu Tausenden übernahmen, sei aussagekräftig; ein vormodernirrationales Männlichkeitsideal von Todesverachtung und Alles-oder-NichtsMentalität habe bürgerliche, rationale Konfliktbewältigung und kompromißhaften Interessenausgleich ersetzt. Indessen: Die Verteidigung der Ehre passte durchaus zum bürgerlichen Persönlichkeitsideal, wie aus vielen Duellen von Studenten seit dem frühen 19.  Jahrhundert erhellt. Besonders für Bildungsbürger machte Duellieren Sinn – gegen den geburtsständischen Eliteanspruch des Adels und den Vermögensvorrang des Wirtschaftsbürgertums; Gebildete konnten damit ihren nationalen Führungsanspruch bekräftigen. Zivile Werte wie Arbeit und Leistung gab das Bürgertum nicht auf. Aber es war keine pazifistische, selbstgenügsame Formation, sondern wollte Elite sein und pflegte ein auf Ehre ausgerichtetes Männlichkeitsideal. In ganz Europa verbreitete Duelle sind insofern ein gemeineuropäischer Indikator für bürgerliche Militarisierung.122 Neuerdings soll die Untersuchung von Kriegervereinen, Militärfeiern und nationalistischen Verbänden belegen, daß Militärfreudigkeit nicht bloß „von oben“ verordnet wurde, sondern selbstständig motiviert aus der Mittel- und Unterschicht kam. Diese revisionistische Sicht erklärte den „Untertan in Uniform“ zum weit überzeichneten Bild von Karikaturen, den preußischen Militarismus zum politischen Kampfbegriff ohne sachliche Fundierung. Gegen die Interpretation der Kriegervereine mit 2,8 Mio. Mitgliedern 1913 als Symbol für Militarisierung wird eingewendet, daß diese primär auf finanzielle Verbesserung für Gediente zielten, die Mitglieder aus Mittel- und Unterschichten das konservative Weltbild 122 Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 140 ff. (Süddeutschland) und S. 210 ff. (wilhelminische Bürger im Militär). Kevin McAleer, Dueling. The Cult of Honor in Fin-de-Siècle Germany, Princeton 1994; dazu als Kritik Ute Frevert, Bürger, Duellanten und andere Kleinigkeiten, in: Werkstatt Geschichte, H. 13 (1996), S. 82–89.

150  IV. Preußens Gesellschaft der Vereinsführung nicht teilten, Vereine für Unterschichten gar ein „Vehikel der Partizipation“ (B. Ziemann) darstellten, da die Gleichrangigkeit mit Honoratioren eingefordert wurde. Ähnlich revisionistisch wurde bezüglich Militärfeiern (Paraden, Jubiläen) in Deutschland und Frankreich von Jakob Vogel argumentiert, daß es sich um gesellige Spektakel gehandelt habe, um Folklore-Militarismus, der dies- wie jenseits des Rheins ähnlich ablief, also kein Beweis für besonderen preußisch-deutschen Militarismus sei. Jedoch standen bei den preußischen Inszenierungen Monarchen und Militär im Mittelpunkt, nicht die Nation; in Frankreich saßen das zivile Staatsoberhaupt und gewählte Parlamentarier auf der Ehrentribüne, in Deutschland Fürsten und Offiziere in Uniform. Diese unterschiedlichen Sinnbilder der politisch-sozialen Ordnung überwiegen meines Erachtens Ähnlichkeiten im Ablauf. Zudem konstatiert die vergleichende Untersuchung von Markus Ingenlath weniger Drill in Frankreich, die deutsche Armee deutlich stärker als affirmative Sozialisationsinstanz konzipiert und mehrheitlich auch rezipiert. Deutschland habe mit Disziplinverschärfung und autoritären Erziehungsmitteln reagiert, Frankreich aber wegen des republikanischen Selbstverständnisses, besonders nach dem (in Preußen ohne jüdische Offiziere gar nicht möglichen) DreyfusProzess, mit Abbau von Hierarchie und dem Leitbild des bedingten Gehorsams (discipline à condition). Das französische Heer sei deutlicher Bürgerarmee und im Weltkrieg taktisch tendenziell überlegen gewesen.123 Gegenüber der revisionistischen Sicht ist mehrerlei zu betonen. Schon die zeitgenössische Publizistik nicht nur der SPD, sondern auch polnischsprachige Gediente prangerten die monarchisch-konservative Zielrichtung der Kriegervereine bzw. der nationalistischen Verbände an. Diese wurden mit staatlicher Billigung von Beamten, Offizieren oder Bildungsbürgern gegründet, von (Reserve-) Offizieren geleitet, vielfach staatlich unterstützt, sie sollten gegen sozialdemokratische oder linksliberale Militärskepsis wirken und bei Wahlen das konservativ-rechtsliberale Lager stärken. Die regierungsamtliche Indienstnahme rechter Verbände ist bei den Wahlen 1893 und 1907 sowie bei den Heeres- und Flottenvermehrun123 Ziemann, Sozialmilitarismus, S.  161. Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt, Göttingen 1997, und Ders., Nations in Arms. Military and Commemorative Festivals in Germany and France 1871–1914, in: K. Friedrich (Hg.), Festive Culture in Germany and Europe from the 16th to the 20th Century, Lewiston 2000, S. 245–264, wo der unterschiedliche politische Kontext klar hervortritt. Markus Ingenlath, Mentale Aufrüstung. Militarisierungstendenzen in Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1998, S. 388–394. Daß im öffentlichen Zeremoniell zumal ab den 1880er Jahren Strukturunterschiede zwischen preußischer Monarchie und französischer Republik bzw. deutschen konstitutionellen und parlamentarischen Monarchien (England, Italien) erkennbar sind, hält auch Christoph Cornelißen, Das politische Zeremoniell des Kaiserreichs im europäischen Vergleich; in: Andreas Biefang u. a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich, Düsseldorf 2008, S. 433–450, S. 449, für evident.

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gen empirisch nachweisbar. Die Intentionen sind somit eindeutig. Jenseits der als emanzipatorisch interpretierten Motivation der 29 % Unterschichtenmitglieder in Kriegervereinen – die empirischen Beweise dafür konnten in anderthalb Jahrzehnten nicht vermehrt werden – ist unverändert nicht plausibel, welche wirklich partizipatorisch-demokratisierenden Effekte der Eintritt in militaristischdeutschnationale Organisationen gehabt haben soll. Kriegervereine waren nicht nur willige Manipulationsobjekte, aber bedeuteten im Effekt die Stärkung von Chauvinismus und der Bereitschaft zum Krieg. Überhaupt kann das sozialdarwinistisch-bellizistische Aufbegehren der nationalistischen Verbände (Alldeutsche, Ostmarkenverein, Wehrverein) gegen eine als windelweich geschmähte Regierungspolitik nicht als wirklich emanzipatorisch interpretiert werden. Sicherlich ist im internationalen Vergleich generell eine zunehmende Militarisierung erkennbar; quantitativ schwächere Wehr-Organisationen gab es auch in England und Frankreich. Die deutschen nationalistischen Verbände visierten aber ihre Ziele rabiater an, Vorbild war der als Mann von „Blut und Eisen“ verstandene Bismarck und ideologisch schlugen sozialdarwinistische Denkweisen tiefe Wurzeln. Die zentrale Differenz lag darin, daß die konservative preußisch-deutsche Reichsleitung stets auf das ihr grundsätzlich nahestehende rechte Lager Rücksicht nahm, ohne daß diese Verflechtung oder offiziöse Instrumentalisierung konfliktlos und bloß manipulativ von oben vor sich ging. Hingegen blieb die Bedeutung der Verbände für die reale Staatspolitik in den westeuropäischen parlamentarischen Systemen geringer, da die gewählen (liberalen) Regierungen auf breite gesellschaftliche Mehrheiten angewiesen waren. Im gesamtpolitischen Kontext des preußischen Kaiserreichs überzeugt die revisionistische Sicht auf den gesellschaftlichen Militarismus wegen ihrer Konzentration auf zweifelhafte, von dünner Evidenz unterfütterte Nebeneffekte deshalb nicht. Daß der Militarismus das letzte und zentrale Interpretament für die Sonderwegsthese sei und damit eine lineare Kontinuität zu 1933/45 uneinsichtig verteidigt werde, wie Benjamin Ziemann jüngst erneut behauptete, ist nicht zutreffend. Die unter kritischen Zeitgenossen und dann bei vielen Historikern gängige Interpretation von Schule/Wehrdienst, Militärfeiern, Kriegervereinen als bis 1914 wirksame Militarisierungsinstanzen hat spätere Entwicklungen wie die Gewalt­ erfahrung 1914/18, ideologische Zuspitzungen und Führersehnsucht in der Zwischenkriegszeit oder die multifaktorielle Radikalität des nationalsozialistischen Regimes seit langem nicht geleugnet, sondern beim Ziehen epocheübergreifender Linien durchaus mit einbezogen.124 124 Zentrale Argumente bei Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 1990, und Wolfram Wette, Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt/M. 2008, S. 58–79. Benjamin Ziemann, Militarism, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, S. 367–382, 378 ff., endet

152  IV. Preußens Gesellschaft Immerhin gesteht die revisionistische Sichtweise zu, daß der 1898 gegründete Flottenverein zwar auch viele kleinbürgerliche Mitglieder besaß, aber damit zugleich organisatorisches Sammelbecken für bellizistische Militarisierung und die expansive Idee maritimer Weltgeltung war. Lauthals trieb der Flottenverein Tirpitz’ Idee des (geräuschlosen) Schlachtflottenbaus gegen England auf die Spitze, und die Marinerüstung war ein wichtiges Feld für konservativ-rechtsliberale politische Kooperation ab 1898. Als 1912 klar zutage trat, daß Deutschland schon finanziell das Marine-Wettrüsten nicht gewinnen konnte und die Heeresverstärkung gegen Rußland und Frankreich Priorität erlangte, war das Scheitern von Tirpitz’ Plan klar. Ähnlichen Marine-Aufbau betrieb man auch in den USA; dortige Berufsoffiziere propagierten ihn und sahen die deutschen Kommandostrukturen als Vorbild an. Jedoch gab es in den USA zivile Kontrolle durch wechselnde Präsidenten, Minister und die Parteien im Kongreß sowie in der politischen Kultur weniger Hochschätzung des Militärs. Gemäß preußischer Tradition und aufgrund Deckung durch den Monarchen die Autonomie der Marineführung zu bewahren sowie im Reichstag ein gutes Jahrzehnt lang Mehrheiten für seinen strategisch fehlgeleiteten Schlachtflottenbau zu gewinnen, das gelang nur dem gewitzten Organisator Tirpitz. Der Vergleich mit den USA erhellt klar, daß spezifische Bedingungen Preußen-Deutschlands den Unterschied markierten, nämlich Prestige und Autonomie des Militärs im Rahmen einer verfassungsmäßig starken Monarchie, die auch zeitweilig verbreitete Bestrebungen zur Beschränkung des Flottenbaus abwehren konnte.125 Es gab durchaus Gruppen und Parteien, die Aufrüstung und Militarisierung stark oder zeitweise-punktuell kritisierten. Ansatzpunke für Kritik waren SoldatenMißhandlungen und Privilegien für den Adel, Diskriminierung von Juden und nicht rechtstaatliche Militärjustiz-Urteile, auch Beibehaltung überlebter Traditionen wie Parade-Manöver und Kavallerie-Attacken. Linksliberale und süddeutmit dem Aufruf zur Erforschung der Haltung der 85 % nichtbürgerlichen Schichten und Gewinnung von Evidenz aus Tagebüchern – Indiz mangelnder Begründungssicherheit des Revisionismus. Spenkuch, Vergleichsweise besonders? rechnete nicht nur Militär, sondern ebenso politisches System, politische Kultur und Elitenstruktur Preußens zu den zentralen Faktoren des spezifischen Eigenwegs. Zu systemischer Bedeutung und amtlicher Verflechtung der Agitationverbände vgl. Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt 1988, S.  118–123 und Roger Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914, Boston/London 1984, S. 188–190, 302 f. sowie Ders., Militarism and Radical Nationalism, in: J. Retallack (Hg.), Imperial Germany 1871–1918, Oxford 2010, S. 196–218, 207 ff. 125 Dirk Bönker, Militarism in a Global Age. Naval Ambitions in Germany and the United States before World War I, Ithaca 2012, S. 176–199, 308. Die kriegszeitliche Radikalisierung mit U-Boot-Krieg, Ablehnung jedes Verhandlungsfriedens, Radikalnationalismus und Flottenopferungsplan trat hinzu. Epkenhans, Tirpitz, S. 52 ff.

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sche Demokraten, Zentrum und Regionalisten wie die Deutsch-Hannoversche Partei übten diese Kritik. Besonders die Sozialdemokratie betrachtete die Armee als teures Herrschaftsinstrument der oberen Klassen, prangerte den Drill der Rekruten zu willenlosen Werkzeugen an und kritisierte mangelnde Modernität und Kriegstüchtigkeit als „Dekorationsmilitarismus“. Nur scheinbar ging diese Kritik mit dem ultranationalistischen Militarismus konform, der gleichfalls militärische Schlagkraft forderte, dabei jedoch das ungleich radikale Ziel des aggressiven Losschlagens verfolgte. Wie Zeitgeist und Militarisierung auch die SPD beeinflußten, zeigt ein Aufsatz des Reformisten Wolfgang Heine 1907. Er folgerte aus der Militärfreudigkeit in der Bevölkerung, Sozialdemokraten dürften darob nicht nur verächtlich Kritik üben, sondern müßten politisch die Verhetzung der Völker bekämpfen, aber alltäglich im Militär Vorbild sein, etwa durch Leistungsfähigkeit und Pflichttreue. Heine gab die Richtlinie aus, daß Vaterlandsverteidigung im trotz SPD-Friedenspolitik ausgebrochenen Krieg auch für Sozialdemokraten selbstverständlich sei – ohne daß man zuvor nach der Kriegsschuld fragen könne, zumal wenn es um die Verteidigung Deutschlands bzw. Europas gegen den „asiatischen Zarismus“ gehe, was zudem im Interesse der ganzen Bewegung liege. Die SPD-Argumentation 1914 deutete sich hier an. Im Kaiserreich existierte eine Friedensbewegung, aber sie war schwächer als die in England, Frankreich oder den USA. Sie besaß weniger Verbündete in den christlichen Amtskirchen, der Öffentlichkeit sowie bei den Parteien. Von der Rechten wurde sie als utopisch geschmäht; im Zentrum zeigte sich nur ein Teil des sozialkatholischen Flügels aufgeschlossen. Träger war primär der Linksliberalismus und dort jüdische Persönlichkeiten. Die SPD blieb bis etwa 1907 abseits, weil die Pazifisten nicht den Kapitalismus als wahre Ursache von Kriegen abschaffen wollten und ein harmonistisches Gesellschaftsbild hätten; danach erfolgte eine Annäherung. Gerade Exponenten des reformistischen Flügels wie Ludwig Frank oder Ludwig Haas beförderten deutsch-französische Parlamentariertreffen 1913 in Bern und 1914 in Basel. Die von Liberalen, Kirchenmännern und anglophilen Staatsbeamten im Herbst 1912 in London organisierte britisch-deutsche Verständigungskonferenz boykottierte die SPD. Alle drei Tagungen blieben politisch folgenlos. Die Deutsche Friedensgesellschaft (10.000 Mitglieder) wurde aufgrund der Präsenz von Juden und Frauen antisemitisch und antifeministisch geschmäht, zudem als undeutsch wegen ihrer Kontakte ins Ausland. Als Rußland bzw. die Westmächte 1899 bzw. 1907 zu den Haager Friedenskonferenzen über Kriegsrechtsregeln und Schutz für Zivilisten einluden, gab es in Berliner Regierungskreisen weithin Ablehnung. Wilhelm II. schrieb, solche Konferenzen gäben „Demokraten und Opposition eine brilliante Waffe (…) zum agitieren“ in die Hand; der deutsche Vertreter Karl v. Stengel erklärte wie früher Generalfeldmarschall Moltke den ewigen Frieden zum bloßen Traum, der gar nicht wünschenswert sei. Wie durchdrungen viele Professoren und und Kulturschaffende von Militarismus waren, belegen Äußerungen 1914. Im „Aufruf der 93“ wurden deut-

154  IV. Preußens Gesellschaft sche Kriegsschuld bestritten, die Kriegsgegner bezichtigt „Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen“ und emphatisch formuliert: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen (…). Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins.“ Dagegen kamen wenige Pazifisten wie Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster, Ludwig Quidde oder Georg Friedrich Nicolai nicht an; sie galten selbst in den 1920er Jahren als politische Außenseiter.126 Im Verhältnis von Militär und Politik sind am deutlichsten preußische Spezifika zu erkennen. Soldaten wurden nicht auf die preußische Verfassung von 1850 oder die Reichsverfassung von 1871 vereidigt, sondern auf den Monarchen als Oberbefehlshaber, er besaß die extensiv ausgelegte Kommandogewalt. Die Armee war extra-konstitutionell, denn kein Parlament sprach über Generalstabsplanung, Strategie und Personalauswahl mit; der preußische Kriegminister vertrat in Land- bzw. Reichstag zwar neue Finanzforderungen oder beantwortete Anfragen, aber mußte Parlamentsmehrheiten nicht folgen. Die im preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt 1862–66 von Bismarck verteidigte Macht des Monarchen bzw. der Regierung prägte auch das Kaiserreich. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es in Preußen „politische Generale“, d. h. Militärs mit dezidierten politischen Konzeptionen. Sie wirkten als königliche Generaladjutanten, im Generalstab oder im so nur in Preußen existenten Militärkabinett des Monarchen. Eine Linie zieht sich von den Militärs um Friedrich Wilhelm III. über Leopold von Gerlach unter Friedrich Wilhelm IV. und Edwin von Manteuffel unter Wilhelm I. bis zu Alfred von Waldersee sowie Admiral Tirpitz unter Wilhelm II.; die Reihe reicht mit Kurt v. Schleicher und anderen noch an das Ende der Weimarer Republik. Bismarcks überragende Stellung erlaubte ihm, den Generalstab unter Moltke senior und Kriegspläne des Militärs seiner politischen Gesamtlinie unterzuordnen, sowohl 1870/71 wie 1886/87 als Waldersee auf Krieg gegen Rußland drang. Aber gerade Bismarck stärkte die monarchische Kommandogewalt gegen parlamentarische Mitsprache als erstere in anderen europäischen Ländern in der Praxis schwächer wurde. In dieser Tradition beharrte auch Wilhelm II. auf seiner 126 Bernhard Neff, „Wir wollen keine Paradetruppe, wir wollen eine Kriegstruppe“. Die reformorientierte Militärkritik der SPD unter Wilhelm II. 1890–1913, Köln 2004. Wolfgang Heine, Wie bekämpfen wir den Militarismus? in: Sozialistische Monatshefte 1907, S. 911–918, S. 915 f. Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 84 ff.; Wolfrum, Krieg und Frieden, S. 92 ff. Christof Mauch, Pazifismus und politische Kultur. Die organisierte Friedensbewegung in den USA und Deutschland in vergleichender Perspektive 1900–1917, in: Heideking/Fiebig-v. Hase (Hg.), Zwei Wege in die Moderne, S. 261–292, S. 274 f. Alwin Hanschmidt, Die französisch-deutschen Parlamentarierkonferenzen von Bern (1913) und Basel (1914), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 26 (1975), S. 335–359. Gerald Deckart, Deutsch-englische Verständigung, Phil. Diss. München 1967, S. 109 ff.

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Kommandogewalt und Entscheidungskompetenz, aber leistete bis 1918 keine dauerhafte Koordination zwischen Militär- und Zivilführung. Militärische und politische Leitung agierten separat nebeneinander. Die nötige Debatte über die Militärstrategie hat zwischen den Reichskanzlern und den Generalstabchefs ­Alfred von Schlieffen bzw. Moltke junior nach 1895 nicht stattgefunden, denn politischer Einspruch gegen deren Feldzugspläne wäre als unbefugte Einmischung erschienen – schon für den Historiker Gerhard Ritter eine der „Unbegreiflichkeiten des wilhelminischen Reiches“. Der Schlieffen-Plan war hochriskant. Der Militärhistoriker Gerhard P. Groß resümiert dazu eindeutig: „Die Alternative wäre gewesen, die Reichsleitung über die Aussichtslosigkeit eines Zweifrontenkrieges zu informieren und zu einer Änderung ihrer Außenpolitik zu bewegen. Doch dies entsprach nicht dem Selbstverständnis deutscher Generalstabsoffiziere und hätte ebenfalls die Position des Generalstabes sowie der Armee im Reichsgefüge infrage gestellt.“ Führende Generale wie Colmar von der Goltz betrachteten einen „recht festen, frischen und fröhlichen“ Krieg als „Segen“ (1900); Generalstabschef Moltke formulierte im Dezember 1912 intern, er halte einen „Krieg für unvermeidlich und: je eher, desto besser.“ Dabei vernachlässigten die Militärs die unzureichende Ressourcenbasis, Kommunikation, Motorisierung und die neue Panzer-Waffe; sie glaubten, eiserner Siegeswille und massiver Angriffsgeist könnten geostrategische Lage und numerische Unterlegenheit aufwiegen. Verhängnisvoll wirkte im Militär friderizianisches Denken fort. Die institutionelle Sonderstellung des Militärs in Preußen erwies sich als unheilvoll und kulminierte in der Quasi-Militärdiktatur unter Hindenburg/Ludendorff 1917/18, dem funktionalen Bindeglied zwischen der autoritären Herrschaft Bismarcks und der totalitären Hitlers. Bei den westlichen Kriegsgegnern ließen sich Regierungen und Parlamente nie derartig von Militärs entmachten und konnten in der zweiten Kriegshälfte strategisch klüger agieren.127 Lange hat die Forschung die innenpolitische Rolle des preußischen Heeres gegen Unruhen und Streiks betont. Eine Arbeit von Michael Vollert hat diese Funktion, letztmals formuliert in den Bestimmungen über den Waffengebrauch 127 Messerschmidt, Militärwesen, S. 374 ff.; Eberhard Kolb, Gezähmte Halbgötter? Bismarck und die militärische Führung 1871–1890, in: L. Gall (Hg.), Otto v. Bismarck und Wilhelm II., Paderborn 2001, S. 41–60; Michael Schmid, Der „eiserne Kanzler“ und die Generäle. Deutsche Rüstungspolitik in der Ära Bismarck (1871–1890), Paderborn 2003, 273  ff., 693  ff. Stamm-Kuhlmann, Militärstaat Preußen, bes. S.  120. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 2, München 1960, S. 254 f. (Zitat). Gerhard P. Groß, Der Schlieffenplan: Siegesrezept oder Notlösung? in: Militärgeschichte, H. 1 (2007), S.  14–17. Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger, Paderborn 2012, S.  93–104, Zitat S.  104. Carl Alexander Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha. Eine Biographie, Paderborn 2012, S. 390 ff.

156  IV. Preußens Gesellschaft vom März 1914, im Grundsatz bestätigt. Das geläufige Entlastungsargument, Preußens Militär sei bei Streiks weniger brutal verfahren als die französische Republik, wird mit Dutzenden von Streikopfern seit 1872, zuletzt vier Toten beim Ruhrbergstreik 1912, deutlich geschwächt, wenngleich nicht ganz widerlegt. Damit ist auch die Frage berührt, ob es nach der Quellenlage angeht, der offenkundig vielfach mitgedachten internen Ordnungsfunktion von Militär den Primat gegenüber der traditionellen Hauptfunktion, der Ausübung von Gewalt nach außen, einzuräumen. Schon 1985 identifizierte Stig Förster zwei unterschiedliche Richtungen in der Militärelite und brachte sie auf den Begriff des „doppelten Militarismus“. Einmal gab es in konservativ-preußischer Tradition das Leitbild des (auch) gegen innere Feinde einsetzbaren Königsheers, dominiert vom altpreußischen Militäradel; deshalb achteten Kriegsministerium, Militärkabinett sowie die konservativen Parteien auf die soziale Homogenität der Offiziere bzw. der Wehrpflichtigen gegen befürchtete „sozialdemokratische Unterwanderung“ und befürworteten quantitatv begrenzte Heeresvergrößerungen. Tatsächlich wurde bis 1913 nur etwa die Hälfte der Tauglichen einberufen. Dagegen habe die neue radikale Richtung umfassenden Heeres-Ausbau zwecks imperialistischen Machtgewinns ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft gefordert und gegen überkommene Traditionen technische Effizienz in den Vordergrund gestellt. Träger dieser Richtung seien Generalstab, nationalistische Verbände und neurechte, überwiegend bürgerliche Politiker gewesen. Diesen Dualismus hat die Untersuchung von Oliver Stein in zwei Richtungen modifiziert. Einmal besaß ihm zufolge nicht der Einsatz nach innen – wiewohl 1907 in einer Studie projektiert und auf Armeekorps-Ebene mehrfach konkretisiert –, sondern der Krieg nach außen klare Priorität. Dabei hätten nicht adelige Standesdünkel, sondern militärfachliche Überzeugungen nahegelegt, daß die unlimitierte Heeresvermehrung Qualität mindere und im meist als unmittelbar drohend angesehenen Kriegsfall schädlich wirken würde. Wegen des evidenten Vorrangs der Flotte 1898–1912 und finanzieller Restriktion sei vom Kriegsministerium rüstungspolitische Zurückhaltung geübt worden; erst angesichts von „Einkreisung“ und russisch-französischer Heeresvermehrung hätten schlagende Argumente zur umfänglichen Armeeverstärkung 1913 vorgelegen. Zweitens habe in der Rüstungspolitik der Primat der Politik unter allen Kanzlern von Caprivi bis Bethmann-Hollweg bestanden. Schon die Heeresvorlage 1893 sei Caprivis, nicht des Kriegsministeriums Werk gewesen, und Bethmann Hollweg habe 1912/13 mittels Armeevermehrung die kaiserliche Flottenmanie einzudämmen versucht. Trotzdem bleibt eine deutliche Differenz zwischen den konservativen Militärs im Kriegsministerium sowie am Hofe und dem stets bellizistischen Generalstab bestehen und muß auch Steins Analyse zugestehen, daß die Reichs- bzw. Staatsleitung die konkrete Kriegsplanung des Generalstabs nicht politisch kontrollierte. Insoweit bestand die Sonderstellung militärischer „Halbgötter“ fort. Extra-kon-

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stitutionelle Stellung des Militärs und strikt antiparlamentarische Ausrichtung, monarchische Kommandogewalt und Dualismus von Militär und Politik bilden weiterhin die Kennzeichen preußischen Militärverständnisses. Diese Tradition wirkte noch in der Weimarer Republik fort, als sich die Reichswehr als überparteilicher „Staat im Staate“ verstand, anti(sozial)demokratische Mentalität gepflegt wurde und Offiziere wie General von Schleicher oder Kurt von Hammerstein beim Übergang von der liberalen Demokratie zu autoritären Kabinetten und dann zu Hitler wichtige Akteure bzw. Berater des Generalfeldmarschalls a. D. Hindenburg darstellten. Preußische Militärs ermöglichten maßgeblich Hitlers Machtübernahme und politische Durchsetzung 1933/34.128 Eine aktuelle Debatte kreist um die Bedeutung preußischer Militärtraditionen für den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika 1904–08, vermittelt auch für den Vernichtungskrieg in Osteuropa ab 1939/41. Die amerikanische Historikerin Isabel Hull stellte die These auf, die Militärkultur Preußen-Deutschlands sei nach 1871 durch die Maximen von Offensive und totaler Vernichtung des Feinds geprägt gewesen, ohne Verhältnismäßigkeit, Risikoabwägung und politische Kontrolle. Dies sei die Grundlage für den Völkermord an den Herero bzw. Nama durch Verdursten-Lassen und in Lagern sowie die Kriegsverbrechen im Weltkrieg geworden. Inzwischen wird mehrheitlich bezweifelt, daß die Denkweise preußischer Militärs den wichtigsten Grund für koloniale Verbrechen an Afrikanern darstellte. Rassismus und Gewaltexzesse in Kolonien kennzeichneten alle europäischen Mächte. Die genozidale Gewalt entstand 1904 nach dem Mißlingen der Vernichtungsschlacht, situativ bestimmt durch den Militärbefehlshaber v. Trotha, wurde aber in Berlin kritisiert und revidiert. Die situative Radikalisierung von Gewalt gegen Zivilisten im bald sogenannten „totalen Krieg“ läßt sich auch bei der alliierten Hunger-Blockade im Ersten Weltkrieg oder den Städte128 Messerschmidt, Militärwesen, S.  434–450 und Wilhelm Deist, Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 83 ff. Vollert, Für Ruhe und Ordnung, S. 99–123. Stig Förster, Militär und Militarismus im Deutschen Kaiserreich – Versuch einer differenzierten Betrachtung, in: W. Wette (Hg.), Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Münster 1999, S. 63–80. Ders., Russische Pferde. Die deutsche Armeeführung und die Julikrise 1914, in: Ch. Th. Müller/M. Rogg (Hg.) Das ist Militärgeschichte! Probleme – Projekte – Perspektiven, Paderborn 2013, S. 63–82. Ebd., S. 48–62, auch Oliver Stein, Das Kriegsministerium und der Ausbau des deutschen Heeres 1871–1914. Ausführlich Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik, S. 244 ff., 369–382; ähnliche Position bei Bernhard Kroener, Integrationsmilitarismus – Zur Rolle des Militärs als Instrument bürgerlicher Partizipationsbemühungen im Deutschen Reich und in Preußen im 19.  Jahrhundert, in: Ders., Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit, Paderborn 2008, S. 82–107. Zu Weimar: Wette, Militarismus in Deutschland, S. 133 ff. und Irene Strenge, Kurt v. Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik, Berlin 2006.

158  IV. Preußens Gesellschaft Bombardements ab 1940 erkennen. Die weitergehende These in Postcolonial Studies, wonach deutsches Militär in Afrika den Vernichtungskrieg in Osteuropa ab 1939/41 gelernt habe, wird meist zurückgewiesen. Der Weg von Windhuk nach Auschwitz sei nicht vorbestimmt gewesen, da die Akteure ganz andere waren, die Radikalisierung von Gewaltakten weithin erst 1914–23 stattfand und Länder wie Frankreich oder Belgien zwar massiv Arbeitskräfte ausbeuteten, ja grausame Kolonialmassaker begingen, aber die unterschiedslose Vernichtung mit allen staatlichen Mitteln gemäß der NS-Rassenideologie eben nicht exekutierten. Die Brutalität der Methoden und der Rassismus der Ziele ab 1939/41 überstiegen auch den Rahmen dessen, was deutsche Herrschaft 1917/18 in Polen und Rußland bedeutete. Wenngleich somit die Fernwirkungen preußischer Militärtradition methodisch schwierig nachweisbar sind, relativiert dies Kolonial- oder Kriegsverbrechen keineswegs, sondern macht die präzise Bestimmung von Kontinuitäten des Rassismus und der Gewaltausübung sowie der Gründe für Genozide zur dauernden intellektuellen Aufgabe.129

6.

Juden als Minderheit zwischen Verfolgung und Integration

Der Umgang mit Minderheiten ist ein wichtiges Indiz für den Stand von Liberalität und Bürgerfreiheit in einer Gesellschaft. Die bedeutendste, jahrhundertelang in ganz Europa existente und verfolgte Minderheit waren die Juden; ihre Geschichte ist gut erforscht. Im gesetzten Rahmen können nur Grundlinien von Diskriminierung und Emanzipation, Antisemitismus und jüdischer Selbstbehauptung in Preußen skizziert werden. Dabei wird es neben der Haltung des Staates auch um die in der Gesellschaft geordnet nach den Phasen 18. Jahrhun129 Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005. Dazu die Rezensionen von Thomas Kühne: www.hsozkult. de/publicationreview/id/rezbuecher-5533 (30.6.2005) und Ute Daniel in: Werkstatt Geschichte 45 (2007), S.  119–122. Stefan Malinowski/Robert Gerwarth, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S.  439–465. Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 418–429, dazu die Rezension von D. Langewiesche www.sehepunkte.de/2011/10/20655.html. Die fundamentalen Unterschiede thematisieren: Winson Chu u. a., A Sonderweg through Eastern Europe? The Varieties of German Rule in Poland during the Two Word Wars, in: German History 31 (2013), S. 318–344, bes. 323 f., 343 f. und Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen” in der Moderne, München 2013, S. 157–183. Jürgen Zimmerer, Colonialism and Genocide, in: M. Jefferies, The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, S. 433–451, schreibt S. 448: „There is no causal nexus, no necessary and unavoidable path from Southwest Africa to the German occupation policy in Eastern Europe”.

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dert, Reformzeit und Vormärz, Reichsgründungsdekade, wilhelminische sowie republikanische Zeit gehen. Es ist eine äußerst ambivalente Geschichte der Fortund Rückschritte. 1671 erlaubte Kurfürst Friedrich Wilhelm im Rahmen seiner Bevölkerungspolitik den Zuzug besitzender Juden nach Brandenburg; um 1745 gab es 14.000 Juden in Preußen (0,4 % Bevölkerungsanteil), der Großteil in Berlin und Schlesien. Im 18. Jahrhundert erließen alle Staaten zunehmend restriktive Juden-Ordnungen, so Preußen 1730 ein Generalreglement; es beschränkte Juden im Handel, verschloß ihnen den Handwerkerberuf weitgehend, untersagte Häuserkauf und legte für Genehmigungen (Privilegien) hohe Zahlungen fest. Das revidierte Generalreglement von 1750 sollte explizit die „überhand nehmende Vermehrung“ von Juden stoppen und verschärfte die Reglementierung aller Lebensbereiche mit weiteren Verboten. Ganz wenige „Generalprivilegierte“ besaßen relativ gesicherte Rechte; sog. „ordentlichen Schutzjuden“ wurde die Vererbung dieses Status‘ nur auf das erste Kind erlaubt; „außerordentlichen Schutzjuden“ wurde die Niederlassung ihrer Kinder, d. h. der Fortbestand des Rechtsstatus der Familien, grundsätzlich untersagt. Für die Duldung erhob der Staat stetig „Schutzgelder“, die beispielsweise für Reisen, Trauungen, Militärfreiheit oder zur Wahl der Gemeindeältesten fällig wurden. Seit 1747 bestand gar die Kollektivhaftung der jüdischen Gemeinden bei oft unbewiesenen Anschuldigungen wie Diebstahl, Handel mit gestohlenen Waren oder Bankrott. Aufgrund all dessen bezeichnete Max Weber die Juden als das „Pariavolk“ der Ständegesellschaft. Trotzdem lautete die gängige Ansicht, daß Preußen im 18. Jahrhundert aufgeklärt-tolerant gewesen sei und früh einen Rechtsrahmen für Juden geboten habe. Sogar jüdische Autoren wie Selma Stern, Verfasserin einer achtbändigen Geschichte preußischer Judenpolitik im 18. Jahrhundert, vertraten sie bis 1933, um so das Wunschbild christlich-jüdischen Miteinanders historisch zu untermauern und gegen die antisemitische Propaganda des „wir“ contra „die“ zu wenden. Die offensichtliche Judenfeindschaft Friedrich Wilhelms I., der Juden 1722 als „Heuschrecken“, und Friedrichs II., der 1752 von der „gefährlichsten Sekte“ sprach, wurde demgegenüber minimiert. In der Realität kannte die – je nach Situation willkürlich gehandhabte – Judenpolitik Preußens nur eine Leitlinie, nämlich den Nutzen für den Staat. Peter Baumgart hat diese Tatsache bereits 1980 konstatiert. Weil es ihm für den Staat nützlich schien, privilegierte Friedrich II. jüdische Münzmeister (V. H. Ephraim, D. Itzig) zur Finanzierung des Siebenjährigen Krieges; diese Männer profitierten dabei, die Mehrheit aber wurde ausgenutzt. Wenig vermögende Juden galten Friedrich II. als „gantz unnöthig“ und sollten möglichst „weggeschaffet“ werden; ab 1782 erging Ausweisungsorder für 6000 Juden Westpreußens. Als die Akademie der Wissenschaften 1771 für die Symbolgestalt der Berliner Aufklärung, Moses Mendelssohn, formell die Mitgliedschaft in dem Gremium erbat, würdigte Friedrich II. sie keiner Antwort. Die Aufhebung des Niederlassungsverbots für zweite Kinder ließ der König sich 1763 mit 70.000

160  IV. Preußens Gesellschaft Talern bezahlen. Unter Bruch dieser Regelung führte er 1769 einen Porzellankaufzwang ein, demzufolge Juden vor jeder behördlichen Bleibeerlaubnis oder Genehmigung zum Hauskauf für je 300 Taler KPM-Porzellan erwerben mußten; bis heute existieren derartige Stücke – sinnigerweise in Form von Affen-Statuetten. Porzellankauf und der kollektive Zwangsbetrieb einer defizitären Strumpfmanufaktur im brandenburgischen Templin kostete Preußens Juden Hunderttausende Taler. Als Friedrich II. 1779 erfuhr, daß in der Praxis nur je 50–150 Taler Porzellankauf verlangt worden waren, sollten die Juden für enorme 204.000 Taler Porzellan nachkaufen; die Ablösung des Exportzwangs kostete 1788 erneut 40.000 Taler. Die fiskalische Abschöpfung bedeutete wirtschaftliche Bedrängnis, Verlust des Schutzjuden-Status, Auswanderungsgrund, zuweilen Abschiebung. Juden konnten sich auf Rechtssicherheit im Staat Friedrichs II. nicht verlassen, aber zahlen durften sie ausgiebig. Die skizzierte massive finanzielle Ausbeutung und staatliche Diskriminierung hat die Arbeit von Tobias Schenk aktenfundiert herausgestellt. Der in der Literatur lange vorgebrachte Einwand, daß führende Beamte in Schlesien (Graf Hoym) oder Ostpreußen (v. Domhardt) die scharfen Ordres in der Praxis stets gemildert hätten, traf neueren Forschungen zufolge gegenüber ärmeren Juden nicht zu; der von Friedrichs Nachfolger ab 1786, Friedrich Wilhelm II., angestrebten Lockerung der Reglementierung der Juden widerriet gerade die Beamtenschaft. Auch die Habsburgermonarchie diskriminierte Juden massiv (z. B. Ausweisung aus Prag 1744); vergleichsweise günstiger stellten sie jedoch die Toleranzpatente Josephs II. ab 1781. Volle Gleichberechtigung gab erstmals die französische Republik 1791, so daß der Hohenzollernstaat vergleichsweise bis dahin nicht als besonders großzügig gelten kann.130 Rechtliche Gleichstellung forderte in Preußen 1781 Ch. W. Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. In der jahrzehntelangen Debatte dominierte dann nicht nur in Preußen der Erziehungsgedanke, d. h. Juden sollten sich in Sprache, Kleidung, Sitten assimilieren und Berufe fernab des Handels wählen; danach würden Bürgerrechte gewährt. In den Berliner Salons um 1800 (Henriette Hertz, später Rahel Varnhagen) wurde diskutiert und Juden erbaten in Einga130 Standardwerk: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. von M. A. Meyer u. a., 4 Bde., München 1996/97, hier Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Bd. 1, S. 85–247, S. 104 f., 141–147 und Michael Graetz, Jüdische Aufklärung, in: Ebd., S.  251–355, S.  252  ff. (Mendelssohn), 318  ff. (Dohm). Peter Baumgart, Die Stellung der jüdischen Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus [1980], in: Ders., Brandenburg-Preußen unter dem Ancien Régime, hg. v. F.-L. Kroll, Berlin 2009, S. 487–510 (Staatsnutzen als Leitlinie). Aktenfundierte neue Sicht: Tobias Schenk, Friedrich und die Juden, in: Perspectivia.net [2008]; Ders., Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763–1812), Berlin 2010, S. 29 ff. (S. Stern), S. 76–96 (Reglements 1730 und 1750), 390–396 (1779).

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ben Besserstellung. Aber erst die preußischen Reformer setzten nach dem Vorbild Frankreichs die rechtliche Gleichberechtigung für alle Einwohner um. 1808 öffnete die Städteordnung kommunale Ämter für Juden. Das von Hardenberg durchgesetzte Edikt zur Judenemanzipation vom 11.3.1812 erklärte alle Schutzund Konzessions-Juden zu Staatsbürgern, beendete „Schutzgelder“ und Sondersteuern, gab Gewerbefreiheit und freie Eheschließung. Erst diese Regelung und ein ähnlich liberales Judengesetz in Baden (1809) markierten die Spitze in den deutschen Staaten. Der judenfeindliche König Friedrich Wilhelm III. verweigerte Hardenberg aber die Zulassung von Juden zu öffentlichen Ämtern, und ab 1815 wurden Juden faktisch auch aus dem Militärdienst ausgeschlossen. Vergeblich bemühten sich Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, die unter französischem Einfluß erreichte Judenemanzipation in den Staaten des Deutschen Bundes festzuschreiben. Meist wurde das Judenrecht der älteren Zeit restituiert; selbst ein Reformer wie Stein teilte 1816 die Ansicht über die „Verderblichkeit der jüdischen Horde“. Die Staatsmacht in Preußen ließ Juden-Pogrome wie die Hep-Hep-Bewegung in Süddeutschland 1819 zwar nicht zu und trat auch später Unruhen im Gefolge absurder Behauptungen über jüdische „Ritualmorde“ (1881 in Pommern, 1891/92 bei Xanten, 1900 in Konitz) entgegen. Aber die politischen Rechte der Juden schränkten preußische Bürokraten seit Hardenbergs Tod 1822 wieder ein; von Magistrat, Kreis- und Provinzialständen wurden sie ausgeschlossen, als Richter und Hochschullehrer nicht erlaubt. Das Edikt von 1812 galt nicht in den 1815 hinzukommenden Gebieten, was regierungsinterne Debatten auslöste. Das Staatsministerium war um 1840 fast bereit, die rechtliche Lage der Juden zu verbessern, aber, unterstützt von hochkonservativen Kräften in der Bürokratie, unterband Friedrich Wilhelm IV. diese Ansätze. Andererseits scheiterte auch der Versuch dieses Monarchen, die Juden in Zwangskorporationen zusammenzufassen und sie so als minderberechtigte Sondergruppe seinem Konzept vom christlichen Ständestaat – von Alexander von Humboldt als „kleines Mittelalter“ verspottet – unterzuordnen. Allerdings: Der religiös motivierte Anti-Judaismus war noch kein rundheraus völkisch-rassistisch denkender Antisemitismus. Nach dem Übertritt zum Protestantismus standen Juden viele Posten offen; damit wurde die Taufe im 19.  Jahrhundert staatlich prämiiert. Ein im Jugendalter konvertierter Erlanger Staatsrechtslehrer, der ab 1840 in Berlin lehrende F. J. Stahl, konnte sogar zum Theoretiker des christlich-monarchischen Staates und Führer einer konservativen Landtagsfraktion avancieren. Im Grunde christlich-ständestaatlichen Linien folgte das preußische Judengesetz vom 23.7.1847, das zwar eingebürgerten Juden Freizügigkeit und Gewerbefreiheit gab, aber politische Rechte (Wahlrecht zu Kreis- und Provinziallandtag) vorenthielt und ihnen Staats- und Kommunalämter nur soweit öffnete als damit nicht richterliche, polizeiliche oder exekutive Gewalt verbunden war. Juden er-

162  IV. Preußens Gesellschaft reichten im Staatsdienst deshalb nur ausnahmsweise (untergeordnete) Positionen. Jüdische Grundbesitzer mußten ihre Abgaben an christlichen Gemeinden zahlen; der Zwang zur Bildung einer Gemeinde begünstigte die jüdisch-orthodoxe Richtung. Jüdische Studenten konnten Universitätsstellen nur in den Bereichen Medizin, Natur- und Sprachwissenschaften erlangen, nicht in den juristischen oder philosophischen Fakultäten, und selbst das primär bloß in Berlin, da die übrigen Universitäten an antijüdischen Statuten festhielten. Das Judengesetz 1847 bedeutete die Abschaffung älterer Judenordnungen in den neupreußischen Gebieten, primär den Westprovinzen und Sachsen, aber zugleich einen Rückschritt gegenüber Buchstaben und Geist des Edikts von 1812.131 Im nicht vom Judenedikt 1812 erfaßten Posen, wo 40 % aller preußischen Juden lebten, galten seit 1833 restriktive Rechtszustände; nur ca. 20 % Wohlhabende erreichte dort Einbürgerung; viele andere zogen deshalb nach Berlin und dem Westen. Mit dieser Stadt- und Westwanderung – Berlin zählte 1870 36.000 Juden, Breslau 14.000, Frankfurt/M. 10.000 – ging der soziale Aufstieg von Teilen der Judenschaft einher. Eine Schicht jüdischer Großkaufleute kam auf; 1834 wurden Joseph Mendelssohn in Berlin und Simon Oppenheim in Köln sogar Vorsitzende von Kaufmannschaft bzw. Handelskammer. Mit Bildungsstreben, Familienorientierung und Geschäftssinn erarbeiteten sich Juden in drei Generationen den Status als Bildungs- und Wirtschaftsbürger. 1848 wurden sechs Juden und zwölf Jüdischstämmige zu Mitgliedern der Frankfurter Nationalversammlung gewählt; die dort ausgearbeitete Verfassung beinhaltete volle Gleichberechtigung für alle deutschen Juden. Im Revolutionsjahr lockerte auch die Regierung Preußens kurzfristig die Reglementierung, aber bald legte man den Rückwärtsgang ein; aufgrund einer restriktiv-antijüdischen Auslegung der preußischen Verfassung von 1850 wurden Juden erneut Staats- und (Hochschul-)Lehrämter verweigert. 1862/64 gewährten Baden und Württemberg den Juden politische Gleichberechtigung. Preußen, wo 1867 mit 315.000 Menschen 62 % aller deutschen Juden lebten, gelangte erst dahin, als 1869 die Liberalen im Norddeutschen Reichstag das Gesetz zur Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung durchsetzten. Formalrechtlich war damit die Gleichstellung erreicht 131 Hans-Werner Hahn, Judenemanzipation in der Reformzeit, in: Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“, S.  141–161; Annegret H. Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812 bis 1847 mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, Berlin 1987, bes. S. 238 ff., 368–372, 396–403; Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hier: Stefi Jersch Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, in: Bd. 2, S. 15–56. Detailliert: Marion Schulte, Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (1787–1812), Berlin 2014, S.  210 (widerstrebende Beamtenschaft), 344 f., 440, 448, 478–480 (Hardenbergs Rolle, Widerstand Friedrich Wilhelms III.) und Irene A. Diekmann (Hg.), Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“, Berlin 2013.

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und im Reichsgründungsjahrzehnt wurden gläubige Juden in Preußen erstmals zu hohen Richterposten und ordentlichen Universitätsprofessoren ernannt, mit dem Erbadel bedacht (G. Bleichröder, A. Oppenheim), führend in liberalen Parteien (E. Lasker, L. Bamberger), in Baden gar Minister (M. Ellstätter), während in Preußen Bismarck immerhin zwei Konvertierte (H. Friedberg, R. Friedenthal) zu Ressortchefs berief.132 Schon mit der „Neuen Ära“ ab 1859, als das altliberale Kabinett den Ausschluß der Juden von öffentlichen Ämtern milderte und zugleich Sozialkonservative wie Hermann Wagener nach Parolen zur Gewinnung von Wählerstimmen suchten, nistete sich im preußischen Konservatismus ein neuer Antisemitismus ein, politisch motiviert, rassisch begründet, antikapitalistisch getönt und antiliberal instrumentalisiert. Die Idee vom jüdisch-liberalen Komplott etablierte sich mit der Wirtschaftskrise ab 1873 (sog. Gründerkrach) und der konservativen Wende Bismarcks 1878 breit in der Rechten Preußens: Juden wurden als Symbole und Profiteure von Liberalisierung, Modernisierung, Kapitalismus bekämpft, später als Strippenzieher in Finanzwelt, Pazifismus, Frauenbewegung angegriffen und zu Sündenböcken für ökonomische oder soziale Probleme gemacht. Er ging klar über den alten christlichen Antijudaismus hinaus, denn Juden wurden nun als „Rasse“ betrachtet, wogegen auch Taufe und lebensweltliche Anpassung nichts verschlügen. Es gab unterschiedliche Grade von Judenfeindschaft, aber nicht nur extreme Nationalisten betrachteten deutsche Juden als „fremden Stamm“. Diese völkische Sichtweise zielte auf soziokulturelle Uniformität, ließ selbst kleine Differenz nicht zu. Allmählich griff die Konstruktion der (deutschen) Nation gegen die Juden (und andere Minderheiten) Platz. Die Idee wurde pseudowissenschaftlich begründet und existierte als kulturelle Haltung, als soziale Praxis sowie in Form politischer Bewegungen, vor allem den Antisemiten-Parteien ab den 1880er Jahren (H. Ahlwardt, O. Böckel). Diese scheiterten nach Skandalen schnell, aber in Gesellschaft und Politik breitete sich Antisemitismus aus. Der Historiker Heinrich v. Treitschke schrieb 1879, unter Juden bestehe ein „Geist der Überhebung“, sie dominierten in Presse und Börse, die Meinung herrsche: „Die Juden sind unser Unglück“. 75 nichtjüdische Prominente, zuvörderst der Arzt Rudolf Virchow und der Historiker Theodor Mommsen, wandten sich im (Berliner) AntisemitismusStreit dagegen, aber antisemitische Einstellungen bestanden gesellschaftlich und zumal auf der politischen Rechten Preußens fort. 132 Jacob Toury, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847–1871, Düsseldorf 1977, zur Rechtslage in deutschen Staaten die Tab. S. 384–389. Zum jüdischen Leben in den Ostprovinzen im 19./20.  Jahrhundert anschaulich: „Das war mal unsere Heimat …“. Jüdische Geschichte im preußischen Osten. Begleitband zur Internationalen Tagung am 2. und 3. November 2011 in Berlin, Berlin 2013, bes. ­Monika Richarz, Juden im preußischen Osten, S. 21–35.

164  IV. Preußens Gesellschaft Der märkische Adelige Ludwig von der Marwitz hatte bereits 1811 formuliert, das altehrwürdige Brandenburg-Preußen solle mit Hardenbergs Reformen „ein neumodischer Judenstaat“ werden. Bismarck ließ ab 1881 die Einwanderung unterbinden und 1885/86 etwa 9.000 russisch-polnische Juden aus den Ostprovinzen ausweisen. 1892 hieß es im (sog. Tivoli-) Programm der Deutschkonservativen Partei offen: „Wir bekämpfen den wirtschaftlich vordrängenden und zersetzenden Einfluß des Judentums auf unser Volksleben. Wir verlangen für das christliche Volk eine christliche Obrigkeit“. Der 1881 gegründete Verein deutscher Studenten schloß per Satzung Juden von der Mitgliedschaft aus. Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus hielt dagegen, gewann jedoch unter Gojim nur begrenzt Unterstützung. Diskriminierung bestand im staatlichen Bereich fort: Jüdische Offiziere und Reserveoffiziere gab es nicht, in der Verwaltungs-, Richter- und Hochschullaufbahn waren Juden stetig stark benachteiligt. Hier war Preußen bis 1914 klar restriktiver als Baden, Hessen oder Bayern. Selbst reiche jüdische Großbürger mit oberflächlichen Kontakten zu Wilhelm II., in Berlin deshalb als „Kaiserjuden“ ironisiert, gehörten in Preußen – anders als in England, Frankreich oder Holland – keineswegs unbestritten zur Stadtelite oder wurden anstandslos nobilitiert, sondern begegneten vielfach Ressentiments und Exklusion.133 Durch Übertritt zum Christentum konnten Juden manche Barrieren leichter überwinden. Diese Konversion vollzogen Juden zu Tausenden seit 1812. Aber vielen anderen erschien dies als Selbstverleugnung und Akzeptanz als irrational empfundener christlicher Dogmatik zwecks beruflichen Fortkommens. Diese dreifache Zumutung und Kappung eigener Wurzeln lehnten viele ab. Als der bekannte Architekt Alfred Messel 1899 zum Protestantismus konvertierte, erhielt er binnen Monaten den Roten Adler-Orden IV. Klasse – und spottete, nun sei er wohl viertklassig geworden. Wie präsent völkischer Antisemitismus auch in preußischen Regierungskreisen war, belegen zwei Sätze aus den Akten des Innenministeriums. Dort notierte der zuständige Beamte 1911 zu einem Erlaß gegen Zuwanderung, die Nicht-Aufnahme von Juden „erfolgt nicht wegen ihres Glaubensbekenntnisses, sondern wegen ihrer Abstammung und Rasse-Eigenschaften. Diese werden durch die – meist aus geschäftlichen Interessen angestrebte – Taufe nicht behoben.“

133 Christoph Nonn, Antisemitismus, Darmstadt 2008, S.  50–74. Henning Albrecht, Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873, Paderborn 2010, S.  262  ff., 532  ff. Peter Alter u. a. (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999. Lothar Mertens, Kulturelles und wissenschaftliches Leben der preußischen Juden 1848–1918, in: Luh u. a. (Hg.), Preußen, Deutschland und Europa, S. 338–351. Kai Drewes, Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2013, S. 112–142, 271 ff. Spenkuch, Herrenhaus, S. 426 ff.

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Im gleichen Jahr stellte der Berliner Industrielle, Intellektuelle und 1922 als Reichsaußenminister ermordete Walther Rathenau in seiner Schrift „Staat und Judentum“ fest: „Den Juden trifft ein sozialer Makel. In die Vereinigungen und den Verkehr des besseren christlichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen. Zahlreiche Geschäftsunternehmungen schließen ihn als Beamten aus. Die Universitätsprofessur ist ihm durch stille Vereinbarung versperrt, die Regierungsund Militärlaufbahn, der höhere Richterstand durch offizielle Maßnahmen. In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann“. Dies traf die Lage genau: Gläubige Juden begegneten weithin Ressentiments, mußten in der Regel tüchtiger sein, und wurden dann Ziel von Neid. Wegen Ausgrenzung im öffentlichen Sektor konzentrierten sie sich in selbständigen Berufen, als Kaufleute und Ladenbesitzer, Ärzte und Rechtsanwälte, Journalisten und Kulturschaffende. Juden gehörten zu über drei Vierteln zum Groß- und Kleinbürgertum; wegen Ausschluß vom Grundbesitz fehlten jüdische Bauern ganz und maximal 15 % waren Arbeiter oder Unterschicht-Angehörige. Wirklich reich waren wenige, aber eine bürgerliche Existenz (ab 3000 M. Jahreseinkommen vor 1914) erreichten viele. Die große Mehrheit pflog einen bürgerlichen Habitus in Wohnung und Familie bei starker Orientierung auf Bildung und Kultur. Man kann das Akkulturation oder pauschal Verbürgerlichung nennen.134 Die vorstehenden Aussagen basieren primär auf detaillierten Lokalstudien zu Juden im großstädtischen Kontext, nämlich Breslau, Königsberg und Köln in Kaiserreich und Republik. Man konstatierte dort Integration in bestimmten Bereichen und klare Grenzen in anderen. Es gab (ca. 1/3) gemischte Ehen, offene Vereine und höhere Schulen mit erklecklichen jüdischen Anteilen; bestehende antisemitische Milieus führten zu spezifisch jüdischen Vereinen. In städtischen Gremien waren Juden kaum diskriminiert, zumal sie wegen des steuerbasierten Wahlrechts vor 1914 viele Stadtverordnete bestimmten und sogar Stadtverordnetenvorsteher stellten. Aber schon 1913 verweigerten selbst Königsberger Linksliberale aus Furcht vor antisemitischer Agitation ihrem jüdischen Parteifreund Max Lichtenstein (1942 im KZ Theresienstadt ermordet) die Landtagskandidatur. Juden fühlten sich weit überwiegend als Deutsche jüdischen Glaubens oder praktizierten gar nicht. Dementsprechend hieß der 1893 gegründete Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der klares Bekenntnis zu Deutschland mit jüdischer Identität verband, aber ein Ziel antisemitischer Agitation blieb. Daß Juden in Preußen eine gefährdete Minderheit darstellten, zeig134 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 275 (Zitat Innenministerium). Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit, 7. Aufl., Berlin 1912, S. 223 (Zitat). Manfred Hettling, Sozialstruktur und politische Orientierung der jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich, in: Ders. u. a. (Hg.), In Breslau zu Hause? Hamburg 2003, S. 113–130.

166  IV. Preußens Gesellschaft te sich bereits 1916, als das Kriegsministerium auf den Vorwurf der „Drückebergerei“ hin eine Judenzählung im Heer anordnete. Sie ergab, daß von 550.000 deutschen Juden 96.000 eingezogen und davon 30.000 im Krieg befördert sowie 12.000 gefallen waren – Zahlenverhältnisse wie bei Nichtjuden. Diese Tatsachen wurden aber nicht offiziell veröffentlicht und verbohrte Antisemiten ignorierten sie sowieso. Politisch hielt sich die Mehrheit zum Liberalismus, der am klarsten Staatsbürger-Gleichheit, Rechtsstaat und Freihandel vertrat; es gab freilich auch konservative, betont nationale Juden. Als die Nationalliberalen ab 1884 nach rechts rückten, bevorzugten viele den linksliberalen Freisinn. Die SPD war nie antisemitisch und in ihrer Spitze gab es stets Männer jüdischer Herkunft ohne Glaubensbindung (z. B. Paul Singer); sie blieb aber programmatisch schwer wählbar für Selbständige und Bildungsbürger. Nach 1918 hielten Juden großenteils zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die, von rechts als „Judenpartei“ geschmäht, bald von vielen Nicht-Juden zugunsten weiter rechts stehender Parteien verlassen wurde. In der Krise ab 1930 wählte wohl ein 1/4 der Juden die Verfassungspartei SPD, manche die für Religionsfreiheit einstehende katholische Zentrumspartei, Jüngere durchaus die KPD. Weimarer Republik und Freistaat Preußen, wo 1933 71 % der deutschen Juden lebten, über 150.000 allein in Berlin, beseitigten ab 1918 die Diskriminierungen bei staatlichen Stellen. Im November 1918 wurde mit dem SPD-Abgeordneten Paul Hirsch ein Mann jüdischer Herkunft preußischer Ministerpräsident. Mit Sozialdemokratie und Linksliberalismus konnten 1918/19 Jüdischstämmige erstmals zahlreich in politische Führungspositionen gelangen. Dies und die Demokratie generell belegte die Rechte bald mit dem denunziatorischen Schlagwort „Judenrepublik“. Der antisemitische Diskurs bezog sich nun häufig auf die nachkriegsbedingte Einwanderung von ca. 100.000 Juden aus Polen, Rußland und dem ehem. Habsburger Reich, sog. Ostjuden. Davon blieben ca. 40 % allein in Berlin, denn das republikanische Preußen ließ sie relativ liberal zu und gewährte auch Asyl und Arbeitserlaubnis großzügiger als andere Länder. SPD-Innenminister Carl Severing warnte Preußens Behörden explizit vor Antisemitismus gegen Ostjuden, betonte die allgemein-menschlichen Rücksichten und vertrat die liberale Einbürgerungspraxis im Landtag. 1927 wollte Severing das Kriterium genetischer Deutschstämmigkeit durch das Bekenntnis zur deutschen Kulturgemeinschaft ersetzen, aber erntete bei anderen Ländern Ablehnung. Speziell Bayerns Regierung wandte sich massiv gegen „Fremde“, die als Konkurrenz für deutsche Arbeitssuchende ausgegrenzt oder gar als „Bolschewisten“ verdächtigt wurden. Zur Einbürgerung verlangte Bayern 20 Jahre, Preußen hingegen nur zehn Jahre Aufenthalt. Der Freistaat naturalisierte zwar überwiegend „Deutschstämmige“ (ca. 114.000 bis 1931), aber auch rd. 12.000 „Ostjuden“.

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Die 1920er Jahre waren eine Blütezeit für gläubige Juden wie Jüdischstämmige in Kultur und Wissenschaft, zumal in Berlin; sie stellten elf von 40 deutschen Nobelpreisträgern bis 1933. Buchtitel wie „Juden in der deutschen Literatur“ oder „Die Juden in der Medizin“ stellten deren Leistungen für das Heimatland heraus. Als Siegmund Kaznelson 1932 den Band „Juden im deutschen Kulturbereich“ begann, wußte er nicht, daß das Buch 1935 von der Gestapo kassiert und erst 1959 publiziert werden würde. Umgekehrt einte die Ablehnung des „verderblichen Einflusses“ von Juden viele Landbewohner, Gewerbetreibende und Akademiker – oft aus Neid gegen erfolgreiche Konkurrenten. Die NS-Propaganda baute darauf auf. Zu Anfang wie zu Ende der Republik gab es beträchtliche Gewalt in Form von Übergriffen, Tumulten, Geschäftsboykotten (u. a. 1923 im Berliner Scheunenviertel und 1931 am Kurfürstendamm, 1927 in Breslau, 1931 an der Kölner Universität), was viele patriotische Juden damals verdrängten. Diese Gewaltakte, die bis zu Morden an jüdischen Persönlichkeiten wie dem USPD-Vorsitzenden Hugo Haase oder Walther Rathenau reichten, bewirkten unter jüngeren Juden die Rückbesinnung auf ein dezidiertes Judentum und das Engagement für den Zionismus, d. h. die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Aufgrund von Ausgrenzung wuchs so jüdische Identität. Steigende Stimmenzahlen für die antisemitische NSDAP, die nach modernen Wahlanalysen zwar nicht primär deshalb gewählt wurde, deren radikaler Antisemitismus jedoch umgekehrt viele nicht vom Schwenk zur NSDAP abhielt, verstärkten den Trend.135 Der Vergleich der Stellung der Juden und des Antisemitismus in den Ländern Europas bildet den letzten Schwerpunkt der Forschung. Unstrittig ist, daß gesellschaftlicher Antisemitismus und gewalttätige Pogrome in Rußland-Polen und Österreich quantitativ am stärksten vertreten waren; der erklärte Antisemit Karl Lueger amtierte in Wien bis 1913 als Oberbürgermeister. Aber die Regierung des Habsburger-Vielvölkerreichs setzte zwecks Gewinnung der Juden für Deutsch-Österreich diesen in Militär, Verwaltung, Universitäten oder bei Adelsverleihungen deutlich weniger Barrieren entgegen als Preußens Regierung. Gesellschaftlicher Antisemitismus und regierungsseitige Liberalität standen also nebeneinander. 135 Eli Nathans, The Politics of Citizenship in Germany, Oxford 2004, S. 201–216 und Stenographische Protokolle des Preuß. Landtags 29.11.1922, Sp. 13568–13574 (Severing). Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten, und Katholiken in einer deutschen Großstadt 1860–1925, Göttingen 2000, S. 51–55, 317–329; Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Pr. 1871–1945, Göttingen 1996, S. 62 f., 79, 214; Nicola Wenge, Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns 1918–1933, Mainz 2005. Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003. Paul Mendes-Flohr, Juden innerhalb der deutschen Kultur, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4, S. 167–190.

168  IV. Preußens Gesellschaft Im Vergleich Preußens mit Italien ist betont worden, daß die Emanzipation in beiden Ländern bis um 1880 weithin gelang; Antijudaismus wurde aber in Italien von der politisch ausgegrenzten katholischen Kirche und Unterschichten getragen, in Preußen von einflußreichen bürgerlichen Intellektuellen und dem protestantisch-konservativen Milieu. Das in seiner institutionellen politischen Kultur dominant liberal-laizistische Italien mit vielen (Klein-) Städten und altem Handelskapitalismus kannte bis weit in die faschistische Zeit (1938) keinen staatlichen Antisemitismus, während diesem mit der gesellschaftlichen Entliberalisierung nach 1878 im konservativ regierten Preußen mehrere Einfallstore eröffnet wurden, obschon die Antisemiten im Reich bis 1914 weder hohe Stimmenanteile noch gar die kulturelle Hegemonie errangen. Die Forschung geht davon aus, daß der Anpassungsdruck für Juden in Preußen-Deutschland bis 1918 höher war als in Westeuropa, wenngleich auch dort nicht ideale Zustände herrschten. In Frankreich gab es gesellschaftlichen Antisemitismus zumal bei den katholischen Parteien und Vorbehalte im Militär bis zur berühmten Dreyfus-Affäre um 1900. Aber im parlamentarisch-republikanischen System war systematische Juden-Ausgrenzung unbekannt und selbst die bäuerliche Societé des Agriculteurs blieb, anders als der ostelbische Bund der Landwirte, weitgehend frei davon. Deutliche Unterschiede bestanden zwischen Preußen-Deutschland und den Niederlanden bzw. Großbritannien. In Preußen lebten Juden bis 1918 im Status „obrigkeitlich toleriert”, der Staat gab für schulischen Religionsunterricht und Rabbiner anders als bei christlichen Konfessionen keine Zuschüsse; mit dem Argument, orthodoxe und liberale Juden könnten sich nicht einigen, wurde eine zentrale Vertretung nicht anerkannt; die Diskriminierung in Militär und Staatsdienst blieb stark, wobei die Regierung antisemitischen Einstellungen und Organisationen entgegenkam. In den Niederlanden gab es andere sozio-politische Traditionen: Religiöse Freiheit war das Grundmotiv der niederländischen Republik seit der Unabhängigkeit im späten 16.  Jahrhundert; in der Handelsnation bestanden weder Vorbehalte gegen Gelderwerb noch völkische Feindschaft gegen Fremde; die bedeutende Rolle von Juden in Ökonomie, Parteien und Justiz war anerkannt; insgesamt ließen sich in der relativ pluralistischen Gesellschaft national-niederländische und jüdische Identität vereinen. In Großbritannien bildeten Juden eine der Minderheiten außerhalb der Staatskirche (sog. Nonkonformisten) und teilten deren jahrzehntelange Zurücksetzung auf mancherlei Feldern, waren aber nicht „unenglische Feinde“. Es gab auch dort Kontroversen um die Stellung von Juden, aber keine massive öffentliche Strömung für die rassistische Ausgrenzung von Juden. Genau dies forderte aber 1913 Heinrich Claß, Vorsitzender des nationalistischen Alldeutschen Verbandes und neurechter Publizist: Zum Schutz des deutschen Volkes müsse man Berufsverbote und zweifach erhöhte Steuern wie im 18.  Jahrhundert verhängen, die Juden zur Auswanderung drängen, mit dem

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Rest könne man fertig werden. Diese gesellschaftlich breit verankerte völkische Dimension – Juden als „fremde Rasse“ und der Feind des „Deutschtums“ – markiert einen zentralen Unterschied zwischen Preußen-Deutschland und Westeuropa. Trotzdem führte keine direkte Linie vom christlichen Antijudaismus und gesellschaftlichen Antisemitismus in Preußen zum Judenmord. Alte Judenfeindschaft und Anti-Minderheiten-Politik waren Vorbelastungen, aber bei den republiktragenden Parteien weder politisches Ziel noch dominante Realität. Bis 1933 teilte die Mehrheit der Eliten wie der Gesellschaft trotz Ressentiments nicht den gewalttätigen Rundum-Antisemitismus der Nationalsozialisten. Aber deren umgehend betriebene gewaltsame Juden-Verfolgung wurde gesellschaftlich hingenommen, begünstigt von verbreiteter Bereitschaft zur Ausgrenzung der „volksfremden“ Juden und dem anerzogenen Vertrauen auf den starken Staat in Preußen-Deutschland. Mit den Nationalsozialisten besaß erstmals die extrem judenfeindliche Richtung die Staatsmacht und setzte alle Mittel gegen die Juden ein: Rücksichtsloser Terror von der Staatsspitze her ergab die neue Dimension der Verfolgung im Nationalsozialismus. Erst die Kombination von Staatsmacht, völkischer Ideologie und entgrenzter, skrupelloser Gewalt ermöglichte im Weltkrieg 1941/42 den NS-Akteuren die Exekution des genozidalen Massenmords in Europa. Zehntausende knapp der Vernichtung entkommener Juden mit preußischen Ursprüngen mußten ihre neue Heimat weltweit finden, sei es in Palästina (z. B. Else Lasker-Schüler, Erich Mendelsohn, Fritz Naphtali), in England (z. B. Leo Baeck), in den USA (z. B. Albert Einstein, Hannah Arendt, Fritz Stern) oder in Lateinamerika (z. B. Hugo Simon, Gisèle Freund). Trotz Vertreibung hielten manche Emigranten die Erinnerung an die Herkunftsgegend noch jahrzehntelang wach, beispielsweise durch die erst 2011 nachfragebedingt eingestellten „Mitteilungen des Vereins ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel“. Weil der Holocaust glücklicherweise nicht das Ende der Juden in Deutschland bzw. Eu­ ropa und traurigerweise nicht das Ende genozidaler Morde global war, bleibt die Befassung mit dem Antisemitismus wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufgabe.136 136 Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hier: Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in: Bd.  3, S.  223–228 (Österreich). Ulrich Wyrwa, Gesellschaftliche Konfliktfelder und die Entstehung des Antisemitismus. Das Deutsche Kaiserreich und das liberale Italien im Vergleich, Berlin 2015, S.  359–378. Nonn, Antisemitismus, S. 36–48. Hermann v. d. Dunk, Antisemitismus zur Zeit der Reichsgründung. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, in: P. Alter u. a. (Hg.), Konstruktion der Nation, S. 65–91, S. 89 f. Michael Brenner u. a. (Hg.), Two Nations. British and German Jews in Comparative Perspective, Tübingen 1999, bes. S. 185–192 Christhard Hoffmann, Kommentar Boundaries of Citizenship. Heinrich Claß, Wenn ich der Kaiser wär!, Leipzig 1913, S.  30  ff., 74  ff. Wolfgang Benz/Werner Bergmann, Antisemitismus – Vorgeschichte des Völkermords? in: Dies. (Hg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn 1997, S. 10–31.

170  IV. Preußens Gesellschaft

7.

Polen und slawophone Gruppen als ethnische ­Minderheiten

Die Geschichte Preußens war von Anfang an mit der Existenz von slawischen bzw. slawophonen Gruppen verknüpft, in außen- wie in innenpolitischer Hinsicht. Im Zuge der Gebietsausdehnung gewann Preußen an seiner Ostgrenze Territorien mit großenteils slawophoner Bevölkerung, die am Höhepunkt (1795– 1807) ca. 35 % der Gesamteinwohnerzahl Preußens umfaßte. Die sich dort im Zeitalter des Nationalismus verschärfenden nationalen Konflikte prägten das deutsch-polnische Verhältnis bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Für den Historiker Klaus Zernack bildete die in Kooperation mit Rußland betriebene zweihundertjährige „negative Polenpolitik“ die zentrale geschichtliche Belastung Preußens: „Die ostpolitischen Hypotheken der Hohenzollernmonarchie haben der kurzen deutschen Nationalreichsgeschichte eine borussische Belastung beschwert, die Deutschland als Nationalstaat nicht hat ertragen können und an der es als dieser gescheitert ist.“ Zwei Jahrhunderte Entwicklung werden im Folgenden anhand von Forschungsdebatten nachgezeichnet.137 In der Forschung dominierten lange die außenpolitischen Entscheidungen vom 18.  Jahrhundert bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 und die zentralstaatliche Minderheitenpolitik im 19. Jahrhundert. In jüngeren Arbeiten werden häufig die Entstehung bzw. die Interaktion der Nationalismen in der preußisch-deutschen bzw. polnischen Gesellschaft thematisiert; als Fortführung dessen wird aus regionaler Perspektive die national lange nicht eindeutig zuordenbare, kulturell eigenständige Gesellschaft der östlichen Peripherie Preußens thematisiert. In den letzten Jahren diskutiert man zudem die Frage, ob Preußen-Deutschland in vergleichender Sicht nicht als multinationales Kontinental-Imperium ähnlich dem österreichischen oder russischen sowie analog zum überseeischen englischen Empire zu verstehen sei. Damit gewinnt preußische Geschichte Anschluß an vieldiskutierte aktuelle Forschungsfragen. Aus staatlicher Perspektive läßt sich die realhistorische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert in sechs Phasen einteilen. Der erste Abschnitt bis zum Erwerb Schlesiens 1763 und der Ersten Teilung Polens 1772 umfaßte die vor-nationale frühneuzeitliche Epoche. Damals waren die späteren Provinzen Posen und Westpreußen Teil Polens, Ostpreußen Lehen der Krone Polens mit slawophonen Bevölkerungsteilen, und in Oberschlesien dominierten diese sogar. In jener Periode sahen die Stände, der politisch mitsprechende Teil der Bevölkerung in Ostund Westpreußen, ihre Interessen meist eher von der dezentralen polnischen 137 Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, hg. v. O. Büsch/W. Neugebauer, S. 377–448, S. 436. Präziser Überblick bei William W. Hagen, Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East 1772–1914, Chicago 1980.

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Wahl-Monarchie als vom absolutistisch-zentralen Berliner Regime gewahrt. Ein deutsch-polnischer nationaler Gegensatz existierte nicht. Aufgrund kühl kalkulierter Machtpolitik annektierte Friedrich II. 1772 Westpreußen und das ostpreußische Ermland; nationale Motive, etwa bezüglich Gewinnung der ja teilweise deutschsprachigen Bevölkerung, äußerte er nicht. In dieser zweiten Phase betrieb der Staat keine breitgefaßte Repression gegen die Bevölkerung, aber die slawophonen katholischen Eliten wurden möglichst abgelöst und die ökonomischen Maximen Friedrichs II. drängten viele Adelige aus dem Land. Er prägte 1781 – als infolge Einführung des rigiden Merkantilsystems unerwartet geringe finanzielle Erträge einkamen – das böse, aber lange populäre Wort von der polnischen Mißwirtschaft: „Das ist alles die liederliche polnsche Wirtschaft der dortigen Edelleute Schuld, die sich nicht zur Ordnung gewöhnen wollen“, schrieb der Monarch. Bei ihnen seien Steuern nötigenfalls vom Militär einzutreiben. Danzig, Thorn und die Weichsel hießen nun die Ziele preußischen Machtstrebens und die aufsteigende Großmacht Rußland zielte auf weitere Annexionen in Polen. Beide Länder einigten sich 1793/1795 auf die zweite und dritte Teilung Polens. Herrscherwechsel und Länderschacher waren im 18. Jahrhundert nicht unüblich. Die restlose Aufteilung eines institutionell funktionsfähigen, souveränen Staates in Friedenszeiten ohne jeden Rechtsgrund, noch dazu des größten nicht-absolutistischen Gemeinwesens Kontinentaleuropas, erschien schon vielen Zeitgenossen, z. B. dem englischen Staatsdenker Edmund Burke, ungerechtfertigt und empörend. Für Polen blieben die Teilungen ein Trauma bis heute. In den kernpolnischen Gebieten wurden ca. 2,7 Mio. Einwohner preußischer Verwaltung unterstellt. In den Süd- bzw. Neuostpreußen genannten Regionen versuchte sie bis 1806 Ausbau der Infrastruktur und sogar Besserung für die Bauern, brachte aber durch Verstaatlichung der Starosteien und geistlichen Güter Adel und Geistlichkeit gegen Preußen auf. Rigoroses Behördenvorgehen erboste an freiere Verhältnisse gewöhnte Einwohner. Publizisten wie L. von Baczko propagierten nun die nötige „Zivilisierungsmission“ gegen angebliche polnische Adelsdespotie und Rechtsunsicherheit, Bildungsferne und Mißwirtschaft – ideologische Stereotypen, die in der borussischen Landeshistorie langjährig widerhallten. Demgegenüber urteilte Klaus Zernack, das Verdikt der polnischen Historiographie, der preußischen Bürokratie habe jedes Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Gewinnung der polnischen Untertanen für den preußischen Staat gefehlt, sei zutreffend.138 138 Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S.  267 (Friedrich-Zit.). Polnische Sicht: Marian Biskup, Preußen und Polen. Grundlinien und Reflexionen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 31 (1983), S.  1–27; Stanislaw Salmonowicz, Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft,

172  IV. Preußens Gesellschaft Die Spannweite preußischer Polenpolitik im 19.  Jahrhundert wurde bereits 1807 diskutiert. Während zentralistische Verwaltungsbeamte wie Justus v. Gruner meinten, „der preußische Staat kann, ohne sich selbst zu untergraben, den Pohlen ihre alten Rechte und Vorzüge nicht zurückgeben“, schrieben Reformer wie Hardenberg und Altenstein ungleich moderater, anstelle des Versuchs der gewalttätigen Bekämpfung der polnischen Nationalität solle diese „künftig nur veredelt“ werden: „Die Polen müssen unter der preußischen Regierung so viel Schonung ihrer Vorurteile und soviel Schmeichelhaftes für ihre Eitelkeit finden, daß sie gar keine Veranlassung haben, sich großer Gefahr auszusetzen, um eine ungewisse Verbesserung ihrer Lage“ zu erstreben. Ausbildung und gewinnende Herrschaftsspraxis sollten sie von jenen Vorteilen überzeugen, „welche sie als preußische Untertanen im höheren Grade als unter jeder anderen Verfassung genießen.“ Auch die Reformer – und nach 1871 Linksliberale, Zentrum sowie SPD – wollten also weder auf alle gemischtsprachigen Gebiete verzichten, noch Polen dauerhaft als zweite Nation im Staate fördern. Aber sie gewährten prinzipiell Rechtsgleichheit statt offener Diskriminierung, wollten Bildungsangebote und Landesentwicklung nutzen, um die slawophonen Minderheiten für Preußen zu gewinnen und allmählich zu assimilieren. Diese Alternativen waren nicht schwarz oder weiß, aber doch entschieden unterschiedliche Grautöne: Repres­ sions- oder Gewinnungspolitik bedeuteten im Alltag definitiv höhere oder geringere menschliche Kosten. Zwischen der neuerlichen Einverleibung 1815 und 1830 betrieb Preußen tatsächlich eine Art friedlicher Gewinnungspolitik gegenüber den slawophonen Minderheiten. Friedrich Wilhelm III. proklamierte Religions- und Sprachfreiheit sowie Zugang zu öffentlichen Ämtern, „ohne eure Nationalität verleugnen“ zu müssen. Der polnische Fürst Radziwill amtierte als königlicher Statthalter von Posen, es gab polnische Land- und Regierungsräte, Polnisch konnte bei Behörden und vor Gerichten verwandt werden, der Volksschulunterricht war gutenteils polnisch und in unteren Gymnasialklassen gab es polnischen Unterricht, selbst bilingual polnisch- bzw. litauischsprachige Lehrerseminare existierten vom masurischen Ortelsburg bis in die Grenzstadt Memel. 1822 bekräftige der nunmehHerne 1995; Witold Molik, Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: H.-H. Hahn/P. Kunze (Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 29–39. Zernack, Preußen–Deutschland–Polen, S. 117 ff. (Zitat). Markus Krzoska, Teilungserfahrungen und Traditionsbildung: Die Historiographie der Teilungen Polen-Litauens (1795–2011), in: H.-J. Bömelburg (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens, Osnabrück 2013, S. 37–104, 57 ff. Zu kolonialem Blick und Zivilisierungsmission Hans-Jürgen Bömelburg, Sprache und Nation im Preußenland (1772/93–1870/78), in: K. Maier (Hg.), Sprache und Nation in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012, S. 313–333 sowie Jörg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht, Wiesbaden 1996, S. 65 f.

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rige Kultusminister Altenstein, daß katholische Religion und polnische Muttersprache von den Staatsbehörden zu achten seien – keine herrschaftsfreie Idylle, aber vergleichsweise mildes Regiment.139 Die dritte Phase und deutliche Verschärfung setzten mit dem polnischen Aufstand in Russisch-Polen 1831 ein, bei dem auch 3.000 Polen aus Preußen kämpften. Das Großherzogtum Posen hieß nun Provinz, Radziwill wurde entlassen, polnische Land- und Regierungsräte allmählich abgelöst. Der neue Oberpräsident Eduard v. Flottwell begann die Ära der Germanisierung, indem er die polnische Sprache vor Behörden bzw. Gerichten zurückdrängte, gezielt deutsche Ansiedlungen förderte und im Mischehenstreit den Posener Erzbischof verhaften ließ. Der polnisch dominierte Provinziallandtag protestierte vergeblich dagegen. Schul- und Straßenbauten, Bauernbefreiung und Abschaffung der Zünfte liefen freilich parallel, so daß quasi unbeabsichtigt die polnische Mittelschicht von dieser Landesentwicklung profitierte. Mit der Ablösung Flottwells durch Friedrich Wilhelm IV. 1841, der seine „landesväterliche Huld“ versprach, setzte kurzzeitig Lockerung ein; Posen galt damals als Zentrum polnischer Kultur. Mit dem polnischen Aufstand im österreichischen Krakau 1846 stieg die Repression erneut an: Presseknebelung, Verbot polnischer Vereine, in Berlin ein Strafverfahren gegen 254 Polen wegen behaupteten Landesverrats schon vor dem Krakauer Aufstand lauteten die Maßnahmen. Die im Zeichen paralleler Einheits- und Freiheitswünsche proklamierte Polenfreundschaft im deutschen Liberalismus des Vormärz (mit Solidaritätsbekundungen und Polenhilfsvereinen) kippte während der Revolution 1848. Als die Frankfurter Nationalversammlung im Juli 1848 die Zugehörigkeit von Posen und Westpreußen zum projektierten Reich debattierte, redete der Abgeordnete Wilhelm Jordan, gebürtiger Ostpreuße, „einem gesunden Volksegoismus“ das Wort. Preußens Gewinne aus den Teilungen seien aufgrund polnischer Unfähigkeit „eine Naturnotwendigkeit“ gewesen und Preußen-Deutschland besitze einfach „das Recht des Stärkeren“. Statt an eine Wiederherstellung Polens zu denken, reklamierte man Westpreußen und den größten Teil Posens für den projektierten Nationalstaat – für Klaus Zernack „ein imperialer Zug im deutschen Nationsbegriff “. Freilich gewährte die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 bürgerliche Rechte für alle, fixierte Sprachenfreiheit und volle kommunale Selbstverwaltung, so daß die polnische Minderheit im projektierten Nationalstaat verfassungsmäßig rechtsstaatliche sowie lokale bzw. kulturelle Garantien gehabt hätte. In Berlin wurden im März 1848 die ein Jahr zuvor im Moabiter Polenprozeß verurteilten Männer aus dem Gefängnis befreit. Eine positive Polenpolitik schien möglich. Im Außenministerium und beim neuen Posener Gouverneur Wilhelm 139 Kurt Schottmüller, Der Polenaufstand 1806/07, Lissa 1907, S. 126 (Gruner), S. 175 (Altenstein). Hagen, Germans, Poles, and Jews, S. 77–85.

174  IV. Preußens Gesellschaft v. Willisen kursierte im April 1848 die Idee, sich mit Polen gegen Rußland zu verbünden. Mit dem Zaren verschwägerte Hohenzollern und die Mächte Österreich, England sowie Frankreich hielten jedoch wenig davon; eine bewaffnete polnische Miliz gar erschien den meisten preußischen Militärs brandgefährlich. Preußens von Demokraten dominierte Nationalversammlung billigte im Verfassungsentwurf vom Oktober 1848 (Art. 1) der Provinz Posen einen nationalen Sonderstatus zu; noch das Mitte 1849 nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählte Abgeordnetenhaus debattierte diese Konzession, aber die Regierung nahm keinen derartigen Passus in die Verfassungsurkunde vom 31.1.1850 auf. Immerhin bestand im Landtag von 1849 bis 1918 eine Polnische Fraktion (Koło Polskie). Die Tonlage der nun folgenden Polenpolitik setzte 1851 der Posener Oberpräsident Eugen v. Puttkamer, als er schrieb, eine Versöhnung mit dem „Polonismus“ sei unmöglich, denn er bleibe feindliches Element; ihn auszurotten erscheine inhuman und allenfalls in Generationen erreichbar; unabdingbar sei aber eine energische, stetige Politik der Eindämmung und Zurückdrängung. Dementsprechend charakterisierten zahlreiche antipolnische Vereins- und Presseverbote, Beschränkungen der Selbstverwaltung und behördliche Interventionen bei Landtagswahlen die 1850er Jahre. Regionale Eliten betrachteten die deutsche bzw. polnische Sprache als Indikator für nationale Identität und im Gegenzug formierte sich eine polnischsprachige Gegengesellschaft.140 Den endgültigen Schritt zur massiven Unterdrückungspolitik sehen maßgebliche Historiker seit langem durch die Jahre 1848 und 1863 markiert – eben nicht erst 1871. Für den amerikanischen Historiker William W. Hagen personifizierte Bismarck die Wegscheide zur dauerhaften Radikalisierung der antipolnischen Tradition Preußens. Der Beginn der vierten Phase ist deshalb hier anzusetzen. Bismarcks Maxime blieb stets, daß die Existenz eines unabhängigen Polen unvereinbar sei mit dem Großmachtstatus Preußens. Seine Vereinbarung gegen den polnischen Aufstand im russischen Teilungsgebiet 1863 (sog. AlvenslebenKonvention) paßte dazu und Bismarck konnte damit antipreußische Ressentiments in Rußland konterkarieren. In einem gleichzeitigen Thronbericht forderte Bismarcks Kabinett die Bekämpfung oppositioneller Geistlicher, die Vermehrung deutscher Pfarreien, Schulen und Grundbesitzes, insgesamt „die Provinz zu germanisiren“ durch „Verdrängung des polnischen Elements“ – Vorwegnahme der späteren Politik. 140 Hachtmann, Epochenschwelle, S. 136 (Zitat Jordan) und Zernack, Polen, S. 434 (imperialer Zug). Hans Henning Hahn, Polen im Horizont preußischer und deutscher Politik (1848). Hagen, Germans, S.  106–111. Aktenfundiert detailliert: Siegfried Baske, Praxis und Prinzipien der preußischen Polenpolitik. Vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des Deutschen Reiches, Berlin/Wiesbaden 1963, S. 21, 36, S. 191 f. (Zit. Puttkamer). Albert S. Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die Polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871–1918, Düsseldorf 2007.

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Auf den Feldern Kirche und Schule, Sprache und Grundbesitz tobte ab 1871 in den Ostprovinzen auch der sog. „Kulturkampf “. In seinen Memoiren schrieb Bismarck, er habe ihn nicht zuletzt begonnen, um den „Polonismus“ zu treffen; unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser rückblickenden Aussage bestand schon vor 1871 in Regierungskreisen eine antipolnische Stimmung. In den Schulen wurde polnischsprachiger Unterricht allmählich abgeschafft und das preußische Geschäftssprachengesetz erklärte 1876 Deutsch zur alleinigen Amtssprache. Beamte als Agenten preußischer Herrschaft in Posen und Westpreußen betätigten sich gegen die polnische Bevölkerung und gerieten in gesellschaftliche Isolierung. Besitz- und Bildungsbürger der Ostprovinzen stellten unter Protest und späterem Boykott der nichtdeutschen Bevölkerungsteile vermehrt Anträge auf Eindeutschung bis dahin slawischer Ortsnamen, z. B. Chodziesen–Kolmar (1875) oder Inowrazlaw–Hohensalza (1904). Allein im Posenschen erhielten bis 1912 über 4.000 Orte einen deutschen Namen. All diese Maßnahmen trugen, entgegen ihrer Absicht, maßgeblich zur Entstehung nationalen Bewußtseins unter der slawophonen Bevölkerung bei. Als Kristallisationskern fungierte lokal die katholische Kirche. Die fünfte Phase antipolnischer Politik wird durch die Eskalation des „Kultur-“ zum „Volkstumskampf “ markiert. In diesem Sinne richtete sich die 1886 etablierte Ansiedlungskommission gegen den polnischen Adel und Großgrundbesitz. Man wollte Land von Polen ankaufen und damit neue deutsche Bauernhöfe begründen, gedacht als „Inseln deutschen Volkstums“. 1885 wurden rd. 30.000 Polen bzw. Juden ohne preußische Staatsangehörigkeit aus Westpreußen und Posen nach Rußland oder Österreich ausgewiesen. Die letzte Chance zur Entspannung und dem Abbau von Konfrontation vor 1914 ergab sich unter Bismarcks Nachfolger Caprivi 1891–94. Dieser fürchtete außenpolitisch Rußland und wollte der polnischen Minderheit entgegenkommen, auch zwecks Gewinnung einer Reichstagsmehrheit für seine Heeresvorlage und Handelsverträge 1893/94. Erleichterungen im Kirchen-, Schul- und Landwirtschaftsbereich wurden angeordnet, aber blieben wegen Caprivis Amtsverlust 1894 Episode. Umgekehrt gerieten damals zur Kooperation bereite polnische Parlamentarier, z. B. Jozef v. Koscielski, verspottet als Admiralski, in der nationalbewußten polnischen Gesellschaft in eine Randposition.141 141 Hagen, Germans, S.  120 und Baske, Polenpolitik, S.  11 (Umschwung 1848/63), S.  226  f. (Thronbericht 1863). Christian Myschor, Dienen in „Preußisch-Sibirien“. Zu sozialer Stellung, Funktion und Kontakten der höheren Beamten in der Provinz Posen 1871–1918, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 21 (2013), S. 243–268. Christian Pletzing, Die Politisierung der Toponymie. Ortsnamenveränderungen in den preußischen Ostprovinzen während des 19. Jahrhunderts, in: P. O. Loew u. a. (Hg.), Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuro-

176  IV. Preußens Gesellschaft Deutschnationale Hysterie interpretierte nun Demographie (höhere Kinderzahlen bei Polen) und Migration als mittelfristig drohende Polonisierung Preußens. Denn es gab stetige Abwanderung deutschsprachiger Bewohner und von Juden in den wirtschaftlich avancierten Westen, Bedarf an (russisch-polnischen) Landarbeitern in der Großlandwirtschaft sowie Wanderung slawophoner Arbeiter in das Ruhrgebiet (Ruhrpolen). Da „das Volk“ nun ethnisch und kulturell homogen gedacht wurde, sollten alle entgegenstehenden kulturell-sprachlichen Eigenarten in den national gemischten Gebieten rückstandslos beseitigt werden. Die Germanisierungsversuche gegen polnische und slawophone Minderheiten wurden ab 1895 intensiviert; Finanzminister Miquel bezeichnete den deutschpolnischen Gegensatz 1900 als „Kampf auf Leben und Tod“. Im Zuge der sog. „Deutschtumspolitik“ wurde Polnisch als Schulsprache gänzlich verdrängt. Daraufhin verweigerten ca. 80.000 polnische Kinder Antworten auf Deutsch und boykottierten den Unterricht (Schulstreiks 1901, 1906/07); Polizei erschien bei deren Eltern und Geld-, ja Haftstrafen wurden gegen sie verhängt. Polen wehrten sich listig. Als Held gilt bis heute Michal Drzymala, der den ihm in Podgradowice/Königsbrück (Krs. Bomst) behördlich verweigerten Hausbau gewitzt umging, indem er den ersatzweise bewohnten Zirkuswagen auf seinem Grundstück regelmäßig etwas verschob. Er hebelte damit das Niederlassungsverbot gemäß Feuerstättengesetz von 1904 jahrelang aus, aber unterlag 1909 gegen den Staat, da das Preußische Oberwaltungsgericht urteilte, das Gesetz beinhalte die Genehmigungspflicht für alle genutzten Wohnstätten. 1908 setzte Preußens Regierung ein Enteignungsgesetz für polnischen Großgrundbesitz durch, womit man deutsche Ansiedlungen fördern wollte. Vier Güter wurden – freilich gegen finanzielle Entschädigung – verstaatlicht. Dies glich jedoch den Wegzug von Hunderttausenden nach Westen nicht aus. Mehr noch als die realen Maßnahmen vergiftete die nationalistische Agitation das Klima dauerhaft. Laut vorgetragene Anti-Polenpolitik bildete ein wichtiges Element im Zielkatalog aller rechten politischen Kräfte. Beispielsweise wurden erwartbare Mandatsgewinne für polnische Parteien gegen die Reform des Dreiklassenwahlrechts ins Feld geführt, so daß hier eine Rückwirkung auf die preußisch-deutsche Innenpolitik bestand und den modernisierungsfeindlichen Strömungen zuarbeitete. Im Ergebnis standen zwei Völker gegeneinander, die nicht einmal mehr die Kirche band, denn katholisch hieß polnisch, protestantisch hieß deutsch. Binationale Ehen, die die nationalistische Atmosphäre hätten konterkarieren können, blieben selten; 98 % der Polen und 91 % der Deutschen heirateten in der eigenen Gruppe. Polen wählten vermehrt polnische Kandidaten und ihre bisherige Verbindung zur Zentrumspartei schwand dahin. Auch der jahrzehntelang gegen anpas, Wiesbaden 2006, S. 263–277. Hagen, Germans, S. 170 f. und Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe, S. 110–121 (Caprivi-Zeit).

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tipolnische Maßnahmen stimmende Linksliberalismus ließ in diesem Bemühen nach, denn einerseits stieß polnischer Antisemitismus die oft jüdischen Linksliberalen ab und andererseits beruhten linksliberale Mandate auf Stichwahlabkommen mit rechten Parteien. Allerdings gab es in Städten und Vereinen, beispielsweise der Fortschrittlichen Frauenbewegung, Versuche, Emanzipationsstreben und versöhnliche Kulturaktivitäten nicht durch „Deutschtumsarbeit“ überwuchern zu lassen. Nur in SPD und den Freien Gewerkschaften Posen-Westpreußens dominierten Polen zu zwei Dritteln; hier wurde das nationale Paradigma durch transnationale Kooperation konterkariert.142 Die mehrfach von Reichstagsmehrheiten mißbilligte rechtsstaatswidrigen Maßnahmen (1886 die Ausweisungen, 1913 die Enteignung von vier polnischen Gütern), erzielten das Gegenteil: Bewußtseins- und zivilgesellschaftliche Organisationbildung bei den Polen; unter ihnen verloren die ländlich-konservativen Kräfte gegenüber den städtisch-nationaldemokratischen Gruppen an Boden. Germanisierung bewirkte also Nationalisierung der Polen. Der ungewollte Nebeneffekt, nämlich gewisse innere Landesentwicklung und sozialökonomische Modernisierung, wurde in der Zeit der Konfrontation gar nicht wahrgenommen. Im gewandelten Klima der letzten Jahrzehnte erkennen polnische Historiker diesen Aspekt durchaus als eine, vielleicht einzige, positive Folge preußischer Herrschaft. Und der polnische Publizist Adam Krzeminski forderte seine Landsleute auf, sich als Miterben Preußens zu betrachten, indem er 2002 formulierte: Preußen – das sind wir. Die fünfte Periode ist ab 1918/1920 anzusetzen, als mit der Grenzziehung der größte Teil der geschlossen polnischsprachigen Gebiete zum neuen Staat Polen gehörte. Die Wut darüber, unvermeidliche Wirtschafts- und Grenzprobleme, aber auch von Polen quasi als Vergeltung gebilligte Benachteiligungen der deutschsprachigen Minderheit in Posen-Westpreußen und das Weiterwirken alter Denkfiguren ließen den binationalen Konflikt andauern. Die Idee des „deutschen Volkstums unter slavischem Joch“ blieb so wirkmächtige Parole – wiederum eine wichtige Rückwirkung auf die gesamte preußisch-deutsche Geschichte. Tatsächlich hielten auch die staatstragenden Weimarer Parteien die Möglichkeit 142 Hartwin Spenkuch (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, hg. von der Berlin–Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8: 1890 bis 1900, Hildesheim u. a. 2003, S. 383 (Zit. Miquel). Karl Friedrich Gründler, Nationalheld auf Rädern, in: Die Zeit Nr. 26 v. 17.6.2004 (Drzymala). Hagen Germans, S.  261 (Heiraten). Matthias Barelkowski, Kampf ums Frauenstimmrecht statt „Deutschtumsarbeit“? Die deutsche „Fortschrittliche Frauenbewegung“ in den preußischen Ostprovinzen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Ders. u. a. (Hg.), Zwischen Geschlecht und Nation. Interdependenzen und Interaktionen in der multiethnischen Gesellschaft Polens im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2016, S. 131–151. Mark Tilse, Transnationalism in the Prussian East. From National Conflict to Synthesis, 1871–1914, Basingstoke 2011, S. 155–175 (SPD).

178  IV. Preußens Gesellschaft von Grenzkorrekturen gegenüber Polen offen – freilich im Sinne des friedlich umzusetzenden Selbstbestimmungsrechts der Bewohner. Im Kulturbereich verfolgten sie Ansätze einer konkurrenzhaften, aber zeitweise chancenreichen deutsch-polnischen Koexistenz. Im Endeffekt freilich arbeitete auch dieser friedliche Revisionismus den völkischen Diskursen der radikalen Rechten zu und untergrub die demokratische Republik. Das in Preußen langjährig geprägte, stark negative Deutschen-Bild bildete noch zu Zeiten der Volksrepublik Polen eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Bevölkerung und kommunistischer Führung. Hätten die Weimarer Republikaner wie die westdeutsche Bundesrepublik Jahrzehnte ökonomischer Prosperität gehabt, ist kontrafaktisch ein Abflauen der Konfrontation und allmählicher Ausgleich ähnlich wie nach 1970 vorstellbar – ohne die immensen menschlichen Kosten auf beiden Seiten.143 Drei Fragenkomplexe seien abschließend behandelt: Waren die eroberten polnischsprachigen Gebiete Preußens die Kolonie eines Imperiums? Wie stark ist der Anteil preußischer Staatsbehörden an der Zuspitzung des Nationalitätenkampfes zu gewichten? Gab es Entwicklungen jenseits der deutsch-polnischen Konfrontation und der letztlichen nationalstaatlichen Trennung? Im Sinne der Postcolonial Studies werden die gemischt nationalen Gebiete Posens und Westpreußens als die „eigentliche deutsche Kolonie, als ‚angrenzende Kolonie’“ (S. Conrad) bezeichnet. Denn wie in Kolonien gab es dort je nach Lage kooptierte oder bekämpfte fremdsprachige einheimische Eliten (Adel, Klerus) und die Abstempelung der breiten Bevölkerung als rückständig. Die Ansiedlung von Angehörigen der Herren-Nation wurde staatlich finanziell gefördert und eine mit „Buschprämien“ belohnte Bürokratie regierte die Einheimischen. Das Heer der Angestellten in Staatsbetrieben (Bahn, Post) bzw. in Regional-, Justiz-, Finanz-, Kultus- und Landwirtschaftsverwaltungen wurde sowohl als „Kulturträger“ eingespannt wie quantitativ zur Mehrung des deutschen Bevölkerungsanteils benutzt. Rechtsstaatswidriges Sonderrecht nahm im Zeitverlauf zu und physische Gewalt war nicht ausgeschlossen. Die selbsterklärte „Zivilisierungsmission“ lief zeitlich parallel zur überseeischen Kolonialpolitik ab 1885 und wurde im Rassendenken („Germanen“ versus „Slawen“) radikalisiert. 143 Janusz A. Majcherek, Preußisches Erbe, in: Basil Kerski (Hg.), Preußen – Erbe und Erinnerung, Potsdam 2005, S.  87–108, S.  104  f. sowie Adam Krzeminski, Preußen – das sind wir, in: Ebd., S. 171–193. Zum Kulturbereich vgl. Gregor Thum, „Preußen – das sind wir!“. Zur Wiederentdeckung der preußischen Kulturlandschaft in Deutschland und Polen, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59 (2010), S. 301–322. Karina Pryt, Befohlene Freundschaft. Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen 1934–1939, Osnabrück 2010, S. 48–106. Stephan Scholz, Vom Totengräber zur Erbmasse. Die polnische Wahrnehmung Preußens im 19. und 20. Jahrhundert, in: R. Faber/U. Puschner (Hg.), Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 313–336 (Antipreußen-Affekt einigt Polen).

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Gegen die Klassifikation als Kolonie mit der prägenden Antinomie von rechtlos-armen „Eingeborenen“ und europäischen Herrschervölkern sprechen indes folgende Gründe: Wahlrecht und (obzwar reduzierte) Bürgerrechte blieben im östlichen Preußen – und ähnlich bis stärker in Elsaß-Lothringen oder Nordschleswig – ebenso erhalten wie die Möglichkeit zum Besitzerwerb und der Teilhabe an der Zivilisation. Preußen beutete nicht eine Kolonie systematisch aus, sondern baute Infrastruktur und Bildungswesen auch im Osten aus. Anders als bei Afrikanern blieb die friedliche Assimilierung von Slawophonen bis 1914 reale Möglichkeit und erfolgte teilweise. Schon zahlenmäßig ist das ca. 40 %ige deutsche Element in Posen-Westpreußen nicht mit der kleinen britischen Kolonialverwaltungstruppe in Indien gleichzusetzen. Trotz antipolnischer Sprachenpolitik, der Diskriminierung von Slawophonen bei Sozialaktivitäten, der Ansiedlung auf zu Marktpreisen angekauftem Land und insgesamt rechtsstaatlich bedenklicher „Germanisierung“ lassen sich die slawophonen Ostgebiete nach überwiegender Forschungsmeinung nicht mit einer außereuropäischen Kolonie gleichsetzen. Vermittelt boten Erfahrungen in Preußens Osten Anknüpfungspunkte für die Lebensraum-Wahnideen der Folgezeit. Konkret knüpften diese aber eher an das riesige deutsche Herrschaftsgebiet im besiegten Rußland 1917/18 an. Das von Nationalsozialisten projektierte Ostimperium und die systematischen Massenmorde übertrafen jedoch in Dimensionen, tödlichen Methoden und extremrassistischen Zielen alle früheren partiellen Vorbilder weit. Zumal polnische Historiker bestehen entschieden auf den enormen Differenzen zwischen den beiden Epochen.144

144 Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S.  143–153, Zit. S.  141; ähnlich Ders., Deutsche Kolonialgeschichte, 3. Aufl., München 2016, S. 97–106 (polnische Gebiete, Holocaust, NS-Lebensraum); Philipp Ther, Imperial instead of National History: Positioning Modern German History on the Map of European Empires, in: A. Miller/A. J. Rieber (Hg.), Imperial Rule, Budapest 2004, S.  47–66. Vgl. dagegen die Definition bei Róisín Healy u. a. (Hg.), The Shadow of Colonialism on Europe’s Modern Past, London 2014, S. 9. Zur Betrachtung Preußen-Deutschlands als kontinentalem Imperium abwägend Edward R. Dickinson, The German Empire: An Empire?, in: History Workshop Journal, H. 66 (2008), S. 129–162. Matthew P. Fitzpatrick, The Pre-History of the Holocaust? The Sonderweg and Historikerstreit Debates and the Abject Colonial Past, in: Central European History 41 (2008), S. 477–503 (deutscher Kolonialismus keine notwendige Voraussetzung des Holocaust). Zentrale Unterschiede der Kriegführung 1914–19 und ab 1939 stellte zuletzt überzeugend heraus: Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65,4 (2017), S. 465–505.

180  IV. Preußens Gesellschaft Um Preußens Rehabilitierung bemühte (populäre) Werke sehen die Nationalisierung Preußens, die Polen und Slawophone als fremde Minderheit ausgrenzte, dem ehedem und eigentlich übernationalen Preußen quasi von außen aufgepfropft. Daß der nationale Konflikt nicht nur regierungsseitig „von oben“ dekretiert wurde, sondern auch gesellschaftlich vor Ort, durch nationalistische Propagandisten, Presse und Vereine wuchs, arbeitete die jüngere Forschung tatsächlich heraus. Es gab ein gegenseitiges Hochschaukeln durch die alltäglichen Kleinkriege zwischen deutschen Vereinen, allen voran dem 1894 gegründeten Ostmarkenverein, und polnischen Organisationen, z. B. dem „Straz“ (Wache). Neue Lokalstudien halten trotzdem die Impulse zur Kampfverschärfung „von oben“, aus preußischer Regierung und Verwaltung, für entscheidend. Denn in den Vereinen dominierten Beamte, Bildungsbürger und Großgrundbesitzer und ihre radikalen Forderungen setzten sie nur insoweit durch, als sie von der Verwaltungsspitze gebilligt wurden. Verschärfungen der Repression initiierten zudem meist geborene oder beamtete preußische Spitzenleute von Flottwell über Bismarck bis Bethmann Hollweg. Nationalismus und Machtstaatsdenken florierte nach 1848 bei vielen Nationalliberalen und unter preußischen Konservativen. Deshalb ist klar: Nicht Süd- und Westdeutsche oder noch wolkiger „das Reich“ zwangen Preußen die Repression gegen Minderheiten auf, sondern die Berliner Entscheider selbst trieben die „Deutschtumspolitik“ konfrontativ auf die Spitze; seit Bismarck war diese Linie in Preußen dominant. Die Alternative der Gewährung kultureller und regionaler Autonomie für die klar polnischen Gebiete sowie der Einbeziehung der Minderheiten auf zentralstaatlicher politischer Ebene ähnlich wie in Österreich, wo Polen um 1900 gar Ministerämter erreichten, wurde von der Berliner Regierung nach 1848 nicht mehr ernsthaft verfolgt. Nationalitäten-Konflikte gab es nicht nur in Preußen-Deutschland; im Zeitalter des Nationalstaats waren sie wohl unvermeidlich und wurden kaum je völlig friedlich gelöst. Aber sie konnten verschärft oder sie konnten partiell entschärft werden – ersteres unter hohen menschlichen Kosten auf beiden Seiten, kulminierend in der radikalrassistischen NS-Vernichtungspolitik und den folgenden gewaltsamen Vertreibungen aus Preußens Osten und anderen gemischtnationalen Gebieten (Süd-) Osteuropas ab 1945.145 Neben der nationalpolnisch bewußten Bevölkerung in Posen/Westpreußen gab es Slawophone mit anderer Entwicklung. So ließ sich erstens bei den dauerhaften Arbeitsmigranten nach Berlin oder in westdeutsche Industriezentren, den sog. Ruhrpolen, nachbarliches Nebeneinander und allmähliche Assimiliation beob145 Christian Pletzing, Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830–1871, Wiesbaden 2003, S. 470 ff. und Sabine Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarkenverein und die polnische ‚Straz‘ 1894–1914, Marburg 1998, S. 301– 306 (Impulse aus Preußens Regierung).

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achten. Sie wurden intergenerationell – bis auf die Familiennamen wie Schimanski oder Littbarski – Deutsche oder wanderten zu Zehntausenden nach 1918 in die Republik Polen zurück. Wie Auswanderer immer wieder belegen, ist Nationalität intergenerationell nicht in Stein gemeißelt, sondern wandelbar.146 In Preußens Osten gab es – neben den bereits behandelten nicht mono-nationalen, regionalistischen Oberschlesiern mit polnischem Dialekt – weitere Gruppen: Die Masuren im Süden, die Litauer im Nordosten Ostpreußens sowie die Kaschuben in Westpreußen. Die zwei ostpreußischen Populationen von etwa 300.000 bzw. 100.000 Menschen um 1900 besaßen slawische Muttersprachen, aber lebten seit 1525 im Hohenzollern-Reich, waren überwiegend protestantischer Religion, deshalb vom Kulturkampf nicht betroffen und insgesamt preußisch-monarchietreu. Im späten 19. Jahrhundert versuchten bis heute bekannte Publizisten ein neues Bewußtsein bei ihnen zu wecken. Wojciech Ketrzynski, als Adalbert von Winkler in Lötzen geboren und in Königsberg promoviert, entdeckte um 1860 seine masurischen Wurzeln, änderte seinen Namen und unterstützte den polnischen Aufstand von 1863. Nach Festungshaft leitete er 1876– 1918 die Ossolineum-Bibliothek im österreichisch-galizischen Lemberg; dort standen Polen, anders als in Preußen, Positionen im Wissenschaftsbereich offen. Ihm zu Ehren benannte Polen 1946 Rastenburg in Ketrzyn um und das regionale Forschungsinstitut in Olsztyn trägt seinen Namen bis heute. Primär Kulturarbeit vor Ort leistete zeitweise Johannes Sembritzki, Apotheker aus Marggrabowa (Treuburg), der seit 1882 unter dem slawisierten Namen Jan Sembrzycki zur Kultur und Sprache von Masuren bzw. Litauern publizierte. Ihm war wichtig, daß diese Volksgruppen ihre hergebrachte Sprache und Kultur frei leben durften, ohne jedoch einen nationalpolnischen Staat zu propagieren. Seit 1899 nannte er sich erneut Sembritzki, hielt die litauische Bewegung für verfehlt, da nur Assimiliation die Region voranbringe, und verfaßte bis heute benutzte Darstellungen der Geschichte von Stadt und Kreis Memel. Beide Männer nahmen Positionen jenseits des aggressiven Nationalismus ein, aber waren damit Ausnahme-Figuren – natürlich unter den Germanisierern, aber auch unter den polnischen Nationaldemokraten um Roman Dmowski, der seit 1901 West- und Ostpreußen sowie Oberschlesien für den künftigen Staat Polen beanspruchte. Die dritte Gruppe, die in Westpreußen südwestlich Danzigs lebenden rd. 200.000 Kaschuben mit slawischer Sprache und katholischer Konfession, tendierte zur polnischen Nation, ohne bis 1914 breit verankertes polnisch-nationales Bewußtsein zu entwickeln. Der freischaffende Sprachwissenschaftler Friedrich Lorentz und der Volksschullehrer Izydor Gulgowski gründeten 1906 ein bis heute bestehendes kaschubisches Freilichtmuseum in Wdzydze (Sanddorf) bei Berent 146 Stefi Jersch-Wenzel u. a., Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 766 f. Dittmar Dahlmann u. a. (Hg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2005.

182  IV. Preußens Gesellschaft und 1907 den Verein für kaschubische Volkskunde. Beide wurden von deutscher Seite als polnische Agitatoren und von polnischer Seite als kaschubische Separatisten angegriffen. Nach 1918 betrachtete der neue Staat Polen kaschubische Autonomieforderungen mißtrauisch und deutscherseits wurden Kaschuben zur Rückgewinnung Westpreußens instrumentalisiert. Der Vordacht nationaler Unzuverlässigkeit kam also von beiden Seiten. Mehrheitlich hielten die Kaschuben zu Polen; eine prodeutsche Minderheit verließ das Land jedoch 1945 bzw. nach 1956. So stellte der häufig gewaltsame nationalistische Durchgriff in Kriegs- und Nachkriegszeit Eindeutigkeit her: Der vertriebene Halb-Kaschube Günter Grass reüssierte als deutscher Schriftsteller und Donald Tusk, Enkel im Lande verbliebener Kaschuben, amtierte 2007–14 als Premierminister Polens.147 Unter den protestantischen Masuren und Litauern erwies sich der preußischdeutsche Nationalgedanke als der stärkere. Sprachen 1817 nach offiziellen Zahlen 24 % der Männer im Regierungsbezirk Gumbinnen litauisch und 29 % masurisch-polnisch, so gingen diese Zahlen allmählich zurück. Zwar propagierten Publizisten wie Martynas Jankus seit den 1880er Jahren in Zeitungen oder Vereinen eine eigene litauische Identität durch Sprache und Kultur, aber gegen die politische Orientierung des sog. Klein-Litauen hin auf einen (künftigen) großlitauischen Staat standen drei Momente: preußischer Protestantismus, jahrhundertelange Loyalität zu Hohenzollern-Preußen, dörflich-traditioneller Lokalismus. Viele aus der Volksgruppe besuchten lokale litauische kulturelle Aktivitäten, aber verhielten sich passiv gegenüber weitergehenden politischen Zielsetzungen. In den Grenzkreisen (Memel, Heydekrug, Niederung, Tilsit, Ragnit, Pillkallen) gab es 1914 nach vorliegenden Indikatoren keine 10 % national-litauisch orientierte Einwohner. Einzelne dort ab 1898 errungene Reichstags- bzw. Abgeordnetenhaus-Mandate für zweisprachige Kandidaten basierten auf Stichwahlbündnissen mit Konservativen bzw. Linksliberalen, in deren Fraktionen die Gewählten als Hospitanten eintraten. Das 1920 von den Kriegssiegern ohne Plebiszit zum autonomen Memelland erklärte Territorium besetzte Litauen militärisch 1923. Der danach betriebenen Eingliederung in den neuen Staat Litauen widerstrebten sowohl pro-deutsche als auch regionalistische Gruppierungen bis zur NS-Besetzung im März 1939.

147 Zahlen nach Leszek Belzyt, Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815– 1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar, Marburg 1998, S.  12–36. Andreas Kossert, Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001, S. 87–93, 116–123 (Sembrzycki, Ketrzynski), 334  ff. Hans-Jürgen Bömelburg, Grenzüberschreitende kaschubische Biographien mit schmaler zeitgenössischer Resonanz: Gulgowski, Lorentz und Majkowski. Nationale und interkulturelle Ursachen, in: T. Weger (Hg.), Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost- und Mitteleuropa. Wirkung – Interaktion – Rezeption, Frankfurt/M. 2009, S. 255–283.

7. Polen und slawophone Gruppen als ethnische ­Minderheiten 

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In Masuren stimmten bei einer Volksabstimmung 1920 98 % gegen den Anschluß an Polen, darunter allerdings ca. 100.000 längst nach Westen Abgewanderte. Um nun den deutschen Charakter augenfällig zu demonstrieren, wurde die Umbenennung von Orten verstärkt: Aus Marggrabowa wurde wegen 100 % deutscher Stimmen beim Plebiszit Treuburg (1928), aus Pillkallen Schloßberg, aus Stallupönen Ebenrode, aus Darkehmen Angerapp. Ab 1933 betrieb man flächendenkende Umbenennung; 1500 ostpreußische Gemeinden, im Kreis Lyck beispielsweise 102 von 157 Orten, wurden mit germanisierten Neubenennungen versehen. Jenseits solcher Aktionen blieb die Bevölkerung im ländlichen Masuren lokal orientiert und heimattreu. Dies und der drohende Verlust generationenalten Besitzes veranlaßte 1945 mehrere Zehntausend Menschen in der angestammten Region zu verbleiben. Erst unter dem Druck von Diskriminierung und dem Zwang, sich für die polnische Nationalität zu erklären, übersiedelten sie in zwei Wellen ab 1956 und ab 1970 in die Bundesrepublik.148 Seit dem späten 19. Jahrhundert gab es in Europa Bewegungen zur Nationalisierung von Grenzen. Staatliche Zugehörigkeit und nationale Identität primär aufgrund (konstruierter) ethnischer Kategorien sollten kongruent sein – anders als im östlichen Europa bis 1914 weithin üblich. Unter derartigen Optionszwang gestellt, war den Masuren, Litauern und Kaschuben Preußens nach Jahrzehnten widerstreitender Inanspruchnahme letztlich kein eigenständiger Weg zwischen den antagonistischen Nationen möglich. Allmähliche friedliche Verschmelzung, wie schon in der Frühen Neuzeit östlich der Oder zwischen ansässigen Slawophonen und Einwanderern aus dem Westen erfolgt oder umgekehrt Separation von Gruppen, wie im 19. Jahrhundert bei der Nationsbildung Polens oder Tschechiens geschehen, sind unter vier Bedingungen akzeptable Prozesse: In manipulationsfreien Verfahren wird der Mehrheitswille ermittelt, die Prozedur läuft gewaltlos-friedlich ab, Garantien schützen die Autonomie der (neuen) Minderheiten. In kaum einem Fall bis zur Krim-Besetzung 2014 wurden diese Bedingungen eingehalten. Aber jahrhundertelang gab es in vielen Grenzregionen Europas die allmähliche Inklusion oder die Separation von Teilpopulationen, bei Bretonen sowie Elsässern in Frankreich und Basken am Fuße der Pyrenäen etwa oder aktuell bei den Katalanen gegenüber Spanien und den Schotten gegenüber England. Dabei wirkte regelmäßig zentralstaatlicher Druck in Richtung Assimilation an 148 Robert Traba (Hg.), Selbstbewußtsein und Modernisierung. Sozialkultureller Wandel in Preußisch-Litauen vor und nach dem Weltkrieg, Osnabrück 2000, S. 7 ff. und Beitrag Joachim Tauber, S. 111–117. Manfred Klein, „Kleine, einfache, ungebildete litauische Bauern …“: Martynas Jankus und das Deutsche Reich, in: Ders., Preußens Litauer: Studien zu einer (fast) vergessenen Minderheit, Hamburg 2017, S. 207–240. Vytautas Zalys, Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte, Lüneburg 1993, S. 13 ff. Kossert, Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft, S. 77 f.

184  IV. Preußens Gesellschaft die Mehrheitsnation und Sprach- bzw. Schulpolitik wurden genutzt. Aber nach Ernest Renan sind Nationen Bekenntnisgemeinschaften, keine zeitlos beständigen, a priori definierten Einheiten. Es bleibt abzuwarten, ob im Zuge grenzüberschreitender Ausbildungsgänge, binationaler Heiraten und globaler Lebens- und Berufswege im Europa des 21. Jahrhunderts über-nationale, multiple Identitäten alltägliche Normalität werden. In jüngster Zeit erscheint dies weniger sicher.

V. Preußens politisches System Monarchischer Absolutismus und innere Staatsbildung – Reformphasen und Reformblockaden – Verfassungs­ entwicklung und politische Kultur 1848 bis 1914 – ­demokratischer Freistaat

Das politische System umfaßt nach gängiger wissenschaftlicher Definition drei Ebenen: Polity (institutionelle Formen), Politics (politische Entscheidungsprozesse) und Policies (Doktrinen, Maßnahmen, Gesetze). Es geht um die Teilbereiche Verfassung(swirklichkeit), Parteiensystem, Wahlen und Parlament(e), Regierung und Verwaltung, Eliten(rekrutierung), politische Kultur, die Judikative bzw. das Verfassungsgericht und oft auch um Föderalismus. Diese Felder lassen sich auch für das historische Preußen betrachten.149 Es sind universelle Leitfragen zu stellen: Strukturen im Wandel, Akteure und Wendepunkte, Zentralstaat und Partizipation von Eliten bzw. Bevölkerung, zudem Besonderheiten im Vergleich. Beim preußischen Fall sind Phasen erkennbar, die mit denen anderer deutscher Staaten korrespondieren: Staatsbildung im Zeichen des monarchischen Absolutismus von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1806, die Reformzeit ab 1807 und die Restaurationsepoche als Ära des bürokratischen Verwaltungsstaats, die Revolutionsjahre 1848/49, die konstitutionelle Monarchie 1850–1918, der demokratische Freistaat 1918–1932. War das politische System anfangs von Monarchie und Verwaltung dominiert, ganz ohne landesweite Wahlgremien der Beherrschten, so änderte sich das ab 1848, als der moderne Parlamentarismus in Preußen begann, grundsätzlich. Konflikte kennzeichneten das politische System durchgängig.

1.

Stände, Absolutismus, innere Staatsbildung

Die Periode bis ca. 1800 wird als monarchischer Absolutismus bezeichnet, seit etwa 1750 von aufklärerischen und naturrechtlichen Ideen in seiner theoretischen Begründung modifiziert. Er wird heute nicht mehr als institutionell unbeschränkte monarchische Autokratie verstanden, sondern als allmähliche Orientierung des staatlichen Systems auf die Staatsspitze hin, im Kern die Monarchen, und bediente sich der Herrschaftsinstrumente Verwaltung und Armee, durch die 149 Artikel Politisches System online: https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System und Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, 12. Aufl., Wiesbaden 2017.

186  V. Preußens politisches System konkurrierende Mächte wie Kirche, Stände, Städte zurückgedrängt wurden. Er war keine irrationale Despotie; Herkommen und alte Rechte, Religion und Sachzwänge, z. B. der Staatenkonkurrenz, setzten ihm gewisse Grenzen. Aber dem Gedanken ständischer libertas wurde seit Kurfürst Friedrich Wilhelm der Imperativ staatlicher necessitas entgegengesetzt.150 Für Preußen werden seit langem mehrere miteinander verbundenen Fragenkomplexe diskutiert: Wie stark war der Absolutismus und ist angesichts des Überdauerns gewisser ständischer Elemente überhaupt davon zu reden? Welche Rolle spielte die Bürokratie, die als das zentrale Charakteristikum von Staatsbildung gilt, dabei? Bildete die militärstaatliche Überformung in Preußen das Spezifikum? Wie ist die Rolle des Adels, anfangs Konkurrent, dann fast durchwegs Verbündeter der Monarchen, einzuschätzen? Brandenburg-Preußen war bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein TerritorienKonglomerat (Composite State) unterschiedlicher Regionen im Reichsverbund mit noch starken Ständen (Adel, Städte, geistliche Prälaten). Mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm begann das „Projekt Preußen“ in Schritten: Verwaltungs- und Heeresaufbau, Landesausbau, Steuereffektivierung, Entmachtung der regionalen Stände(versammlungen), später auch eine Bildungsoffensive. In Preußen sei der zentralstaatliche Absolutismus im 18. Jahrhundert stark ausgeprägt gewesen und habe, gestützt auf Behörden und Militär, durchgreifend eine wohltätige Wirksamkeit entfaltet, lautete die ältere Ansicht. Seit Gerhard Oestreich (1969) wird demgegenüber die Existenz des Nichtabsolutistischen im Absolutismus betont: Lokale ständische Elemente einerseits, die beschränkte Durchsetzungsfähigkeit des Zentralstaates im Lande andererseits. Diese doppelte Blickerweiterung und implizite Aufwertung der Stände ist gedanklich weiterführend. Aber zugleich bleiben zwei Unterscheidungen zentral: institutionell oder informell und Staatspolitik oder lokale Ebene. Institutionell wurden nämlich die Plenarlandtage der Kernprovinzen als Institutionen nach etwa 1680 nicht mehr einberufen und beim Erwerb von Schlesien 1741 bzw. Westpreußen 1772 formell aufgelöst. Es gab gewisse Ausnahmen (Schwedisch-Vorpommern, Ostfriesland), aber selbst bezüglich Kleve-Mark ist von Michael Kaiser eine „fortschreitende Entwertung der Landtage“ konstatiert worden. Stände waren somit ausgeschaltet in der Außenund Militärpolitik sowie bei der Formulierung zentralstaatlicher Ziele in der Innen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, zunehmend auch bei der Appellation an Reichsinstanzen gehindert. Die Entmachtung der Stände als regelmäßig tagende Institutionen mit politischer Mitsprache bleibt Faktum. Otto Hintzes Diktum,

150 Zur Debatte um den Absolutismus vgl. Heinz Duchhardt, Barock und Aufklärung, 4. Aufl., München 2007, S. 170–176 und Hinrichs, Fürsten und Mächte, passim. Definition nach Ernst Hinrichs, Staat ohne Nation. Brandenburg und Preußen unter den Hohenzollern (1415–1871), hg. v. R. Landfester, Bielefeld 2014, S. 214.

1. Stände, Absolutismus, innere Staatsbildung 

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nirgends seien 1740 „Landtage oder ständische Organe noch ein wirklich mitbestimmender Faktor im Staatsleben“ gewesen, trifft nach wie vor zu.151 Demgegenüber überlebte dezentrale oder informelle ständische Mitwirkung auf mehrfache Weise. Ständevertreter waren weiter beteiligt bei der lokalen Umsetzung von Verwaltungszielen, in den niederen Gerichten und konnten Gutachten oder Petitionen einreichen, was Ritterschaften oder Städte auch taten. Der Landadel blieb erster Stand. Er herrschte auf Gutsebene und besaß in Form der fast durchgängig bestehenden Kreisstände seinen wichtigsten Sammlungspunkt, zusätzlich befestigt durch das ab 1750 weithin gewährte Präsentationsrecht für die Landratsstellen. Adelige verfügten über persönliche Kontakte untereinander und in die staatlichen Organe auf regionaler Ebene. Ferner gab es adelsständische Kristallisationskerne in den Kreditinstituten, etwa dem kurmärkischen Kreditwerk, der hinterpommerschen Landstube oder dem ostpreußischen Landkasten sowie in den ab 1770 neu gegründeten provinzialen Landschaften. Die Bedeutung ständischer Strömungen hing auch davon ab, ob die adeligen und bürgerlichen Ständegruppen gegenüber dem Zentralstaat gemeinsame Ziele verfolgten, z. B. als provinziale Agenda von Ostpreußen oder von Kleve-Mark gegenüber Berlin. Ferner konnten Kriege bzw. Krisenzeiten wie ab 1756 oder ab 1806 eine Reaktivierung von Ständen opportun machen; so griffen bekanntlich fremde Besatzungsregime – das russische in Ostpreußen 1759 oder später Napoleon – auf angesessene Eliten zurück. Ständische Aktivität im Einklang mit der Zentrale, z. B. beim Adelsschutz ab 1740, löste naturgemäß keinen Streit aus. In vielen Fällen lehnten Monarch und Berliner Zentrale aber Petitionen ständischer Provenienz ab, zumal wenn sie zentralstaatlichen Politikzielen zuwiderliefen oder institutionelle Garantien für Stände beanspruchten. Insgesamt geht es zu weit, von „landständischer Renaissance“ seit den 1760er Jahren zu reden (W. Neugebauer) oder disparaten ständischen Äußerungen ab 1786 die Qualität von Verfassungsmodellen im Sinne moderner Partizipation beizulegen, so daß eine kontinuierliche Entwicklung zum Parlamentarismus damit erreichbar gewesen wäre. Nirgends im Reich inklusive Preußens bewirkten ständische Landtage aus sich heraus die Erweiterung zur institutionalisierten Repräsentation von Staatsbürgern in einem allgemein gewählten Parlament mit garantierten Rechten und moderner parlamentarischer Praxis.152 151 Zu Kleve-Mark vgl. Rohrschneider, Zusammengesetzte Staatlichkeit, S. 345 (Zit. von Michael Kaiser). Zu Hintzes Position Thomas Ertman, Otto Hintze und der preußische Staat des 18.  Jahrhunderts, in: E. Hellmuth (Hg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart 1999, S. 21–41. Hintze zit. nach Günter Birtsch, Der preußische Hochabsolutismus und die Stände, in: P. Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, S. 389–408, S. 389. Zum antiständisch regierten Westpreußen ab 1772 vgl. Bömelburg, Landesgeschichte in der Frühen Neuzeit, S. 620–623. 152 Grundlinien der Debatte skizzierte bereits P. Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung, S.  3–15. Jüngst zusammenfassend Esther-Beate Körber, Stände in den brandenburg-preußischen und anderen Territorien, in: B. Sösemann/G. Vogt-Spira

188  V. Preußens politisches System Generell anerkannt ist heute, daß für die Frühneuzeit die Allgegenwart und Omnipotenz von Staatsmacht eine unzeitgemäße Vorstellung darstellt. Manche jüngere Arbeiten nehmen aber diesbezüglich an, daß fürstliche Herrschaft mit Ständen in kommunikativ-symbolischer Praxis ständig neu ausgehandelt werden mußte. Dagegen hat Wolfgang Reinhard mit Recht eingewandt, zwar sei das Schema Befehl – Gehorsam zu einfach, aber die vom englischen Wort negotiate stammende Vokabel „aushandeln“ spiegele fälschlich eine Interaktion auf Augenhöhe vor. Realiter handelte es sich jedoch „um ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem die Obrigkeit die Initiative hat und in der Regel auch der stärkere Teil bleibt“. Gegen einseitige Betonung der Aktionsmacht der Beherrschten ist dies stets im Auge zu behalten.153 Der Typus der absoluten Monarchien nach dem Vorbild Frankreichs inklusive Preußens wird neuerdings durch englische Historiker relativiert. Ein Gegensatz zwischen den bürokratisch-militärisch geprägten Staaten Kontinentaleuropas und dem konstitutionellen Handelsstaat Großbritannien habe so gar nicht bestanden. Starkes Militär bzw. große Flotte, viele Kriege und bürokratisch auferlegte hohe Steuerlast hätten auch England im 18.  Jahrhundert gekennzeichnet. Deshalb seien beide Staatengruppen unter den Begriff des fiscal-military state zu subsumieren. Damit wird der lange überhöhte Status Englands als peaceable kingdom von dortigen kritischen Historikern in Frage gestellt. Allerdings können auch sie Unterschiede zwischen England und Preußen nicht leugnen: (externe) Flotte statt (internem) Heer, Parlamentsmitsprache statt monarchischer Autokratie, Kriegsfinanzierung durch Kredite statt ersatzweiser Anhäufung eines Staatsschatzes und deshalb lange Kriegsfähigkeit statt notgedrungen kurzer Feldzüge. Zudem gab es durchaus Staaten, die dem Modell fiscal-military state, also

(Hg.), Friedrich der Große in Europa, Bd. 2, S. 4–19. Zu Ostpreußen vgl. Neugebauer, Zwischen Preußen und Rußland; zu stärkeren Ständen in diversen Territorien vgl. Wolfgang Neugebauer, Landstände im Heiligen Römischen Reich an der Schwelle der Moderne, in: H. Duchhardt/A. Kunz (Hg.), Reich oder Nation. Mitteleuropa 1780– 1815, Mainz 1998, S. 51–86. Kritisch gegen Neugebauer: Barbara Stollberg-Rilinger, Ständische Repräsentation – Kontinuität oder Kontinuitätsfiktion?, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006), S. 279–298, 286 ff. Michael Hochedlinger, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der 153  Frühen Neuzeit, in: Ders./Th. Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, Wien 2010, S.  27–85, S.  84  f. Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „aushandeln“, S. 433; Ders., No Statebuilding from Below! A Critical Commentary, in: Wim Blockmans u. a. (Hg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, Farnham 2009, S. 299–304. Abwägend Burkhardt, Vollendung, S. 201–208.

1. Stände, Absolutismus, innere Staatsbildung 

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dem zentralistischen Steuer- und Kriegsstaat nicht entsprachen, die Niederlande, Polen, England, im Reich grosso modo Sachsen, Württemberg, Mecklenburg.154 Preußens Monarchen hielten in ausgeprägter Weise an ihrer Alleinherrschaft fest. Friedrich Wilhelm I. proklamierte: „Wir sind doch Herr und König und können thun, was wir wollen.“ Friedrich II. rechtfertigte monarchische Allgewalt im „Antimachiavel“: In Republiken und Ständestaaten herrsche heilloser „Wettstreit einer endlosen Vielfalt an Willensäußerungen“, was ein Land „früher oder später zugrunde richten“ müsse; deshalb dürften „die Herren eines Landes“ niemals „durch Wahl der Völker“ autorisiert werden. Der Erbfürst könne immer „leichter regieren“ als ein von Korporationen abhängiger Regent. Ein aufgeklärter und tätiger König wie er selbst werde als „erster Diener“ seines Staates die Aufgabe vollbringen, „all die verschiedenen Interessen“ seiner Untertanen „zu einem einzigen gemeinsamen Interesse zusammenzufügen“. Dieses Ideal des Alleinherrschers erfüllte (fast) alle Monarchen Preußens zutiefst; noch Wilhelm II. hing dieser (nun anachronischen) Herrschaftsauffassung an: „Einer nur ist Herr im Reiche, und das bin Ich, keinen anderen dulde Ich.155 Insgesamt und mangels besserer Alternativen bleibt der Begriff Absolutismus bis um 1800 als idealtypische Bezeichnung von Preußens Herrschaftsform sinnvoll, denn er spiegelt zentrale Dimensionen wider: die Rechtstheorie, Intentionen der Herrscher, Trends des Staatsaufbaus und der Gesetzgebung, und er stellt nicht partielle Begrenzungen, Krisensituationen oder einzelne Petitionen in den Mittelpunkt. Absolutismus faßt idealiter ein Modell europäischer Staatsbildung, das regionale oder korporative Autonomie negierte. Freilich sollen und werden Stände-Aktivitäten weiter zu erforschen sein. Das grundsätzliche Gegenmodell fand sich indes in nichtabsolutistischen Gemeinwesen Europas, nämlich in Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz, Polen und den Stadtrepubliken Italiens, nach 1772 in Schweden. Diese Andersartigkeit hatte Konsequenzen bis ins 19. Jahrhundert: Ein schwächerer Zentralstaat ließ ständischen Kräften Raum und signifikant städtische oder bäuerliche Prägung erleichterte politische Partizipation mittels zunächst elitärer Parlamente.156 154 Die Argumente seit John Brewer, The Sinews of Power, New York 1989, faßt zusammen Christopher Storrs (Hg.), The Fiscal-Military State in 18th-Century Europe, Farnham 2009, S.  3–20; vgl. zu Preußen ebd. Wilson, Prussia as a Fiscal-Military ­State. Burkhardt, Vollendung, S. 189 f. (nichtabsolutistische Staaten). 155 Friedrich Wilhelm I. nach Birtsch, Hochabsolutismus S. 394, Friedrich II. nach Jürgen Overhoff, Friedrich der Große und George Washington. Zwei Wege der Aufklärung, Stuttgart 2011, S. 149 f. Michael A. Obst, Einer nur ist Herr im Reiche. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner, Paderborn 2010, S. 131 (Zitat Wilhelm II.). 156 Diese These z. B. bei Brian M. Downing, The Military Revolution and Political Change, Princeton 1992, S. 106 f., 239–254. Zustimmend: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2002, S. 358.

190  V. Preußens politisches System Als Spezifikum Preußens ist seit Otto Hintze und Hans Rosenberg die Verknüpfung von Monarchie, Bürokratie und Aristokratie angesehen worden. Rosenbergs in Zwangsemigration ohne eigene Quellenstudien verfaßtes Werk spitzt die These von Patronage, Ineffizienz und Beamten-Herrschaft aber übermäßig zu. Heute ist klar, daß die vollständige Durchsetzung zentralstaatlicher Vorgaben vor Ort aufgrund der Kommunikationswege und wegen der relativ geringen Zahl von Staatsdienern schwierig blieb. Maximal je etwa 600 Räte im Berliner Generaldirektorium und in den Kriegs- und Domänenkammern, Landkreisen sowie Städten, insgesamt bei Einbezug von Domänenämtern und Bürohilfskräften höchstens 3100 Amtspersonen administrierten Preußen um 1770 im Zivilbereich.157 Trotzdem kennzeichnete Preußen, jedenfalls seine Kernlande, seit dem frühen 18. Jahrhundert eine im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Staaten entwickelte, zentral angeleitete Verwaltungsorganisation und die Ausrichtung von Staat und Wirtschaft auf den Unterhalt des Militärs. Heinz Duchhardt sieht im Staaten-Vergleich seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. 1713 sogar einen Sonderweg Preußens beginnen, während Frank Göse Preußen im reichischen Kontext verortet und bezüglich Verwaltung sowie anderen Bereichen keinen exzeptionellen Weg erkennt. Ungeachtet von Differenzierungen werden im administrativen Feld drei Dinge als Besonderheiten angesehen: Die systematische Einsetzung staatlicher Kriegs- und Steuerkommissare ab 1712, die den Staat bis auf die lokale Ebene durchdringen ließen; die Etablierung einer Zentrale im General-Ober-Finanz-, Kriegs- und Domänen-Direktorium seit 1723; die tagtägliche Führung durch den Monarchen persönlich aus einem Geheimen Kabinett heraus als „Praxis maximierter Autokratie“ (W. Neugebauer). Ob als weitere Singularität 1713 bis 1786 die klare Trennung zwischen (entpolitisiertem, adeligem) Hof und (entscheidenden) Zentralbehörden anzunehmen ist, wird neuerdings auch in Frage gestellt.158 157 Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy, and Autocracy. The Prussian Experience 1660–1815, Cambridge, Mass. 1958. Im Kern folgt ihm Schilling, Höfe und Allianzen, S. 404–414. Die Beamten-Zahlen in der Literatur beruhen in der Regel auf Hubert C. Johnson, Frederick the Great and his Officials, London 1975, S. 283–288. Zum Generaldirektorium vgl. Jürgen Kloosterhuis, Modernes Zentralverwaltungssystem im preußischen Ancien Régime: Das „General-Ober-Finanz-Krieges- und DomänenDirectorium, in: www.hiko-berlin.de/ schluesselquellen-verwaltung. Unverzichtbares Nachschlagewerk: Rolf Straubel, Biographisches Handbuch der Preussischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740–1806/15, 2 Bde., München 2009. 158 Duchhardt, Barock und Aufklärung, S.  97–101 (Sonderweg Preußens). Besonderheiten betonen auch Rudolf Vierhaus, The Prussian Bureaucracy Reconsidered, in: J. Brewer/E. Hellmuth (Hg.), Rethinking Leviathan. The Eighteenth-Century State in Britain and Germany, Oxford 1999, S. 149–165 und Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 201, 258–262. Frank Göse, Zwischen Marginalisierung und Übermächtigung. Die Stellung Brandenburg-

1. Stände, Absolutismus, innere Staatsbildung 

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Auf der Kreisebene installierten die Monarchen im 18. Jahrhundert überall Landräte, die anfangs vorzugsweise von den Kammern, nach 1750 auch von den Kreisständen präsentiert wurden und die untere Ebene staatlicher Verwaltung bildeten, aber zugleich vielfach in persönlichen Beziehungen mit dem ersten Kreisstand des Adels standen. Auch die absolute Monarchie war ja in ihrem Sozialgefüge ständisch gegliedert. Kurfürst Friedrich Wilhelm und Friedrich Wilhelm I. drängten aber die Mitwirkung der Stände zurück und bevorzugten gar Bürgerliche in Verwaltungsstellen. Auch Friedrich II. gab provinzialen Ständen nur wenig Spielraum, band freilich die Sozialgruppe Adel zunehmend an die Monarchie, indem er ihn privilegierte und Spitzenstellungen fast ausschließlich an Aristokraten vergab. Zwei berühmte Zitate verdeutlichen den Umschwung. Friedrich Wilhelm I. schrieb 1717: „Ich ruiniere die Junkers ihre Autorität; ich komme zu meinem Zweck und stabiliere die Souveraineté wie einen Rocher von Bronce“. Hingegen äußerte Friedrich II. zugunsten der Aristokratie 1747: „Denn ihre Söhne sind es, die das Land defendieren; davon die Racce so gut ist, das sie auf alle Art meritiret conserviret zu werden“. Aufgrund vielfacher Zeugnisse und Indikatoren urteilte schon Otto Hintze, unter Friedrich II. sei „ein fester Bund zwischen Krone und Adel geschlossen worden“. Dieser Herrschaftskompromiß – Entmachtung von Adel und Ständen in den großen politischen Fragen auf zentraler Ebene gegen Wahrung der Adelsherrschaft auf lokaler Ebene und Versorgung in zivilen, mehr noch in militärischen Positionen – kennzeichnete Preußen. Privilegierung und Disziplinierung (Bernd Wunder) hießen die beiden Pole in der Lage der Beamtenschaft seitdem.159 Über die Jahrzehnte steigerte die Bürokratie ihre Effizienz. Die Ausbildungsanforderungen wurden angehoben und höhere Beamte hatten Universitätsstudien nachzuweisen, die ab 1770 von einer Oberexaminationskommission geprüft wurden, auch das Leistungsethos der Bürokratie nahm zu. Das Gros der Staatsdiener (etwa 70 %), zumal im Justiz- und Finanzfach, kam schon im 18. Jahrhundert aus Bürgerkreisen. Freilich standen an der Spitze (Minister, Kammerpräsidenten, Generale) doch überwiegend Adelige. Deren Anteil in den Zentralbehörden stieg im Zeitverlauf sogar wesentlich, nämlich von 17 % (1740) auf 61 % (1806). FachPreußens im frühneuzeitlichen Reich, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 63 (2017), S. 105–137, 125 ff. Ders., Der „unpolitische Hof “? Zum Verhältnis von Hof und Zentralbehörden in friderizianischer Zeit, online: perspectivia.net, Friedrich300. Schaubild der Behörden bei Schilling, Höfe und Allianzen, S. 416, dazu Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte 1640–1888, Berlin 1921, S. 133–155. 159 Otto Hintze, Die Hohenzollern und der Adel, in: Ders., Geist und Epochen der preußischen Geschichte, Leipzig 1943, S. 38–63, S. 49 und Frank Göse, „[…] die Racce davon so guht ist, das sie auf alle Art meritiret conserviret zu werden“. Das Verhältnis Friedrichs des Großen zum brandenburgischen Adel, in: Ders. (Hg.), Friedrich der Große und die Mark Brandenburg, S. 104–132. Hintze, Hohenzollern, S. 398 (Bund mit Adel). Hinrichs, Fürsten und Mächte, S. 170 f. (Herrschaftskompromiß).

192  V. Preußens politisches System beamte waren keineswegs alle verabschiedete Offiziere und deshalb unfähig, aber zeitweise Militärdienstzeiten lassen sich bei 32 % der Kriegs- und Domänenräte sowie ca. 50 % der Landräte nachweisen. Trotz des ständischen Kompromisses und der partiellen Verbürgerlichung lag der Zielpunkt des rationalen Denkens der Staatsdiener aber in der Staatsverwaltung und ordnete gesellschaftliche Impulse dem unter. Und die monarchische Spitze – nach Johannes Burkhardt „eine legendäre Serie von vier hyperaktiven Herrscherpersönlichkeiten“ – gab die Ziele vor. Dies galt klar bis 1786 und merklich abgeschwächt bis 1806.160 Die Leistungsfähigkeit der Beamtenschaft im Vergleich zumal mit Frankreich war ein Grund, warum in Preußen nach 1789 keine Revolution stattfand. Dazu kamen wichtige andere. In Preußen funktionierte der Gesetzesstaat prozedural und einige Rechtsreformen (Strafrecht, Bauernschutz, Allgemeines Landrecht) sowie Freiräume für Debatten hielten die Empörung in Grenzen. Es gab keinen Staatsbankrott und sogar Selbstkorrektur von oben wie bei der Abschaffung der Régie 1786. Ständische Vertretungen als Sammelpunkt für kollektive Aktion fehlten und das Bildungs- bzw. Wirtschaftsbürgertum stand weder im Bündnis mit Teilen des Adels noch mit dem alten (Klein-)Stadtbürgertum. Die Monarchen waren nicht persönlich verhaßt wie Ludwig XVI. in Versailles, sondern wie Friedrich II. sogar angesehen. Es fehlten die Anstöße von außen in Form von Kriegsniederlagen oder massiver ideologischer Subversion und ab 1793 dominierten Abscheu vor der französischen Jakobiner-Herrschaft und Furcht vor sozialem Umsturz wie in der Mainzer Republik. Die Gesellschaft inklusive der Unterschichten unterlag seit Jahrzehnten sozialer Disziplinierung und ein loyales Militär war präsente Ordnungskraft. Den dritten Stand, die Gruppen des Bürgertums, kennzeichnete beruflich Staatsnähe und intellektuell größtenteils die Ansicht, daß Freiheit durch und mit dem Staat, nicht gegen ihn zu realisieren sei. Insgesamt wirkten also neben externen Faktoren effiziente staatliche Kapazitäten und etatistische Prägung der Gesellschaft einer Revolution in Preußen entgegen. Ohne Revolution überdauerten spezifische Traditionen und Strukturen.161

160 Sieg, Hans Martin, Staatsdienst, Staatsdenken und Dienstgesinnung in BrandenburgPreußen im 18. Jahrhundert (1713–1806), Berlin 2003, S. 34 ff., 138 ff. Adelsanteil nach Johnson, Frederick the Great, S. 288–291. Militärdienstzeiten nach Rolf Straubel, Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Finanz- und Justizverwaltung, Berlin 2010, S. 123 (71 % Bürgerliche unter 1900 erfaßten Beamten). Vierhaus, Prussian Bureaucracy, S.  156 (monarchische Zielvorgabe). Burkhardt, Vollendung, S. 175 (Zitat). 161 Charlotte B. Behrens, Society, Government and the Enlightenment, London 1985, S.  199–205. Die Gründe der Nicht-Revolution in Preußen nach Horst Möller, Wie aufgeklärt war Preußen?, in: Puhle/Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, S. 176–201, S. 190–192.

2. Reformzeit, Reaktionsperiode, Provinziallandtage, ­Vormärz  

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Reformzeit, Reaktionsperiode, Provinziallandtage, ­Vormärz

Die preußischen Reformer gewannen im Staatsapparat erst mit der Niederlage 1807 den Spielraum für grundlegende Reformen. Ihr Ziel war laut Hardenberg, „eine Revolution im guten Sinn“ von der Staatsspitze her zu bewirken. Nicht die bisherige bürokratische Elite, sondern Außenseiter und Quereinsteiger, inspiriert durch die Debatten zweier Jahrzehnte, wurden enge Mitarbeiter Hardenbergs und fertigten Entwürfe wichtiger Gesetze oder Schriftstücke für ihn. Bis zu den Arbeiten Barbara Vogels wurden sie in der Historiographie kaum gewürdigt. Dies gilt beispielsweise für F. A. Staegemann und speziell Christian Friedrich Scharnweber, der noch bei Christopher Clark bloß als Protegés Hardenbergs auftaucht. Die Reformer stellten zur ökonomischen, militärischen und gesellschaftlichen Revitalisierung des Staates auf mehr institutionalisierte Bürgerbeteiligung ab und bildeten damit die Antithese zum Absolutismus. Unter dem Freiherrn vom Stein, an ständischer Libertät orientiert, versuchten die Reformer bis 1810 noch Anknüpfung an die alten Stände in Ostpreußen, Pommern und der Kurmark. Während sich der ostpreußische Generallandtag 1808 reformoffen verhielt, zeigten sich in den Landtagen Brandenburgs, Pommerns und Schlesiens drei große Probleme: Bauern und Städte blieben unterrepräsentiert, adelig dominierte Plenarmehrheiten verteidigten eigene Privilegien und es gab starke Differenzen zu den Regierungsvertretern in den Finanz- und Agrarreformfragen. Nach Manfred Botzenhart wuchs damit in Berlin die „Überzeugung, daß von einer Neubelebung des alten Ständewesens nichts als Querschüsse und Widerstände für die Reformpolitik zu erwarten seien“.162 Staatskanzler Hardenberg wurde ab 1810 zur Zentralfigur in der Verfassungsfrage. Er hielt an der Zuziehung einer beratenden Körperschaft fest, aber umging die alten Stände bewußt. Eine Notablenversammlung von 1811 bestand aus 64 staatlich ernannten Männern, darunter 30 adelige Rittergutsbesitzer, zwölf kleinere Grundbesitzer mit Verwaltungsämtern, Beamte und vier Städtevertreter. Sie äußerten sich zu den vorgelegten Modernisierungsgesetzen moderat, aber aus den brandenburgisch-pommerschen Kreisritterschaften kamen wütende Proteste und Beharren auf altem Ständerecht. F. A. L. von der Marwitz sah Preußen durch Hardenberg untergehen und wurde von diesem in Festungshaft genommen. Der altständischen Fronde, die in Hofkreisen Gehör fand, setzte Harden162 Barbara Vogel, Reformpolitik in Preußen 1807–1820, in: Puhle/Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, S. 202–233, S. 211 f. Dies., Christian Friedrich Scharnweber, Ein vergessener Aufklärer in der preußischen Reformzeit, in: L. Güth u. a. (Hg.), Wo bleibt die Aufklärung? (= Fs. Th. Stamm-Kuhlmann), Stuttgart 2013, S. 83–99. Clark, Preußen, S.  394 (Scharnweber). Manfred Botzenhart, Verfassungsproblematik und Ständepolitik in der preußischen Reformzeit, in: Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung, S. 431–455, Zitat S. 444.

194  V. Preußens politisches System berg 1812 die interimistische Nationalrepräsentation entgegen. Unter ihren sorgsam gewählten 41 Mitgliedern befanden sich 18 Rittergutsbesitzer, neun Bauern und 14 Städtevertreter. Sie beschloß mit knappster Mehrheit eine für den Adel günstige Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse, die ab 1816 im Kern galt, drang aber auch auf Klärung ihrer Rechtsstellung, bevor sie im Juli 1815 aufgelöst wurde. Es war offensichtlich, daß Hardenbergs Reformpolitik zentrale Machtpositionen des Adels angriff: Bauernbefreiung statt Frondienste, Aufhebung der Steuerfreiheit, verbreiterte politische Partizipation. Adelige lokale Herrschaft über Gut und Landgemeinde sollte das Gendarmerieedikt 1812 brechen, das an Stelle des ständischen Landrats einen staatlichen Kreisdirektor mit großen Befugnissen vorsah, dem je zwei Deputierte der Gutsbesitzer, Bauern und Städter kollegialisch beigegeben waren. Dagegen betrieben Adelige massive Obstruktion und Finanzknappheit erschwerte die Umsetzung in der Fläche. In der Kriegssituation 1813/14 verzichtete Hardenberg auf die Realisierung.163 Mit dem Friedensschluß 1815, als die Deutsche Bundesakte unklar definierte „landständische Verfassungen“ vorsah, erwirkte Hardenberg bei Friedrich Wilhelm III. wie schon im Finanzedikt vom 27.10.1810 erneut das Versprechen einer gesamtpreußischen Repräsentation bzw. Verfassung (22.5.1815). Über deren Form und Inhalte stritten zwei Gruppierungen: die (wenigen) überzeugten Reformbeamten in Hardenbergs Staatskanzleramt sowie in einigen Ministerien (Humboldt, Boyen, Beyme) und ein hochkonservativer, hofnaher Zirkel um Polizeiminister Fürst Wittgenstein und Prinzenerzieher Ancillon, der von anderen Spitzenbeamten, beispielsweise Innenminister von Schuckmann, verstärkt wurde. Altpreußens Adel frondierte mehrheitlich, zumal gegen die Agrarreform, aber weite Bevölkerungskreise speziell im Westen Preußens ersehnten Verfassung und Repräsentation; bekannt sind Joseph Görres‘ Schriften und die Verfassungsadressen rheinischer Städte 1817/18. Dementsprechend begann der persönliche Verfassungsplan Hardenbergs vom 3.5.1819 mit den Worten, das „Verlangen nach repräsentativen Verfassungen spricht sich immer lauter aus“. Die „möglichste Freiheit und Gleichheit“ der Staatsbürger hatte Hardenberg schon 1807 als Ziel benannt. Die bürgerschaftliche Vertretung sollte in drei Stufen indirekter Wahl vom Kreistag (bzw. den Städten) über den Provinziallandtag zum allgemeinen Landtag führen; diesen Weg hatte Metternich gebilligt und dessen Placet war Hardenberg gegenüber dem König unabdingbar. Die Kompetenz des Landtags war begrenzt auf Gegenstände, „welche die persönlichen und Eigenthums-Rechte der Staatsbürger mit Einschluß der Besteuerung“ betreffen und entsprach damit der Forderung des 163 Zu Notabeln und Nationalrepräsentation Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984, S.  63–74. Zum Gendarmerieedikt Botzenhart, Landgemeinde und staatsbürgerliche Gleichheit, S. 99–101 und Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung, S. 111, 129 f.

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Königs, daß Außenpolitik, Militärfragen und Polizeianordnungen dem künftigen Parlament entzogen sein müßten. Im Zweikammersystem aus Wahlkammer und einem königlich ernannten Oberhaus sollten Gesetze debattiert werden, die zur Gültigkeit aber der Unterschrift des Monarchen bedurften. Manche Fragen formulierte Hardenberg wohl aus taktischen Gründen unklar, um den König nicht zu alarmieren. Dennoch waren seine Pläne wegweisend und entwicklungsfähig: Es sollte eine schriftliche Verfassung mit garantierten Bürgerrechten (Rechtsgleichheit, Presse- und Religionsfreiheit, etc.) geben; Landgemeinden, Kreisen und Städten wurde große Autonomie in ihren eigenen Angelegenheiten zugebilligt; ständische Privilegien, zumal der Rittergutsbesitzer, oder der Ausschluß von Juden sollten entfallen und das Wahlrecht allen Grund- bzw. Hausbesitzern zukommen; in den Kreis- und Provinzialgremien wären die Anteile für Großgrundbesitz, Landgemeinden, Städte nach der jeweiligen Einwohnerzahl bemessen worden. Aus all dem schloß Herbert Obenaus in seinem quellenfundierten Standardwerk, daß Preußen damit auf eine Linie mit dem süddeutschen Konstitutionalismus vorgerückt wäre. Der König genehmigte den Entwurf aber nicht und verlangte erneute Beratung in einem Ausschuß; Hardenberg konnte ihn mehrheitlich mit Reformbeamten unter seinem Vorsitz besetzen. Dort blieb es trotz kleiner Modifikationen im Kern bei Hardenbergs Grundlinien, die er im Oktober 1820 als „Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen“ erneut dem König vorlegte. Im Anschreiben versicherte Hardenberg „daß eine solche Verfassung zugleich wirklich liberal und doch für das monarchische Prinzip und die Macht des Souveräns völlig gesichert sei.“ Damit Friedrich Wilhelms III. Akzeptanz zu gewinnen, mißlang.164 Obwohl im Staatsschuldenedikt vom 17.1.1820 zum dritten Mal eine preußische Repräsentativversammlung versprochen worden war, verweigerte der König sich Hardenbergs Vorschlägen. Vielmehr ließ er während dessen Abwesenheit eine von hofnahen Konservativen dominierte Kommission unter dem Kronprinzen über Hardenbergs liberale Kommunalgesetzgesetzentwürfe, den notwendigen Unterbau aller Repräsentativgremien, beraten. Die maßgeblichen 164 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 103, 137, zu Hardenbergs Plänen ebd., S.  100–121. Zum Widerstand des Adels vgl. Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847, Göttingen 1978, S. 123 ff. und Klaus Vetter, Kurmärkischer Adel und preußische Reformen, Weimar 1979, S. 42 ff. Die maßgebliche Darstellung zur Verfassungsfrage ist jetzt: Christian Schmitz, Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit, Göttingen 2010, S.  406–414 Verfassungsplan vom 3.5.1819. Überblick bei Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit, S. 51–99. Hardenbergs „Landständische Ideen“ in: GStA PK, VI. HA, NL Wittgenstein, V,6, Bl. 83–85, das zit. Anschreiben vom 10.10.1820 Bl. 81  f. Zur Verfassungsbewegung vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 62–69.

196  V. Preußens politisches System Kommissionsmitglieder (Fürst Wittgenstein, von Schuckmann, Ancillon) sahen die drei königlichen Verfassungsversprechen schon durch neoständische Organisation als erfüllt an. Scharf verurteilten sie Hardenbergs Ansatz als dem „Wohle der Monarchie“ entgegenstehend. Die Gemeindeorganisation sei zu demokratisch, das könne leicht das ganze Volk infizieren. Auf Hardenbergs Weg werde aus Preußens ständischer Monarchie schnell eine königliche Republik. Vielmehr seien die Provinziallandtage gemäß Herkommen ständisch zu organisieren und eine gesamtpreußische Repräsentation allenfalls später denkbar. Letztmals beschwor Hardenberg Anfang Mai 1821 Friedrich Wilhelm III., einer Verfassung zuzustimmen. Dieser aber dekretierte gemäß einem Entwurf des Hauptes der Konservativen, Fürst Wittgenstein, am 11.6.1821: „Das Weitere wegen Zusammenberufung der allgemeinen Landstände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der Entwicklung der Sache und meiner landesväterlichen Fürsorge anheimgestellt.“ Hofpartei und Fronde hatten gesiegt. Hardenberg war ganz ausgeschaltet, als die Kronprinzen-Kommission 1821/22 den Entwurf zur Anordnung der Provinzialstände erstellte. Deren Kompetenzen waren restriktiv gefaßt und die Rittergutsbesitzer erhielten einheitlich je rd. 50 % der Sitze in den sechs östlichen Provinzen sowie unangemessen hohe 43 % bzw. 37 % in Westfalen bzw. der Rheinprovinz zuerkannt; in letzterer besaßen Adelige ganze 4 % des Landes. Von den 579 Sitzen in allen Provinzial-Landtagen nahmen demgemäß (meist adlige) Rittergutsbesitzer inklusive 32 vor 1806 reichsunmittelbarer Fürsten 273 ein, Städtevertreter 182 und Landgemeindevertreter nur 124. Wegen der Bestimmung, daß Petitionen oder Beschlüsse einer 2/3 Mehrheit bedurften, bedeutete dies ein institutionalisiertes Veto des junkerlichen Adels und bei dessen Einheitsfront Ohnmacht für Städte und Landgemeinden. Konservative waren explizit stolz darauf, daß die Bourgeoisie und räsonierende Bildungsbürger schwach vertreten waren.165 Das unter die Überschrift „Worte“ gestellte Urteil von Clark, die Leistungen der Reformer seien bescheiden gewesen und Hardenberg habe unter Partizipation nur Konsultation, nicht Mitentscheidung gemeint, minimiert ohne gute Gründe deren Ziele, vor allem aber die Entwicklungsperspektiven. Auch Kosellecks These vom Zögern der Reformer in der Verfassungsfrage, weil sie der Wirtschafts- und Verwaltungsreform Vorrang gaben, trifft weithin nicht zu. In einer aktuellen Forschungsbilanz werden Hardenberg hingegen generell Modernität, durchdachtes Programm und zielstrebige Umsetzung bescheinigt. Sein ambitionierter Verfassungsplan scheiterte an vier klar benennbaren Gründen: An der mehrfachen Verweigerung Friedrich Wilhelms III., der noch in seinem politischen Testament von 1827/38 seine Nachfolger auf unbeschränkten Erhalt der monarchischen Allgewalt verpflichtete; an den konservativen Gruppierungen am 165 Zur Kronprinzen-Kommission Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S.  141– 156, Zitat 1821 S. 147. Die Zahlen für die Provinziallandtage ebd., S. 183, 208. Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit, S. 93 f.

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Hof und in der Bürokratie; am Widerstand des ostelbischen Adels; am bremsenden Einfluß von außen, primär Metternichs. Im Vergleich mit Süddeutschland, wo die Reformbürokratie durch Übergehen der alten Eliten bis 1818/19 modernisierte Konstitutionen durchsetzte, befand Paul Nolte den von den preußischen Reformern beschrittenen Weg, eine Verfassung mit den Repräsentanten der adelig dominierten Stände zu vereinbaren, für zu optimistisch. Denn damit wurden vor allem altständische Forderungen laut geäußert und die Vereinbarung einer zukunftsweisenden Verfassung war kaum möglich, solange der in Preußens Osten dominante Adel nicht entmachtet war. Wäre dagegen Preußen 1820 ein Verfassungsstaat mit einem Landtag im Sinne Hardenbergs geworden, hätte die Geschichte bis zur Revolutionszeit 1848/50 und darüber hinaus andere Verläufe genommen. Rückblickend schrieb 1922 der in Baden tätige nationalliberale Historiker Gerhard Ritter in einer Buchrezension, es gebe eine „unnatürliche Schärfe und Unversöhntheit der innerpolitischen Gegensätze im Norden des Reiches“. Grund seien nicht allein die sozialen Probleme aufgrund der Konzentration von Industrie in den westlichen und Landwirtschaft in den östlichen Provinzen Preußens. Gutenteils sei „daran eine geschichtliche Tatsache mit schuld, (…) nämlich, daß die Überführung des preußischen Staates in moderne, konstitutionelle Formen viel später und darum viel gewaltsamer, unter viel stärkeren Hemmungen und mit weit größerer gegenseitiger Verbitterung der Parteien erfolgt ist als im deutschen Süden.“166 Eine bemerkenswerte Aussage. Nach 1820 herrschte die unter Hardenberg reorganisierte Bürokratie. Gerne glaubt man in deren Reihen dem angeblich aus England stammenden und von B. G. Niebuhr 1815 publizierten Satz, Freiheit beruhe mehr auf (guter) Verwaltung als auf einer (geschriebenen) Verfassung. Den Behördenumbau der Reformzeit hat Koselleck als „verfassungspolitische Vorleistung“ und zeitweisen „Verfassungsersatz“ gekennzeichnet. Er hob dabei auf die akademisch gebildeten Räte in den Regierungen und Ministerien ab, die kollegialisch weite Fragenkreise berieten, teils zu Problemen aus ihrer Zuständigkeit publizierten, anonym sogar recht kritisch, und sich als Instanz des Interessenausgleichs jenseits ständischer Organe 166 Clark, Preußen, S. 393, 399 kommt dazu, da er Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, bes. S. 113 f. u. 139 nicht einbezog. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 163 ff. Dagegen wenden sich Herbert Obenaus, Verfassung und gesellschaftliche Interessen in Preußen von der Reformzeit bis zum Vormärz, in: Ullmann/ Zimmermann (Hg), Restaurationssystem und Reformpolitik, S.  43–63, 45 sowie fundiert Schmitz, Vorschläge und Entwürfe, S. 222 ff. Christof Dipper, Hardenberg als Reformpolitiker. Ein Kommentar, in: Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“, S. 191–195, 194 f. Gründe des Scheiterns lt. Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820, Frankfurt/M. 1990, S. 106 f., 196–200. Zitat aus: Gerhard Ritter, Rezension von Paul Haake, Der preußische Verfassungskampf vor 100 Jahren, München 1921, in: Tägliche Rundschau 1.2.1922, Beilage.

198  V. Preußens politisches System ansahen. Tatsächlich wirkten respektable Reformbeamte in den 1820er, 1830er Jahren mancherorts fort. Seit Mitte der 1830er Jahre überwogen jedoch Berliner Ordres mit reaktionärer Tendenz. Stellten Berliner Ministerien deren Nichtvollzug fest, sandte die Zentrale zwecks Disziplinierung energische Vorgesetzte dorthin. Im hierarchischen System konnten meist adelige Bürokratiespitzen so eine überwiegend aus Bürgerlichen bestehende Beamtenschaft disziplinieren. Spätestens ab 1840 vermochte die Beamtenschaft auch in Kosellecks Lesart nicht mehr Staat und Gesellschaft in sich zu verbinden, da die etwa fünfhundert Räte personell überfordert waren, neue Probleme in Form von anwachsenden Unterschichten oder Notständen auftraten und vor allem bürgerliches Partizipationsverlangen zunahm. Weil bereits nach 1820 die konservative, antireformerische Verhärtung in den ministeriellen Spitzen zu konstatieren war, mißt Koselleck der Beamtenschaft wohl schon im Grundsatz eine zu hohe (Hegelsche) Synthese-Mission zu. Die Beamtenschaft stand quasi isoliert zwischen Staatsspitze und Gesellschaft. Koselleck selbst zitiert zustimmend eine Stelle aus Rudolf Delbrücks Erinnerungen an die 1840er Jahre, wonach die „Beamtenkreise zwischen der fest geschlossenen Hofgesellschaft auf der einen und der bürgerlichen Gesellschaft auf der anderen Seite ein Leben unter sich führten“. Beamte konnten – und können – die Repräsentation des Volkes nicht ersetzen. Die 1808–17 modernisierte Administration bestand an der Spitze aus der Kabinettsrunde, Staatsministerium genannt, wo acht bis zehn selbständige Fachminister gleichberechtigt nebeneinander saßen, so daß Reformkräfte in manchen Ressorts Wirkungsräume besaßen. Die Oberpräsidenten der acht Provinzen vertraten einerseits den Zentralstaat in den provinzialen Gremien und verstanden sich andererseits auch als Anwälte ihrer Region in Berlin. Speziell solange sie an ihrem Amtssitz zugleich das Regierungspräsidium innehatten (1825–1875) waren sie mächtige Figuren in der Verwaltung; die alltägliche Hauptarbeit lag später primär bei den Regierungspräsidien der (1822) 25, (1905) 36 Regierungsbezirke. Sie sollten gemäß Hardenbergs liberaler Instruktion von 1817 im Rahmen der Gesetze „eine möglichst freie und selbständige Wirksamkeit“ erhalten und waren zu eigenständigen Verfügungen ermächtigt. Einzelleitung herrschte hingegen bei den Landräten der (um 1830) ca. 325, (um 1910) ca. 410 Kreise. Die beigegebenen ehrenamtlichen Kreis-, Bezirks- und Provinzialausschüsse blieben den Leitern gegenüber meist sekundär.167 167 Koselleck, Preußen, S. 217 (Vorleistung, Niebuhr-Zitat), 332, 433–447, 557 (Steuerungsverlust), 115 (Delbrück), S. 238–264 (Kollegien), S. 248 (Hardenberg-Zit). Zu den frühen Oberpräsidenten vgl. Gerd Heinrich, Acht Exzellenzen. Persönlichkeit und Leistung der Oberpräsidenten des Preußischen Staates um 1830 im Vergleich, in: H.-J. Behr/J. Kloosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994, S.  89–113. Anschaulich: Heide Barmeyer-Hartlieb (Bearb.), Die Tagebücher des Ludwig Freiherrn

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Mit dem Provinzialständegesetz vom 5.6.1823 wurden provinzweise Landtage etabliert. Restriktive Bedingungen – Tagung nur alle zwei (1833–41 drei) Jahre, Nichtöffentlichkeit, Kompetenz zur gutachtlichen Äußerung erst nach Aufforderung und Leitung durch staatliche Kommissare – sollten sie beschränken. In Berlin wachte die Immediatkommission für die ständischen Angelegenheiten, nicht zufällig mit Hochkonservativen wie Wittgenstein, Ancillon oder Schuckmann besetzt, scharf über die Einhaltung der rechtlichen und politischen Grenzen der Provinziallandtage. Sie entwarf unter Friktionen mit den Fachministerien auch die überwiegend ablehnenden Antworten des Monarchen (sog. Landtagsabschiede) auf die provinzialen Wünsche. Die Provinziallandtage besaßen eine gewisse Macht des Neinsagens zu Gesetzentwürfen oder zu lokaler Realisierungsblockade, aber durften allgemeinpolitische Fragen nicht berühren. Sie blieben in der Reaktionszeit der 1820er, 1830er Jahre entsprechend ihrer Zusammensetzung altständisch und provinzial-partikular orientiert und suchten vielfach die Gewerbefreiheit, die freiere Arbeitsverfassung oder reformierte Rechtsregelungen zurück zu revidieren. Durchaus nötige Gesetze oder Maßnahmen verzögerten sich durch die mehrjährigen Tagungsintervalle und die Befragung aller acht Provinzial-Landtage erheblich. Ende der 1830er Jahre waren sogar konservative Beamte in Berlin unzufrieden mit diesen Gremien des altständisch-egoistischen Verzögerungskurses. Nach 1840, dem Vormärz im engeren Sinne, änderte sich das Klima. Der neue König Friedrich Wilhelm IV. und einige, aber nicht alle Minister nahmen eine offenere Haltung ein. Stadtverordnetenversammlungen bzw. Provinziallandtage durften ihre Beschlüsse bzw. Debatten publizieren. Eine liberale Opposition mit Hochburgen in Rheinprovinz und Ostpreußen konnte sich artikulieren, während Brandenburg, Pommern und Sachsen konservativ gestimmt blieben. Nicht mehr nur Rechtssystem und Agrarfragen oder provinziale Einrichtungen wurden thematisiert. Politisierung begann und zwei eigens installierte regierungstreue Zeitungen kamen gegen 17 regierungskritische Blätter nicht mehr an. In Stadtverordnetenversammlungen, Petitionen und den Provinziallandtagen 1843 und 1845 wurden brisante Forderungen laut: Öffentlichkeit der Gremienverhandlungen, stärkere Repräsentation für Städte und Landgemeinden, Pressefreiheit, Verfassung und „Reichstände“, d. h. ein Landtag. Friedrich Wilhelm IV. war nicht nur in der Verfassungsfrage unentschlossen, hing illusionären Ideen wie der Schaffung eines neuen, durch Grundbesitz definierten Adels an, und ist in politischer Hinsicht keineswegs als moderner Monarch zu bezeichnen. Seine MiVincke 1789–1844, Bd. 10: 1830–1839, Münster 2018, bes. S. 3–37. Zur organisatorischen Entwicklung vgl. Fritz Hartung, Der Oberpräsident, in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 275–344. Schaubild der Verwaltungsorganisation in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, hg. von P. Brandt u. a., Bonn 2006, S. 805 und Schlenke (Hg.), Preussen Ploetz, S. 206 f.

200  V. Preußens politisches System nister verfolgten in zentralen Fragen unterschiedliche Richtungen, besaßen ein beamtenmäßiges Amtsverständnis und resignierten eher, als entschiedenen Widerspruch gegen den Schlingerkurs des Königs durchzuhalten, so beispielsweise Albrecht v. Alvensleben (Finanzminister 1835–42) oder Adolf Heinrich v. Arnim-Boitzenburg (Innenminister 1842–45). Dieser in der Spitze desorganisierte, langsam-schwerfällige Beamtenstaat begegnete Unzufriedenheit und Kritik aus der erwachenden Gesellschaft. Im Sinne vieler (Wirtschafts-) Bürger formulierte David Hansemann 1840 die Klage, das „viele Regieren“ der Bürokraten und ihre Anmaßung von Entscheidungen, überhaupt das „Prinzip der Bevormundung“ schade Preußens Fortentwicklung. Ein Großteil der Zeitgenossen betrachtete wohl die 1830er, 1840er Jahre als eine bleierne Zeit, ähnlich dem Bewußtsein vieler Bürger der DDR in den letzten Jahren vor 1989. In der Tat fiel die Leistungsbilanz der Jahrzehnte zwischen 1823 und der Revolution 1848 für Preußen dürftig aus. Wenig zukunftsweisendes nur, primär der Zollverein und Gesetze im Gewerbe- und Armenwesen (Unterstützungswohnsitz 1842, Gewerbeordnung 1845), kamen zustande. Mit den vergleichsweise zukunftsoffenen Wirtschaftsreformen konstrastierte scharf der illiberale Obrigkeitsstaat. Im Recht gelang keine gesamtpreußische Kodifikation, die Verfassungsfrage blieb ungelöst, der Kulturbereich litt unter Zensur und Reglementierung, aus langjähriger fiskalischer Beschränkung resultierte eine geringe Einstellungsquote in Verwaltung oder Bildungswesen. Wirtschaftsbürger wie anstellungslose Gebildete, Städter wie Unterschichten fanden, daß der Staatsapparat alle Initiative lähme, bei Notständen oder der Hungerkrise 1846/47 wenig leiste und die neuen Phänomene des Wirtschaftswandels, etwa Migration, unzureichend abfedere. Dem lag ein politisch-bürokratisches System zugrunde, das generell von Ängstlichkeit vor dem einfachen wie dem gebildeten Volk geprägt war, und wegen innerbürokratischen Meinungswirrwars, teils auch Verweigerung noch amtierender Reformbeamter, häufig in Paralyse endete. Wie Mehltau lag die Devise der Ruhe um jeden Preis über dem Preußen der Restaurationszeit. Friedrich Wilhelm III. lehnte Veränderungen regelmäßig ab und leistete keine Koordinierung an der Spitze. Friedrich Wilhelm IV. schwankte zwischen punktueller Gönnerhaltung, exzentrischen Projekten und beleidigtem Rückzug. Die bis 1848 ernannten, großenteils staatskonservativen Minister bzw. Bürokratiespitzen konnten im amorphen Regierungssystem keine entschlossenen Akteure mit Zukunftsprogramm wie Hardenberg sein. Schon Zeitgenossen wie Minister Karl von Canitz und Dallwitz kritisierten dies und dem Historiker Treitschke zufolge amtierte in der Spitze der Regierung nach 1830 „niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes verdiente.“168 168 Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S.  211  ff. (Landtage), 237  ff. (Immediatkommission), 511–519 (Unzufriedenheit mit Landtagen). Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S.  380  ff. (Kritik am vormundschaftlichen Staat). Aus der Innensicht: Des Freiherrn Carl Ernst Wilhelm von Canitz und Dallwitz

2. Reformzeit, Reaktionsperiode, Provinziallandtage, ­Vormärz  

201

Der wichtigste Anstoß für neue Dynamik kam aus der Ökonomie. Zwecks wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit im Staatensystem stieg der Zwang, bürgerliche Eliten einzubeziehen. Zwar verminderte man Preußens Staatsschulden mit äußerster Sparsamkeit von 232 Mio. (1822) auf 158 Mio. Taler (1848) und häufte 19 Mio. Staatsschatz an, ein Spitzenwert im europäischen Vergleich. Aber Geld floß aus Preußen ab, der Staat erschien Privatbanken kaum kreditwürdig, zumal gemäß Hardenbergs Staatsschuldenedikt (17.1.1820) neue Schulden nur mit Zustimmung von preußischen Reichsständen gemacht werden durften. Der nun in Aussicht genommene Eisenbahnbau, die Ostbahn Berlin–Königsberg zumal, erforderte eine Anleihe. Nicht zuletzt deshalb diskutierten Monarch und Minister 1845/46 kontrovers, ob und mit welchen Kompetenzen ein Vereinigter Landtag aus den acht Provinziallandtagen einzuberufen sei. Der Thronfolger, der spätere Wilhelm I. sowie Hochkonservative sprachen gegen preußische Reichsstände mit Steuerbewilligungs- und Petitionsrecht und bevorzugten die Revitalisierung des Ständischen Ausschusses, der 1842 als erster Versuch zur Gewinnung von Staatskredit kurzzeitig gemacht worden war. Friedrich Wilhelms IV. romantisch verklärtes Ideal war ein christlicher Ständestaat, in dem jeder Untertan mit kindlicher Liebe am Monarchen hing; ausdrücklich lehnte er jede moderne Repräsentativkörperschaft ab. Politisch-ideologisch war er definitiv kein moderner Monarch. Aber da er zugleich nach Popularität und Realisierung seines Ständestaats-Projekts gierte, gab er im Februar 1847 bekannt, daß im April der Vereinigte Landtag zusammentreten werde. Diese Versammlung war noch kein Parlament, denn sie sollte vorgelegte Fragen debattieren, nur bei Bedarf zusammentreten, in Stände-Kurien abstimmen und weder Organisation noch Parteien kennen. Enttäuscht vernahm zumal die bürgerliche Hälfte unter den 610 Deputierten in der Thronrede die erneute Verweigerung einer Verfassung durch Friedrich Wilhelm IV. Wie im Feldlager müsse ein Wille gebieten und dürfe Preußen „nur von einem Willen geleitet werden.“ Er lehne es ab, daß sich „zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt Papier (…) eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren“. Seiner Schwester schrieb der König gar: „Eine Constituzion ist ein großer Arschwisch“. Die bürgerlichen Liberalen baten den König um parlamentarische Rechte wie periodische Tagung und echte Haushaltskontrolle – erfolglos. Als Reaktion lehnten sie, teils im Einklang mit den ständisch-konservativen Ade(…) Denkschriften, aus dem Nachlaß hg. von seinen Kindern, Bd.  2, Berlin 1888, S.  19–65, bes. S.  43 (zerstrittene Minister) und Gernot Dallinger, Karl von Canitz und Dallwitz. Ein preußischer Minister des Vormärz, Köln 1969, S. 81 f. Johannes Gerhardt, Der erste Vereinigte Landtag in Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld der Revolution von 1848/49, Berlin 2007, S. 155–166. Hansemann, Preußens Lage und Politik, in: J. Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten, S. 197 f., 212. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, S. 542, Bd. 5, S. 607.

202  V. Preußens politisches System ligen, die wichtigsten Regierungsentwürfe ab: Eine gerechter verteilte, aber höhere Einkommensteuer und vor allem die Ostbahn-Anleihe von 25 Mio. Talern (360 gegen 179 Stimmen). Denn, so ein seither bekanntes Wort des rheinischen Großkaufmanns David Hansemann, „in Geldfragen hört die Gemütlichkeit auf.“ Als die Versammlung im Juni 1847 ergebnislos auseinanderging, herrschte allgemeine Ratlosigkeit und politische Reformblockade. Klarsichtig beschwor Hansemann am 1. März 1848 die Gefahr einer Revolution, wenn nicht bald mehr Freiheiten gewährt und ein institutionalisierter (zweiter) Vereinigter Landtag zusammentrete. Am 11. März 1848 gestand Friedrich Wilhelm IV. dessen Einberufung zu.169

3.

Revolution 1848/49, Konstitutionalismus wider Willen, Verfassungskonflikt

Vor seiner Eröffnung brach die Revolution aus. Sie war ausgelöst durch die Revolutionen in Paris und Wien (Sturz Metternichs), aber begründet in weit verbreiteter Unzufriedenheit über die politischen Zustände und materiellen Notstand gerade in städtischen Unterschichten. Nach ersten Protestdemonstrationen kam es am 18./19. März 1848 in Berlin zu blutigen Barrikadenkämpfen zwischen Handwerksgesellen und dem Militär; 277 Demonstranten, zu rd. 85 % aus Unterschichten stammend, und 24 Soldaten starben dabei. Erschüttert erwies der König den Toten formell Reverenz, ließ das Militär abrücken, versprach Reformen sowie ein Parlament und proklamierte sogar „Preußen geht fortan in Deutschland auf “ (21.3.1848). Jene Tage waren dramatisch, aber jahrzehntelang prägend für die Geschichte Preußens und Deutschlands wurde der Mißerfolg der Revolution 15 Monate später, in dessen Folge sie und die „Märzgefallenen“ als Protagonisten freiheitlicher Volksrechte aus der offiziellen Erinnerung verbannt wurden. Ein schnell eingesetztes moderat liberales Kabinett der rheinischen Großkaufleute Hansemann und Ludolf Camphausen trat an und Wahlen zu einer Preußischen Nationalversammlung wurden ausgeschrieben. Ein allgemeines, gleiches Wahlrecht für jeden Mann über 24 Jahre und von sechs Monaten Ortsansässig169 Winfried Baumgart, Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), in: Kroll (Hg.), Preußens Herrscher, S. 219–241. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 649–710 (regierungsinterne Debatte und Ablauf des Landtags), S. 686 (Zit. König), lt. S. 661 f. gab es 609 Sitze, andere Autoren nennen die Zahl 613. Jürgen Herres/Bärbel Holtz, Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814–1888), in: G. Mölich u. a. (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen, S. 113–208, S. 155 (Zit. Arschwisch). Gerhardt, Der erste Vereinigte Landtag, findet aufgrund irriger Kategorisierung nur Konservative unterschiedlicher Schattierung (S. 182 ff., 268 f.), aber untersucht die defizitäre parlamentarische Praxis anschaulich. Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus, S. 715 (Hansemann).

3. Revolution 1848/49, Konstitutionalismus wider Willen, Verfassungskonflikt  

203

keit gestattete Anfang Mai insgesamt 3,66 Millionen, davon 5 % Ober- und 69 % Unterschichten, die Stimmabgabe. In der bei hoher Beteiligung gewählten Berliner Nationalversammlung saßen 402 vorwiegend bis Mitte 40 Jahre alte Männer und drei Hauptrichtungen: Die Linke aus Demokraten um Benedikt Waldeck und Johann Jacoby (ca. 30 %), die Rechte aus moderaten Liberalen um Karl August Milde sowie Katholiken um Erzbischof v. Geissel und Peter Reichensperger (ca. 30 %), zudem rechtes bzw. linkes Zentrum, zwei linksliberale Gruppierungen um Hans Viktor v. Unruh bzw. Johann Karl Rodbertus (zusammen ca. 40 %). Sozialstrukturell auffallend waren der geringe Anteil von Großgrundbesitz (7 %) und höheren Staatsbeamten (10 %), hingegen 5 % Handwerker, 11 % untere Kommunal- und Justizbeamte, 12 % Bauern, 13 % katholische und evangelische Geistliche, 17 % Richter. Insgesamt dominierte dem Wahlrecht entsprechend die untere Mittelschicht. Während des knappen halben Jahres ihrer Tätigkeit leistete die Preußische Nationalversammlung mit den Worten von Rüdiger Hachtmann „politische Kärnerarbeit“, die der Frankfurter Nationalversammlung durchaus gleichkam. Erstmals sollten bürgerliche Grund- und Freiheitsrechte in Preußen Verfassungsrang erhalten und der monarchische Obrigkeitsstaat durch ein breit gewähltes Parlament kontrolliert werden.170 Die Monate Mai bis November 1848 sind in wenigen Stationen und Akteursgruppen zusammenfaßbar. Während die moderaten Liberalen auf eine konstitutionelle Monarchie abzielten, erstrebten Demokraten (minoritäre Republikaner ausgenommen) und Linksliberale eine auf Volkssouveränität gerichtete Verfassung und die parlamentarische Monarchie, d. h. begrenzte königliche Rechte, Demokratisierung der Verwaltung, Volkswehr, progressive Einkommensteuer, nicht konfessionelle, unentgeltliche Schulen. Ihr Verfassungsentwurf vom 26.7.1848, die Charte Waldeck, fixierte dies sowie auch die Abschaffung von Todesstrafe, Erbadel (200 gegen 153 Stimmen) und monarchischer Orden. Damit wäre Preußen von Grund auf verändert worden. All das lehnten der auf seinen Rechten beharrende König, sein hochkonservativer Umkreis und außerparlamentarische, adlige Konservative, beispielsweise im sog. Junkerparlament Mitte August 1848, strikt ab. Zwischen den Fronten standen drei moderat liberale Kabinette hintereinander, die einerseits von der 170 Klaus Herdepe, Die preußische Verfassungsfrage 1848, Neuried 2002, S. 103 f., 109 (Sozialstruktur); zu den Fraktionen detailliert Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, Düsseldorf 1977, S. 444–453, zur Arbeit der Nationalversammlung S. 515–546 und Mieck, Preußen von 1807 bis 1850, S.  255–268. Rüdiger Hachtmann, Auch ein Pionier des modernen Parlamentarismus: Die Preußische Nationalversammlung von 1848, in: F. J. Düwell/Th. Vormbaum (Hg.), Recht und Juristen in der Revolution 1848/49, Baden-Baden 1998, S. 200–235, Zit. 235. Zur Revolution in Berlin ist das Standardwerk: Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997. Porträts vieler Handelnder in: Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution 1848/49, hg. v. H. Bleiber/W. Schmidt, 4 Bde., Berlin 2003–2013.

204  V. Preußens politisches System Nationalversammlung gedrängt wurden und andererseits den Monarchen zu deutlichen Zugeständnissen zu bewegen suchten. Dies geschah intern intensiv, gelang aber nur selten, weshalb in Öffentlichkeit und Parlament ihre vermeintliche Untätigkeit kritisiert wurde. Als Folge traten zwei Kabinette zurück, weil sie gemäß ihrem Parlamentarismus-Verständnis glaubten, einer Mehrheit in der Kammer zu bedürfen. In dieses Dreiecksverhältnis kam explosive Dynamik durch Zusammenstöße zwischen Demonstranten und dem loyalen Militär, das regelmäßig obsiegte. Dessen Entmachtung und Ersetzung durch Volkswehren sahen speziell die Demokraten für unabdingbar an. Bei der Auflösung einer Demonstration in Schweidnitz Ende Juli schossen Soldaten in die Menge und töteten 14 Menschen. Der folgende Antrag des Breslauer Abgeordneten Julius Stein, der Kriegsminister solle die Soldaten zur Vermeidung von Konflikten mit Bürgern anweisen und dazu nicht bereite reaktionäre Offiziere aus der Armee entfernen, erwies sich als zentraler Wendepunkt. Die wiederholte Annahme dieses Antrags in der Nationalversammlung Anfang September und die Streichung der Formel „von Gottes Gnaden“ (217 gegen 134 Stimmen) im Verfassungsentwurf empörten Friedrich Wilhelm IV. Mit seinen engsten Beratern in der sog. Kamarilla entwarf er am 11.9.1848 ein „Kampfprogramm“ gegen die Nationalversammlung, das nach zwei Monaten des Lavierens Realität wurde. Als das beamtenliberale Kabinett Pfuel wegen der Weigerung des Königs, den demokratischen Verfassungsentwurf im Grundsatz anzuerkennen, zurücktrat, ernannte er neue, nun konservative Minister unter seinem Vetter, dem General Graf Brandenburg. Gegen dieses Kabinett ohne jede parlamentarische Basis protestierte die Nationalversammlung am 2. November einmütig und Johann Jacoby äußerte gegen Friedrich Wilhelm IV. das bekannte Wort: „Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.“ Eine Woche später exekutierte General von Wrangel mit 30.000 Soldaten den Staatsstreich von oben militärisch: Mehrfache Vertreibung der Abgeordneten aus ihren Tagungslokalen und – mit Sicherheitsgründen zynisch begründet – Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg/ Havel; Verhängung des Ausnahmezustands und Militärherrschaft für BerlinBrandenburg; Verbot demokratischer Vereine, Versammlungen und Zeitungen. Am 5. Dezember 1848 setzte die Auflösungsordre für das in Brandenburg/Havel tagende Rumpfparlament den Schlußpunkt. Am gleichen Tag wurde eine Verfassung oktroyiert, also verordnet, die eine konstitutionelle Monarchie, aber mit weiten Prärogativen für den König vorsah: Absolutes Veto bei Gesetzentwürfen, alleinige Bestimmung über Militär und Außenpolitik, Befugnis zur Verhängung des Ausnahmezustands und Notverordnungsrecht. Eine nach hohem Zensus-Wahlrecht bestimmte gleichberechtigte Erste Kammer, für die 1852 ganze 3853 Vermögende wahlberechtigt waren, sollte das Abgeordnetenhaus zähmen. Da die Nationalversammlung am letzten Sitzungstag zum passiven Widerstand und speziell Steuerverweigerung aufgeru-

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fen hatte – Steuerverweigerer wie Jacoby oder Waldeck wurden noch jahrelang als Hochverräter verfolgt – bestimmte die oktroyierte Verfassung (Art. 108, dann 109), daß bestehende Steuern weitergalten, was das parlamentarische Budgetrecht gutenteils aushebelte.171 Die Neuwahlen zur neuen Zweiten Kammer im Februar 1849 erbrachten eine Versammlung mit einer Mehrheit der moderaten Liberalen und Konservativen, aber wegen des (noch) gleichen Wahlrechts immerhin 45 % Demokraten und Linksliberale, vor allem aus dem Westen, Schlesien und Ostpreußen. Sie versuchten in den Debatten zur Verfassungsrevision, speziell zur Stellung des Militärs und zum Ausnahmezustand sowie zum Notverordnungs- und Budgetrecht, den Obrigkeits- und Militärstaat legislativ stückweise einzuhegen. Dies erschien König wie Regierung Brandenburg als Bedrohung. Anfang April 1849 bot eine Delegation der Frankfurter Nationalversammlung Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserwürde im Rahmen ihrer gerade beschlossenen Reichsverfassung an. Eine entscheidende Wende lag in greifbarer Nähe: Hätte Preußens Monarch akzeptiert, wäre eine liberal-parlamentarische Entwicklung eines geeinten Kleindeutschland angebahnt gewesen, außenpolitisch freilich womöglich bedroht von einer kriegerischen Intervention Österreichs. Aber Friedrich Wilhelm IV. war definitiv unwillig, das Königtum von Gottes Gnaden durch ein Kaisertum aufgrund Parlamentsbeschluß zu ersetzen. Er nannte die angetragene Kaiserkrone wenig später intern ein „Hundehalsband, mit dem man mich an die Revolution von 48 ketten“ wollte, und lehnte ab, begründet mit zu geringen Monarchen-Rechten im Verfassungstext. Als eine liberal-demokratische Mehrheit der Berliner Kammer am 21.4.1849 für die Anerkennung der Frankfurter Reichsverfassung votierte, löste die Regierung die Kammer auf. Deren schwankende Mehrheitsverhältnisse erlaubten keine heilsame Arbeit an einer recht verstandenen Verfassung, hieß die zynische Begründung. Mit Verordnung vom 30.5.1849 wurde das öffentliche und ungleiche Dreiklassenwahlrecht oktroyiert. Manfred Botzenhart nannte dies den „zweiten preußischen Staatsstreich“, während Günther Grünthal darin einen damals angemessenen liberal-konservativen Kompromiß und den Anspruch des Staates als bürokratisches Regiment über den Parteien manifestiert sah. Aber auch milde Beurteilung muß zugeben, daß die Absicht zugrundelag, zu genehmen, „traitablen“ Wahlergebnissen zu gelangen und die demokratisch-linksliberale Opposition im Abgeordnetenhaus möglichst auszuschalten; dazu hatte man vorher statistische Berechnungen angestellt. Zum Skandal geriet das Dreiklassenwahlrecht 171 Wolfgang Schwentker, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die Konstituierung des Konservativismus als Partei, Düsseldorf 1988, S. 100 ff. Die Dokumente bei Ernst-Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 372–385. Zur Charte Waldeck Herdepe, Die preußische Verfassungsfrage, S. 335 ff. Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58, Düsseldorf 1982, S. 343 (3853 Wähler).

206  V. Preußens politisches System nicht erst im Laufe der politischen Entwicklung bis 1918, sondern bereits am Beginn, denn vielfältige amtliche Wahlbeeinflußung von der Wahlkreiseinteilung über die Mobilisierung der Beamten bis zur Behinderung der Opposition gehörte von Anfang an zur Praxis der Dreiklassenwahl. Es bildete – jenseits der Jahre 1861–66 und 1873–79 – jahrzehntelang eine wesentliche Grundlage konservativer Macht in Preußen. In Kenntnis der Regierungsabsicht boykottierten die kleinbürgerlichen Demokraten und auch Linksliberale die ersten Dreiklassen-Wahlen im Juli 1849; ihre Vereine wurden regierungsamtlich durch Verordnungen Ende Juni 1849 massiv eingeschränkt, überwacht, verboten und die demokratische Volksbewegung insgesamt unterdrückt. Aufgrund einer Wahlbeteiligung von 32 % (28 % in der III. Klasse) entstand die statistisch voraus berechnete moderate Majorität in der Zweiten Kammer. Dort saßen nun 30 % höhere Beamte bzw. Offiziere und 22 % Großgrundbesitzer, personell dominierten grundsätzlich monarchietreue Männer. Linksliberale stellten nurmehr ein Fünftel der Abgeordneten und gouvernmental Konservative bildeten mit moderat Liberalen (je etwa 40 %) die große Mehrheit. Aber auch jetzt versuchten linke und moderate Liberale, von den parlamentarischen Rechten in der Verfassung zu retten, was noch möglich war. Am Ende setzte die Regierung im Bunde mit konservativen Deputierten dem Parlament die Grenzen, die seit 1848 dem König und seiner Kamarilla als unabdingbar galten: Militär (Art. 46) und Außenpolitik (Art. 48) als Domäne des Monarchen, ferner Beamtenernennung (Art. 47), Ausnahmezustand (Art. 111) und Notverordnungsrecht (Art. 63), zudem Forterhebung geltender Steuern (Art. 109), Dreiklassenwahlrecht und Befugnis zur Landtagsauflösung (Art. 51/52). Die Staatsrechtslehre der Folgezeit interpretierte die Verfassung im Sinne des monarchischen Prinzips, demzufolge der Monarch alleiniger Souverän war, dessen Rechte durch die Verfassung nur begrenzt, aber nicht begründet seien, so daß in strittigen Fragen stets die Vermutung seiner Kompetenz bestehen müsse. In zahlreichen Punkten, z. B. der Ministerverantwortlichkeit, bedeutete die Vertagung definitiver Regelungen auf Ausführungsgesetze das Weiterregieren ohne sie, teils bis 1918. Die Verfassungsurkunde vom 31.1.1850 ist deshalb von kritischen Zeitgenossen mit dem treffenden Satz „halb Rohbau noch, halb schon Ruine“ belegt worden.172 172 Botzenhart, Parlamentarismus, S. 606–630, Zit. S. 630, S. 745–767 (Verfassungsrevision), S. 517 Tab. zur sozialen Zusammensetzung 1848/49. Günther Grünthal, Das preußische Dreiklassenwahlrecht [1978], in: Ders., Verfassung und Verfassungswandel. Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 2003, S. 126–165, 155 f. Zitat Friedrich Wilhelm IV. nach David E. Barclay, Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995, S. 284. Joachim Paschen, Demokratische Vereine und preußischer Staat. Entwicklung und Unterdrückung der demokratischen Bewegung während der Revolution 1848/49, München 1977, S.  126  ff.,

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Die Revolutionen in Deutschland erreichten ihre Ziele aus klar benennbaren Gründen nicht. Zunächst gab es mehrere Revolutionszentren, die Illusion des Sieges bis Mitte 1848, die Intervention von Großmächten und das militärisch gesicherte Überleben Habsburg-Österreichs. In Preußen sind Nationalversammlung und Verfassung nicht an den sozialen Gegensätzen von moderat liberalem Bürgertum und demokratischen Mittel- und Unterschichten gescheitert, nicht an Spannungen zwischen (konservativen) Ost- und (liberal-demokratischen) Westprovinzen, weder an einer gewissen Stadt–Land Differenz noch den insgesamt wenigen gewalttätigen Protesten der Straße. Nie drohte die Nationalversammlung zur sozialrevolutionären Minderheiten-Diktatur zu werden, auch wenn Schilderung und Wortwahl Christopher Clarks – er entdeckt pauschal eine „aufsässige Nationalversammlung“ und „Sozialrevolutionäre“ von jakobinischer Gewalttätigkeit – dies nahelegen. Entscheidend war vielmehr, daß die zur Machterhaltung entschlossenen Kräfte um Friedrich Wilhelm IV. sich auf ergebenes Militär und folgsame Staatsbürokratie stützen konnten. Dies schützte sie vor substantiellen Zugeständnissen in Verfassungs- und Partizipationsfragen. Zustatten kam ihnen dabei dreierlei: Die Mobilisierung von konservativen Vereinen, zumal in Ostelbien, die, von Beamten, Offizieren, Handwerkern und Kaufleuten initiiert, auch mittlere Bauern organisierten; die richtige Vermutung, daß die zur MachtTeilung mit der Monarchie bereiten bürgerlichen Liberalen keinen Widerstand leisten würden; die Tatsache, daß selbst die organisierten Demokraten nicht zum bewaffneten Aufstand aufriefen. Letzteres haben Untersuchungen zu demokratischen Vereinen in Brandenburg und Schlesien klar belegt. So weiterführend es ist, breit soziale und kulturelle Dimensionen der Revolution zu betrachten, stetes Hauptmotiv für die Gegenrevolutionäre „von oben“ war der starre Wille, keine Einschränkung des monarchisch-bürokratischen Systems durch die Nationalversammlung zu dulden. Das Gros der Liberalen erstrebte deutlich mehr Freiheits- und Parlamentsrechte als die verkündete Verfassung vom 31.1.1850 realiter garantierte, aber mußte diese Konstitution aus Furcht vor weiterer Verschlechterung und mangels Alternativen hinnehmen. Daß die Liberalen die Verfassung quasi für gut befunden hätten (Ch. Clark), ist ein Euphemismus. Beträchtlich war die Rolle von Preußens Truppen bei der viele Hundert Tote kostenden militärischen Niederschlagung der in Baden, Württemberg, Hessen und der Pfalz bereits siegreichen Volksbewegung 1849; sie hatte dort sowohl liberale Landesverfassungen als auch die Annahme der Reichsverfassung durch die 162. Ludwig von Rönne, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. ­Januar 1850, 3. Aufl., Berlin 1859, behandelt alle Veränderungen zwischen dem Entwurf vom 20.5.1848 und 1852 im Detail. Knapper Überblick: Markus Lotzenburger, Die Grundrechte in den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 2015, S. 183–202. Zur Staatsrechtslehre Hans Boldt, Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850. Probleme ihrer Interpretation, in: Puhle/Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, S. 224–246.

208  V. Preußens politisches System Einzelstaaten erreicht. Rüdiger Hachtmann urteilte, daß damit dem Südwesten Deutschlands „ein eigenständiger, stärker demokratisch konturierter Weg in die Moderne definitiv versperrt“ wurde. Mit Grund haben Preußen und sein Militär im Südwesten bis über 1866 hinaus wenig Popularität besessen. Auch in der Rheinprovinz wäre die Revolution ohne Berliner militärische Intervention wohl gelungen.173 Die weiteren Wahlen in Preußen 1852 und 1855 erbrachten unter dem Dreiklassenwahlrecht wegen geschickter Wahlkreisgeometrie und massiver amtlicher Wahlbeeinflussung bei bloß 22 % bzw. 16 % Beteiligung klare konservative Mehrheiten, die sog. Landratskammern. Mit diesen konnten per Parlamentsbeschluß Verfassungsartikel außer Kraft gesetzt, z. B. 1853 die freiheitliche Kommunalverfassung gemäß Art. 105, oder in ihr Gegenteil verkehrt werden, zuvörderst Art. 65 über die Erste Kammer, die, 1854 zum Herrenhaus umgewandelt, bis 1914 als „Familientag der ostelbischen Junker“ (Kurt Eisner) diente. Ab 1849 wurden demokratische oder linksliberale Lehrer, Hochschullehrer, Ärzte und Kommunalbeamte mit Hochverrats- und Majestätsbeleidigungsprozessen belangt – damit stellte das Strafrecht Oppositionelle als Kriminelle hin. Tausende zwang Verfolgung zur Auswanderung. Seit damals beanspruchte die politische Rechte das Monopol auf patriotische Haltung. Es sei „eine Eigenthümlichkeit, daß in Preußen eine [Partei] sich Patriotismus u. Ehrlichkeit vorwegnimmt, u. damit jeder Debatte die Grundlage u. Möglichkeit abschneidet. Wer mit dieser Partei nicht übereinstimmt, wird bei Seite geschoben u. ‚räsonnirt er noch’ todtgeschlagen“, klagte 1856 der rheinische Demokrat Hermann Becker brieflich. Speziell Staatsbeamte und Richter wurden wegen Pflichtverletzung versetzt sowie gemäß einer Order Friedrich Wilhelms IV. von 1853 nicht befördert, einzelne, z. B. der Richter und demokratische Abgeordnete Jodokus Temme, auch entlassen. Das Disziplinargesetz von 1852 unterwarf die nicht-richterlichen Beamten strenger Kontrolle und verpflichtete sie auf Vertretung des Regierungsstandpunkts. Ähnliches – inklusive Ächtung der Opposition – wiederholte sich im Verfassungskonflikt sowie unter Innenminister Puttkamer in den 1880er Jah173 Hachtmann, Epochenschwelle, S. 174–177 (Gründe des Scheiterns). Clark, Preußen, S. 551, 556 (Zitate). Er verzeichnet die Tatsachen ferner, indem S. 548 Demokraten zu „radikalen Linken“ gemacht und es S. 574 heißt, die oktroyierte Verfassung habe „die Zustimmung der großen Mehrheit der Liberalen“ gefunden. Schwentker, Konservative Vereine, S. 335–341. Friedliche Demokraten lt. Manfred Görtemaker (Hg.), Zwischen Königtum und Volkssouveränität. Die Revolution 1848/49 in Brandenburg, Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 89, 107 f. und Walter Schmidt, Die schlesische Demokratie von 1848/49, Bd. 1, Berlin 2012, S. 287, 345. Monika Wienfort, Preußen in der Revolution 1848/49, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 9 (1999), S. 229–244, S. 232 f., 243 f. (regionale oder liberal–demokratische Gegensätze und Proteste der Straße waren als Ursachen des Scheiterns sekundär). Rummel, Gegen Bürokratie, Steuerlast und Bevormundung (Rheinprovinz). Hachtmann, Epochenschwelle, S. 189 (Preußen versperrt einen „süddeutschen Weg“).

3. Revolution 1848/49, Konstitutionalismus wider Willen, Verfassungskonflikt  

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ren. Damit wurde die Beamtenschaft bis 1918 zum Instrument regierungsamtlicher Intervention in diversen, politisch umstrittenen Fragen. Das unter Beamten lange gängige Diktum „Wer auf Preußens ewige Fahnen schwört, hat nichts mehr, was ihm selbst gehört“, ist die gereimte Version eines harten Sachverhalts.174 Als Revolutionsfolge baute der Berliner Polizeipräsident von Hinckeldey ab 1850 in Preußen die politische Polizei auf, die jährlich Tausende Fälle angeblicher politischer Kriminalität untersuchte: Das Strafrecht diente als Instrument gegen (vermutete) politische Opposition. Zugleich realisierte Hinckeldey unter dem Schlagwort „Gemeinwohl“ Formen staatlicher Daseinsvorsorge in Berlin, etwa Wasserhygiene, Straßenreinigung, Berufsfeuerwehr. Der hochkonservative Militär Edwin von Manteuffel schlug in einem Memorandum im Herbst 1848 sogar vor, daß man den Lebensunterhalt der breiten Schichten regierungsseitig etwa durch Arbeitskompagnien zu sichern versuchen müsse, um diese nicht „der Agitation der Feinde aller Ordnung zu überlassen“, und so die Idee der Volkssouveränität bekämpfen könne. Diese Staatsintervention war also klar Teil einer postrevolutionären konservativen Strategie, um die bürokratische Monarchie zu befestigen und um die Krone im Volk beliebt zu machen – anstelle bürgerlicher Freiheitsrechte und autonomer politischer Partizipation. Deshalb eine Reformzeit wie nach 1806 zu konstatieren, greift zu weit, denn es ging zwar partiell um (im Vormärz nicht zustandegekommene) Modernisierung, aber stets unter dem Vorzeichen staatlich-bürokratischer Aufsicht und paralleler politischer Repression. Durchgreifende Änderungen in Richtung politischer Partizipation, freie Gesellschaft und liberalisierte Wirtschaft wurden erst im Reformjahrzehnt 1866–76 realisiert.175 174 Zu den Wahlen 1852 vgl. Grünthal, Parlamentarismus, S.  317  ff., Wahlergebnis S.  340, zu den Wahlen 1855 S.  415  ff., Wahlergebnis S.  445: ca. 235 Konservative, 41  Oppositionelle sowie 54 Katholiken. Die verfolgten Parlamentarier listet auf: Hans Jessen (Hg.), Die Deutsche Revolution 1848/49 in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1968, S. 369–396. Dirk Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800–1980, Frankfurt/M. 1980, S. 39 ff. Michael Hettinger, Jodokus D. H. Temme (1798–1881). Volksfreund oder Staatsfeind?, in: F. J. Düwell/Th. Vormbaum (Hg.), Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848/49, Baden-Baden 1998, S. 93–178. Zur Beamten-Disziplinierung aktenfundiert Harro-Jürgen Rejewski, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht (1850–1918), Berlin 1973, S. 55 ff. Christian Jansen, (Bearb.), Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849–1861, Düsseldorf 2004, S. 386 (Zitat H. Becker). 175 Barclay, Anarchie und guter Wille, S.  341–348 (Hinckeldey); Stephan M. Eibich, Polizei, „Gemeinwohl“ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident 1848 bis 1856, Berlin 2004, passim. Zitat Edwin Manteuffel lt. GStA PK, BPH, Rep. 192 NL E. v. Manteuffel D 9, Bl. 5–5v. Anna Ross, Beyond the Barricades. Government and State-Building in post-revolutionary Prussia 1848–1858, Oxford 2019, konzentriert sich zu stark auf die schon begrifflich fragwürdige „revolution in government“ (S. 8),

210  V. Preußens politisches System ✳ Die Situation ab 1850 ist von H.-Chr. Kraus treffend als Konstitutionalismus wider Willen bezeichnet worden. Denn die Verfassung blieb, anders als in Österreich, wo sie 1851 annulliert wurde, erhalten. An ihr hielt Otto v. Manteuffel als pragmatischer Staatskonservativer fest und Friedrich Wilhelm IV. konnte sich zu keinem (weiteren) Staatsstreich entschließen. Selbst hochkonservative Adelige sahen im Parlament ein Organ zur eigenen (finanziellen) Interessendurchsetzung und Gegengewicht zur potentiell antiständisch dekretierenden Staatsbürokratie. Allerdings erwog der König jahrelang, die lästige Verfassung durch einen „königlichen Freibrief “ zu ersetzen und seine Berater-Kamarilla um Ludwig von Gerlach und Innenminister v. Westphalen verfolgte neoständische Pläne. Die Ministerpräsidenten Graf Brandenburg und Otto v. Manteuffel widerrieten jedoch der neoständischen Organisation aus vier Gründen nachdrücklich: Stände seien überlebt und Preußen von jeher auf Beamtenschaft und Militär gegründet; gegenüber Österreichs Parlamentslosigkeit erscheine Preußen mit Verfassung vorteilhaft; die ökonomischfinanzielle Potenz des Bürgertums sei einzubinden, um Preußen konkurrenzfähig zu halten; auch der konstitutionelle Status quo erlaube aktive Regierungstätigkeit. Brandenburg schrieb 1850 dem König, Preußens „eigentliches Lebensprincip war der Gegensatz gegen das ständische Element. Ein centralistischer Militair- und Beamtenstaat, das war seine Signatur. Das ist schwarz-weiß.“ Genauso charakterisierte Manteuffel 1856 Preußen als Militär- und Beamtenstaat, aber sah die Monarchie zudem als Träger konfessionellen Friedens wie auch Preußen notwendig „an der Spitze des (…) wahren Fortschritts in Deutschland“ stehen. Wahrer Fortschritt hieß für ihn staatskonservative, bürokratische Suprematie. Manteuffel behielt also die Verfassung bei – aber bog sie im Sinne der Regierung zurecht. Vor allem sicherte Repression (Vereins- und Presseverbote, politische Polizei) bürokratisches Handeln gegen (liberal-demokratische) politische Partizipation ab. Unter dem infolge massiver amtlicher Wahlbeeinflussung 1852/1855 für sie günstigen Wahlergebnis nutzen gerade Konservative ihre Mehrheit und das parlamentarische Budgetrecht zur Wahrung ihrer Interessen gegen den bürokratischen Staat. Weil das politische Spektrum des Landtags nach rechts verschoben war, trat nun mehrfach, zuletzt 1857/58 bei einer Steuervorlage, anstelle des früheren Gegensatzes Konservative – Liberale der Widerstreit bürokratischer Zentralstaat vs. feudalständische Adelspartei zutage, was wie im Vormärz mit den Provinziallandtagen die Gesetzgebung erschwerte. Historiker haben sogar von Schein-Konstitutionalismus gesprochen, da Monarchie und Regierung sich in Streitfällen über die Parlamente hinwegsetzen blendet Repression oder Wahlmanipulation weithin aus, muß zugeben, daß vieles erst ab 1866 modernisiert wurde und schätzt etwa das Beamten-Diszplinargesetz von 1852 (S.  52 f.) oder das angebliche Eintreten O. Manteuffels für eine freiere Kommunalordnung (S. 199) falsch ein, zumal sie die Ergebnisse G. Grünthals und H.-J. Rejewskis oder H. Heffters Buch zur Selbstverwaltung nicht rezipiert.

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konnten. Dies ist eine Frage der Definition. Denn im monarchischen Konstitutionalismus, dem der preußische Fall wie bis 1848 auch die süddeutschen Verhältnisse zugehören, ist der Vorrang des Monarchen und seiner Regierung eingebaut – angelegt im Text der Verfassung, in der Staatsrechtslehre betont, in der Praxis gestützt auf Militär, Bürokratie und regierungsamtliche „Wahlmache“. Auch mit der Verfassung von 1850 ließ sich die Suprematie der Monarchie erhalten und ein spezifisch selektionierter, disziplinierter Beamtenapparat wirkte dafür.176 1858/59 lief die Reaktionsdekade in vielen deutschen Staaten aus. Preußens neuer Regent Wilhelm I. hatte manche Regierungsmaßregeln unter Manteuffel mißbilligt und lehnte die Positionen der ständischen Hochkonservativen ab. Als Berufsmilitär erstrebte er vor allem eine Heeresreform, auch als Grundlage zu (vorerst nur) moralischen Eroberungen in Deutschland. Diese sog. Neue Ära (1858–62) bildete eine bedeutende Chance zur konstitutionellen Fortentwicklung Preußens – historiographisch lange unterbelichtet. Wilhelm I. setzte ein anderes Kabinett aus moderat Konservativen sowie moderat Liberalen (sog. Altliberalen) ein, mit seinem Jugendfreund Rudolf v. Auerswald als faktischem Leiter. Ohne amtliche Wahlbeeinflußung sowie Presse- und Vereinsknebelung gewannen die Altliberalen um Georg v. Vincke 55 % der Sitze, die Konservativen nur noch 13 %. Die neue Regierung arbeitete überfällige Gesetzentwürfe aus: Grundsteuer- und Heeresreform, freiere Städte- und Kreisordnung, rechtspolitische Novellen etwa zur Zivilehe, Ministerverantwortlichkeit. Die meisten Entwürfe scheiterten am hochkonservativen Herrenhaus. Nur die Grundsteuer-Freiheit der ostelbischen Rittergüter wurde dort 1860/61 mittels neuernannter Mitglieder, dem sog. Pairsschub, durchgesetzt. Dazu war Wilhelm I. bereit, weil so Mittel für die Heeresreform einkamen. Dann wiederholte sich das Dilemma von 1848: Liberale Abgeordnetenmehrheit und Öffentlichkeit verlangten durchgreifende Reformen, der König, beraten von konservativen Militärs wie Kriegsminister von Roon, bremste, und das Kabinett, wegen Roon in sich uneins, stand zwischen den Fronten. Die Heeresreform wurde nur vorläufig bewilligt. Die Mitte 1861 neugegründete linkslibera176 Grünthal, Parlamentarismus, S. 200–226, 451–470; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 322 ff., 362 ff. Hans-Christof Kraus, Konstitutionalismus wider Willen. Versuche einer Abschaffung oder Totalrevision der preußischen Verfassung während der Reaktionsära (1850–1857), in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 5 (1995), S. 157–240. Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19.  Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, hg. von W. Daum u. a., Bonn 2012, S. 83–89, und Tab. 78 f. (Verfassungstypen). GStA PK Berlin, BPH, Rep. 50 J Nr. 212, Bl. 73–76, Bl. 74 (Brandenburg an Friedrich Wilhelm IV. 4.9.1850), bereits zitiert von David E. Barclay, Die Gegner der Reformpolitik Hardenbergs, in: Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“, S.  217–229, S.  226  f. Heinrich v. Poschinger, Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten Otto Freiherr von Manteuffel, Bd. 3, Berlin 1901, S. 99 (Zitat aus Memorandum 1856).

212  V. Preußens politisches System le Fortschrittspartei forderte volles Budgetrecht, Reform des Herrenhauses und Liberalisierung in der Verwaltung sowie mindestens juristische Ministerverantwortlichkeit. Nach den Wahlen 1861 bildete sie den Kern der linksliberalen Kammermehrheit, die die Heeresreform kritisch sah, denn die dreijährige Dienstzeit und die Abschaffung der bürgerlichen Reserve-Einheiten der Landwehr würden den Charakter des folgsamen Königsheeres kräftigen. Wilhelm I. hingegen proklamierte: „In Preußen muß die Konstitution und deren (…) Ausbau nie die Grenzen überschreiten, welche die Macht (…) des Königtums in einer Art schmälert, die dasselbe zum Sklaven des Parlaments macht. (…) Was die Militärfrage betrifft, so steht und fällt das Ministerium mit derselben.“ Da die Abgeordnetenmehrheit im März 1862 weiter skeptisch gegenüber einem gestärkten Königsheer blieb und zugleich auf größere Budgetrechte drängte, das altliberale Kabinett deutliche Reformen anpeilte, aber Wilhelm I. beides skeptisch sah, trat es zurück. Selbst das neue konservative Kabinett suchte einen Kompromiß mit dem Landtag, indem es statt der dreijährigen eine zweijährige Dienstzeit anbot. Das lehnte Wilhelm I. strikt ab, so sehr Königin Augusta auch zum Kompromiß riet.177 Der Heereskonflikt ging in einen Verfassungskonflikt über, als das Abgeordnetenhaus am 23. September mit 308 zu 11 Stimmen die Kosten der Heeresreform im Etat 1862 strich. Damit kam die Stunde Bismarcks, denn nur er, von Kriegsminister Roon lanciert, war bereit, auch ohne parlamentarisch genehmigten Etat zu regieren. Eine „Lücke“ in der Verfassung brauchte er dazu nicht, denn der Verfassungsartikel 109 lautete explizit, daß bestehende Steuern weiter erhoben würden, selbst wenn Landtag und Regierung sich auf kein Budget einigen konnten. Dies war der Fluch der oktroyierten Verfassung und der von den Kammerliberalen 1849 nicht mehr geschafften Umformulierung. Der Konflikt sei, so Bismarck am 27.1.1863 drastisch, durch die mehr Rechte erstrebende Kammer verursacht; nun würden „Konflikte, da das Staatsleben nicht stillzustehen vermag (…) zu Machtfragen; wer die Macht in Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor“, denn Preußens Königtum sei noch nicht so schwach, um „als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regiments eingefügt zu werden“. Wichtiger noch als das Verfassungsrecht waren für Bismarcks Regiment bis 1866 vier andere Faktoren: Stetig steigende Steuereinnahmen – 1849: 149 Mio., 1865: 174 Mio. Taler – erlaubten bequemes Regieren; die Beamtenschaft verwaltete loyal weiter, 177 Karl-Heinz Börner, Die Krise der preußischen Monarchie von 1858 bis 1862, Berlin (Ost) 1976, S. 39–46. August Plate, Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus, Berlin 1914, S. 244 f. (alle Fraktionsstärken ab 1849). Zu einzelnen Abgeordneten vgl. Bernd Haunfelder, Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1849–1867, Düsseldorf 1994 und Bernhard Mann u. a., Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988. Zur Neuen Ära vgl. Spenkuch, Herrenhaus, S. 58–84 (mit weiterer Lit.), Zit. S. 78. Börner, Krise, S. 197– 213 zu Vermittlungsversuchen bis September 1862. Briefe Augustas an Wilhelm I. 1862/63 abschriftl. in: GStA PK, BPH, Rep. 51 T Lit. P Nr. 12, Bd. 10.

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wenngleich rund 100 Richter oppositionelle Abgeordnete waren; die in der Neuen Ära eingeschlagene, von Bismarck fortgesetzte freihändlerische Handelspolitik (Vertrag mit Frankreich 1862) ließ Preußen prosperieren und dies unterminierte die Oppositionshaltung von Wirtschaftsbürgern als der im Dreiklassenwahlrecht entscheidenden Wählergruppe des Linksliberalismus. Zentral war der vierte Faktor: Bismarcks Aktivität in der nationalen Frage. Mit der Eroberung Schleswig-Holsteins 1864 stieg sein Prestige, wenngleich die Kammer den Etat auch am 27.3.1865 erneut ablehnte; mit dem Angebot eines gewählten Nationalparlaments gewann Bismarck die Nationalbewegung, mit dem Sieg 1866 war er Herr der Lage. Bei der Wahl am 3.7.1866, dem Tag der Entscheidungsschlacht von Königgrätz, wurde die Mandatszahl der Fortschrittspartei auf 83 fast halbiert, die Konservativen errangen 142 Sitze. Bismarck bot den Liberalen im Landtag ein Indemnitätsgesetz an, mit dem sein Handeln seit 1862 nachträglich parlamentarisch gebilligt wurde. Es kam zustande – warum? Die liberalen Abgeordneten haben nicht wegen materieller Vorteile nachgegeben, aber waren politisch geschwächt, ihre nationalen Ziele in greifbare Nähe gerückt. Auch bei einem Nein wäre Bismarck im Amt geblieben. Die meisten glaubten, mit der Zustimmung sei die Forderung nach einer Regierung im Einvernehmen mit der Landtagsmehrheit nur vertagt, denn die sozio-ökonomische Entwicklung arbeite für die Liberalen. Daß diese Prognose ein Irrtum war und sich später Liberale als Juniorpartner Bismarck unterordneten, war 1866 noch nicht ausgemacht. Aus dem Rückblick bedeutete 1866 gleichwohl mehrere jahrzehntelange Weichenstellungen: Der Verfassungstext blieb unverändert. Der Präzedenzfall eines Ministersturzes durch den Landtag fand nicht statt, sondern Bismarck, die Monarchie mit vollem Personalauswahlrecht und das parlamentarisch unkontrollierte Heer unter königlicher Kommandogewalt standen gestärkt da. Grundsätzliche, systemische Opposition war durch Bismarcks Erfolg diskreditiert und statt Dominanz des Parlaments gab es jahrzehntelang verfassungsrechtlich wie politisch-praktisch weithin Anerkennung der Suprematie der „Regierung Seiner Majestät“.178 178 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 251–280, Zitat Bismarck S. 276. Zur Wirtschaftspolitik als Faktor vgl. Brophy, The Juste Milieu. Zur Bedeutung von Verfassungstext, Budgetrecht und Usualinterpretation vgl. Günther Grünthal, Verfassung und Verfassungskonflikt [2001], in: Ders., Verfassung und Verfassungswandel, S. 208– 223. Klaus Schwabe, Das Indemnitätsgesetz vom 3. September 1866 – eine Niederlage des deutschen Liberalismus? in: H. Bodensieck (Hg.), Preußen, Deutschland und der Westen, Göttingen 1980, S.  83–102; Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, München 1990, S. 116–119. Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: E.-W. Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), Königstein/Ts. 1981, S. 208–231. Thomas Raithel, Der preußische Verfassungskonflikt 1862–66 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte, in: St. Fisch u. a. (Hg.), Machtstrukturen im Staat in Deutschland und Frankreich, Stuttgart 2007, S. 29–50, online: www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3356

214  V. Preußens politisches System

4.

Preußen als „konservativer Treibanker“ im Kaiserreich

Diese Fundamentalfakten konnten im Norddeutschen Bund 1867–70 nicht grundlegend zugunsten des Parlaments geändert werden, wiewohl damals in Baden, Bayern und Württemberg eine Regierung der Parlamentsmehrheiten in Reichweite stand. Im preußisch dominierten Norden blieb es bei der Aufteilung der Einflußsphären: Die Gesetzgebung für Wirtschaft, Justiz und Sozialpolitik bestimmte das Parlament; Militär, Außenpolitik und die Besetzung der Regierungsämter sowie Verordnungen waren Domänen des Kaisers und Königs, dessen Machtvollkommenheit in erster Linie durch das parlamentarische Budgetrecht geschmälert wurde. Auch die Reichsverfassung vom 10.4.1871 war eine Verbindung von monarchisch-bürokratischer Regierung und parlamentarischer Volksrepräsentation und stellte letzten Endes eine vertagte Entscheidung über die ultimative Macht dar. So blieb etwa offen, ob die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nach Art. 17 nur formell Gegenzeichnungspflicht bedeutete, eine juristische Strafverfolgung erlauben sollte oder politisch – Rücktritt nach Mißtrauensvotum – zu nutzen war. Die dezimierte Fortschrittspartei visierte damals ein Voranschreiten in Richtung parlamentarisches System an, aber die nationalliberal-freikonservative Mehrheit setzte auf Kooperation mit Bismarck und gab sich mit Kompromissen zufrieden. So scheiterte ein Versuch der Liberalen, mit dem Schwung des politischen Aufbruchs eine Änderung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen zu erreichen, 1867–69 wesentlich am widerstrebenden Staatsministerium. Bismarck persönlich verhinderte auf Reichsebene sowohl Diäten, die erst ab 1906 galten, wie auch einen jährlichen Militäretat zugunsten fünf- bis siebenjähriger Bewilligung. Die Reichsverfassung schrieb Preußens Hegemonie institutionell fest: Durch die Personalunionen Kaiser–König und Kanzler–Ministerpräsident, die Berliner Dominanz in der Außenpolitik, durch den preußischen Kriegsminister als faktischem Reichskriegsminister und den Oberbefehl des Kaiser-Königs über die Armee (außer den bayerischen Korps im Frieden). Preußische Prägung war erkennbar in der Herausnahme von Beamtenernennung, Außenpolitik und Kommandogewalt aus der Mitbestimmung des Reichstags. Die Souveränität lag nicht beim Volk, sondern den verbündeten Monarchen bzw. ihren Regierungen, die im Gremium Bundesrat geheim tagten, wo Preußen eine Sperrminorität zukam (17 von 58 Stimmen). Der Bundesrat sollte den Selbstbehauptungswillen der Einzelstaaten gegen (zukünftige) Zentralisierung bzw. Parlamentarisierung zur Geltung bringen und der Reichstagsmehrheit als kaum greifbares Kollegium gegenübertreten. Seit 1867 standen reichische und preußische Politik in einem Wechselverhältnis, waren bildhaft zwei verbundene Arenen oder ein System kommunizierender Röhren. Dieser fundamentale Zusammenhang der Interdependenz erfordert es, nachfolgend die Entwicklung auf beiden Ebenen jeweils in ihrer Verzahnung zu betrachten. Bis 1877/78 bestand im Reich ein Vereinbarungsparlamentarismus, in dem die dominierenden Nationalliberalen vor allem Modernisierung im Zivil-,

4. Preußen als „konservativer Treibanker“ im Kaiserreich  

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Wirtschafts- und Strafrecht umsetzen konnten, in Preußen die Verwaltungsreformen 1872–75. Schon der Streit um den Militäretat 1874, mühsam mit dem Septennat beigelegt, erweckte bei Bismarck Vorbehalte. 1877 verhandelte Bismarck mit Parteiführer Bennigsen noch über preußische Minister- bzw. reichische Staatssekretär-Posten, um so die Partei für die aktuelle Schutzzollfrage zu gewinnen; aber drei Posten, davon zwei für Forckenbeck und Stauffenberg vom linken Flügel, hielt er für zuviel. 1876 half Bismarck Otto v. Helldorff-Bedra bei der Gründung der Deutschkonservativen Partei, einer adelig geführten preußisch-protestantischen, bis 1918 in Preußen dominierenden Gruppierung aus Gutsbesitzern, Beamten und Militärs, die Liberalisierung und Parlamentsherrschaft, westliches utilitaristisches Staatsverständnis und kulturelle Moderne strikt ablehnte. Ab 1877 bremste Bismarck Reformen in Preußen, z. B. eine Novelle zur Städteordnung. 1878 vollzog er mit Sozialistengesetz und Schutzzoll-Vorlage die Trennung vom Liberalismus, dessen freisinnige Linke ihm polemisch als „Vorfrucht der Socialdemokratie“ und habitueller wie zielemäßiger Feind gegolten hat. Der Reichstag insgesamt sollte im „Vorhof der Macht“ (Ansgar Lauterbach) verbleiben und keine Parlamentsmehrheit die konstitutionelle Monarchie entmachten. Dazu mußte Bismarck die Liberalen durch Aufspaltung in einen regierungsfreundlichen nationalliberalen Flügel und die Ausgrenzung der unbeugsamen linksliberalen Gruppierung zähmen. Diese Absicht bestand zweifellos. Aber nicht der Kanzler allein bewirkte die Dezimierung des Liberalismus. Dessen Wählerzahl stieg sogar von 2 Mio. (1874) auf rd. 3 Mio. (1907/12), was jedoch einen allmählich sinkenden Prozentanteil ergab: 40 % (1874), 37 % (1884), 25 % (1907/12). Dieser Rückgang ergab sich zuvörderst aus der Konkurrenz anderer Parteien, sprich Zentrumspartei und SPD, sowie der zunehmenden Begrenzung des Reservoirs des Liberalismus auf selbständig tätige (Klein-) Bürger. Im Zuge des sozio-ökonomischen Wandels in der Hochindustrialisierung und des Aufstiegs des Interventionsstaats durchzogen bald mehrfache Bruchlinien die soziale Basis des Liberalismus: Zwischen Großunternehmen und Kleinbetrieben, zwischen Heimatmarkt und Exportorientierung, für oder gegen staatliche Sozialpolitik sowie die regional divergenten Tendenzen zur politischen Positionierung im Parteiensystem und bei Stichwahlen. Distinkte ökonomische Interessen zerrissen die liberale Bewegung; früher politischer Massenmarkt und populäre Konkurrenten bedeuteten Druck von unten; die in Reich wie Preußen von Bismarck blockierte Regierungsbeteiligung schwächte die eigene Gestaltungskraft: In diesem Umfeld verlor der deutsche Liberalismus mehr als andernorts in Europa an Bedeutung und Profil.179 179 Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund, S. 513 f. (Vereinbarungsparlamentarismus). Boldt, Verfassungsgeschichte, S. 168 ff. (Reichsverfassung). Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd.  2, München 1992, S.  487  f., 494, 749, 756, 888 f. (Preußens Verzahnung). Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1918, Düsseldorf 1994, S. 388 ff. (Wahlrecht). Hermann

216  V. Preußens politisches System ✳ Bis 1890 blieb Bismarck die dominante Gestalt: Als Reichsgründer heroisiert, im Habitus ein Landadeliger – man sprach vom „größten Junker“ –, bei offiziellen Anlässen nach 1871 die Uniform eines Generals der Kürassiere tragend, damit bewußt Preußen als Militärmonarchie stilisierend. Einem englischen Besucher fielen Minister in Uniform sogar im Parlament und Bismarcks beim Gehen rasselnder Säbel als einschüchternde Inszenierung auf. H.-U. Wehler sah in Bismarck charismatische Herrschaft verkörpert, also eine durch Erfolge legitimierte Führerfigur mit ergebener Gefolgschaft, aber das verkennt wohl die institutionelle Grundlage seiner Macht in Monarch und Verfassung. Bismarck huldigte jahrzehntelang einem Freund-Feind-Denken und bekannte, ein „guter Hasser“ zu sein. Er erklärte politische Gegner zu Reichsfeinden und ließ sie massiv verfolgen; er gebrauchte Krisen in der Außenpolitik zu Wahlkampf-Zwecken; er hielt Parteien doktrinären Egoismus vor und diskreditierte den Parlamentarismus jahrzehntelang; Begriffe wie „Humanität“ und „Zivilisation“ seien bloß hohle Phrasen. Aus linksliberaler Sicht formulierten 1890 die beiden Bildungsbürger Theodor Mommsen und Ludwig Bamberger die seither vielzitierte (Schadens-)Bilanz: Bismarcks Erbe bestehe in einer „Knechtung der deutschen Persönlichkeit“ zugunsten von Machtanbetung; der Kanzler habe „Verwüstungen (...) im Geist und in der Gesetzgebung des Landes“ angerichtet, die lange prägend sein würden. Ähnlich formulierte 1917 Max Weber, Bismarck habe „eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung“ hinterlassen, also ohne kollektiv gefestigte politische Kultur.180 Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag. Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Düsseldorf 1999, S. 58 ff. (1867), 247–333 (1906). James Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876–1918, Boston u. a. 1988, S. 13 ff. (Deutschkonservative) und Ders., Ein glückloser Parteiführer in Bismarcks Diensten – Otto von Helldorff-Bedra (1833–1908), in: H.-Chr. Kraus (Hg.), Konservative Politiker in Deutschland, Berlin 1995, S. 185–203. Christian Jansen, Bismarck und die Linksliberalen, in: L. Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 91–110. Ansgar Lauterbach, Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866–1880), Frankfurt/M. 2000, S.  223  ff. Langewiesche, Liberalismus, S.  133–137, und Ders., Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Ders., Liberalismus und Sozialismus – Ausgewählte Beiträge, Bonn 2003, S. 41–69, 51–53. 180 Henry Vizetelly, Berlin under the New Empire [1879], ND New York 1968, Bd. 2, S. 8 berichtete, daß Kriegsminister Kameke vor der Reichstags-Abstimmung extra Epauletten und Orden an seiner Uniform befestigte und Bismarck drohend hereintrat „in cuirassier uniform, with huge jack-boots, and an enormous sword, which he clatters along the floor. The House is crushed (...)“. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 368–376, 849–864 (Bismarcks charismatische Herrschaft). Spenkuch (Bearb.), Protokolle, Bd. 8, S. 1 (Zitat Bamberger). Max Weber, Gesamtausgabe, Bd. I,15: Schriften und Reden 1914–1918, hg. von W. Mommsen/ G. Hübinger, Tübingen 1984, S. 449 (Zitat). Spenkuch (Bearb.), Protokolle, Bd. 7, S. 16–24 (Bismarcks „Premierministerdiktatur“ im politischen System).

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Von Preußen aus startete Bismarck die drei großen Konflikte der 1870er und 1880er Jahre: den Kulturkampf, das Sozialistengesetz, die Anti-Polenpolitik. Da diese Themen an anderer Stelle ausführlich behandelt werden, hier nur etwas zu Bismarcks Anteil. Kulturkämpfe gab es als Konflikte um Verweltlichung zwischen Staat und Kirche auch anderswo, z. B. massiv im Baden der 1860er Jahre. Aber wenige andere Staaten gingen so systematisch-radikal gegen die katholische Kirche vor, und in Preußen war, quellenmäßig belegbar, Bismarck die treibende Kraft, wenngleich ihm viele protestantische Nationalliberale applaudierten, unterstützten und den Kulturkampf als Bindemittel ihrer Kooperation mit ihm betrachteten. Zu Recht ist der Kulturkampf Bismarcks erster innenpolitischer Präventivkrieg genannt worden, denn er richtete sich zugleich gegen die katholische Zentrumspartei, die Bismarck als Kristallisationskern der preußenkritischen Kräfte (Süddeutsche, Welfen, Polen) ansah, von denen er seine Macht bedroht sah. Da er Kirche und Partei nicht brechen konnte, ja das Zentrum bei der Wende zum Schutzzoll im Reichstag 1879 brauchte, gab Bismarck den nicht gewinnbaren Konflikt auf. Aber gravierende Folgen blieben erhalten: Ressentiments zwischen den christlichen Konfessionen und das Zentrum als rein katholische Partei, zumal kulturpolitisch separiert von den protestantischen Liberalen. Traumatisiert und um das Odium der Reichsfeindschaft abzuwerfen gab sich das Zentrum „national“ und betrieb öfter Kompensa­ tionspolitik, d. h. unterstützte (konservative) Regierungen und Parteien gegen kirchlich-kulturelle Zusicherungen. Zuerst trat dies 1879/80 beim Tauschhandel Schutzzoll für Kulturkampf-Abbau zutage, 1910 beim Pakt mit den Konservativen gegen die preußische Wahlrechtsreform und modifiziert noch 1933 beim Ja zum Ermächtigungsgesetz gegen (dann gebrochene) Gewähr kirchlicher Autonomie. Nicht zuletzt stabilisierten Verfolgung und Ausgrenzung ein separiertes sozialdemokratisches Milieu, und auch Bismarcks negative Erbschaft in der Anti-Polenpolitik wirkte jahrzehntelang unheilvoll. Bei der innen- und wirtschaftspolitischen Wende seit 1878/79, die keine vollumfängliche „zweite Reichsgründung“, aber doch ein zentraler politischer Kurswechsel war, nutzte Bismarck Preußen als Basis. Zur Sicherung seiner Zoll-, Wirtschafts- und Sozialpolitik stützte er sich parlamentarisch auf die konservativen Parteien im Bunde mit den allmählich nach rechts rückenden Nationalliberalen; er führte den von Preußen gelenkten Bundesrat gegen den Reichstag ins Feld; er entmachtete den im Reichstag befragbaren preußischen Kriegsminister bis 1883 deutlich zugunsten der Arkan-Institute Militärkabinett bzw. Generalstab, die die persönliche Kommandogewalt des Monarchen abschirmten; Bismarck installierte konservative Minister bzw. Staatssekretäre, und ließ im Hegemonialstaat eine dezidiert konservative Personalpolitik treiben. Es gab weiterhin erbitterte politische Opposition von Freisinn, SPD, Minderheiten-Parteien, auch des Zentrums, im Reichstag. Aber das politische Klima sowie die politische Kultur erfuhren eine

218  V. Preußens politisches System jahrzehntelange Prägung. Preußen blieb nach diesem Kurswechsel das Bollwerk konservativer und monarchischer Macht bis 1918.181 Der den Landtag als wichtigste politische Arena 1871 ablösende Reichstag wurde in 397 Wahlkreisen gewählt; 236 davon lagen in Preußen. Die umwälzende Neuerung war das 1871 nirgends sonst in Europa bestehende allgemeine, gleiche, direkte und ab 1906 auch nahezu geheime Wahlrecht für Männer. Dabei ist jedoch hervorzuheben, daß das Mehrheitswahlrecht zweimal (1887, 1907) 47 % bzw. bloß 39 % der Urwahlstimmen zur Mehrheit der Mandate verhalf, und ferner unveränderte Wahlkreisgrenzen jahrzehntelang ländlichen Wählern weit mehr Stimmengewicht als städtischen gaben. 1912 lagen rund 200 rurale Wahlkreise deutlich unter dem Durchschnitt, 90 urbane waren erheblich größer und im kleinsten ländlichen Wahlkreis Schaumburg-Lippe bestimmten 10.700 Männer genauso einen MdR wie 338.000 im Bezirk Berlin-Teltow. Ferner benachteiligte das Stichwahlsystem einerseits Flügelparteien wie die Sozialdemokratie und begünstigte andererseits regional konzentrierte Gruppierungen wie das Zentrum und die Konservativen. Beispielsweise führten für die Deutschkonservativen 1907 9,4 % Stimmenanteil zu 15 % der Sitze, 28,9 % Wähler der SPD aber nur zu 10,8 % der Mandate. 1907 hätte ein Proportionalwahlrecht der SPD 117 Mandate statt 43 eingebracht. Dennoch legte das Reichstagswahlrecht die Grundlage zum politischen Massenmarkt (Hans Rosenberg) mit 85 % Wahlbeteiligung 1912 und zum Aufbau von Parteiorganisationen. Die Presse berichtete aus dem Reichstag und er gewann über die Jahre deutlich an Bedeutung. Im Zuge der Ausdehnung der modernen Staatsfunktionen gab es stetig mehr zu regeln: Rechtssystem, Infrastruktur, Sozialpolitik. Hier griff das Budgetrecht des Reichstags. Auch in Militärfragen sprach er mit, da die Liberalen in der Verfassung des Norddeutschen Bundes erreicht hatten, daß die 1867 fixierte Heeresstärke nur im Wege einvernehmlicher Reichsgesetzgebung erhöht werden durfte, also der Reichstag die Finanzmittel zu genehmigen hatte. Für Bismarck bildete der Reichstag dutzendfach den Resonanzraum für große Reden; für viele Menschen verkörperte das Reichsparlament die Reichseinheit. Mit dem Reichstagsgebäude von 1894 stand das Parlament auch architektonisch in offenkundiger Symbolkonkurrenz zum Berliner Stadtschloß. Weder Monarch noch 181 Rudolf Morsey, Bismarck und das Zentrum, in: Gall (Hg.), Bismarck und die Parteien, S. 43–72. Clark, Preußen, S. 648 f. (Bismarck treibend). Otto Pflanze, Bismarck, Bd. 1, München 1997, S. 711 f. (Präventivkrieg). Die Folgen des Kulturkampfs nach Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd.  3, S.  901  f.; zum Kulturkampf unten Kap. 6. Zum Terminus „zweite Reichsgründung“ vgl. Jefferies, Contesting the German Empire 1871–1918, Oxford 2008, S. 61–69 und Ewald Frie, Das Deutsche Kaiserreich, 2. Aufl., Darmstadt 2012, S. 31–38. Rudolf Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett der preußischen Könige und deutschen Kaiser 1787–1918, Berlin 1933, S. 124–185 und Heinrich Otto Meisner, Der Kriegsminister 1814–1914, Berlin 1940, S. 30–41.

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Kanzler konnten sich dauerhaft über die gewählte Volksvertretung hinwegsetzen, wollten sie nicht Desintegration und gesetzgeberischen Stillstand riskieren. Der Reichstag war eine Macht: Er konnte manches verhindern und Initiativanträge stellen – ohne jedoch autonom seine Agenda zu setzen. Auch die wohlinformierte Kulturgeschichte der Politik kommt zu keinem anderen Ergebnis. Verfassungsrechtlich änderte sich nämlich nichts. Die – in Schlüsselpositionen wie Kanzler, Außenminister, Kriegsminister personell identische – preußischdeutsche Regierung blieb das vom Monarchen legitimierte Machtzentrum über den Parteien, konnte mißliebige Reichstagsinitiativen teils langjährig blockieren, ihre eigene Agenda verfolgen und als Broker zwischen den vier politischen Hauptgruppen Mehrheiten für Gesetzesvorhaben zu gewinnen suchen. Dies galt noch nach 1900, wie jüngst eine Edition zu Kanzler Bülows wichtigstem Mitarbeiter, Friedrich Wilhelm von Loebell, erneut eindrucksvoll belegte.182 Vor allem: Der Reichstag war kein Monolith, sondern von ausgeprägten politischen Fronten – Bürgerliche vs. SPD bzw. Minderheiten, Protestanten vs. Katholiken, Liberale vs. Konservative – durchzogen. Zu Recht stellte Konrad v. Zwehl fest: „Es gab keine kohärente Politik des Reichstags als Ganzem gegenüber der Regierung“. Die Parteien konnten sich nur selten auf ein eigenes Reformprojekt einigen und Konservative, Liberale und Zentrum mußten bei systemischen Änderungen Einbußen, ja die machtlose Oppositionsrolle fürchten. Einzig die SPD brauchte keine Furcht vor der Parlamentarisierung zu haben; sie allein durfte vom Verfassungswandel nur Vorteile erwarten. Vor allem deshalb fehlte den bürgerlichen Parteien im Reichstag der Nachdruck bei der Parlamentarisierungsidee. Wilfried Loth urteilte begründet: Vor einer frontalen Konfrontation mit dem Obrigkeitsstaat schreckten Zentrum und Liberale zurück. Gegen einen renitenten Reichstag gab es für Regierung bzw. Bundesrat die Vertagungs- und die freihändige Auflösungsbefugnis. Damit sind widerstrebende Reichstage mehrfach (1878, 1887, 1893, 1906) vorzeitig unter einer sog. nationalen Parole aufgelöst worden. Außerdem wurde massive amtliche Wahlbeeinflussung betrieben und auf regierungsfreundliche Parteienbündnisse (Bismarck-Kartell, bürgerliche Sammlung, Bülow-Block) hingewirkt, auch wenn diese gouvernementalen Bündnisse im Reich, anders als in Preußen, wegen politischer Differenzen speziell zu den Konservativen jeweils nur einige Jahre hielten. Das Bild vom demokratischen 182 Alfred Milatz, Reichstagswahlen und Mandatsverteilung 1871 bis 1918. Ein Beitrag zu Problemen des absoluten Mehrheitswahlrechts, in: G. A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S.  207–223. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S.  98. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, zur Symbolkonkurrenz ohne Zugewinn realer Macht S.  141 und S.  314. Peter Winzen (Hg.), Friedrich Wilhelm von Loebell. Erinnerungen an die ausgehende Kaiserzeit und politischer Schriftwechsel, Düsseldorf 2016, bes. S. 1127 ff.

220  V. Preußens politisches System Wahlrecht und geordneten Wahlprozeduren, das M. Andersons Buch „Lehrjahre der Demokratie“ entwirft, ist deshalb einseitig verkürzt, weil es das verhärtete Verfassungssystem und die nicht vom Parlament bestimmte Regierung, den autoritären Staat und die vordemokratische Mentalität in weiten Gesellschaftskreisen, Militär und Wirtschaft bis 1914 nicht zureichend in Rechnung stellt. Dieses skizzierte Gesamtbild ist entscheidend, auch wenn alle Staaten bis 1914 keine Demokratien im heutigen Sinne waren, Eliten in Oberhäusern/Senaten dominierten und Diskriminierung, speziell der Afroamerikaner in den USA, evident war. Die Schattenseiten zeitgenössischer politischer Systeme wären auch breiter zu diskutieren, als es Anderson tut und es im Rahmen dieses Bandes geschehen kann.183 Die Parteien blieben so in Organisation und Programmatik auf ihre jeweilige Klientel fixiert; dies galt Thomas Kühne zufolge deutlicher als auf der WählerEbene für die Denkschemata der Parteifunktionäre. Drei große sozio-kulturelle Lager (Sozialdemokratie, Liberalismus, Katholizismus) blieben bis 1917 unfähig, gemeinsam die Regierungsmacht einzufordern. In zwei Krisensituationen des späten Kaiserreichs – nach dem Daily-Telegraph-Interview Wilhelms II. 1908 und den Militärübergriffen im elsässischen Zabern 1913 – traten zwar die SPD und führende Linksliberale für das parlamentarische System ein, aber Nationalliberale und Zentrum, beide von ihren konservativen Flügeln in Preußen gebremst, schreckten vor dem Systemwechsel zurück. Daß somit bis 1917 keine Vertreter von Parteien in Regierungsämtern sitzen durften, hatte gravierende Folgen. Der Rechtshistoriker Christoph Schönberger sprach gegen die These einer „stillen“ von der überholten Parlamentarisierung: Regieren blieb eine Form des Verwaltens und die Verwaltungsspitzen behielten ihre legislative Initiativrolle; ohne Gesamtverantwortung kultivierten Parteien abgegrenzte Milieus und Klientelinteressen; im Verhältnis Reichsleitung – Reichstag, von Preußen gar nicht zu reden, warteten die Fraktionen nach Clemens Delbrück „darauf, daß die Regierung den Weg zu einem Kompromiß eröffnete“, also Mehrheiten für Einzelgesetze gegen Kompensationen anderwärts bildete. Es gab keine Einübung in Regierungskoalitionen und die Mechanismen einer parlamentarischen Demokratie. Hugo Preuß formulierte bereits 1913, das preußisch-deutsche Regierungssystem, in dem Par183 Konrad v. Zwehl, Zum Verhältnis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich (1871–1918), in: G. A. Ritter (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 90–116, Zitat S. 105. Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, 2. Aufl., München 1997, Zitat S.  140. Zentrale Argumente bereits bei Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830–1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 85–90. Anderson, Lehrjahre. Dies., Ein Demokratiedefizit? Das Deutsche Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 367–398. Die hypothetische Frage, ob ein mächtigerer Reichstag im Juli 1914 den Krieg abgelehnt hätte (S. 396), müßte lauten, ob eine nach 1900 vom Parlament bestimmte (Außen-)Politik die gleiche Lage 1914 hätte entstehen lassen – wissenschaftlich pure Spekulation.

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teien wohl Einfluß besaßen, aber keine politische Verantwortung trugen, bedeute „eine Form von Parteiherrschaft, der die Schattenseiten einer solchen ohne deren Vorzüge eigen“ seien. Die Zerklüftung des Reichsparlaments spiegelte die sozialen Konfliktlinien, die regionalen Unterschiede, die Stadt-Land Differenz, die konfessionelle Scheidung, den Streit um die Definition und die Bedeutung von Nation bzw. Nationalismus wider.184 In der Folge behielten viele Zeitgenossen das bis in die Weimarer Republik virulente Vorurteil bei, Parlamentarismus sei primär Parteiengezänk und Vorteilsschacher, nicht scharfe öffentliche Debatte über eine Lösung und Durchsetzung der jeweiligen Parlamentsmehrheit. Gleiches Reichstagswahlrecht, geregelte Wahlprozeduren und ein bedeutsamer Reichstag ergaben bis 1914 weder eine „praktizierte Demokratie“ im Sinne Margaret Andersons, noch insgesamt eine demokratische politische Kultur. Diese Langzeitprägungen durch das monarchisch-konstitutionelle System Preußen-Deutschlands wirkten mental bis 1933 fort.185 Zwei weitere revisionistische Ansätze konnten die Fachwelt mehrheitlich nicht überzeugen. Martin Kirsch, der argumentierte, der preußisch-deutsche Konstitutionalismus sei gemeineuropäisch gewesen, bleibt verfassungstheoretisch, betrachtet also kaum die politische Praxis, und endet vor 1880, was das einsetzende Fortschreiten europäischer Staaten in Richtung Parlamentarisierung – offenkundig nach 1900 in England, Frankreich, Italien, Skandinavien, den Beneluxstaa184 Thomas Kühne, Demokratisierung und Parlamentarisierung: Neue Forschungen zur politischen Entwicklungsfähigkeit Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 293–316, S. 309, 316. Gegen Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977 vgl. Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 623–666, S. 628, 636, 654, 661. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, S. 299–310 (1908), 328 f. (1913). Clemens von Delbrück, Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914, hg. von Joachim von Delbrück, München 1924, S. 44 (Zitat). Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. D. Schefold, Tübingen 2009, S.  759. Konfliktlinien betonen James Retallack, Germany’s Second Reich, Toronto 2015, S. XIV und Nonn, Das Deutsche Kaiserreich, S. 18–28. 185 Zur Kritik an Anderson, Lehrjahre der Demokratie, vgl. Spenkuch, Vergleichsweise besonders?, S. 279–282 und James Retallack, “Get out the Vote!” Elections without Democracy in Imperial Germany, in: Ders., Germany’s Second Reich, S. 237–257, 242 ff. Robert Arsenschek, Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf 2003, sieht Wahlbeeinflussung nach 1906 weiterlaufen und die Parteien bis 1914 im „Vorhof der Macht“ gefangen. Ralf Poscher (Hg.), Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999, S. 48–50. Thomas Raithel, Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus, in: M. Föllmer u. a. (Hg.), Die Krise der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 2005, S.  243–266. Zu langfristigen Belastungen frühzeitig etwa Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland [1965], München 1971, S. 39 ff.

222  V. Preußens politisches System ten – ausschließt. Kirschs Argumentation vernachlässigt die realhistorischen Spannungslinien des wilhelminischen politischen Massenmarktes und übersieht zudem die nach 1900 sehr selbstbewußt betonte Differenz zwischen deutscher konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie anderwärts, also genau jenes hochgemut-ostentative preußisch-deutsche Sonderbewußtsein, das im Ersten Weltkrieg kulminierte. Ähnliche Einwände sind gegen Arthur Schlegelmilchs harmonistische Interpretation des monarchischen Konstitutionalismus als zeitgemäßer, funktionierender „Alternative“ für Preußen-Deutschland wie für Österreich zu erheben. Gutenteils auf die bekanntermaßen monarchietreuen Verfassungskommentare konzentriert und Forschungsarbeiten zum praktischen Parlamentarismus nicht rezipierend, terminologisch eigenartig, sachfehlerbehaftet und teils zirkelschlüssig, erfuhr Schlegelmilchs 190 Seiten-Text in deutschen wie österreichischen Rezensionen Zurückweisung. Zu Recht betonen Kirsch wie Schlegelmilch, daß der monarchische Konstitutionalismus ein spezifischer Typus war, den es nicht nur in Preußen-Deutschland gab, und der Dualismus Monarch–Parlament nicht ständig in Frage stand. Dagegen ist aber zu halten, daß dieses Funktionieren auf der Basis des Status quo eine Fortentwicklung zum Übergewicht des Parlaments geradezu ausschloß, während nach 1900 in anderen Ländern Europas die parlamentarische Monarchie erreicht wurde. Noch im Weltkrieg ließ sich der Reichstag drei Jahre von Regierung und Militär in die zweite Linie verweisen.186 Ernst von Heydebrand, Chef der Deutschkonservativen Landtagsfraktion und faktischer Parteiführer, schrieb 1913 an Westarp, daß die Konservativen auf fünf Bastionen in Preußen – ein Pentagramm – vertrauen dürften: beide Kammern des Landtags, die Armee, die Bürokratie, die Landräte. In der Tat bildete dieses Pentagramm die Basis der Abwehr gegen Reformen aus dem Reich. Dabei profitierten die Konservativen in vielfacher Weise von staatlicher Unterstützung. Seit Innenminister Robert von Puttkamer ab 1881 und Bismarck in der Reichsverwaltung eine konservative Personalpolitik betrieb hatten, existierte das Beinahe-Monopol der Konservativen unter Verwaltungsbeamten, zeitweise auch bei der Auswahl hoher Richter, was sich bis in die Republik auswirkte. Die Verengung des Spektrums akzeptabler Kandidaten konnte mittels der freihändigen Auswahl des Nachwuch186 Die Argumente gegen Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, näher in: Spenkuch, Vergleichsweise besonders?, S. 271 ff. Vgl. Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, Paderborn 2001, S. 516–522. Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009. Ders., Perspektiven und Grenzen des „deutschen Konstitutionalismus“, in: D. Lehnert (Hg.), Konstitutionalismus in Europa. Entwicklungen und Interpretationen, Köln 2014, S. 241–255. Kritische Rezensionen: Dieter Langewiesche in: Neue Politische Literatur 2010, S. 138 f.; Dian Schefold in: Der Staat 2012, S. 304–308, Wilhelm Brauneder in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 2012, S. 162 f.

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ses der Regierungsreferendare durch die 36 Regierungspräsidenten ohne Kontrolle bewirkt werden. Der nationalliberale Solinger Landrat Adolf Lucas sah 1899 die Düsseldorfer Regierung als „reichlich konservativ und feudal“ an, und schrieb, daß man zur Regierungskarriere „einflußreicher Konnexionen“ bedurfte: „Adel und Corpsstudenten wurden vorgezogen.“ Die Herkunft aus gehobenen sozialen Schichten und Faktoren wie Gesinnung, Militärdienst, Studentenverbindung waren ebenso wichtig wie Examensnoten. Von Patronage und Kooptation sprach man schon zeitgenössisch. Verräterisch fiel 1917 im Staatsministerium der Satz, man müsse nun nicht mehr nur Konservative als Regierungs- und Oberpräsidenten berufen, sondern auch gemäßigte Nationalliberale. Zeitgleich entlarvte der linksliberale Jurist Hugo Preuß die über den Parteien stehende Regierung als Fiktion, denn: „In Wahrheit stand fast stets diese Regierung über den Parteien der Linken, aber unter den Parteien der Rechten.“ Der sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch nannte ähnlich 1930 die vorgebliche „Überparteilichkeit der Regierung“ die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“, und beklagte wie der Demokrat Hermann Becker bereits 1856 die Chuzpe, den eigenen Standpunkt als einzig richtigen, alle anderen aber „für böswillig oder töricht“ zu erklären.187 Wissenschaftliche Untersuchungen der Verwaltungsspitzen ergaben hohe Prozentsätze von Adeligen in Preußen. Die Gleichung Adel = konservativ, Bürgertum = liberal gilt so einfach zwar nicht, aber der (ostpreußische) Adelsliberalismus erstarb in Preußen um 1880 und auch der katholische, die Zentrumspartei mitgründende Adel bildete dort den rechten Flügel, er war zudem in hohen Ämtern dünn gesät. Ein nationalliberaler Schlesier wie Prinz Heinrich von Schoenaich-Carolath galt in Ostelbien bereits als „roter Prinz“. Eine offizielle Statistik des Jahres 1910 ergab folgendes Bild: Sieben von elf Ministern, elf von zwölf Oberpräsidenten, 23 von 36 Regierungspräsidenten und 268 von 481 Landräten waren konservative Adelige. Neuadel und Nobilitierte sind hier einrechenbar, denn Adelsverleihung war wesentlich der Lohn konservativer Haltung. Unter Ministerial- und Regierungsräten erreichte der Adelsanteil nur 15–25 %, unter 187 James Retallack, The German Right, 1860–1920. Political limits of the authoritarian imagination, Toronto 2006, S. 396 (Pentagramm). Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck, Münster 1957, S. 262–270 (antiliberal ab 1878). Thomas Ormond, Richterwürde und Regierungstreue. Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Baden und Hessen 1866–1918, Frankfurt/M. 1994, S. 407, 415, 418 (Personalpolitik bei Richtern). Achim Mehrlein, Die Zweiteilung der Juristenausbildung als systemstabilisierender Faktor in Preussen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1976, S. 69–94 (Regierungsreferendare). Adolf Lucas, Erinnerungen aus meinem Leben, Opladen 1959, S. 8, 24 (Zitat). Reinhold Zilch (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Bd.  10: 1909–1918, Hildesheim 1999, S. 187 (Zitat 1917). Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. L. Albertin, Tübingen 2007, S. 674. Gustav Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 285–294, 289.

224  V. Preußens politisches System den Botschaftern auf wichtigen Posten nahezu 100 %. Ähnlich verhielt es sich mit der sozialen Herkunft der insgesamt 1858 statistisch erfaßten Beamten: 70 % kamen aus Offiziers-, Beamten- und Gutsbesitzer-Familien, nur 18 % aus Kreisen von Gewerbe oder Handel, 12 % hatten Anwalts-, Ärzte- oder Apotheker-Väter. Die Ernennung durch die Monarchen und pro-konservativer Bias führten dazu, daß gut 70 % der 120 Minister sowie der 116 Oberpräsidenten (1815–1914) Altund Neuadelige waren, nur 29 % Bürgerliche. Unter letzteren gab es ganze acht Katholiken und zwei konvertierte Männer jüdischer Herkunft. Auch eine Analyse der 74 Minister und Reichsstaatssekretäre, die Wilhelm II. zu Ressortchefs berief, belegt deren sozial enges Rekrutierungsfeld, ihr beamtenhaftes Selbstbild als „Diener der Krone“ und ihre Leitlinie der Vermeidung von Konflikten mit dem Monarchen. Dieses in Jahrzehnten rekrutierte Personal war dem verfassungspolitischen Status quo verhaftet und Preußens Verwaltungseliten und die (nichtkonservativen) Parlamentarier blieben dissoziiert. Besonders konservativ gestimmt waren Innen-, Landwirtschafts-, Kriegs- und Finanzministerium; rechtsstaatliche Gesichtspunkte brachte zuweilen das Justiz-, solche wirtschaftlicher Freiheit und sozialen Ausgleichs oft das Handelsministerium ein. Derartige Differenzen, zeitgenössisch als Zwei-Seelen-Wirtschaft bezeichnet, gab es in Preußens Staatsministerium bereits in den 1850er Jahren, zeitweise unter Bismarck, ausgeprägt in den 1890er Jahren und 1917, als mehrere Minister im Protest gegen Bethmann Hollwegs Neuorientierung demissionierten. Richtungsstreit zwischen Ressorts erschwerte Reform-Projekte. Bei Sachfragen trat in den ab 1890 bedeutungsvolleren Reichsämter (Reichsamt des Innern, Reichsjustiz- und Reichsschatzamt) ein reformoffenerer, moderat konservativer Pragmatismus zu Tage. Hier amtierten weniger Ministerialbeamte aus altpreußischen Sozialmilieus, kamen föderale Rücksichten auf Süd(west)deutschland ins Spiel, und im Reichsamt emanzipierten sich selbst gebürtige Preußen seit Karl Heinrich von Boetticher (1880) – Posadowsky-Wehner, Bethmann Hollweg, Clemens Delbrück, Reinhold Sydow – vom strukturkonservativen Preußentum. Zu Mitgliedern im Staatsministerium berufene Reichsressortchefs stärkten dort die Position der Kanzler seit Bismarck, ohne die konservativ dominierten Ministerien Preußens niederstimmen oder verdrängen zu können.188 188  Süle, Preussische Bürokratietradition, S.  193–196 (Statistik 1910). Hansjoachim Henning, Die deutsche Beamtenschaft im 19.  Jahrhundert, Stuttgart 1984, S.  43  ff. Bernhard vom Brocke, Die preußischen Oberpräsidenten 1815 bis 1945. Sozialprofil einer Verwaltungselite, in: Klaus Schwabe (Hg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815 bis 1945, Boppard 1985, S. 249–276, S. 257, 274. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 817 f. Katherine A. Lerman, The Kaiser’s Elite? Wilhelm II and the Berlin administration 1890–1914, in: A. Mombauer/W. Deist (Hg.), The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s Role in Imperial Germany, Cambridge 2003, S. 63–90. Gary Bonham, Ideology and Interests in the German State, New York/London 1991, ND 2015, S. 375 ff. Preußens Ministerien gegen Reichsämter bei: Hans Goldschmidt, Das

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✳ Preußen sei durch Bismarck, so Wolfgang Mommsen, „als ein bloß konservatives Widerlager in das Reichsgebäude eingebaut [worden], dem eine eigenständige Entwicklung im fortschrittlichen Sinne verwehrt blieb.“ Hans-Peter Ullmann verwandte ein einprägsames Bild: „Preußen geriet zwar ins Schlepptau des Reichs, verzögerte aber, nicht zuletzt durch das Dreiklassenwahlrecht, einem Treibanker gleich dessen politische Modernisierung“. Wie hat man sich das konkret vorzustellen? Die wichtigsten Faktoren dafür seien hier betrachtet.189 Das bis heute legendäre Dreiklassenwahlrecht hat Thomas Kühnes große Studie umfassend und methodisch innovativ analysiert, hervorragendes Beispiel dafür, wie Preußenforschung wegweisend zu betreiben ist. Er betrachtete dabei vier Ebenen: die Wahlkultur (1), das Wahlrecht (2), die lokalen Wahlbündnisse (3) und die Parteienkonstellation im Landtag (4). Wahlkulturell (1) wurden öffentliche Wahlen und Wahlmänner-Versammlungen, zumal in Ostelbien und katholischen Regionen, quasi Feste lokaler Gemeinschaft, wo korporativ politische Loyalität gegen das Versprechen, die lokalen Infrastruktur- und (Land-) Wirtschaftsinteressen zu fördern, getauscht wurden. Im Wahlrecht (2) gab es nach 1867/68 regierungsseitig Verhärtung. Den Landtag mit seinen ab 1882 durchgängig konservativen Mehrheiten verstand man seit Bismarcks Wende als Gegengewicht zum vergleichsweise widerständigen Reichstag. Erst angestossen durch den Bülow-Block aus Konservativen und beiden liberalen Parteien im Reichstag 1907/09 wurde 1910 eine Wahlrechtsreform vorgelegt. Kanzler-Ministerpräsident Bethmann Hollweg schlug, um große Gewinne für SPD und Polen zu vermeiden, direkte Wahl und zweite Stimmen für gebildete „Kulturträger“ vor und wollte damit in der Tradition des Bismarck-Kartells die Nationalliberalen den im Reichstag isolierten Konservativen annähern. Aber es gelang den Konservativen (Parteifarbe blau), das Zentrum (schwarz) für eine Kooperation zu gewinnen. Den Lösungsvorschlag dieser blau-schwarzen Allianz – geheime, indirekte Wahl – lehnte Bethmann ab, da so Staatsbedienstete, wichtige Wählergruppe und lokale Multiplikatoren, unkontrolliert gewählt hätten, und er die Allianz schwarz-blau für Gesetzesvorhaben im Reichstag gerade nicht wollte. Die blau-schwarze 2/3 Mehrheit im Landtag drohte jedes künftige Gesetz mit eigenen Bedingungen zu befrachten. Erst 1917 kam die Wahlrechtsfrage zwecks Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918, Berlin 1931, bes. S. 111–116 und 338–344 (C. Delbrück 1912). 189 Wolfgang Mommsen, Preußisches Staatsbewußtsein und deutsche Reichsidee. Preußen und das Deutsche Reich in der jüngeren deutschen Geschichte, in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. 1990, S. 66–85, S. 84 (Zit.). Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, 2. Aufl., München 2005, S. 76 (Zit.); ähnlich auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd.  2, München 1992, S.  488, 610  f. (Barrierefunktion Preußens) und Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 575, 582.

226  V. Preußens politisches System Erhaltung der Loyalität im Kriege wieder auf die Agenda. Die von Bethmann Hollweg durchgesetzte Oster-Botschaft Wilhelms II. versprach Anfang April 1917 das Ende des Klassenwahlrechts in Preußen. Aber während anderthalb Jahren des Taktierens versuchten Preußens konservative Eliten, durch Extrastimmen für Ältere und Gebildete (Pluralwahlrecht) das Reichstagswahlrecht für Preußen zu vermeiden sowie mit einer berufsständischen Zweiten Kammer einzuhegen. Als angesichts der Kriegsniederlage und einer aufgewühlten Bevölkerung Preußen im November 1918 kurz vor der Übernahme des Reichstagswahlrechts stand, kam dies zu spät, um die Revolte von Soldaten und Zivilbevölkerung zu verhindern. Als zentrale Basis für die Entwicklung in Preußen wies Kühne die Wahlbündnisse (3) aus, die die Parteienkonstellation im Landtag präformierten. Im absoluten Mehrheitswahlrecht mußten im ersten Wahlgang unterlegene, allein nicht mehrheitsfähige Parteien in der Stichwahl den ihnen am nächsten stehenden Konkurrenten wählen. Sie konnten dafür die Unterstützung von dessen Partei für chancenreiche eigene Kandidaten anderswo verlangen. Drei Phasen gab es: die gesamtliberale bis 1879, die im Landtag noch liberale Mehrheiten erbrachte; die Phase konservativ-nationalliberaler Absprachen 1882–98, die als sog. BismarckKartell mit den „Reichsfeinden“ Zentrum, Fortschrittspartei, Polen konkurrierten; erneute gesamtliberale Absprachen nach 1898, denen nun die schwarz-blaue Allianz entgegenstand. Letztere basierte auf zwei Faktoren: Sie garantierte beider Vorteil, nämlich Dominanz der Konservativen im östlichen Land und des Zentrums in westlichen katholischen Gebieten. Beider Konkurrenten waren hier wie dort Liberale und positiv einigend für die Allianz wirkte die Betonung ländlicher Interessen und kirchlicher Bindung. Kühnes Studie zeigt, daß auch im Dreiklassenwahlrecht die Parteibasis gewisse Spielräume besaß, obschon stetig Landräte oder Regierungspräsidenten erwünschte Stichwahlbündnisse lancierten. Bedeutsam blieb ferner die weitgehende Beibehaltung der 1860 fixierten Wahlkreise. Daraus folgten bis 1918 höchst disparate Wahlvolkzahlen, z. B. je acht Mio. Menschen in 161 ländlichen und analog ganzen 41 städtischen Wahlkreisen, was ruralen Wählern wesentlich höheres Stimmgewicht gab. Das Dreiklassenwahlrecht bedeutete effektiv geringe Wahlbeteiligung (18 %–32 %) und einen weit ruhigeren politischen Massenmarkt, da etwa die Hälfte aller Wahlkreise jahrzehntelang einer Partei quasi gehörten und angesichts voraussehbarer Ergebnisse noch 1913 in ca. 40 % kaum Wahlkampf stattfand. Vor allem: Wegen des Wahlrechts war Preußens Landtag im Vergleich zum Reichstag von 1882 bis 1918 nach rechts verschoben (4). Jeweils rd. 200 Deutsch- und Freikonservative besaßen rd. 45 % der 433 Mandate, das Zentrum mit ca. 100 Sitzen etwa 23 %, die Nationalliberalen 70–80 Sitze und um die 17 % Anteil, Linksliberale 40–50 Plätze und etwa 10 %. Ein Dutzend polnische Abgeordnete waren ebenso randständig wie 1908 erstmals einrückende knapp zehn Sozialdemokraten. Politisch bedeutsam war überdies, daß Zentrum und Nationalliberale in Sachfragen stärker rechts orientiert waren, da in beiden Parteien starke ländlich-agrarische

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bzw. schwerindustrielle Interessenvertreter wirkten. Dies wurde einmal mehr im Mai 1912 augenfällig, als der freisinnige Antrag auf Einführung der geheimen und direkten Wahl in Preußen deshalb keine Mehrheit fand, weil vier Dutzend katholische und nationalliberale Abgeordnete nicht dem Gros ihrer Fraktionen folgten, sondern der Abstimmung fern blieben. Gänzlich unreformiert blieb die Hochburg des junkerlichen Adels, das Herrenhaus, denn mit dessen Modernisierung würde, so ein Spitzenbeamter 1914, „an den Grundlagen gerüttelt und ein politisches Kampfgebiet schärfster Art geschaffen.“ Auch den Rechtsrahmen für die Städte und Provinzen freier zu gestalten, mißlang. Eine Reformkommission 1909–14 konnte sich nicht auf Vorschläge zur Lockerung staatlicher Aufsichts- und Eingriffsrechte einigen; Dezentralisierung zugunsten der Städte lehnten die Innenminister seit Puttkamer regelmäßig ab. Linksliberale wie Lothar E. Schücking sahen die Selbstverwaltung in Kommunen bzw. Regionen durch Aufsichts- bzw. Bestätigungsrechte massiv beschränkt und regierungsseitige Winke an Stadtoberhäupter bewirkten deren Zähmung, ja (vorauseilenden) Gehorsam.190 Preußens spezifische Verhältnisse regen noch heute politikwissenschaftliche Studien an, die mittels modellierter Faktorenanalyse und in ländervergleichender Perspektive die Ursachen etwa der verhärteten Wahlrechtsfrage und der verhinderten Demokratisierung zu ergründen suchen. Der US-Politologe Daniel Ziblatt hat die ungleiche Landverteilung, sprich den Großgrundbesitz, zum Hauptgrund für ungleiches Wahlrecht und Einflußnahme bei der Stimmabgabe von sozial abhängigen Landbewohnern erklärt. Als zentrale Ursache für den Widerstand der preußischen Konservativen gegen politische Demokratisierung sieht er das Fehlen schlagkräftiger Parteiorganisation an, was Konservative vom Schulterschluß mit der monarchischen Regierung und ab 1898 von der Wahlkampfhilfe der agitatorischen Pressure Group „Bund der Landwirte“ abhängig machte. Die Tories Englands konnten demgegenüber als breit verankerte, organisierte Volkspartei Demokratisierung leichter bewältigen. Erscheint die sozialwissenschaftliche Daten-Modellierung dem Historiker auch teils reduktionistisch, so ist es doch zu begrüßen, wenn außerdeutsche Forschungen Preußen fokussieren. Ein revisionistisches Modell zur Parteienkonstellation zieht der genaue Blick auf ganz Preußen stark in Zweifel. Als Alternative zu M. Rainer Lepsius‘ einflußreichem Konzept der vier soziopolitischen Milieus – dem ländlich-konservativen, städtisch-liberalen, konfessionell-katholischen und proletarisch-sozialdemo190 Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 529–569 (Wahlreform), S. 225 ff. (Wahlbündnisse), 461 ff. (Wahlkreise), S. 572 (Mai 1912). Ähnlich negativ verhielten sich die rechten Flügel von Zentrum und Nationalliberalen 1917/18 zur Wahlrechtsreform; vgl. Reinhard Patemann, Der Kampf um die preußische Wahlrechtsreform im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1964, S. 143 ff., 166 ff. Spenkuch, Herrenhaus, S. 122 (Zitat 1914). Spenkuch, „Es wird zuviel regiert”, S.  354–356 (Reformkommission). Schücking, Mißregierung, S. 6–19.

228  V. Preußens politisches System kratischen – schlug nämlich Karl Rohe eine anhand des Ruhrgebiets gewonnene drei Lager-Theorie vor. Darin bilden in scharfer Abgrenzung zu Katholiken und Sozialdemokraten Konservative und Liberale das nationale Lager, innerhalb dessen die Wähler wechselten. Sozialstrukturell gehörten beider Wählergruppen zur (klein-) bürgerlich-protestantischen Schicht, ähnelten sich also im Berufsspektrum. Mit Blick auf die Mandatsträger in Landtag und anderen Wahlgremien sowie speziell die Lage im Osten erscheint das Lager-Modell bis 1918 jedoch unzutreffend. Denn dort tobten jahrzehntelang erbitterte Kämpfe zwischen (ländlichen) Konservativen und (städtischen) Liberalen, speziell Freisinnigen. Ab etwa 1898 hielten bei Wahlen sowohl gesamtliberale Einigungsbestrebungen als auch politisch-parlamentarische Kooperationen zwischen Konservativen und Zentrum sowie einige Wahlbündnisse zwischen Freisinn und Sozialdemokratie den konservativ-liberalen Gegensatz virulent. Da Rohes Lager-Modell auch in Süddeutschland gutenteils nicht zutrifft, wird die Parteienkonstellation Preußens damit nicht akkurat erfaßt.191 Eine moderne quellenfundierte, synthetische Analyse zur legislativen Tätigkeit von Preußens Abgeordnetenhaus ab 1867, speziell der letzten beiden Jahrzehnte vor 1914, fehlt bis heute. Zentrale Grundtatsachen hat aber Bernhard Mann dargelegt. Die fünf größten Fraktionen – Deutschkonservative, Freikonservative, Zentrum, Nationalliberale, Freisinn – konnten eine Mehrheit aus beiden konservativen Gruppierungen oder Deutschkonservativen und Zentrum bilden, während die Kombination Zentrum (nebst Polen und Welfen) mit beiden liberalen Flügeln durch deren kulturpolitischen Gegensatz konterkariert wurde. Nach 1878 stand diese Kammer jedem Ansatz zur Parlamentarisierung fern, umsomehr weil sie eine bürokratische Prägung besaß: Unter den Deputierten waren 1894 wie 1913 je rd. ein Drittel Verwaltungs-, Justiz- und sonstige Beamte zu finden; 50 ehemalige Staatsminister gehörten dem Abgeordneten- bzw. 191 Daniel Ziblatt, Conservative Parties and the Birth of Democracy in Europe, Cambridge 2017, S.  172  ff., 215–258. Wegen Sachfehlern, Widersprüchen, grotesken Fehlurteilen und verzogener Vergleichsperspektive hochproblematisch ist Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19.  Jahrhundert, Hamburg 2017; vgl. meine Rezension www.sehepunkte. de/2018/05/31290.html. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft [1966], in: Ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S.  25–50. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992, S. 92 ff. Gegen Rohes Lagertheorie u. a. Andreas Gawatz, Wahlkämpfe in Württemberg. Landtags- und Reichstagswahlen beim Übergang zum politischen Massenmarkt (1889–1912), Düsseldorf 2001, S.  418–424 und Thomas Kühne, Elections, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, S. 77–90, 86 f. Abwägend Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 84–86.

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dem Herrenhaus 1867–1918 an. Der konservativ dominierte Landtag verteidigte Preußens Strukturen und gerierte sich zuletzt als Reichsoberhaus gegen MitteLinks Mehrheiten im Reichstag. Die reichische Kompetenz-Kompetenz gegen den Landtag einzusetzen, scheuten die Reichsleitungen. Vielmehr gab es amtliche Wahlbeeinflussung zugunsten der Konservativen in Preußens Osten und gouvernementaler Nationalliberaler im Westen. Ein Innenminister formulierte 1899 offen, daß regierungsseitig „seit Jahrzehnten bei den Wahlen in Preußen (…) im konservativen Sinne gewirkt worden“ sei und man nicht „mit einem Male das Steuer umzustellen“ vermöge.192 Vor diesem Hintergrund ist nach Miquels Finanzreform und der Landgemeindeordnung 1891/93 in Preußen bis 1918 keine Reform im politischen System mehr zustande gekommen. Progressive Reforminitiativen aus dem Dreiklassenlandtag sind schwerlich zu entdecken. Im Abgeordnetenhaus verhinderten zwar Liberale und Zentrum mit knappster Mehrheit eine dem Sozialistengesetz ähnliche Vereinsgesetz-Novelle 1897, aber Konservative und Polen bzw. Zentrum lehnten auch den Bau des Mittellandkanals 1899 sowie die Wahlrechtsreform 1910 ab. Interfraktionell gelangen 1905 eine Novelle zum Bergarbeiterrecht mit gewählten Arbeiterausschüssen und Ausbau der Arbeitssicherheit sowie 1906 das durch erhöhte Staatszuschüsse versüßte Volksschulunterhaltungsgesetz mit Festschreibung der Konfessionsschule. Um den Kanalbau für Konservative und agrarischen Zentrumsflügel annehmbar zu machen, beschränkte sich eine neue Vorlage 1905 auf den Ausbau nur bis Hannover und kompensatorische Flußregulierungen an Oder und Weichsel. In aller Regel besaß das Abgeordnetenhaus Eigen-Sinn nur im konservativen Sinne, aber nach 1863 wurde nur ein einziges Mal ernsthaft die Auflösung der blockierenden Kammer erwogen. Als KanzlerMinisterpräsident Hohenlohe 1899 nach dem Nein zum Mittellandkanal darauf drang, konnte er sich im Kronrat gegen Kaiser und wichtige Minister wie Miquel nicht durchsetzen. In Preußens Staatsspitze, personell teilidentisch mit der Reichsleitung, wollte man nicht mit den Konservativen als Stützen der Monarchie brechen und gegen sie Wahlkampf führen, zumal man sie im Reichstag vielfach brauchte, 1899 beispielsweise für die kontroverse sog. Zuchthausvorlage. Trotzdem wäre es falsch, mit Manfred Rauh eine „stille Parlamentarisierung“ im Dreiklassenlandtag zu konstatieren. Dagegen sprechen mehrere Gründe: Selbstverständnis des Gros der Parlamentarier und Ministerernennung ausschließlich 192 Grundtatsachen nach Bernhard Mann, Zwischen Hegemonie und Partikularismus. Bemerkungen zum Verhältnis von Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen 1867–1918, in: G. A. Ritter (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S.  76–89. Zahlen nach Mann u. a., Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, S.  32. Spenkuch (Bearb.), Protokolle, Bd.  8, S.  352 (Zit. Innenminister 1899). Hartwin Spenkuch, Prussian Governance, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, Farnham 2015, S. 33–53.

230  V. Preußens politisches System durch den Monarchen, Unmöglichkeit des Mehrheitswechsels infolge des zementierten Wahlrechts und geringe positive Gestaltungskraft der Kammer gegenüber einer die Agenda setzenden, verfassungsrechtlich dominanten, nicht absetzbaren Regierung. Der (schon damals) üblichen Definition von Parlamentarisierung entsprach Preußens Landtag nicht. Im Reichstag schien sich in den letzten Vorkriegsjahren ein gewisser Wandel anzudeuten. Sowohl die die elsaß-lothringische Verfassungsreform 1911 als auch die Wertzuwachssteuer 1913 wurden durch Liberale, Zentrum und SPD gegen die Konservativen beschlossen. Daraus den Sprung zum parlamentarischen Regierungssystem abzuleiten, unterschätzt mehrere Faktoren. Regierungsseitig war eine Mitte-Links-Mehrheit nie angestrebt. Clemens von Delbrück, Staatssekretär des Reichsamts des Innern und Vizepräsident des Preußischen Staatsministe­ riums, formulierte, ein Regieren gegen die Konservativen sei kein wünschbares Ziel und wegen der Verflechtung mit Preußen mit unabsehbaren Rückwirkungen belastet. Es gelte, Konservative, Zentrum und Nationalliberale zu einer Arbeitsmehrheit zusammenzuführen, um moderate Ergebnisse zu erzielen, nicht von der Sozialdemokratie mitbeschlossene, „radikale“ Gesetze. In ähnlicher Weise bekräftigte Kanzler Bethmann Hollweg mehrfach, nicht gegen Preußens Konservative und mit Mitte-Links regieren zu wollen. Deren Mißbilligungsvoten 1913 konnte der Kanzler verfassungsrechtlich ignorieren; im Reichstag formulierte er emphatisch, er werde der Aufrichtung der Parlamentsherrschaft mit allen Kräften entgegentreten. Schließlich und vor allem blieb ganz zweifelhaft, ob der 1911/13 zweimal ad hoc zusammengekommene, politisch so disparate Großblock von Bassermann bis Bebel dauerhaft eine Reformkoalition bilden könnte.193 Rudolf Kroboths quellengestützte Analyse wies nach, daß die Grundsatzentscheidung für die landwirtschaftsfreundliche Wertzuwachssteuer in Preußens Staatsministerium fiel, gegen Reichsstaatssekretäre und alle deutschen Mittelstaaten, die eine Erbschaftssteuer präferierten. Zudem rief die obsiegende Mitte-Links Mehrheit im Reichstag massive Gegenreaktionen hervor: Revitalisierte antisozialdemokratische Sammlung in Verbänden wie „Preußenbund“, „Wehrverein“ oder „Kartell der schaffenden Stände“, Stopp des Ausbaus der Sozialpolitik und interne Erwägung der Reichstagsauflösung, Einigelung der Konservativen in Preußen und bei der entscheidend wichtigen Parteimitte des Zentrums sowie den (Alt-) Nationalliberalen Zurückschrecken vor dem konfrontativen Drängen auf 193  Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung; Karlheinz Kitzel, Die Herrfurth’sche Landgemeindeordnung, Stuttgart 1957. Zum Mittellandkanal Bonham, Ideology and Interests, S. 189–217, Röhl, Wilhelm II., Bd. 2, S. 977 ff. und Spenkuch (Bearb.), Protokolle, Bd. 8, S. 351 (Kronrat 23.8.1899). Zur Elsässer Verfassung Rauh, Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, S. 207–238; Grenzen der Bestimmungsmacht der Parteien bis 1917 belegt Rauh selbst mit Quellenzitaten ebd., S. 346 ff., 386–400; Rauhs Behauptung „stiller Parlamentarisierung“ in Preußen, ebd., S. 49. Delbrück, Mobilmachung, S. 39–41, 49, 54.

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Parlamentarisierung, evident etwa bei der Zabern-Debatte Ende 1913. Zur Lage der Innenpolitik 1914 formulierte Kroboth das treffende Urteil von der stabilen Krise, das viele Historiker, darunter Nipperdey, Hans-Peter Ullmann, Volker Berghahn oder Christoph Nonn, teilen. Insgesamt kann weder von einem „Modernisierungssog“ im politischen System Preußen-Deutschlands ab 1909 noch von 1914 bevorstehender „volle(r) Parlamentarisierung“, wie F.-L. Kroll postuliert, die Rede sein. Einer Reformkoalition im Reich(stag) stand grundsätzlich die verfassungsrechtliche, personelle und parteipolitische Verflechtung mit Preußen entgegen. Wie sich das konstitutionelle System im Reich und in Preußen ohne Krieg weiter entwickelt hätte, darüber ist wissenschaftlich nur zu spekulieren. Der Bestand des Status quo im monarchischen Konstitutionalismus beruhte also nicht auf blanker politischer oder gar gesellschaftlicher Paralyse. Er war vielmehr Resultante eines Kräfte-Vielecks und mannigfaltiger Gegensätze. PreußenDeutschlands Regierung, die divergenten bürgerlichen Parteien, vielfältige, starke (rechte) Interessenverbände, die System-Opposition Sozialdemokratie, Reichstag und Landtag(e), sie alle zogen in Sachfragen in verschiedene Richtungen und blockierten auf ihren jeweiligen Interessengebieten. Aus dieser Interaktion vor dem Hintergrund enormer politischer Mobilisierung resultierte verfassungspolitischer Immobilismus. Preußen als konservativer Treibanker des Kaiserreichs behinderte das Reichsschiff auf dem Weg politischer Modernisierung vielfach erheblich.194 Jenseits dieser Strukturen wird seit langem die Bedeutung des Kaisers und Königs Wilhelm II. als Person debattiert. John Röhl hat ihn als Hauptschuldigen dargestellt, hingegen ist er von Wolfgang Mommsen eher als Instrument privilegierter Eliten zur Sicherung ihrer Herrschaft und von Christopher Clark gar als wenig 194 Zu den Steuergesetzen 1913 Kroboth, Finanzpolitik, S. 213–225, Analyse der systemischen Lage S. 288–318. Begriff „stabile Krise“ bereits bei Gustav Schmidt, „Parlamentarisierung“ oder „präventive Konterrevolution“? Die deutsche Innenpolitik im Spannungsfeld konservativer Sammlungsbewegungen und latenter Reformbestre-bungen 1907–1914, in: G. A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 249–278, S. 277. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 748– 757; Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt/M. 1995, S. 209–212 (innenpolitische Blockierung trotz einiger Reformen); Volker Berghahn, Volker, Das Kaiserreich 1871–1918. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003, S. 382 (politischer Immobilismus) und 399 f. (gesellschaftliche Polarisierung); Kühne, Demokratisierung, S. 314 f., Nonn, Das Deutsche Kaiserreich, S. 91 f. (keine Parlamentarisierung). Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Bonn 2013, S. 9, 48 (Zitate). Krolls Darstellung ist sachfehlerhaft: Der Kaiser-König konnte Gesetze blockieren, auch via Bundesrat, und ernannte alle Reichsbeamte (S. 17); die SPD bekämpfte nicht den bürgerlichen Rechtsstaat, sondern schützte ihn vor Abbau (S. 66); Tarifverträge waren 1914 nicht etabliert, sondern erfaßten 13 % (S. 75); Kleinbauern besaßen in Ostelbien nicht 2/3 des Bodens, Landgemeinden unterstanden oft adeligen Amtsvorstehern (S. 77).

232  V. Preußens politisches System bedeutsam bezeichnet worden, da er weder viel bewirkt noch andere Handlungsmöglichkeiten besessen habe. Viel hängt davon ab, wie man das proklamierte „persönliche Regiment“ des Kaiser-Königs definiert und wie man wertet: Sind punktuelle Interventionen in Innen- und Außenpolitik bzw. Rahmensetzung für politische (Un-)Möglichkeiten hoch zu gewichten oder als insgesamt sekundär abzutun? Unstrittig ist, daß die 1890er Jahre die Kernperiode des „persönlichen Regiments“ bildeten. Hier bestimmte Wilhelm II. das Führungspersonal, die Kanzler und Minister von Caprivi bis Bülow. In dieser Dekade setzte der Monarch gutenteils die Agenda der Regierungspolitik: Sozialpolitik, antisozialdemokratische Wende, ab 1897 Flottenbau und Weltpolitik. Nach 1900 jedoch trat er in der Innen- und seit der Daily-Telegraph-Affäre 1908 auch in der Außenpolitik deutlich zurück. Die Kanzler Bülow und Bethmann Hollweg waren handelnde Figuren und konnten den Monarchen meist zur Unterstützung ihrer Politik bewegen. Im Ersten Weltkrieg bestimmte die Oberste Heeresleitung die Linie. Als Symbol eines delegitimierten Systems und Friedenshindernis wurde Wilhelm II. 1918 überflüssig.195 Drei spezifische Punkte sind ihm rückblickend anzulasten. Erstens erfüllte Wilhelm II. seine zentrale Aufgabe der Koordination in der Innen- sowie zwischen Außen- und Militärpolitik nicht. Das wirkte sich bei inneren Reformen hemmend, bei der militärischen Kriegsplanung bis 1914 verhängnisvoll und im Krieg überaus nachteilig aus. Zweitens unterstützte er vielfach irrlichternde Weltpolitik und ermöglichte Tirpitz den antibritischen Flottenbau. Wilhelms Reden und Auftreten verfestigten im Ausland das Bild vom deutschen Militarismus und Weltmachtstreben. Drittens verteidigte Wilhelm II. alle monarchischen Prärogativen; die extrakonstitutionelle Stellung des Militärs war für ihn sakrosankt und in der Personalpolitik traf er viele Entscheidungen bis zur Berufung der Mili195 John Röhl, Kaiser, Hof und Staat, München 1987, S.  10  f. und Ders., Wilhelm II., Bd.  2, München 2001, S.  15–17. Wolfgang Mommsen, War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, Berlin 2005, S. 257– 264. Christopher Clark, Wilhelm II., München 2008, S. 153–165, 336–340. Alexander König, Wie mächtig war der Kaiser? Wilhelm II. zwischen Königsmechanismus und Polykratie von 1908 bis 1914, Stuttgart 2009. Jefferies, Contesting the German Empire, S. 84–89. Thomas Kroll, Die Monarchie und das Aufkommen der Massendemokratie. Deutschland und Großbritannien im Vergleich (1871–1914), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 311–328. Meine Sicht bereits in: Spenkuch (Bearb.), Protokolle, Bd. 8, S. 34–36. Kluge Abwägung schon bei Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 480–485; gegen Monarchozentrismus argumentierte Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1016–1020. Oliver F. R. Haardt, The Kaiser in the Federal State 1871–1918, in: German History 34 (2016), S.  529–554, betont zu Recht Preußen als Machtbasis des Kaisers und fordert intensivere Untersuchung preußischer Regierungspraxis, aber moniert zu Unrecht bisherige Vernachlässigung von Verfassungsrecht wie -realität und bezieht relevante Aspekte des Problemfelds bzw. vorstehend genannte, ältere Literaturtitel zu wenig ein.

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tärs Hindenburg/Ludendorff 1916 und von zwei Kanzlern 1917. Für Wolfgang Mommsen wie John Röhl lag ein Hauptmanko in der Auswahl politisch schwacher oder unfähiger Männer. Damit wie mit seinen Vorlieben bzw. Vorurteilen verengte Wilhelm II. die Optionen – gegen Parlamentarisierung und innenpolitische Integration, aber für Militärkult und Flottenbau, Schutz der Eliten Preußens und stramme Schneidigkeit. Diese Grenzsetzungen bildeten schon für Thomas Nipperdey den zentralen politischen Kerngehalt des persönlichen Regiments. Gerade indem Wilhelm II. in politischen Streitfragen vielfach lautstark Stellung bezog, untergrub er die primäre Funktion der Monarchie im 20.  Jahrhundert, nämlich als überparteiliches Symbol der Nation zu wirken. Seine Auftritte und Reisen mit taktlosen, polarisierenden Reden gingen in Richtung eines burlesken, präpotenten Medien-Kaisertums, das gerade nicht einheitsstiftend wirkte. Wilhelm II. beharrte auf Bismarcks Freund–Feind-Schemata und Preußens politisch-kulturellen Traditionen. Dies korrespondierte mit dem Bestreben der Militär- und Bürokratie-Spitzen, ihre eigene Stellung im konstitutionellen System zu behaupten und dazu den Monarchen als Legitimation zu benutzen. Fazit: Wilhelm II. war nicht an allem schuld, kein Einzelner war das. Aber die gegebenen Traditionen und Strukturen hat er verstärkt und in dem Bestreben, populär zu werden, unheilvolle Wege legimitiert, wo ein kluger Monarch hätte innenpolitisch Integration und außenpolitisch Maßhalten unterstützen, insgesamt vorsichtiger und ausgleichend hätte agieren müssen. Im Krieg hat Wilhelm II. das Kapital der Monarchie vollends verspielt, und schon Golo Mann verneinte die spekulative Frage, ob der Fortbestand der Monarchie 1933 verhindert hätte; Gründe wie die Absetzung von 19 Dynastien im Reich, die Ablösung des monarchischen durch den Führer-Gedanken bei jüngeren Adeligen oder der Sieg des Faschismus im Königreich Italien ab 1922 sprechen ebenfalls dagegen. Lange galt Wilhelms II. Vater Friedrich III., der 99-Tage Kaiser von 1888, als (links-)liberale Chance. Neueste quellenfundierte Arbeiten halten diese Sicht für falsch, denn Friedrich III. schätzte seine Stellung als Monarch und das Militär preußischer Tradition gemäß hoch ein und resignierte politisch ab 1885 gegenüber dem Kurs von Bismarck. Es erscheint deshalb unangemessen, in Friedrich die starke Persönlichkeit zu sehen, die Preußen-Deutschland in eine gänzlich andere politische Richtung geleitet hätte. Jedoch hegte er durchaus nationalliberale Überzeugungen: Für konstitutionelle Regierung und Freihandel, gegen hochkonservative Personalpolitik, Antisemitismus und maritime Herausforderung Englands. 1878 zur Regierung gelangt, hätte er vermutlich einige Sackgassen der Folgezeit vermieden. Die Frage muß letztlich historische Spekulation bleiben, aber verheerender als sein Sohn hätte Friedrich III. kaum gewirkt. Friedrich stand in der Tradition seiner Mutter, Königin Augusta. Die Weimarer Prinzessin und Gattin Wilhelms I. versuchte langjährig, Preußen in liberalwestliche Bahnen zu lenken – durch die Verheiratung ihrer Kinder nach Baden bzw. mit Englands Princess Royal, durch Vorbereitung und Unterstützung der

234  V. Preußens politisches System Neuen Ära, durch Ablehnung Bismarcks 1862 und Warnungen vor den Kriegen 1864, 1866, 1870. Als Frau ist sie damit ungeachtet vieler Briefe an Wilhelm I. und gegen die adelig-konservativ-militärische Männerwelt gescheitert, aber die Umsetzung ihrer politisch altliberalen Vision für Preußen hätte sukzessive ein anderes Land bedeutet.196 Derartigen politischen Linien folgten die süddeutschen Staaten weithin. Obrigkeitsstaat und Klassengesellschaft waren dort weniger scharf konturiert. Es gab mehr moderat liberale oder zentrumskatholische Elemente in den Verwaltungsspitzen; der Ausschluß von Linksliberalen und Juden war weniger harsch; nach 1900 gelangen Verfassungs- und Wahlrechtsreformen; die Ausgrenzung einer gutenteils reformistischen Sozialdemokratie war weniger scharf und die Regierungen agierten stärker im Einklang mit den Landtagsmehrheiten um Liberale bzw. Zentrumspartei; der politische und gesellschaftliche Stil war ziviler und weniger konfrontativ. Längere Verfassungstraditionen, weniger Industriezentren und andere sozio-kulturelle Strukturen lagen dem zugrunde. Komplementär pflegten süddeutsche Monarchen in Baden (Großherzog Friedrich II.), Bayern (Prinzregent Luitpold), Hessen (Großherzog Ernst Ludwig) oder Württemberg (König Wilhelm II.) als politisch zurückhaltende Grand Seigneurs zivilere, moderate Stile. Sie sahen politischen Ausgleich als Ziel an und waren auch regionale Identifikationsfiguren gegen „Verpreußung“ bzw. Berliner Vorgaben. Der Darmstädter Ernst Ludwig verstand sich mit seiner englischen Verwandtschaft in Windsor gerade wegen der Abneigung gegen das laute, zackige, militarisierte Borussentum des Berliner Vetters gut. Süddeutschlands Monarchen verloren Rückhalt in der Bevölkerung, als sie im Krieg der Führung Preußens kaum öffentlich widersprachen. Den skizzierten süddeutschen Pfaden folgte der letzte Kaiser gerade nicht und die Staatstraditionen Preußens wirkten dagegen.197

196 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 12. Aufl. Frankfurt 1977, S. 660. Lothar Machtan/Peter Brandt, Zu den Überlebenschancen der Monarchie in Deutschland im Herbst 1918, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), S. 262–272; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 247–259. Frank L. Müller, Rezension von Winfried Baumgart (Hg.), Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866–1888, Paderborn 2012, online: www.sehepunkte.de/2012/10/21158.html. Frank L. Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen – Prinz, Monarch, Mythos, München 2013, S.  113  f., 362–371. Winfried Baumgart (Hg.), General Albrecht von Stosch. Politische Korrespondenz 1871–1896, München 2014, S. 23–33. Andreas Rose, Die „alte Fregatte“ und ihr „Todfeind“. Augusta und der „Eiserne Kanzler“ [2018], online: www.perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/pnet_derivate_00000635/ rose_augusta.pdf sowie Birgit Aschmann, Königin Augusta als „political player“, in: Susanne Brockfeld u. a. (Hg.), Karrieren in Preußen. Frauen in Männerdomänen (Tagungsband der Preußischen Historischen Kommission), vorauss. Berlin 2020. 197 Klaus Schwabe (Hg.), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten, Boppard 1983, S. 15–80. Bernd Wunder, Prüfungsgrundsatz und Adelsprivilegien: Das

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✳ Ein Großteil bildungsbürgerlicher Zeitgenossen verteidigte das konstitutionelle System. Es sei für Preußen-Deutschland die beste, ja einzig mögliche Regierungsform, und Preußen bilde den festen Kern. Otto Hintze formulierte diese Sicht in einem berühmten Aufsatz 1911. Er schrieb, das außenpolitisch bedrängte Reich könne sich keine freiere Verfassung, zumal keine Schwächung des Militärs leisten. Man bedürfe einer starken Regierung über den Parteien und Interessen, denn es gebe eine wirtschaftlich-soziale Ost-West Kluft, separierte Konfessionen und zudem die staatsfeindliche Sozialdemokratie. Der Reichstag müsse wohl mitsprechen, aber sei unfähig, eine Koalitionsregierung zu formieren. Allmähliche Demokratisierung sei wohl Zeittendenz, jedoch „ein Glück und ein zu erstrebendes Ziel ist sie nicht“. Andere Autoren schmähten westliche parlamentarische Systeme gar als Despotien der numerischen Mehrheit mit korrupten Politikern, wenig Sozialpolitik, kleinerem Wirtschaftswachstum, zudem unvereinbar mit dem deutschen Föderalismus. Der Germanist Gustav Roethe und der Historiker Dietrich Schäfer erklärten vor Berliner Studenten 1912, einzig Preußens Macht habe das Reich geschaffen und das Aufgehen Preußens in Deutschland wäre ein Katastrophe, denn nur Preußen stehe als fester Fels gegen die Brandung der (Sozial-) Demokratie. Nicht alle spitzten so zu, aber viele national-liberale Bildungsbürger dachten ähnlich ambivalent wie der damalige Hochschullehrer und spätere Kultusminister Carl Heinrich Becker. Er schrieb Ende 1913 im Nachgang zur Zabern-Affäre: „Im allgemeinen bin ich ja für die aufgeklärte Despotie, da von der Volksvertretung die sachverständigen Vorschläge der Regierung meist nur ins Dilettantische übersetzt werden. In diesem Falle aber sieht man doch welch großen Nutzen Presse und Parlament zur Schärfung des Gewissens der Regierung haben können.“198

Scheitern eines Elitenwandels in der deutschen Verwaltung 1806–1914, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 17 (2005), S. 51–83. Gerhard A. Ritter (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München 1990, S. XIII–XIX (Preußen–Süddeutschland). Bernhard Mann, „Vom mühsamen Regieren“ – Württemberg und Preußen 1897 im Vergleich, in: R. Weber (Hg.), Der deutsche Südwesten. Regionale Traditionen und historische Identitäten, Stuttgart 2008, S.  55–67. Rodrick McLean, Kaiser Wilhelm II and his Hessian Cousins, in: German History 19 (2001), S. 28–53. Neue Analyse: Frank Lorenz Müller, Royal Heirs in Imperial Germany, London 2017, bes. S. 201–231. 198 Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen Bd.  1, 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 359–389, 366, 377–381, Zitat S. 379. Mark Hewitson, The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Germany before the First World War, in: Journal of Modern History 73 (2001), S. 725–780. Gustav Roethe, Preußen und Deutschlands Geistesleben, in: Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Zukunft, Berlin 1913, S. 112. GStA PK Berlin, VI. HA, NL C. H. Becker, Nr. 327 (Becker 1913).

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5.

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Im November 1918 wurde das Versagen der jahrhundertelangen Eliten Preußens – Monarch, Militär und Regierungsspitze – offenkundig. Sie hatten PreußenDeutschland in den Krieg geführt, schlecht geleitet und Millionen Tote sowie ein bankrottes Land hinterlassen. Mit der Niederlage hinterließen sie eine fortwirkende, auch mentale Hypothek, die schwer auf den Rahmenbedingungen von Staat und Gesellschaft lastete. Daß Preußen mehr war als nur die HohenzollernDynastie zeigte der größte politische Gestaltwandel des Gemeinwesens seit der Reformzeit. Die lange exkludierten Strömungen Sozialdemokratie, Zentrumskatholiken und Linksliberalismus (DDP) modernisierten den nunmehrigen republikanischen Freistaat. Am 25.3.1919 trat die Weimarer Koalition an, die in der Landesversammlung über 75 % der Mandate gegenüber 17 % von Deutschnationalen und Rechtsliberalen verfügte. Die Sozialdemokratie als stärkste Partei (36 %) war zuvörderst Regierungspartei. Zentrum (22 %) und DDP (16 %) schlossen sich ihr an, um erstens eine sozialistische Alleinherrschaft zu verhindern und zweitens ihre jeweiligen kulturpolitischen Ziele realisieren zu können. Diese Konstellation der Kooperation von Sozialdemokraten und Bürgerlichen war die Basis des demokratischen Preußen. Linke Sozialisten sahen darin eine Hauptursache für die Nicht-Durchsetzung umfassender sozialistischer Gestaltung des Freistaats und Kommunisten erstrebten ein Sowjet-Modell. Umgekehrt arbeiteten alle ultrarechten und konservativen Kräfte sowie manche rechtsliberalen Gruppierungen von Anfang an auf die Verdrängung der Sozialdemokraten aus der Regierung hin. Gab es 1918/19 Alternativen? Für eine sozialistische Räte-Republik hatte 1918/19 nur eine kleine Minderheit der WählerInnen votiert. Die große Mehrzahl der Sozialdemokraten und Gewerkschafter glaubte damals trotz und wegen der Straßenkämpfe sowie der politischen Morde (u. a. an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) an eine parlamentarische Republik, altes Ziel der Partei. Sie taten dies aus Ablehnung des blutigen Bolschewismus und Furcht vor weiterem Eingreifen der Siegermächte; weil nach vier Jahren Kriegsbelastung Sehnsucht nach Friedenszeit bestand; weil sie gemäß ihrer preußischen Prägung an geordnete Verhältnisse und Rechtstaat gewohnt waren. Die aktuelle Problemakkumulation schien der SPD-Führung keine größeren Handlungsspielräume zu erlauben. Man verzichtete auf Anklage der bis 1918 Führenden und öffentliche Demaskierung ihrer Kriegsschuld (das diesbezüglich klare Gutachten des Juristen Hermann Kantorowicz blieb unveröffentlicht); man ging in der Kooperation mit dem Militär, ja Freikorps gegen protestierende Arbeiter sehr weit und unterließ, ungeübt in der Führung staatlicher Apparate, die Ablösung kaiserzeitlicher Bürokraten auch in der Justiz. 1918/19 hätte eine stärkere Entmachtung alter Eliten erreicht werden können; als Folge wäre die vergiftete Spaltung der Arbeiterbewegung weniger scharf ausgefallen. Andererseits hätten rigorose Durchgriffe auch stärkere

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Gegenkräfte mobilisiert und ob dann eine dauerhaft stabilere Republik gefolgt wäre, ist eine offene Frage.199 Mit der Verfassung vom 30.11.1920 schuf man im Freistaat Preußen ein fortschrittliches und vorbildliches Werk. Der Landtag besaß die zentrale Position, da es keinen Staatspräsidenten gab, somit keine konkurrierende Autorität bestand und ein Präsidialregime wie im Reich unter Hindenburg ausschied. Im Parlament ruhte die Souveränität und die Staatsregierung war dem Landtag verantwortlich. Hinzu trat das vor den Wahlen 1932 ad hoc gegen die befürchtete Mehrheit von NSDAP und KPD statuarisch eingeführte konstruktive Mißtrauensvotum: Die Ablösung einer Regierung war damit nur möglich bei gleichzeitiger Wahl einer neuen. Diese Stärkung des Parlaments besaß nach Horst Möller fortwirkende Bedeutung für das deutsche Verfassungsrecht. Das Bonner Grundgesetz 1949 traf ähnliche Regelungen und auch die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen folgte 1950 Preußens Muster. Die Preußische Verfassung gab dem Landtag ein Selbstversammlungsrecht, das Recht zu Untersuchungs-Ausschüssen und eine Auskunftspflicht der Behörden ihm gegenüber. Verfassungsänderungen bedurften einer Zweidrittelmehrheit; der Ministerpräsident besaß Richtlinienkompetenz und Ministerernennungsrecht; ein Staatsgerichtshof sollte die Verfassung schützen. Die vorzeitige Landtagsauflösung war einem sog. Dreimänner-Kollegium aus Minister-, Landtags- und Staatsratspräsidenten übertragen. Im Staatsrat kam gewählten Vertretern der zwölf Provinzen ein Begutachtungs- und Einspruchsrecht bei Gesetzentwürfen zu, das vom Landtag mit qualifizierter Mehrheit überstimmt werden konnte. Preußens demokratische Verfassung vermied Fallstricke der Weimarer Reichsverfassung wie das Notverordnungs- und Parlamentsauflösungsrecht des Reichspräsidenten, und die parlamentarische Praxis war modern. Horst Möller resümierte deshalb zu Recht: „Der Weg zur parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland führte über Preußen.“ Diesem Befund lagen strukturelle Faktoren zugrunde: Erstens war die Landespolitik von den großen Streitfragen der Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik auf Reichsebene entlastet. Dies minimierte Grundsatzkonflikte über Reparationen und Rüstungsfragen, Sozial- und Zollpolitik. Zweitens gab es überwiegend neues Führungspersonal in Regierung und Landtag. Dadurch waren die republikanischen Parteien kompromißfähiger und im politischen System gab es weder verfassungsrechtlich noch personell belastende kaiserzeitliche „Überhänge“. Die bis 1932 in Preußen stabile Regierungskoalition aus SPD, Zentrumspartei und Linksliberalismus (DDP) unter Otto Braun beruhte auf der Zusammenar199 Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947, S. 205 (Motive der Koalitionsbildung). Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Bonn 2008, S.  60–64 (Handlungsspielraum 1918/19). Ulrich Heinemann, Die Last der Vergangenheit. Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld- und Dolchstoßdiskussion, in: K. D. Bracher u. a. (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 371–386, 379 (Kantorowicz).

238  V. Preußens politisches System beit einer reformistisch eingestellten SPD-Fraktion unter Ernst Heilmann mit einem rheinisch-sozialkatholisch dominierten Zentrum sowie einer sozialliberalen DDP unter Bernhard Falk. Mehrfach vereinbarten SPD und Zentrum kompensatorische Problemlösungen; so wurde 1925 Wilhelm Marx Kandidat für die Reichspräsidentschaft und Otto Braun erneut preußischer Ministerpräsident. Verhängnisvollerweise gelang bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 keine solche Kooperation. Weder nahm der Luffahrtpionier Hugo Eckener eine Kandidatur an, noch, so die kontrafaktische Mutmaßung, trat ein Zentrums-Sozialpolitiker wie Adam Stegerwald mit SPD-Hilfe als Kandidat der Weimarer Koalition an, womit man Hindenburg, der ausdrücklich gebeten werden wollte, die Wiederwahl versperrt und vermutlich gegen Hitler gesiegt hätte.200 Allerdings standen sich in Provinziallandtagen oder auch Kommunen öfter Sozialdemokraten und ein sog. Bürgerblock aus DNVP/DVP und Zentrum gegenüber. Diesen Bürgerblock, der 1922–28 im Reich regierte, nicht auf die Landespolitik durchschlagen zu lassen, bemühten sich preußische SPD- und Zentrumsführung ein Jahrzehnt. Überhaupt war das Zentrum die zweite staatstragende Partei Preußens. Mit vollem Recht läßt sich sagen: Nur das Zentrum ermöglichte die Fortdauer der Koalitionsregierung Otto Braun; jedes Gesetz und jeder Minister bedurfte der Stimmen des Zentrums. Die Fraktionsführung um Joseph Heß sicherte die Koalition in der parlamentarischen Praxis ab. Dadurch erreichten Zentrumskatholiken die paritätische Berücksichtigung bei staatlichen Postenbesetzungen und es gab für sie Erfolge im Kulturbereich, nämlich die Fortexistenz konfessioneller Volksschulen, Staatszuschüsse für Pfarrer und Kirche sowie insbesondere das Konkordat mit dem Vatikan 1929, das kirchliche Besitzstände garantierte. Nach Papens Staatsstreich vom 20.7.1932 trat die Zentrumsfraktion der Klage vor dem Staatsgerichtshof bei und manche Zentrumspolitiker warteten damals auf ostentativen Widerstand der SPD. Im Juni 1932 würdigte der katho200 Zur Verfassung grundlegend Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 114 ff., Zit. S. 599 und Ders., Preußen 1918 bis 1947, S. 203 f., 217–220 sowie Fabian Wittreck, Verfassunggebende Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920, in: D. Lehnert (Hg.), Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln u. a. 2011, S. 317–337. Gründe für Stabilität lt. Dietrich Orlow, Weimar Prussia, Bd. 1: 1918–1925, Pittsburgh 1986, S. 244–254 und Andreas Biefang, Parlamentarische Eliten in Preußen, in: D. Dowe (Hg.), Parteien im Wandel, München 1999, S. 211–228. Klaas Michel, Der Staatsrat als Vertretungsorgan der Provinzen?, Neuried 1998. Horst Möller, Ernst Heilmann. Ein Sozialdemokrat in der Weimarer Republik, in: Ders., Aufklärung und Demokratie, hg. v. A. Wirsching, München 2003, S. 200–225. Volker Stalmann, Bernhard Falk (1867–1944). Erinnerungen eines liberalen Politikers, Düsseldorf 2012. Yehiel Ilsar, Im Streit für die Weimarer Republik. Stationen im Leben des Hermann Badt, Berlin 1992, S.  111–129. Detlef Lehnert, Die Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S.  214  f. (Stegerwald hätte siegen können).

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lische Arbeitervereins-Sekretär Bernhard Letterhaus im Landtagsplenum die noble Haltung der SPD, die er der agitatorischen und destruktiven Politik der Hugenberg-DNVP gegenüberstellte. Wegen ihrer prorepublikanischen Haltung wurden führende Zentrumsrepräsentanten ab 1933 von den Nazis verfolgt. In typischer SA-Manier trieb man den stellvertretenden Ministerpräsidenten bis 1932, Heinrich Hirtsiefer, durch die Stadt Essen – mit einem Schild auf der Brust des korpulenten Mannes „Ich bin der Hungerleider Hirtsiefer“. Kurzzeitiger Arrest im Konzentrationslager schloß sich an. Überwachung, sog. Schutzhaft, Lageraufenthalte waren nicht selten. Der linkskatholische Kölner Professor Benedikt Schmittmann wurde 1939 in Sachsenhausen zu Tode geprügelt, Letterhaus 1944 hingerichtet.201 Unheilvoll wirkte demgegenüber die oppositionelle Deutschnationale Volkspartei, die bei Wahlen etwa 20 % Anteil erreichte. Mit ihren preußisch-konservativen bzw. völkisch-radikalen Flügeln und einer mittleren, aber 1928/29 entmachteten Gruppierung erstrebte sie von Anfang an und verstärkt am Ende des Jahrzehnts einen Staat ohne SPD-Mitsprache ähnlich der autoritären Monarchie vor 1914. Die DNVP war systemischer Feind der demokratischen und sozialen parlamentarischen Republik und selbst in den Jahren ihrer Regierungsbeteiligung 1924–28 nicht mit dem reformoffenen, demokratiekompatiblen englischen Tory-Konservatismus gleichzusetzen. Auch für den 1929/30 von Hugenberg ausgebooteten, preußisch-monarchistischen Grafen Kuno Westarp galt das. Die politische Rechte war in Gruppierungen wie Zielen zersplittert, aber wurde durch ihre Ressentiments und Feindbilder geeinigt: Anti-westlich und antisemitisch, gegen (Sozial-) Demokratie und Parlamentarismus, insgesamt die Anti-Moderne gedacht als ethnisch homogene und konfliktlose, ständisch gegliederte und elitär geführte („arische“) Volksgemeinschaft. Das war das Gegenbild zum republikanischen Preußen. Personifizieren läßt sich dies etwa anhand des deutschnationalen Spitzenbeamten Johannes Popitz, Anhänger des „Führerstaats“ schon 1932, Konzipist des Berufsbeamtengesetzes 1933 sowie als preußischer Finanzminister langjähriger Kollaborateur des NS-Regimes und Nachlaßverwalter Preußens, bis er, wiewohl kein Akteur des 20. Juli 1944, in dessen Folge hingerichtet wurde.202 201 Herbert Hömig, Das preussische Zentrum in der Weimarer Republik, Mainz 1979, S. 282–296 und Ders., Joseph Heß (1878–1932), in: R. Morsey (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 3, Mainz 1979, S. 162–175; Eric D. Kohler, The successful German Center-Left: Joseph Hess and the Prussian Center Party, 1908–32, in: Central European History 23 (1990), S. 313–348. Ribhegge, Preussen im Westen, S. 330 ff., 439–448, 517 f. Martin Schumacher (Hg.), M.d.L. – Das Ende der Parlamente 1933 und die Abgeordneten der Landtage der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, Düsseldorf 1995, S. 37* ff. (Verfolgungen). 202 Maik Ohnezeit, Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011, S. 450–456; L. E. Jones/W. Pyta (Hg.), „Ich bin der letzte Preuße“. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf Westarp (1864–1945),

240  V. Preußens politisches System ✳ Bewußt nahmen Preußens Sozialdemokraten die Aufgabe an, vom größten Land aus die Reichseinheit zu bewahren und Reich wie Freistaat zugleich als vorbildliche Demokratien auszugestalten. Diesen Ansatz belegte Hagen Schulze mit dem treffenden Wort von Preußens demokratischer Sendung. Den rechtschaffenen Otto Braun an der Spitze eines demokratisch legitimierten Kabinetts mit Christopher Clark als „roten Zaren“ zu bezeichnen, folgt gedankenlos einer Parole der Rechten, die die republikanische Regierung verunglimpfen sollte. Braun selbst wies den diffamierenden Titel zu Recht zurück und verdient noch heute eine größere öffentliche Würdigung als demokratischer Staatsmann. Die preußische Koalition reformierte den Obrigkeitsstaat: Neben der politischen Demokratie in Landtag, Provinzen und Kommunen erreichte man Besserung für Landarbeiter und Auflösung der Gutsbezirke, Modernisierung des Polizeirechts, merkliche Bildungsexpansion und Kulturblüte zumal in Großstädten, kommunale Neugliederung (Berlin 1920, Ruhrgebiet 1929) und umfangreichen Wohnungsbau sowie weitere sozialpolitische Leistungen mittels eines eigens errichteten Wohlfahrtsministeriums. Die Errungenschaften des Freistaats Preußen sind im öffentlichen Bewußtsein bis heute unzureichend präsent und nicht ausgeforscht.203 Mehr Rechte für Frauen in Bildung, Berufstätigkeit und Lebensführung gewannen Gestalt. Seit dem 12.11.1918 besaßen sie das Wahlrecht und es gab weibliche Abgeordnete. Bis heute bekannt sind Klara Zetkin–KPD, Gertrud Bäumer und Marie-Elisabeth Lüders–DDP, Helene Weber und Helene Wessel–Zentrum, Katharina von Kardorff-Oheimb–DVP sowie Margarethe Behm–DNVP. Im Landtag saßen (1919) 20 Frauen (5 %) und ab 1928 41 (9 %), darunter 20 in der SPD-Fraktion (dort 14 %). Lehrberufe und Verbandstätigkeit dominierten. Selbst bei der SPD gelangten Hildegard Wegscheider oder Hedwig Wachenheim nicht in parlamentarische bzw. exekutive Führungspositionen oder gar Ministerränge Preußens. Auf der Rechten hingegen stand das skizzierte Weltbild modernen

Köln u. a. 2006, S. 105 ff. (Kirsten Heinsohn), 135 ff. Manfred Kittel, „Steigbügelhalter“ Hitlers oder „stille Republikaner“? Die Deutschnationalen in neuerer politikgeschichtlicher und kulturalistischer Perspektive, in: H.-C. Kraus/Th. Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 201–235 (gegen die Sicht Th. Mergels); Reimer Voss, Johannes Popitz (1884–1945), Frankfurt/M. 2006, S. 78–85, 236 ff., 320 ff. Ähnlich Lars Lüdicke, Constantin von Neurath. Eine politische Biographie, Paderborn 2014. 203 Clark, Preußen, S. 740 und StenBerLT, 17.3.1932, Sp. 24693 f. (Braun); Manfred Görtemaker (Hg.), Otto Braun. Ein preußischer Demokrat, Berlin 2014, S. 22 f.; SPDWahlplakat 1932 „Altes oder neues Preussen“ in: Preussen. Versuch einer Bilanz, Bd. 1, Reinbek 1981, S. 589; Stefan Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931, Tübingen 2003, S. 220 ff.; Siegfried Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, Berlin 2011, S. 178 ff. (Landtag 1919 ff.).

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Frauen-Rechten im Ehe- oder Zivilrecht entgegen; selbst „nationale“ Frauen wurden in der gewaltaffinen, männlichkeitsbetonten Politik ab 1928 marginalisiert.204 Die Koalition in Preußen erreichte nur allmählichen Wandel. Denn SPD und Bürgerlichen standen die großen inneren und äußeren Krisen 1918–23 deutlich vor Augen, sie hielten sich an die rechtsstaatlichen Einschränkungen jeder demokratischen Regierung, rangen auch in Einzelfragen lange um Kompromisse zwischen ihren unterschiedlichen Positionen und hatten die sachlichen Vorgaben aus der Reichspolitik in Rechnung zu stellen. Vieles davon ist bis heute der Alltag einer Koalitionsregierung in der Demokratie und gilt nunmehr als normal. Das Jahrzehnt bis 1930 indessen reichte nicht hin zur Verfestigung des parlamentarischen Regierungssystems, zumal die kaiserzeitlich geprägte politische Mentalität vieler Akteure Konflikte, Parteienstreit und langwierige Kompromißfindung als ungehörig oder gar „undeutsch“ empfand und man vermeintlich „überparteiliche, rein sachliche“ Führung pries. Gerade der preußischen Regierung ist keineswegs die „Selbstpreisgabe einer Demokratie“ (Karl Dietrich Erdmann 1980) vorzuwerfen, denn ihre Taten bei der Republikanisierung des Staates und im Kampf gegen die Nationalsozialisten bis 1932 widerlegen dies. Zwar blieb 1918/19 die personelle Kontinuität in der Verwaltung (unterhalb der Amtsspitzen) weithin gewahrt, weil Fachkompetenz, Beamteneigenschaft und rechtsstaatliche Bedenken gerade des Zentrums die alten Amtsträger schützten. Aber nach dem Kapp-Putsch des März 1920 setzte eine prorepublikanische Personalpolitik in der Verwaltung ein. Die SPD-Innenminister Carl Severing (1920–26, 1930–32) und mehr noch der Landarbeitersohn Albert Grzesinski (1926–30) brachten sukzessive neue Männer in höhere Positionen. Dabei achtete insbesondere die Zentrumspartei auf anteilige Berücksichtigung ihrer Anhänger und besaß den Vorteil, daß zu ihr viele laufbahnmäßig geschulte Fachbeamte zählten. Ähnliches gilt von der DDP und der Regierungspartei der Jahre 1921–25 DVP. Hingegen besaß die SPD wegen ihres Ausschlusses vom Fachbeamtentum bis 1918 und des Quasi-Monopols studierter Juristen nur ein kleines Kandidaten-Reservoir und griff auf Parteifunktionäre zurück, die dann von rechts als reine Parteibonzen angefeindet wurden. Die Statistik der leitenden Beamten-Kategorien sah 1929/30 so aus: Unter den zwölf Oberpräsidenten zählten vier zur SPD, je drei zum Zentrum bzw. zur DDP, zwei zur DVP. Den drei Koalitionsparteien gehörten 21 von 32 Regierungspräsidenten an, immerhin elf auch DVP bzw. DNVP oder waren parteilos. Unter den 204 Walter Mühlhausen, Der Typus Ebert – Anmerkungen zur Biografie des Parteiführers im Staatsamt der Weimarer Republik, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen, H. 45 (2011), S.  99–118, S.  105; Christl Wickert, Unsere Erwählten. Sozialdemokratische Frauen im Deutschen Reichstag und im Preußischen Landtag 1919 bis 1933, 2 Bde., Göttingen 1986, Bd. 1, S. 92. Kirsten Heinsohn, Konservative Parteien in Deutschland 1912–1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010, S. 183 ff.

242  V. Preußens politisches System Polizeipräsidenten rechnete man 24 zur SPD, je sieben zu Zentrum bzw. DDP und sechs zur DVP. Unter 408 Landräten registrierte man 64 SPD-, 87 Zentrums-, 47 DDP- und 76 DVP-Anhänger sowie etwa fünf Deutschnationale, wobei die 129 Männer ohne bekannte Parteimitgliedschaft meist als rechtsstehend, aber grundsätzlich loyal galten. Von 540 erfaßten politischen Beamten waren 107 Sozialdemokraten, 112 Zentrumskatholiken, 72 Demokraten, 95 Volkspartei-Anhänger und rund 50 meist in Ostelbien tätige Sympathisanten der stets oppositionellen DNVP. Das restliche Hundert war parteipolitisch ungebunden, zumal Parteimitgliedschaft kein Laufbahnkriterium bildete. Regionale Gremien, besonders der Provinzialausschuß, besaßen bei der Ernennung von Ober- und Regierungspräsidenten ein Mitspracherecht gemäß Art. 86 der Verfassung von 1920, das es weder vorher noch nach dem 20. Juli 1932 gab. Auch Kreistage konnten unliebsame Landratskandidaten ablehnen. Die Kehrseite dieser Mitsprache lag darin, daß es in Ostelbien, wo die Mehrheiten in den Kreis- und Provinziallandtagen ab 1921 häufig von DNVP, DVP und rechtsorientierten Bürgerlisten gestellt wurden, schwerer fiel, solche Posten mit SPD- oder DDP-nahen Persönlichkeiten zu besetzen. Selbst im durchwegs sozialdemokratisch geführten Innenministerium gab es kein Monopol für Mitglieder der Koalitionsparteien: Von 72 höheren Beamten zählten 14 zur SPD und 27 zu Zentrum bzw. DDP (57 %), während es je neun aus DVP bzw. DNVP (25 %) und 13 Ungebundene (18 %) gab. Nach wie vor galten fachliche Vorbildung oder erworbene Erfahrungen als unerläßlich; von „Parteibonzentum“, dem Schlagwort der Rechten, konnte keine Rede sein. Mit diesem maßvollen Vorgehen über ein ganzes Jahrzehnt hinweg kontrastierten scharf die „Säuberungen“ der Regierungen Papen bzw. Hitler 1932/33. Der deutschnationale Rundumschlag im zweiten Halbjahr 1932 war zahlenmäßig massiv und rein parteipolitisch motiviert: Per Staatsministerialbeschluß schon am 21.7.1932 setzte man 94 politische Beamte sowie am 19.8.1932 stattliche 61 Landräte ab. Alle Erfolge der Republikanisierung der Bürokratie konnten mit solchen Dekreten beseitigt werden, indem die Spitzen des hierarchischen Apparats ausgetauscht wurden. Der kommissarische Kultusminister, der Deutschnationale Wilhelm Kähler, bezeichnete es explizit als seinen Auftrag, die „Ausmerzung sozialistischer Parteigänger“ und von Juden zu betreiben. Den umfangreichsten Personalaustausch der preußischen Geschichte exekutierten eindeutig die Nationalsozialisten. Sie ersetzten 1933/34 von 1663 sog. politischen Beamten 469 (28 %), darunter fast alle der 46 Ober- und Regierungspräsidenten und 73 % der 361 Landräte; in den Folgejahren stieg diese Quote weiter. Die Eingesetzten qualifizierte oft allein das Parteibuch, so daß genau das in großem Stil betrieben wurde, was zu bekämpfen die neuen Machthaber heuchlerisch vorgaben, auch hierbei ihrer steten Manier lügnerischer Verdrehung folgend.205 205 Die Zahlen nach Möller, Preußen von 1918 bis 1947, S. 277–281; Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat, Stuttgart 1965, S. 201; Hans Karl Behrend, Zur Personalpolitik des Preußischen Ministeriums des Innern, in: Jahrbuch für die

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Das zentrale Faktum bestand darin, daß Preußen lange vor 1932 nicht mehr in der Lage war, die ganze Republik (sozial-) demokratisch zu prägen. Denn die frühere Hegemonie Preußens im Reich war 1919/20 verfassungsmäßig, politisch und finanziell gekappt worden. Gemäß Reichsverfassung bestand grundsätzlich der Kompetenzvorrang des Reichs; Reichskanzler- und Ministerpräsidenten-Posten waren getrennt, die Armee nunmehr Reichswehr. Zudem besaß das Reich aufgrund der Erzberger’schen Finanzreform 1920 die Steuerhoheit und der langjährige Einnahmen-Generator Staatseisenbahnen ging in der Reichsbahn auf. Auch im Reichsrat, dem Länderorgan, konnte Preußens Regierung nicht mehr so dominieren wie in Bismarcks Bundesrat. Denn von insgesamt 66 Stimmen besaß Preußen zwar 26, aber die Staatsregierung verfügte nur über 13, die andere Hälfte entsandten die einzelnen Provinzen. Und hier dominierten Zentrum bzw. DNVP mit sechs bzw. vier Vertretern, die aus regionalistischen bzw. politischen Gründen öfter der Staatsregierung opponierten. Laut Statistik wurden so in 257 Abstimmungen des Reichsrats 1921–28 Preußens Stimmen nur 48 Mal einheitlich abgegeben, freilich die Staatsregierung einzig wegen dieser StimmenSpaltung nur selten überstimmt. Ein Versuch des Ministerialdirektors im Innenministerium, Hermann Badt (SPD), per Landesgesetz 1925/26 Mechanismen zur einheitlichen Stimmabgabe Preußens vorzuschreiben, scheiterte im Staatsrat am Veto von Zentrum und DNVP, die das freie Votum der Provinzialvertreter und damit ihren eigenen Einfluß beibehalten wollten.206 Im Finanzbereich besaß das Reich die Steuerhoheit und überwies ausgehandelte Quoten von Einnahmen an die Länder. Aufgrund des Finanzausgleichsgesetzes von 1926 (§ 35) subventionierte Preußen sogar jahrelang finanzschwache Länder von Bayern bis Lippe – auch hier ein Vorbild für die spätere Regelung in der Bundesrepublik. Konnten die Staatsbudgets bis 1927 wegen sparsamer Haushaltsführung ausgeglichen vorgelegt werden, so wies der Staatshaushalt 1928 u. a. Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), S. 173–214, S. 207–210; Thomas Aders, Die Utopie vom Staat über den Parteien. Biographische Annäherungen an Hermann Höpker Aschoff (1883–1954), Frankfurt/M. u. a. 1994, S.  112. Anthony McElligott, Rethinking the Weimar Republic. Authority and Authoritarianism 1916– 1936, London 2013, S. 163 ff. (republikanische Landräte). Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt/M. 1986, S.  123. Eckhard Oberdörfer, Noch 100 Tage bis Hitler. Die Erinnerungen des Reichskommissars Wilhelm Kähler, Schernfeld 1993, S. 64, 70. 206 Christoph Vondenhoff, Hegemonie und Gleichgewicht. Preußen 1867–1933: Geschichte eines hegemonialen Gliedstaates, Jur. Diss., Aachen 2001, S. 155–158; Möller, Parlamentarismus, S. 497–505; Yeheil Ilsar, Im Streit für die Weimarer Republik. Stationen im Leben des Hermann Badt, Berlin 1992, S. 234–259. Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928–1932, Bonn 1975, S. 77–122. Im Reichsrat waren Rheinprovinz, Westfalen, Hessen-Nassau, Hannover, Oberschlesien und Grenzmark vom Zentrum, Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Niederschlesien von der DNVP, Sachsen und Berlin von der SPD, Schleswig-Holstein von der DVP vertreten.

244  V. Preußens politisches System aufgrund der höheren Beamtenbesoldung 1927 ein Defizit auf. Mit der Krise gingen die Einnahmen zurück und 1930 entstand ein Defizit von 88 Mio. RM bei 1,8 Mrd. Budget. Die gesamten Staatsschulden betrugen damals unter 10 % des Grund- und Anlagevermögens Preußens, ein heute geradezu paradiesisch erscheinender Zustand. Aber nun stiegen die Defizite (1931: 230 Mio. RM, 1932: 511 Mio. RM) und Finanzminister Hermann Höpker Aschoff begegnete dem mit Kürzungen der Staatsausgaben und Gehälter, was die Betroffenen empfänglicher für NSDAP-Parolen machte. Höpker Aschoff und Preußen folgten damit der – auf Beseitigung der Reparationen und begrenzten Sozialstaat zielenden – rigorosen Spar- und Deflationspolitik von Kanzler Brüning und wie dieser verstärkte man so den ökonomischen Abschwung sowie verhängnisvollerweise die Republikablehnung weiter Kreise. Moderne antizyklische Finanzpolitik war bis 1931 Außenseiter-Ansicht und Preußen zur Deckung von Haushaltslücken auf Kredite des Reichs bzw. der Reichsbank angewiesen (gut 100 Mio. RM 1932), die diese nur gegen weitere Sparauflagen zusagten, ein Teufelskreis. Angesichts derartiger finanzieller Abhängigkeit war auch Preußens politische Position gegenüber dem Reich, u. a. bezüglich der zeitgleich strittigen Osthilfe für verschuldete Großgrundbesitzer, geschwächt. Bei Zahlungsunfähigkeit drohte ein Reichs-Sparkommissar. Erst Ende April 1932 bat ein preußischer Kabinettsbeschluß Reichskanzler Brüning um „ein möglichst umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm“, das auch die Gewerkschaften forderten, und Arbeitszeit-Verkürzung im Sinne von Job Sharing, blieb jedoch ohne Antwort. Mit Papen begann vermehrte staatliche Arbeitsbeschaffung, wenngleich das 1929 provinzial begonnene Autobahnstück Köln–Bonn bereits im August 1932 von Adenauer eröffnet wurde.207 Wie sehr Preußen auf das Reich angewiesen blieb, zeigte sich nicht zuletzt bei allen Maßnahmen gegen die Nationalsozialisten. Schon nach dem Mord an Walther Rathenau 1922 war ein reichsweites Republikschutzgesetz gegen antirepublikanische Aktionen verabschiedet worden, das Gerichte bei rechtsradikalen Tätern aber oft milde anwandten. Ab 1929 ließen die SPD-Innenminister Albert Grzesinski und Carl Severing den Staatsschutz die neuerlichen braunen Aktivitäten überwachen, Veranstaltungen auflösen und 80 Tageszeitungen wegen HetzArtikeln fast 200 Mal verbieten. In umfangreichen Denkschriften wurde 1930 ein NSDAP-Verbot mit deren Verfassungsfeindlichkeit und Gewalttätigkeit begründet, konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da Reichskanzler Brüning ein 207 Orlow, Weimar Prussia, Bd. 2: 1925–1933. The Illusion of Strength, Pittsburgh 1991, S. 165–184 und StenBerLT 12.12.1928, Sp. 1383 bzw. 10.12.1929, Sp. 9202 (Haushalte). Aders, Die Utopie vom Staat, S. 155 f. (§ 35); Astrid von Pufendorf, Otto Klepper (1888–1957). Deutscher Patriot und Weltbürger, München 1997, S.  93–124. Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Brüning I und II, bearb. von T. Koops, Boppard 1990, S. 2477–2480 (Schreiben 30.4.1932). Büttner, Weimar, S. 451–455, 477 f. (Debatte um antizyklische Finanzpolitik).

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derartiges „Sozialistengesetz“ ablehnte. In Preußen wurde die Mitgliedschaft von Beamten in NSDAP und KPD mit Erlaß vom 25.6.1930 verboten und reichsweit setzte die Preußen-Regierung am Ende der Kanzlerschaft Brünings ein Verbot der gewalttätigen SA durch (13.4.1932). Die Regierung Papen hob es zwei Monate später wieder auf und im Oktober 1932 urteilte das Preußische Oberverwaltungsgericht weltfremd, daß die Betätigung von Beamten für die NSDAP nicht verbietbar sei, da die NSDAP keinen gewaltsamen Systemsturz betreibe. Bereits 1930/31 erreichten Nationalsozialisten (Wilhelm Frick, Dietrich Klagges) durch Regierungsbeteiligung in Thüringen und Braunschweig Ministerposten und verdrängten demokratische Beamte durch Parteigenossen. Als Grzesinski im Dezember 1931 die Verhaftung und Ausweisung des Österreichers Hitler (seine Einbürgerung erfolgte am 26.2.1932 in Braunschweig) vorschlug, lehnte Brüning das unter Verweis auf Widerstreben Hindenburgs ab. Zwar ist es fraglich, ob Verbotsmaßnahmen gegen eine Massenbewegung wie die NSDAP durchschlagend gewirkt hätten, aber umgekehrt wurde die Partei durch die Duldungs- und Integrationslinie der Reichsspitze um Hindenburg stetig ermutigt.208 Angesichts des Rechtsdralls an der Reichsspitze, der Wirtschaftsmisere, des stetigen Anstiegs von KPD und NSDAP und ihrer Gewalttaten ging es den preußischen Akteuren 1931/32 nur noch um die Verteidigung der Republik, indem man die Festung Preußen hielt, freilich erkauft mit der Tolerierung des unpopulären Reichskabinetts von Hungerkanzler Brüning. Dieser war zunehmend von Hindenburg abhängig, da er immer häufiger mit Notverordnungen regierte, die nur der Reichspräsident gemäß Art. 48 der Reichsverfassung erlassen konnte. Initiativen Preußens gegen die Reichsregierung waren unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Im Hinblick auf all dies ist zu Recht das Paradox der politischen Situation 1918–32 formuliert worden: Preußen war der Garant demokratischer Staatlichkeit der Weimarer Zeit, aber zugleich ein zentrales Hindernis gegen einen Föderalismus etwa gleichgroßer Staaten. Dies verlängerte regionale politische Disparitäten zwischen West und Ost, wo tendenziell Zentrum und SPD bezie208 Quellen bei: Ilse Maurer/Udo Wengst (Bearb.), Staat und NSDAP 1930–1932. Quellen zur Ära Brüning, Stuttgart 1977, S. 51–81 (Preuß. Denkschrift zur NSDAP Mai 1930), 87 f. (Beamtenerlaß 25.6./3.7.1932), 96 ff. (Denkschrift Preuß. Innenministerium August 1930), S. 266–268 (Plan der Verhaftung Hitlers 1931). Dazu die Darstellungen: Rudolf Morsey, Staatsfeinde im öffentlichen Dienst (1929–1932). Die Beamtenpolitik gegenüber NSDAP-Mitgliedern, in: Ders., Von Windthorst bis Adenauer, Paderborn 1997, S.  27–47; Orlow, Weimar Prussia, Bd.  2, S.  190–196 und Carsten Dams, Staatsschutz in der Weimarer Republik. Die Überwachung und Bekämpfung der NSDAP durch die preußische politische Polizei von 1928 bis 1932, Marburg 2002, S. 69 ff., 135 ff. sowie Thomas Alexander, Carl Severing – ein Demokrat und Sozialist in Weimar, 2 Bde., Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 655 ff. (Republikschutzgesetz), 954 ff. (Maßnahmen zur inneren Sicherheit).

246  V. Preußens politisches System hungsweise DNVP und DVP dominierten. Der bedeutende Verfassungsrechtler und kurzzeitige Reichsinnenminister Hugo Preuß wollte 1919 den Dualismus dadurch lösen, daß er Preußen in Provinzen mit zugewiesenen Kompetenzen zerlegen und so ein dezentralisierter Einheitsstaat entstand. Aber weder die SPD noch die bürgerlichen Parteien folgten ihm. Die Minister Braun, Haenisch und Landsberg (USPD) sprachen dagegen: Das „neue, das demokratische Preußen soll man nicht zerschlagen“; solche Zertrümmerungspläne förderten nur Separatismus in West und Ost.209 Im letzten Jahrfünft der Republik stand diese Verknüpfung von oder Personalunion zwischen Preußen und dem Reich erneut auf der Tagesordnung. Im Rahmen einer föderal besetzten Kommission zur sog. Reichsreform zielte man 1928–30 auf Neuabgrenzung der Kompetenzen zwischen Ländern und Reich und damit mehr politische Koordination. Auch Berliner Sozialdemokraten konnten sich eine derartige Reichsreform vorstellen – freilich nur unter Aufrechterhaltung von Demokratie und Parlamentarismus, die manche Rechtspolitiker bereits partiell demontieren wollten. Warum wurde keiner der damals diskutierten Pläne umgesetzt? Fünf Gründe lassen sich benennen. Erstens gab es Beharrung in den Landesbürokratien und Gewöhnung der Bevölkerung. Zweitens war es schwer, unter stets divergierenden Parteien die nötige verfassungsändernde Mehrheit zu finden; zudem bestand eine hohe Hürde im Artikel 18 der Reichsverfassung, wonach 60 % der von der Neugliederung betroffenen Bevölkerung zustimmen mußten. Drittens fürchtete man in Berlin 1918–23 regionales Autonomiestreben, Wirtschaftsprobleme und Herrschaft der antidemokratischen Rechten im Osten, so daß der pure Wille dazu fehlte; ähnliches galt für die meisten Reichsregierungen. Viertens stellten sich deutsche Bundesstaaten quer, zumal gegen eine große Reichsreform, da sie ihre Eigenstaatlichkeit nicht schmälern lassen wollten, und angesichts dessen sah auch die regierende SPD wenig Anlaß, Preußens Staatlichkeit aufzugeben. So lehnten Mitte 1930 viele deutsche Länder, Brüning und die preußischen Fraktionen von SPD und Zentrum die Pläne des Verfassungsausschusses zur Reichsreform ab. Dessen Ziel war, mittels Eingliederung kleiner norddeutscher Länder nach Preußen und anschließender Verschmelzung von Preußen- und Reichs-Regierung sowie durch reichische Übernahme von einigen Fachverwaltungen der süddeutschen Staaten eine gänzlich neue Kompetenz­ ordnung zu schaffen. Fünftens gab es allerdings mehrfache Vorstöße gerade der preußischen Regierungsspitze (Otto Braun, Hermann Höpker Aschoff, Arnold Brecht). 1930–32 versuchten sie, Preußen und das Reich stärker aneinander zu binden, um die politische Stabilität zu erhöhen. Primär sollte Kanzler Brüning auch Preußischer Ministerpräsident werden und weitere Personalunionen (Fi209 Vondenhoff, Hegemonie, S. 189 (Paradox). Michael Dreyer, Der Preußsche Neugliederungsplan von 1919 und sein Scheitern, in: D. Lehnert (Hg.), Hugo Preuß, S. 279– 300. Möller, Preußen 1918 bis 1947, S. 194 f. (Minister-Zitate).

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nanz-, Landwirtschafts- und Justizministerium), getragen von der Weimarer Koalition in Reich und Land, das Kabinett gegen Reichspräsident Hindenburg stärken. Aber auf der Rechten erstrebte man gerade keine Stärkung der parlamentarischen Demokratie. Im August 1931 widersprachen Reichswehr-Chef Schleicher und der Zentrumsvorsitzende Kaas der Personalunion-Lösung, durch die u. a. der SPD-Mann Severing Reichsinnenminister werden sollte. Im November 1931 widersetzte sich Hindenburg, instruiert von seinem Sohn Oskar und Schleicher, der Stärkung Brünings durch Übernahme des Amts des Preußischen Ministerpräsidenten, was die SPD-Regierungsbeteiligung in Preußen bekräftigt hätte. Erst im Exil erkannte Brüning die damals ungenutzte Chance zur Befestigung der Demokratie an. Als im Herbst 1932 die bereits abgesetzte PreußenRegierung in Person von Arnold Brecht erneut Personalunionen anbot, um so essentielle demokratische Strukturen zu erhalten, lehnten dies Papen und Schleicher ab, da sie die volle Macht in Preußen erstrebten.210 Der sog. Preußenschlag vom 20.7.1932, die Absetzung der preußischen Regierung durch eine Notverordnung Hindenburgs auf Drängen Papens, läutete das Ende von Preußens Staatlichkeit tatsächlich ein. Diese formale „Reichsexeku­ tion“, die realiter ein Staatsstreich war, ist eindeutig zu beurteilen: Das alte Preußen zerstörte das demokratische neue aus eigensüchtigen Motiven. Seine Protagonisten waren keine „Randpreußen“ wie Christopher Clark meint, sondern typische Repräsentanten der Traditionseliten aus Adel und Großgrundbesitz, Militär und Beamtentum, meist aus (alt-) preußischen Regionen. Dies gilt für Hindenburg, Schleicher, Papen, den Freiherrn von Gayl und weitere Führungsfiguren. Hindenburg ging diesen Weg sehr bewußt und legitimierte mit seinem Ansehen und seiner Amtsmacht die Zerstörung des demokratischen Preußen. Er billigte die völlige Entmachtung des Kabinetts Braun am 6.2.1933 und die Länder-Gleichschaltung, die Verordnung zur Außerkraftsetzung der Grundrechte nach dem Reichstagsbrand am 28.2.1933, das Berufsbeamtengesetz im April und das Verbot aller demokratischen Parteien im Juli, die Auslieferung von Polizei, Rundfunk und aller Staatsgewalt an die Nationalsozialisten, ja er beglückwünschte Hitler zu den Mordaktionen des 30.6.1934. Viele Bittbriefe ihm persönlich Bekannter um Schutz gegen klar rechtswidrige NS-Gewalttaten gab er unbewegt 210 Vondenhoff, Hegemonie, S. 173 ff., 214–218; Möller, Parlamentarismus, S. 534–554. Schulze, Otto Braun, S. 689–699, 704 f., 757–760; Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise der Republik, Paderborn 2000, S. 430–432; Anke John, Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933), Köln 2012, S. 362– 400; Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen 1927–1967, Stuttgart 1967, S. 220 ff., 427 ff; S. 310 f. listet Brecht sieben konkrete politische Fehler Hindenburgs und Papens auf. Eberhard Kolb/ Rudolf Morsey, Ein Staatsstreich? Die Reichsexekution gegen Preußen („Preußenschlag“) vom 20. Juli 1932 und die Folgen. Darstellungen und Dokumente, Berlin 2007, S. 11 ff.

248  V. Preußens politisches System ad acta oder an NS-Größen zur Beantwortung und schaute auch der Ausschaltung der Deutschnationalen tatenlos zu. Sogar Erich Ludendorff, inzwischen mit Hindenburg zerstritten, wies ihn mehrfach auf „Mißhandlungen in Schutzhaft“ und „unerhörte Rechtsbeugungen“ hin, aber selbst solche Warnungen vor kommendem Elend durch den NS-Staat fanden kein Gehör. Hindenburg und seine Entourage waren zwischen der unnötig forcierten Entlassung Brünings Ende Mai 1932 und der Hinnahme der Morde des 30. Juni 1934 ein Verhängnis für Preußen-Deutschland.211 Die Klage gegen Papens Handstreich vom 20.7.1932 blieb vor dem Staatsgerichtshof im politischen Kern erfolglos. Denn dessen Urteil verneinte zwar eine amtliche Pflichtverletzung Preußens gemäß Art. 48, Abs. 1 Reichsverfassung, aber hielt ein Einschreiten des Reichspräsidenten bei Störung von Ordnung und Sicherheit auch mit Militär gemäß Art. 48, Abs. 2 für gerechtfertigt. Die evident politische Dimension der Aktion taten die Richter ab: Spezifische (partei-) politische Ziele der Reichsregierung, die deren Handeln rechtwidrig gemacht hätten, seien weder erkennbar gewesen noch nachgewiesen worden. Aufgrund der Artikel 17, 60 und 63 über freiheitliche Verfassung und Mitwirkung der Länder verbleibe der Regierung Braun aber die Vertretung gegenüber Landtag und Reichsrat. Als Braun deshalb im November 1932 Diensträume, Aktenzulieferung und bürokratische Einbindung verlangte, scherten sich Papen, Bracht und v. Gayl wenig um das Urteil und gaben negative Antworten: Akten müsse man nicht generell zuliefern und einzelne Schreiben würden nur über die Reichskommissare zugestellt. Die Koalitionsregierung Braun sollte, auf drei kleine Büros beschränkt und vom bürokratischen Geschäftsgang abgeschnitten, allmählich „verhungern“. So zertrümmerten Deutschnationale Preußens Demokratie noch bevor Nationalsozialisten sie ganz beseitigten. Da Papens Staatskommissar Franz Bracht herrschte und der die Regierung Braun vertretende Ministerialdirektor Arnold Brecht vergeblich dagegen opponierte, entstand das Bonmot: Brecht hat das Recht, Bracht hat die Macht oder kurz: Bracht bricht Brecht. Ein letztes Aufbäumen des demokratischen Preußen trat zutage, als Hitler bereits Kanzler war und den Reichstag auflöste. Die Landtagsauflösung bedurfte nämlich verfassungsgemäß einer Mehrheit im Dreimänner-Kollegium von Minister-, Landtags- und Staatsratspräsident. Da Braun diese Außenvertretung Preußens gem. Staatsgerichtshofsurteil noch verblieben war, lehnten er und Adenauer gegenüber Landtagspräsident Kerrl (NSDAP) Neuwahlen ab. Papen, nicht etwa Hitler, initiierte nun einen zweiten Preußenschlag, indem er Reichspräsident Hindenburg am 6.2.1933 die völlige Entmachtung des Kabinetts Braun dekretieren ließ, wiederum gestützt auf den vom Staatsgerichtshof erst wenige Monate zuvor verworfenen § 48, Abs. 1. Die Regierung Braun habe durch ihr Verhalten 211 Clark, Preußen, S. 741. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 809–826, 843–852. Zur Authentizität von Ludendorffs Warnungen vgl. online: http://studiengruppe.blogsport.de/2013/08.

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eine „Verwirrung im Staatsleben“ ausgelöst, lautete die zynische Begründung. Als einzige konkrete Verfehlung benannte man, daß Braun die Auflösung des Landtags verweigert habe. Im Dreimänner-Kollegium überstimmten nun Kerrl und der Braun ersetzende Papen den Staatsratspräsidenten Adenauer, der protestierend den Raum verließ, und setzten so die Landtagsauflösung durch. Bei den bereits von Gewaltakten und Rechtsbrüchen begleiteten Neuwahlen auch in Preußen am 5.3.1933 erhielten dann, dem Reichstag vergleichbar, die NSDAP 43 % und die DNVP 9 % der Stimmen bei 13 % für KPD sowie immerhin noch 17 % für SPD und 14 % für das Zentrum. Die neue Landtagsmehrheit billigte die Absetzung der Minister des alten Kabinetts Braun und diese gaben am 25.3.1933 ihre Amtsniederlegung offiziell bekannt.212 Bei allen Defiziten oder Fehlern der Demokraten 1918–32 bleibt evident: Den Untergang von Republik und Freistaat 1932/33 haben zuvörderst die deutschnationale Rechte, Hindenburg und seine Berater sowie in deren Windschatten die Nationalsozialisten zu verantworten. Dies bleibt deren unleugbare historische Schuld. Sie zerstörten Preußen gerade deshalb, um seine politisch und kulturell gelungene Verwestlichung zu revidieren. Es war ein epochales Glück für die Bundesrepublik nach 1945, daß rechtsbürgerliche Kräfte analog der DNVP gänzlich diskreditiert dastanden und politisch bedeutungslos blieben. Papens Rechtfertigungsschrift „Der Wahrheit eine Gasse“ (1952) wurde zu Recht als „die Wahrheit in die Gosse“ bespottet. Mit dem kurzfristig improvisierten, aber eindrucksvoll inszenierten „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 stellten sich die Nationalsozialisten scheinbar in die Tradition von Preußen als Versöhnung von „alter Größe und junger Macht“. Das Potsdamer Rührstück nutzte Goebbels geschickt zur Propagierung „nationaler Einheit“ durch die Hitler-Regierung. Den deutschnationalen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kirchen wurde eine Kontinuität vorgegaukelt, die sich binnen Monaten als Täuschung erwies. Schon am 5.10.1930 hatte Goebbels in seinem Hausblatt „Der Angriff “ geschrieben: „Wer Preußen hat, der hat das Reich“ und im Wahlkampf 1932 proklamierte er: „Die Idee, die wir tragen, ist preußisch. Die Wahrzeichen, für die wir fechten, sind von Preußengeist erfüllt, und die Ziele, 212 Schulze, Braun, S. 778–781. Der Rechtsbruch vom 6.2.1933 und die Auflösung der Provinzialvertretungen veranlaßten den Staatsrat zur Klage beim Staatsgerichtshof, aber der im März 1933 neu bestimmte, zu zwei Dritteln von NSDAP-Männern besetzte Staatsrat zog sie zurück. Die Wahlergebnisse 1933 nach Karl Otmar v. Aretin, The Forgotten Elections in Prussia, in: S. Wank u. a. (Hg.), The Mirror of History (Fs. F. Fellner), Santa Barbara/Oxford 1988, S. 451–465. Beste Ergebnisse erzielte die NSDAP in den Regierungsbezirken Gumbinnen und Allenstein (60 %–64 %), die SPD in Kassel und Magdeburg (25 %–31 %), das Zentrum in Aachen (38 %), die KPD in Berlin, Herne, Gelsenkirchen (23 %–25 %), die DNVP in Ost- und Westpreußen (11 %–13 %). Michael F. Feldkamp, War die Reichstagswahl vom 5. März 1933 noch frei?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.5.2011.

250  V. Preußens politisches System die wir zu erreichen trachten, sind in verjüngter Form die Ideale, denen Friedrich Wilhelm I. , der große Friedrich und Bismarck nachstrebten.“ Die berühmte Propaganda-Postkarte von 1933 „Was der König eroberte, der Fürst formte, der Feldmarschall verteidigte, rettete und einigte der Soldat“ steht dafür. Die Traditionen von Preußen, die die Nationalsozialisten betonten, unterlagen spezifischer Selektion: Starker Staatsgedanke und Militärtradition, Großmachtanspruch, Ostexpansion und Durchhalten gegen eine „Welt von Feinden“ wie seit Friedrich II., Disziplin und Gehorsam gegen die Führung, die gestufte Volksgemeinschaft des suum cuique sowie nicht zuletzt die hypostasierte Metapher vom Kampf. Diese selektive Vereinnahmung blendete andere Traditionen wie normgebundene Verwaltung, Rechtsstaat oder kulturellen Pluralismus gänzlich aus. Trotzdem dienten die Versatzstücke der Idee Preußen ideologisch als Brücke zwischen den antiwestlich, antiparlamentarisch, völkisch und antisemitisch eingestellten Deutschnationalen und dem Nationalsozialismus, ja erfüllten diese Funktion in verhängnisvoller Weise. Gemeinsam beseitigten beide die Reste der demokratischen Republik bis Mitte 1933, als die Zähmungshoffnung der Deutschnationalen endgültig zerplatzte und ihre Organisationen aufgelöst oder in NS-Gliederungen überführt wurden. Auf Preußens Vorbild ließ Joseph Goebbels in Ufa-Streifen über Friedrich II. bzw. Bismarck bis hin zum Durchhalte-Film „Kolberg“ rekurrieren und er beschwor nach dem Tode Roosevelts in den letzten Wochen im Hitler-Bunker 1945 ein neues „Mirakel des Hauses Brandenburg“. Diese späten Bezugnahmen auf Preußen waren nur noch illusionäre Seifenblasen, belegten aber letztmals die Instrumentalisierbarkeit der rechtsnationalen Preußen-Deutung.213

213 Reiner Möckelmann, Franz v. Papen. Hitlers ewiger Vasall, Darmstadt 2016. ­Martin Sabrow, Der „Tag von Potsdam“. Zur doppelten Karriere eines politischen Mythos, in: Ch. Kopke/W. Treß (Hg.), Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933 und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, Berlin 2013, S. 47–85. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 488 und Hans Mommsen, Preußentum und Nationalsozialismus, in: W. Benz u. a. (Hg.), Der Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1993, S. 29–41, S. 34 (Goebbels-Zitate). Schlenke (Hg.), Preussen Ploetz, S. 303 (Postkarte). Preußen im Film, Reinbek 1981 (= Bd. 5 von Preußen – Versuch einer Bilanz). Zur Vereinnahmung knapp und treffend Bömelburg/Lawaty (Hg.), Preußen, S. 55–62, zur realhistorischen Demontage vgl. Sabine Höner, Der nationalsozialistische Zugriff auf Preußen. Preußischer Staat und nationalsozialistische Machteroberungsstrategie 1928–1934, Bochum 1984, bes. S. 409 ff.

VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­ gesellschaft Bildende Künste, Musik, Literatur, Architektur – Denk­ mäler und politische Feste – Bildung und Wissenschaft – Protestantismus und Katholizismus

Preußens Charakter als Monarchen-, Macht- und Militärstaat bis 1918 wird häufig und nicht zu Unrecht betont. Demgegenüber die andere Seite, Preußen als europäischer Kulturstaat, herauszustellen, ist kein Unternehmen beschönigender Stilisierung, sondern nötige Ergänzung eines sonst einseitigen Bildes. Denn obrigkeitlicher Zwang oder materielle Kargheit können nicht erklären, warum so viele Kulturschaffende zuwanderten und sich die Künstler, Schulmänner und Wissenschaftler jahrhundertelang in den Dienst Preußens stellten, warum Preußens Bildungssystem und die Wissenschaftsförderung seit dem frühen 19. Jahrhundert häufig als vorbildlich angesehen wurden, warum Kultur und Kunst zumal in Preußens großen Städten gediehen und kulturelle Hervorbringungen aus Preußen bis heute ihren Rang behaupten. Gesellschaftliche Akteure wirkten im Kulturbereich vielfach gestaltend mit. Eine Vielzahl von neuen Einzelarbeiten liegt breit verstreut zu kulturellen Feldern vor. Sie werden in diesem Band erstmals konzentriert auf Preußen bezogen und diachron synthetisiert sowie zugleich in Beziehung zum Faktor Staat gesetzt. Dieser bisher nirgends vorliegende Ansatz bezieht in die Trias Staatskultur, Kulturstaat und Bürgergesellschaft auch die Bereiche Bildung und Wissenschaft sowie die christlichen Kirchen ein, umfaßt also weite kulturelle Dimensionen. Dies bedingt und rechtfertigt den längeren Umfang des folgenden Kapitels.214 Drei Leitfragen lauten hierfür: Welche Hauptentwicklungen kennzeichneten Kultur, Bildungs- bzw. Wissenschaftsbereich sowie die Kirchen in Preußen und welche Persönlichkeiten lassen sich auf dem Höhenkamm im europäischen Kontext ausmachen? Auf welche Weisen interagierten die kulturellen Bereiche mit Preußen als Monarchie und Freistaat vom 18. zum 20. Jahrhundert? Wie wirkten die kulturellen Phänomene auf Preußens Geltung als moderner Staat, ja seine „deutsche Mission“ zurück, und was wirkte über die Zeiten bis heute fort? 214 Gisela Mettele/Andreas Schulz, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Preußen als Kulturstaat im 19. Jahrhundert, Paderborn 2014, S. 7–21. Die Darstellung von Heinz Kathe, Preußen zwischen Mars und Musen. Eine Kulturgeschichte von 1100 bis 1920, Leipzig 1993, ist weitgespannt und opulent bebildert, aber aus DDR-marxistischer Sicht verfaßt und 25 Jahre alt, so daß sie nicht den aktuellen Forschungsstand reflektieren kann.

252  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Angesichts unterschiedlichen Verständnisses des weitschichtigen Phänomens Kultur seien die hier verwandten definitorischen Festlegungen explizit dargelegt. Kultur umfaßt die geistigen und gesellschaftlichen Lebensformen, also die Sprach-, Ausdrucks-, Vorstellungs- und Wertewelten, materiell wie immateriell. Der Kulturbereich ist mehrfach segmentiert. Im engeren Sinne geht es um die Hochkultur, nämlich bildende Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur), Musik, Literatur sowie die Gesamtkunstwerke Theater bzw. Oper. Dazu treten die institutionalisierte Bildung und Wissenschaft (Disziplinen), Religion sowie gemäß einer weiteren Definition politische Kultur als Schnittpunkt von Staatstheorie und Werthaltungen, politischer Praxis und Symbolisierung (Rituale, Denkmäler). Der Kulturbereich war zeitlich nach Epochen oder Jahrhunderten sowie regional (Staaten, Städte, plattes Land) offenkundig unterschiedlich und dynamisch. Auf basaler Ebene kann man die Werke einzelner Kulturschaffender oder Wissenschaftler betrachten. Kultur und Kunst dienen erstens dem Ausdruck und der Weltdeutung von Individuen, zweitens der Repräsentation von Staat, Kirche oder einzelner Sozialgruppen sowie drittens wirtschaftlichen Zwecken (Einnahmen, Geldanlage). Die Grundfrage, ob es überhaupt jemals eine spezifische preußische Kunst, Bildung und Wissenschaft gab, läßt sich weithin verneinen, denn meist muß man von diesen Phänomenen in Preußen sprechen. Allerdings finden sich doch regionale Ausprägungen und spezifische Massierungen. Ausgehend von den im multipolaren Europa abwechselnd tonangebenden Ländern (primär Niederlande, Italien, Frankreich) war der Kulturtransfer bereits im 17. Jahrhundert ständige Praxis. Die längsten Perioden profitierte Preußen davon und nahm häufig mehr als es gab. Anders gewendet läßt sich eine idealtypische Systematisierung des Bereichs Kultur mit der Dreiteilung Staatskultur – Kulturstaat – gesellschaftliche Kulturen vornehmen. Staatskultur im engeren Sinne umfaßt dabei offizielle Repräsentationen (Gebäude, Denkmäler, Feiern). Mit Kulturstaat werden breite Felder bezeichnet, auf denen staatliche Aufsicht und Förderung eine unterschiedlich strikte Rahmensetzung für mitwirkende Player bedeutete: Schulen, Hochschulen, Museen, Theater, Protestantismus. Gesellschaftliche oder Bürger-Kulturen bestanden in nur mäßig reglementierbaren staatsfernen Bereichen: Freie Kunstszene, Großstadtleben, Katholizismus, ethnische Minderheiten, Arbeiterbewegung. Im Zeitverlauf wurden zunächst der zweite Bereich, dann der dritte stetig bedeutsamer. In der Gegenwart ist der gescheiterte Staat Preußen vor allem durch sein kulturelles Erbe öffentlich präsent und wird an authentischen Orten auf vielfältige Weisen präsentiert, erforscht und debattiert.215 215 Zur Definition von Kultur vgl. Silvia S. Tschopp/Wolfgang J. Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S.  33–36, 50. Hendrik Thoß, Kunst in Preußen – Preußische Kunst (Tagungsbericht), in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 22 (2012), S. 115–130 (kaum spezifisch preußische Kunst). Wienfort, Geschichte Preußens, S. 119 (Preußens Gegenwart als Kulturphänomen).

1. Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert 

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Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert

Noch im mittleren 17. Jahrhundert besaß Brandenburg-Preußen keine kulturelle Strahlkraft im europäischen Vergleich und sehr wenige bedeutende einheimische Künstler, Wissenschaftler oder Kunsthandwerker. Im Vergleich mit Habsburg, Wettin oder Wittelsbach waren die Schlösser der Hohenzollern, Parvenues unter den Reichsfürsten, klein und das Kulturniveau Brandenburgs zurückgeblieben. Weder die Dynastie noch die prunkarmen protestantischen Kirchen noch der landsässige Adel traten in großem Stil als Auftraggeber oder Förderer auf. Als erster Hohenzoller ging Kurfürst Joachim II. (1535–1571) daran, durch Ausbau des Hofs, des Berliner Stadtschlosses und kulturelle Manifestationen Ansehen zu gewinnen; er ließ durch beide Cranachs Porträts nicht zuletzt von sich selbst anfertigen, 1570 die Hofkapelle gründen und gab Millionen Gulden für herrscherliche Repräsentation aus. Maßstab für Hof wie allgemeine Kulturentwicklung war Sachsen und primär sächsische Künstler wurden engagiert. Unter den Nachfolgern, wegen Mittelknappheit und Kriegen, zuvörderst dem Dreißigjährigen Krieg 1618–48, blieb das Projekt kultureller Hebung erneut stecken. Dem Kunsthistoriker Helmut Börsch-Suppan zufolge war Brandenburg-Preußen bis ins spätere 18. Jahrhundert „für die Kunst ein karger Boden“. Auch Zentren der Gelehrsamkeit waren rar.216 Wie in der Wirtschaft ging es nach 1648 um Aufholen durch Importe und Immigranten. Wesentlicher Impulsgeber waren zunächst in Preußen wie anderen Staaten die Monarchen, wenngleich es auch bereits gesellschaftliche Initiativen gab, nämlich Städte, Kirchen und adelige wie bürgerliche Private. Kurfürst Friedrich Wilhelm orientierte sich weithin an Holland in der Ausformung des Barock, in der Malerei, in der Landschaftsgestaltung. Seine Gemahlinnen Louise Henriette von Oranien und Dorothea von Holstein-Glücksburg trugen maßgeblich, ja bestimmend dazu bei. Von den Ausweich-Residenzen der Kriegszeit Königsberg bzw. Kleve 1652 in das kaum 8.000 Einwohner große Berlin zurückgekehrt, ließ der Kurfürst das Stadtschloß erweitern, Lustgarten und Lindenallee anlegen, das Potsdamer Stadtschloß umbauen und die Schlösser Oranienburg und Köpenick errichten. Dies war der Beginn der Berlin-Potsdamer Residenz-Landschaft, von Niederschönhausen bis Rheinsberg, von Königswusterhausen bis Potsdam. Auch 216 Achim Beyer, Die kurbrandenburgische Residenzlandschaft im „langen“ 16. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 34 f., 128 f., 138 f., 277–284. Zu Joachim II. Helmut Neuhaus, Die brandenburgischen Kurfürsten im Jahrhundert der Reformation (1499–1598), in: Kroll (Hg.), Preußens Herrscher, S. 52–73, S. 62–68. Gerd Bartoschek u. a., Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern. Kirche, Hof und Stadtkultur, Berlin/München 2009 (Katalog), S. 42 ff. Helmut Börsch-Suppan, Künstlerwanderungen nach Berlin vor Schinkel und danach, München/Berlin 2001, S. 8: „keine nennenswerte bodenständige Schicht von Künstlern“ und S. 335 (Zitat).

254  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft die Hofmaler des Kurfürsten Friedrich Wilhelm kamen aus den Niederlanden, aber die Gemäldesammlung blieb noch klein. 1654 gab er den Klever Ständen das Privileg zur Gründung der Universität Duisburg als reformiertes Bildungszentrum der Westgebiete. 1667 verkündete er den – vom schwedischen Reichsrat Bengt Skytte von Duderhof entwickelten – Plan einer Universitas Brandenburgica Gentium, Scientiarum et Artium in Tangermünde als einer für ganz Europa offenen Gelehrtensozietät „Sophopolis“ und Stätte ihres freien Austausches einschließlich Kunstkammer, Labor, Druckerei, Ateliers. Krieg und Finanznot verhinderten den Plan. 1658 gab Friedrich Wilhelm den Aufbau einer Churfürstlichen Bibliothek in Auftrag, die rare Bücher zu allen Wissenschaften und Künsten auch in fremden Sprachen sammeln sollte. Ab 1661 den Beamten sowie ausgewähltem Publikum zur Verfügung stehend, umfaßte sie 1688 ca. 20.000 Bände. Sie bildeten den Grundstock zur heutigen Staatsbibliothek zu Berlin.217 Bauliche Anstrengungen unternahm seit 1688 Kurfürst Friedrich III., ab 1701 König Friedrich I. Von seinem Streben nach monarchischer Repräsentation und der Königswürde profitierte die Kultur in vielfacher Hinsicht. Ab 1695 entstanden das Zeughaus des Schloßbaumeisters Jean de Bodt und seines Nachfolgers Andreas Schlüter, der auch das Stadtschloß erheblich erweiterte und es barock umgestaltete. Der Bildhauer-Architekt Schlüter fügte auch Gesims-Skulpturen hinzu, was lange danach als preußentypisch galt. Er schuf in Berlin ferner ein Hauptwerk der nordeuropäischen Barock-Plastik, das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten, in modern wirkender Spannung zwischen Typus und Individuum. Dieses zeitlich früheste Großdenkmal der Hohenzollern steht heute vor dem Schloß Charlottenburg, das als private Wohnstätte für Kurfürstin Sophie Charlotte entstand, aber, seit 1707 erweitert, auch als zweite Residenz diente. Friedrich I. machte durch Ankäufe das Antikenkabinett im Berliner Schloß bedeutend, ließ teils bis heute erhaltene, umfangreiche Silbergerät-Sammlungen anlegen und vergab Aufträge zu Bildteppichen mit Motiven aus dem Leben seines Vaters sowie zu Fayencen, teilweise schon an Berliner hugenottische Werkstätten. Ein Buchtitel von 1912 benannte den primären Zweck monarchischer Kunstförderung im 18. und 19. Jahrhundert: Die Kunst im Dienst der Staatsidee. Der Bezug auf die Dynastie blieb zentral.218 217 Irmtraud Thierse, Architektur, Stadtgestaltung und Gartenkunst, in: Gert Streidt/­ Peter Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, Köln 1999, S. 76–89; Gerd Bartoschek, Malerei, in: Ebd., S. 132–138. Saskia Hüneke, Die Kunst im Zeitalter des Grossen Kurfürsten, in: Hans-Ulrich Kessler (Hg.), Andreas Schlüter und das barocke Berlin, München 2014, S. 32–63. Volker Wittenauer, Im Dienste der Macht. Kultur und Sprache am Hof der Hohenzollern, Paderborn 2007, S. 64 ff. (Universitätsplan 1667, Bibliothek). 218 Irmtraut Thierse, Architektur, in: Streidt/Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, S. 90–108, Bartoschek, Malerei, in: Ebd., 139–142 und Burkhardt Göres, Kunsthandwerk, in: Ebd., S. 144–153. Kessler (Hg.), Andreas Schlüter und das baroc-

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Friedrich I. genehmigte zwei epochale Neugründungen: Die Reformuniversität Halle/S.  1694 und die Berliner Akademie der Wissenschaften 1700. Nach Halle berief man Gelehrte aus dem sächsischen Leipzig, zuvörderst den Juristen Christian Thomasius und 1706 den Naturrechts-Philosophen und Mathematiker Christian Wolff. Sie hielten in deutscher Sprache Vorlesungen und lehrten mit deutschsprachiger Publizistik breitenwirksam. Zugleich wirkte ab 1688 der Staatstheoretiker Samuel von Pufendorf als Richter und Historiograph der Hohenzollern in Berlin. Ersterer lehrte, daß sich die von egoistischen Individuen geübte Gewalt in der Welt durch Machtkonzentration beim Staat minimieren ließe; der Staat könne am besten Frieden und Wohlergehen besorgen. Damit rechtfertigte Pufendorf das Auftreten des Kurfürsten Friedrich Wilhelm beispielsweise gegen die Stände. Wolff vertrat die naturrechtliche Idee vom Herrschaftsvertrag. Dieser sei von Fürst und Untertanen geschlossen, einzuhalten und die so begründete legitime Herrschaft diene Staat wie Gesellschaft. Der Staat verkörpere das Gemeinwohl und vermehre die Wohlfahrt, dies legitimiere ihn und erfordere die Loyalität der Untertanen. Privat-individuell waren Zweifel am Staat erlaubt; ob die Untertanen aber bei tyrannischer Fürstenherrschaft ein Recht zu Vertragsauflösung und Widerstand besäßen, diese Frage blieb offen. Vielmehr wurde in Preußen und Deutschland von vielen Staatstheoretikern immer wieder das zirkelschlüssige Ideal beschworen, demzufolge der vernünftige Regent stets Sicherheit und Gemeinwohl befördere. Insgesamt rechtfertigte die naturrechtliche Philosophie im Verein mit der (noch zu behandelnden) pietistischen Theologie faktisch die Hohenzollern-Herrschaft. Das Kulturleben generell und die Berliner Akademie speziell förderte die Kurfürstin-Königin Sophie Charlotte maßgeblich, eine der bedeutenden Frauengestalten des Hofes. Präsident wurde der aus ihrem heimatlichen Hannover herbeigerufene Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Friedrich I. versprach sich Prestigewinn davon. Unter dem Motto theoria cum praxi sollte die Akademie sich praktischen Lösungen für technische Probleme widmen und deutschsprachige Kultur fördern. Sie betrieb früh eine Sternwarte, die als garantierte Einnahmequelle das Kalendermonopol besaß. Wegen Finanzengpässen und bewußter Vernachlässigung durch Friedrich Wilhelm I. gedieh dieses Programm bis 1741 nicht weit. Den Vergleich mit Leipzig, einem Zentrum der Gelehrtenwelt, wo der gebürtige Ostpreuße Johann Christian Gottsched seit 1724 jahrzehntelang als deutscher „Literaturpapst“ lebte oder mit dem künstlerisch brillierenden Dresden konnte das karge Berlin damals nicht bestehen.219 ke Berlin, S. 222 ff. Georg Malkowsky, Die Kunst im Dienst der Staatsidee. Hohenzollerische Kunstpolitik vom Großen Kurfürsten bis auf Wilhelm II., Berlin 1912. 219 Frank Göse, Friedrich I. (1657–1713). Ein König in Preußen, Regensburg 2012, S. 292–298 (Universität und Akademie). Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, S. 54 ff., 199 ff. (Wolff). Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaf-

256  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Die Malerei profitierte von der 1696 gegründeten Akademie der Künste, die Friedrich I. nach Pariser Vorbild als Pflanzschule einheimischer Künstler unter monarchischer Kontrolle einrichten ließ. Freilich erreichten die Künstler dort nicht den ersten Rang wie in Paris, Wien oder den Niederlanden. Grundsätzlich fehlte in Berlin eine breite Schicht finanzkräftiger Auftraggeber. Führende Malerpersönlichkeit war nach 1711 der Franzose Antoine Pesne, als Akademiedirektor auch schulbildend, der in Berlin bis 1757 zahlreiche Porträts schuf, u. a. berühmte von Friedrich Wilhelm I. (1729) bzw. von Friedrich II. als Kronprinz und Feldherr (1738/1755). Pesne arbeitete auch für andere Höfe, zuvörderst Dresden, und übernahm kunstpolitische Missionen – nolens volens, da Friedrich Wilhelm I. ihm 1713 das Gehalt auf 600 Taler halbierte. Der Soldatenkönig beendete den höfischen Glanz weithin, entließ Personal, legte Schlösser still und senkte die Hofkosten drastisch. Der Lustgarten wurde Exerzierplatz, die Orangerie am Stadtschloß Marstall und 150 chinesische Vasen gegen rund 600 zuvor sächsische Soldaten als Grundstock zu zwei Dragoner-Regimentern getauscht; in Dresden sind solche Dragonervasen noch heute zu sehen. Viele Künstler verließen Berlin. Friedrich Wilhelms I. bekanntester Beitrag zur höfischen Kultur bestand in der Inszenierung seiner „langen Kerls“, einer Garde aus Soldaten von mindestens 1,88 m. In seinem letzten Jahrzehnt orderte er immerhin erheblich Silberware aus Berliner und Augsburger Werkstätten. Der Soldatenkönig dekretierte zwecks Landesentwicklung 1717 sogar die Volksschulpflicht winters. Die Alphabetisierung erreichte freilich erst binnen eines Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung, denn in der ländlichen Praxis blieb Kinderarbeit weit verbreitet.220 Friedrich Wilhelm I. besaß große Bedeutung bei der Stadtplanung und -bebauung. In Berlin trieb er den Aufbau der Dorotheen- und Friedrichstadt voran, begrenzt von Pariser-, Leipziger- und späterem Mehring-Platz. Er verschenkte Baugrund und Baumaterial an Adels- und Beamtenfamilien mit der Auflage, dort Stadtpalais zu errichten, in der Wilhelmstr. z. B. an die Schulenburg (später Reichskanzlei), die Schwerin (zuletzt Reichspräsidentensitz) und Baron Vernezobre (ab 1934/39 Reichssicherheitshauptamt). Auch für Potsdam ordnete er Stadterweiterungen an, wo seit den 1730er Jahren das holländische Viertel erwuchs, und die barocke Garnisonkirche des gebürtigen Brandenburgers Philipp ten zu Berlin, Bd. 1,1, Berlin 1900, S. 27 ff. (Gründung). Katrin Kohl, Die Berliner Akademie als Medium des Kulturtransfers im Kontext der europäischen Aufklärung, online: perspectivia.net/content/publikationen/friedrich300-colloquien/­friedrichkulturtransfer/kohl_akademie. Detlef Döring, Daniel Ernst Jablonski, die Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften und die Leipziger Gelehrtenwelt, in: J. Bahlcke/W. Korthaase (Hg.), Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700, Wiesbaden 2008, S. 435–461. 220 Monika Hingst (Redaktion), „Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“. Ausstellungskatalog zum 300jährigen Jubiläum der Akademie der Künste, Berlin 1996, S. 25–29, 47 (Kunstakademie zweitklassig). Peter Baumgart, Friedrich Wilhelm I., in: Kroll (Hg.), Preußens Herrscher, S. 134–159, S. 141 (Hofetat).

1. Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert 

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Gerlach entstand. Die Stätte des „Tags von Potsdam“ 1933 wurde 1968 gesprengt und steht bis heute im Widerstreit um einen Wiederaufbau, den manche als Symbol für Frieden und lokale Traditionen begrüßen, andere als naive Huldigung für eine antidemokratische Ikone rechter Kreise ablehnen. Kulturell waren Brandenburg-Preußen und Berlin 1740 in der Regel auf Importe angewiesen, wenngleich ein Danziger wie Schlüter bald als Einheimischer galt und einige Firmen von Zuwanderern bereits auf europäischem Niveau produzierten. Unter Friedrich II. setzte sich das fort; für ihn war Frankreich das Maß aller Dinge. Der Monarch war Feldherr und Politiker, aber besaß auch Talente als Schriftsteller, Komponist und Philosoph. Nicht zuletzt aufgrund dieser im Vergleich mit anderen Fürsten zahlreichen Begabungen erhielt Friedrich das Prädikat „der Große“. Inzwischen weiß man, daß Friedrich II. sein Leben als bewußte, ständige Selbstinszenierung einrichtete und egomanisch nach Ruhm strebte. Er arbeitete seit 1737 darauf hin, „der Große“ genannt zu werden. Dazu diente auch die Kultur: Bauten und Kunstkäufe, diverse eigene Schriften und Beziehungen zu berühmten Geistesgrößen.221 Ähnlich wie Schlüter für Friedrich I. und später Langhans für Friedrich Wilhelm II. sowie Schinkel unter Friedrich Wilhelm III. wurde der Pesne-Schüler Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff der Hauptarchitekt für Friedrich II. Er leitete die Arbeiten in Rheinsberg, Sanssouci, neuen Schloßflügeln von Monbijou und Charlottenburg. Der verwendete Stil war das friderizianische Rokoko, weniger überladen-verspielt und geradflächiger als im katholischen Süddeutschland, und seit den 1780er Jahren in den Frühklassizismus übergehend. In Berlins Mitte planten Friedrich und Knobelsdorff das Forum Fridericianum. Nach dem bis 1743 errichteten Opernhaus Unter den Linden fehlte kriegsbedingt das Geld, so daß das Palais für Prinz Heinrich wenig repräsentativ ausfiel und das geplante Akademie-Gebäude erst bis 1780 als Königliche Bibliothek hinzutrat – übrigens baulich eine Kopie des Michaeler-Trakts der Wiener Hofburg. Die Weiheinschrift „nutrimentum spiritus“ wurde populär als „Schnaps ist auch ein Lebensmittel“ verballhornt. Als „Fanfaronade“, also Prahlerei, und Machtdemonstration nach dem Siebenjährigen Krieg ließ Friedrich 1763–69 das Potsdamer Neue Palais mit 200 Räumen durch Carl von Gontard in (reduziert) hochbarocken Formen aufführen. Schwieriger Grund und schnell gezogene Grundmauern bereiten noch heute (Feuchtigkeits-) Probleme. Bis auf die Fenster- und Gesims-Verkleidungen wur221 Laurenz Demps, Berlin Wilhelmstraße. Eine Topographie preußischer-deutscher Macht, Berlin 1994, S.  45  ff. und Melanie Martens, Berliner Barockpaläste, Berlin 2003, S.  38–59 (Adelspalais). Michael Epkenhans/Carmen Winkel (Hg.), Die Garnisonkirche Potsdam, Freiburg 2013, S.  69  ff., 133  ff. und Matthias Grünzig, Für Deutschtum und Vaterland – Die Potsdamer Garnisonkirche im 20.  Jahrhundert, Berlin 2017. Jürgen Luh, Der Große. Friedrich II. von Preußen, München 2011, S. 9 f., 41, 98 ff. (Selbstinszenierung).

258  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft de es aus Ziegeln errichtet. Denn wegen Mangel an teuren Natursteinen waren rote, später auch gelbe Ziegel die Mauersteine in Preußen, oft verputzt, häufig anstelle von (kostspieligen) Säulen mit vorspringenden Risaliten und Pilastern zur Gliederung. Mit verputzten Ziegelbauten mußten die Architekten noch bis ins 20. Jahrhundert auskommen und dieser auf Havelkähnen angefahrene Baustoff gab dem Klassizismus bzw. Historismus der Kernlande eine eigene Note. Zusammen mit Terracotta-Schmuckformen und Bauplastik, z. B. Gesimsfiguren, waren das Kennzeichen eines materialbedingten preußischen Stils. In der Malerei sammelte Friedrich wankelmütig, zuerst bevorzugt Antoine Watteau, später ließ er Rubens und van Dyck ankaufen, Zufällen des Kunstmarkts und Dresdener Vorbild folgend; Hohenzollern-Porträts fehlten. Die Bildergalerie und die Skulpturen in Sanssouci wurden Staatsgästen mit Imponiergeste gezeigt, aber blieben privates Residuum. Die antike Bronzestatue des Antinous freilich, später „betender Knabe“ genannt, eine europaweit bekannte homoerotische Ikone und Indiz für Friedrichs kaum ausgelebte, jüngst von Tim Blanning für evident erklärte Homosexualität, stand nach dem 5000 Taler teuren Ankauf an augenfälliger Stelle in Sanssouci, wo eine Kopie noch heute zu finden ist. Ansonsten widmete Friedrich II. zumal ab 1763 der bildenden Kunst wenig innere Beteiligung, er orientierte sich am Üblichen und alles diente dem Zweck seiner Selbstdarstellung. Die Vedutenmalerei, Architekturansichten nach dem Vorbild des Venezianers Bellotto gen. Canaletto in Dresden und Wien, bildete freilich früh eine Berliner Spezialität, auch auf KPM-Porzellan.222 Der universitäre Bildungsbetrieb und die Volksbildung waren ihm kein besonderes Anliegen. Im Gegenteil, er verzichtete auf persönlichen Kontakt mit Professoren, setzte die Etats der vier Landesuniversitäten auf 18.000 Taler für das führende Halle und ganzen 6.000 Talern für das kleine Duisburg fest und bezahlte Hochschullehrern nur je 400–1000 Taler Gehalt. In über 300 von 2000 kurmärkischen Dörfern gab es um 1768 keine Ortsschulen; für die 600.000 Einwohner Westpreußens sollten ab 1772 gerade 211 Schulmeister genügen. An den verdienstvollen Unterrichtsminister v. Zedlitz schrieb der König über die Bauernkinder: „sonsten ist es auf dem platten Lande genug, wenn sie ein bisgen lesen und schreiben lernen, wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretairs und so was werden.“ Die Politik strikter Ständetrennung sowie die Haltung, für Landkinder reichten Religion und Grundfertigkeiten als ethische 222 Hans-Joachim Giersberg, Architektur, Stadtgestaltung und Gartenkunst, in: Streidt/ Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, S. 158–223 und Gerd Bartoschek, Malerei, in: Ebd., S. 238–245. Kunisch, Friedrich der Große, S. 263–271. Blanning, Frederick the Great, S. 55 ff., S. 189–194. Helmut Börsch-Suppan, Brandenburg und Sachsen – Die Spannungen im Kunstleben unter Friedrich dem Großen, in: F. Göse (Hg.), Friedrich der Große und die Mark Brandenburg, S. 15–37. Rolf Bothe (Hg.), Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17.  Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1987, S. 20 ff.

1. Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert 

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und alltagspraktische Basis aus, standen dahinter. Von Großtaten Friedrichs II. für Universitäten und Volksschulen kann somit nicht die Rede sein.223 Wiewohl Friedrich II. seinem Großvater Hofkosten als Verschwendung vorhielt, verschlang auch sein persönliches Repräsentationsbedürfnis viel Geld. Daß er ein spartanisch einfach lebender König gewesen sei, ist Legende. Die Schatullrechnungen, Verzeichnisse seiner Privatausgaben aus Staatseinnahmen, weisen nämlich aus, daß er jährlich sechsstellige Summen verausgabte – für Austern und Champagner, verschenkbare edelsteinbesetzte Tabatièren und dekorative Luxuswaren. Allein für die (Gewächshäuser-) Produktion von Südfrüchten für seine Tafel auch im Winter verausgabte er wohl über 500.000 Taler. Viele frühneuzeitliche Monarchen verwandten hohe Mittel für Luxus und machten auch Schulden, im besten Falle zum finanziellen Gewinn für Künstler: Joachim II. Mitte des 16. Jahrhunderts, Friedrich I. um 1700, Friedrich Wilhelm II. ab 1786. Auch Friedrich II. gab Millionen für Bauten und Repräsentation ausgab, wegen wirksamer Steuerschraube formal ohne Schulden. Friedrich II. führte eine weitere Kontinuität preußischer Monarchen seit dem frühen 18. Jahrhundert fort, indem er sich ganz auf den Raum Berlin-Potsdam konzentrierte. Fernere Orte waren für die Monarchen fast belanglos: Das Königsberger Schloß wurde erst ab 1806 wieder benutzt, das Klever gar nicht besucht, es gab wenige monarchische Bauten oder auch nur längere Aufenthalte in Magdeburg, Stettin und Breslau. In Potsdam hingegen verwandte Friedrich fünf Mio. Taler für Schlösser, über drei Mio. für repräsentative Häuser (-Fassaden), etwa den Palast Barberini, und steigerte auch die Einwohnerzahl auf 20.000, freilich inklusive 8.000 Militärpersonen, für die bald große Kasernen entstanden. Der Zivilist und Spötter Alexander von Humboldt sprach 1854 von Potsdam als der „öden Kasernenstadt“. Friderizianische Bauten, u. a. das von Knobelsdorff erweiterte Stadtschloß, prägten freilich das Antlitz Potsdams als Gedächtnisort der Hohenzollern bis zur Kriegszerstörung 1945. In Berlin wie anderen Haupt- und Residenzstädten des Ancien Regime besaßen die Monarchen eine Sanktions- und Kontrollfunktion; Opern- oder Konzerthäuser, Akademien oder Museen (zunächst „fürstliche Kunstkammern“), alle hingen von ihrem Wohlwollen ab. In Handels- und Seestädten waren Bürger freier – Leipzig etwa besaß seit 1693 ein kommunales Opernhaus, seit 1781 Gewandhaus genannt – aber zugleich mehr auf Geschäfte denn auf Kulturinstitutionen konzentriert.224 223 Eduard Clausnitzer, Die Volksschulpädagogik Friedrichs des Großen und der preußischen Unterrichtsverwaltung seiner Zeit, Berlin 1902, Zitat S. 126. Generell: Bringmann, Friedrich der Große, S. 739–744 und Achim Leschinsky/Peter Martin Roeder, Schule im historischen Prozeß, Frankfurt/M. 1983, S. 78–122. 224  Online: http://quellen.perspectivia.net/bestaende/spsg-schatullrechnungen. Gerd Schurig, Die Blüte der Fruchtkultur im Sanssouci Friedrichs II., in: Friederisiko, Ausstellungsband, S.  56–61, S.  60. Peter-Michael Hahn, Geschichte Potsdams von den

260  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Auch im Bereich Gelehrsamkeit war Friedrich II. einseitig frankophil. Er schmückte sich mit französischen Geistesgrößen in Sanssouci, etwa Voltaire, wie mit Trophäen und bezahlte gut dafür. Mit allen geriet der Egomane früher oder später in Friktionen, denn unliebsame Gesinnungsäußerungen wurden registriert und bei Salärkürzung wanderten wegen Geldbedarf Zugezogene wieder ab. Die Akademie belebte er anfangs, machte den Mathematiker Pierre-Louis de Maupertuis 1741 zum Präsidenten, wollte den berühmten Enzyklopädisten JeanBaptiste d’Alembert 1763 dazu gewinnen und erbat, selbst Präsident ab 1764, den Rat etwa des Marquis de Condorcet bei der Zuwahl neuer, meist nicht-deutscher Akademie-Mitglieder. Das von Friedrich geholte Mathematik-Genie Leonhard Euler wirkte ab 1741 an der Akademie und verfaßte 380 Arbeiten. Die Akademie galt Friedrich II. mehr als die Universitäten und sie wirkte als Medium des Kulturtransfers aus Frankreich. Französisch war damals die Weltsprache und Friedrich mußte sie benutzen, um europaweit als „Großer“ zu gelten. Geringschätzung erfuhren deutsche Geistesgrößen: Winckelmann oder Lessing 1765 wurden nicht Hofbibliothekare, Moses Mendelssohn 1771 nicht zur Akademie zugelassen, Kant, Herder und Wieland erst 1787 (auswärtige) Mitglieder dieser Gelehrtensozietät. Euler verließ Berlin 1766 Richtung Petersburg nach Streitfällen um die Kooptation Lessings 1760 und Friedrichs Weigerung, die Dichter Gellert und Gottsched zur Akademie zuzulassen. Die deutsche Sprache sah Friedrich als provinziell an, sie sei ohne Wohlklang und „halb-barbarisch“; er wies alle Versuche, ihm die deutsche Literatur nahezubringen, zurück. In seiner Schrift „De la littérature allemande“ (1780) hielt er Goethes „Götz von Berlichingen“ für „eine abscheuliche Nachahmung jener schlechten englischen Stücke“, die „würdig wären, vor den Wilden von Kanada gespielt zu werden“; Shakespeare galt ihm als Autor von „lächerlichen Farcen“. Später beklagte Friedrich Schlegel die vertane Gelegenheit, denn „wie viel hätte ein König vermocht für deutsche Sprache und Geistesbildung zu tun.“ Insgesamt, so Johannes Kunisch, gab es beim Tode Friedrichs 1786 auf dem wissenschaftlichen und künstlerischen Höhenkamm in Preußen eine bleierne Zeit des Stillstands; neue Entwicklungen ignorierte der alte Monarch.225 Es wäre zu kurz gegriffen, sich auf die Person Friedrichs II. zu begrenzen, denn die Betonung von Vernunft, Bildung und effizienter Herrschaft stand seit Jahrzehnen im Zentrum der Aufklärung, die als kritisches Räsonnieren über Religion begonnen hatte. Viele Publikationen der Zeit stammten, teils anonym, von Männern mit einem öffentlichen Amt: Von Beamten aus der Justiz bzw. Verwaltung, Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003, S. 82. Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, 230–242, S. 236 (Gewandhaus). 225 Luh, Der Große, S.  190–198 (französische Sprache). Horst Steinmetz (Hg.), Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1985, S. 62, 81 f. (Zitate Friedrich II.). Kohl, Berliner Akademie (Zitat Schlegel). Kunisch, Friedrich der Große, S. 286–290, 457–460 (Stagnation).

1. Künste, Wissenschaft und monarchische Kultur im 17. und 18. Jahrhundert 

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von mittelbar Staatsbediensteten wie Pastoren und Gymnasiallehrern, von Professoren der Universitäten Halle, Königsberg und Frankfurt/O., auch von adligen Offizieren, nur wenige Prozent von Wirtschaftsbürgern (Buchhändler, Kaufleute). Zunehmend mehr trugen freie Publizisten oder Berufsschriftsteller bei, deren Zahl man 1787 deutschlandweit auf 6.000 schätzte. Bedeutende Zentren der Aufklärung lagen außerhalb Preußens: Leipzig, Göttingen, Weimar, Wolfenbüttel und weitere Universitäts- oder Residenzstädte. Berlin war nicht zuletzt als Publikationsort wichtig; hier stand der Verleger Friedrich Nicolai, Netzwerker für viele Schriftsteller, obenan. Mit gelehrten Publikationen wurden Bauern und Unterschichten indes gar nicht erreicht. Aus dieser Staatsnähe vieler preußischer Aufklärer resultierte ihre Orientierung auf Reformen. Es ging in Preußen um Freiheit mit dem Staat, nicht ohne oder gar gegen ihn. Im Zweifel erschien dieser Elite das ungebildete Volk und besitzloser Pöbel gefährlicher für vernünftigen Fortschritt als die aufgeklärten Monarchen, in deren Apparaten sie mehrheitlich eine komfortable Stellung einnahmen. Zudem gaben in Preußen größere Religions- und relative Debattierfreiheit, Strafrechtsreformen und die angebahnte Kodifizierung im späteren Allgemeinen Landrecht sowie der mit Schriften in die öffentliche Debatte eingreifende Friedrich II. Hoffnung auf weitere Aufklärung und Fortschritte. Aufgrund Gradualismus, sozialer Herkunft und auch in Preußen begrenzter Pressefreiheit – berühmt ist Lessings Diktum von 1769, jenseits der erlaubten Sottisen gegen Religion sei Preußen das „sklavischste Land von Europa“ – übten die meisten Aufklärer nur akademisch-theoretisch, anhand ausländischer Zustände oder in Anspielungen Kritik. Eine direkte Aufforderung zur Insubordination oder Kündigung des imaginären Herrschaftsvertrages war unsagbar. 1784 pries auch der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner berühmten Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, Friedrich II. Die Schuld an weitverbreiteter Unmündigkeit lokalisierte Kant in den mutlosen, denkfaulen Individuen. Eine Revolution ändere die Denkungsart nicht, das Volk könne nur langsam zur Aufklärung gelangen. Erziehung durch Gebrauch der Vernunft seitens bereits Gebildeter sei der probate Weg und in Preußen wegen relativer Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gangbar. Friedrich II. erlaube als einziger Fürst sogar öffentliche Kritik der Gesetzgebung und könne wegen des disziplinierten Heeres als Ordnungsgaranten sagen, „räsonniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ Erst wenn im Volk rationales Denken verankert sei, dürfe es die Regierung kritisieren. Das war Setzen auf Entwicklung und listiger Appell, aber wurde durch das gleichzeitige Reskript von Friedrichs Regierung gegen räsonnierende Bürger desavouiert: „Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, die Maaßregeln und Anordnungen der Souveraine und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche sogar tadelnde Urtheile zu fällen oder (…) bekannt zu machen oder durch Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Be-

262  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft urtheilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.“226 Soweit dennoch kritische Geister, z. B. der Hallenser Professor Carl Friedrich Bahrdt 1787, dies taten, traf sie mindestens Amtsverlust. Als nach der französischen Revolution häufiger grundsätzliche Kritik an Preußens Staatsstrukturen geäußert wurde, wurde dies von der Justiz als „jakobinisch“ und Umsturzvorbereitung strafrechtlich verfolgt. Die Finanzbeamten Joseph von Zerboni und Hans von Held erhielten nach Kritik an ihnen korrupt erscheinenden Behörden 1796/1800 Festungshaft; dem jüdischen Publizisten Saul Ascher wurde 1799 sein Werk über die Ursachen von Revolutionen von der Zensur verboten. Auch der liberal-demokratische Steuerrat Friedrich von Cölln, der Reformen vorschlug, wurde Ende 1808 verhaftet und wegen Beleidigung Friedrich Wilhelms III. zu Festungshaft verurteilt. Erst Hardenberg machte ihn, Friedrich Buchholz und andere kritische Geister ab 1810/11 zu publizistischen Mitarbeitern.227 Parallel zur politischen Gärung gab es ab 1786 in Kunst und Kultur allmählich den Aufschwung auf europäisches Niveau. „Stilwende“, „tiefer Einschnitt“ und „verändertes kunstpolitisches Koordinatensystem“ lauten die Begriffe von Kunsthistorikern dafür. In der Kunst besaßen die elf Regierungsjahre Friedrich Wilhelms II. Scharnierfunktion zum 19.  Jahrhundert. Er berief aus dem Wörlitz des Reformfürsten Leopold III. Friedrich Franz den Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff als Ratgeber und dieser beförderte den in England bereits blühenden Klassizismus der Orientierung an antiken Vorbildern in Preußen. Hinzu traten der vorher in Schlesien tätige Carl Gotthard Langhans, der bis 1793 das heute weltbekannte Brandenburger Tor schuf, mit Erdmannsdorff 226 Nach Möller, Vernunft und Kritik, S.  294–297, befanden sich unter ca. 300 Autoren der Berlinischen Monatsschrift 1783–94 27 % Professoren und Schullehrer, 20 % Beamte, 17 % Theologen, 18 % Adlige und Offiziere, 20 % Sonstige, davon 7 % Wirtschaftsbürger und freie Intelligenz. Möller, Wie aufgeklärt war Preußen?, S.  193  f. (Zitat Lessing). Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, S. 9–17, S.  16  f. (Zitat). Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung, hg.von D. Emundts, Wiesbaden 2000, S.  50  ff. Eckart Hellmuth, Zur Diskussion um Presse- und Meinungsfreiheit in England, Frankreich und Preußen im Zeitalter der Französischen Revolution, in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 205–226, S. 213 (Reskript). 227 Walter Grab, Ein Volk muß sich seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt/M. 1984, S. 432–460 (Bahrdt, Zerboni, Held). Iwan M. d’Aprile, Friedrich Buchholz und die Konstellation politischer Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert, in: R. Berbig u. a. (Hg.), Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolenkompendium, Berlin 2011, S. 121–133. Werner Gembruch, Friedrich von Cölln als Publizist vor dem Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806, in: G. Pflug (Hg.), Buch – Bibliothek – Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 457–481. Ludger Herrmann, Die Herausforderung Preußens. Reformpublizistik und politische Öffentlichkeit in Napoleonischer Zeit (1789–1815), Frankfurt/M. 1998, S. 85–144 (Buchholz, Cölln).

2. Aufbrüche ins 19. Jahrhundert: Klassizismus, Spree-Athen, Zensur  

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Räume im Berliner Stadtschloß umbaute und mit Gontard dem neuen König das Marmorpalais in Potsdam erbaute. Diese klassizistische Architektur wirkte Jahrzehnte fort. Des jung verstorbenen Friedrich Gilly Entwurf eines Tempels als Monument für Friedrich II. von 1797 etwa diente gutenteils als Vorbild für Leo von Klenzes Walhalla bei Regenstauf/Donau und noch für die Berliner Nationalgalerie ab 1862.228

2.

Aufbrüche ins 19. Jahrhundert: Klassizismus, Spree-Athen, Zensur

Parallel gab es wichtige organisatorische Neuanfänge und ein verbreitertes Verständnis der Funktionen von Kunst. Die unter Friedrich II. verödete Kunstakademie wurde unter Kurator F. A. von Heynitz ab 1786 reorganisiert und belebt. Sie begann nach dem Vorbild von Paris oder Dresden jährliche Ausstellungen zu zeigen, sogar mit Einsendungen auswärtiger Künstler, und avancierte damit zu einem Forum der deutschen Kunstdiskussion. Kunst sollte nicht länger HerrscherRepräsentationsbedürfnissen wie bei Friedrich II. dienen, sondern im Geiste der Aufklärung gesellschaftlich und wirtschaftlich nützlich sein: Ethische Veredelung der Menschen und Ausrichtung des Handwerks auf schöne Alltagsgegenstände aus qualitätvollen Werkstätten hießen die Ziele. Der aus Danzig stammende Graphiker Daniel Chodowiecki, 1797 Akademiedirektor und bedeutendster deutscher Graphiker der Zeit, bezog die aufklärerische Konzeption in seinen Werken meist auf Familie und Bürgertum. Es gab nun Ausschreibungen für architektonische Entwürfe und Publikation der eingereichten Pläne; das befeuerte Debatten um Stile und Lösungen. Als Ausbildungszentrum mit gesamtdeutscher Anziehungskraft fungierte die 1799 verselbständigte Berliner Bauakademie. Ihre Lehrer kooperierten mit der 1770 gegründeten, aber nun als Staatsbehörde reorganisierten Oberbaudeputation, die breit auch in die Provinzen hinein wirkte. Viele junge Künstler und auch Staatsbeamte reisten nun zu Ausbildungs- und Studienzwecken ins Ausland, nach Italien oder Frankreich, teils auch nach England. Ab 1819 gab es mit der Düsseldorfer Kunstakademie ein zweites Zentrum neben Berlin. Internationalität und europaweite, ja transozeanische Vernetzung, Hofferne und Verankerung in der rheinischen Bürgergesellschaft, Bearbeitung auch sozialkritischer Themen und frühe Marktorientierung zeichneten die dortige Malerszene aus. Seit den 1840er Jahren fiel Düsseldorf aber hinter München zurück und in der letzten Malergeneration um 1900 dominierte eine lokal ausge228 Heinz Schönemann, Architektur und Stadtgestaltung, in: Streidt/Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, S. 272–335, Zit. S. 272; Christoph Martin Vogtherr, Malerei, in: Ebd., S. 362–401, Zit. S. 362; Agnete von Specht, „Danke ich Gott, dass ich ein Preuße bin“. Nationale Identifikation und Historienmalerei in Preußen, in: Jahrbuch der Berliner Museen, N. F. Bd. 52 (2010), S. 85–115, Abschnitte I. und II.

264  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft richtete, deutschnationale Kunstauffassung, so daß einige Modernisten 1909 den Sonderbund Westdeutscher Künstler gründeten. Zuvor jedoch war Düsseldorf mit dem betont westlich-bürgerlichen Andreas Achenbach, der Vereinnahmung durch Preußens Monarchen ablehnte, jahrzehntelang rheinischer Kontrapunkt zu Berlin.229 In der Architektur markierte der Neuruppiner Karl Friedrich Schinkel die Spitze in Preußen. Seine bekanntesten Werke waren Schloß Glienicke bei Potsdam, in Berlin die Neue Wache, das Schauspielhaus (1821), das Alte Museum am Lustgarten (1830), zuletzt die Bauakademie, diese an englische Industriebauten angelehnt und wegen der Pfeilerbauweise mit Ausfüllung der Zwischenräume wegweisend modern. Er projektierte 1815 ein Siegesdenkmal in Form eines gotischen Doms (stattdessen 1821 als gußeisernes Kreuzberg-Denkmal errichtet), 1827 ein Kaufhaus Unter den Linden und 1835 eine feuersichere Bibliothek. Der Stararchitekt fertigte auch rd. 5000 Zeichnungen aller Art. Sein Gemälde „Mittelalterliche Stadt an einem Fluß“ (1815) stellt das Friedensideal der Harmonie von gutem Regenten und freiem Volk dar; sein Bühnenbild mit Sternenhimmel zu Mozarts „Zauberflöte“ (1816) ist bis heute eine Ikone. Zeitgleich trat Schinkel nachdrücklich für Erwerb von Kunst im gerade besiegten Frankreich ein, damit Preußen nicht mehr „blos als Finanz- und Militairstaat erscheint“ und glich damit den Reformern. Unermüdlich überwachte der Geheime Oberbaurat bis 1840 Staatsbauten im ganzen Lande, projektierte etwa 200 Kirchen und verband klassizistische Ästhetik stets mit Zweckmäßigkeit, klaren Raumgefügen und kompositorischer Präzision. Schinkel mußte in Preußen mit geringeren Mitteln bauen als andernorts etwa Klenze und nahm frühzeitig die in England oder dem katholischen Westen bevorzugte Neugotik auf. Er gab – freilich unter Ausnutzung der Arbeitskraft vieler Mitarbeiter – die großen Linien der Architektur in Preußen vor. Dieser Prägewirkung lag aber eine zentralstaatliche Rahmensetzung zugrunde, denn bis 1849 prüfte die Oberbaudeputation (danach die Bezirksregierungen) alle Baupläne ab 500 Taler Kosten. Schinkel im Amt war ohne Zweifel ein Glücksfall, aber sein und seiner Schüler Wirken beruhte maßgeblich auf institutioneller Staatsautorität. Ihre Hinterlassenschaft, soweit nicht kriegszerstört, ist im westlichen Polen noch heute erkennbar und geschätzt (Weichsel-Brücke Dirschau, Bahnhöfe, Kirchen und Schlösser in Schlesien bzw. Pommern). Sie planten nicht nur Staats-, sondern auch Wohn- und Geschäftsbauten: Ludwig Persius, Johann Heinrich Strack, August Stüler sowie Martin Gropius bis etwa 1870, später dann Alfred Messel oder Ludwig Hoffmann bis nach 1900. Auf Schinkels Schüler geht nicht zuletzt das bis heute bekannte sog. Berliner Zimmer zurück. Dieser fen229 Reinhart Strecke, Anfänge und Innovation der preußischen Bauverwaltung. Von David Gilly zu Karl Friedrich Schinkel, Köln 2000 u. a., S. 55 ff. Bettina Baumgärtel (Hg.), Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung 1819– 1918, Bd. 1, Petersberg 2011, S. 25–49. Bettina Baumgärtel (Hg.), Andreas Achenbach. Revolutionär und Malerfürst, Oberhausen 2016.

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sterlose Eckraum bildet den Übergang von den in geschlossener Reihe stehenden Vorderhäusern zu den auf tiefen Grundstücken zwecks Nutzflächenoptimierung angebauten Seiten- und Gartenflügeln.230 In der Bildhauerei markierte Johann Gottfried Schadows Rückkehr aus Italien 1787 den Beginn einer europaweit konkurrenzfähigen Bildhauer-Schule in Berlin. Als Hofbildhauer schuf er die Quadriga auf dem Brandenburger Tor und das bekannte, anmutige Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike 1797. Er und sein Schüler aus Waldeck, Christian Daniel Rauch, verbanden in ihren Werken den Klassizismus mit spezifisch preußischem Realismus. Schadow und Rauch besaßen eine große Schülerzahl und prägten damit ganz Preußen. Rauchs imposantes Reiterdenkmal Friedrichs II. (1851) umgibt in Sockelfiguren und auf Tafel-Friesen die friderizianische militärische und administrative Führung – die Positionierung von Kant und Lessing genau unter dem Pferdeschweif hingegen provozierte stetig Spott. Handwerkliche Perfektion und maßvolle Stilisierung zugunsten der Dargestellten wandelten sich im Wilhelminismus zur weitgehenden Heroisierung und Monumentalisierung. Sie finden sich etwa beim Rauch-Schüler Reinhold Begas, der in neubarocken Formen ab 1892 das riesige Berliner Nationaldenkmal für Wilhelm I. und das Bismarck-Denkmal projektierte. In der folgenden Generation öffneten sich viele Jüngere zum Jugendstil, bekannt wurden z. B. Fritz Klimsch und Georg Kolbe. In dieser Stilrichtung standen Berlin, ja Preußen aber klar hinter Wien oder Darmstadt zurück. Zentralgestalt im Bereich Außengestaltung war der Bonner Peter Joseph Lenné, von seinem Vater bei Hardenberg lanciert, und ab 1828 Direktor der Königlichen Gärten. Seine Parks im Stil des englischen Landschaftsgartens fanden sich in Sanssouci, Berlin und ganz Preußen, insgesamt über 350. Zudem projektierte er Grüngürtel als frühe Volksparks und wurde zeitgenössisch als „Buddel-Peter“ ironisiert. In kritischer Sichtweise wird Lenné mittlerweile als hofnah-konservativ, geltungssüchtig, die Konzepte von Mitarbeitern vereinnahmend und insgesamt weniger genial betrachtet. Trotzdem erscheinen von Lenné auch für Privatleute bis etwa 1860 projektierte Gärten ihren heutigen Besitzern, längst auch im 230 Hein-Th. Schulze Altcappenberg u. a. (Hg.), Karl Friedrich Schinkel. Geschichte und Poesie (Ausstellungskatalog), München 2012. Helmut Börsch-Suppan, Karl Friedrich Schinkel (1781–1841). Kunst im Dienst des Menschen, in: Protestantismus in Preußen, Bd. 2, hg. von R. Mau, Frankfurt/M. 2009, S. 131–150. Karl Friedrich Schinkel – Lebenswerk, hg. von P. O. Rave, H. Börsch-Suppan u. a., 22 Bände, München/Berlin 1939–2014. Hartwin Spenkuch, Preußen als Kulturstaat – Begriff, realhistorische Ausprägung und Akteure (1815–1914), in: Ph. Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater, Wien 2012, S. 99–126, S. 102 (Schinkel 1816). Lothar Hyss (Hg.), Schinkel in Schlesien, Königswinter 1995. Ewa Gwiazdowska, Schinkel, seine Schüler und die Formen ihrer Architektur im heutigen Westpommern, in: M. Ehler/M. Müller (Hg.), Schinkel und seine Schüler, Schwerin 2004, S.  97–112. Ingeborg Schild, Preußisch geprägte Architektur im Rheinland des 19. Jahrhunderts, in: G. Mölich u. a. (Hg.), Preußens schwieriger Westen, S. 249–281, S. 250 ff. (Bauten-Kontrolle ab 500 Taler).

266  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft modernen Polen, als kostbare, bewahrenswerte Erbschaft und es bleiben Gartenkunstwerke. Im Zuge früher Erinnerungskultur regten Friedrich Wilhelm II. 1788 sowie sein Sohn 1799 brandenburgisch-preußische Historienmalerei an. Einige Gemälde über Szenen aus der Landesgeschichte entstanden ebenso wie Darstellungen alter Architektur (Marienburg) und einzelner Landschaften (Harz, Riesengebirge). Die bedeutsamen Kunstankäufe der Zeit betrieben jedoch Hardenberg, Altenstein, Schinkel und frühe Kunsthistoriker. Ihnen gelang es, enorme 500.000 Taler für den Ankauf der bedeutenden Sammlung des Kaufmanns Edward Solly 1821 einzusetzen und mit den erworbenen italienisch-französischen Altmeistern die Hälfte von Schinkels Museum 1830 zu bestücken. Reformbeamte legten so den Grundstock für die Berliner Gemäldegalerien, die durch spätere Zukäufe und Bürger-Schenkungen weiter wuchsen. Wenig Schätzung erfuhr damals der gebürtige Greifswalder Caspar David Friedrich. Mangels Anstellung in Preußen als freier Maler in Dresden lebend, verbanden seine meist kleinen Formate ab 1810 landschaftliche Atmosphäre mit transzendentaler Symbolik. Bei seinem Tode 1840 fast vergessen und erst ab 1906 wiederentdeckt, gehören Friedrichs vordergründig romantische Stimmungsszenen, aber unterlegt mit mehreren interpretierbaren Bedeutungsschichten, heute zu den Publikumsmagneten der Museen auch in Berlin.231 Nach 1786 und bis 1815/20 erlebte die Großstadt Berlin (150.000 bis 200.000 Einwohner) eine kulturelle Blüte und zwar nun weithin getragen von der Bürgergesellschaft, sofern man Bedienstete von Staat und öffentlichen Bildungsinstituten mit einbezieht. Das große Wort vom Spree-Athen Berlin wurde geprägt und neuerdings nennt der Germanist Conrad Wiedemann die Zeit bis 1815 die Berliner Klassik in Analogie zur Weimarer Klassik Goethes und Schillers. Realhistorischen Hintergrund dafür bildeten das Friedensjahrzehnt nach 1795 und die unter nomineller französischer Besatzung begonnene anschließende Reformdekade. Neben den bildenden Künstlern (Schinkel, Schadow) waren es vor allem die Geistesgrößen an Hochschulen und Akademien (Humboldt, Fichte, Schleiermacher) sowie freie Literaten (Karl Philipp Moritz, Kleist, Friedrich Schlegel) inklusive jüdischer Männer sowie manche höhere Beamte außerhalb der Dienstzeit, die sich in Vereinen (Montagsclub, Mittwochsgesellschaft), Salons jüdischer 231 Peter Bloch u. a. (Hg.), Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786–1914, Berlin 1990, bes. S.  37–47. Esther Sophia Sünderhauf (Hg.), Begas – Monumente für das Kaiserreich, Dresden 2010. Florian von Buttlar (Hg.), Peter Joseph Lenné – Volkspark und Arkadien, Berlin 1989; kritisch jetzt Clemens A. Wimmer, Der Gartenkünstler Peter Joseph Lenné. Eine Karriere am preußischen Hof, Darmstadt 2016, S. 149–165. Marcus Köhler/Christoph Haase (Hg.), Die Gärten Peter Joseph Lennés im heutigen Polen, Potsdam/Wettin-Löbejun 2016. Vogtherr, Malerei, in: Streidt/ Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, S. 368 f. (Historien-Maler). Hubert Locher, Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2005, S. 39–51 (C. D. Friedrich).

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Frauen (Henriette Herz, Rachel Levin-Varnhagen) oder der Gräfin Luise von Voss und der Reformbeamten-Gattinnen Amalie von Beguelin bzw. Elisabeth von Stägemann sammelten. Einige Jahre florierte so stände- bzw. berufeübergreifende Geselligkeit, und Künstler, Literaten und Philosophen propagierten konzeptionell eine Autonomie-Ästhetik zur Veredelung erst des Individuums und nachfolgend des Gemeinwesens. Publizisten wie Friedrich Nicolai, aber auch der Hesse Johann Kaspar Riesbeck begannen in ihren Schriften seit den 1780er Jahren Preußen als vorbildlichen Staat und Berlin als aufgeklärte, gewerbefleißige und zukunftsträchtige Metropole darzustellen. Der protestantische Nordosten wurde so gegenüber dem noch kirchlich-katholisch regierten Süden und Westen aufgewertet. Bekanntestes Beispiel der neuen Hochschätzung von Berlin stellt bis heute die Pariser Besucherin Anne Germaine de Stael dar. In ihrem Band „De l’Allemagne“ von 1810 bezeichnete sie Berlin als die „wahre Hauptstadt des neuen, des aufgeklärten Deutschland“, wo „Wissenschaften und Künste blühen“, „geistreiche Männer“ zusammentreffen und Mittagstafeln ohne jene „Abstufung des Ranges, die dem Verkehr in Deutschland so nachteilig ist“, stattfänden. Nur männerdominiert sei die Gesellschaft noch. In ihren Privatbriefen während des Berlin-Besuchs 1804 freilich stellte Stael Berlin kulturell klar hinter das zuvor besuchte Weimar, fand den preußischen Adel wenig kultiviert, Hof- und Gelehrten-Welten „complètement séparées“ und die Gesellschaft „aligné à la prussienne“. Das während des kurzen Besuchs sowie aufgrund selektiver Kontakte formulierte, wenig schmeichelhafte Bild wandelte sich erst im Buch von 1810 und dort formulierte Stael das seither bekannte Bonmot vom janusköpfigen Preußen.232 Schon ab 1815, vermehrt nach 1848 traten politische, höfische, stadtbürgerliche und Künstler-Sphäre deutlicher auseinander und am Ende des Jahrhunderts wurde dann wie schon 1804 in den Briefen der Madame de Stael die soziale Trennung zwischen den Gesellschaftskreisen vielfach konstatiert oder beklagt.233 Foren der experimentierenden Debatte über politisch-gesellschaftliche Fragen fanden sich um 1800 nicht allein in privaten Zirkeln; damals konstituierte sich 232 Peter-Michael Hahn, Berlin und Potsdam, in: W. Adam/S. Westphal (Hg.), Handbuch der kulturellen Zentren der Frühen Neuzeit, Bd.  1, Berlin 2012, S.  133–195, S. 184. Matthias Hahn, Schauplatz der Moderne. Berlin um 1800 – ein topographischer Wegweiser, Hannover 2008. Johann Kaspar Riesbeck, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, hg. von J. Golz, Berlin 1976, S. 337 ff. Anne Germaine de Stael, Über Deutschland [1810], hg. von M. Bosse, Frankfurt/M. 1985, S. 108–110. Gerhard R. Kaiser, Ilm-Athen und Januskopf. Weimar und Berlin im Urteil Mme de Staels, in: Iwan M. d’Aprile u. a. (Hg.), Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786–1815), Hannover 2005, S. 271–287, S. 280 f. (Zitate). 233 Grundlegend bleibt Petra Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780– 1914), Berlin 1989, hier S. 611 f., 848 ff., 877 ff. Urte von Berg, Patriotische Salons in Berlin 1806–1813, Göttingen 2012. Spenkuch, Herrenhaus, S. 442 ff. (separierte Gesellschaft um 1900).

268  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft eine politische Öffentlichkeit in Zeitungen und Publikationen, ja in Amtsstuben. Diese zunächst in Berlin und Königsberg getrennt stattfindenden Debatten, die nach der Niederlage konkrete Veränderungen anpeilten, bildeten das gesellschaftliche Milieu der Reformzeit. Hardenberg holte ab 1810 die schon genannten Publizisten wie Friedrich Buchholz oder Friedrich von Cölln in seine Staatskanzlei und ließ sie seine politischen Reformen in Schriften kommentieren. Diese Indienstnahme von Journalisten gegen konservative Reformskepsis erstarb mit der Restauration ab 1815/19. 1850 wurde eine offizielle Pressestelle, Literarisches Büro genannt, erneut geschaffen, nun freilich im konservativen Sinne; sie gab ein politisches Wochenblatt heraus. Nach der Liberalisierung seit der Neuen Ära um 1860, der Presseknebelung im Verfassungskonflikt 1863–66 (60 Zeitungsverbote) und größerer Freiheit im Reichsgründungsjahrzehnt wurde die Pressepolitik unter Bismarck und Puttkamer ab 1882 erneut konservativ ausgerichtet. Selbst unter dem Reichspressegesetz von 1874 wurden bis 1890 6.000 Strafverfahren gegen katholische, sozialdemokratische und polnische Organe eingeleitet, von denen 36 % auf Majestäts- und Beamtenbeleidigung, 17 % auf Beleidigung Bismarcks lauteten. Diese weiterhin eingeengte Pressefreiheit zumal in Preußen war nach 1900 nicht mehr durchschlagend erfolgreich, denn inzwischen war die Presse zu vielfältig: Oppositionelle Zeitungen konnte man zwar auch im Rechtsstaat behindern oder zeitweise verbieten, aber nicht alle dauerhaft mundtot machen.234 Der Versuch, die öffentliche Meinung mit Regierungspressepolitik zu lenken, bildete eine neue Variante des Strebens nach behördlicher Kontrolle über Debatten und Informationen. Schon im 18. Jahrhundert standen bekanntlich Druckwerke – Zeitungen, schöne Literatur und natürlich politische Publizistik, meist auch Theater-Aufführungen – unter Zensur. Sie galt seit dem Bundespreßgesetz von 1819, das aufgrund Drängen Metternich-Österreichs und in dessen Schlepptau Preußens verabschiedet wurde, im ganzen deutschen Bund. Dieser intervenierte 1832 gegen ein liberales Pressegesetz in Baden und 1834/35 wurde zur Sicherung gegen französisch-westeuropäische politische Einflüsse das „Junge Deutschland“ verboten. Autoren wie Börne und Heine mußten ins Exil ausweichen, wie Gutzkow sich in Frankfurt und Hamburg gegen die Zensorenschere behaupten oder 234 Aprile, Friedrich Buchholz; Andrea Hofmeister-Hunger, Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei K. A. von Hardenberg, Göttingen 1994, S.  189  ff. Gertrud Nöth-Greis, Das Literarische Büro als Instrument der Pressepolitik, in: J. Wilke (Hg.), Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, Köln 1997, S.  1–87; Rudolf Stöber, Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 423–451 und Gunda Stöber, Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Stuttgart 2000. Die Zahlen nach Hans-Wolfgang Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874–1890), Frankfurt/M. 1974, S. 295–302 (Einschätzung als eingeengte Pressefreiheit).

2. Aufbrüche ins 19. Jahrhundert: Klassizismus, Spree-Athen, Zensur  

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Selbstzensur üben. Zensur und Repression gab es massiv in Österreich und in Rußland, aber selbst in Großbritannien gegen republikanische Verleger bis 1839 und im Frankreich der Bourbonen und Juli-Monarchie gegen monarchiekritische Zeitungen und Bücher. Trotzdem hielten deutsche Autoren die Äußerungsfreiheit in England oder Frankreich für größer, denn das Maß an geduldeter Kritik war großzügiger angesetzt und trotz des französischen Pressegesetzes von 1835 konnten Karikaturen vom Schlage Daumiers erscheinen. Nicht grundlos stand die Pressefreiheit im Forderungskatalog der deutschen 1848er ganz oben. Preußen übte die Vorzensur ab 1819 besonders rigide aus. Jede Zeile, selbst Werbung für „Melissengeist“, mußte vor dem Druck zum Zensor. Über das bundesgesetzlich Geforderte hinaus unterlagen auch Werke von mehr als 20 Bogen (320 Seiten) der Zensur und die sog. Debitserlaubnis für Werke mit außerpreußischem Druckort setzte Verleger generell unter erheblichen finanziell-ökonomischen Druck. Über die Jahrzehnte gab es massive Eingriffe: Heines Werke waren seit 1831 verfemt; schon im zweiten Teil seiner „Reisebilder“ von 1826 fand sich die seither berühmte Druckseite, die karikierend nur die Worte „Die deutschen Zensoren … Dummköpfe“ enthielt. 1844 wurden Heine, Ludwig Börne, Arnold Ruge und Karl Marx steckbrieflich gesucht; Rotteck-Welckers Staatslexikon und viele Produkte der Verlage Brockhaus, Philipp Reclam (Leipzig) und Hoffmann & Campe (Hamburg) wurden zeitweise verboten; gegen den Berliner Verlagsbuchhändler Georg Reimer verhängte man Beschlagnahme und hohe Geldstrafe. Kritische politische Publizistik wurde regelmäßig strafrechtlich verfolgt. Die Lockerung 1842 führte zum Aufblühen freimütiger Publizistik und wurde deshalb bereits im Folgejahr widerrufen. Eine organisatorische Straffung in Form des Berliner Oberzensurgerichts sollte 1843 die Effizienz der Zensur stärken. Dessen altliberaler erster Präsident Friedrich Wilhelm Bornemann trat im Streit mit dem innenministeriellen Verbot aller Berichterstattung über die schlesischen Weberunruhen binnen kurzem zurück. Das Oberzensurgericht urteilte nicht selten zugunsten der Presse, aber antimonarchische, Volksrechte einfordernde oder sog. gehässige Publizistik markierte auch bei diesen Richtern die Grenze zum Verbot. Das Innenministerium blieb Widersacher des Gerichts, versuchte stetig, dieses auf Vorgaben bezüglich verbotener Themen bzw. Zensurrichtlinien zu verpflichten, und erschwerte den Abdruck der vom Oberzensurgericht freigegebenen Texte. Neue Lokalzensoren in Person von Landräten und Bezirkszensoren aus Beamten der 25 Bezirksregierungen sollten straffere Ausführung vor Ort gewährleisten. Zugleich ordnete Friedrich Wilhelm IV. persönlich die Zensur aller Graphik, speziell subversiver Karikaturen, an, und die seit 1820 amtlicher Vorzensur unterworfenen Theater wurden weiter reglementiert. Lebende und verstorbene Hohenzollern sowie preußisch uniformiertes Militär durften (bis 1918) nicht auf der Bühne erscheinen; das Wort „Freiheit“ war anstößig. Vorstellungen überwachende Polizisten stellten etwaige Majestäts- und Militärbeleidigung fest. Die Monarchie duldete keine Kritik. Mit Mühe konnten Humoristen wie Adolf Glaßbrenner schnoddrigen Berliner Volkswitz in Text und Bild publizieren.

270  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Drei Faktoren schwächten die Zensur: Der Föderalismus, indem etwa Sachsen oder Hamburg preußenkritische Bücher erlaubten oder süddeutsche Zeitungen offener berichten konnten; die Schläue von Verlegern, die Auswege fanden, um den kräftig wachsenden Markt zu bedienen; die Mängel der staatlichen Zensurverwaltung, die bis 1843 personell unterbesetzt war und diskretionär – mal großzügiger, mal restriktiver – vorging; einheitliche Verbotsrichtlinien gab es nicht. Nebenamtliche, oft bildungsbürgerliche Lokalzensoren drückten manches Auge zu, so 1841 der Königsberger städtische Polizeidirektor Abegg, der Zeitungsartikel über Johann Jacobys verbotene, aber gleichwohl heimlich verbreitete Schrift „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen“ 1841 zuließ und deshalb sein Amt verlor. Durch Schmuggel, private Weitergabe und Verkauf unter der Ladentheke blieb vieles zugänglich. Dennoch ist klar: Die Zensur in Preußen als absichtliche staatliche Informationskontrolle bedeutete bis 1848, ja darüber hinaus erhebliches Leid für viele Publizisten (Gefängnis, Geldstrafen, Exil), Behinderung für unterschiedlichste literarische Werke und Theaterstücke (Streichung, Auflagen), Begrenzung der räsonnierenden Öffentlichkeit, und damit Unterdrückung (unliebsamer) politischer Meinungen oder Debatten. Zensur war uneinheitlich, aber nicht wirkungslos, und wirkte abschreckend etwa auch im Sinne von Selbstzensur, urteilte Mary L. Townsend nach einer detaillierten Untersuchung. Zensur als kulturelle Praxis im Kommunikationsprozeß zu interpretieren, ohne die menschlichen Kosten und die politischen Folgen klar zu benennen, bagatellisiert die harten historischen Tatbestände.235 Die Presse- und Theaterfreiheit der Revolutionszeit 1848/49 erfuhr binnen kurzem erneut massive Beschneidung. Preußische Bestimmungen von 1851 erneuerten entgegen der Verfassung die Zensur, nun freilich polizeilich-behördlich ausgeführt, die Kautionspflicht für Verleger, das Verbot ausländischer Schriften und die polizeiliche Fahndung nach solchen. Das Bundespreßgesetz von 1854 normierte dies und der Polizeiverein deutscher Staaten war bis 1866 das Koordinierungsgremium für jährlich bis zu 6.000 „Fälle“. Eine Polizeiverordnung 235 Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982, S.  145  ff.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  2, 2. Aufl., München 1989, S. 540–545 (zentrale Argumente); Mary Lee Townsend, Forbidden laughter. Popular Humor and the Limits of Repression in Nineteenth-Century Prussia, Ann Arbor 1992, S. 172–206 (S. 190: Zensur war ineffektiv, aber nicht wirkungslos); Meike Werner, Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis, Berlin 2013, S.  29–33, 200–220 (Theaterstücke); Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen S. 255–264 (Oberzensurgericht); Uta Monecke, Zwischen staatlicher Obrigkeit und bürgerlichem Aufbruch. Preußische Zensur und städtische Zensoren in Halle und Naumburg 1816–1848, Halle 2006, S. 56 (Zensurorganisation im Schaubild) und S. 186–193 (Fazit). Vergleichende Gesamtabwägung: James Brophy, Grautöne. Verleger und Zensurregime in Mitteleuropa 1800–1850, in: Historische Zeitschrift 301 (2015), S. 297–346, 320–329.

3. Musik und Theater  

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des Berliner Polizeipräsidenten Hinckeldey stellte weitgefaßt alle öffentlichen „Lustbarkeiten“ unter polizeilichen Genehmigungsvorbehalt – in ganz Preußen gültig bis 1918. Für Druckwerke und Zeitungen brachte das Reichspressegesetz von 1874 entschiedene Besserung, aber behördliche Zugriffe und Einsätze des Staatsanwalts gingen weiter: Aufgrund politischer Vorgaben gegen Sozialdemokratie (ca. 6000 Mal 1874–90) und Polen, mit den Strafrechtsparagraphen „Majestätsbeleidigung“ (1882–1918 rd. 15.750 Fälle und ca. 12.000 Verurteilungen, in der Spitze 1894: rd. 950 Fälle, gut 700 Verurteilungen), „Beamtenbeleidigung“, ja „grober Unfug“ gegen Kritik in politischen Fragen, zudem mit dem Vorwurf „Gotteslästerung“ oder „Förderung der Unzucht“ gegen Kirchenkritik und lebensweltliche Freizügigkeit. Die Strafrechtsparagraphen unterlagen zwar gerichtlicher Kontrolle; das hinderte aber erstens freihändiges polizeiliches Einschreiten nicht und bedeutete zweitens nicht das juristische Obsiegen für Angeschuldigte. Noch 1898 mußten Th. Th. Heine und Frank Wedekind als Urheber der Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ wegen Beleidigung Wilhelms II. Haft absitzen; Verleger Albert Langen zahlte 20.000 Mark Geldstrafe. Erst ab etwa 1900 kann von grundsätzlicher Pressefreiheit die Rede sein. Der 1870 fixierte Strafrechtstatbestand „Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter“ (zuletzt § 103 Strafgesetzbuch) wurde erst 2017 nach dem Fall Böhmermann abgeschafft.236

3.

Musik und Theater

Musik und Theater nahmen seit 1786 in der Berliner Gesellschaft weitere Verbreitung. Hatte Friedrichs II. Leibkomponist J. J. Quantz fast ausschließlich für den Hof gewirkt und Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt statt Kompositionsaufträgen stetig königliche Belehrungen über genehme Opern- bzw. Theatermusik erfahren, der bedeutende Carl Philipp Emanuel Bach vom König enttäuscht 1767 die eigenständige Stellung in Hamburg vorgezogen und der Musikschriftsteller Charles Burney 1772 beklagt, in Friedrichs Konzertabenden spiegele sich ein Geschmack wie vier Jahrzehnte früher, so erfolgte 1791 die Gründung der Singakademie als staatlich geförderter Verein. In diesem niveauvollen Chor fanden sich unter dem langjährigen Direktor Friedrich Zelter zahlreiche 236 Wolfram Siemann, Von der offenen zur mittelbaren Kontrolle. Der Wandel in der deutschen Preßgesetzgebung und Zensurpraxis des 19.  Jahrhunderts, in: H. G. Göpfert/E. Weyrauch (Hg.), „Unmoralisch an sich …“. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 293–308; Heinrich Houben, Der ewige Zensor [1926], ND Kronberg 1978, S. 99 ff. Zur Zensur im Kaiserreich abgewogen Robin Lenman, Germany, in: R. J. Goldstein (Hg), The War for the Public Mind, Westport/London 2000, S. 35–79; Fallzahlen nach Röhl, Wilhelm II., Bd. 2, S. 625. Zum Theater: Gary D. Stark, Germany, in: R. J. Goldstein (Hg.), The Frightful Stage. Political Censorship of the Theater in Nineteenth-Century Europa, New York 2009, S. 22–69.

272  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Frauen, Adelige, sogar 10 % Juden. 1809 entstand einer der ersten deutschen Männerchore, die „Berliner Liedertafel“. Mozart 1789 und Beethoven 1796 besuchten Berlin kurz, aber blieben hier ebenso wenig wie früher Johann Sebastian Bach (1719/1747), der in der vagen Hoffnung auf Anstellung seine „Brandenburgischen Konzerte“ komponierte. Der Hallenser Händel wirkte in London, später Robert Schumann in Leipzig bzw. Düsseldorf oder Beethoven und Brahms in der führenden Musikstadt Wien. Wien blieb der konkurrenzstarke Bezugspunkt noch 1911, als der Berliner Kritiker Adolf Weissmann ein Aufholen der Reichshauptstadt konstatierte, die nun ein großer, gesellschaftlich getragener, „aus vielen materiellen und manchen geistigen Strömungen geborener Organismus“ sei. Denn seit 1869 gab es unter dem berühmten Geiger Joseph Joachim die weithin ohne kultusministerielle Einflüsse gedeihende Musikhochschule, wenngleich 1909 Richard Strauss als zu modern nicht die Nachfolge Joachims antreten konnte. Ab 1882 formierte sich unter Dirigent Hans v. Bülow das Philharmonische Orchester mit starker Selbstverwaltung und seinen Chefdirigenten (bis heute) selbst erwählend. Zwei bedeutende spätere Chefdirigenten, Artur Niekisch und Wilhelm Furtwängler, sowie exzellente Einzelmusiker trugen die hohe Orchesterqualität der Berliner Philharmoniker bis in die frühe Bundesrepublik.237 Nicht zufällig wurde Ende 1786 das französische Komödienhaus auf dem Gendarmenmarkt nach dem Vorbild Hamburgs, Mannheims und Wiens als „Nationaltheater“ reorganisiert. Im neuen Schinkelbau und in Knobelsdorffs Lindenoper, 1811 wieder „Königliche Schauspiele“, wurden 1815–21 national konnotierte Stücke wie Beethovens “Fidelio”, E. T. A. Hoffmanns „Undine“ und Carl Maria von Webers „Freischütz“ gezeigt. Sie sollten „deutsche Musik“ und „deutsche Oper aus romantischem Geist“ sein anstelle der früheren italienisch-französischen Ausstattungsstücke. Diese nationale Orientierung war König und Hofkreisen verdächtig; deshalb wurde nicht Weber Generalmusikdirektor, sondern der Italiener Gasparo Spontini, unter dem politisch weniger anstößige französische und italienische Stücke, z. B. Donizetti und Bellini, dominierten. Ein Talent wie Felix Mendelssohn237 Werner Bollert, Musikleben, in: H. Herzfeld (Hg.), Berlin und die Mark Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968, S. 605–653, S. 606 ff., 639 ff.; Frank-Lothar Kroll/Hendrik Thoß (Hg.), Musik in Preußen, preußische Musik, Berlin 2016, bes. S. 109–116: Brigitte Kruse, Zwischen Anpassung und Aufbegehren: Der preußische Hofkapellmeister J.  f. Reichardt und Detlef Giese, J.  f. Reichardt, online: www.perspectivia.net/publikationen/kultgep-colloquien/6/giese_reichardt. Blanning, Frederick the Great, S. 143 f. Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, hg. v. E. Klemm, Leipzig 1975, S. 403–407. Zur Orchestermusik vgl. detailreich Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester. Darstellung in Dokumenten, Bd. 1: 1882–1922, Tutzing 1982, S. 297 f., 506 ff. und Adolf Weissmann, Berlin als Musikstadt. Geschichte der Oper und des Konzerts von 1740 bis 1911, Berlin/Leipzig 1911, S. 8 f., 311 ff., 354 ff. Dietmar Schenk, Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik 1869–1932/33, Stuttgart 2004, S. 62–64.

3. Musik und Theater  

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Bartholdy hätte gern dauerhaft im heimatlichen Berlin die Leitungsposition übernommen, aber fand bei einem halbherzigen Engagement 1843/44 für seine musikalischen Vorstellungen weder genügend Rückhalt bei Friedrich Wilhelm IV. und der Leitung der Hofmusik noch genügend Freiraum in den Strukturen. Er wirkte deshalb bis zu seinem frühen Tode 1847 primär am Leipziger Gewandhaus und der zugehörigen Musikhochschule. Ab 1842 amtierte aufgrund tätiger Fürsprache Alexander v. Humboldts Giacomo Meyerbeer, als Jacob Liebmann Beer bei Berlin geboren, danach Kosmopolit mit Tätigkeitsschwerpunkt Paris, für ein gutes Jahrzehnt als Generalmusikdirektor. Seine aufwendig für 27.000 Taler Kosten inszenierte Oper „Ein Feldlager in Schlesien“ feierte 1844 Friedrich II. als Friedens- und Musenfürsten und beschwor die Einheit von König und Volk, aber die erwünschte Etablierung als „preußische Nationaloper“ gelang nicht. Daß Mendelssohn wie Meyerbeer jüdischer Herkunft waren, bildete zunächst öffentlich kein Thema. Es blieb dem Geltungsdrang Richard Wagners vorbehalten, Juden in seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869) als nur fähig zum „nachkünsteln“ zu denunzieren, da sie, so seine rassistische Sicht, selbst getauft stets „Volksfremde“ bar echter deutscher Gefühle sein müßten. Dabei schloß gerade Wagner kompositionstechnisch an die Opern Meyerbeers an. Hingegen bescheinigte der Antijudaist Heinrich v. Treitschke MendelssohnBartholdy wegen Taufe und Assimilation „edles und großes Wirken“ im deutschnationalen Sinne – im Gegensatz zum bloß theatralisch-prächtigen, französisch orientierten Giacomo Meyerbeer. Konstruierte nationale Schemata nahmen nach 1870 generell bei der Interpretation der Musik früherer Epochen erheblich zu.238 Dem Publikumsgeschmack der Jahrhundertmitte entsprachen der Berliner Albert Lortzing und der früh gestorbene Königsberger Otto Nicolai mit „Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849). Wagner gelangte in Berlin ab 1856 zur Aufführung, ohne die Massen und Wilhelm I. oder Bismarck zu begeistern; seine Förderer waren die bismarckkritischen Marie und Alexander von Schleinitz. Dagegen trafen die seit 1857 aufgeführten Stücke Giuseppe Verdis ins Herz der Berliner. Auch französische Stücke wurden vor wie nach 1870 auf die Bühne gebracht, zuvörderst Bizets Carmen und Gounods Faust. Von preußisch-nationaler Verengung kann deshalb im Musikleben der mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht die Rede sein, zumal Gastspiele ausländischer Truppen häufig waren. Berlin konnte aber nicht die Vielfalt des Musiklebens von Paris oder Wien 238 Vgl. die beiden Grundlagenwerke Ruth Freydank, Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988 sowie Georg Quander (Hg.), Apollini et Musis. 250 Jahre Opernhaus Unter den Linden, Frankfurt/M./Berlin 1992. Knapper Überblick zum (Opern-) Theater bei Spenkuch, Preußen als Kulturstaat, S. 120–125. Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, S. 454 f. Hendrik Thoß, Musik in Preußen – Preußische Musik? (Tagungsbericht), in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 23 (2013), S. 109–129, bes. S. 122–127.

274  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft bieten, auch Dresden und München blieben bis 1918 starke Konkurrenten. Musikalische Exzellenz gewann die Hofoper ab 1898 für ein Jahrzehnt unter Richard Strauß, dessen Werke Salomé, Elektra und Rosenkavalier jedoch wegen freizügiger Texte und moderner Harmonien in Dresden uraufgeführt wurden. Die Monarchen gaben bis 1914 jährlich Millionen-Zuschüsse zu den Hoftheatern; innovative Bühnen waren sie aufgrund der höfischen Fundierung kaum je, die Pendants in Meiningen, Dresden und Wien phasenweise ausgenommen. Starken Aufschwung und höhere Frequenz wiesen nunmehr private Operettenund Boulevardtheater auf, beispielsweise das Königstädtische Theater ab 1824, das Kroll’sche Theater ab 1844, ab 1848 das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, das 1883 in Deutsches Theater umbenannt und seit 1905 vom Wiener Max Reinhardt, dem Protagonisten moderner Aufführungspraxis geleitet wurde, nicht zuletzt ab 1888 das modern orientierte Lessing-Theater und die sozialdemokratische Gründung in Vereinsform „Freie Volksbühne“ ab 1890. Zwar gab in Berlin nie (wie in Brüssel 1830 oder im Italien des Risorgimento) eine Oper den Auftakt zu einem Volksaufstand, aber im Umfeld der 1848er Revolution schrieben Regierungskreise dem Theater so große politische Bedeutung zu, daß mit der Verordnung zur Theaterzensur 1851 ein Riegel vorgeschoben wurde, den erst die Gewerbeordnung 1869 beseitigte. 1883 stellte eine Novelle hierzu die Konzessionsvergabe erneut in polizeiliches Ermessen: Zweifel an der Zuverlässigkeit in sittlicher, artistischer oder finanzieller Beziehung konnten zur Verweigerung der Genehmigung führen. Die Absicht der Bevormundung blieb bestehen, die realen Auswirkungen mäßig. Wenig später entfachte das sozialkritische Theater des Naturalismus in bürgerlichen Kreisen Skandale. Wilhelm II. kündigte wegen Hauptmanns „Die Weber“ 1893 sein Abonnement im Deutschen Theater. Auf den rd. 30 Theatern (um 1910) und den etwa 50 (um 1930) beruhte jahrzehntelang sowohl in der Hoch- wie in der Populärkultur ein Gutteil der Attraktivität Berlins. Die quirlige Spreemetropole forderte in den 1920er Jahren mit dem Regietheater oder modernen Inszenierungen von Leopold Jessner, Max Reinhardt, Erwin Piscator und Bertolt Brecht die Traditionsstadt Wien heraus.239

4.

Literatur

In der deutschen Literatur spielte das nordostdeutsche Preußen seit den Zeiten Lessings, als im Umfeld des 7jährigen Krieges erstmals auf den Gesamtstaat bezogene Dichtungen entstanden, die längsten Perioden nicht die erste Geige. 239 Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London 1880– 1930, Berlin 2014, S. 31–78. Hoeres, Peter, Die Kultur von Weimar. Durchbruch der Moderne, Berlin 2008, S. 140–147. Matthias Heilmann, Leopold Jessner – Intendant der Republik. Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen, Tübingen 2005, S. 130 ff.

4. Literatur  

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Die bedeutende ältere Regionalliteratur Schlesiens (Gryphius, Opitz, Christian Garve) oder schwächer Ost- und Westpreußens (Simon Dach; Herder verließ Preußen 20jährig) wird hier ausgeblendet. Da Literatur als sprachliches Kunstwerk primär ein nationales, ja internationales Phänomen ist, ist zunächst zu definieren, was mit preußischer Literatur gemeint wird. Vier Merkmale werden zugrunde gelegt: Herkunft, Wirkungsstätten, Stoffe und deren thematische Gestaltung (Geschichte und Staatsentwicklung, die Sozialgruppen Adel, Militär, Beamte, Großgrundbesitzer, das Individuum und der Staat). Nicht oft fallen alle Merkmale bei einem Autor zusammen. Als spezifisch preußisch anzusehen sind jedenfalls Autoren, die preußische Stoffe zu literarischen Mythen verarbeiteten, im Unterschied zur Weimarer Klassik, die Stoffe aller Regionen und Epochen als überzeitliche menschliche Konflikte oder Bildungswege poetisierte. Viele Werke seit den 1890er Jahren waren als Negation von Preußen-Idee, überkommenen Lebensformen und Eliten angelegt: Großstadt versus Land, Individualisierung vs. Untertanen-Habitus, Bohème vs. bürgerliche Konventionen, freier Kunstmarkt vs. Staatskunst, Entfremdung vs. traditionelle Identität aus Monarchietreue, christlicher Religion und Militär. Künstler prangerten nun die sozialen Übel des großbürgerlich getragenen Kapitalismus an. Damit hielt und hält bis heute moderne Kunst der jeweiligen Wirklichkeit den Spiegel vor – dokumentarisch, fragend, schockierend, anklagend. Als gesamtpreußische Autoren von europäischem Rang erweisen sich in diesem Sinne primär die bereits behandelten Aufklärer, Kleist, die Romantiker und der Naturalismus in Berlin, im 20.  Jahrhundert ganz wenige Schriftsteller mit vermittelt preußischem Bezug. Europäisches Format, bis heute eine große Leserschaft und die Position als bekanntester Autor preußischer Stoffe und Themen erreichte Theodor Fontane. Auf der Ebene der Unterhaltungs- oder Heimatliteratur gab es seit den 1840er Jahren diverse, mit hohen Auflagen breitenwirksame Autoren mit Preußen-Fokus, die nur kursorisch berührt werden können.240 Aufgrund einiger preußischer Stoffe und Themen haben Literaturhistoriker im 19. Jahrhundert den gebürtigen Sachsen, von Friedrich II. nicht angestellten und in Wolfenbüttel tätigen Lessing posthum für Borussia vereinnahmt. Gustav 240 Arno Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 2 und 3, München 1967/1974; Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005. Helmut Motekat, Ostpreußische Literaturgeschichte mit Danzig und Westpreußen, München 1977 (S. 106: keine Literatur von hohem Rang im 18. Jahrhundert außer Hammann, Kant, Herder und später Holz, Max Halbe, Sudermann); Ernst Ribbat, Königsberg als Ort der Literatur, in: F.-L. Kroll (Hg.), Ostpreußen. Facetten einer literarischen Landschaft, Berlin 2001, S. 23–33 (Provinzialisierung im 19. Jahrhundert auch aufgrund Wegzug). Hendrik Thoß, Literatur in Preußen – Preußische Literatur (Tagungsbericht), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 24 (2014), S.  207–223; Hans-Christof Kraus/Frank-Lothar Kroll (Hg.), Literatur in Preußen – preußische Literatur, Berlin 2016, bes. S. 11–25 die Einleitung von Kraus.

276  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Roethe etwa erklärte 1913, Lessing sei „unzweifelhaft der preußische Klassiker kat exochen“. Das Schauspiel Minna von Barnhelm (1763) interpretierten Literaturhistoriker als Verehrung Friedrichs II. und Lessing wurde zum Partner des Königs in der Frühphase von Nationalliteratur wie Nationalstaat stilisiert. Seine preußenkritischen Äußerungen unterdrückte man, sein Eintreten für Humanität und (jüdische) Emanzipation blendete man aus. Im Zuge der „’Verpreußung’ der deutschen Literatur“ (P. U. Hohendahl) durch die Literaturgeschichtsschreibung seit den 1860er Jahren wurde ein Gutteil älterer Werke borussisch ausgelegt. Diese Vereinnahmung bekämpfte der promovierte Sozialdemokrat Franz Mehring und bezeichnete 1892 Minna von Barnhelm als schneidende Satire auf das friderizianische Regiment, Beleg bürgerlichen Widerstands gegen den Despotismus, ja Dokument des anhebenden Klassenkampfs.241 Aus mehreren Gründen gilt Heinrich von Kleist als preußischer Schriftsteller. Als Offizier und Beamter aus märkischem Uradel lebte und wirkte er in Altpreußen und war zugleich in den diskursiven Zirkeln der frühen Reformzeit verortet. Als Dramatiker und Novellist mit mehreren Tiefenschichten erreichte er bis zu seinem frühen Tode Weltniveau. Sein Stück Prinz Friedrich von Homburg (1811) läßt sich wegen Stoff und Thematik als aus Preußen erwachsen bezeichnen, denn es geht um das Individuum im Staat und den Widerspruch zwischen selbständigem Handeln und Gesetz. Der geregelten Ordnung wird am Ende der Vorrang gegenüber dem als „spitzfindig“ bezeichneten „Begriff der Freiheit“ zuerkannt. Trotzdem erschien die Hauptperson zeitgenössisch als „unwürdiger“ Repräsentant des Offiziersstands; 1828 untersagte Friedrich Wilhelm III. nach drei Aufführungen in Berlin das Stück. Erst seit den 1860er Jahren kam es häufig auf die Bühne – nun inszeniert im Sinne einer deutschnationalen Hohenzollern-Mission seit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Auch das Motiv (adeliger) Standesehre und die moderne Problematik des Kontrollverlusts durch dramatische Ereignisse kommen in Kleists Werken mehrfach vor. Sie kennzeichnet ein klarer, sprachgewaltiger Duktus, weshalb Kleist, anders als Iffland oder Kotzebue, noch heute gelesen und gespielt wird. In Gedichten ab 1806 äußerte Kleist sich antifranzösisch-nationalistisch. Das posthum publizierte Stück „Hermannschlacht“ (1809), meist verstanden als zeitlich rückverlagerter Aufruf zur Erhebung gegen die französische Besatzung und als Vorbild des „Volkssturms“ noch vom Nationalsozia-

241 Roethe, Preußen und Deutschlands Geistesleben, S. 95. Wilfried Barner u. a., Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, 4. Aufl., München 1981, S. 384–399. Peter Uwe Hohendahl, Bürgerliche Literaturgeschichte und nationale Identität. Bilder vom deutschen Sonderweg, in: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, München 1988, S.  200–231, Zit. S.  214. Franz Mehring, Die Lessing-Legende [1893], Berlin 1983, S. 280 ff.

4. Literatur  

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lismus geschätzt, kann aber auch als Kritik an der Inhumanität des Krieges oder als Geschlechterdrama gelesen werden.242 In die Lebenszeit Kleists fielen die Anfänge der Romantik, nach des Böhmen Josef Nadler zweifelhafter, stammesmäßig-völkischer Interpretation die preußisch-ostdeutsche Gegenbewegung gegen den Klassizismus der südwestdeutschen Stämme und die Weimarer Klassik.243 Tatsächlich richtete sich – bei großer Vielfalt – die Literatur der Romantiker gegen den westeuropäischen Rationalismus und den menschheitlichen Ansatz der Klassik. Die Hochromantik betonte statt Aufklärung und Zivilisation Christentum und Volksgeist, Subjektivität und Irrationalismus, Surrealität und Zerrissenheit der Seele. Berlin bildete mit Tieck und Wackenroder, später mit dem Oberschlesier Joseph v. Eichendorff und dem gebürtigen Königsberger E. T. A. Hoffmann ein dauerhaftes Zentrum, freilich neben Jena und Heidelberg. Preußische (Zeit-)Geschichte und Politik, Staatlichkeit oder Militär spielten in deren Werken keine tragende Rolle. Somit wirkte die Romantik zeitgenössisch allenfalls vermittelt im borussischen Sinne. Erst die Literaturgeschichtsschreibung seit den 1860er Jahren erklärte die Romantiker zu den Protagonisten deutscher Kultur versus westliche Zivilisation und Rationalismus. Für heutige Leser ist primär die nachdrücklich beanspruchte Subjektivität und Sinnsuche unter Entfremdungszwängen interessant. Preußen besaß 1815 Ansehen, weil es deutsche Macht und offenbar auf dem Weg zu Verfassung und Liberalisierung war. Dies änderte sich ab 1819 durch die Karlsbader Beschlüsse gegen „Demagogen“ in Publizistik und Literatur, das Ausbleiben der Verfassung und generell die innenpolitische Restauration deutlich. Der staatlich verfolgte Joseph Görres schrieb gegen das Land von „Stockund Stiefelkönigen“ an, das nun die Rheinprovinz regierte; selbst der Romantiker Achim von Arnim sah mit Schamröte sein Heimatland „allen Einflusses auf das Ausland beraubt“. Die bedeutenden Literaten des Vormärz äußerten sich weit überwiegend antipreußisch. Das junge Deutschland der 1830er/40er Jahre (Büchner, Gutzkow) war generell sozialkritisch und antikirchlich, politisch für Meinungsfreiheit, bürgerliche Emanzipation und gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat engagiert.

242 Pierre-Paul Sagave, Die Bedeutung Preußens in der deutschen Literatur, in: German Studies Review 6 (1983), S. 365–398, S. 375–380. Günter Blamberger, Heinrich von Kleist, Frankfurt/M. 2011, S. 26 ff., 365 ff. 243 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 2. Aufl., 4 Bde., Regensburg 1923–28; Dekonstruktion bei Kai Kauffmann, Warum es keinen Berliner Klassizismus geben kann. Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften aus wissenschaftshistorischer und kulturpolitischer Perspektive, in: I. M. d’Aprile (Hg.), Tableau de Berlin, Hannover 2005, S. 429–444 (mit dem Fazit, daß sich von Nadlers Kompilationen nichts Gutes für eine Sozialgeschichte der Literatur lernen läßt).

278  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Ab 1831 kontrastierte der nach Paris zwangsemigrierte Rheinländer Heinrich Heine die „Hauptstadt (…) der ganzen civilisirten Welt“ positiv mit der „potsdämischen Junkersprache“ und schrieb 1832 im Band „Französische Zustände“, früher hätten viele Nationalbewegte „die Vergrößerung Preußens gewünscht und in seinen Königen die Oberherren eines vereinigten Deutschland zu sehn gehofft.“ Er aber traue Preußen nicht, „diesem bangen, frömmelnden Kamaschenheld mit dem weiten Magen und mit dem großen Maule, und mit dem Korporalstock (…). Widerwärtig, tief widerwärtig war mir dieses Preußen, dieses steife, heuchlerische, scheinheilige Preußen, dieser Tartuffe unter den Staaten.“ Bis heute bekannt ist ferner sein gegen das hölzern-pedantische Volk, Beamte und Militärs gerichteter Vers in „Deutschland, ein Wintermärchen“ von 1844: „Sie stelzen noch immer so steif herum, so kerzengerade geschniegelt, als hätten sie verschluckt den Stock, womit man sie einst geprügelt.“ Heine nannte den Preußen-Adler die „schwarze, geflügelte Kröte“ und rieb sich sein Leben lang am Preußen seiner Zeit. Die borussisch geprägte Literaturgeschichte und die deutschnationale Rechte denunzierten Heine ein Jahrhundert lang – Heinrich von Treitschke beispielsweise als „vaterlandslosen Deutschjuden“, künstlerisch impotent, ohne Tiefe, charakterlos, lüstern und verlogen.244 Eine mächtige, weil breitenwirksame Bewegung von spezifisch preußischen Propagandisten entstand seit den 1840er Jahren mit diversen Bestseller-AutorenInnen im Bereich der Unterhaltungs- oder Trivialliteratur, die in meist stereotyper Sprache klischéhaft gezeichnete Oberschichten-Milieus und Konflikte mit gutem Ausgang darstellte, allesamt heute vergessene Titel. Dieses Genre sollte „das Dasein verschönern“, ließ den tristen Alltag durch träumende Flucht ins Idyllische oder Historische vergessen, wo sich stets „Herz zum Herzen findet“ und hielt Preußen hoch, ja verklärte es. Genannt sei nur Klara Mundt (geborene Luise Mühlbach), die in der Jahrhundertmitte die wohl populärsten historischen Romane mit Preußen-Fokus verfaßte. Ein immerhin mehrperspektives Bild der preußischen Gesellschaftsschichten (Militärs, Minister, Geheimräte, Rittergutsbesitzer, Bürger, Bauern) mit politischen Reflexionen der Dargestellten präsentierte der Schlesier Willibald Alexis (eigentlich Wilhelm Häring) in seinen (acht Bänden) historischen Romanen zur preußisch-märkischen Geschichte. Preußisch-royalistische Positionen propagierte der „Hausdichter des preußischen Adels“ und konservative Publizist George Hesekiel in allen Gattungen zwischen Roman, Lyrik und Bauernpredigt. Am Jahrhundertende erntete Ernst v. Wildenbruch, natürlicher Hohenzollern-Sproß, mit national gestimmter Lyrik und historischen Dramen wie „Die Quitzows“ (1888) große Publikumserfolge. Der zeitgenössisch bekannteste Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger von 244 Zitate Heine nach Julian Schmidt, Geschichte der deutschen Literatur von Leibniz bis auf unsere Zeit, Bd. 5: 1814–1866, Berlin 1896, Zitate S. 20 f., 222, 224. Jürgen Brummack (Hg.), Arbeitsbuch Heine. Epoche – Werk – Wirkung, München 1980, Zitate Treitschke S. 324.

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1910, der gebürtige Berliner Paul Heyse, lebte seit 1854 als „Nordlicht“ in München und thematisierte Preußisches in seinen umfangreichen Werken (25 Bände) nur vereinzelt (Graf Königsmarck, Elisabeth Charlotte). Das Drama „Colberg“ hingegen (1865), erlebte 180 Auflagen, war bis 1914 Pflichtlektüre an preußischen Gymnasien und wurde, zum Vorbild nationalsozialistischen „Endkampfs“ umgebogen, Vorlage für Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“ von 1944. Mit Heyses Altersgenossen Emanuel Geibel, dem aus Lübeck gebürtigen „Reichsherold“, gingen „vaterländische“ Dichter nun weit über den Preußen-Fokus hinaus und luden auch Germanenmythen, das mittelalterliche Reich, diverse Konflikte des 17./18. Jahrhunderts im Sinne der deutsch-nationalen Mission Preußens auf, so daß der Staufer Friedrich Barbarossa als Vorgänger Wilhelms I. erscheinen mochte – Indiz der miteinander verschränkten Borussifizierung deutscher Geschichte und der Nationalisierung Preußens. Fast alle der national-heroischen Preußen-Lobredner gelten heute als künstlerisch drittrangig.245 Deutliche preußische Prägung zeichnete einen der Hauptautoren des literarischen Realismus, den Schlesier Gustav Freytag aus. Er selbst sah die Prägung in seiner Autobiographie darin, seine Individualität der Autorität des Staates unterzuordnen und gab sich die Aufgabe, ein arbeitsames, kulturtragendes Bürgertum im starken Nationalstaat darzustellen. Im Roman „Soll und Haben“ (1855) sind die Hauptfiguren staatstreu, aber adelskritisch und explizit antipolnisch gezeichnet; mit der Gegenüberstellung von deutschem Arbeitsethos und jüdischem Geschäftsgeist ist die Grundlage für spätere völkisch-antisemitische Rezeption gelegt. Mit vier Bänden „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ (1859–62), historischen Erzählungen wie „Die Ahnen“ und als Herausgeber der Zeitschrift „Die Grenzboten“ war Freytag einer der bekanntesten deutschen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.246 Ein bis heute lebendiges Denkmal hat brandenburgisch-preußischen Lebensverhältnissen ein einziger Autor gesetzt: Theodor Fontane. Wie Schinkel in Neuruppin geboren, war er jahrzehntelang Journalist bei konservativen Blättern und preußischer Kriegsberichterstatter, dann Theaterkritiker und Lyriker. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ schilderte er ab 1860 liebevoll Landschaften und Orte vor dem Hintergrund von Preußens heroischer Geschichte bis 1813, vielfach durchsetzt mit Anekdoten oder lokalen Legenden. Der Germanist Hubertus Fischer hat sie in seinem Buch „Gegenwanderungen“ historisch dekonstruiert. Aber Fontane prägte damit das Bild Alt-Brandenburgs langfristig. 245 Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit (1848–1880), Reinbek 1982 u. ö., S. 127 ff. Regina Hartmann, Willibald Alexis – ein dichterischer Biograph Preußen. Geschichtskonstruktion auf märkischen Sand, in: G. Hundrieser u. a. (Hg.), Geistiges Preußen – preußischer Geist, Bielefeld 2003, S. 121–134. Zu Heyse http://de.wipedia.org/wiki/Paul_Heyse. 246 Sagave, Bedeutung Preußens, S.  388–390. Glaser (Hg.), Deutsche Literatur, Bd.  7, S. 141 f., 150 f.

280  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Im letzten Lebensjahrzehnt erst schrieb er seine bekanntesten Werke „Effi Briest“ und „Der Stechlin“. Es sind wilhelminische Gesellschaftsromane über Bürger, Offiziere und Pastoren, über die Konflikte von Individuen mit überkommenen Normen und erstaunlicherweise stehen dabei Ehe- bzw. Rollenkonflikte von Frauen im Mittelpunkt. Alles wird unpathetisch, mit ironischer Skepsis, auktorial, aber diskret geschildert, ohne radikale Rebellion oder unkritische Affirmation. Im Stechlin hat Fontane den junkerlichen Landadel sympathisch gezeichnet; human, moderat und leicht resigniert, nimmt er den Verlust seiner traditionellen Führungsrolle in der neuen Industrie- und Massengesellschaft hin. Realiter war das bekanntlich anders. Entsprechend äußerte sich Fontane in Privatbriefen zunehmend kritisch. 1888 distanzierte er sich vom „Borussismus“, der Mischung aus Überschätzung des Militärischen und Kadavergehorsam, Staatsvergötzung und Hurrapatriotismus unter paralleler Aufgabe humaner, individueller Werthaltungen. Der Sozialdemokratie hielt Fontane verständliche, ja berechtigte Ideen zugute, stand ihren Patentrezepten und marxistischer Heilsgewissheit freilich skeptisch gegenüber. Im (erst posthum publizierten) Gedicht „An meinem Fünfundsiebzigsten“ beklagte Fontane 1894, daß ihm keine märkischen Junker gratulierten, wohl aber viele jüdische Bürger und schloß emphatisch: „Was sollen mir da noch die Itzenplitze!“ 1897 verdammte er die selbstsüchtigen und bornierten Junker rundum: „Preußen – und mittelbar ganz Deutschland – krankt an unseren Ost-Elbiern. Ueber unsren Adel muß hinweggegangen werden“. Staatlicherseits erst ab 1895 mit 3.000 M Ehrenpension jährlich geehrt, ist Fontane bis heute der preußische Geschichtenerzähler, dabei sprachlich und künstlerisch meisterhaft, im Subtext nicht unkritisch. So wird das in seinen Werken imaginierte bescheidene, zurückhaltende, ehrbare Preußen bis heute von den Nachgeborenen mehr geliebt als das realhistorisch existente von vielen Zeitgenossen.247 Eine nach nordostdeutscher Aufklärung und nordostdeutscher Romantik dritte spezifische Periode in der Hochliteratur stellte der auf Berlin zentrierte Naturalismus der 1880er/1890er Jahre dar. Junge, meist aus ostelbischen Provinzen nach Berlin bzw. dessen Umland (etwa Friedrichshagen) gezogene Autoren wie Otto und Julius Hart, Arno Holz und Johannes Schlaf, Max Kretzer, Wilhelm Bölsche, Hermann Sudermann schilderten drastisch-düster unmenschliche soziale Zustände während der Hochindustrialisierung. Der bedeutendste Exponent, der sich in der Republik zum Dichterfürsten stilisierende Gerhart Hauptmann, hat die Szene auch zeitlich rückverlagert bis ins 18.  Jahrhundert. Die Naturalisten führten die bisher ausgeschlossene Umgangssprache in die Literatur ein und stellten basale Ge247 Helmuth Nürnberger, Fontanes Welt, Berlin 1999; Ders., Theodor Fontane – ein Dichter in Preußen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 53 (2001), S. 47–64. Hubertus Fischer, Gegenwanderungen. Streifzüge durch die Landschaft Fontanes, Frankfurt/M. 1986. Kenneth Attwood, Fontane und das Preußentum, Berlin 1970, S. 200–296. Gerhard Friedrich, Fontanes preußische Welt. Armee – Dynastie – Staat, Herford 1988, S. 275 f., 327–333 (Sozialdemokratie), 370 (Zitat contra Adel).

4. Literatur  

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mütsstrukturen leidender Menschen dar. Die größte Resonanz fanden Theaterstücke, vor allem Hauptmanns, die dem Publikum die elende Lebenswelt der Unterschichten drastisch vor Augen führten, und mehrfach Skandale verursachten. Der Berliner Polizeipräsident Bernhard von Richthofen soll 1890 das seither bekannte Wort „De janze Richtung paßt uns nicht“ geäußert haben. Mit dem literarischen Naturalismus, dem malerischen Impressionismus und wenig später Reformarchitektur begann die kulturelle Moderne nicht nur in Preußen.248 In der Höhenkamm-Literatur war nach Fontane schon um 1900 kein spezifisch preußischer Strang mit Bezug auf Monarchen, Geschichte, Staatsidee, Führungsschichten mehr vertreten. Dichtergrößen wie Hermann Hesse, Thomas Mann, Kafka, Rilke und andere inklusive des in Berlin wirkenden Brecht, behandelten preußische Lebenswelten nicht; viele renommierte Autoren der Zeit waren jedoch Mitglieder der 1926 begründeten Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Preußische Stoffe und Themen blieben Residuum der bis in die 1930er Jahre massenwirksamen Heimatdichtung altpreußischer Provinzen, von Unterhaltungsliteratur und Gebrauchslyrik, und nicht zuletzt von Rechts-Intellektuellen wie Moeller van den Bruck (Der preußische Stil, 1916), Oswald Spengler (Preußentum und Sozialismus, 1920) oder Ernst von Salomon (Die Kadetten, 1933). Soweit literarisch bedeutende Autoren noch historische preußische Stoffe aufgriffen, wurden diese eher im Sinne überzeitlicher Konfliktsituationen gestaltet, beispielsweise in Jochen Kleppers Roman Der Vater – Der Roman des Soldatenkönigs (1937). Schließlich gab es eine bundesrepublikanische Nachgeschichte preußischer Literatur mit den regional stark auf Ost- und Westpreußen inklusive Danzig bezogenen Werken von Siegfried Lenz, Günter Grass, Johannes Bobrowski oder Arno Surminski sowie auf (Ober-)Schlesien zentriert Horst Bienek und Heinz Piontek. Sie behandelten oft die Nationalitätenkonflikte des 20. Jahrhunderts. Die Großstadt Berlin – das lebensweltliche Gegenmodell Altpreußens – zog zahlreiche Exponenten des Expressionismus an und war das Zentrum der unter diesem Sammelbegriff faßbaren Richtungen. Pars pro toto seien nur Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), ein virtuoser Großstadtroman in Montagetechnik, und die Lyrik Gottfried Benns genannt.249 Das republikanische Berlin besaß Attraktivität auch für ausländische Literaten, beispielsweise für Christopher Isherwood (1929–33) und weitere Autoren 248 Zum Naturalismus vgl. Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 8: Vom Nachmärz zur Gründerzeit (1848–1880), Reinbek 1982 u. ö., S. 169–204, Matthew Jefferies, Imperial Culture in Germany, 1871–1918, Basingstoke 2003, S. 145–155, und Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933. Lehrbuch Germanistik, 2. Auflage, Stuttgart 2010, S. 12 ff. 249 Fähnders, Avantgarde und Moderne, S. 125 ff. Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 2, S. 468–486 (Klepper). Oliver Bernhardt, Alfred Döblin, München 2007, S.  81–104. Joachim Dyck, Gottfried Benn. Einführung in Leben und Werk, Berlin 2009, S. 80 ff. (preußisch-etatistische Prägung Benns).

282  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft aus den USA, besonders auch für Schriftsteller aus dem postrevolutionären Rußland. Längere Zeiten lebten Maxim Gorki (1921–23), Eliezer Lissitzky (1921–25), Wladimir Majakowski (1922/24), Wladimir Nabokov (1922–36) und Sergej ­Tretjkow (1930/31) an der Spree. Wegen des (zeitweiligen) Zuzugs von Künstlern aller Sparten aus dem Osten ist die Metropole der 1920er Jahre als Kulturhauptstadt Osteuropas (Frank Trommler) und Ostbahnhof Europas (Karl Schlögel) bezeichnet worden.250

5.

Malerei

Zentrale Kennzeichen und Tendenzen des Literaturbetriebes finden sich in ähnlicher Weise auf dem Felde der Malerei: Die Existenz bedeutsamer lokaler, aber nicht allzu vieler Größen von europäischem Rang; der Aufstieg Berlins als Kunststadt durch Zuzug zumal aus dem Osten; die Differenz zwischen hofnahen Künstlern und freiberuflich für den expandierenden Markt produzierenden; der Streit um die Maßstäbe der Ästhetik und die Zwecke von Kunst; die dezidierte Ablehnung preußischer Sujets und Werthaltungen in der modernen Malerei. Von den lokalen Größen der Malerei ab 1825/28, die zweifellos künstlerisch qualitätvoll arbeiteten und für ganz Preußen bedeutsam waren sind bis heute zwei besonders bekannt: Eduard Gaertner, Meister deutscher Architekturmalerei im mittleren Jahrhundertdrittel und Verfertiger zahlreicher Veduten des biedermeierlichen Berlin bzw. von Schlössern sowie der gebürtige Anhaltiner Franz Krüger. Mit Porträts der Berliner Gesellschaft von der Königlichen Familie bis zu Bürgerfrauen, Jagdszenen und Militärparaden war er jahrzehntelang führend in diesem Genre. Zeitgenössisch salopp „Pferde-Krüger“ genannt, stellten ihn Experten wie Alfred Lichtwark 1909 in die Reihe der hervorragenden Berliner Maler: Chodowiecki–Krüger–Menzel–Liebermann. Krüger ebnete in seinen Stadtszenen bereits soziale Ränge ein, so daß König und Adel nicht wichtiger als Bürger erschienen. Sein Monumentalgemälde Berliner Huldigung an Friedrich Wilhelm IV. 1840 brachte ihn, ähnlich wie später Menzel beim Friedrich-Zyklus, in Konflikt mit dem König, der Forderungen zur Bildkomposition stellte und die Szene als freudiges Ja der Bevölkerung zu seinem Gottesgnadentum interpretierte. Krüger blieb der Bild-Übergabe an den König 1844 fern. Generell waren Künstler bei Aufträgen damals gutenteils auf solche von Monarchen und Höfen verwiesen. Speziell Friedrich Wilhelm IV. förderte diverse 250 Frank Trommler, Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014, S. 341–352. Jörg Helbig (Hg.), Welcome to Berlin. Das Image Berlins in der englischsprachigen Welt von 1700 bis heute, Berlin 1987, bes. S. 71 ff. Karl Schlögel (Hg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941, Berlin 1995. Fritz Mierau (Hg.), Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film 1918–1933, Leipzig 1987, S. 259 ff., 350 ff., 460 ff.

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Künstler, etwa den Maler und Dichter August Kopisch, mit Hofanstellung, Pension, Professorentitel und hielt sie so staatstreu. Jedoch blieb die von Mittelalter und Romantik inspirierte Vorstellung dieses Monarchen, er könne mit Gnadenbeweisen, schönen Kunstwerken oder klassizistischen Bauten alle politischen Partizipationsforderungen und sozialen Problemlagen mit ästhetischen Mitteln überwinden und sein Ideal einer ständisch gegliederten Monarchie mittels Kunst stabilisieren, verquerer Wunschtraum ohne reale Basis in der Gesamtgesellschaft.251 Die malerische Entwicklung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ist als Dreischritt zu beschreiben: eine Reihe von staatstreuen Historien- und Schlachtenmalern als Protagonisten von Preußens Gloria mit dem Solitär von europäischem Format Adolph (v.) Menzel als Spitzenreiter und Außenseiter zugleich; die sich von ihnen seit etwa 1890 stilistisch wie thematisch absetzenden, gutenteils in Berlin wirkenden deutschen Impressionisten; die Maler seit dem Expressionismus, die die modernen Stile vorantrieben und in den 1920er Jahren dominierten, Preußens Eliten bzw. Themen in primär negativer Perspektive wahrnehmend. Diverse, heute häufig in historischen Ausstellungen vertretene Maler lieferten ab 1866 nachträglich die offiziell in Auftrag gegebenen Ruhmesszenen preußischer Geschichte seit 1640: Wilhelm Camphausen, Karl Steffeck, Georg Bleibtreu, Karl Röchling, Max Koner und andere, Marinebilder beispielsweise Carl Saltzmann oder Hans Bohrdt. Sie fanden sich massiert in der Ruhmeshalle im Berliner Zeughaus und in mehreren Sälen der Nationalgalerie. An der Spitze der Staatskünstler stand Anton von Werner, seit 1875 Direktor der Akademie der Künste, Vorsitzender des Vereins Berliner Künstler und der Allgemeinen deutschen Kunstgenossenschaft, drei Jahrzehnte beliebtester Maler am Hohenzollern-Hof, staatlich mit höchsten Orden und dem Titel Exzellenz geehrt. Er malte detailgetreu, aber zugleich heroisch stilisiert, die politikgeschichtlichen Schlüsselszenen Proklamation des Kaiserreichs in Versailles 1871 (1877), Berliner Kongreß 1885 (1886), Eröffnung des Reichstags 1888 (1893) in Großformaten sowie mehrfach Wilhelm I., Bismarck und Moltke. Die Monarchen, Reichsheroen und Militärs standen bei diesen Historienbildern stets glänzend im Mittelpunkt; hingegen bildeten etwa die Reichstagsabgeordneten nur die Staffage im Hintergrund. Werners Dominanz in der offiziellen Kunst(politik) war zwei Jahrzehnte überragend;

251 Dominik Bartmann (Hg.), Eduard Gaertner (1801–1877) (Ausstellungskatalog), Berlin 2001. Gerd Bartoschek u. a., Preußisch korrekt – Berlinisch gewitzt. Der Maler Franz Krüger (1797–1857) (Ausstellungskatalog), München/Berlin 2007, S.  40–42 und S.  239 (Lichtwark 1909). U. Kittelmann/B. Verwiebe (Hg.), August Kopisch. Maler, Dichter, Entdecker, Erfinder (Ausstellungskat.), Dresden 2016. Ingo Sommer, Friedrich Wilhelm IV. – Er wollte das schöne Preußen, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 26 (2016), S. 271–290, S. 278. Sommer bringt (zu) viel Sympathie für den König auf.

284  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft danach gaben ihn Karikaturen etwa des „Simplicissimus“ oder des „Kladderadatsch“ der Lächerlichkeit preis.252 Ein anderer Künstler hat die bildlichen Vorstellungen von Preußen bis heute geprägt: Adolph (v.) Menzel, malerisches Pendant zu Fontane. Beide tauchten mit ihren ikonographischen bzw. narrativen Produkten Preußen in ein mildes Licht und prägten damit bis heute dessen positives Bild dauerhafter als die zeitgenössischen politischen Akteure. Dabei blieb Menzel wie Fontane im höheren Lebensalter sehr bewußt, daß das von ihnen porträtierte alte Preußen sowohl idealisiert als auch seit der Bismarck-Zeit weitgehend verschwunden war. Der gebürtige Breslauer Menzel, zeitlebens als freier Maler in Berlin ansässig, zeichnete frühzeitig geschichtliche Szenen. Er fertigte 400 Illustrationen von Episoden für Franz Kuglers Band Geschichte Friedrichs des Großen (1840). Seit 1848 entstand ein elfteiliger Ölgemälde-Zyklus über Friedrich II.; besonders berühmt wurde das Flötenkonzert von Sanssouci (1850) als farbiger Idealisierung des Künstler-Königs. Das letzte Bild des Zyklus, Friedrichs Ansprache vor der Schlacht bei Leuthen, ließ Menzel unter dem Eindruck der Kriegstoten von 1866 und nach offiziöser Kritik am zu randständig platzierten König 1867 zeitlebens unvollendet. Menzel wollte weder als Hofmaler der Hohenzollern gelten noch sich die Komposition seiner Bilder vorschreiben lassen. Das Kapitel Friedrich II. war für ihn seitdem erledigt. Davor war Menzel offiziell mit dem Monumentalbild Königskrönung Wilhelms I. in Königsberg 1861 (1865) beauftragt worden, aber er betrieb keine platte Glorifizierung der Hohenzollern. Vielmehr kann sein Ballsouper (1878) geradezu als Ironisierung der Hofgesellschaft gelesen werden. Ein künstlerischer Großunternehmer für das Juste Milieu wie Franz von Lenbach und Franz von Stuck in München war Menzel definitiv nicht. Frühe und wichtige Werke galten aktuellen zeitgenössischen Themen: Die Aufbahrung der Märzgefallenen (1848), Berlin-Potsdamer Eisenbahn (1849), die Abreise Wilhelms I. aus Berlin im Juli 1870, vor allem sein Eisenwalzwerk (1875). Malerische Meisterschaft und impressionistische Züge kennzeichnen sie. Die Bevölkerung, ja die Arbeiter stehen im Mittelpunkt und die Szenen sind sowohl aus distanzierter Perspektive gemalt wie ironisch gebrochen. Der kleinwüchsige, im Alter kauzig-sarkastische Menzel, geehrt mit dem Titel Exzellenz, dem Amt des Kanzlers des Ordens Pour le mérite

252 Zu den Historienmalern vgl. Von Specht, „Danke ich Gott, dass ich ein Preuße bin“, Abschnitte VI bis VIII und Barbara Paul, Preußens Gloria. Deutsche Geschichte in der Nationalgalerie zu Berlin, in: Stefan Germer u. a. (Hg.) Bilder der Macht – Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München/ Berlin 1997, S. 550–562. Thomas W. Gaehtgens, Anton von Werner: Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frankfurt/M. 1990. Peter Paret, Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland, Frankfurt/M. u. a. 1983, S. 28–34. Dominik Bartmann u. a. (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern, München 1993, S. 110–116 (Karikaturen).

5. Malerei  

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und der Nobilitierung am Lebensende, gilt wie Schinkel als bildender Künstler Preußens von europäischem Rang.253 Den von Frankreich ausgehenden Impressionismus verdammte der „Bismarck der Kunst“, Anton von Werner, als welsche Entartung. Sein Verhalten führte 1898 zur „Berliner Secession“, der (organisatorischen) Verselbständigung posthistoristisch orientierter Künstler. Bedeutende Vertreter der unter dem Sammelbegriff Impressionismus zusammengefaßten, in den Malweisen durchaus unterschiedlichen Gruppe waren Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt, Walter Leistikow, Lesser Ury, fast alle gebürtige Preußen. Ihre Gegenstände umfaßten märkische Landschaften, Berliner Stadtszenen und Menschen aller Ränge, in der Regel preußisch jedenfalls der Lokalität nach. Zwar gab es bereits davor Sezessionen in München (1892), Weimar, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe und Wien (1897), aber die politische Aufladung war in Berlin am höchsten. In Wien beispielsweise nahm Kaiser Franz Joseph die Jugendstil-Künstler, ohne sie persönlich zu fördern, gelassen hin; freilich waren deren Schwerpunkte Architektur und Design, trotz Ausnahmen wie den ornamentalsymbolistischen Malern Gustav Klimt oder Egon Schiele. Wilhelm II. hingegen, gestützt von Werner, ereiferte sich langjährig gegen die Moderne und führte einen „Kulturkampf “ eigener Art. 1896 verweigerte der Monarch dem Dichter Gerhart Hauptmann den Schillerpreis und 1898 Käthe Kollwitz eine Medaille für ihren Graphik-Zyklus zur Weber-Thematik. In einer zeitgenössisch wie seither vielzitierten Rede 1901 verteidigte Wilhelm II. die vermeintlich „wahre Kunst“, wo das „Gesetz der Schönheit und Harmonie, der Ästhetik“ gelten müsse gegen die „Rinnstein-Kunst“, die „weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist“ und zeigte sich erfreut, daß wenigstens die deutsche Bildhauerei „rein geblieben“ sei von modernen Strömungen, d. h. nationalheroisch. Ein für weite Kreise typisches Zeugnis scharfer Ablehnung moderner Kunst, zudem verwoben mit preußischen Vorurteilen, lieferte der General Friedrich von Bernhardi. Nach dem Besuch der Ausstellung der Sezession 1905 in München schrieb er: „Es war, als ob die Insassen einer Irrenanstalt alle miteinander gemalt hätten. (…) Die Schönheit war aus diesen Hallen gänzlich verbannt. Alles wühlte im Schmutz, und sichtlich trat die Freude am Gemeinen in die Erscheinung. Jeder vornehme Zug fehlte. Man kann das, was da zu sehen war, eigentlich überhaupt nicht mehr Kunst nennen. (…) Alles trug einen internationalen Charakter (…). Hier sah man recht deutlich, daß auch eine Kunststadt eine große und rei253 Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S.  226  f. (zwei Mythen-Erzähler). Claude Keisch u. a. (Hg.), Im Labyrinth der Wirklichkeit. Adolph Menzel 1815–1905, Köln 1996. Annette Dorgerloh, Plastik und Malerei, in: Streidt/ Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, S.  456–489 (Werner, Menzel, Impressionismus). Claude Keisch, So malerisch! Menzel und Friedrich der Zweite, Leipzig 2012, S. 86–89.

286  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft che Geschichte haben muß, um wirklich ein gesunder Nährboden für die Kunst zu sein. Das fehlt in München absolut (…), [die Stadt] hat politisch stets eine zweite oder dritte Rolle gespielt. Sie hat jahrhundertelang gegen die Interessen des Deutschtums, des größeren Vaterlandes, im Kampf gestanden und war lange Zeit die Hauptburg des internationalen und doch zugleich partikularistischen deutschfeindlichen Ultramontanismus.“254 Die staatlich-monarchische Kunstpolitik blieb intentional restriktiv. 1899 verbot Wilhelm II. per Erlaß dem Direktor der Berliner Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, der mit Hilfe von zwei Dutzend Mäzenen ab 1896 Werke der französischen Moderne inklusive Delacroix und Daumier erwerben konnte, deren prominente Aufhängung. 1908 kam es zum Eklat, als Tschudi großformatige französische Werke der Schule von Barbizon ankaufen wollte, und Wilhelm II. ihm das untersagte. Tschudi wurde beurlaubt und nahm 1909 das Angebot, Direktor der Königlich Bayerischen Museen in München zu werden, an.255 Vor dem Hintergrund all dieser Vorgänge entwickelte sich die Frage der Beschickung des Deutschen Pavillons der Weltausstellung in St. Louis 1903/04 zum spektakulären politischen Streit um Kunst im Kaiserreich. Die Sezessionisten übten wegen ungenügender Berücksichtigung ihrer Werke Boykott. In einer zweitägigen Reichstagsdebatte am 15./16.2.1904 wurden die preußische Bürokratie, ja implizit Wilhelm II. persönlich mit deutlichen Worten angegriffen: Weder sei autokratische Bestimmung im konstitutionellen Kulturstaat angemessen, noch sei die Bevormundung freier Kunst durch fruchtlose „Hofästhetik“ angesichts internationaler Konkurrenz hinnehmbar. Alle Parteien außer den Deutschkonservativen konnten sich hierbei als Anwälte künstlerischer Weltgeltung und nationaler Interessen profilieren. Hofkultur à la Wilhelm II. verlor die Hegemonie. Im Streit um die Bedeutung moderner Malerei gewannen im letzten Vorkriegsjahrzehnt in Preußen drei gesellschaftliche Kräfte klar den Vorrang: Ein großer Kunstmarkt mit potenten Kunstvereinen, Dutzende von kommunalen Museen und Mäzene, darunter – erst jüngst bedeutungsgerecht – anerkannt auch Frauen. Das galt insbesondere in Preußens Westen (K. E. Osthaus und andere) 254 Zur Sezession Paret, Berliner Secession, S.  93  ff. und Jefferies, Imperial Culture, S. 159–171. Zur Kunstpolitik Wilhelms II. Fähnders, Avantgarde und Moderne, bes. S. 66 f. Wilhelms II. Rede zur Vollendung der Siegesallee 18.12.1901, in: Ernst Johann (Hg.), Reden des Kaisers, 2. Aufl., München 1977, S. 99–103. Friedrich von Bernhardi, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben nach gleichzeitigen Aufzeichnungen und im Lichte der Erinnerungen (1849–1918), Berlin 1927, S. 270 (Zitat). 255 Ines Sonder, „Ein Ruhmesblatt für die Stifter“. Mäzene der französischen Moderne für die Nationalgalerie um 1900, in: A.-D. Ludewig u. a. (Hg.), Aufbruch in die Moderne, Köln 2012, S.  210–231, S.  214, 222, 225  f. Zum Erlaß 1899 und zur Affäre 1908/09: Barbara Paul, Hugo von Tschudi und die moderne französische Kunst im Deutschen Kaiserreich, Mainz 1993, S. 109–116, 253–276 sowie Johann Georg von Hohenzollern/Peter-Klaus Schuster (Hg.), Manet bis van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, München u. a. 1996, S. 21–40, 391–401.

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sowie in Berlin, wo gutenteils jüdische Großbürger (James Simon, Eduard Arnhold, Mendelssohns u. a. m.) das gesellschaftliche Engagement für die klassische Moderne trugen. Zahlreiche Privatsammler beriet der in Braunschweig geborene Generaldirektor der Königlichen Museen, Wilhelm Bode, über drei Jahrzehnte hinweg. Er lavierte geschickt zwischen den Akteuren, leistete vielfache Vermittlungsarbeit für die Kunst bis zum Impressionismus und wurde 1914 geadelt.256 Allerdings bestand keine generelle Akzeptanz der Moderne. Akzeptiert war vielmehr bis 1933 nur die moderate Moderne, nicht die folgende Avantgarde von Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Surrealismus. Denn die AvantgardeKünstler lösten sich in ihrer sozialen Rolle vom etablierten Bildungsbürgertum und formal von alten ästhetischen Normen. Ihre Werke ohne klassische Schönheit, scheinbar chaotisch, destruktiv, oft provokativ, zuletzt abstrakt oder surreal, überstiegen das Kunstverständnis der meisten Bürger deutlich. Daß der Übergang von der moderaten Moderne des Impressionismus zur avantgardistischen des Expressionismus die kritische Grenze markierte, belegt das Faktum, daß die Nationalsozialisten 1937 den Beginn der sog. „entarteten Kunst“ grundsätzlich beim Jahr 1910 ansetzten. Schon 1913 wurde die Kölner Sonderbund-Ausstellung im Preußischen Abgeordnetenhaus als „Entartung“ abgestempelt. Als mit Revolution und Inflation die ökonomische und gesellschaftliche Sicherheit des wilhelminischen Reiches für viele Bürger dahin war, gerannen Debatten um künstlerische Ästhetik untergründig zum Kampf um die Republik. Seit 1928 verdammten deutschnationale Rechte mit dem Schlagwort des „sozialistischen Kulturbolschewismus“ moderne Kunst, Architektur, Musik, Theater rundum. Für Georg Bollenbeck stellte deshalb der Begriff des „Kulturbolschewismus“ die semantische Brücke zwischen deutschnationalem Bürgertum und Nationalsozialismus dar. Anhand der Dialektik Tradition – Avantgarde – Reaktion läßt sich ferner argumentieren, daß dies ein weiteres Beispiel für folgenschwere Rückwirkungen des künstlerischen auf den politischen Bereich darstellt, und insoweit Kunst und Politik nicht als separierte Sphären zu betrachten sind.257 256 Paret, Berliner Secession, S. 167–223, Zit. S. 206 (Reichstag 1904). Gabriele B. Clemens, Der rheinische Kunstmarkt, Mäzene und Sammler im langen 19. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 76 (2012), S. 205–225. Cella-Margarethe Girardet, Jüdische Mäzene für die Preußischen Museen zu Berlin. Eine Studie zum Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2000, S. 14 ff. Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000, S. 135 ff.; Michael Dorrmann, Eduard Arnhold (1849–1925). Eine biographische Studie zu Unternehmer- und Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich, Berlin 2002, S. 121 ff. Anna-Carolin Augustin, Berliner Kunstmatronage. Sammlerinnen und Förderinnen bildender Kunst um 1900, Göttingen 2018, S. 365–370, 371–447 (Frauen-Biogramme). 257 Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt/M. 1999, S.  127–143 (moderate und avantgardistische Moderne, Stichjahr 1910), 155 (Abgeordnetenhaus 12.4.1913, Entartung) und S. 275–289 (Begriffsanalyse Kulturbolschewismus).

288  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Mit den Künstlergruppen „Blauer Reiter“, in München ab 1901 formiert, aber erst 1912 so genannt (Franz Marc, August Macke, Wassily Kandinsky vor allem) und der „Brücke“, 1905 in Dresden begründet, begann der deutsche Expressionismus. Diese Maler gaben die noch grundsätzlich wirklichkeitsnahe Darstellungsweise des Impressionismus zugunsten einer Motivreduktion auf markante Objekte, dicke Pinselstriche, freie Farbgebung und Verzicht auf perspektivische Erschließung auf. Es ging um den Ausdruck ganz subjektiver Wahrnehmung. Die Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller und Max Pechstein, fast alle gebürtige Sachsen, zogen bis 1911 in die Spree-Metropole. Brieflich begründete Kirchner den Umzug mit dem Satz: „Der Existenzkampf ist sehr hart hier, aber die Möglichkeiten auch größer“. Gerade aus den Provinzen jenseits der Oder wanderten Künstler der etwa ab 1870 geborenen Generationen nach Berlin: Aus Schlesien Ludwig Meidner, ­Renée Sintenis, Hans Baluschek und Willy Jaeckel, aus Ostpreußen Käthe Kollwitz; aus dem sächsisch-thüringischen Raum kamen Max Beckmann, Otto Dix, Max Pechstein und Hannah Höch; aus dem Ausland zogen Emil Nolde, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter an die Spree. Dazu traten die gebürtigen Berliner George Grosz (Georg Gross) und John Heartfield (eigentlich Helmut Herzfeld) im Bereich politischer Photo-Montage. Die Residenzstadt Dresden, wo das Publikum an überkommenen Kunstidealen festhielt, verlor moderne Künstler; ländliche Künstlerkolonien in Oberbayern oder Worpswede blieben Alternativen. Die Impressionisten wirkten fort, aber erschienen nun vergleichsweise traditionell. Liebermann etwa, schon familiär wohlhabender Großbürger und Ehrendoktor der Berliner Universität bereits ab 1912, genoß breite Wertschätzung, amtierte 1920–32 als Präsident der Preußischen Akademie der Künste und galt als der Malerfürst Berlins wie des Freistaats. 1907 prägte er das Bonmot, die künstlerischen Revolutionäre von gestern seien die Klassiker von heute.258 Zu diesem Zeitpunkt gab es nämlich Zwistigkeiten mit den malerischen Expressionisten, die, als Bohème in Berlin lebend, sich in der Neuen Secession zusammenfanden. Sie und Exponenten der folgenden Stilrichtungen stellten die endgültige Abkehr vom traditionellen Preußen zugunsten der modernen, meist großstädtischen Welt dar. Für die letzten Vorkriegsjahre stehen dafür insbesondere Kirchners mehrfach variierte Darstellungen der Kokotten des Straßenstrichs, in seinen Mittelformaten Potsdamer Platz und Friedrichstraße 1913/14. Eines dieser Bilder, die Berliner Straßenszene (1913), 1937 vom jüdischen Besitzer für 258 Grundlinien der künstlerischen Ansätze skizziert Katharina Henkel, Die „Brücke“ in Berlin, in: Dies./Roland März (Hg.), Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens, Berlin 2001, S. 97–99, S. 142 Zitat Kirchner 1912; ­Corona Hepp, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987, S. 89 ff. Heinrich Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 3: Neuzeit und Moderne 1750–2000, München 2000, S. 250 ff. Paret, Berliner Secession, S. 225 (Zit. Liebermann).

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3000 RM verkauft, wurde 2006 vom Berliner Brücke-Museum an dessen Erben restituiert und danach in New York für 38 Mio. Dollar versteigert. Dort hängt das Gemälde heute. Tatsächlich gab es 1914 in Berlin geschätzte 33.000 Prostituierte. Die Stadt galt zudem schon vor dem Weltkrieg, vor allem aber in den 1920er Jahren, als europaweites Zentrum für schwule Subkultur, wo der frühe Sexualforscher Magnus Hirschfeld wirkte und der Begriff Homosexualität geprägt wurde. Der Maler Marsden Hartley, einer der Mitbegründer der klassischen Moderne in den USA, zog 1913 wegen seiner Beziehung zu einem adeligen Leutnant von Paris nach Berlin, fand die Stadt bezaubernd und malte nach Kontakten mit der lokalen Avantgarde in abstrakt-kubistischer Manier Bilder von Soldaten und Stadt. Die freizügige Metropole der 1920er Jahre ist in Christopher Isherwoods Buch „Goodbye to Berlin“ (1939) und dann als Musical bzw. Filmhit „Cabaret“ (1972) verewigt.259 Bedeutende Foren des Austauschs von Künstlern aller Sparten waren in Berlin „Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und Künste“, 1910 von Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin) gegründet, und „Die Aktion. Wochenschrift für freiheitliche Politik und Literatur“, ab 1913 vom Sozialdemokraten Franz Pfemfert herausgegeben. Die europäische Avantgarde besaß eine dezidiert antibürgerliche Stoßrichtung; einige Exponenten hielten zwecks „Reinigung“ der überkommenen Welt sogar Krieg für nötig. Im Manifest der italienischen Futuristen 1909 wurde explizit formuliert: „Wir wollen den Krieg preisen, – diese einzige Hygiene der Welt“. Bei den deutschen Künstlern (Beckmann, Grosz, Kirchner, Klee, auch Kokoschka) war das bis 1914 deutlich anders. Aber selbst viele dieser Maler empfanden mit Kriegsausbruch nationale Begeisterung – bis ihr Front-Erlebnis generelle Kriegsablehnung wachsen ließ. Viele Avantgarde-Künstler wirkten im engen Verbund mit Künstlerinnen, deren Bedeutung als Unterstützerinnen wie als Schöpferinnen aus eigenem Recht immer deutlicher hervortritt, gerade im Umkreis des Expressionismus. Der Verein der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen hatte bereits 1868 eine eigene Kunstschule gegründet. Aus diesem Umkreis erbaten Käthe Kollwitz, Sabine Lepsius und andere 1904/05 die Zulassung von Frauen zur Kunstakademie – vergeblich, denn Direktor Anton von Werner lehnte brüsk ab. Im Landtag un259 Liebermanns Gegner. Die Neue Secession in Berlin und der Expressionismus, hg. von der Stiftung Brandenburger Tor, Berlin/Schleswig 2011, S. 18 ff. Henkel/März (Hg.), Potsdamer Platz, S. 39–45. Bernd Schulz, Amputation einer einzigartigen Sammlung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 4.11.2006, S.  45 (Restitution). Wien – Berlin. Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz (Ausstellungskatalog Berlinische Galerie) München 2013, S. 173 (Zahl der Prostituierten). Dieter Scholz (Hg.), Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913–1915 (Ausstellungskatalog), Köln 2014; Robert Beachy, Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte (1867–1933), München 2015, S. 79 ff., 285 ff.

290  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft terstützten zwar freisinnige Abgeordnete das Begehren, aber konservative Deputierte hielten Frauen für weniger begabt sowie nicht zur Erwerbsarbeit bestimmt und für das Kultusministerium nahm Friedrich Schmidt-Ott ausweichend Stellung. Da Frauen somit erst ab 1919 an der Berliner Kunstakademie studieren konnten – in Weimar und Karlsruhe freilich früher – zogen Künstlerinnen wie Ida Gerhardi aus Hagen bis nach Paris, wo seit 1896 ein akademisches Studium möglich war, und vermittelten zwischen Frankreich und Deutschland. Bei allen Aufbrüchen und Ausbruchsversuchen von Frauen aus Rollenzwängen nicht nur in Künstlerkreisen nach 1900 gilt: Restriktive staatliche Rahmensetzung und Bevormundung durch Männer, selbst die eigenen, verhinderten, daß es mehr individuelle, freilich bedeutsame Revolten gegen Rollenclichés gab; wirkliche Gleichberechtigung existierte selbst nach 1918 nicht, sondern erst in der späten Bundesrepublik.260 Otto Dix (Der General, 1919; Die Skatspieler, 1920) und George Grosz (Stützen der Gesellschaft, 1926) malten Ikonen des politisch engagierten, künstlerischen Protests gegen Militarismus und starrsinnige bürgerlich-adelige Eliten im nun republikanischen Preußen. Auch der kurzlebige Berliner Dada war eine gallige Abrechnung mit den wilhelminischen Eliten sowie allen bürgerlichen und ästhetischen Konventionen. Man negierte alle bisherigen ismen und lehnte zugleich abstrakte Malerei ab. Die Internationale Dada-Messe 1920, die den „preußischen Erzengel“, eine Soldatenpuppe mit Schweinekopf, einen Frauenkörper mit Eisernem Kreuz am Hinterteil sowie eine Mappe „Gott mit uns“ mit MilitärKarikaturen von Grosz zeigte, zog eine Verurteilung Grosz‘ und des Malik-Verlag Inhabers Wieland Herzfelde zu 600.– Mark Geldstrafe wegen grober Verunglimpfung des Heeres nach sich. Konservative Richter verfolgten Intellektuelle wie Dix, Grosz und Herzfelde bis 1933 mehrfach mit den kaiserzeitlichen Strafrechtsparagraphen „Gotteslästerung“, „grober Unfug“ oder Darstellung von „Unzucht“. Dabei blieb die Avantgarde der Republik gegenüber ambivalent. 1918/19 wollten die Berliner Künstler-Zirkel „Novembergruppe“ und der „Arbeitsrat für Kunst“ Expressionisten, Kubisten und Futuristen für den republikanischen Neuanfang sammeln, beide blieben aber kurzlebige Unternehmen. Später versuchte einige, z. B. John Heartfield und George Grosz, mit politischen (Photo-)Montagen für die Ziele der KPD zu mobilisieren. Nur wenige, etwa Max Pechstein, setzten 260 Hepp, Avantgarde, S. 187 (Manifest des Futurismus). Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, S. 324 ff. Uwe M. Schneede (Redaktion), 1914. Die Avantgarden im Kampf (Ausstellungskat.), Köln 2013, S. 20–33, 191 ff. (Kriegserfahrung europäischer Künstler). Ingrid Pfeiffer/Max Hollein (Hg.), Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932 (Ausstellungskat.), Köln 2015. Susanne Conzen u. a. (Hg.), Ida Gerhardi. Deutsche Künstlerinnen in Paris um 1900, München 2012. Protokolle Preuß. Abgeordnetenhaus 14.4.1904, Sp. 3762  f. und 3.3.1905, Sp. 11042–11051 (Frauen an die Kunstakademie). Breites biographisches Panorama bei Barbara Beuys, Die neuen Frauen – Revolution im Kaiserreich 1900–1914, München 2014.

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sich politisch dauerhaft für die Republik ein. Der Großteil der Avantgarde blieb oder wurde wieder unpolitisch. In diesem Sinne fuhr Dix einen KPD-Anhänger an: „Du mit deiner Scheiß-Politik. Setz dich lieber auf den Arsch und male“.261

6.

Berlin als moderne Kulturmetropole und Kulturhauptstädte in den Provinzen

In Berlin und anderen Großstädten konnte man frühzeitig unkonventionell leben und 1918–33 bisher unerhörtes tun – anders als in festgefügten Traditionsstädten, wo bürgerliches Publikum, dominante Konventionen und ökonomische Knappheit das alles erheblich erschwerten. Die Gegenbewegung ließ nicht auf sich warten und war zeitgenössisch durchaus bedeutsam. „Los von Berlin“ hieß schon im Jahre 1900 der emphatische Slogan des Elsässers Friedrich Lienhard, eines der Propagandisten sog. „Heimatkunst“. Poesie, Seele und Wärme statt Kritik, Anklage und Unglaube seien nötig. Die Berliner Vormacht im Theater, bei den bekannten Schauspielern, wichtigsten Künstler-Agenten und größten Zeitungen ergebe ästhetischen Verfall. Zu schaffen sei stattdessen eine ideale und konsensuale deutsche Kultur, quasi durch Vereinigung von Wildenbruch und Hauptmann. Die Heimatkunst gab der Abneigung gegen die großstädtische Moderne Ausdruck, aber auch dem regionalen Eigenbewußtsein im Westen, Norden und Süden, wo altes Anti-Preußen Sentiment im Umkreis des „Simplicissimus“ Ausdruck fand, ab 1918 freilich überwiegend rechtslastig artikuliert. Kunstkritiker wie Karl Scheffler in seinem Buch „Berlin – ein Stadtschicksal“ (1910) haben die mangelnde Ästhetik der in der deutschen Kulturzone östlichperipher gelegenen Stadt, die Kulturlosigkeit in der Kolonial-Metropole aus Zuwanderern, die Nicht-Existenz einer (guten) Gesellschaft und die „Amerikanisierung“, d. h. die traditionslose Modernität und materielle Zweckhaftigkeit, beklagt. Nur Schadow, Kleist und Menzel erkannte Scheffler als einheimische Künstler von europäischem Format an, alle anderen seien Zuwanderer oder zweiten Ranges. Scheffler machte durchaus zutreffende Beobachtungen, aber be- und verurteilte weithin anhand der ästhetischen Maßstäbe wilhelminischer bildungsbürgerlicher Kreise. Eine jahrhundertealte, traditionelle Kunst- und Kultur-Stadt

261 Henkel/März (Hg.), Potsdamer Platz, S. 271, 279, 281 (Abbildungen der genannten Werke von Dix/Grosz). Zum Dadaismus vgl. Eric D. Weitz, Weimar Culture. Promise and Tragedy, Princeton 2007, S. 285–292 und Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, S. 329 ff., zum Strafprozeß vgl. Hepp, Avantgarde, S. 222–224, zum Strafrecht Büttner, Weimar, S. 302. Klaus von Beyme, Die Stellung der künstlerischen Avantgarden zur Weimarer Republik, in: H.-P. Becht u. a. (Hg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Ubstadt-Weiher 2009, S. 31–49, Zitat Dix S. 44.

292  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft monarchischen bzw. bildungsbürgerlichen Zuschnitts wie Dresden oder Wien war Berlin jedenfalls nicht.262 Genau diese Tatsache aber und das industriegetriebene Wachstum der Hauptstadt eines Großstaates bildeten die Grundlage, damit Berlin zur mitteleuropäischen Hauptstadt der klassischen Moderne avancierte. Im Vergleich mit Dresden ist das skizzierbar: Schlichte sechsgeschossige Mietskasernen mit Hinterhöfen vs. lockere Bebauung mit schmucken Stadthäusern; Theater-Vielfalt statt Dominanz etablierter Bühnen; Aufbau von Kunstsammlungen und Museen statt Verwaltung der Bestände des 18. Jahrhunderts und erst verspäteter Modernisierung mit Städte-, Kunstgewerbe- und Hygiene-Ausstellungen 1903–1911; skandalträchtige Präsentation von zeitgenössischer Moderne in Malerei (Edvard Munch Ausstellung 1892) und Theater (Hauptmanns „Weber“ 1893) vs. Stolz auf die Alten Meister. Das kulturkonservative Dresdener Bildungsbürgertum bevorzugte eine Kunst, die schön sein und auf ästhetischem Konsens beruhen sollte, die (nicht-offizielle) Kultur in Berlin war großenteils Ausdruck von Dissens und Individualität. Ähnliche Unterschiede ergeben sich beim Vergleich mit Wien. Wegen des Aufholens nach 1870 konnte sich Berlin schon vor dem Weltkrieg auf manchen kulturellen Feldern als mindestens gleichrangig mit Wien betrachten. Der amerikanische Besucher Mark Twain nahm Berlin schon 1892 als europäisches Chicago wahr. Die Berliner Moderne richtete sich gegen epigonale Klassik-Rezeption und preußischen Hurrapatriotismus, die Wiener gegen großbürgerliche Selbstgewiß- und Selbstzufriedenheit. Die alte Kulturstadt Wien mit ihren aristokratischen bzw. großbürgerlichen Palästen wurde deshalb als Gegenbild, teils aber auch als komplementär zur jungen Parvenuepolis Berlin mit Mietskasernen und freier Kunstszene begriffen. In Wien gab es bis 1918 keinen Verlag für avantgardistische Autoren, während ihnen in Berlin mehrere Verlage offen standen und es ein Dutzend expressionistische Periodika gab. Wegen dieser Unterschiede wanderten die Akteure seit dem Jahrhundertende. Autoren, Theaterleute, bildende Künstler und Musiker wechselten nun zwischen der alteuropäischen und der „amerikanischen“ Metropole hin und her. Herwarth Walden, Paul Cassirer, Karl Kraus oder Arnold Schönberg waren in der Kulturwelt beider Hauptstädte gleichermaßen zuhause und verknüpften sie. Wegen des weiteren Weggangs von Modernen aus dem Kleinstaat Österreich kam Wien 262 Friedrich Lienhard, Die Vorherrschaft Berlins [1900], in: Ders., Neue Ideale nebst Vorherrschaft Berlins, Stuttgart 1913, S. 141–202; Jefferies, Imperial Culture, S. 208– 211 (Heimatbewegung). Karl Scheffler, Berlin – ein Stadtschicksal, ND Berlin 1989, S. 79–97, 163 f., 244–246. John H. Zammito, Der Streit um die Berliner Kultur 1871– 1930, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 35 (1986), S. 234– 268. Uwe Baur, Die Ideologie der Heimatkunst. Populäre Autoren in deren Umkreis, in: V. Zmegac (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. II/2, Königstein 1980, S. 397–412.

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1919–33 Preußens Hauptstadt nicht mehr an internationaler Bedeutung gleich. Schönberg (1911–15, 1925–33) und Oskar Kokoschka (zeitweise ab 1910, 1919– 26 Düsseldorf) erzielten in Berlin und Preußen größere Erfolge als in Wien; Franz Schreker wurde 1920 Direktor der Berliner Musikhochschule; Alexander Zemlinsky dirigierte 1927–33 an der Kroll- und der Staatsoper. Joseph Roth, Fritz Lang und Billy Wilder, Tilla Durieux und Elisabeth Bergner, Lotte Lenya und Helene Weigel zogen jedenfalls zeitweise an die Spree – bis 1933/34 für viele nur die Emigration blieb.263 Eine wesentliche Grundlage der vielgerühmten Blüte der 1920er Jahre stellte die offene Kulturpolitik des republikanischen preußischen Kultusministe­ riums unter den Ministern Konrad Haenisch, C. H. Becker und Adolf Grimme dar. Haenisch formulierte 1919 programmatisch, es gehe der neuen Kulturpolitik um Anregung und Förderung der Moderne in bildender Kunst, Musik und Theater unter dem Motto: „Freie Bahn allen ‚Richtungen‘ und – was wichtiger ist – ­allen Persönlichkeiten schaffen, auch denen, die bisher im Schatten stehen mußten“. Der wilhelminische Antagonismus von staatlich-offizieller Kunstpolitik und gesellschaftlichen Kulturbewegungen sollte aufgehoben werden. Haenisch‘ Amtsnachfolger und Beamte im Kultusministerium wie Ludwig Justi (nebenamtlich), Ludwig Pallat, Wilhelm Waetzoldt oder Leo Kestenberg erfüllten dieses Programm mit Leben – durch neue Einrichtungen wie die Zeitgenössische Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzen-Palais bereits 1919 und 1930 das Pergamon-Museum auf der Museumsinsel oder 1927 die Kroll-Oper unter Otto Klemperer als avantgardistisches Staatstheater, durch volkspädagogisch aufbereitete Ausstellungen und staatliche Posten für die bereits genannten Jessner, Schreker, Schönberg, Kokoschka und andere mehr, durch Aufträge, Ankäufe und Preisgelder in Millionenhöhe. Im Kulturreferat des Auswärtigen Amtes lancierte nach 1918 der zuvor im Kultusministerium tätige Kunsthistoriker Johannes Sievers zeitgenössische Künstler europaweit in Ausstellungen oder Musiker zu Gastspielen im Ausland. Die deutschnationale Rechte richtete wütende Attacken gegen die zeitgenössische bildende Kunst, Theater und Musik. 1930 sprach einer ihrer Redner im Landtag verächtlich von „Niggerkultur“ und brandmarkte die „jüdisch-negroide Epoche der preußischen Kunst“. War laut Sievers bis 1918 „ein ständiges Lavieren zwischen der kaiserlichen Kunstpolitik auf der einen und den Anschauungen und Forderungen der in künstlerischen Fragen fortschrittlich Gesinnten auf der anderen Seite“ an der Tagesordnung, so beweist spätestens die fundierte Forschungs263 Jürgen Paul, Dresden und Berlin. Zwei Kulturstädte um 1900, in: W. Müller u. a., Sachsen und Preußen. Geschichte eines Dualismus (= Dresdner Hefte 111), Dresden 2012, S. 50–59. Wien – Berlin. Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz, S. 19–23, 169–174, 196–200. Synthese der Forschungsarbeiten: Peter Sprengel/Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien 1998, S. 21 ff., 215 ff., 569 ff.

294  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft arbeit Kratz-Kessemeiers, wie umfassend der Freistaat Preußen die Kunstfreiheit sowie die zeitgenössische Moderne bis 1932 gefördert hat. Preußens Kultusministerium wirkte als entscheidender Gestalter der Weimarer Kunstpolitik. Durch die tausendfache Zwangsemigration ab 1933 gelangten bedeutende Kunstschaffende aller Sparten aus Preußen-Deutschland in viele Länder der Welt, besonders die USA, Israel („Jeckes“) oder England, und wirkten dort befruchtend auf die Bereiche Theater, Musik, Architektur oder bildende Künste. Der Kunsthistoriker Karl Schwarz, Anfang 1933 kurzzeitig Direktor des neueröffneten Berliner Jüdischen Museums, baute als Zwangsemigrant in Tel Aviv das erste Kunstmuseum der Nahost-Region auf; Grundstock bildeten verfrachtete Berliner Sammlungsstücke der klassischen Moderne. 2015 konnte im Berliner Jüdischen Museum die Ausstellung „Jahrhundertzeichen – Tel Aviv visits Berlin“ gezeigt werden.264 Die Kulturgeschichte des spätwilhelminischen und republikanischen Preußen reduziert sich jedoch nicht allein auf Berlin. Zwar schrieb der Hagener Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus gegen empfundenen Berliner Zentralismus an: „So ist der trostlose Zustand unserer Städte (...) nicht nur die Frucht eines allgemeinen Systems, sondern einer ganz bewußten Erniedrigung der Provinz durch die Hauptstadt.“ Genau dagegen entfaltete er seine Aktivitäten in Hagen und der Rheinprovinz ab 1900: Gründung des Folkwang-Museums, steter Ankauf französischer Impressionisten, Unterstützung von modernen Architekten und Werkbund. Die beiden rheinischen Metropolen Düsseldorf und Köln verstanden sich als Kontrapunkte zu Berlin. Diese Rolle der Düsseldorfer Kunstakademie ab 1819 ist bereits erwähnt worden. Im maßgeblich durch Bürger- und Industriespenden ermöglichten Düsseldorfer Städtischen Kunstpalast fanden 1902 die – programmatisch so genannte und deshalb staatlicherseits begrüßte – Deutsch-Nationale Kunstausstellung statt, aber 1909–11 auch drei Ausstellungen des der internationalen Moderne zugewandten Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler unter dem Vorsitz von Osthaus. Einer vierten Präsentation verweigerte die nationalliberal orientierte Düsseldorfer Stadtverwaltung den Kunstpalast unter dem Eindruck von marktökonomischen Protesten gegen „ausländische“ 264 Trommler, Kulturmacht ohne Kompaß, S.  298  f. (Zitat Haenisch). Kristina KratzKessemeier, Kunst für die Republik. Die Kunstpolitik des preußischen Kultusministeriums 1918 bis 1932, Berlin 2008, S. 14–20 (Beamte), S. 126–142 (Neue Nationalgalerie), S.  464–523, 661–730 (Künstler-Förderung). Timo Saalmann, Kunstpolitik der Berliner Museen 1919–1959, Berlin 2014, S.  40–139. Hans Curjel, Experiment Krolloper 1927–1931, hg. von E. Kruttge, München 1975, dort S.  422 die zitierten Schmäh-Worte aus der Landtagssitzung vom 4.4.1930. Johannes Sievers, Aus meinem Leben, Berlin 1966, S. 300–320, Zit. S. 241. Chana Schütz, Von Berlin nach Tel Aviv. Der Lebensweg des Museumsdirektors Karl Schwarz, in: J. Held (Hg.), Schwerpunkt: Jüdische Kunst im 20. Jahrhundert und die Konzeptionen der Museen, Göttingen 2004, S. 65–78.

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Künstler. Daraufhin wandte sich der Sonderbund nach Köln. Die Domstadt hatte das schon 1827 eröffnete, heutige Wallraf-Richartz-Museum allmählich durch Erwerb von Gemälden etwa Wilhelm Leibls oder moderner Franzosen zu einem großen Haus ausgebaut und weitere Museen hinzugefügt. Ende 1911 sprach sich der zentrumsdominierte Kölner Stadtrat für Überlassung der städtischen Ausstellungshalle und eine Subvention von 25.000 Mark aus. Von Mai bis September 1912 fand die sog. Jahrhundertausstellung des Sonderbundes in Köln statt. Es war die wichtigste Präsentation europäischer Moderne in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg. 634 Werke des Impressionismus, Expressionismus und Kubismus mit starkem außerdeutschem Anteil – Vincent van Gogh (107 Werke), Paul Cézanne und Paul Gauguin, Edvard Munch (31 Werke), Pablo Picasso (16 Werke) und Wassily Kandinsky – waren zu sehen. Über 50.000 Besucher besuchten eine Riesenschau, die in Berlin offiziell kaum hätte stattfinden können. Jedoch gab es Verbindungen zwischen dem Rheinland und Berlin, beispielsweise durch den heute anläßlich der Restitution von Raubkunst vielgenannten Düsseldorfer Kunsthändler Alfred Flechtheim (ab 1924 Berlin) oder den mit Macke verschwägerten Berliner Fabrikanten Bernhard Koehler. Er unterstützte Macke beim Blauen Reiter, die Kölner Schau und Herwarth Walden bei der Finanzierung des Ersten Deutschen Herbstsalons in der Galerie des „Sturm“ 1913. Dort sah man 366 Exponate von Moderne und Avantgarde, darunter italienische Futuristen und Russen wie Chagall oder Kandinsky, was eine der Kölner Ausstellung vergleichbare Leistungsschau darstellte. Die rheinischen Modernisten im Umfeld des Sonderbundes traten auch öffentlich auf. Den aus ökonomischem Konkurrenzneid und geistigem Chauvinismus erfolgten „Protest deutscher Künstler“ gegen den Ankauf van Goghs „Mohnfeld“ durch den Bremer Kunsthallen-Direktor Gustav Pauli 1911 verurteilten sie. Sie betonten, daß ausländische Künstler und Inspirationen, zumal aus Frankreich, maßgebliche Einflüsse auf ihre eigenen Werke ausgeübt hatten.265 Bedeutendes Zeugnis republikanischer Kunstpolitik war die Düsseldorfer Kunstausstellung von 1928. In Frankfurt sammelte der Direktor des Städelschen Kunstmuseums 1906–33, Georg Swarzenski, vor dem Weltkrieg französische Impressionisten und danach u. a. Max Beckmann, so daß zur NS-Aktion der „entar265 G. Streidt/P. Feierabend (Hg.), Preußen. Kunst und Architektur, Zitat Osthaus S. 450. Andreas Blühm (Hg.), Festschrift zur 150jährigen Jubelfeier der Eröffnung des ersten Wallraf-Richartz-Museums in Köln am 1. Juli 1861, Köln 2011. Barbara Schaefer (Hg.), 1912 Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes, Köln 2012, bes. S. 36–57. Klara Drenker-Nagels, Die rheinischen Expressionisten und ihre Förderer – Ein Überblick, in: Dieter Breuer (Hg.), Die Moderne im Rheinland, Köln 1994, S. 367–382. Wulf Herzogenrath (Hg.), Van Gogh: Felder. Das Mohnfeld und der Künstlerstreit (Ausstellungskatalog), Ostfildern 2002, bes. S. 148 ff. Andrea Bambi/ Axel Drecoll (Hg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin 2015.

296  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft teten Kunst“ 1937 Hunderte von Gemälden und Graphiken beschlagnahmt und zerstreut werden konnten. Weniger international orientiert war man in Hannover. Aber der Ankaufsetat des 1889 eröffneten Kestner-Museums stieg von 3000 M auf 60.000 M. 1914; 1900 bis 1918 gab man insgesamt 1,5 Mio. M. für Kunst-Ankäufe aus, davon fast 60 % aus Bürger-Spenden. Der nationalliberale Oberstadtdirektor Heinrich Tramm ließ auch für seine Privatsammlung deutsche Maler wie Lenbach, Liebermann, Leibl oder Böcklin ankaufen, aber ging als bestimmende Persönlichkeit der städtischen Kunstpolitik bis zu seinem Tode 1932 selbst mit Slevogt und Paula Modersohn Becker nicht über die klassische Moderne hinaus. Das „Bizarre“ und die „perverse Kunst“ lehnte er dezidiert ab; die „moderate Moderne“ sollte Richtlinie für bildende Kunst und Theater in Hannover sein. Werke von Expressionisten wie Feininger oder Barlach stellte hingegen die 1916 gegründete, von Mäzenen getragene Kestner-Gesellschaft aus und konnte in Verbindung mit dem Galerieleiter des Provinzialmuseums Alexander Dorner auch einige ankaufen.266 Für Preußens Osten zwischen Stettin, Königsberg und Breslau haben erst seit 1990 ungehindert mögliche Forschungen moderne, freilich zeitgenössisch durchaus umstrittene großstädtische Kunsthistorie breiter ins Bewußtsein gerückt. In Stettin entwickelte Walter Riezler als Museumsdirektor 1910–33 den Ehrgeiz – analog zum Hamburger Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark – die Moderne und den Werkbund neben die nordostdeutschen Größen seit C. D. Friedrich und Philipp Otto Runge zu stellen. Seitens der konservativen, teils völkisch-nationalen Kreise Stettins erfuhr Riezler wegen des Ankaufs eines van Gogh und der Ausstellung von Feininger, Kokoschka und Alexej Jawlensky heftige Widerstände. 1933 verlor Riezler sein Amt; die moderne Sammlung wurde später zerstreut. Ebenfalls zerstreut wurde die private Sammlung von Ismar Littmann in Breslau, die über 300 bedeutende Gemälde des deutschen Impressionismus und Expressionismus umfaßt hatte. Die Stadt Halle, deren Museum unter Alois Schardt zu den der Moderne aufgeschlossenen Häusern zählte, lud 1929 den in New York geborenen, seit 1919 am Bauhaus Weimar/Dessau tätigen deutschamerikanischen Maler Lyonel Feininger ein, als „artist in residence“ an der Kunstschule Moritzburg zu wirken. Feininger malte bis 1931 einen elfteiligen Zyklus mit den markanten Gebäuden 266 Konstanze Crüwell, Ein bitterer Abschied. Georg Swarzenski, Städeldirektor von 1906 bis 1937, in: Eva Atlan u. a. (Hg.), 1938. Kunst, Künstler, Politik, Göttingen 2013, S. 259–274. Ines Katenhusen, „… der beste Spiegel seines Geistes …“: Heinrich Tramm, das Neue Rathaus und die hannoversche Kunstpolitik in Kaiserreich und Demokratie, in: C. Regin (Hg.), Pracht und Macht. Festschrift zum 100. Jahrestag der Einweihung des Neuen Rathauses in Hannover, Hannover 2013, S. 201–226, S. 211 f., 214, 219. Ines Katenhusen, Kunst und Politik. Hannovers Auseinandersetzung mit der Moderne in der Weimarer Republik, Hannover 1998, S.  186  ff. (Kunstpolitik Tramms), 242 ff. (Kestner-Gesellschaft).

7. Moderne Architektur  

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der Stadt; sie kennzeichnet ein dynamischer Eigenstil aus Kubismus und Futurismus. Die Gemälde wurden ratenweise für 31.200 RM von der Stadt angekauft, aber 1935 als „entartete Kunst“ beschlagnahmt und 1937 in der berüchtigten Münchener Ausstellung gezeigt. Sieben Stücke gelangten später in westdeutsche Museen; 1948, 1957 und 2009 konnte Halle drei Inkunabeln Feiningers für die Moritzburg zurückerwerben. Kulturpolitik kann als Teil städtischer Standortpolitik im kommunalen Wettbewerb betrachtet werden. Schon um 1910 waren Museum, Stadthalle, Stadttheater und Orchester die typische Ausstattung von Groß-, ja selbst von Mittelstädten mit 70.000 Einwohnern. 1930 gerieten die zahlreichen städtischen (wie auch private) Theater in eine schwere Krise, denn die Häuser lebten zu 50 %–70 % von kommunalen bzw. staatlichen Zuschüssen. Deren Kürzung bedeutete Entlassung von künstlerischem Personal und Einschränkung des Repertoires. Einzelne Theater wurden sogar geschlossen (Stadttheater Hagen, Hamborn, Bonn, Trier, Schiller-Theater Berlin), andere wie das renommierte Berliner Deutsche Theater waren von Schließung bedroht. Als SPD-Kultusminister Grimme den Einsparkurs 1931 notgedrungen als finanziell unvermeidlich verteidigte, erntete er in der liberalen und nationalen Presse wegen dieses Abbaus eines Kernstücks des bürgerlichen Kulturbegriffs heftige Kritik.267 Zuvor hatte das preußische Kultusressort ein Dutzend Jahre die künstlerische Moderne gefördert.

7.

Moderne Architektur

Im Bereich der Architektur tat sich Schlesiens Hauptstadt Breslau hervor – obwohl publizistisch 1907 in kunstpolitischer Hinsicht als „Blinddarm im Organismus Preußens“ bezeichnet. Dort bildete der Berliner Hans Poelzig als Direktor der Kunst(gewerbe)akademie und Max Berg als Stadtbaurat zusammen mit aus Wien zugewanderten Kulturschaffenden unter dem Einfluß der Wiener Moderne bereits ab 1903 ein Zentrum modernen Bauens und Gestaltens. Max Bergs 1913 fertige Jahrhunderthalle in Sichtbeton-Bauweise und der von Rippenbögen gestützten, damals weltgrößten Glas-Kuppel mit 64 Metern Durchmesser sowie 267 Hans Vogel, Walter Riezler und die geistige Kultur Stettins vor 1933, in: Baltische Studien 53 (1967), S. 83–92; Ulrike Wendland, Walter Riezler, in: Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil, Bd. 2, München 1999, S. 550–553. Szymon Piotr Kubiak u. a., 1913 – Frühlingsweihe. Ausstellungskatalog zum hundertjährigen Eröffnungsjubiläum des Hauptgebäudes des Nationalmuseums Stettin, Szczecin 2013. https://de.wikipedia.org/wiki/Sammlung_Ismar_Littmann (mit Literaturangaben). Wolfgang Büche, Lyonel Feininger. Die Halle-Bilder, München 2010, S.  6–23, 153  ff. Karl-Christian Führer, „Kulturkrise“ und Nationalbewußtsein. Der Niedergang des Theaters in der späten Weimarer Republik als bürgerliche Identitätskrise, in: Ders. u. a. (Hg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 155–178, S. 156, 161 f., 164.

298  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft die umliegenden Ausstellungsbauten Poelzigs sind noch im heutigen Wroclaw architektonische Glanzlichter. Der benutzte Baustoff Stahlbeton wurde mit Anklängen an die klassizistischen preußischen Gestaltformen Schinkels und Gillys gestaltet. Berg plante um 1920 auch Hochhäuser in Breslau, die jedoch in der ökonomisch krisenhaften Oderstadt nicht zur Ausführung gelangten. Gebürtige Breslauer oder Schlesier waren in diesem Kreis kaum zu finden, aber Breslau war in den 1920er Jahren durchaus eine anerkannte Größe für Architektur: Walter Gropius wurde 1925 als Direktor der Kunstakademie erwogen, Hans Scharoun nahm 1925–33 von Berlin aus Lehraufträge wahr und 1929 fand die WerkbundAusstellung Wohnung und Werkraum statt. Der Frankfurter Ernst May betrieb als Direktor der Schlesischen Landgesellschaft 1919–25 Siedlungs- und Wohnungsbau (3000 Einheiten), freilich noch im schlesischen Heimatstil, während er als Stadtbaurat des Neuen Frankfurt 1925–30 Flachdach und Bauhaus-Funktionalität verwandte. In Oberschlesien unterstützte der Zentrumspolitiker Hans Lukaschek, Oberbürgermeister von Hindenburg/OS und 1929–33 Oberpräsident, das Neue Bauen. Insbesondere sozialdemokratisch geführte Kommunen realisierten es bei Sozialbauten (Schulen, Schwimmbäder, Krankenkassen, Gewerkschaftshäuser), aber prozentual machte es nur wenige Prozent der Weimarer Neubauten aus. Kommunale Autonomie und finanzielle Unterstützung durch den Freistaat bildeten bis 1932 die Voraussetzung dafür.268 Seit 1928/29 denunzierten die Deutschnationalen den kommunalen Großsiedlungs- und Kleinwohnungsbau als „Architekturbolschewismus“, der der deutschen Familie marxistische Wohnformen aufzwinge, Vermassung betreibe und stets an Baumängeln leide. Speziell die Bevorzugung oder die Ablehnung des Flachdachs geriet zu einer politischen Prinzipienfrage. Eine antimoderne Richtung der Architektur, die mit Betonung von Raum und deutschem Stil auf die NS-Zeit vorauswies, formierte sich seit Mitte der 1920er Jahre an der Technischen Hochschule der nunmehrigen Freien Stadt Danzig. Nicht zu verkennen ist schließlich generell, daß nicht wenige Architekten sich den jeweiligen politischen Vorgaben anpaßten, Modernität im späten Kaiserreich, der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik propagierten, aber auch opportunistisch zur Monumentalität schwenkten, als das NS-Regime sie verlangte, beispielsweise Mies van der Rohe. 268 Jerzy Ilkosz, Die Jahrhunderthalle und das Ausstellungsgelände in Breslau – Das Werk Max Bergs, München 2006; Wolfgang Pehnt, Deutsche Architektur seit 1900, 2. Aufl., München 2005, S. 76 f. und 112 f. Petra Hölscher, Die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege einer Kunstschule 1791–1932, Kiel 2003, S. 13 (Blinddarm), 99 ff. (Poelzig), S. 252 (Scharoun), S. 269 (Gropius). Beate Störtkuhl, Moderne Architektur in Schlesien 1900 bis 1933. Baukultur und Politik, München 2013, S. 29 ff., 371 ff. Dies., Ernst May und die Schlesische Heimstätte, in C. Quiring u. a. (Hg.), Ernst May 1886–1970, München u. a. 2011, S. 33–49, S. 51 ff. zum Neuen Frankfurt.

7. Moderne Architektur  

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Die Mehrzahl bis heute bekannter, in Preußens Osten geborener Architekten zog meist schon zur Ausbildung nach Berlin. So wechselten Bruno und Max Taut (geb. 1880/1884 Königsberg), Martin Wagner (geb. 1885 Königsberg) und Erich Mendelsohn (geb. 1887 Allenstein) kurz nach 1900 in die Hauptstadt. Sie wirkten später nur vereinzelt im Osten, z. B. Mendelsohn für ostpreußische jüdische Gemeinden oder das Kaufhaus Petersdorff in Breslau. An der Spree entstand ein Gutteil der Maßstäbe setzenden Bauten: Alfred Messels Wertheim-Kaufhaus (1896), Peter Behrens‘ AEG-Turbinenhalle (1909) und Bruno Tauts Gartenstadt Falkenberg (1913) bereits vor dem Weltkrieg, 1932 noch das Shell-Haus Emil Fahrenkamps. Mit Förderung durch den Freistaat Preußen konnten vier Großsiedlungen realisiert werden, darunter als erste durch Bruno Taut und Martin Wagner die Hufeisen-Siedlung Britz (1926–33). Architektur-Wettbewerbe für den Platz der Republik (1927/29) und den Alexanderplatz (1928) mit kühnen Entwürfen gelangten in der Krise nicht mehr zur Umsetzung. Dennoch: Berlin war in den 1920er Jahren auch Hauptstadt für deutsche Architekten.269 Mit Preußen wird die Architektur der Freistaatszeit kunstgeschichtlich meist nicht mehr verbunden, die kaiserzeitlichen (öffentlichen) Bauten hingegen schon. In der Tat ist die über die Kriegszerstörungen hinweg erhaltene Architektur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts vielerorts in Stadtkernen bis heute prominent präsent: Verwaltungsbauten vom Regierungspräsidium bis zur Landwirtschaftskammer, Bahnhöfe und Postgebäude, Gerichte, Kasernen und anderes mehr. Dazu kommen die Kommunalbauten (Rathäuser, Schulen) und die Gründerzeit-Viertel, jene Stadtteile, in denen sich die Privathäuser der 1870er bis 1910er Jahre, seien es einfache Mietshäuser, Stadtvillen zur etagenweisen Vermietung oder Geschäftsgebäude, konzentrierten. Sie sind bis heute beliebte, inzwischen sogar teure Wohngegenden. Für größere unmittelbare Staatsbauten besaßen die Monarchen seit Schinkels Dominanz unter Friedrich Wilhelm III. und die seiner Schüler wie Persius, Strack und Stüler unter Friedrich Wilhelm IV. bevorzugte Architekten. Unter Wilhelm  II. zählten zu diesen Kaiser-Architekten vor allem Julius Raschdorff (Berliner Dom), Franz Schwechten (Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Schloß Posen), Ernst von Ihne (Bode-Museum, Staatsbibliothek) und Bodo Ebhardt (Hohkönigsburg, diverse Burgen). Der monumentale Stil kennzeichnete ihre Bauten für Monarchie und Staat; sie folgten kaiserlichen Direktiven und stellten sich in den Dienst wilhelminischer Ideologie. Angesichts späterer, auch bun269 Barbara Miller Lane, Architektur und Politik in Deutschland 1918–1945, Braun­ schweig 1986, S.  17, 38, 104  ff. (Staat und Städte entscheidend), S.  139  f. (DNVPKritik 1928 ff.). Anke Blümm, „Entartete Baukunst“? Zum Umgang mit dem Neuen Bauen 1933–1945, München 2013, S.  20–30. Katja Bernhardt, Stil – Raum – Ordnung. Architekturlehre in Danzig 1904–1945, Berlin 2015, S. 206 ff., 274 ff. Wolfgang Pehnt, Deutsche Architektur, S. 157 ff. Ders., Bruno Taut 1880–1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, Stuttgart 2001.

300  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft desrepublikanischer Bausünden fällt das Urteil über die Qualität kaiserzeitlicher Staatsbauten heute zwar milder aus, aber nur nostalgisches Borussentum wird Wilhelm II. als Wegbereiter einer „Reformarchitektur“ preisen wollen und ihm bescheinigen, er habe „beispielsweise den Elsässern (Straßburg) oder Polen (Posen) deutsche Kultur nahezubringen“ (Ingo Sommer) versucht. Betrachtet man Privatbauten, ergibt sich ein anderes Bild. Hier blieben selbst Wilhelms Leibarchitekten zwar historistisch und eklektizistisch, aber planten weniger bombastisch. Kurz gefaßt: Es gab also eine erkennbare Trennung zwischen wilhelminischen Staatsbauten und Privathäusern sowie eine noch deutlichere Differenz zwischen den wilhelminischen Prunkbauten und der im Freistaat dominanten architektonischen Moderne. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kennzeichnete Guido Hinterkeuser zufolge die Architektur der wilhelminischen Zeit.270 Andererseits findet sich bereits im späten Kaiserreich ein Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, das zudem Monarchie und Republik ideell verband: Der Deutsche Werkbund und die ihm angehörende Architektengeneration von Hermann Muthesius, Hans Poelzig oder Bruno Taut, die in Vor- wie Nachkriegszeit wirkte. Gerade Muthesius bietet ein markantes kaiserzeitliches Beispiel des Zusammenwirkens von Staat und gesellschaftlichen Reformkräften im Sinne progressiver Kunst, das damals nicht gängig war. Als Absolvent der TH Charlottenburg, trat er 1893 als Architekt in das Ministerium der öffentlichen Arbeiten ein, verbrachte die Jahre 1896 bis 1903 als Attaché an der Londoner Botschaft und betrachtete dort die Arts and Crafts Bewegung Englands auch in zahlreichen Publikationen intensiv. Seit 1903 im Handelsministerium und ab 1905 in dessen Ressort für das neue Landesgewerbeamt tätig, betrieb er eine Reform der Ausbildungsgänge der preußischen Kunstgewerbeschulen zugunsten formschöner, zweckmäßiger, industriell gefertigter Produkt-Typen. Muthesius trug die 270 Kristina Hübener (Hg.), Preußische Verwaltungen und ihre Bauten 1800–1945, Potsdam 2001. Dorothea Zöbl, Das periphere Zentrum. Bundes- und Reichsbehörden im Groß-Berliner Stadtraum 1886/67–1914, Potsdam 2001. Berlin und seine Bauten, hg. v. Architektenverein zu Berlin, 1. Aufl., Berlin 1877, 2. Aufl. Berlin 1896, Ergänzungsband, Berlin 1966. Zu Gründerzeitbauten: Dieter Dolgner, Historismus. Deutsche Baukunst 1815–1900, Leipzig 1993. Ingo Sommer, Zwischen Tradition und Moderne. Wilhelm II. und die Baukunst, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 25 (2015), S. 157–209, Zitate S. 158 und 168. Sommer unterlaufen widersprüchliche Aussagen (griff Wilhelm II. nun häufig und massiv ein oder nicht?), distanzlose Übernahme von Quellenzitaten (Wilhelm II. kämpfte für „sittliche, freiheitliche und geistige Werte“ gegen die gefährliche Sozialdemokratie, S. 167) und auf verzogen geschilderten Beispielen gegründete Urteile (Monarchen förderten Wohnungsbaureform und selbstverwaltete Baugenossenschaften, S.  165, 171, 202). Zur Diversität der Bauten im Wilhelminismus vgl. Guido Hinterkeuser, Vom Neobarock zum Werkbund. Die Architektur in Deutschland zwischen 1888 und 1918, in: F. Brunckhorst/K. Weber (Hg.), Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, Regensburg 2016, S. 255–295, Zitat S. 294.

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Gartenstadt-Bewegung maßgeblich mit, entwarf die Pläne für über 100 Villen bzw. Wohnhäuser in Berliner Vororten und war zwei Jahrzehnte ein herausragender Anreger und Kontaktvermittler zwischen Staatsstellen und Architekten bzw. Produktdesignern. 1907 löste Muthesius Empörung aus, als er erklärte, die Qualität deutschen Kunstgewerbes sei gering und deshalb nicht konkurrenzfähig, deutsch und geschmacklos würden im Ausland als synonym betrachtet. Über die zeitgenössischen Bauten urteilte er vernichtend: „In der Architektur gelten wir als die zurückgebliebenste aller Nationen“. Im Zuge der folgenden Debatte wurde im Herbst 1907 der zunächst in Dresden ansässige, 1912 nach Berlin umgesiedelte Deutsche Werkbund (1914: 1870 Mitglieder) gegründet, der heute als Wurzel und Inkubator der Bauhaus-Bewegung ab 1919 anerkannt ist. Diese Vereinigung von Architekten, Designern, Künstlern, Industriellen (Walther Rathenau, Robert Bosch) und einigen Politikern (Friedrich Naumann, Stresemann, Theodor Heuß) bildete ein Forum liberaler Reformkräfte und der Interaktion mit Staatsbeamten in Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern. Die personelle Verschränkung repräsentierten idealtypisch auch die freien Architekten und zeitweiligen Direktoren von Kunstgewerbeschulen Hans Poelzig (Breslau 1903–16), Bruno Paul (Berlin 1907–33) und Peter Behrens (Düsseldorf 1903–06, 1920 als Königsberger Direktor erwogen). Architektonisch verfolgte man gegen die wilhelminischen „Hofbaukünstler“ eine ornamental reduzierte Sachlichkeit und knüpfte stilistisch grosso modo an den Jugendstil an. Es ging hochambitioniert um dreierlei: Eine konzertierte Aktion von angewandter Kunst, Warenproduzenten und Staatsstellen; die Steigerung deutscher Wettbewerbsfähigkeit in globalisierten Zeiten und Lebensreform via Design bzw. Wohnungsbau. Im Sinne Friedrich Naumanns sollte der Kulturstaat der industriellen Welt den konservativen, monarchisch-bürokratischen Staat Preußen ersetzen, indem zugleich weltwirtschaftliche Expansion und innere Reform unter Einbezug der Arbeiterschaft gefördert wurden. Dem Werkbund wie Naumann persönlich ist liberaler Imperialismus, nah an der martialischen wilhelminischen Weltpolitik, vorgehalten worden, zumal Naumann und Behrens 1914 den „Aufruf der 93“ unterzeichneten und auch Muthesius den deutschen Kriegssieg ersehnte. Dagegen läßt sich halten, daß das innenpolitische Ziel der Vorkriegszeit die liberal-demokratisch verfaßte Nation war, nicht der monarchische Obrigkeitsstaat. Außenpolitisch sollte nicht mit Drohung und purer Gewalt, sondern mit Wirtschaftskraft Terrain gewonnen werden. Bei aller nationalen Emphase lag Fremdenhaß den Muthesius, Naumann oder Behrens fern – Anstöße hatte man ja gerade vom Ausland empfangen – und man betonte bis 1914 die Einbindung in die europäische Kulturgemeinschaft. In der großen Politik blieb der Werkbund ohne Wirkung, selbst in Warenproduktion und Architektur ein minoritäres Phänomen. Aber

302  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft er verfolgte innovative Konzepte und bildete auch personell die Wurzel für das Neue Bauen, ja überhaupt die kulturelle Moderne in Republik und Freistaat.271

8.

Denkmäler und Feiern in der Monarchie bis zum ­Jubeljahr 1913

In der eingangs dieses Kapitels skizzierten Trias Staatskultur-Kulturstaat-gesellschaftliche Kulturen gehörten staatliche Denkmäler und Feiern zum erstgenannten Bereich. Der Denkmalsbereich erwies sich nicht selten als problematisch im Spannungsfeld zwischen Monarchen und Verwaltungsstaat, Bürgerschaft und Städten in den Regionen, aber Dissonanzen wurden möglichst unter der Decke gehalten. An herausragenden wie auch weniger bekannten Beispielen lassen sich die anfängliche calvinistische Monument-Feindlichkeit und Frugalität Preußens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, späterhin aber vielfach auch die Konfliktlinien seiner politischen Kultur ablesen. Zuwachs an Loyalität bei manchen Sozialgruppen und Exklusion von anderen hießen die zwei Seiten dieses Problemfeldes. Für das 18. Jahrhundert ist eine generelle Verspätung Preußens beim monarchischen Denkmalbau konstatiert worden; Schlüters Reiterstandbild des Großen Kurfürsten (1705) bildete eine Ausnahme. Häufiger waren Tore und Ehrenpforten, z. B. die bis heute erhaltenen Berliner Tor und Königstor in Stettin (1725/26). Allerdings folgte Preußen auch einem generellen Trend, denn 1818 soll es gesamtdeutsch ganze 18 (große) öffentliche Denkmäler gegeben haben, 1883 dagegen bereits über 800.272 Die bürgerschaftliche Mobilisierung der Befreiungskriege hätte Ausgangspunkt gesellschaftlicher Integration durch Feste oder Denkmäler werden können, aber im Zeichen der Restauration und der Verweigerung von Partizipation dominierte am Hofe Friedrich Wilhelms III. Angst vor jeglicher gesellschaftlicher Aktivität als Vorbote national-liberaler Bestrebungen. Jahrzehntelang erschienen mobilisierte Menschenmengen den vor Ort kaum interventionsfähigen Staats271 John V. Maciuika, Before the Bauhaus. Architecture, Politics, and the German State, 1890–1920, Cambridge 2005, S. 17–19, 71 ff., 131 ff.; Ders., Art in the Age of Government Intervention: Hermann Muthesius, Sachlichkeit, and the State, 1897–1907, in: German Studies Review 21 (1998), S. 285–308. Zu Person und Werk online: http:// de.wipedia.org/wiki/Hermann_Muthesius. Wolfgang Hardtwig, Kunst, liberaler Nationalismus und Weltpolitik. Der deutsche Werkbund 1907–1914, in: Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 246–273, 319–324, Zitat Muthesius S. 256. 272 Thomas H. von der Dunk, Vom Fürstenkultbild zum Untertanendenkmal. Öffentliche Monumente in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 7 (1997), S. 175–210. Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, S. 192 (Denkmal-Statistik).

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spitzen unkontrollierbar. Bereits Zeitgenossen erkannten die zugrundeliegende Motivation. So schrieb Caspar David Friedrich an Ernst Moritz Arndt Mitte 1814: „Ich wundere mich keineswegs, daß keine Denkmäler errichtet werden, (…) die so die große Sache des Volkes bezeichnen (…). Solange wir Fürstenknechte bleiben, wird auch nie etwas Großes der Art geschehen. Wo das Volk keine Stimme hat, wird dem Volk auch nicht erlaubt, sich zu fühlen und zu ehren.“ Dementsprechend hielten sich Preußens Regierungen in Reaktionsperiode und Vormärz bei Denkmälern sehr zurück – die nationalen Monumente Ludwigs  I. (Walhalla–Regensburg, Befreiungshalle–Kehlheim, Ruhmeshalle–München) oder auch die Stiftung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg durch den nationalbewegten Hans v. Aufseß ab 1832, genehmigt von König Maximilian II. 1853, waren hier spektakulärer. Statt Schinkels geplantem Dom und Triumphbogen in Berlin kam 1821 das bescheidene Kreuzberg-Denkmal zustande, nach Intention und Gestaltung eben gerade kein National- oder gar Volksdenkmal. Hingegen folgten den ersten Statuen der Generale Friedrichs II. im Berliner Straßenbild ab 1769 entsprechende Figuren der Militärheroen von 1813/15 Gerhard v. Scharnhorst oder Gebhard v. Blücher (1822/26). Ansonsten gab es einige kleinere Fürsten-Denkmäler. Selbst Rauchs Monument für Friedrich II. (1851) brauchte wegen der Unterlegenheitsgefühle seiner Nachfolger eine Inkubationszeit ab 1787. Der Berliner Volkswitz, am Denkmalsockel habe ein anonymer Zettel die gereimten Zeilen „Alter Fritz, steig Du hernieder, und regier die Preußen wieder, laß in diesen schlechten Zeiten lieber Friedrich Wilhelm reiten“ enthalten, läßt das subversive Potential des „Großen“ noch gegen Friedrich Wilhelm IV. aufscheinen. Auch in den Provinzen wurden jahrzehntelang nur ausnahmsweise bürgerschaftlich gewünschte Denkmäler erlaubt, etwa ein Luther-Denkmal Schadows in Wittenberg (1821) und ein Gustav-Adolf-Baldachin Schinkels in Lützen (1830), hingegen bis 1846 kein Denkmal für Winckelmann in Stendal. Das Denkmal Rauchs für August Hermann Francke in Halle durfte auf Anweisung Friedrich Wilhelms III. nicht auffällig vor den Stiftungsgebäuden, sondern nur im Innenhof stehen, denn Zivilpersonen seien nicht gleich Fürsten zu ehren. Demonstrative öffentliche Ehrung von Zivilisten blieb mit Restriktionen behaftet.273 Eine erste Lockerung trat mit Friedrich Wilhelm IV. ein, beispielsweise seiner Zustimmung zum Weiterbau des Kölner Doms ab 1841. Dessen Vollendung 1880 ist freilich primär der 1864 genehmigten Lotterie des Dombauvereins zuzurechnen; oppositionelle Demokraten nach 1848 sowie entschiedene Katholiken in den 1870er Jahren wurden aus dem Verein gedrängt. Die Revolution 1848/49 rückte das Legitimationsdefizit ins Bewußtsein. Aus der Defensive heraus betrieben die 273 Zitat C. D. Friedrich bei Hugo Borger (Hg.), Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung, Köln 1980, S. 80 (C. D. Friedrich). Jutta von Simson, Das Berliner Denkmal für Friedrich den Großen, Berlin 1976, S. 7–25. Spenkuch, Preußen als Kulturstaat, S. 112 f. Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, S. 192 (Francke).

304  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft deutschen Monarchien, allen voran das Bayern Maximilians II., nun vermehrt Kulturpolitik zur Absicherung des monarchischen Staates. Man reglementierte im Volksschulwesen, berief geeignete Professoren an Universitäten, gründete Museen und wandte sich der augenfälligen Besetzung des öffentlichen Raumes mit Bauten zu. In Preußen standen bis in die Jahrhundertmitte (fast) ausschließlich Monarchen – nicht einmal Fürstinnen wie Königin Luise – und Generale auf Monumenten-Sockeln, anders als beispielsweise im Italien des Ottocento, wo privat von Adeligen oder Patriziern errichtete Memoria in den Städten vorherrschte. Die politische Symbolik der Monarchie kennzeichnete, wie Wolfgang Hardtwig jüngst bekäftigte, das obrigkeitsstaatlich-dynastische Grundnarrativ oder mindestens die monarchische Überformung der Repräsentationen im öffentlichen Raum. Demonstrativ konkurrierende Ikonographie wurde regelmäßig nicht gestattet, und die Opposition durfte keine Denkmäler bauen.274 Die Interventionen von örtlichen Bezirksregierungen, Berliner Zentralbehörden und der Monarchen höchstselbst bei diversen Monumenten, lassen sich an Beispielen verdeutlichen; sie mischten sich bei größeren Projekten erfolgreich ein. Als 1853 ein Denkmal zur 400-Jahr-Feier der Universität Greifswald 1856 mit den mittelalterlichen, slawischen Pommernherzögen und Gründungsrektor Heinrich Rubenow an prominenter Stelle geplant wurde, setzte Friedrich Wilhelm IV. den Plan seines Hofarchitekten Stüler durch, der zentral eine Statue Friedrich Wilhelms III. vorsah und nur am Sockel ein Medaillon für Rubenow. Da der Universität an einem Monument gelegen war, und der Monarch – wie formaliter bei allen Königlichen Universitäten – als ihr „Protektor“ firmierte, blieb nichts anderes übrig, als zu akzeptieren. Die Intervention führte also zur Umdeutung der Botschaft: Der preußische Monarch hatte oben zu stehen, der Gelehrte unter ihm, Slawenfürsten konnten allenfalls Randfiguren sein. Spezifische Interventionen kennzeichneten auch die Entstehungsgeschichte des Kölner Heumarkt-Denkmals. 1855 schlug Oberbürgermeister Hermann Stupp ein Denkmal für Friedrich Wilhelm III. vor, das als Provinzial-Beitrag zur 50-Jahr-Feier der Zugehörigkeit der Rheinlande zu Preußen 1865 firmieren sollte. Der Kölner Regierungspräsident Moeller stand dem Leitungscomité vor und man sammelte Spendengelder. Die Oberbürgermeister Leopold Kaufmann (Bonn) und Ludwig Hammer (Düsseldorf) opponierten vergeblich gegen den Standort Köln, das sich mit Hilfe Moellers und des Oberpräsidenten Hans 274 Kathrin Pilger, Der Kölner Zentraldombauverein im 19. Jahrhundert. Zur Konstituierung des Bürgertums durch formale Organisation, Köln 2004. Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur in Deutschland von 1850 bis 1871, in: Ders., Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 239–287, S. 279. Zur Kulturpolitik in Hannover, Sachsen und Württemberg vgl. Abigail Green, Fatherlands: StateBuilding and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2001, S. 97 ff. Gabriele B. Clemens (Hg.), Hochkultur als Herrschaftsinstrument. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, Berlin 2011, 9 f., 167 ff.

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v. Kleist-Retzow durchsetzte. Gegen eine Reiterstatue argumentierte dezidiert der katholische Abgeordnete August Reichensperger; als Alternativen wurden in der Stadt eine Handelsschule oder ein Invalidenhaus vorgeschlagen. Als Standort mußte der Heumarkt dienen, da der Kommandierende General des VIII. Armeecorps den Neumarkt für militärisch unentbehrlich hielt. Die Künstlersuche erfolgte in zwei Wettbewerben 1861/63. Zur Grundsteinlegung im Mai 1865 legte der Regierungspräsident die Einladungsliste und das Programm fest, denn Wilhelm I. wurde erwartet. Sperren und Militärpräsenz sicherten den Akt gegen Mißfallenskundgebungen ab, da auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts im März 1865 eine spektakuläre linksliberal-oppositionelle Bürgerversammlung unter Johann Classen-Kappelmann stattgefunden hatte. Zudem dekretierte Wilhelm I. das Bildprogramm. Am Postament der Reiterstatue Friedrich Wilhelms III., in besitzergreifender Pose dargestellt, hatten die Eckfiguren die vier Generale von 1813/15 darzustellen. E. M. Arndt, A. v. Lützow und Th. Körner hingegen durften nicht als Großfiguren, sondern nur im Sockelrelief erscheinen; der Freiherr vom Stein, Protagonist der Städteordnung von 1808, wurde an die Rückseite platziert, vorne stand Hardenberg. An den Seiten fanden sich unter den Verwaltungsbeamten Theodor v. Schön, Friedrich v. Motz, Peter Beuth und die Brüder Humboldt als Figuren. Gut vertreten waren Wissenschaften und Künste sowie Industrie und Handel auf den deutlich kleineren Sockel-Reliefs: Hegel, Schleiermacher, Meyerbeer, Beethoven und Mendelssohn-Bartholdy bzw. Franz Haniel, Friedrich Diergardt, Otto Camphausen und David Hansemann. Damit beinhaltete das Bildprogramm einen höheren Bürger-Anteil als das Berliner Friedrich-Denkmal Rauchs. Die Enthüllung am 26. September 1878 war der 30.  Jahrestag des Scheiterns der Revolution in Köln, ein Datum als Symbol der Persistenz der monarchischen Suprematie, die freilich nun auch die rheinische, gutenteils evangelische Großbourgeoisie akzeptierte. Bis 1918 galt für die Kölner Denkmaltopographie, daß zwar neben zehn Monarchen- und FeldherrnDenkmälern 19 Ehrenmale berühmter Kölner Bürger errichtet wurden, die „Hohenzollerngalerie“ jedoch prägende Standorte an Plätzen oder Brücken besetzte, während die Lokalgrößen randständig, teils auf Friedhöfen figurierten.275 Selbst als Preußen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch konziliant gegenüber der polnischen Minorität im Osten war, bewahrten Berliner Stellen ihre Bestimmungsmacht auch im katholisch-kirchlichen Bereich. Das seit 1816 von 275 Walter Greis, Der König, Staatsbeamte, Geheimräte, Künstler und ihre Berater. Förderung und Verzögerung bei der Errichtung des Denkmals, in: Ralf Beines u. a. (Hg.), Das Reiterdenkmal für König Friedrich Wilhelm III. von Preußen auf dem Heumarkt, Köln 2004, S. 200–249; Iris Benner, „Auch andere Thöne schlugen an mein Ohr“. Zeitgenössische Kritik am Denkmal Friedrich Wilhelms III. in Köln, in: Ebd., S.  525–539. Figuren-Liste S.  393, Wilhelms I. Wünsche S.  483  f. Iris Benner, Kölner Denkmäler 1871–1918. Aspekte bürgerlicher Kultur zwischen Kunst und Politik, Köln 2003, S. 256 ff.

306  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft polnischen Klerikern erbetene und 1828 grundsätzlich genehmigte Grabdenkmal für die mittelalterlichen Polen-Fürsten Mieczyslaw und Boleslaw im Posener Dom bestückte Preußens Starbildhauer Christian Daniel Rauch bis 1841 mit deren Doppelgruppe im italo-byzantinischen Stil, somit den Berliner Gestaltungsanspruch aufzeigend und eine aktuelle politische Aussage vermeidend. Die Vereinnahmung bürgerlicher, nicht gerade monarchistischer Geistesheroen zeigte sich beim Schiller-Denkmal auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Das seit 1855 von einem Bürgercomité erstrebte Denkmal wurde bei der Grundsteinlegung 1859 Ort eines Tumults von Handwerkern und Arbeitern, der sich gegen Staat und Großbürgertum zugleich richtete. 1848 wiederholte sich jedoch nicht. Staatlicherseits ging man nun mit größter Vorsicht zu Werk: Der junge Reinhold Begas erhielt den Auftrag und selbst seine irenisch gestaltete Figur stand ab 1869 zwei Jahre in einem Bretterverschlag, im Volksmund „Schillerbude“ genannt. Die Einweihung Ende 1871 erfolgte bei starker Polizeipräsenz, in Anwesenheit von Feldmarschall Wrangel und dreier Minister sowie unter Beobachtung durch Wilhelm I. persönlich aus einem angrenzenden Staatsgebäude heraus. Der Bürgermeister hielt eine monarchistische Rede und die Zeremonie endete mit Hochs auf den jüngst proklamierten Kaiser. Aus einer stadtbürgerlichen Feier war damit eine Akklamation für den neuesten Staatsheroen Preußens geworden und Schiller geriet allmählich zum Vorboten für Bismarcks Taten.276 Fraglos nahm die Identifikation des Bürgertums mit Monarchie und Staat in Preußen seit den Siegen und der Reichsgründung 1866/71 wesentlich zu. War schon bis dahin die Symbolik im öffentlichen Raum Preußens – grundsätzlich auch anderer Monarchien – monarchisch und spezifisch militärisch dominiert, so konnte sich aufgrund der Kooperation eines Gutteils des Bürgertums nun eine regelrechte „Denkmalswut“ Bahn brechen. Staat und Großbürgertum bzw. Großstadt-Spitzen rückten zusammen, ohne stets und vollständig in eins zu fallen, denn Erinnerungsposten autonomer bürgerlicher Selbstverwaltung schwanden nicht gänzlich. Von monarchisch-militärischer Ikonographie übersäht und glorifizierend gestaltet waren die ab 1873 in reger Folge eröffneten Großdenkmäler: Berliner Siegessäule (1873), Niederwald- Denkmal (1883), Berliner Nationaldenkmal für Wilhelm I. (1897), Hunderte von Bismarck-Monumenten und Dutzende von Moltke-Figuren. Friedrich Nietzsche hatte 1873 vor der „Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches“ gewarnt, ja den Kulturstaat durch politische Interventionen bedroht gesehen, und Jakob Burckhardt 276 Bloch u. a., Ethos und Pathos, S.  174  f. (Posen). Zum Schiller-Denkmal vgl. Helke Rausch, Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848–1914, München 2006, S.  614–620 und Rainer Noltenius, Schiller als Führer und Heiland. Das Schillerfest 1859 als nationaler Traum von der Geburt des zweiten deutschen Kaiserreichs, in: Dieter Düding u. a. (Hg.), Öffentliche Festkultur, Reinbek 1988, S. 237–258.

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aus Basel geargwöhnt, nun werde wohl „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen“ werden. Tatsächlich bedeutete die Hinwendung des Staates Preußen zu öffentlich sichtbarer Kultur zugleich deren staatliche Überformung sowie die langjährige Behinderung von Initiativen jenseits der staatlichmonarchischen Kultformen. Das war nicht einmalig damals, aber doch besonders ausgeprägt. Am Ende des Kaiserreichs deutete sich in der Ikonographie eine Wendung weg von Preußen ins Völkische an, wie Thomas Nipperdey bereits 1968 erkannte. Das Kyffhäuser-Denkmal Bruno Schmitz‘ (1896) und Bismarck-Denkmäler beispielsweise in Hamburg bildeten monumentale mittelalterliche Recken, martialische Krieger oder Roland-Figuren ab, aus Bedrohungsängsten geboren und drohend in die Zukunft gerichtet. Sie wurden mit mystischer Liturgie eingeweiht und mit Kritik am zu redselig-friedlichen Wilhelm II. konnotiert. Dominiert hat dieser frühe völkische Typus gegenüber den staatlich-monarchischen Denkmälern jedoch bis 1914 nicht.277 Dem beim obrigkeitlich gegen soziale Ansprüche „von unten“ geschützten, selbstzufriedenen nationalliberalen Bürgertum großenteils gelungenen sozialen Inklusionsprozeß standen jedoch jahrzehntelang mehrere Exklusionen gegenüber: Das Volk von 1813, die Protagonisten von 1848/49, Katholiken und Sozialdemokraten ab 1870. Speziell frühere Leitbilder bürgerlichen Freiheitsgeistes schob man beiseite. So wurde die Erinnerung an die Revolution 1848/49 offiziell unterdrückt, der Friedhof der Märzgefallenen 1848 im Berliner Friedrichshain bis 1918 amtlich sabotiert, Jahrestagsfeiern polizeilich überwacht und niedergelegte Kranzschleifen abgeschnitten; in Schulbüchern geriet 1848/49 zum blutigen Gemetzel des Mobs. Denkmäler für die Parlamentarier Benedikt Waldeck oder Hermann Schulze-Delitzsch wurden erst nach zwei Jahrzehnten Obstruktion auf kommunalem Grund abseits der Berliner Prachtstraßen gestattet, und die Fahne des Kaiserreichs nicht in Schwarz-Rot-Gold, sondern in Preußens Schwarz-Weiß mit hanseatischem Rot gehalten. Nun konnte selbst Protagonisten humanistischer Aufklärung wie Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelsohn trotz jahrelanger Bestrebungen in Berlin kein gemeinsames Denkmal errichtet werden; es entstand erst 1890 in bescheidener Form bloß für Lessing.278 277 Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Bonn 2006, S.  55–57 (Nietzsche-Zitat). Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 330 (Burckhardt-Zitat). 18 kaiserzeitliche Großdenkmäler Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs und Hamburgs genetisch skizziert bei Michael B. Klein, Zwischen Reich und Region. Identitätsstrukturen im Deutschen Kaiserreich (1871–1918), Stuttgart 2005, S. 189– 258. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 599 (völkischer Strang). 278 Hachtmann, Berlin 1848, S. 850–853 und Kurt Laser (Redaktion), Der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin Friedrichshain – die Begräbnisstätte der Opfer zweier Revolutionen, Berlin 2015, S. 92–161. Christian Jansen u. a., „Wer Ew‘gem lebt, der wird auch ewig leben.“ Zeremonien des Gedenkens an die Achtundvierziger, in: A. ­Biefang

308  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Auch ein Großdenkmal für den als Königlicher Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz hochdekorierten Alexander von Humboldt erwies sich als schwierig. Schon 1817 schrieb Wilhelm von Humboldt über seinen in Lateinamerika bis heute verehrten und bis 1827 in Paris lebenden jüngeren Bruder, daß es ihm leid tue, zu sehen, „wie er aufgehört hat, deutsch zu sein und bis in alle Kleinigkeiten pariserisch geworden ist.“ Bis zu seinem Tode 1859 war Alexander v. Humboldt der bedeutendste transnationale Verbindungsmann für das Preußen seiner Zeit und das Symbol kultureller Offenheit. Er vermittelte das Bild Preußens als Kulturstaat international, weshalb seit 1953 eine Bundesstiftung für internationalen Wissenschaftleraustausch nach ihm benannt ist. Als ein Berliner Comité um Rudolf Virchow 1869 ein Nationaldenkmal für Humboldt propagierte, erwies sich, daß er nach Lebensweg, Werk und Anschauungen nicht mehr als preußische Identifikationsfigur taugte. In Hofkreisen war sehr präsent, daß Humboldt, Kammerherr und Gesellschafter zweier Könige, in posthum veröffentlichten Briefen das Geschehen am Berliner Hof vielfach spöttisch kommentiert („völlig geistlos, roh und unwissend“) und Teplitzer Badekuren der Monarchen als „Aufguß von Fürsten“, bei dem die „Weltelefanten (…) ihre Rüssel zusammenstecken“ verulkt hatte. Wilhelm I. machte deshalb 1875 zur Bedingung seines Plazets, daß das künftige Humboldt-Denkmal die Statuen der Generale Unter den Linden weder überragen noch vor der Front des Universitätshofes in die Linden heraustreten dürfe, und er selbst den Entwurf begutachten müsse. Der Auftrag ging an den ikonographisch zuverlässigen Hofbildhauer Reinhold Begas, der bis 1883 sitzende Gelehrtenfiguren Alexanders und seines Bruders Wilhelm schuf – weniger auffällig als die Feldherren-Monumente vor der Neuen Wache oder am Wilhelmplatz und bis heute in einer Gitterbucht zurückgesetzt. Dem frankophilen, jeder nationalistischen Verengung abholden Kosmopoliten Humboldt, der Wissenschaft auch als soziale Verantwortung verstand, setzte man hingegen in beiden Amerika prominente Denkmäler an zentralen Plätzen. In Preußens Erinnerungspolitik vereinnahmte man, etwa Otto Hintze, Humboldt bis 1918 als „Zierde des Hofes“, als braven Berater zweier Könige oder Reformer der unfruchtbar aufklärerisch gestimmten Akademie – und nahm seinem Vermächtnis so jeden Stachel. Gelehrte und Wissenschaftler wie Humboldt oder später (1910) Virchow gelangten nur entpolitisiert auf Denkmalssockel – als politische Akteure sollten sie öffentlich nicht erscheinen, resümierte Manfred Hettling im Vergleich mit der Schweiz. u. a. (Hg.), Das politische Zeremoniell, S.  367–391. Franzjörg Baumgart, Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1976. Wolfgang Hardtwig, Der bezweifelte Patriotismus – nationales Bewußtsein und Denkmal 1786 bis 1933, in: Ders., Politische Kultur der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 2011, S. 29–45. Peter Reichel, Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung. Nationalsymbole in Reich und Republik, Göttingen 2012, S. 74–131.

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In ähnlicher Weise lief es beim Berliner Denkmal für den Freiherrn vom Stein, der zweimal im Zwist mit Friedrich Wilhelm III. aus seinen Staatsämtern geschieden war, ab. Ein Comité, 1858/59 noch unter Humboldts Vorsitz, sammelte Gelder, aber begegnete umgehend dem Bedenken, der Staat dürfe kein liberales Parteiunternehmen fördern, denn tatsächlich galt Stein zeitgenössischen Liberalen als Heros bürgerlicher Selbstbestimmung. 1861 erlaubte Wilhelm I. grundsätzlich den Denkmalbau, aber um den Standort gab es 14 Jahre Kontroversen. Das Comité drang auf eine Solitär-Aufstellung auf dem Opernplatz vor dem Palais Wilhelms I., während regierungsseitig die Einreihung in ein Ensemble um das entstehende Reiterstandbild Friedrich Wilhelms III. im Lustgarten bevorzugt wurde. Vor dessen Enthüllung 1875 durfte die postamentierte, übermannshohe Statue Steins im Überrock nicht aufgestellt werden. Wilhelm I. genehmigte erst in diesem Jahr als Kompromiß einen weniger prominenten Standort am DönhoffPlatz – vis à vis dem damaligen Abgeordnetenhaus und vor einer Bierhalle. Da der Monarch der Einweihungsfeier fern blieb, dominierten städtische Repräsentanten wie Max von Forckenbeck und Arthur Hobrecht. Aber der zelebrierende Hofprediger erklärte Stein zum Anhänger der christlichen Grundlagen des Staates und lobte seine opferfreudige Loyalität gegenüber Monarchie und Reich, während die nationalliberale Nationalzeitung (vergeblich) dazu aufrief, allerorten Stein-Denkmäler zu errichten. Staatlich verordnete Nachrangigkeit und politische Instrumentalisierung waren gleichermaßen offenkundig. 1907 durch ein Hardenberg-Denkmal ergänzt, wurde der metallene Stein 1981 von der DDR an die Stelle der kriegszerstörten Kommandantur Unter den Linden versetzt und 2003 vor dem Berliner Abgeordnetenhaus platziert, 2011 durch eine neugegossene Statue Hardenbergs ergänzt. Gutes Ende einer langen Odyssee.279 Staatlich ausgeschlossen blieb der Spötter Heinrich Heine. In seiner Geburtsstadt Düsseldorf propagierte 1887 ein Comité ein Denkmal für ihn. Die Heine-Verehrerin Kaiserin Elisabeth von Österreich wollte die Kosten einer Statue übernehmen. Aber das preußische Innenministerium Puttkamers gab dem Düsseldorfer Magistrat die Order, derartiges sei unerwünscht und das Auswärtige Amt meldete dem Wiener Hof die Abneigung der Hohenzollern gegen Heines Ehrung. Elisabeth und 279 Ottmar Ette, „daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein“: Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika, in: S. Carreras/G. Maihold (Hg.), Preußen und Lateinamerika. Im Spannungsfeld von Kommerz, Macht und Kultur, Münster 2004, S. 31–57, Zitat S. 39. Karl Bruhns, Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie in drei Bänden, Bd. 2, Leipzig 1872, Zit. S. 129, 268. Andreas W. Daum, Nation, Naturforschung und Monument. Humboldt-Denkmäler in Deutschland und den USA, in: Martin Baumeister u. a. (Hg.), Die Kunst der Geschichte (= Fs. W. Hardtwig), Göttingen 2009, S. 99–124. Winfried Löschburg, Unter den Linden. Geschichte einer berühmten Straße, Berlin 1991, S. 170–175. Hintze, Hohenzollern, S. 511, 560 (Zierde des Hofes). Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S.  273  f. Heinz Duchhardt, Mythos Stein. Vom Nachleben, von der Stilisierung und von der Instrumentalisierung des preußischen Reformers, Göttingen 2008, S. 69–87.

310  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft der Magistrat gaben das Vorhaben auf und auch die Stadtverordnetenversammlung, deren knappe liberale Mehrheit 1888 gegen Zentrum und Konservative dafür gestimmt hatte, zog 1893 die Zusage eines Standorts zurück. Ein bereits erstellter Entwurf Ernst Herters wurde auf Initiative von Auswanderern 1899 im New Yorker Stadtteil Bronx als Lorelei-Brunnen mit Heine-Relief realisiert: „Ihrem großen Dichter die Deutschen in Amerika“. Zum 50. Todestag Heines 1906 befürworteten Künstler wie Liebermann und Hauptmann erneut ein Denkmal. Der VolkskunstAnhänger und spätere Hitler-Barde Adolf Bartels steigerte sich in seiner Streitschrift „Heine. Auch ein Denkmal“ zur völkischen Kampfpropaganda; es gehe nicht um ein Heine-Denkmal, sondern darum, ob „wir Deutschen deutsch bleiben oder geistig und seelisch verjuden sollen“. Im dritten Anlauf betrieb 1930/31 ein Ehrenausschuß von 68 namhaften, auch ausländischen Künstlern (Brüder Mann, Liebermann, Richard Strauß, Bendedetto Croce, Maxim Gorki, Romain Rolland, John Galsworthy) das Projekt erneut. Die infolge eines Künstler-Wettbewerbs bei Georg Kolbe bestellte Bronzeplastik „Aufstrebender Jüngling“ konnte aber im NSStaat 1933 nicht mehr offiziell als Heine-Denkmal aufgestellt werden, verbrachte ohne Zueignung viele Jahre in einem Museumsvestibül und erhielt erst 2002 die Aufschrift „Heinrich Heine gewidmet“.280 Da Denkmalsbauten häufig von lokalen Comités initiiert wurden, könnte man darin den Beweis der Mobilisierung von unten, von gesellschaftlicher Selbsttätigkeit erblicken. Für Preußen wäre diese Deutung aber häufig vorschnell. Denn die Comités waren hier – in gewisser Differenz zum süddeutschen und hanseatischen Raum – dominiert von Beamten und staatstreuen bürgerlichen Eliten, politisch von deren Parteien Deutsch- und Freikonservativen sowie Nationalliberalen. Ausgeschlossen blieben die „Reichsfeinde“ von SPD, Polen, Welfen, süddeutsche Demokraten, häufig der linke Liberalismus, klein gehalten wurde der Anteil von Zentrumsanhängern. Nur lokal entstanden einzelne Monumente für politische Oppositionelle, so in Meppen für Ludwig Windthorst, in Hagen für Eugen Richter. Alle Vorhaben unterlagen mehrfachen obrigkeitlichen Genehmigungen und staatliche Einflußmöglichkeiten bestanden zudem mittels der Standortwahl, der Künstler-Wettbewerbe und der Finanzierung. Außer beim Berliner Reichstagsgebäude von 1894, der augenfälligen Symbolkonkurrenz zur preußisch-deutschen Monarchie, und großstädtischen Rathäusern standen nicht Parlament, Verfassung oder Bürgergesellschaft im Mittelpunkt. „Nationale“ Denkmäler sollten der Identifikation mit Monarchie, Militär und borussisch interpretierten historischen Traditionen dienen – in Süddeutschland gab es deshalb signifikant 280 Joseph A. Kruse, Heine und Düsseldorf, Düsseldorf 1984, S. 92–120; Peter Hüttenberger (Hg.), Düsseldorfer Geschichte von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. 3, Düsseldorf 1989, S. 69–77; Dietrich Schubert, Der Kampf um das erste Heine-Denkmal. Düsseldorf 1887–1893, Mainz 1893–1894, New York 1899, in: Wallraf-RichartzJahrbuch. Jahrbuch für Westdeutsche Kunstgeschichte 51 (1990), S. 241–272.

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weniger. Zeitgenössisch machten sich Karikaturen über „monumentalen Kitsch“ lustig, aber diese Blätter gehörten zum oppositionellen Spektrum: „Kladderadatsch“ und Münchener „Simplicissimus“ bzw. „Jugend“ sowie die SPD-nahen Organe „Wespen“ und „Lustige Blätter“. Die Opposition verulkte Denkmäler, aber konnte (fast) keine eigenen bauen.281 Als Indiz für die Anhänglichkeit breiter Bevölkerungskreise an die Monarchie sind jüngst die Geschenke von Bürgern an die Monarchen untersucht worden. Getreue Untertanen sandten nämlich jahrzehntelang Andenken aller Art (Gegenstände, Haarlocken etc.) nach Berlin, die mit Lebensstationen von Mitgliedern der königlichen Familie seit Friedrich II. verbunden waren, und taten in Begleitbriefen ihre Monarchietreue überschwänglich kund. Die Analyse der Akten zeigte jedoch, daß diese Einsendungen bis in das Kaiserreich zahlenmäßig gering blieben, von den Monarchen passiv rezipiert und in ihren Schlössern verstaut sowie erst seit 1877 im Rahmen der neuen Militär-Ruhmeshalle Zeughaus bzw. des Hohenzollernmuseums Schloß Monbijou publikumswirksam ausgestellt wurden. Die regionale und sozialstrukturelle Sortierung der zuletzt mehrere Hundert Schenker ergab, daß diese ganz überwiegend aus Altpreußen stammten, während die Rheinlande, Posen/Westpreußen oder gar andere Bundesstaaten gering vertreten waren, unter Wilhelm II. mit nur 16 %. Bei den Gebern dominierten Adelige mit 25 %, gefolgt vom Bildungsbürgertum, zur Zeit Wilhelms II. dann vermehrt Industrielle oder Bankiers. Derartige Schenkungen indizierten sicherlich Loyalität zur Monarchie, ihre späte Nutzung zugunsten eines populären Images belegt aber zugleich die jahrzehntelange geringe Wertschätzung von Öffentlichkeit bei Preußens Monarchen. Die regionale bzw. sozialstrukturelle Herkunft der Geber läßt auf eine deutliche Beschränkung des Hohenzollern-Ansehens, zumal außerhalb Kernpreußens, schließen. Ungeachtet des methodisch innovativen Ansatzes bleibt die Einsendung von quantitativ begrenzten Memorabilien ein insgesamt begrenzter Indikator zur Einschätzung von Massenloyalität.282 Einen breiteren, vielfach untersuchten Indikator stellen öffentliche Feiern dar. Sie einten und spalteten zugleich: Sedantag (2.9.), preußische Krönungs- und Reichsgründungs-Feiern (18.1), Kaisergeburtstage (22.3., 27.1.), zuletzt die Jubi281 Reinhard Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871– 1918, Berlin 1996, S. 284–301, 404 ff., 599 f. Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 286, 291. Jefferies, Imperial Culture, S. 81–86 (Reichstag). Langewiesche, Föderativer Nationalismus, S.  232 (Süddeutschland). Susanne Peters-Schildgen, „Monumentaler Kitsch“. Denkmäler im Spiegel der Karikatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Deutsche Nationaldenkmäler 1790–1990 (Ausstellungskat.), Bielefeld 1993, S. 137–151. 282 Eva Giloi, Monarchy, Myth, and Material Culture in Germany 1750–1950, Cambridge 2011, S. 127 f., 179 f., 315–318, 327 f.

312  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft läumsfeste 1913. Der Sedanstag, 1871 vom Protestantenverein und Pastor Bodelschwingh spontan initiiert, erfuhr ab 1873 offizielle Förderung in Preußen und sollte ein Siegesfest für die Armee wie die Reichsgründung werden. Aber süddeutsche Regierungen und die Katholiken der Kulturkampfzeit sahen in ihm eine preußisch-protestantische Veranstaltung, Sozialdemokraten lehnten es als militaristisch ab. So geriet der Sedantag zur Feier für ein selbstzufriedenes Bürgertum und zur militärischen Machtdemonstration für Heer und Kriegervereine. 1895 letztmals als große staatliche Erinnerungfeier begangen, zogen allmählich viele nichtpreußische Bundesstaaten und selbst die Reichsleitung mit Rücksicht auf die unerwünschte antifranzösische Aufladung ihre Unterstützung zurück. Der Sedantag ging weithin in den Herbstmanövern auf. Daß das letzte Erinnerungsdatum am 2. September 1917 dazu genutzt wurde, um in Königsberg die hochnationalistische Deutsche Vaterlandspartei zu gründen, setzte die Traditionslinie der Ausgrenzung aller angeblichen Vaterlandsfeinde nur augenfällig fort.283 Preußens Krönungsfest am 18. Januar war traditionell und blieb unter Wilhelm I. ein borussisches Hochamt in Berlin, das andere Bundesstaaten mit konkurrierenden Monarchien und Neu- oder Mußpreußen nicht sonderlich schätzten. Der Geburtstag des Kaisers wurde unter dem wenig feierfreudigen Wilhelm I. bis in seine letzten Lebensjahre in kleinem Rahmen und wesentlich als Geburtstag des Königs von Preußen begangen. Die Dynastien der Bundesstaaten besaßen ihre je eigenen Fürstenfeiern (etwa Wittelsbach 1880, 1911/13; Wettin 1889). Mit Wilhelm II. amtierte der erste preußische König, der sich als Reichsmonarch inszenierte. Er betrieb maßgeblich groß angelegte Feiern zum 25jährigen Reichsjubiläum 1896 und gestaltete den 100. Geburtstag seines toten Großvaters 1897 als Hohenzollern-Apotheose mit Enthüllung des Berliner Denkmals für Wilhelm I. Dabei bewirkten Taktlosigkeiten Wilhelms II. im Umfeld der Feiern 1896 Irritationen bei den Bundesstaaten und -fürsten, und sein Versuch, Wilhelm I. als „Wilhelm den Großen“ zu etablieren, erntete zwar einerseits Anerkennung für den bis zuletzt preußisch-bescheidenen Greis, aber gewann (trotz Urlaubstag mit Lohnfortzahlung für Staatsbeschäftigte) dauerhaft wenig Anhänger. Weder der noch lebende Reichsheros Bismarck noch Moltke und andere Führungsfiguren von 1870/71 erschienen der Mehrheit als die bloßen „Handlanger“, zu denen sie Wilhelm II. zu degradieren versuchte. Sedantag und Wilhelm I. symbolisierten spezifisches Preußentum. Wilhelm II. versuchte ansatzweise, Bürgerliche zu integrieren, etwa den Berliner Hof für sie bei Hofbällen, der Defiliercour zu Neujahr oder dem Ordensfest 283  Zu Sedantag und Kaisergeburtstagen vgl. Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt/M. u. a. 1990, S.  17  ff. bzw. 67  ff.; Ute Schneider, Einheit ohne Einigkeit. Der Sedantag im Kaiserreich, in: S. Behrenbeck/ A. Nützadel (Hg.), Inszenierungen des Nationalstaats, Köln 2000, S.  27–44; Klein, Zwischen Reich und Region, S. 265–284. Nach Schellack und Klein auch die folgenden Absätze.

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zu öffnen. Aber diese Öffnung wurde vom (alten preußischen) Adel wenig goutiert, die Hofrangordnung mit ihren 62 Rängen reproduzierte staatlich-ständische Hierarchie zulasten neureicher Bürger, adelige Militärs ab dem hoffähigen Leutnantsrang dominierten, Sozialdemokraten kritisierten die Hofkosten generell und speziell die Erhöhung der Krondotatation 1910, selbst führende Hofbeamte wie Graf Robert Zedlitz-Trützschler beklagten das ritualisierte, hohle Zeremoniell. Der Hof bildete keineswegs mehr das alleinige Zentrum der städtischen Berliner noch gar der „besseren“ Gesellschaft preußenweit. Im Urteil von Heinz Reif und Torsten Riotte hat Wilhelm II. mit seiner inszenierten Hofgesellschaft mehr verärgert als Integration erreicht. Der Geburtstag des letzten Kaisers am 27. Januar gewann allerdings den Charakter einer reichsweiten Feier mit schulfrei und Festveranstaltungen an vielen Orten. Konservative und nationalliberale Kreise nutzen das Datum zur ritualisierten alljährlichen Demonstration ihrer monarchischen Gesinnung. Städtisches Bürgertum kooperierte dabei mit Staatsbeamten und Militär und organisierte sozial exklusive Veranstaltungen. Diese Organisation „von oben“, der formalisierte Ablauf und die Reduktion des „Volkes“ auf die Statistenrolle verhinderten gutenteils, daß wirkliche Volksfeste, zumal im Winter, daraus wurden. Das städtische Bürgertum, bis in die 1860er Jahre noch in gewisser Konkurrenz-Situation zu Staatsverwaltung oder Militär, replizierte diese exklusive Inszenierung spezifischer Inhalte im Kaiserreich allmählich freiwillig, denn die erfolgreiche Nationalstaatsgründung überzeugte und das soziale Abgrenzungsbedürfnis wuchs. Untersuchungen kaiserzeitlicher städtischer Feiern, beispielsweise in der mitteldeutschen Universitätsstadt Halle, konstatieren, daß hier die Nation nach 1871 teleologisch und nationalprotestantisch als Gemeinschaft gegen äußere und innere Feinde konstruiert wurde. Die reale historische Entwicklung und die aktuellen sozialen Konfliktlinien blieben ebenso ausgeblendet wie die bis in die 1860er Jahre deutlicher betonte Zivilgesellschaft. Wiederum nicht europaweit einmalig, aber charakteristisch.284 Höhe- und Schlußpunkt der staatlich-monarchischen Feiern im Kaiserreich bildeten drei Anlässe im Jahre 1913: Die Hochzeit der Kaisertochter Viktoria Luise mit dem Welfenerben im Mai, das 25. Regierungsjubiläum Wilhelms II. im Juni und der 100.  Jahrestag von Befreiungskrieg und Leipziger Völkerschlacht 284 Torsten Riotte, Macht- und Prachtentfaltung? Hof und Hofgesellschaft unter Wilhelm II., in: F. Brunckhorst/ K. Weber (Hg.), Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, Regensburg 2016, S. 67–86, bes. S. 86; Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 82–85. Frank Bösch, Das Zeremoniell der Kaisergeburtstage, in: A. Biefang u. a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich, S.  53–76. Tobias Kügler, Bürger und das Pathos der Nation. Städtische Denkmalsfeiern von der Reichsgründung bis 1907, in: W. Freitag/K. Minner (Hg.), Vergnügen und Inszenierung. Stationen städtischer Festkultur in Halle, Halle/S. 2004, S. 140–164, 158.

314  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft im Oktober. Die in Berlin groß inszenierte, durchaus populäre Familienfeier war politisch insofern bedeutsam, als damit eine gewisse Aussöhnung mit dem Welfenhaus indiziert wurde. Wilhelms 25-Jahr-Feier genoß in bürgerlichen Kreisen weithin Akzeptanz, denn sie konnte auch als Feier der je eigenen Erfolge betrachtet werden. Im Schlachtengedenken angesichts von Heeresvermehrung und Balkankrieg mischten sich altes monarchisches Zeremoniell und neuer bildungsbürgerlicher, teils völkisch getönter Nationalismus, unterlegt von außenpolitischen wie sozialen Bedrohungsgefühlen, ja untergründiger Kriegserwartung. Nicht zufällig fand sich dieser Typ monumentalen politischen Totenkults in Verbindung mit dem neurechten Gedanken der Volksgemeinschaft in Sachsen. Denn in Altpreußen dominierte weiterhin der monarchische Typ mit der HohenzollernDynastie und ihrer Historie im Zentrum, sowohl im bildlichen Ausdruck wie bei öffentlichen Zeremonien; behördliche Regie sorgte dafür. Für die Sozialdemokratie stand die grundsätzliche Gegnerschaft zur real existierenden monarchischen Regierungsform und deren Bollwerk Preußen lange fest: Gottesgnadentum, borussische Reichsgründungsmythen, konstitutionelles System und „soziales Königtum“ galten vielen Mitgliedern als gleichermaßen unwahr. Auf SPD-Parteitagen wurde diese grundsätzliche Ablehnung mehrfach bekräftigt. 1913 schloß die Parteizeitung „Vorwärts“ ihren Artikel zum Jubiläum Wilhelms II., den Kaiser der Junker, der Großbourgeoisie und der Volksentrechtung, mit dem Satz „Es lebe die Republik!“. Ähnlich grundätzlich negativ war die Einstellung der Polen in Posen und Westpreußen. Sie hatten jahrzehntelang bei vielen Anlässen antipolnische Maßnahmen angeprangert. Eine Zeitung aus Bromberg schrieb im diesem Sinne 1913: „Wir werden also abseits stehen; denn das ist kein Fest für uns.“ Die nationalen Minderheiten feierten nicht mit. Gegenentwürfe zu staatlich-monarchischen Feiern stellten lange Jahre die volksfestartigen, sozialdemokratischen Maifeiern dar, sie sich mit eigener Symbolik, Liedern und Vorträgen von staatlichen wie bürgerlichen Wertmustern absetzten. Auch die SPD-Parteitage und die Katholikentage, „Herbstparaden“ der Zentrumspartei genannt, bildeten bedeutende alternative Zeremonien, in der Bindekraft freilich auf die jeweils eigene Klientel beschränkt.285

285 Karl Frohme, Monarchie oder Republik? Kulturgeschichtliche Streifzüge, Hamburg 1904; Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1910 bis 1913, München 1913, S.  488. Zitate nach Karl Wippermann (Hg.), Deutscher Geschichtskalender 1913, Bd. 1, S. 379 (SPD 1913) bzw. 376 (Polen). Edith Lerch, Die Maifeiern der Arbeiter im Kaiserreich, in: D. Düding u. a. (Hg.), Öffentliche Festkultur, S. 352–372. Walter Mühlhausen, Das rote Parlament. Die Parteitage der Sozialdemokratie im Wilhelminischen Kaiserreich bzw. Marie-Emmanuelle Reytier, Die zeremonielle Gestaltung der Katholikentage als „Herbstparaden“ des Zentrums, in: A. Biefang u. a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich, S. 271–304 bzw. S. 305–325.

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Von den wenigen existenten demokratischen Presseorganen kam gleichfalls Kritik. Die „Welt am Montag“ resümierte als Ergebnis der Regierungszeit Wilhelms außenpolitische Krisen, Rüstungswahn und ein bürokratisch-junkerliches Regiment nach innen. Die Nürnberger „Fränkische Tagespost“ sah in süddeutschdemokratischer Manier das Reich als auch von Süddeutschland akzeptierte Tatsache, aber verlangte, daß nicht der Daumen Preußens und seiner Junkerkaste freiere Regungen südlich der Mainlinie unterdrücken dürfe. Populäre und wissenschaftliche Publikationen feierten 1913 hymnisch ein Vierteljahrhundert Aufschwung und Erfolge unter dem Friedenskaiser. Zwei fundamental kritische Publikationen, eine von Richard Ball in Basel verlegt, und eine anonyme in Freiburg gedruckt, erschienen; sie prangerten scharf persönliches Regiment, außenpolitische Isolierung, Germanisierungspolitik, Klassenjustiz und brutalen Militärdienst an. Der Band Richard Balls prophezeite gar Weltkrieg wie Revolution, wurde in Deutschland wegen Majestätsbeleidigung verboten und greifbare Exemplare vernichtet.286 Jenseits all der vor dem Berliner Schloß defilierenden Deputationen, des Festakts der Rektoren der deutschen Universitäten im Prinz Heinrich-Palais, des Fackelzuges der Studenten und des Freizeitvergnügens vieler (Klein-)Bürger bei den Feiern des Regierungsjubiläums 1913 konnte man damals also politische Front- und gesellschaftliche Bruchlinien nicht übersehen. Der schöne zeremonielle Schein dominierte, aber Preußens letzter König und redefreudiger Reichsmonarch leistete 1913 bei näherer Betrachtung nicht Integration „über den Parteien“, sondern intonierte Hohenzollern-Preußens Gloria im Reich. Eine genaue Analyse des Besuches Wilhelms II. 1913 in Hannover durch Gerhard Schneider legte Grundanlage und inhärente Defizite der zahlreichen Kaiserfeiern (Geburtstage, Manöver, Einweihungen) zweier Jahrzehnte paradigmatisch frei. Kaiser-Auftritte waren auf emotionale Wirkung angelegt, aber weitgehend ritualisiert (Empfang, Parade, Rede, Gala-Tafel, Abschied). Sie umfaßten meist nur eine kurze Zeitspanne, wobei Wilhelm II. kaum je den Kontakt mit der breiten Bevölkerung suchte, etwa durch spontanes Händeschütteln am Wegesrand. Zwar gaben Militärparade oder Ansprache vom Balkon einen kurzen Blick auf den Monarchen frei – adäquat wiedergegeben in Heinrich Manns „Untertan“, wo 286 Demm, „Sic volo sic jubilo“, S. 165–207, S. 194 f. (SPD, Polen, Welt am Montag) bzw. S. 200 f. und Bernd Sösemann, Hollow-sounding jubilees: forms und effects of public self-display in Wilhelmine Germany, in: A. Mombauer/W. Deist (Hg.), The Kaiser, New Research on Wilhelm II’s role in Imperial Germany, Cambridge 2003, S. 37–62, S. 54 (Fränkische Tagespost). Publikationen: Adolf v. Achenbach u. a., Unser Kaiser. 25 Jahre der Regierung Kaiser Wilhelms II. 1888–1913, Berlin/Leipzig 1913 (populär); Philipp Zorn/Herbert v. Berger (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., 3 Bde., Berlin 1914. Nathalie Chamba/Eberhard Demm (Hg.), Wilhelm der Letzte – Richard Balls 1912 verbotenes Buch, Nordhausen 2017; Anonymus, Unser Kaiser und sein Volk. Deutsche Sorgen. Von einem Schwarzseher, Freiburg 1906, 9. Aufl. 1919.

316  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Diederich Heßling ganze zwei Sekunden Blickkontakt mit dem Kaiser hat –, aber Gala-Tafel oder Empfang in geschlossenen Räumen blieben Wenigen vorbehalten. Wirkliche Nähe und Vertrautheit entstand so nicht. Im Jubel der Bevölkerung als Kulisse artikulierte sich nicht bloße Begeisterung für den Kaiser, sondern häufig auch der eigene Stolz, einer erfolgreichen Nation anzugehören. Zentral blieb die obrigkeitliche Organisation nach Rang und Stand. Das galt bei der Empfangsanordnung, der Vorstellung oder der Ordensverleihung je nach sozialem Status. In Hannover besetzten leitende Beamte und kommandierende Offiziere, preußenfreundliche Adelige und nationalliberale Großbürger, protestantischer Klerus und staatsnahe Bildungsbürger die ersten Ränge. Welfische Adelige und Stadtverordnete, Kleinbürgertum oder gar Arbeiter waren ausgeschlossen. Der inszenierte Huldigungsakt reproduzierte zugleich augenfällig eine Klassengesellschaft. Dieses stets verwandte wilhelminische Muster spaltete, denn Exklusion war seine Grundlage.287 Die Beschränkung der breiten Bevölkerung auf die Zuschauerrolle und der Ausschluß der Nation bzw. „Volksgemeinschaft“ wurden anläßlich der Feiern zum Jahrhundertjubiläum des Befreiungskriegs bzw. der Leipziger Völkerschlacht explizit von Vertretern der neuen Rechten angeprangert. Zur Jahrhundertfeier in Berlin 1913 notierte der „Türmer“, sie sei „von vornherein auf einen falschen Ton gestimmt worden“, zu Recht publizistisch moniert als „ungefähr das Gegenteil eines wirklichen Volksfestes“. Denn das Volk, das 1813 Gut und Blut gab, sei nun durch „Absperrungsmaßregeln und ein höfisch-militärisch-bureaukratisches Festprogramm von der Feier möglichst ferngehalten worden. Die polizeiliche Absperrung (…) war grotesk, und das Ganze kam, wie gewöhnlich, auf eine banale Parade, welcher der Kaiser mit dem üblichen Pomp präsidierte, hinaus. (…) In Preußen erinnert man sich an das Volk erst dann, wenn man seine ‚Opferwilligkeit‘ braucht. Eine andere Beteiligung an den Erinnerungsfeiern wird von ihm nicht verlangt.“ Die neue Rechte prangerte damit den höfischen Obrigkeitsstaat wegen dessen Abgehobenheit vom wahren Souverän des Massen(kriegs)zeitalters an. Parallel hielt man der Sozialdemokratie wie den „Partikularisten“ mangelndes nationales Ehrgefühl, Egoismus und Spaltung der Volkseinheit vor. In besonderer Weise stand die Leipziger Feier zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals Bruno Schmitz‘ in der Spannung zwischen monarchischem Herrscherempfang und kriegsbereiter völkischer Orientierung – das Tagesmotto hieß: „Lasset uns kämpfen, bluten und sterben für Deutschlands Einheit und Macht“. Wilhelm II. verweigerte die Übernahme des Patronats, obwohl der Initiator Clemens Thieme sein Werk als gegen Katholizismus und Sozialdemokra287 Gerhard Schneider, Kaiser Wilhelm II. in Hannover 1913, in: C. Regin (Hg.), Pracht und Macht. Festschrift zum 100. Jahrestag der Einweihung des Neuen Rathauses in Hannover, Hannover 2013, S. 267–290, 288 ff. Rüdiger vom Bruch, Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Ders., Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2005, S. 25–51.

8. Denkmäler und Feiern in der Monarchie bis zum ­Jubeljahr 1913  

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tie gerichtet verstand und in seiner Eröffnungsrede Preußens Führung im Reich pries, freilich auch vom „Heiligtum des gesamten deutschen Volkes“ sprach. Linke wie rechte Organe beklagten die obrigkeitliche Geringschätzung des Volkes, dessen Lotto-Lose doch die Finanzierung des Leipziger „Volkstempels“ ermöglicht hatten. Man kann die Differenz zwischen monarchisch-staatlichem und dem neurechten, völkischen Kult auf den Unterschied zwischen einer vergangenheitsorientierten, aber optimistischen und einer zukunftsorientierten, aber bis zur Untergangsphantasie pessimistischen Ausrichtung zuspitzen. Ikonographisch drückte sich das in überladenen wilhelminischen Denkmalen einerseits, düsteren Krieger-Helden wie aus der Nibelungensage andererseits aus. Vor allem waren die obrigkeitlich geleiteten offiziellen Feiern des Jahres 1913 zugleich herausgefordert durch die (sozial-) demokratische linke und die neurechte Position. Die fortgesetzte politische Trennung bei nationalen Feiern in der Folgezeit war damit angebahnt.288 Als Fazit läßt sich festhalten, daß im Zeitalter von Klassengesellschaft und Nationalisierung der Massen (G. Mosse) die preußisch-deutsche Monarchie ihre Legitimation mit inszenierten Feiern zu festigen versuchte, aber mit der obrigkeitlich reglementierten Fixierung auf Staat und Dynastie Preußen unter Degradierung der Bürger zur Hurra-Staffage bedeutende Bevölkerungsteile nicht integrierte, und folglich von der Linken wie von der völkischen Rechten als volksfern kritisiert wurde. Vor diesem Hintergrund wird umso verständlicher, warum im Gefolge der „nationalen Einheitsfront“ der ersten Kriegsmonate in Kriegs- und Nachkriegszeit mit vielfältigen Suchbewegungen danach gestrebt wurde, die Fraktionierungen des Kaiserreichs mit mancherlei utopischen Synthese-Konzepten zu überwinden. Im Zusammenhang damit ist die langfristige Prägewirkung dieser Diskurstradition zu beachten. Mit der Betonung von Volk und nationaler Einheit – also nicht Verfassung bzw. parlamentarische Republik, demokratische (Grund-)Werte oder geregelte gesellschaftliche Konflikte – wurde ein Ideal beschworen, demgegenüber die existierende Staatsform und die moderne pluralistische Gesellschaft 288 Wulf Wülfing u. a., Historische Mythologie der Deutschen 1798–1918, München 1991, S. 187–189, Zitat des Türmer S. 188. Wolfram Siemann, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: D. Düding u. a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 298–320. Stefan-Ludwig Hoffmann, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Völkerschlachtdenkmal, in: R. Koselleck/M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249–280. Birte Förster, Die Jahrhundertfeiern der ‚Völkerschlacht‘. Erinnerungs-kulturen und Kriegslegitimation im Jahr 1913, in: D. Mares/D. Schott (Hg.), Das Jahr 1913, Bielefeld 2014, S. 143–167. George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. u. a. 1976, S. 84 (Tagesmotto). Jeffrey R. Smith, The Monarchy versus the Nation: The „Festive Year“ 1913 in Wilhelmine Germany, in: German Studies Review 23 (2000), S. 257–274.

318  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft gleichermaßen defizitär erschienen. Die als naturhaft gegeben verstandene, konfliktlose Volksgemeinschaft und ein präexistenter einheitlicher Volkswille galten zeitweise selbst manchen bürgerlichen Linken als Leitbild. Diese ideologisch fundierte, naive Sehnsucht ergab eine Grundlage und einen sprachlichen Anknüpfungspunkt für die (neu)rechten, republikfeindlichen Kräfte in Republik und Freistaat Preußen, um den Diskurs über Volk und nationale Einheit zu instrumentalisieren und in ihre eigenen nationalistisch-völkischen Bahnen zu lenken. Kaiserzeitliche Prägungen und die Weltkriegsfolgen warfen so lange Schatten in die Republik. Wie der nationalistische Diskurs der Nachkriegszeit die Identität einer Region (ver)formte, ist am Beispiel Ostpreußens dargestellt worden. Der ständige Gebrauch von Begriffen wie Volk und Heimat, Feindmächte, Bollwerk des Deutschtums und nationaler Wiederaufstieg beförderte nicht nur die Grenzlandmentalität speziell im Osten – im Westen war sie trotz alliierter Besatzung weit geringer ausgeprägt –, sondern brachte die Anhänger einer demokratisch-republikanischen Identität diskursiv in die Defensive. Im Rückblick aus der Perspektive von 1933 wird klar, daß diese Basis bis 1918 gelegt wurde und ab 1919 weiter wirkte. Unzweifelhaft absehbar war das freilich weder 1919 noch 1929, als populäre Feiern der zehnjährigen Republik viele Zeitgenossen zu Optimismus verleiteten.289

9.

Denkmäler und Feiern im Freistaat Preußen

Weimarer Republik und Freistaat Preußen brachten kein neues Nationaldenkmal zustande. Das Massensterben des Weltkriegs gab den naheliegenden Anstoß für Hunderte lokaler Kriegerdenkmäler, wobei zunächst christliche Trauermotive vorherrschten, ab etwa 1925 jedoch männlich-trotzige Kraftsymbolik oder germanisierende Gestaltungsweise den Vorzug erhielten. Im Geiste trotzigen Revisionismus entstanden das Marine-Denkmal Laboe in Schleswig und im Osten das düstere, ordensburgähnliche Tannenberg-Denkmal 1927, Begräbnisstätte Hindenburgs 1935. Republikanische Akzente etwa bei den Staatssymbolen von Reich wie Freistaat (Adlerwappen etc.) setzte hingegen der Kunsthistoriker ­Edwin Redslob als Reichskunstwart, Schrumpfstufe eines 1919 erwogenen Reichskulturamtes. Sein Amt verfügte weder über Mitarbeiter noch nennenswerte Finanzmittel, harmonierte aber gut mit dem preußischen Kultusministerium, 289 Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Paul Nolte, Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 170 f. Wolfram Pyta, Monarchie und Republik. Zum Wandel des politischen Zeremoniells nach 1918, in: A. Biefang u. a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich, S. 451–468, 462 f. Traba, Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz.

9. Denkmäler und Feiern im Freistaat Preußen  

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das über ein Millionenbudget verfügte. Der Kulturbereich blieb ja traditionsgemäß Ländersache. Ein Reichsehrenmal brachte Reichsinnenminister Jarres (DVP) 1924 ins Gespräch; wegen des ahnungsvollen Widerspruchs von Reichspräsident Ebert begann die Debatte dazu erst ab 1926. Vier Orte konkurrierten als Standort: Höhenzüge am Mittelrhein, das Weserbergland bei Höxter, der Wald um Bad Berka in Thüringen und Berlin. Die Diskussion war föderal wie parteipolitisch polarisiert zwischen einer kaiserzeitlich-kriegerischen Traditionsfortsetzung und einem positiv-republikanischen Neuanfang, wobei entweder DNVP/DVP oder SPD/KPD reserviert blieben. Als 1929 ein germanisch inspirierter Ehrenhain bei Bad Berka favorisiert wurde, stoppten Reichstagsmehrheit und Reichsinnenminister Carl Severing das Projekt. Auch ein parallel geplantes „Ehrenmal für Einheit und Freiheit am Rhein“ auf der Festung Ehrenbreitstein gelangte nicht zur Ausführung. Mitte 1929 ergriff Ministerpräsident Otto Braun die Initiative für ein Ehrenmal in Berlin und Preußens Staatsregierung schrieb einen Wettbewerb aus. Der Architekt Heinrich Tessenow gestaltete bis 1931 Schinkels Neue Wache als Gedenkstätte für die Gefallenen des Weltkriegs um. Entkernt entstand ein einziger großer Raum, schmucklos, nur mittig mit schwarzem Granitblock und aufliegendem silber-goldenem Eichenlaubkranz versehen. Der Ort entsprach so nicht dem traditionell-heroischen Muster und setzte sich auch von der nationalistischen Revanche-Parole des „künftigen Generationen zur Nachahmung“, mit der Hindenburg Tannenberg eingeweiht hatte, klar ab. Preußens Kabinett versuchte, ein würdiges republikanisches Trauermahnmal als Ort des Nachdenkens anstelle der üblichen „Kriegergedenkstätte“ zu schaffen. Zur Einweihungsfeier am 2. Juni 1931 lud indes Reichswehrminister Groener ein, Reichspräsident Hindenburg stellte sich in den Vordergrund und Militär dominierte die Szene – sprechendes Beispiel für die Inbesitznahme des Zeremoniells in der späten Republik durch die politische Rechte. Während Braun in seiner kurzen Rede für das demokratische Preußen in der Tradition Schinkels warb, beschwor Groener die Größe vergangenen Heldentums und redete Hindenburg von der mißgünstigen „Welt von Feinden“. Schon 1933 ergriffen die Nationalsozialisten von der republikanischen Totengedenkstätte Neue Wache Besitz und veranstalteten dort pompöse militaristisch-nationalistische Zeremonien für ihre „Helden“. Neuerlichen Bedeutungswandel erfuhr der Ort ab 1960 als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ der DDR inklusive Großem Wachaufzug der NVA mittwochs und samstags. Seit 1993 dient der um eine vergrößerte Kollwitz-Figur „Trauernde Mutter“ zentrierte Ort als Gedenkstätte der Berliner Republik für alle Zivil- und Kriegsopfer von Gewaltherrschaft. Preußens republikanische Tradi­ tion scheint damit dauerhaft für das demokratische Gemeinwesen gewonnen.290 290 Christian Welzbacher, „Die künstlerische Formgebung des Reichs“. Der Reichskunstwart und die Kulturpolitik in der Weimarer Republik 1918–1933, in: Ders. (Hg.) Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik

320  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft ✳ 1919 bis 1932 gelang es ferner nicht, einen unumstrittenen Nationalfeiertag zu etablieren. Die nicht akzeptierte Niederlage 1918 und die politische Rückwärts­ orientierung rechts der Mitte erschwerten eine republikanische Erinnerungskultur. Symbolkonkurrenz machten nun der idealisierte Reichsgründungstag 18. Januar und der 28. Juni als „Schandtag von Versailles“, von der KPD der revolutionäre 1. Mai und Feiern zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Der 9. November als Tag der Niederlage schied von vorneherein aus. Der 30. November als Tag des Inkrafttretens der demokratischen preußischen Verfassung wurde offenbar nur einmal begangen; zum zehnjährigen Verfassungsjubiläum 1930 ordnete Kultusminister Grimme Gedenkveranstaltungen in den Schulen an. Die sozialdemokratisch geführte Preußen-Regierung versuchte jahrelang und 1927 per Antrag in Reichsrat wie Reichstag, den 11. August als Verfassungstag festzulegen, verhedderte sich aber im parlamentarischen Betrieb. Erst als die SPD 1928–30 den Kanzler stellte und Carl Severing als Reichsinnenminister über die Gestaltungsmacht verfügte, kam es zu großen gemeinsamen Verfassungsfeiern von Reich und Preußen. In einem zeitgleichen Memorandum trat Severing für eine republikanische Festkultur ein. Generell war die Sozialdemokratie neben der DDP die einzige politische Kraft, die von Anfang an und offensiv für republikanische Staatssymbolik eintrat. Sie setzte die schwarz-rot-goldene Trikolore als Fahne und das Deutschlandlied (freilich noch alle Strophen) als Nationalhymne durch, sie betonte die Traditionslinie zu 1848 und in der Öffentlichkeit die historische Legitimität wie die Erfolge der Republik. Eindrucksvolle Totenfeiern für Rathenau 1922, Ebert 1925 und Stresemann 1929 belegten die Kompetenz zur republikanischen Inszenierung; federführend war Reichskunstwart Edwin Redslob. Freilich blieben das kurzfristige Effekte; bald galt Rathenau bloß als Jude und die Erinnerung an Ebert verblaßte. Einen Staatsakt für den Kanzler der Jahre 1928–30 Hermann Müller verweigerte Hindenburg Ende März 1931 mißgünstig, so daß die SPD das Begräbnis ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden organisierte – mit Zehntausenden Trauernden, Würdigung durch Amtsnachfolger Brüning und Beteiligung der Preußen-Regierung. Der 11. August wurde ab 1922 bescheiden, aber 1929/30 in großem Rahmen begangen. Das Ausmaß der Feiern hing maßgeblich davon ab, ob die organisa1918–1933, Weimar 2010, S.  11–58. Benjamin Ziemann, Die deutsche Nation und ihr zentraler Erinnerungsort. Das „Nationaldenkmal für die Gefallenen im Weltkriege“ und die Idee des „Unbekannten Soldaten“ 1914–1935, in: H. Berding u. a. (Hg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20.  Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 67–91 und Ders., Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014, S. 191–227. Laurenz Demps, Die Neue Wache – Vom königlichen Wachhaus zur Zentralen Gedenkstätte, Berlin 2011, S. 86–102 und im Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin-Dahlem die Akten Rep. 77, Titel 1215 Nr. 3c Bd. 2 bzw. Rep. 151, IV, Nr. 2387/2388.

9. Denkmäler und Feiern im Freistaat Preußen  

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torische Regie bei SPD- oder DDP-Ministern lag. Denn die Rechte blieb gegenüber dem „Siegestag der Republik“ reserviert bis feindlich. Den 10. Jahrestag der Verfassung im August 1929 gestalteten Reichs- und preußische Regierung publikumswirksam. Es gab eine Festschrift, Briefmarken, Postkarten und Medaillen, Kunstflieger traten in Berlin auf und eine Automobilausstellung lockte; man hielt eine Feier im Reichstag ab und verbreitete den republikanischen Festakt durch eine Rundfunkübertragung. Auch in einigen Landeshauptstädten gab es Feiern. Nicht zuletzt fanden massenwirksame Sportveranstaltungen und ein Umzug des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold mit 150.000 Teilnehmern durch Berlin statt, womit der Charakter als populäres Volksfest und Demonstration der sozialdemokratischen Kulturbewegung hervortrat. Auf einem 17 Meter hohen, hölzernen Ehrenmal vor dem Brandenburger Tor hielten Inschriften das Andenken der Kriegstoten sowie der Opfer bei Republikverteidigung und in der Arbeitswelt wach. Im Volksstaat sollte so die Trennung zwischen offizieller Bühne und Zuschauern aufgehoben werden. Der neue Staat konnte sich nicht nur auf Vernunft-, sondern durchaus auch aktive Herzensrepublikaner stützen und schien allmählich an Akzeptanz zu gewinnen. Der Vorwurf des Mangels an bildhafter republikanischer Repräsentation und demokratischer Symbolarmut trifft deshalb nicht zu, wie alle neueren Studien zeigen. In Baden (1923) und Hessen (1929) hatten Landesgesetze den 11. August zum offiziellen Feiertag erklärt. In Preußen lag dem Kabinett im September 1930 ein Gesetzentwurf über den Verfassungsfeiertag vor, aber man vertagte die Vorlage an den Landtag bis „zu einem politisch ruhigeren Zeitpunkt“, der nie mehr kam. Offensichtliche Symbol-Konkurrenz versuchte die Rechte mit Hindenburgs Billigung mittels eines Staatsakts zum 60.  Jahrestag der Reichsgründung am 18.1.1931 zu etablieren, aber der Einspruch der Preußen-Regierung verhinderte eine großangelegte zentrale Feier. Noch mit Kabinettsbeschluß vom Januar 1932 band Preußens Regierung ihre Zustimmung zu einer Ländervereinbarung über Feiern am 18. Januar an eine gleichzeitige Regelung der Feier des 11. August. Freilich gestaltete sich die Findung angesehener Redner für die zentrale Festrede zum 11. August im Reichstag stets schwierig. Hier sprachen mehrere DDPAnhänger, Joseph Wirth vom linken Zentrumsflügel und die beiden Sozialdemokraten Radbruch und Severing, während die Deutschnationalen Abstand hielten und sich nur zweimal DVP-Vertreter bereitfanden. An den Universitäten begingen Professoren wie Studierende, gleichermaßen weithin rechtsorientiert, seit 1921 jährlich den 18. Januar. Preußens und Bismarcks Schatten lag massiv gerade über den Akademikern. Kultusminister C. H. Becker, auf allmähliche Gewinnung der Akademiker für Republik und Freistaat setzend, erachtete ein ministerielles Verbot für politisch kontraproduktiv und wegen der Hochschulautonomie für rechtlich problematisch. Er und sein Ministerialdirektor Werner Richter hielten daher die Universitätsrektoren nachdrücklich zur Abhaltung von Verfassungsfeiern am Ende des Sommersemesters an und waren 1929–1931 erfolgreich damit.

322  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Mit der Wirtschafts- und Staatskrise freilich stand die Legitimität der Republik sozialökonomisch wie politisch erneut stark im Zweifel. Die Erinnerungskultur blieb in der Republik tief zerrissen.291 Der selbst beteiligte Arnold Brecht benannte später die Gründe, weshalb die Akzeptanz des Nationalfeiertags in Republik und Freistaat in dem Jahrzehnt bis 1932 nicht generell gelang. Für ihn zählten dazu die langjährigen parteipolitischen Differenzen zwischen Bürgerblock-Regierungen im Reich und SPD-Koalition in Preußen, die Ablehnung auf der Rechten (DNVP/DVP), der durchgängige föderalistische Eigensinn bei der bayerischen BVP-Regierung und je nach parteipolitischer Zusammensetzung zeitweise auch in anderen (süd-) deutschen Ländern sowie ein gewisses Zögern von SPD/DDP, die einen parteiübergreifend gedachten Nationalfeiertag gerade nicht mit knapper Mehrheit durchdrücken wollten. Als entscheidendes Hindernis ist jüngst hervorgehoben worden, daß sich die politische Rechte der inklusiven Gewinnungsstrategie der Republikaner verweigerte, nach Möglichkeit Obstruktion betrieb und verbissen in republikfeindlicher Systemopposition verharrte. Dazu kam eine von föderalen wie mentalen Bedenken getragene Zurückhaltung in der Mitte. Denn obwohl der Reichsrat mehrfach mehrheitlich für den 11. August als Nationalfeiertag stimmte, bewirkten Zentrum/BVP und DVP zusammen mit der DNVP im Reichstag bis 1931 sechsmal eine Vertagung der Frage bzw. die ergebnislose Überweisung an die Ausschüsse. Als am 11. August 1932 der deutschnationale Innenminister und Staatskommissar für Preußen Wilhelm v. Gayl die erste Festrede gegen die (zu) demokratische Verfassung von 1919 hielt, und sie in Kürze durch einen autoritären Ständestaat zu ersetzen verhieß, stand das Ende von Republik und Freistaat unmittelbar bevor. Joseph Goebbels notierte mit Häme: „Letzter Verfassungstag. Laßt ihnen die kurze Freude“. Das letzte Wort behielt der NS-Ideologe damit jedoch nicht, denn das Bonner Grundgesetz 1949 und der bundesrepublikanische Verfassungspatriotismus späterer Jahrzehnte knüpften erfolgreich an die 1932/33

291 Schellack, Nationalfeiertage, S.  196–203 (1927/28), 221–230 (Feier 1929), 247–265 (18.1.1931) und Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, S. 321–345, 363 ff. Aufschlußreiche Akten in GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 77, Tit. 98 Nr. 112, Bde. 4–6. Zum Reichsbanner-Umzug 1929 Ziemann, Veteranen der Republik, S.  218–220, zu den Totenfeiern Reichel, Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung, S. 238–250. Neuere Studien resümiert Eric D. Weitz, Weimar Germany and its Histories, in: Central European History 43 (2010), S. 581–591, 585 ff. Poscher (Hg.), Der Verfassungstag, S. 11–38, S. 23 ff. (18. Januar). Reinhold Zilch (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817– 1934/38, Bd. 12: 1925–1934/38 (= Acta Borussica, N. F., 1. Reihe), Hildesheim 2004, S. 262, 272, 307 (Preußen 1930/32).

10. Das wahre Mirakel Preußens: Bildung und Wissenschaft ab 1810  

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gewaltsam abgeschnittene, demokratische politische Kulturtradition gerade des Freistaats Preußen an.292

10.

Das wahre Mirakel Preußens: Bildung und Wissenschaft ab 1810

Zum wahren Mirakel Brandenburg-Preußens gerieten seit 1810 Bildung und Wissenschaft. Staatlicherseits gab es damals in Preußen keine breit angelegte, zielgerichtete Bildungs- und Wissenschaftspolitik; dazu fehlten die Vorstellungswelt, die Verwaltungsstrukturen, die Finanzen. Preußen kennzeichneten nach W. Neugebauer kulturell „Verspätungsphänomene“ infolge der „extremen Selektivität seines frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses“. Wie in Verwaltung, Militär, Wirtschaft und Sozialsystem ging es nun um kulturellen Neuaufbau. „Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat“, diese Sentenz legten die Reformer zwecks eigener Legitimation König Friedrich Wilhelm III. in den Mund. Dabei kennzeichneten zwei Paradoxien das Wachsen der Kulturstaatlichkeit im 19.  Jahrhundert: Sie war erstens nicht nur staatlich, sondern auf mancherlei Feldern gesellschaftlich bedingt und sie entstand zweitens zunächst als „Kultur aus der Niederlage“ nach 1806, später als borussische Stilisierung infolge der Siege 1866 bzw. 1870/71. Dabei ist der Kulturstaat ab 1807 weithin als liberal-bürgerliches Projekt zu bezeichnen, denn nicht altpreußische Bürokraten brachten ihn im 19. Jahrhundert vor allem voran, sondern meist zugewanderte Reformer, Neupreußen wie Altenstein und Friedrich Althoff, Adolf Harnack und C. H. Becker, Theodor Mommsen und der Mathematiker Felix Klein, nicht zuletzt bürgerliche Bildungsnachfrage. Es bleibt eine historische Ironie, daß daraus eine enorme Stärkung der Staatsintervention erwuchs und der Machtstaat Preußen später gerade deshalb von vielen Liberalen akzeptiert wurde, weil er ja auch der Staat von Bildung und Wissenschaft war, also Schulen und Universitäten neben Kasernen und Bürokratie standen.293 292 Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen eines beteiligten Beobachters 1884–1927, Stuttgart 1966, S.  360–364 (1921, Adolf Harnack und Bill Drews lehnen Rede ab), S. 394–401 (Deutschlandlied 1922 und 1848er Gedenkfeier 1923). Entscheidendes Hindernis nach Manuela Achilles, With a Passion for Reason: Cele­ brating the Constitution in Weimar Germany, in: Central European History 43 (2010), S. 666–689 (aufgrund der preußischen Akten). Cuno Horkenbach (Hg.), Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Jg. 1932, Berlin 1933, S. 284 (Gayl); Schellack, Nationalfeiertage, S. 259 (Goebbels). 293  Wolfgang Neugebauer, Einleitung: Staatlicher Wandel. Kulturelle Staatsaufgaben als Forschungsproblem, in: Acta Borussica, N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Bd.  2,1, Berlin 2010, S. XIII–XXXIII, S. XXIV (Zitat). Max Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, Halle/S. 1910, S. 78 (Zitat). Vgl. bereits Spenkuch, Preußen als Kulturstaat, S. 99–105.

324  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Den kulturstaatlichen Aufbruch symbolisieren in erster Linie die Berliner Brüder Wilhelm von Humboldt, Verkünder der neuhumanistischen Bildungsidee und Gründer der Universität Berlin 1810, und Alexander von Humboldt, Naturforscher, bis heute verehrter Mittler zur iberoamerikanischen Welt und Fürsprecher für Wissenschaftler und Kulturschaffende zumal Frankreichs bis zu seinem Tode 1859.294 Im Hochschulbereich entstanden neben der Universität Berlin 1810, die in Denkschriften als „Zentraluniversität“ bezeichnet wurde, zwei weitere „Provinzialuniversitäten“ zwecks Integration der West- bzw. Südost-Region. Aus einer Konkurrenz rheinischer Städte von Duisburg über Düsseldorf bis Koblenz und Trier ging 1818 nicht die Großstadt Köln, die als zu katholisch galt, sondern die übersichtliche Kreisstadt Bonn hervor. Schon 1811 sorgte der Reformbeamte Johann Wilhelm Süvern dafür, daß die kleine Universität Frankfurt/O. in die seit der Eroberung mit Vorbehalten betrachtete schlesische Provinzialhauptstadt Breslau verlegt wurde. Für die freien Professuren wurden teils außerhalb Preußens tätige, bekannte Gelehrte angeworben, erster Schub für die personelle Stärke preußischer Hochschulen. Anfangs wurden stark Geisteswissenschaften (Philologien etc.), gefördert, aber ab den 1830er Jahren durchaus auch Mathematik, Naturwissenschaften, Medizin in Form von Kliniken, seit den 1860er Jahren die industriell bedeutsame Chemie.295 Im Bereich Schule hatte es bereits mit dem Schulpflicht-Edikt von 1717 gewisse Anfänge und generell den pietistischen Impetus für Volksbildung gegeben. Der monarchische preußische Beamtenstaat drang mit Dekreten vergleichsweise stark auf Alphabetisierung, konnte aber wegen Finanzrestriktion und lokaler Schulorganisation das Vollzugsdefizit in der Breite nicht aufheben. Auch Verbesserungen, die einzelne Gutsherren wie Eberhard v. Rochow-Reckahn ab 1772 oder F. A. L. von der Marwitz nach 1800 umsetzten, blieben örtlich begrenzt 294 Ette, „daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein“. David Blankenstein, Auftrag und Aufgabe. Alexander von Humboldt als Künstlerförderer in Paris, in: Anna Busch u. a. (Hg.), Französisch-deutsche Kulturräume um 1800, Berlin 2012, S. 151–165. Kurt-R. Biermann (Hg.), Alexander v. Humboldt. Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe an das Preußische Kultusministerium 1818–1859, Berlin 1985. 295 Zu Berlin umfassend: Heinz-Elmar Tenorth/Charles McClelland (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 1: 1810–1918, Berlin 2012; zu den frühen Professoren-Berufungen S. 133 ff. Christian Renger, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein, Bonn 1982. Arno Herzig, Die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau von ihrer Gründung bis zur Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus (1933/34), in: Ders., Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz, Dortmund 1997, S.  100–141 sowie Thomas Becker/Uwe Schaper (Hg.), Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten. Universitäre Bildungsreform in Preußen, Berlin 2013.

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und können keine preußenweite Gültigkeit beanspruchen. Wilhelm v. Humboldt dachte das aufklärerische Bildungsprogramm des 18. Jahrhunderts systematisch weiter. Es ging ihm darum, „das Menschenkind zum Menschen zu bilden“. Erziehung zum Selbstdenken sollte in Mündigkeit enden: „Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei andern gelernt hat, daß er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist“. Humboldt plante ein zweistufiges System für alle Jungen – Mädchen kamen gar nicht vor. Auf den Elementarunterricht folgte die höhere Schule, quasi eine Gesamtschule, aus der aber Abgang vor dem Abitur möglich war. Humboldts Konzept setzte 1819 Ministerialrat Süverns Schulverfassungsgesetz um; ein dreistufiges Schulsystem sollte die „Anstalt für die National-Jugendbildung“ verkörpern. Dies hielten konservative Kollegen im Kultusministerium hingegen für utopisch, denn es gebe ja nur Elementarschulen, Stadtschulen und Gymnasien, also ein dreigliedriges System für Stände. Die Schulpatrone, vor allem Gutsbesitzer, fürchteten höhere Schullasten, die Amtskirchen eine Beschneidung ihrer Schulaufsichtsfunktion, Oberpräsidenten stimmten ihnen bei und warnten vor vermehrter katholischer Einflußnahme. Wegen der politischen Tendenzwende ab 1819 konnte Kultusminister Altenstein kein Gesetz realisieren. Die Idee „allgemeiner Menschenbildung“ wurde zugunsten der „naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung“ begraben. Besonders in den konservativ geprägten Dekaden der 1830er, 1850er und 1880er Jahre fuhren Ministerium wie regionale Schulbürokratie einen (auch finanziell) restriktiven Kurs der Beschränkung auf Grundfertigkeiten und Inhalte wie Religiosität oder Monarchietreue in den Volksschulen sowie der Behinderung von Bildungsaufstieg durch neue (kommunale) höhere Schulen wegen drohender „Überfüllung“. Das Schulystem sollte die soziale Segregation einer ständischen Gesellschaft widerspiegeln, der Bildungsweg großenteils abhängig vom Elternberuf bleiben. Starke Bildungsorientierung schwand in Preußen jedoch nicht, denn Kommunen und Lehrer engagierten sich und bis um 1830 gelang gutenteils, bis 1880 die durchgängige Alphabetisierung – eine im europäischen Vergleich nicht geringe Leistung. Wunde Punkte blieben: Der generelle Unterschied Stadt–Land, eine deutliche Jungen–Mädchen Differenz sowie die auffällige Diskrepanz zwischen den sieben östlichsten Regierungsbezirken Ost- und Westpreußens, ­Posens sowie Oberschlesiens mit 26 % bis 43 % Analphabeten (1871) und den 28 übrigen Bezirken mit 17 % bis 3 % Schreib- und Lese-Unfähigen. Nationalitätenpolitik, ländliche Unterentwicklung und geringere Wertschätzung von Bildung unter Katholiken werden als Ursachen dafür genannt.296 296 Kaak, Impulse aus Holland und England, Abschnitt 40 ff. Günther Kronenbitter, Wilhelm von Humboldt. Bildungsmacht Preußen, in: F.-L. Kroll/B. Heidenreich (Hg.), Macht- oder Kulturstaat. Preußen ohne Legende, Berlin 2002, S.  137–145, Zitate S. 141, 143. Herrlitz u. a., Deutsche Schulgeschichte, S. 36–62 (Schulsystem, Süvern, Lehrinhalte). Etienne Francois, Regionale Unterschiede der Lese- und Schreibfähigkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte

326  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Gegenstand der höheren Bildung im humanistischen Gymnasium sollten vor allem die Philologien, primär Griechisch, sein. Lehrplan (Abiturreglement 1812), Lehrerbildung (Lehrerexamen 1810/1831) und grundsätzliche Lehrmethode wurden preußenweit danach ausgerichtet. Bildung war bereits früher das Mittel zum Aufstieg für Bürgerliche; gerade in Preußen konnte (nur) so die Konkurrenz gegen den in Beamtenschaft und Militär privilegierten Adel gewonnen werden. Eltern besaßen deshalb evidente Motive für die steigende Bildungsnachfrage, zumal generell Lebensweg und Einkommen ihrer Sprößlinge davon abhingen. Vorteil für den Staat sollte sein, daß er wegen gebildeter Bürger mit protestantischem Leistungsethos gestärkt dastünde. Das ideal konzipierte Gymnasium wies in der Praxis des folgenden Jahrhunderts dann aber Defizite auf, die teils schon 1859 dem jungen amerikanischen Oberschichtensproß Henry Adams auffielen: Elitedenken und weitgehender Ausschluß der Unterschichten-Kinder, überwiegend Reproduktion von Wissen, Einübung in Disziplin und Hierarchie mit autoritärem Gebaren der Oberlehrer statt selbstbewußter Eigeninitiative der Schüler, im wilhelminischen Lehrplan dann deutscher Nationalismus. Die drei Jahrzehnte um 1900 waren von Kämpfen um institutionelle Gleichberechtigung erfüllt: Einmal für die nicht-altsprachlichen Gymnasien, das neusprachliche Realgymnasium und die naturwissenschaftliche Oberrealschule, sodann beim Abiturzugang für Mädchen. In beiden Bereichen drängten moderne gesellschaftliche Kräfte mit Vereinen (Realschulmänner-Verein; Frauenbewegung) und Petitionen auf Änderungen. Die preußische Kultusbürokratie verhielt sich lange reserviert und gab erst spät nach: 1900 erreichten die neuen Gymnasialtypen Gleichberechtigung und – dem Vorbild Badens, Bayerns und Württembergs (1900/1904) folgend – 1908 junge Frauen den Abiturzugang, der zunächst nur wenige Berufe eröffnete, primär den als Lehrerin an Mädchenschulen. Wirtschaftliche Zwänge, bürgerliches Bildungsstreben und Initiativen „von unten“ zwangen hier die preußische Bürokratie zu (begrenzter) Modernisierung. Die Bildungsexpansion war gesellschaftlich getragen.297 Aus der Bildung in Sekundarschulen folgte für die Universitäten, daß dort nicht mehr Wissen tradiert, sondern Reflexion und wissenschaftliche Forschung stattfinden sollten. Um „Einsicht in die reine Wissenschaft“ zu gewinnen, war nach Humboldt „nothwendig Einsamkeit und hülfereich Freiheit“. Dies hieß konkret Lernfreiheit für Studierende und Lehrfreiheit für die Dozenten. Als Lehrform und Landeskunde 17,2 (1990), S. 154–172. Rainer Block, Der Alphabetisierungsverlauf im Preußen des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1995, S. 111 ff. 297 Thomas Nipperdey, Preußen und die Universität, in: Karl Dietrich Erdmann u. a., Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, S. 65–85, bes. S. 69–75. Harold D. Carter, Henry Adams’ Reports on a German Gymnasium, in: American Historical Review 53 (1947), S. 59–74. Herrlitz u. a., Deutsche Schulgeschichte, S. 63–82 (Gymnasien), S. 83–101 (Mädchenschulen). Aufriß auch Spenkuch in: Acta Borus­ sica, Bd. 2,1, S. 74–87.

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propagierte Humboldt klar das diskursive Seminar – in der Praxis blieb jedoch bis ins 20. Jahrhundert die Vorlesung die professoral bevorzugte Form. Im liberalen Ansatz Humboldts sollten Schule und Hochschule staatsfern sein, wie er es schon 1792 formuliert hatte. Das ließ sich im staatsorientierten Preußen schon wegen der staatlichen Finanzierung der Hochschulen nicht umsetzen. Von den Universitäten erwarteten die Reformer Erkenntnismehrung durch Forschungsorientierung und Humboldt stellte Preußen die Aufgabe, den „ersten Rang in Deutschland zu behaupten und auf seine intellectuelle und moralische Richtung den entschiedensten Einfluss auszuüben.“ Das Konzept erfuhr Anfechtung; 1821 formulierten konservative Räte im Kultusministerium: „Universitäten betrachten sich als wissenschaftliche Erfindungs- und Experimentieranstalten, da sie doch ihrem jetzigen Hauptzwecke nach Institute sind zur Bildung tüchtiger Diener der Kirche und des Staats“.298 Die latente Spannung Staatlichkeit – Wissenschaftsfreiheit erfüllte Preußens Hochschulorganisation von Anfang an: Die professoralen Forscher waren zugleich staatliche Amtsträger, was damals außerhalb der deutschen Staaten meist nicht zutraf. Universitäten und Staat gingen einen Kompromiß ein. Mittels der ab 1816 allmählich üblichen Habilitation bestimmten die Universitäten autonom, wer fachlich geeignet zum Privatdozenten war, aber Staatsbeamte bestimmten, wer tatsächlich eine Professur bekam, teilweise gegen die Vorschlagslisten der Fakultäten. Damit kontrollierten Fachvertreter und Staat gemeinsam, wer professoral war. Ein zweites Manko verband sich damit. Neben den ordentlichen Professoren (Ordinarien) – 1910 kaum ein Drittel aller Lehrkräfte – gab es eine stetig zunehmende Zahl von Dozenten ohne Mitspracherechte, die aber einen Gutteil der Lehre trugen, nämlich Extraordinarien und Privatdozenten. Extraordinarien erreichten bis 1918 ein gutes Drittel des Ordinarien-Gehalts. Wesentlicher Grund war die Finanzknappheit nach 1806. Dieses hierarchische System erlaubte mit geringen Kosten höhere Forschungsleistung zu motivieren, da nur damit Extraordinarien hoffen durften, in ein gutbesoldetes Ordinariat aufzurücken; für Privatdozenten auf Stellensuche galt das gleiche. Letztere mußten sogar ohne Staatssalär, ganz auf Hörer-Gelder angewiesen, lehren, was langjährige Alimentierung durch die Herkunftsfamilie voraussetzte und den Ausschluß von Frauen untermauerte. Max Weber bezeichnete 1917 die akademische Laufbahn als „eine Angelegenheit, die einfach Hasard ist“, da für Nachwuchskräfte keine Garantie bestand, eine feste universitäre Position zu erringen. Die individuellen Chancen hingen nicht nur 298 R. Steven Turner, The Prussian Universities and the Concept of Research, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5 (1980), S.  68–93. Überblick zur Entwicklung: Hartwin Spenkuch, Die Politik des Kultusministeriums gegenüber den Wissenschaften und den Hochschulen, in: Acta Borussica, N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Bd. 2,1, Berlin 2010, S. 135–287, bes. S. 140–157, S. 145 (Zitat 1821).

328  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft von Leistung, sondern auch von paßfähigem Habitus, wissenschaftlicher Schule, politischen wie ökonomischen Konjunkturen und Beziehungen ab. Dies ergab lange, teils bis heute, eine unselige Erbschaft von sozial enger Rekrutierungsbasis, Hierarchie und Stellenunsicherheit an deutschen Universitäten.299 Zwei Legenden sei widersprochen: Humboldt verfaßte die klassischen Formulierungen des Konzepts für Bildung und Wissenschaft und wurde später heroisiert. Das Konzept vertraten jedoch auch andere, z. B. der Theologe Friedrich Schleiermacher, und ähnliche Ideen oder Bestrebungen fanden sich andernorts ebenso, z. B. in Jena. Die Umsetzung leistete nicht Humboldt in seiner kurzen Amtszeit 1809/10, sondern seine Mitarbeiter, zuvörderst Karl vom Stein zum Altenstein und dessen Referent Johannes Schulze; Selbstorganisation und Eigenlogik in Unterrichtsstätten kamen hinzu. Von einer deutschland- oder gar europaweiten Übernahme des Humboldt’schen Modells ab 1810 kann nicht gesprochen werden. Es gehöre „bis heute zu den wirkungsmächtigsten deutschen Nationalmythen preußisch-protestantischer Prägung“, urteilte darum Dieter Langewiesche. Aber Humboldt formulierte prägnant ideell einflußreiche Denkbahnen.300 Forschungsorientierung, Aufstieg der Wissenschaften generell und Preußens Geltung in Deutschland standen in einem spezifischen Zusammenhang. Zwei frühe Belege seien zitiert. Der Militärreformer Gneisenau schrieb 1814 an Hardenberg, Preußen müsse in Deutschland als vorbildlich gelten „durch Liberalität der Grundsätze“ und ferner: „Unsere Universitäten müßten durch hohe Gehalte die eminentesten der deutschen Gelehrten an sich ziehen (…). Man würde bald Preußen als das Muster eines Staates ansehen, dreifach glänzend durch (…) Kriegsruhm, Verfassung und Gesetze, und Pflege von Künsten und Wissenschaften.“ Auf dieses Zitat rekurrierte Kultusminister Robert Bosse noch 1895. Und der bis 1840 amtierende Kultusminister Altenstein formulierte in einem Memorandum 1819 ähnlich: „Die höchste intellektuelle Bildung und ihr Hervortreten in Kunst und Gewerbe aller Art ist gleich unerläßlich. Der preußische Staat hat sich an die Spitze einer neuen Weltgestaltung gestellt. (…) Er kann nur vorwärts schreiten, dieses aber nur, indem er Vollendung, Gründlichkeit, Tiefe des Wissens zum Ziel seiner Bestrebungen macht.“ Dieser Ansatz wirkte im als Zen299 Tenorth/McClelland (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd.  1, S.  199 und 432  f. (Ordinarien stellen in Berlin 1860 nur ca. 1/3, 1910 ca. 1/5 aller Lehrenden). Martin Schmeiser, Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920, Stuttgart 1994, S. 17 (Zitat Weber). 300 Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, bes. Sylvia Paletschek, Verbreitete sich ein ‚Humboldtsches Modell’ an den deutschen Universitäten im 19.  Jahrhundert? in: ebd., S.  75–104. Dieter Langewiesche, Die ‚Humboldtsche Universität’ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten in ihren Rektoratsreden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91, S. 90 (Zitat).

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tralverwaltung 1817 gegründeten Kultusministerium stetig fort, bei vielen dort tätigen Beamten und bei Berufungen von Professoren. Für Johannes Schulze, den maßgeblichen Referenten für höhere Schulen und Universitäten (1820–58), bildeten wissenschaftlich originelle Publikationen ein Hauptkriterium für Berufungen. Schulze schrieb 1852: „Bei der Erledigung von ordentlichen Professuren muß der Tüchtigste in ganz Deutschland ausgewählt und kein Aufwand, um ihn zu gewinnen, geschont werden“. Diese Haltung war nicht per se einmalig in deutschen Landen, aber Schulze maß Preußen explizit die Aufgabe zu, durch Wissenschaftsförderung seine Geltung zu mehren, „das Haupt des gebildeten Deutschlands zu sein und mittels liebender Pflege der Wissenschaft das Werk der Reformation fortzusetzen“. Eine Mentalität, die heute als Kulturprotestantismus bezeichnet wird, bildete also vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg die weithin zugrundeliegende Geisteshaltung.301 Das wissenschaftlich Vielversprechende wurde somit nicht zuletzt durch das politische Interesse Preußens, als wissenschaftlicher Vorreiter in Deutschland zu gelten und so nationales Prestige zu erwerben, gefördert. Im Ergebnis der Interaktion von Bildungsstreben und Hochschätzung von Wissenschaft, von Konkurrenz zwischen Wissenschaftlern bzw. zwischen den Universitäten und nachfolgender Ausdifferenzierung der Disziplinen, von offenkundig verwertbarem Wissen und finanzieller Förderung wurde wissenschaftliche Forschung ein selbsttragender Prozeß. Der von R. Steven Turner auf den Terminus Wissenschaftsideologie zugespitzte Prozeß war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert. Im Bemühen um Exzellenz war Preußen nicht einzigartig. Man muß betonen, daß die Berliner Universität von enormen Standortvorteilen profitierte: (Reichs-) Hauptstadt, gefördertes Aushängeschild der Wissenschaftspolitik, später Teil des Clusters von außeruniversitären Forschungsinstituten, dabei keineswegs alleiniges Innovationszentrum. Auch Sachsen und Bayern, Baden und Württemberg förderten ihre acht Universitäten stark. Leipzig drohte in den 1840er und frühen 1870er Jahren sogar Berlin zu überholen und um 1900 gaben Mittelstaaten pro Einwohner mehr für Universitäten und Bildung aus als Preußen. Aber Preußen war der Großstaat mit zehn der 20 reichsdeutschen Universitäten – der Machtstaat bildete die notwendige, wenngleich keine hinreichende Vorbedingung des Kulturstaats, auch finanziell. Preußen berief Gelehrte zu guten Bedingungen, ja 301 Pertz/Delbrück, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. 4, S. 256 (Zitat). Acta Borussica, N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Bd. 2,2: Dokumente, Berlin 2010, S.  8 (Zitat Altenstein). Conrad Varrentrapp, Johannes Schulze und das höhere preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 551 (Tüchtigste) und S. 510 (nationales Motiv). Zu Morphologie und Personal des Kultusministeriums detailliert Acta Borussica N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, hg. von W. Neugebauer, Abt. 1: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 1,1: Die Behörde und ihr Personal. Darstellung, Berlin 2009.

330  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft nahm andernorts in Ungnade Geratene (wieder) auf: Einige der aus Hannover 1837 ausgewiesenen „Göttinger Sieben“, in den 1850er Jahren den in Leipzig abgesetzten Moritz Haupt und erneut Rudolf Virchow, in der „Neuen Ära“ um 1860 Rudolf Gneist, J. G. Droysen, Theodor Mommsen, Isaac August Dorner sowie aus München Heinrich v. Sybel. Selten mißlangen Berufungen, etwa bei dem Mathematiker Karl Friedrich Gauß (Göttingen) und dem Chemiker Justus von Liebig (Gießen /München), später bei Max Weber (1919 München, nicht Bonn, Göttingen oder Berlin).302 Auf Vorgängern wie Johannes Schulze, Preußens finanzielle Kraft, die Machtfülle der Bürokratie in der konstitutionellen Monarchie und die Wissenschaftsfreundlichkeit der Zeit baute der Niederrheiner Friedrich Althoff auf. Als Referent für die Universitäten ab 1882 und Direktor der Unterrichtsabteilung im Kultusministerium 1897–1907 verstand er sich nicht als formaler Verwalter, sondern als umtriebig-unermüdlicher Mitgestalter; Thomas Nipperdey kennzeichnete ihn als „paternalistisch-wohlwollend, bürokratisch-autoritär, aufgeklärt-autokratisch“. Offen für an ihn herangetragene Ideen setzte er an einzelnen Universitäten Schwerpunkte, beispielsweise mit Felix Klein für Mathematik/Physik in Göttingen, und förderte medizinische Institute, speziell für die heute weltbekannten Infektiologen Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich. Althoff begründete Hochschulkonferenzen als Koordinierungsgremium der deutschen Staaten, unterstützte den Professoren-Austausch mit den USA im Sinne auswärtiger Kulturpolitik, begleitete das Streben der Technischen Hochschulen nach Gleichberechtigung und orientierte sich durch lokale Vertrauensmänner diskret über die Kandidaten für zahlreiche Lehrstuhlberufungen. Althoff betrieb honorige national-liberale, keineswegs kulturkämpferische Hochschulpolitik, blieb freilich auch im Rahmen des etablierten politischen und universitären Systems. Keine durchgreifende Änderung erfuhren nämlich die kritischen Punkte der kaiserzeitlichen Universitäten: Die soziale Exklusivität von Hochschulbildung und die Hierarchien der Ordinarien-Universität sowie der Ausschluß politisch Linksliberaler und natürlich aller Sozialdemokraten. Hierfür stehen Leo Arons 1898/99, Robert Michels 1906/07, Hugo Preuß und Ignaz Jastrow bis zum Lehramt an der Berliner Handelshochschule 1906, Ferdinand Tönnies bis zum Kieler Extraordinariat 1909; die akademischen Ressentiments gegenüber vermeintlich päpstlich gebundenen Katholiken; die Diskriminierung von Juden durch viele Fakultäten oder selbst Konvertierten beim Eintritt in Ordinariate (Georg Simmel) und die Nichtzulassung von Frauen an die Universi302 Turner, Prussian Universities, S.  78. Sylvia Paletschek, Eine deutsche Universität oder Provinz versus Metropole? Berlin, Tübingen und Freiburg vor 1914, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1900, München 2010, S.  213–242, 235  ff. (Vorteile Berlins). Spenkuch, Politik des Kultusministeriums, S. 170 (Hochschulausgaben).

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täten (als Studierende bis 1908, im Lehrkörper bis 1919). Etablierte Strukturen und akzeptierte Praktiken hegten so selbst den „Bismarck des Hochschulwesens“ ein, wenngleich Althoff manches bewegte und einzelnen Glaubensjuden wie dem Mediävisten Harry Bresslau auf dotierte Stellen verhalf, freilich angesichts des verbreiteten akademischen Antisemitismus den Ruf des Philosemiten scheuen mußte.303 Unter Althoffs Nachfolgern, zuvörderst Friedrich Schmidt-Ott, gelang 1911 im Verein mit einflußreichen Professoren wie Adolf von Harnack und Emil Fischer die Gründung der bis heute bedeutendsten außeruniversitären Forschungsinstitution, der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. In ihr ging es um industrienahe natur- und technikwissenschaftliche Großforschung, die damit aus den Universitäten heraus verlagert wurde. Diese Abweichung von Humboldts Ansatz befestigte zudem die wissenschaftliche Dominanz Preußens, denn alle bis 1930 eröffneten Institute Institute waren dort verortet, die meisten im Berliner Raum. Zur Finanzierung versandte die Berliner und regionale Bürokratie um 1910 Bittbriefe an Kaufleute und Industrielle, die mit der Aussicht auf staatliche Anerkennung, nicht zuletzt in Form von Titeln und Orden, gelockt wurden. Trotz 12,6  Mio Mark Spenden bis 1914 mußten, nach der Inflation dann fast ausschließlich, auch Staatsgelder aufgewendet werden. An Kaiser-WilhelmInstituten Forschende erhielten bis zu Otto Hahn (1944) mehrere Nobelpreise in Physik, Chemie und Medizin. Auch Albert Einstein, Nobelpreisträger von 1921, besaß seit 1914 eine außeruniversitäre Stelle, nämlich eine teils spendenfinanzierte Stelle an der Akademie der Wissenschaften als sog. Akademieprofessor, aber lehrte wie viele Direktoren von Kaiser-Wilhelm-Instituten nebenamtlich an der Berliner Universität.304 303 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, München 1990, S. 573 (Zitat). Zum „System Althoff “ abwägend Spenkuch, Politik des Kultusministeriums, S.  172–176. Zum Ausschluß von Sozialliberalen von Ordinariaten für Geschichte oder für öffentliches Recht vgl. Christian Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg, Bd. 1: 1871–1918, Berlin 2012, S. 187–193 und Olaf Klose u. a. (Hg.), Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen. Briefwechsel 1876–1908, Kiel 1961, S.  409. Zum akademischen Antisemitismus vgl. Andreas D. Ebert, Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten (1870–1924). Eine quantitative Untersuchung mit biographischen Skizzen, Frankfurt/M. 2007 und Pawliczek, Aleksandra, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871–1933, Stuttgart 2011. Max Weber, Gesamtausgabe, Bd. II,5: Briefe 1906–1908, S. 84 ff., 185 ff., 221 ff. (R. Michels), S. 467–469, 643 f. (Franz Eulenburg, Simmel). Zum Frauenstudium: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt 1996, S. 299 ff. 304 Die zu Althoff wie zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft umfängliche Literatur sowie die Kritikpunkte der wilhelminischen Hochschulpolitik faßt zusammen Spenkuch, Politik des Kultusministeriums, S. 172–176, 200–204, 232–238. Zentrale Titel sind: Bernhard vom Brocke, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff “ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991

332  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Überhaupt setzten bürgerschaftliche und kommunale Initiativen wichtige Kontrapunkte zur staatlichen Hochschulpolitik und ermöglichten in monarchischer wie republikanischer Zeit einige Glanzstücke überhaupt erst. Die Reihe der maßgeblich durch Stiftungsgelder getragenen Institute reicht hier von der Technischen Hochschule Aachen (1870), über die Handelshochschulen (Köln 1901, Frankfurt 1902, Berlin 1906) mit Schwerpunkten in den Wirtschaftswissenschaften inklusive der neuen Betriebswirtschaftslehre, bis zur daran anknüpfenden Stiftungsuniversität Frankfurt/Main (1914) und der anfänglich rein kommunal finanzierten Universität Köln (1919). Über 14 Mio. M Spenden, zuvörderst von jüdisch(stämmig)en Bürgern ermöglichten die Universität Frankfurt, wo jüdische Professoren nicht diskriminiert und neue Fächer wie Soziologie (Franz Oppenheimer 1919) oder Arbeitsrecht (Hugo Sinzheimer 1920) etabliert wurden. Die Kölner Universität, 1919 maßgeblich von Oberbürgermeister Adenauer mit dem geschickten Argument, die Rheinprovinz brauche ein nationales Bollwerk gegen französische Ambitionen durchgesetzt, besaß gleichfalls einen wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkt und ermöglichte sowohl katholischen Studenten ein heimatnahes Studium wie katholischen Gelehrten neue Professorenstellen; Köln beheimatete rasch die fünftgrößte deutsche Universität. Die Stiftungen indizieren ein auch im internationalen Vergleich respektables Ausmaß an Bürger-Aktivität. Im Hochschul- und Schulbereich, in den sozialen Einrichtungen und den Kulturinstituten der (Groß-)Städte gab es bedeutende Monumente der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Untersucht man die jeweilige Genese freilich detailliert und bezieht auch nicht realisierte Projekte ein, kommen häufig auch staatliche Restriktionen in den Blick. Gegenüber den systemischen Grundbedingungen darf die Rolle Kaiser Wilhelms II. für Wissenschaft und Technik nicht überschätzt werden. Sicherlich hat er bei der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mitgewirkt, speziell mittels Prämiierung der nötigen Spenden durch Orden und Titel. Aber das Konzept betrieben Friedrich Schmidt-Ott und Adolf v. Harnack, so wie schon Hermann v. Helmholtz und Werner v. Siemens bis 1887 die Physikalisch-Technische Reichsanstalt maßgeblich befördert hatten. Den Schlußpunkt setzte Wilhelm II. auch bei der Zuerkennung der Gleichberechtigung für die Technischen Hochschulen 1899, dem jedoch wiederum deren langjährige Bemühungen und die Arbeit von Kultusbeamten vorangingen. Trotz persönlichen Interesses für moderne Technik, primär die (militärisch nutzbaren) Schiff- und Kanalbau sowie Funkverkehr, besaß der Kaiser nur punktuelles technisches Wissen. Nicht er setzte die technikpolitische Agenda, sondern baute bei konkreten Entscheidungen stets auf die Vorund Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wihelm-/Max-PlanckGesellschaft, Stuttgart 1990. Zum wichtigsten Mitarbeiter Althoffs und Präsidenten der KWG 1920–34 vgl. Bernhard vom Brocke, Friedrich Schmidt-Ott. Wissenschaft als Machtersatz, in: Dahlemer Archivgespräche, Bd. 12, Berlin 2006, S. 153–188.

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arbeit von Fachleuten wie Interessenten auf. Im Zeitalter des gesellschaftlich wie organisatorisch nötigen Großbetriebs in Wissenschaft und Technik konnte kein Einzelner mehr, selbst kein sprunghafter Monarch, die von technischen oder finanziellen Sachlogiken getriebenen Strukturentwicklungen in Wissenschaft und Technik diskretionär bestimmen.305 Nicht der pazifistische Kosmopolit Einstein, aber viele andere an preußische Universitäten berufene Gelehrte und in Preußen tätige Kulturschaffende ließen sich ein Jahrhundert lang für borussische Werbepropaganda in Dienst nehmen und betätigten sich als Herolde der Kulturbedeutung Preußens. Ein frühes Beispiel für borussische Kulturstaats-Stilisierung stellt der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr dar. In einer Schrift, die 1814 für Sachsens Angliederung an Preußen werben sollte, schrieb er, Bildung und Wissenschaft seien durch die „eitle Königssucht“ der Wettiner vernachlässigt worden. Preußen sei „das gemeinsame Vaterland eines jeden Deutschen, der sich in Wissenschaften, in den Waffen, in der Verwaltung auszeichnet“ und postulierte, daß Preußen „immer froh gewesen ist, sich mit den Blüten Deutschlands zu schmücken“. „Wissenschaften und Gelehrsamkeit, der Sachsen eigenthümlicher Ruhm“ fänden in Preußen wahre Heimstatt, denn der „König, welcher unter dem höchsten Drang der Armuth des Staats die Universität Berlin gründete (…), dieser wird die ehrwürdigen und herrlichen sächsischen Lehranstalten mit ganz anderem Geiste hegen.“ Nach 1850 setzte sich in den Werken von Johann Gustav Droysen und bei anderen, den Mißerfolg 1848/49 verarbeitenden national gesinnten Liberalen die weitgehende Akzeptanz des Machtstaats durch. Preußen wurde geschichtlich rückprojiziert wie aktuell politisch die Einigungs- und Kulturmission für Deutschland zugeschrieben. Dem Konstrukt lag der Kult von bildungsorientiertem Protestantismus und großen historischen Persönlichkeiten zugrunde. Nach 1871 schließlich gewann im Bildungsbürgertum weithin die machtstaatlich-militärische Komponente gegenüber der bürgergesellschaftlich-emanzipatorischen die Oberhand.

305  Zu KWG und Hochschulen näher Spenkuch, Politik des Kultusministeriums, S.  200–231, zu weiteren Stiftungen Hartwin Spenkuch, Bürgersinn und Staats­ hoheit. Stiftungen und Schenkungen für wissenschaftliche Zwecke (1890–1918), in: W.  Neugebauer/B. Holtz (Hg.), Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 241–265. Thomas Adam, Zivilgesellschaft oder starker Staat? Das Stiftungswesen in Deutschland (1815–1989), Frankfurt/M. 2018, S. 56 ff. (Fokus auf Sachsen, teils zu optimistisch, nicht ganz trennscharf). Wolfgang König, Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn 2007, S. 264–274 (Wilhelm II. war keine zentrale technikpolitische Instanz, sondern wirkte sprunghaft-punktuell und verstärkte existente Zeittendenzen).

334  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Geradezu euphorisch nannte der Physiologe Emil Dubois-Reymond 1870 die Universität Berlin das „geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern, dem Palais des Königs gegenüber einquartiert“, und der Universitätshistoriker Max Lenz formulierte 1918: „Im Gleichschritt und in Wechselwirkung sind staatliche Macht und wissenschaftliche Freiheit in dem Jahrhundert, das dem deutschen Geiste gehörte, emporgekommen“ und ferner, „niemals ist die Freiheit der Lehre und Forschung unter den Hohenzollern unbedingter gewesen als heute“. Adolph Wagner, nach Berlin berufener Nationalökonom, schrieb 1913 mit Bezug auf Preußen: „Wir haben allerdings keinen Goethe und keinen Schiller und wohl auch sonst nicht so viele künstlerische Talente wie andere deutsche Stämme, aber wir wetteifern mit ihnen doch sonst auf diesen Gebieten, auf allen Gebieten der Geistes- und Naturwissenschaften; und wir überragen sie auf den Gebieten und in solchen Leistungen, welche für die staatliche und die politische Seite und Stärke und Kraft eines Volkes eben doch die entscheidenden sind.“ Der Germanist Gustav Roethe ergänzte, der auf Kargheit beruhende preußische Geist sei „der Wissenschaft bis auf den heutigen Tag vielleicht günstiger gewesen als der Kunst“.306 Höhepunkt der Identifikation von Wissenschaftlern und Künstlern mit dem preußisch-deutschen Reich war die Anfang Oktober 1914 publizierte Erklärung „An die Kulturwelt“. 93 bekannte Persönlichkeiten meist aus Preußen, darunter (spätere) Nobelpreisträger wie Emil v. Behring, Paul Ehrlich, Emil Fischer, Fritz Haber, Walter Nernst und Max Planck, aus dem Kunstbereich Peter Behrens, Gerhart Hauptmann, Max Liebermann und Max Reinhardt sowie namhafte Professoren von Gustav Schmoller über Adolf von Harnack bis zu Lujo Brentano verwahrten sich darin gegen den Vorwurf deutscher Kriegsgreuel in Belgien, zumal sich die Alliierten nicht gescheut hätten, „Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen“. Der vom Westen proklamierte Kampf gegen preußischen Militarismus sei zugleich Kampf gegen deutsche Kultur: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt.“ Wenig später unterzeichneten gut 3.000 Dozenten eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reichs“, worin der deutsche Militarismus gar als Vorkämpfer „für die ganze Kultur Europas“ gepriesen wurde. Otto Hintze schrieb in „Unser Militarismus. Ein Wort an Amerika“, monarchisches System und militärische Stärke 306 Die Zitate bei: Barthold Georg Niebuhr, Preußens Recht gegen den sächsischen Hof, Berlin 1814, S.  68, 79, 82  f. Tenorth/McClelland (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd.  1, S.  427. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2,2, Halle/S. 1918, S. 353, 383. Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt, in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103–160, 146–160. Adolph Wagner, Geleitwort, in: Preußen. Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Zukunft, Berlin 1913, S. 2 f. Gustav Roethe, Preußen und Deutschlands Geistesleben, in: Ebd., S. 82.

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seien wegen der äußeren Bedrohung notwendig; der „Militarismus liege „uns allen im Blute“ weil „auf ihm die Sicherheit und Ehre unseres Vaterlandes beruht“. Er schloß, „unsere militärische Verfassung repräsentiert einen höheren Typ von Ethik und Zivilisation als diejenige Groß-Britanniens“. Im weiteren Verlauf verbanden sich disparate ideologische Versatzstücke zu den sog. „Ideen von 1914“, nämlich autoritärer Staat, deutsche Kultur und konfliktfreie Volksgemeinschaft, als Antithese zu den westeuropäischen „Ideen von 1789“, nämlich vulgäre Massendemokratie, oberflächliche Zivilisation und individualisierte Gesellschaft. Gerade Bildungsbürger erhofften sich damit Geltung und Deutungsmacht jenseits von kapitalistischer Marktdynamik und als bedrohlich perzipierten Emanzipationsbewegungen in Unterschichten. Ein bekanntes Plakat mit der Titelzeile „Sind wir Barbaren?“ verglich die deutschen Ausgaben für Sozialversicherung und Schulwesen, die Analphabetenrate und die Bücherproduktion, die Zahl der Nobelpreise und der Patente vorteilhaft mit den schlechteren Daten für England bzw. Frankreich – Dokument des einsetzenden heftigen Kulturkrieges.307 Noch am 1.8.1914 hatten britische Gelehrte in der „Times“ bekannt: „We regard Germany as a nation leading the way in the Arts and Sciences“, weshalb ein Krieg mit einer Nation „so near akin to our own, and with whom we have so much in common“ eine „sin against civilisation“ wäre. Sechs Wochen später (18.9.1914) veröffentlichten 40 britische Intellektuelle in demselben Leitmedium eine Rechtfertigung des Kriegseintritts Englands. Klar prangerten sie die Zurückweisung diplomatischer Vermittlung durch Berlin, den Überfall auf das neutrale Belgien und die Gefahr für Frankreichs Zivilisation und Freiheit an. Sie resümierten: „Many of us regard German culture with the highest respect and gratitude; but we cannot admit that any nation has the right by brute force to impose its culture upon other nations, nor that the iron military bureaucracy of Prussia represents a higher form of human society than the free constitutions of Western Europe.” Die „Herrschaft von Blut und Eisen“ auf dem ganzen Kontinent lehne man ab. Ähnlich äußerte sich der mit einer deutschen Generalstochter verheiratete US-Soziologe Albion W. Small gegenüber Georg Simmel. Bezüglich des Überfalls auf Belgien glaubten Amerikaner nicht, daß „the ‚interests of the state’ justify the making of war by a stronger nation upon a weaker. Americans do not want 307 Jürgen von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996, S. 144–147, Zit. S. 145, S. 58 (Erklärung 16.10.1914). Otto Hintze, Unser Militarismus. Ein Wort an Amerika, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9 (15.11.1914), Sp. 208–220, Zit. Sp. 215, 220. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 14–21 (Ideen von 1914). Rainer Rother (Hg.), Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges (Ausstellungskatalog), Berlin 1994, S. 223 (Plakat).

336  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft any nation of Europe to gain a foot of the territory of any other nation” ohne Zustimmung der Okkupierten. Man lehne derartigen Staats- und Militärkult in den USA ab. Simmel, obgleich nicht unkritisch, äußerte sich brieflich gänzlich patriotisch: Einzig „die bitterste Notwendigkeit, nur die äußerste Bedrohung unserer gesammten Existenz“ und die „jetzt allmählig aufgedeckte Verschwörung unserer Gegner“ habe Deutschland in den Krieg gezwungen. Nur „in der äussersten Notwehr“ habe man „ein paar alte Bauwerke etwas beschädigt“, nachdem Franzosen und Engländer „den alten Kulturboden Deutschlands“, das „Land der tiefsten u. ausgebautesten Wissenschaften“, „den russischen Horden preisgeben wollten“.308 Spiegelbildliche Einschätzungen fanden sich in Rußland nach etwa 1890. Die deutschen Klassiker Goethe, Schiller oder Kant hatte man dort traditionell verehrt und russische Gelehrte bewunderten lange Verfassungsstaat, Hochschulautonomie und Leistungen deutscher Wissenschaftler. Seit den 1890er Jahren und deutlicher nach 1905 mischten sich zunehmend kritische Töne in die Berichte der linksliberalen bzw. sozialistischen russischen Presse. Preußische Großmannssucht und Junker, militärstaatliche Fehlentwicklung und deutsche Aufrüstung, Staatsfixierung und bürgerliche Militärbegeisterung wurden abgelehnt, der Handelsvertrag von 1904 als geradezu erpresserisch gegenüber Rußland beurteilt. Der Preuße habe seit Bismarck „mit eiserner Hand“ den „friedlichen deutschen Michel“ in den Griff bekommen, lautete der Tenor der Kritik. Süddeutschland galt dagegen als politisch freier und menschlich angenehmer. Gelehrte wie Wilhelm Wundt, Dichter wie Gerhart Hauptmann und speziell der Mediziner Paul Ehrlich wurden weiter als Koryphäen geschätzt, aber Russen unterschieden zwischen der klassischen deutschen Kultur und dem aktuellen Reich; kulturell betrachtete man in Rußland um 1900 Frankreich als führend in Europa. Im Aufruf der 93 provozierte der Satz über „von russischen Horden hingeschlachtete Frauen und Kinder“ den Gegenvorwurf, Deutsche seien Barbaren. Die Identifikation deutscher Gelehrter mit dem Militär entlarvte in russischen Augen nun endgültig die deutsche Gelehrsamkeit als Kasernengeist, der sich alles unterzuordnen suche und den Soldaten über den Menschen stelle. 1915/16 wurden auf Druck der Regierung allen deutschen Gelehrten ihre bisherigen Ehrenmitgliedschaften in russischen Akademien und Universitäten entzogen.309 308 Peter Alter, Bewunderung und Ablehnung. Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford, in: L. Jordan/B. Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995, S.  296–311, S.  299 (Times). www.europa.clio-online. de/ 2008/Article=316 (Zit. britische Intellektuelle). Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd.  23: Briefe 1912–1918, Frankfurt/M. 2008, S.  444–451 (Zit. Small S.  450) und S. 398–400 (Zitat Simmel S. 399 f.). 309 Andrea von Knoop, Der verpreußte Michel – die Deutschlandkritik in der nichtmarxistischen sozialistischen Zeitschrift „Russkoe bogatstvo (1880–1914), in: Dagmar Herrmann (Hg.), Deutsche und Deutschland in russischer Sicht, Bd.  3, München 2006, S. 149–196, Zitat S. 175. Margarete Busch, Wachsende Aggressivität gegen das

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In analoger Weise bestand in Frankreich in Fortsetzung von Madame de Staels Metapher der Janusköpfigkeit Preußens spätestens seit 1870 (Elme-Marie Caro und Ernest Renan) das Bild von zwei Deutschländern, nämlich des guten, friedlichen, fortschrittlichen von Luther, Kant, Goethe und des bösen neuen, kriegerischen, nicht mehr universalistischen von Preußen unter Bismarck gegründeten Reiches, das Elsaß-Lothringen annektierte und Frankreichs Suprematie in Europa übernahm, ohne durch humanistische Werte und fortschrittliche Ziele dazu berechtigt zu sein. Das gute Deutschland lokalisierte man im Süden, an Rhein, Neckar und Donau. Aber seit Bismarck sei nicht die Eindeutschung Preußens, sondern Borussifizierung dominant gewesen, so daß das Reich nur noch durch Militär-Kult und ethikfreie technische Leistungen brillieren wolle. Als kurzzeitig ab 1925 und definitiv nach 1950 das in französischen Augen gute, westliche, zivile Deutschland den Ton angab, war das die Basis für Annäherung und dauerhafte, vielgestaltige deutsch-französische Kooperation.310 Im Ersten Weltkrieg kam es auch in den USA zum einschneidenden antideutschen Umschwung. Im Jahrhundert bis 1914 hatten je 9.000–10.000 gebürtige US-Amerikaner und Briten deutsche Universitäten besucht, neben Berlin, Leipzig und Heidelberg auch Göttingen, Halle und Bonn. 1912 stammten erstaunliche 4.400 von 13.000 Studierenden an Technischen Hochschulen aus dem Ausland, gutenteils Juden aus Zaren- und Habsburgerreich. Bis in die 1890er Jahre galten die Hochschulen im Reich als weltweit führend und sowohl die Formierung von Forschungsuniversitäten in den USA ab 1870 wie die Gründung des Imperial College of Science and Technology in London 1907 orientierten sich an deutschen Universitäten bzw. Technischen Hochschulen, freilich im Sinne von modifizierter Adaption. Aufgrund eigenen Hochschulausbaus gingen die Zahlen angloamerikanischer Studenten nach 1900 jedoch stark zurück. Dies korrespondierte mit einer sukzessive kritischeren Sicht auf deutsche Bildung und Kultur. Drei Motivbündel lassen sich benennen: Die politischen Kontexte, die Formen und Gehalte der Bildungsidee sowie ein latenter Gestus deutscher Überheblichkeit. Lebensweltlich stießen Autoritätsdenken, Militärfreudigkeit und das undemokratische politische System gerade Preußens sowie die zunehmende weltpolitische Konfrontation ab. Bei den Bildungsinstitutionen mißfielen elitäres Wilhelminische Reich. Russische Pressestimmen von der Jahrhundertwende bis 1914, in: Ebd., S. 239–257. Trude Maurer, Russische Antworten auf den deutschen Aufruf „An die Kulturwelt“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte H. 1 (2004), S. 221–247. 310 Beate Gödde-Baumanns, L’idée des deux Allemagnes dans l’historiographie francaise des années 1871–1914, in: Francia 12 (1984), S.  609–619 und Dies., Deutsche Geschichte in französischer Sicht. Die französische Historiographie von 1871 bis 1918 über die Geschichte Deutschlands und der deutsch-französischen Beziehungen in der Neuzeit, Wiesbaden 1971. Weitere Belege bei: Gerhard Ahlbrecht, Preußenbäume und Bagdadbahn. Deutschland im Blick der französischen Geodisziplinen (1821– 2004), Passau 2006, S. 446–450.

338  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Gepräge in Gymnasien, die Hierarchie der Hochschuldozenten und der weitgehende Ausschluß von Frauen. Parallel wurden die Gehalte als zu autoritätsfixiert und zu wenig liberal-individualistisch wahrgenommen, wenngleich der Rang der Wissenschaften in fachwissenschaftlich-methodischer Hinsicht anerkannt blieb. Abstoßend wirkte zudem ein gewisser Gestus der Überheblichkeit gegenüber anderen Wissenschaftskulturen, der gerade US-Amerikanern nicht mehr gerechtfertigt erschien. Im Rahmen des sog. Professoren-Austausches zwischen Berlin und US-Universitäten trat dies 1905–14 verschiedentlich zutage. Je mehr selbst die Austauschprofessoren normativ von unvergleichlicher deutscher Kultur aufgrund eines überlegenen politischen Systems redeten, desto deutlicher erfüllte Ambivalenz die Haltung in den USA. Den Umschlag von Verständnis in Abscheu bewirkten freilich erst die Rechtfertigung der Kriegspolitik durch preußischdeutsche Gelehrte ohne Empathie für deren Opfer und die propagandistische Steilvorlage deutscher Kriegsgreuel in Belgien.311 Schon bis Ende 1914 verlor das Reich den mit Preußen-Apologie geführten Kulturkrieg in fast allen neutralen Ländern. Die von den Alliierten propagierten drei Kriegsziele politische Demokratisierung, nationale Selbstbestimmung und neue Friedensordnung erwiesen sich als zugkräftiger denn Machtstaatsgedanke, konstitutionelles System und Kulturhochmut des Kaiserreichs. Eine Broschüre des Schweizer Historikers Hermann Bächtold, der Preußen-Deutschlands Anderssein mit Geschichte, Lage in Mitteleuropa und legitimen Interessen rechtfertigte, bildete 1916 eine Ausnahme; deutsche Wirtschaftspressionen und Niederlagen ließen 1917/18 auch die Schweiz für den Westen und Wilsons Völkerbundidee optieren.312 Ab 1919 mußte die internationale Isolierung, in die sich deutsche Wissenschaftler und Bildungsbürger gutenteils selbst gebracht hatten, mühsam überwunden 311 Jörg Nagler, From Culture to Kultur. Changing American Perceptions of Imperial ­Germany, in: D. Barclay/E. Glaser-Schmidt (Hg.), Transatlantic Images and Perspectives. Germany and America since 1776, Cambridge 1997, S.  131–154, S.  143 (9.000  Studierende) und Alter, Bewunderung und Ablehnung, S.  300  ff. Konrad Jarausch, The Universities: An American View, in: J. R. Dukes/J. Remak (Hg.), Another Germany: A Reconsideration of the Imperial Era, Boulder 1988, S.  181–206, 194 ff. Ragnild Fiebig-von Hase, Die politische Funktionalisierung der Kultur: Der sogenannte „deutsch-amerikanische“ Professorenaustausch von 1905–1914, in: Dies./J. Heideking (Hg.), Zwei Wege in die Moderne, S. 45–88, 70 ff. Philipp Löser/ Christoph Strupp (Hg.), Universität der Gelehrten – Universität der Experten. Adaptionen deutscher Wissenschaft in den USA des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2005. 312 Umfassend zum Kulturkrieg: Trommler, Kulturmacht ohne Kompass, S.  185–287. Klaus-Jürgen Bremm, Propaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2013, S. 21 ff. Hermann Bächtold, Zum Urteil über den preußisch-deutschen Staat. Eine politisch-geographische Studie, Basel 1916, S. 11, 23 ff., 30–32. Florian Weber, Die amerikanische Verheißung: Schweizer Außenpolitik im Wirtschaftskrieg 1917/18, Zürich 2016, S. 195 ff.

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werden. Den Naturwissenschaften gelang dies in Verbindung mit dem republikanischen Kultusministerium schneller als den Kulturwissenschaften. Drei Problemfelder im Freistaat Preußen sind hervorzuheben. Erstens bedeuteten die Anfangsjahre für einen Gutteil der bürgerlichen Bildungsschichten eine dreifache Enteignungserfahrung: politisch durch die Umwälzung 1918/19, ökonomisch mit der Inflation bis 1923, kulturell mit Bildungsexpansion, Veränderungen im Bildungskanon und dem Verlust von Deutungshoheit. Die schwierigen Nachkriegsbedingungen bis 1923 und die Kürzungen 1930/32 betrafen sowohl die apparative bzw. bibliothekarische Ausstattung der Hochschulen als auch den wissenschaftlichen Nachwuchs, der jetzt nicht mehr aufgrund Familienvermögen materiell sorglos forschen konnte, als auch die Studierenden in Inflations- und Wirtschaftskrisenzeit. Zeitweise erlittene Gehaltskürzungen und starke politische Ressentiments gegen die (sozial-) demokratische Republik verbanden sich bei vielen Bildungsbürgern und Wissenschaftlern zu einem dauerhaften, ritualisierten Krisendiskurs und der übertriebenen Formel, man sei von der „Weltgeltung“ zur „Not“ deutscher Wissenschaft und Bildung herabgestiegen. Denn trotz stetiger Finanzknappheit finanzierte Preußen seine (unter 23 deutschen) nun zwölf Universitäten von Königsberg und Breslau bis Bonn und Marburg auskömmlich, ja übernahm die Finanzierung der Stiftungsuniversität Frankfurt und leistete Zuschüsse zur Universität Köln. Eine finanzielle Schwerpunktsetzung beim Apparatekauf für Natur- und Technikwissenschaften sorgte dafür, daß diese ihren internationalen Rang weithin gut behaupten konnten. Die Professorenund Assistenten-Besoldungen stiegen in Preußen nach der Inflationzeit, zumal ab 1927, stärker an als Löhne und Beamtengehälter generell.313 Zweitens besaß Preußens Ressort, 1918 programmatisch in Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung umbenannt, bis 1932/33 nach Geschäftsbereich, Wirkungsfeldern und Etat bei weitem den ersten Platz unter den Kulturbehörden reichsweit. Als Staatssekretär bzw. Minister verfolgte Carl Heinrich Becker ein dreifaches Programm: Kulturpolitik zur Festigung von Republik und „Volkseinheit“, Sicherung von Bildung und Wissenschaft als ökonomisch verwertbare Ressourcen sowie Reformen zur Modernisierung dieser Bereiche. Er gilt zu Recht als bedeutendster Minister bzw. Organisator seit Altenstein und Friedrich Althoff. Wie nach 1807 sollte Preußen in Bildungs- und Wissenschafts313 Gabriele Metzler, Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen 1900–1930, in: M. Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20.  Jahrhundert, Göttingen 2010, S.  55–82. Rüdiger vom Bruch, Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin: Krisen und Grenzüber-schreitungen – Geisteswissenschaften in der Weimarer Republik, Manuskript 15.2.2011, S. 3 f., S. 8. Zur Wissenschaftspolitik des Freistaats ausführlich Hartwin Spenkuch, Wissenschaftspolitik in der Weimarer Republik. Dokumente zur Hochschulentwicklung im Freistaat Preußen und zu ausgewählten Professorenberufungen in sechs Disziplinen (1918 bis 1933), Berlin 2016, S. 8–188 (Einleitung).

340  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft politik glänzen und materielle Verluste wie geistige Verwerfungen der Kriegszeit hinter sich lassen. Becker und seine Mitarbeiter gingen Reformen auf mehreren Feldern an. Im Bildungswesen wurde die Volksschullehrerausbildung ab 1925 an neue Pädagogische Akademien verlagert, da die Universitäten sich weiter dagegen sperrten; die Klassenstärken konnten deutlich verringert, die Grundschule gestärkt, die fünfjährige Mittelschule ausgebaut und Volkshochschulen gefördert werden. Im Hochschulbereich sollte eine Organisationsreform die Hierarchie der Ordinarien-Universität abbauen; die Studentenschaft wurde als Körperschaft zur Mitwirkung in Hochschulgremien ermächtigt und sollte so an die Republik herangeführt werden; die Disziplinen Pädagogik als ethisches Grundlagenfach und Soziologie (1932: 55 Dozenten) als „Synthese-Wissenschaft“ zur modernen Weltdeutung erfuhren besondere Förderung. Die staatlich mitfinanzierte Deutsche Hochschule für Politik in Berlin lehrte Politikwissenschaft. Vieles davon bildete Anknüpfungspunkte für die junge Bundesrepublik: In der Pädagogischen Akademie Bonn tagte ab 1949 der neugewählte Bundestag, die gemeinsame Grundschule wurde zur Norm, Allgemeine Studentenausschüsse vertraten Interessen der Lernenden, Pädagogik und Politologie erfuhren merklich Aufwertung. Ähnlich wie Jahrzehnte später in Westdeutschland stiegen die Studierendenzahlen in Preußen bis 1931 auf 60.000 an Universitäten und 8.000 an Technischen Hochschulen an, fast eine Verdoppelung gegenüber 1914; darunter befanden sich nun ca. 15 % Frauen statt rd. 3 % 1914. Schmale Stipendien für Unbemittelte gab es häufiger als früher, an Staatszuschüsse für alle wie beim bundesdeutschen Bafög ab 1971 war aber (finanziell) nicht zu denken. 1920 initiierten der Kultusminister von 1917/18, Friedrich Schmidt-Ott, Adolf von Harnack und Fritz Haber die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft (heute: Deutsche Forschungsmeinschaft) mit Sitz in Berlin; sie erhielt bis 1933 rd. 62 Mio. Mark primär aus Reichsmitteln. Die außeruniversitäre Forschung stärkten neue Anstalten, speziell 24  Kaiser-Wilhelm-Institute. In Kooperation mit dem Reich, das jetzt fast ein Viertel der Kosten für wissenschaftliche Anstalten trug, wirkte Preußen maßgeblich mit bei der Etablierung neuer Institutionen von den Studentenwerken und der Studienstiftung des deutschen Volkes bis zum Akademischen Austauschdienst (heute: DAAD). Erneute internationale Geltung spiegelte sich darin, daß 1932 ca. 800 US-Amerikaner an deutschen Universitäten studierten, und namhafte Gelehrte wie Einstein oder Erwin Schrödinger Rufe in die USA erhielten. Angesichts all dessen nehmen Historiker anstelle des früheren Paradigmas von der Dauerkrise und der „Not deutscher Wissenschaft“ nun die ansehnlichen Leistungen in den Blick: „Viele der uns heute geläufigen Gremien und Institutionen entstammen dieser Zeit“, resümiert Jürgen John zu Recht. Auch im Bildungs-und Wissenschaftsbereich verdienen es Republik und Freistaat, nicht bloß als Vorstufe zum Nationalsozialismus betrachtet zu werden, sondern als dynamische Epoche, in Problemlagen und Lösungsversuchen der frühen Bundesrepublik nicht

10. Das wahre Mirakel Preußens: Bildung und Wissenschaft ab 1810  

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unähnlich. Personelle Bindeglieder finden sich unter Ministerialbeamten, die nach 1945 wichtige Positionen einnahmen: Minister Adolf Grimme als niedersächsischer Kultusminister und Rundfunkintendant, Ministerialdirektor Werner Richter, wichtigster Mitarbeiter C. H. Beckers, als erster DAAD-Präsident, Ministerialrat Erich Wende als Direktor der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums, Beckers Referent Otto Benecke in der Max-Planck-Gesellschaft, Hans Peters als Mitautor der Berliner Verfassung von 1949, Rektor der Universität Köln und Präsident der Görres-Gesellschaft, Kurt Zierold als Generalsekretär der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Funktionsträger des Freistaates Preußen wirkten beim Aufbau des westdeutschen Kulturbereichs wesentlich mit.314 Drittens gaben auf dem Feld der Berufungspolitik rechtliche Strukturen und Traditionen eines Jahrhunderts dem Ministerium den Rahmen vor. Die Beamteneigenschaft der Professoren, universitär-fachliche Autonomie und die Sozialstruktur wie das Sozialkapital der bildungsbürgerlichen Schichten sind hier zuvörderst zu nennen. Die Expansion etatmäßiger Professuren hielt – anders als die Zunahme der Privatdozenten – nicht ganz Schritt mit der Zunahme der Studierendenzahlen. Neue Stellen für Soziologie oder Pädagogik konnten oft nur durch Umwidmung unbesetzter Positionen gewonnen werden und der Einbezug dieser Fächer in den obligatorischen Lehr- und Prüfungsbetrieb blieb begrenzt. 1919/20 und 1928–32 versuchten die Kultusminister Haenisch, Becker und Grimme, auch fachlich ausgewiesene Gelehrte mit linksliberaler oder sozialdemokratischer Überzeugung, also jenseits des meist dominanten rechtsliberalen oder deutschnationalen Spektrums, auf Lehrstühle zu lancieren, um die Republiktreue in der Hochschullehrerschaft zu steigern. Daraus resultierten Konflikte mit Fakultäten und der demagogische Vorwurf „bolschewistischer“ Hochschulpolitik wurde von rechts erhoben. Die Republikanisierung der Professorenschaft blieb unvollständig. Bereits in den 1920er Jahren erhielten speziell Naturwissenschaftler Preußens vermehrt Rufe an renommierte Universitäten der USA, neben Einstein und Schrödinger beispielweise der Ökonom Joseph Schumpeter, der Chemiker Fritz Paneth, der Mathematiker Hermann Weyl und der Psychologe Wolfgang Köhler. Sie wurden bis 1932 in der Regel noch abgelehnt, aber ab 1933 boten das neu entstehende Institute for Advanced Study Princeton oder die New School of Social Research in New York begehrte Zielpunkte. Mit der Selbstenthauptung deutscher Wissenschaft durch die rassistisch bzw. parteipolitisch begründeten 314  Jürgen John, „Not deutscher Wissenschaft“? Hochschulwandel, Universitätsidee und akademischer Krisendiskurs in der Weimarer Republik, in: Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen, S. 107–140, Zitat S. 117. Zur preußischen Wissenschaftspolitik 1918–33 knapp auch Spenkuch, Politik des Kultusministeriums, S. 239–265. Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik. Ausbau zu einer gesamtdeutschen Forschungsorganisation (1918–1933), in: Ders./R. Vierhaus (Hg.), Forschung im Spannungsfeld, S. 197–355.

342  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Dozenten-Entlassungen 1933/38 (ca. 1200, ca. 18 % aller) und durch die hundertfache Zwangsemigration erlitten Disziplinen von Physik und Mathematik (Einstein, James Franck, Erwin Schrödinger, Richard Courant, Hermann Weyl) über Wirtschaftswissenschaften (Ludwig v. Mises, Adolf Löwe, Wilhelm Röpke) bis zu Soziologie (Emil Lederer, Max Horkheimer, Theodor Geiger) oder Psychologie (Curt Bondy, Siegfried Bernfeld) einen enormen Aderlaß. Zudem verließen auch fortgeschrittene Studierende aus ganz (Ostmittel-) Europa und Nachwuchsgelehrte das Land, etwa die oft jüdischstämmigen Schüler des Historikers Friedrich Meinecke Hajo Holborn, Hans Rosenberg, Felix Gilbert u. a. m. Speziell Berlin und Frankfurt, aber auch Heidelberg und Hamburg, Göttingen und Köln verloren innovative Kräfte. Daraus und den Wirkungen der NS-Hochschulpolitik resultierte eine disziplinäre Verspätung in manchen Fächern noch in der frühen Bundesrepublik. Preußens Wissenschafts- und Bildungspolitik endete in Nazifizierung, Forschungen mit rassenkundlichem Impetus, Kolaboration bei Ostkolonisation und skrupelloser Wehrwirtschaft, ja inhumanen Menschenversuchen, insgesamt im Desaster. Eine Fernwirkung von Preußens guten Wissenschaftstraditionen kam indes nach 1945 zum Tragen, denn wichtige Impulse zum Aufbau der westdeutschen Demokratie setzten Emigranten als Berater der Westalliierten (Arnold Brecht, Hans Simons) und quantitativ wenige, aber ideell bedeutende Remigranten, die preußischen Hochschulen wie preußischer Verwaltung entstammten (Ernst Fränkel, Karl Löwenstein, Franz L. Neumann, Herbert Weichmann).315

11.

Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933

Die Kirche gehörte jahrhundertelang zu den Bestimmungsmächten im Leben der meisten Menschen. Es geht nachfolgend aber nicht primär um ihre Lehrdogmatik oder ihre bloße Organisation, sondern analog der Achsen von Gesellschaftsgeschichte um die kulturelle Prägewirkung, die gesellschaftliche Verankerung und die politische Rolle dieser „Sattelinstitution“ (H.-U. Wehler). Betrachtet werden 315 Klaus Fischer, Physik, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, Sp. 824–836, Begriff Selbstenthauptung Sp. 826. Michael Grüttner/Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2007), S. 123–186, S. 140 f. Claus-Dieter Krohn (Hg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997; Ders./M. Schumacher (Hg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2001. Margrit Seckelmann/Johannes Platz (Hg.), Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Gesellschaft im transatlantischen Transfer, Bielefeld 2017.

11. Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933  

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dabei die christlichen Konfessionen Luthertum und reformiert-calvinistische Richtung sowie die römisch-katholische Kirche. Spezifische Leitfragen richten sich gemäß der neueren Historiographie auf das Verhältnis von Kirchen und Staat, die Mitbestimmung von Laien in Kirchengremien, die Haltung der Kirchen zu sozialen Fragen und zur gesellschaftlichen Moderne sowie auf vergleichsweise preußische Besonderheiten wie Staatskirchenfunktion und starke Obrigkeitsbindung.316 Mit der Reformation wurde Brandenburg-Preußen um 1540 ein protestantisch-lutherisches Land mit dem zugehörigen landesherrlichen Kirchenregiment, d. h. der Monarch besaß als Summus Episcopus oberste Autorität in der Amtskirche. 1613 nahm Kurfürst Johann Sigismund jedoch den reformiert-calvinistischen Glauben an. Dieser unterschied sich in Abendmahl-Form und Rechtfertigung des Menschen vor Gott einzig durch dessen Gnade sowie potenziertem Arbeitsethos vom Luthertum. Während in etwa gleichzeitig erworbenen westlichen Gebieten wie der Grafschaft Mark die Reformierten dominierten, gab es in anderen bis 1740 zu Preußen gekommenen westlichen Territorien wie Geldern oder Lingen 60–100 % Katholiken, die aber nur rd. 7 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, bei landesweit 90 % Lutheranern und 3 % Reformierten. Bis Ende der 1660er Jahre betrieb Kurfürst Friedrich Wilhelm noch massiv, aber erfolglos die Durchsetzung des für überlegen gehaltenen reformierten Glaubens gegen die Lutheraner in seinem Territorium. Auch danach förderten er sowie seine Nachfolger die reformierte Richtung besonders und vergaben bis 1740 die meisten hohen Posten an Glaubensgenossen. Aber schon der reichsrechtliche Friedensschluß 1648 sicherte den Besitzstand der christlichen Konfessionen und 316 Beste Überblicksdarstellung, deren Argumentation hier meist gefolgt wird, ist Rudolf v. Thadden, Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3, S. 547–711 (mit umfassenden Literaturangaben), überarbeitet u. d. T. Eine preußische Kirchengeschichte, Göttingen 2013, sowie knapper Ders., Fragen an Preußen, S. 107–144. Gesellschaftsgeschichtlich und in vergleichender Perspektive: Martin Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert, Göttingen 2006. Auch auf theologische Gehalte geht das Grundlagenwerk ein: Die Geschichte der evangelischen Kirche der Union, 3 Bde., hg. von J. F. G. Goeters, J. Rogge u. a., Leipzig 1992–99. Forschungsfragen thematisieren Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999 und Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19.  Jahrhundert, München 1998, sowie Ders., Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2000. Aktenfundiert und mit Fokus auf das Kultusministerium: Christina Rathgeber, Das Kultusministerium und die Kirchenpolitik 1817–1934, in: Acta Borussica, N. F., hg. v. W. Neugebauer, 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Bd. 2,1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen, Berlin 2010, S. 289–385. Zentrale, im folgenden Text erwähnte Quellen finden sich bei: E. R. Huber/W. Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 4 Bde., Berlin 1973–1988.

344  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft den jeweiligen Minoritäten freie Glaubensüberzeugung zu. Sukzessive kamen partiell katholische Gebiete zu Brandenburg-Preußen und die Monarchen betrieben aus Staatsinteresse „Peuplierung“ mittel Einwanderung. Kurfürst Friedrich Wilhelm rief (reformierte) Holländer und französische Hugenotten (Edikt von Potsdam 1685) ins Land, Friedrich Wilhelm I. Böhmen und Salzburger. Reformierte und Katholiken gleichermaßen sollten im Interesse fürstlich-staatlicher Macht den Landesaufbau befördern. Die reformierte Richtung war auf praktisches diesseitiges Handeln der Gläubigen bezogen, und darauf zielte auch die im frühen 18. Jahrhundert formierte Strömung des Pietismus, ein theologisches Bindeglied zwischen Lutheranern und Calvinisten. Einer der Gründerväter, der aus Dresden von Lutheranern vertriebene Theologie Philipp Jakob Spener übte 1691–1705 das Amt eines Propstes und Konsistorialrats am Berliner Hof aus. Mit dem rastlosen August Hermann Francke wurde Halle zum Zentrum des Pietismus, der die praktische Wirksamkeit in der Welt für gottgefällig hielt. Aktivität und soziale Werke, Bildungsstreben und pflichtgetreues Verantwortungsbewußtsein seien gottesfürchtiges Verhalten. In diesem Sinne begann Francke 1695 mit dem Aufbau der bis heute nach ihm benannten Stiftungen: Realschule, Waisenhaus, Manufakturen. Francke verband Glauben und Wissenschaft, denn seine Naturalienkammer sollte die göttliche Schöpfung illustrieren, aber legte zugleich Grundlagen zu empirischem Naturkundeunterricht. Franckes Werk vereinte Unterrichtsanstalt mit Wirtschaftsunternehmen bzw. Sozialfürsorge und besaß transnationale Dimensionen: Mit einem europaweiten Briefwechsel, mit der internationalen Propagierung seines Modells, mit der dänisch-englisch-halleschen Mission bis ins südindische Tranquebar. Anderswo agierten Reformierte oder Pietisten oft (politisch) oppositionell gegen die jeweils dominante, dynastisch verkörperte Staatskirche, so in England bekanntlich die Puritaner, die als Zwangsauswanderer die Kolonien in Nordamerika begründeten oder später Gruppen von Nonkonformisten als Wählerschaft der englischen Liberalen Partei. In der Hohenzollern-Monarchie waren die Kurfürsten selbst reformiert und der Pietismus umfaßte nicht unbequeme Außenseiter, sondern wurde vom Staat in Dienst genommen, so daß der Pietismus dem Staatsethos Preußens zugrundelag. Carl Hinrichs resümierte knapp, der Puritanismus sei eine Unternehmerreligion gewesen, der Pietismus eine Beamtenreligion. Durch Unterricht, soziale Einrichtungen und durch pietistische Feldprediger in Armee wie Gemeinden weitergegeben, festigte sich dieses Staatsethos, konnte Erfolge vorweisen und im aufgeklärten 18. Jahrhundert selbst ohne unmittelbaren Gottesbezug weltlich begriffen werden.317 317 Die Konfessionsstatistik in der Quellensammlung Max Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640 [bis 1797]. Nach den Akten des Geheimen Staatsarchives, 8 Bde., Leipzig 1878–1902, Bd. 2, S. 9–14. Zum Pietismus vgl. das nachgelassene Werk von Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971; Maurer, Kirche,

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War Brandenburg-Preußen also außergewöhnlich im Punkt religiöse Toleranz? Erstens galt sie lange regional unterschiedlich: In Brandenburg und Pommern blieb katholischer Gottesdienst untersagt, in Minden, Halberstadt, Magdeburg wurden katholische Stifte erhalten, aber Pfarrgemeinden nicht erlaubt, die Katholiken in Kleve und Mark genossen Bestandsschutz durch den territorialen Ausgleich mit Pfalz-Neuburg 1672. Von Parität war durchgängig keine Rede, staatliche (Führungs-)Positionen blieben Katholiken verschlossen. Nicht nur Friedrich I. achtete Frank Göse zufolge sehr darauf, daß es zu keiner Ausweitung des katholischen Einflusses in Preußen kam und lokal betrieben Kirchenmänner beider Konfessionen konfessionelle Abgrenzung im Alltag. Zweitens ist die Grundkonstellation nach dem Westfälischen Frieden von 1648 zu beachten: Reichsrechtlich galt Toleranz für die christlichen Konfessionen. Viele aufgeklärtabsolutistische Fürsten förderten Immigration zwecks Landesaufbau, genau so dezidiert wie der Berliner beispielsweise der Mannheimer Kurfürst Karl Ludwig ab 1652, und vermieden möglichst neue Religionskonflikte, nutzten aber gern konfessionelle Diversität gegen ihre Hauptgegner, die Stände. Drittens kann die Aufnahme reformierter Immigranten durch Hohenzollern nicht verwundern und mit dem Anspruch, protestantische Führungsmacht im Reich zu sein, vertrug sich Zwist mit den Lutheranern nicht. Die Parole preußischer Toleranz ließ sich propagandistisch nach Außen tragen und ist bis heute ein populärer Mythos. Fazit: Preußens Monarchen bildeten, indem sie frühzeitig machtpolitische Staatsräson und ökonomische Opportunität über Glaubensuniformität stellten, keine einzigartige Ausnahme. Die neuere Forschung verortet Preußen deshalb im Spektrum der reichischen Territorien. Im Kontrast zu den etablierten Großmächen Frankreich oder Österreich und anderen (katholischen) Ländern, die bis ins späte 18. Jahrhundert Zwangsauswanderungen von (protestantischen) Gruppen forcierten, erscheint Preußen vergleichsweise tolerant. Man kann somit von einer begrenzten Religionstoleranz gegenüber den reichsrechtlich anerkannten großen Konfessionen, also nicht kleinen Gruppen wie den Mennoniten, sprechen. Konfessionelle Gleichgültigkeit lag der Toleranz des Agnostikers Friedrich II. zugrunde. Er äußerte 1752: „alle Religionen sind (…) mehr oder weniger absurd“. Zwei andere, vielzitierte Sätze Friedrichs entpuppen sich als Selbststilisierung. Die Randbemerkung 1740 „alle Religionen seindt gleich und guth, wan nuhr die leute, so sie profesiren, erliche leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen“, blieb realhistorisch leere Phrase; Moscheen wurden nicht gebaut. Tolerante S.  26  f., 94–98; Friedrich, Brandenburg-Prussia 1466–1806, S.  98–101 und Clark, Preußen, S. 154–171. Holger Zaunstöck u. a. (Hg.), Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700, Halle 2013. Richard L. Gawthrop, Pietism and the Making of Eighteenth-Century Prussia, Cambridge 1993, S. 185 ff. (indische Mission) und 270–284 (preuß. Ethos). Kunisch, Friedrich der Große, S.  147 (Zitat Hinrichs).

346  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Großmut hätte Friedrich II. den Juden in Preußen beweisen können, aber weder erleichtete er deren Niederlassung noch ließ er ihnen Synagogen bauen. Im Gegenteil: Sie galten ihm als „allergefährlichste Sekte“. Seine weitere Sentenz, in Preußen könne „ein jeder nach seiner Fasson selich werden“, bezog sich gar nicht auf die weltliche Lebensgestaltung, sondern bloß auf persönlichen Gottesglauben und Jenseitsvorstellung; im Diesseits galten Hunderte von staatlichen Geboten.318 Trotz aller staatskirchlichen, monarchietreuen Orientierung des Protestantismus in Preußen ist hervorzuheben, daß seine Exponenten, zuvörderst Pastoren und Lehrer, seit dem 18.  Jahrhundert nicht nur Preußens Staatsmaximen verbreiteten, sondern auch schulische Bildung und lebensweltliche Aufklärung. Das Pfarrhaus war häufig das kulturelle Zentrum im Dorf, viele spätere Bildungsbürger oder Wissenschaftler wuchsen dort auf und Pastoren lancierten tausendfach Dorfkinder in ein Gymnasium. Konservative Theologen versuchten verständlicherweise ihre spezifischen Inhalte im Bildungsbereich zu verbreiten, aber Bildung an sich galt ihnen doch so viel, daß sie den Ausbau von Bildungsinstitutionen meist forcierten. Neben diese soziale Folgewirkung trat die ökonomische Prägewirkung der Religion, denn bedeutende Unternehmer wirkten aus dem Geiste des calvinistischen oder lutherisch-pietistischen Protestantismus.319 Die protestantischen Kirchenbehörden waren jahrhundertelang Staatsbehörden: Regionale Konsistorialräte ernannte seit 1543 der Monarch; das Berliner Oberkonsistorium von 1750 unterstand dem Chef des Geistlichen Departements; Hof- und Feldprediger (denen zwecks Versorgung Pfarrstellen übertragen wurden) standen im Dienst der Monarchen. Das Allgemeine Landrecht von 1794 definierte Glaubensfreiheit als Freiheit der individuellen „Privatmeinungen über Religionssachen“. Den Kirchengesellschaften gab es auf, „Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger“ zu propagieren. Am Ende hieß es unzweideutig: „Die Privat- und öffentliche Religionsausübung einer jeglichen Kirchengesellschaft ist der Oberaufsicht des Staats unterworfen.“ Ein Jahrhundert spä318 Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt/M. u. a. 1984, S.  121–123 und Otto Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen (1906), in: O. Büsch/W. Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte, Bd. 3, S. 1217–1242, S. 1228 (keine Parität). Maurer, Kirche, S. 103–105 (Grundkonstellation). Göse, Friedrich I., S. 308–320. Hans-Christof Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen unter den ersten beiden Königen, in: J. Bahlcke/W. Korthaase (Hg.), Daniel Ernst Jablonski, S. 47–85, S. 84 (Fazit). Mathis Leibetseder, Alltag zwischen Konflikt und Toleranz. Beobachtungen zur Konfessionspolitik BrandenburgPreußens im 18.  Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 41 (2014), S.  231–260. Friedrich-Zitate nach Maurer, Kirche, S.  80 und Heinrich, Geschichte Preußens, S. 247 f. 319 Oliver Janz, Das Pfarrhaus, in: E. Francois/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 221–238, S. 232 f. (je nach Statistik 10 %–54 % bekannter Schriftsteller und Gelehrter aus Pfarrhäusern).

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ter formulierte Bismarck dazu, die evangelische Kirche habe im Hause Preußen Gastrecht genossen und sei dann Mitbesitzer des Hauses geworden, „aber der ursprüngliche Besitzer ist immer der Preußische Staat gewesen.“ Die Niederlage gab 1808 Schleiermacher den Anstoß, eine staatsfreiere Kirchenordnung zu entwerfen, um die Kirchenbindung der Bevölkerung, das Ansehen der Geistlichen und echte religiöse Gesinnung gemäß den Evangelien zu heben. Man müsse mit der Vorstellung der Kirche als einer Staatsanstalt brechen, denn wenn sie „nur ein Institut des Staates zu bestimmten Zwecken wäre“ würde „ihr wahrer Geist nothwendig verloren gehen“. Mit „Anschauung und Gefühl“ sollte der Glauben gestärkt werden; Glaubensfragen (ius in sacra) sollten von Geistlichen und Laien frei diskutiert, organisatorische Kirchenfragen (ius circa sacra) von gemeindlich gewählten Kirchenvorständen (Presbyterien) behandelt und in kreisweisen Synoden bzw. provinzialen Kapiteln die Entscheidungen getroffen werden. Realiter jedoch brachte die Reformzeit zunächst eine Zusammenfassung der Kirchenbehörden in der Sektion für Kultus im neuen Berliner Innenministerium 1808. Auch im 1817 separierten Kultusministerium bildete die Geistliche Abteilung die kirchliche Zentralbehörde über den den Oberpräsidenten zugeordneten Konsistorien aus Beamten und ernannten Pastoren bzw. über den Kirchen- und Schulabteilungen der Regierungsbezirke. Staatlich ernannte Generalsuperintendenten stellten die höchste Instanz für die Geistlichkeit einer Provinz dar. Der organisatorischen Zentralisierung für Fragen des ius circa sacra ließ Friedrich Wilhelm III. Schritte zur Vereinheitlichung der theologischen Inhalte der evangelischen bzw. reformierten Glaubensgemeinschaften folgen. Während die protestantische Union in Nassau und Rheinhessen, Baden und der Pfalz mindestens partiell „von unten“ erwuchs, dekretierte sie der König in Preußen per Kabinettsorde vom 27.9.1817. Wiewohl die Union zunächst weithin positiv aufgenommen und durch gemeinsame Abendmahl-Feiern praktiziert wurde, blieben an der Basis Differenzen. Es mangelte an autoritativen kirchlichen Gremien und aus dieser sog. Altpreußischen Union scherten über die Jahrzehnte diverse freikirchliche Gemeinden aus; die Union wirkte im Kirchenvolk also auch spaltend. Friedrich Wilhelm III. griff sogar tief in das ius in sacra der Kirche ein, indem er 1821/22 eine von Hofpredigern kreierte Agende (Gottesdienstordnung) einführen ließ. Deren Annahme verweigerten manche lutherische Rationalisten wie auch Reformierte als zu katholisch in Form und Gehalt, z. B. beim Gottesdienst, oder generell als zu eklektizistisch. Mitsprache von Laien oder Selbstverwaltung durch Synoden gab es institutionell nicht; neben den Pastoren Mitbestimmungsrechte besaßen allenfalls Kirchenpatrone, im Osten meist Rittergutsbesitzer, auf Domänen und in Städten meist der Staat. Synoden mit Laienbeteiligung, also die dem frühen evangelischen Glauben gemäße Form, blieben in den preußischen Ostprovinzen nach

348  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft ersten Versuchen 1816 im Zuge der Restaurationsepoche jahrzehntelang untersagt. Denn darin erblickten König wie konservative Hofpredigerpartei eine dem konstitutionellen System analoge Form, und verweigerten sie genau so verbissen wie Verfassung und gewählten Landtag als Repräsentation der Bürger.320 Nur in den beiden Westprovinzen Rheinland-Westfalen wurde 1835 eine Kirchenordnung mit presbyterial-synodaler Struktur gewährt, freilich mit ernannten Generalsuperintendenten an der Spitze der Provinzialsynode, um diese „in richtige Bahnen“ zu leiten. Gleichzeitig erreichte die monarchische Intransigenz einen Höhepunkt. In Schlesien verweigerten Lutheraner seit 1830 die verbindliche Annahme der Agende. Als 1834 im Ort Hönigern der lutherische Pfarrer abgesetzt war, aber die Einwohner dem unionsfreundlichen Nachfolger den Zugang zur Kirche verweigerten, verschaffte ihm Militär den Zutritt. Gewalt und Strafen gaben in Schlesien, Sachsen und Pommern Dutzenden Gemeinden den Anstoß zur Trennung von der Landeskirche. Tausende von sog. Separatisten, nun als Altlutheraner bekannt, zogen der staatlichen Intoleranz die Auswanderung vor und reisten 1836 Choräle singend auf Oderkähnen in Richtung der Seehäfen, um in Nordamerika und Australien ihren Glauben frei von staatskirchlicher Reglementierung leben zu können.321 Friedrich Wilhelm IV. genehmigte nach seiner Thronbesteigung 1840 einige versöhnliche Maßnahmen: Altlutheraner durften eigene Gemeinden gründen, staatliche Oberpräsidenten waren nicht mehr automatisch Vorsitzende der Provinzialkonsistorien, 1846 tagte die erste Generalsynode als Kirchenparlament Preußens, zeitlich also vor dem Vereinigten Landtag 1847. Das im Schrifttum früher vielgelobte sog. Toleranzpatent jenes Jahres freilich, das formal den Kirchenaustritt erleichterte, entsprang aber nicht zuletzt dem Bestreben, dadurch rationalistische Kräfte aus der Landeskirche heraus zu drängen, und zeitigte in der Praxis neue Repression. Denn wer den offiziellen Kirchenaustritt verweigerte, mußte gewärtig sein, daß seine Ehe behördlich für ungültig und seine Kinder für unehelich erklärt, ja Geldstrafen verhängt wurden. Wie Christentum auszusehen hatte, definierte in Preußen die Staatsspitze recht intolerant. In einer Sackgasse endete auch die Generalsynode. Obwohl gutenteils Generalsuperintendenten, Hofprediger und konservative Theologen sowie gutsherrliche Patrone unter den Laien saßen, forderte sie mehrheitlich das Wahlprinzip von der Gemeinde bis zur Synode, die Ausweitung von deren Kompetenzen gegenüber den Konsistorien und die Bildung eines extraministeriellen Oberkonsistoriums. Dies ging Fried320 Schleiermachers Ideen nach Thadden, Kirchen, S.  577  f. und Friedrich, Kirche, S.  143–146, Schleiermacher-Zitat nach Thadden, Fragen an Preußen, S.  121, ebd., S. 108 das Bismarck-Zitat 1887. Zum Unionsprojekt Friedrich, Kirche, S. 57–61 und Rathgeber, Kirchenpolitik, S. 298 ff. 321 Friedrich, Kirche, S. 72; Clark, Preußen, S. 479–482 und Rathgeber, Kirchenpolitik, S. 308–311.

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rich Wilhelm IV. zu weit in Richtung konstitutioneller Synodalstruktur, Laienmitsprache und Unabhängigkeit der Kirche vom Staat. Die Beschlüsse der Generalsynode blieben Papierwerk. Erst die infolge der Revolution unter Kämpfen dem Monarchen abgerungene Verfassungsurkunde vom 31.1.1850 stipulierte die Selbstverwaltung der Kirchen und garantierte den Kirchenbesitz. Die Trennung von unierter Kirche und Staat war jedoch wegen des Fehlens rein kirchlicher Organe nicht umzusetzen und weder beim König als Summus Episcopus noch der Ministerialverwaltung akzeptiert. Eine formale Lösung wurde 1850 mit der Schaffung des Evangelischen Oberkirchenrats gefunden. Er war für die innerkirchlichen Angelegenheiten (also Lehrsätze, Agende, Gemeindekirchenordnung) oberste Instanz, berichtete dem König unmittelbar, aber erhielt den Direktor der Geistlichen Abteilung des Kultusministeriums als ersten Chef. Auch später stammten die Präsidenten des Oberkirchenrats aus Ministerium oder Konsistorien und sandten dem Ministerium zwecks Stellungnahme Kopien des Schriftwechsels mit dem Monarchen zu. Der Oberkirchenrat erhielt zwar 1857 gegen den Protest des Kultusministers v. Raumer die Befugnis, Vorschläge zur Besetzung von Prediger-, Pfarrer- und Superintendenten-Posten zu machen; vor deren Ernennung hörte der Monarch aber den Kultusminister. Insgesamt entstand so eine hinkende Trennung, denn die äußeren Kirchenangelegenheiten verblieben bei Konsistorien aus staatlich ernannten Theologen und Juristen, denen der Kultusminister vorgesetzt war. Die Kirche der Union stand im Banne des Staates und das Bündnis von Thron und Altar existierte in Preußen bis 1918 fort. Zugleich gab es im Protestantismus mehrere konkurrierende Strömungen, nämlich Liberale und Freikirchen und später die christlich-soziale Stoecker-Bewegung sowie den ideologisch schillernden national-sozialen Ansatz Friedrich Naumanns.322 Ganz andere Verhältnisse bestanden bezüglich der römisch-katholischen Kirche. Mit Schlesien stieg der Anteil der Katholiken in Preußen 1745 auf etwa 20 %, mit Westpreußen inklusive Ermland und Posen ab 1793 auf ca. 30 %, mit den Westprovinzen nach 1815 auf ein gutes Drittel. Auf Preußens Gebiet lagen ab 1815 acht Bistümer (Ermland, Kulm, Posen-Gnesen, Breslau, Münster, Paderborn, Köln, Trier), ab 1866 zwölf (mit Hildesheim, Osnabrück, Limburg, Fulda). Grundsätzlich besaß die Papstkirche deutlich größere Selbständigkeit gegenüber den Staaten Europas; ihr weltweites Oberhaupt residierte in Rom, es gab nichtstaatliche Verwaltungsorgane (Bistümer, Domkollegien, Stifte), ein amtskirchlich beaufsichtigtes Lehrgebäude, kanonisches Recht sowie ein bedeutendes, in Jahrhunderten erworbenes, bis heute augenfälliges Kirchenvermögen. 322 Thadden, Kirchen, S. 586 f. (Synode); Friedrich, Kirche, S. 91 (Toleranzpatent); Rathgeber, Kirchenpolitik, 314–323 (1840–1857) und S. 342 f. (Auswahl der Oberkirchenratspräsidenten durch die Kultusminister).

350  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Friedrich Wilhelm I. schrieb 1722, man möge sich an die reichsrechtlichen Garantien für Katholiken halten. Friedrich II. war im dreimal umkämpften Schlesien schon machtpolitisch an konfessioneller Befriedung interessiert. Er wolle „gute Harmonie“ zwischen den beiden Konfessionen, schrieb er, und achte Glaubensfreiheit des Einzelnen, solange er sich „in der bürgerlichen Gesellschaft still und ruhig beträgt, keine Neuerung einführt“. Seine Konfessionspolitik stand klar unter dem Primat seiner Außen- und merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Friedrich nahm Einfluß auf die Besetzung (hoher) kirchlicher Stellen und griff mit der Nominierung des ihm bekannten Domherrn Graf Schaffgotsch zum Breslauer Bischof 1747 gegen Domkapitel und Kurie durch, um ihn 1757 der Kollaboration mit Österreich zu verdächtigen und später Oppeln als Aufenthaltsort zuzuweisen. Als potentielle Agenten Österreichs stets verdächtige Kleriker wurden auf den Monarchen vereidigt, manche wegen Landesverrat mit ergebnislosen Untersuchungen überzogen und kirchliche Gerichte auf Spiritualia (Glaubensfragen) beschränkt. Die nun verordnete konfessionelle Parität in kommunalen Ratskollegien für unter Habsburg stark benachteiligte Protestanten bedeutete Positionsverlust für die Katholiken. Katholische Feiertage wurden verringert, die Steuern auf Kirchenbesitz stark erhöht. Bei der Neuordnung von Schulwesen sowie Universität Breslau wurde die bisher kirchliche Führung beseitigt. Die Jesuiten indes, 1773 sogar vom Papst verboten, ließ Friedrich als Weltpriester in Gymnasien und Universität weiter wirken, denn man brauchte ihre Lehrkapazität. Den katholischen Adel, Inhaber vieler Führungspositionen in Kirche und ständischen Gremien, versuchte er in preußische Dienste zu ziehen und durch Ehrungen zu borussifizieren. Das katholische Volk zumal Oberschlesiens betrachtete Friedrich als abergläubisch-dumpfe Unterschichten. Ein positives Zeichen setzte der von Friedrich II. erlaubte Bau der katholischen Hedwigs-Kirche in Berlin ab 1746.323 Die Säkularisierung 1803 und die neuen Staaten ab 1815 stellten für die katholische Kirche die größte Herausforderung seit der Reformation dar; die Beziehungen zu diesen Staaten waren neu zu regeln. Preußen arrangierte sich mit der Kurie nach der päpstlichen Bulle De salute animarum 1821. Der Staat genehmigte neue Bistumsgrenzen, durfte die Hälfte der Dompröpste nominieren und konnte Bischofskandidaten als „minder genehm“ ablehnen. Im Krieg 1813/14, als es um die Mobilisierung der Bevölkerung ging, herrschte noch enge Kooperation. Der Breslauer Fürstbischof Joseph v. Hohenlohe erließ im Mai 1813 auf Regierungsanforderung und nach Genehmigung des Textes einen patriotischen Hirtenbrief zur Unterstützung der Erhebung. Als das Kirchenkollegium der Berliner Hedwigskirche im Oktober 1813 ein Requiem für 323 P. Baumgart, Schlesien als eigenständige Provinz, S. 366 ff., Friedrich-Zitate S. 372, 374, und detailliert Bettina Braun, Friedrich der Große und seine Politik gegenüber der katholischen Kirche in Schlesien: in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt., Bd. 78 (1992), S. 210–311.

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die „ruhmvoll“ Gefallenen abhalten wollte, fand das Innenministerium das lobenswert, aber ordnete die Verlegung auf den unauffälligen Allerseelentag an, denn der König habe eine allgemeine staatliche Feier befohlen. Ein weiterer Hirtenbrief Hohenlohes im Oktober 1813 verurteilte – auch auf Polnisch – die Desertion, zumal von Oberschlesiern, als Eidbruch gegen den König und unchristliche Sünde. Eine lokale Siegesfeier in Neisse vor einem mit dem Eisernen Kreuz geschmückten Altar und Kanonenschüssen für die Soldaten gab 1814 den Anlaß für eine ministerielle Klarstellung: „Kein Geistlicher irgend eines Grades darf sich herausnehmen, in einer öffentlichen und allgemeinen Landesangelegenheit eine feierliche Andacht ohne Erlaubnis des Staats und Genehmigung seines vorgesetzten Bischofs zu veranstalten“. Weiter hieß es apodiktisch: „Öffentliche Feste der Freude und der Trauer – und dahin gehört offenbar ein feierliches, bei Kanonendonner und mit militärischer Parade abgesungenes Requiem für die Gebliebenen der Armee, verordnet allein der Staat und zwar durch die den geistlichen Angelegenheiten vorgesetzte Behörde. Dies liegt in der Natur der Sache und die Gesetze bestimmen es ausdrücklich.“ Dies war die Sichtweise preußischer Bürokraten auf das für die katholische Kirche schickliche Verhalten gegenüber staatlicher Autorität.324 Der selber aufgeklärt-skeptische Kultusminister Altenstein formulierte 1819, Preußen müsse für die evangelische Landeskirche „mit Liebe“, für die katholische „nach Pflicht“ sorgen. Es erstaunt daher fast ein wenig, daß es den Zusammenstoß von Staatsbehörden und Kirche erst nach zwei Jahrzehnten gab. Im Mischehenstreit 1837 prallten das staatliche Verdikt, Kinder aus gemischtkonfessionellen Verbindungen müßten in der Konfession des Vaters, und der katholische Vorbehalt, diese Kinder seien stets katholisch zu erziehen, hart aufeinander. Der diesbezüglich unnachgiebige Kölner Erzbischof v. Droste-Vischering wurde verhaftet und auf die Festung Minden verbracht. Ein Sturm der Entrüstung ging durch den Katholizismus und Joseph Görres’ Schrift „Athanasius“, die den Erzbischof spätantiken Glaubenszeugen gleichstellte, forderte bereits verfassungsmäßig garantierte Autonomie für die Kirche. In der Mischehen-Frage wurde 1839 auch der Posener Erzbischof Martin v. Dunin wegen Ungehorsams gegen Staatsgesetze zu Amtsverlust und Festungshaft verurteilt, die er auch zehn Monate absaß. Damit begann – im Vergleich zu anderen Sozialgruppen keineswegs verspätet – die Politisierung der Katholiken, die über zwei weitere Stufen 1848/52 und 1866/70 zur Bildung der Zentrumspartei führte. Ab 1840 bemühte sich Friedrich Wilhelm IV. mit Gnaden-Gesten das Verhältnis zu entspannen: Katholische Abteilung im Kultusministerium, Rückkehr Dunins nach Posen und Einsetzung eines Koadjutors für Droste-Vischering,

324 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, III Sekt. 1 Abt. 2 Nr. 7 Bd. 1 (Hirtenbriefe 1813, Innenministerium 9.5.1814 bzw. 29.8.1814 an Regierung Breslau wegen Neisse).

352  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft formale Beilegung des Mischehenstreits, Weiterbau des Kölner Doms ab 1842. Etwas Beruhigung trat ein. Das Revolutionsjahr 1848 war ein Höhepunkt der Mobilisierung des Katholizismus: Erster Katholikentag in Mainz (spätere wurden als „Herbstparade des Zentrums“ bekannt), erste reichsdeutsche Bischofskonferenz in Würzburg, Hunderttausende Mitglieder in Pius-Vereinen zur Verbreitung katholischer Weltanschauung. Zugute kam der Mobilisierung die preußische Verfassungsurkunde von 1850; sie garantierte das Recht der beiden christlichen Kirchen, ihre Angelegenheiten sowie den gesamten Kirchenbesitz selbstständig zu verwalten. Preußen schien damit Vorreiter in punkto Kirchenfreiheit unter den deutschen Bundesstaaten zu sein, denn zeitgleich war das Verhältnis Staat–Katholische Kirche in Baden, Bayern und Württemberg konfliktträchtig. Schon 1852 versuchten die hochkonservativen Fachminister v. Raumer und v. Westphalen aber, mit Erlassen gegen die populären, aber keineswegs staatsfeindlichen, sondern auf religiöse Hebung konzentrierten Volksmissionen (Versammlungen mit Andacht, Predigt, Beichte) vorzugehen. Dekrete verboten auch das Prediger-Wirken von (nichtpreußischen) Jesuiten und die Ausbildung katholischer Priester in Rom – alle Stereotypen des Antikatholizismus lagen dieser Haltung in konservativen, aber auch liberalen Regierungskreisen zugrunde. Dagegen protestierten rund einhundert Petitionen mit Tausenden von Unterschriften aus den katholischen Regionen. Nach dem Kölner Konflikt 1837 bedeutete dies die zweite Welle von Politisierung für den katholischen Volksteil in Preußen – ein früher übersehener, erst kürzlich herausgestellter, wichtiger Befund. Preußens Regierung wich vor der evidenten Mißstimmung unter Katholiken etwas zurück, aber verbot 1856 einen geplanten Katholikentag in Köln und debattierte auch in den 1860er Jahren intern Maßnahmen gegen die von ihr perhorreszierte „Überhandnahme des Katholizismus“ in den Ostprovinzen.325 Allen Vorgängen zugrunde lag der Prozeß katholischer Revitalisierung nicht nur in Preußen. Die Päpste erließen vermehrt Enzykliken zu Gegenwartsfragen (Syllabus Errorum 1864) und bekräftigten dogmatische Lehren; vor allem gab es unter den Laien gerade der Mittel- und Unterschichten autonom eine verstärkte Hinwendung zu öffentlichen religiösen Kundgebungen: Wallfahrten, Prozessionen, Vereinsbildung. Schon 1844 zog der „Heilige Rock“ (das angebliche Gewand Christi) in Trier in drei Monaten 500.000 Pilger an. Katholische Orden und Priester leisteten vermehrt Sozialarbeit an der Basis gegen die Übel der frühen Industrialisierung. Die Papstkirche war im (einfachen) Volk breit verankert, in ihrem Klerus dominierte Kleinbürgertum und es gab punktuelle Friktionen mit dem 325 Altenstein-Zitat nach Rathgeber, Kirchenpolitik, S. 352. Zur Zeit 1840–50 vgl. ebd., S. 357–368. Über Mischehen-Konflikt und Volksmissionen vgl. Christina Rathgeber, Von der Kirchengesellschaft zur Kirche in der Gesellschaft: Frömmigkeit, staatliches Handeln und die frühe Politisierung preußischer Katholiken (1815 bis 1871) (= Acta Borussica, N. F., 2. Reihe, Abteilung II, Bd. 8), Berlin 2016, S. 28–49, 67–105.

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Staat, in der Kontinuität zu Friedrich II. seit 1743 regelmäßig bei Bischofswahlen durch Domkapitel. Die jahrzehntelange Vorgeschichte des preußisch-staatlichen Antikatholizismus‘ eskalierte ab 1870 zum Jahrhundertkonflikt mit dem – vom Liberalen Rudolf Virchow 1873 so genannten, aber bereits 1840 in der Schweiz begrifflich gefaßten – Kulturkampf. In ihm trafen mehrere Stränge zusammen. Innerkirchlich gab es zwischen der Kurie und den europäischen Ortskirchen die Debatte um den seit den 1820er Jahren gesteigerten Bestimmungsanspruch Roms (sog. Ultramontanismus), speziell das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma des Vaticanums 1870, das deutsche Bischöfe anfangs und katholische Bildungsbürger dauerhaft ablehnten. In der Gesellschaft bestanden Ängste der bisher kulturell dominanten und siegesgewissen Liberalen wegen des Wegbrechens einer ganzen Bevölkerungs- bzw. Wählerschicht und an der Basis lokale Konflikte, sogar gewalttätige, etwa beim Moabiter Klostersturm gegen ein Dominikanerkloster 1869. Ferner bildete der Kulturkampf europaweit eine Kulminationsphase im Prozeß der Staats- und Nationsbildung seit 1848. Es ging nicht bloß um religiöse Kultur, sondern um die Definition der kleindeutsch-protestantischen Nation, oberste Werte und die politische Gestaltung des Staats. Treibende Kraft im realen Verlauf war primär Bismarck, der den Konflikt in der Tradition von Preußens Beharren auf Staatsautorität und seines innenpolitischen Konfrontationsdenkens besonders heftig führte.326 Die ersten Gesetze, nämlich die Strafandrohung für Priester, die Angelegenheiten des Staates in einer vermeintlich den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise gemeindeöffentlich besprachen (sog. Kanzelparagraph) 1871 und das Verbot des Jesuitenordens 1872 im Reich, entsprangen noch Initiativen der beamtenliberalen bayerischen Regierung, entsprachen indes auch der Meinung Berliner Machthaber. Die jedes Maß sprengenden Folgemaßnahmen zwischen 326 Die Rolle Bismarcks betonen: Winfried Becker, Otto von Bismarcks Rolle bei Ausbruch, Verschärfung und Beilegung des preußischen Kulturkampfes, in: R. Lill/F. Traniello (Hg.), Der Kulturkampf in Italien und den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 57–85, S. 83 f.; Rudolf Lill u. a. (Hg.), Der Kulturkampf, Paderborn u. a. 1997, S. 9–26, S. 12; Ronald J. Ross, The Failure of Bismarck’s Kulturkampf. Catholicism and State Power in Imperial Germany, 1871–1887, Washington D. C. 1998, S. 5; Wilfried Loth, Bismarcks Kulturkampf. Modernisierungskrise, Machtkämpfe und Diplomatie, in: A. Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Religionspolitik in Deutschland. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (= Fs. M. Greschat), Stuttgart u. a. 1999, S. 149–163; Clark, Geschichte Preußens, S. 648 f. Resümee der Forschungsarbeiten: Armin Heinen, Umstrittene Moderne. Die Liberalen und der preußisch-deutsche Kulturkampf, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 138–156. Weitere Forschungsperspektiven aufgrund der neueren englischsprachigen Literatur skizzieren: Jeffrey T. Zalar, Political Catholicism, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, S. 159–175 und James E. Bjork, Religion, in: Ebd., S. 244–260.

354  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft den sog. Mai-Gesetzen 1873 und der staatlichen Vermögensverwaltung von Diözesen 1876 entstammten ganz Preußens Bürokratie mit Bismarck als treibender Kraft. Es ging dabei nicht mehr nur um Bewahrung liberaler Errungenschaften wie Zivilehe oder Kirchenaustritt, sondern um Überwältigung der (Amts-)Kirche: Staatliche Kontrolle der Priesterausbildung, der priesterlichen Disziplinarordnung und des Kirchenvermögens, Aufhebung von Klöstern, Absetzung von Geistlichen, Ausweisung und Zwangsausbürgerung, Streichung früher garantierter Staatszuschüsse („Brotkorbgesetz“), Aufhebung der Verfassungsartikel über die innere Autonomie der katholischen Kirche, Verbot öffentlicher Zeremonien oder Prozessionen. Polizeiüberwachung und Bespitzelung gab es stetig. Etwa gleichzeitig wurden verschärfte Repressionsmaßnahmen gegen die katholischen, slawophonen Minderheiten im östlichen Preußen eingeleitet, mittelbare Folge des Kulturkampfes. Der allumfassende Machtanspruch des preußischen Staates über gesellschaftliche Organisationen und das Bestreiten vorstaatlicher (Grund-)Rechte traten erschreckend zutage. Fast stand der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts am Horizont. 1878 waren acht von zwölf Bischofssitzen und rd. 1200 – ein Viertel aller – Pfarrgemeinden vakant, etwa 1800 Priester staatlich verfolgt, kirchliches Vermögen beschlagnahmt, katholische Presse und Vereine verboten. Erfolge im Sinne der Absichten blieben in der Praxis dennoch weitgehend aus. Finanziell ließ sich keine Übernahme aller Schulen in Staatshände erreichen; wegen Widerstands und Solidarität in katholischen Regionen sowie unterschiedlicher Handhabung durch Behörden blieben die Maßnahmen Stückwerk; Reste von Rechtsstaatlichkeit bei Gerichten verhinderten einige Exzesse. Bismarck freilich drängte auf scharfe Gesetze, erzwang 1875 das Klosteraufhebungsgesetz sogar mit einer Rücktrittsdrohung und erklärte noch im Oktober 1877 dem Staatsministerium, er sei entschlossen, „den Kulturkampf bis zum äußersten Ende (zu) führen“, denn diese „einzige große welthistorische Frage“ sei bedrohlicher als die „Herrschaft der Sozialdemokratie“. Im Kern ging es Bismarck also gar nicht um Ziele wie Säkularisierung oder gesellschaftliche Modernisierung, sondern er verfolgte eine politische Absicht, nämlich die Vernichtung der 1870 gegründeten Zentrumspartei, die in seiner konfrontativen Sicht als Reichsfeind und Agent „ultramontaner“ Gegner im In- wie Ausland erschien. Er erreichte im Gegensatz dazu, daß in der Spitze (Reichstagswahl 1874) 83 % der katholischen Männer die Zentrumspartei wählten (28 % Stimmenanteil), 1912 noch etwa 55 %. Als Hauptmatador einer Partei von stets etwa 20 % Anteil im Reichstag trat Ludwig Windthorst Bismarck als Taktiker und parlamentarischer Debatter ebenbürtig entgegen und wurde unter Katholiken als „Perle von Meppen“ (seinem Wahlkreis) verehrt. Obwohl weder Partei- noch Fraktionsvorsitzender und im rechten, adelig dominierten Flügel mehr gefürchtet als geliebt, war Windthorst bis 1890 der große Antipode Bismarcks, schmiedete gegen dessen Politik parlamentarisch Koalitionen, verteidigte rechtsstaatliche Grundsätze für die Minderheiten Polen oder Juden und stimmte stets gegen das Sozialistenge-

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setz. Nicht ohne Grund verteilte Bismarck in seinen Memoiren 1898 verklausuliert das höchste Lob für Windthorst und andere katholische Politiker: „Nur die Führung des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen“.327 Viele traditionell antikatholische Liberale warfen in den 1870er Jahren ihre verfassungs- und rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord. Nationalliberale Bildungsbürger glaubten den seit 1867 gesellschafts- und wirtschaftspolitisch modernisierten Staat gegen Kirchenhierarchie, Unterschichten-Mitsprache und Partikularismen sichern sowie einen politischen Konkurrenten ihrer parlamentarischen Schlüsselstellung ausschalten zu müssen. Aus ihren internen Debatten weiß man, daß anfangs bei ihnen und später bei manchen Linksliberalen Vorbehalte gegen Bismarcks Kampfkurs bestanden. Aber zur Befestigung ihrer Juniorpartner-Stellung beim Kanzler gegen die ihn davor tragenden preußischkonservativen Kräfte und aufgrund ihres Ideals einer uniformen Nation unter ihrer Führung stellten Liberale Bedenken hintenan. Im Vergleich mit Bayern oder Österreich, ja selbst Italien, weniger Frankreich von den 1880er Jahren bis zum Laizitätsgesetz 1905, erscheint das Vorgehen von Bismark-Preußen als besonders rabiat, weil hier die verfassungs- und rechtsstaatlichen Grenzen eklatant verletzt, eine große Zahl von Menschen massiv verfolgt, die Ausgrenzung einer konfessionellen Minderheit in vielen Lebensbereichen nachhaltig betrieben wurden und die regierungsseitig angefeuerte Spaltung in Gesellschaft und Parteienssystem langjährig nachwirkte.328 Gegen die jahrzehntelang in der national-liberal geprägten Historiographie verbreitete Vorstellung, es sei um des Fortschritts willen gegen die antiaufklärerische Verführung oder Indienstnahme des Volks durch die aus Rom gesteuerte Hierarchie gegangen, wurden seit den 1980er Jahren von amerikanischen Historikern wie Margaret Anderson, aber auch von Wilfried Loth die langfristig 327 Die Gesetze und Verfolgungszahlen nach Lill, Kulturkampf, S.  19–21; die Gründe des Scheiterns nach Ross, Failure, S.  12. Zitat Bismarck 1877 nach Erich Foerster, Adalbert Falk. Sein Leben und Wirken als preußischer Kultusminister, Gotha 1927, S. 384 f. Die Bindekraft nach Ritter, Die deutschen Parteien 1830–1914, S. 55 f. Margaret L. Anderson, Windthorst. A political biography, Düsseldorf 1988; Thomas Brechenmacher, Ludwig Windthorst als katholischer Politiker, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2012, S. 13–35. Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 2, Stuttgart 1898, S. 309 (Zitat). 328 Vergleichende Aspekte bei Lill, Kulturkampf, S.  16–19, Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 21–23 und Winfried Becker, Der Kulturkampf in Preußen und Bayern. Eine vergleichende Betrachtung, in: J. Zedler (Hg.), Der Heilige Stuhl in den internationalen Beziehungen 1870–1939, München 2010, S. 51–91. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, bes. S.  402–406, sieht Unterschiede, aber betont die Gemeinsamkeiten in der politischen Konstellation vor dem Hintergrund eines kaum vermeidbaren Konflikts zwischen säkularer Welt und traditionsverhafteter Kirchenmacht.

356  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft modernisierenden Effekte der Kulturkämpfe betont. Denn die Mobilisierung von Mittel- und Unterschichten etwa in Vereinen und durch Zeitungen wirkte durchaus emanzipatorisch. Katholiken traten für Verfassung und Grundrechte ein und waren nicht einfach folgsame Schafe ihrer priesterlichen Hirten. Der Zeittrend der Säkularisierung schritt nicht grenzenlos fort und lokal lernten konfessionelle Milieus friedlich zu koexistieren. Auch Frauen gewannen (kleine) Rollen in der Kirche, etwa durch den Marienkult, ja es gab später die Feminisierung des religiösen Kultes. Katholische Parteien in ganz Europa wurden durch Druck von oben oder außen zusammengeschweißt, aber entwickelten sich dann intern zu ausgleichenden (konfessionellen) Volksparteien, die den sozialen Problemen der Industriegesellschaft aufgeschlossen gegenübertraten, ja im 20.  Jahrhundert zu Mitträgern von Republiken und Demokratien avancierten, ab den 1950er Jahren auch die europäische Einigung voranbrachten. Dabei dürfen die antimodernen Stränge in Kirche, Parteiflügeln oder zeitweise virulente Ideen einer autoritären, ständischen Staatsorganisation freilich nicht übersehen werden, so daß je nach Epoche und Land eine gewisse Ambivalenz bleibt.329 In den 1870er Jahren sollte es Bismarck und seinen Unterstützern zufolge keine andere Autorität als den (preußischen) Staat, keine andere Loyalität als zur (deutschen) Nation, modern gesprochen: keine religiös fundierten Parallelgesellschaften geben. Diese Problematik stellt sich heute weltweit und mit Migrationsbewegungen sogar verstärkt. Es steht zu hoffen, daß überall aus der historischen Erfahrung die Lehre gezogen wird, religiöse Konflikte nicht aufgrund perzipierter Bedrohungsängste zu eskalieren, stets verfassungsrechtliche Garantien für Minderheiten bzw. Kirchen einzuhalten, und unter Wahrung aller Menschenund Bürgerrechte ökonomische Verbesserung, politische Mitsprache, Bildungsteilhabe, insgesamt allmähliche Integration zu erreichen. Der Kulturkampf in Preußen wurde ab 1878 zurückgefahren, denn der „Vernichtungskampf “ Bismarcks gegen die Sozialdemokratie trat an seine Stelle; der Kanzler benötigte die Stimmen der Zentrumspartei für seine zollpolitische Wende und ein neuer Papst war kompromißbereit. Milderungsgesetze 1880–83 und zwei Friedensgesetze 1886/87 markierten legislatorische Wendepunkte. Katholische Laien erlebten danach das Kaiserreich nicht mehr als Feind. Ab den 1890er Jahren konnten katholische Orden gleichberechtigt an der „Heidenmission“ in den Kolonien teilnehmen. Freilich gab es weiter Phasen der Ausgrenzung, 329 Margaret L. Anderson, Afterword: Living Apart and Together in Germany, in: H. W. Smith (Hg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800–1914, Oxford/New York 2001, S. 319–332; Wilfried Loth, Der Katholizismus und die Durchsetzung der modernen Demokratie, in: M. Raasch/T. Hirschmüller (Hg.), Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis, Berlin 2013, S. 737–751, akzentuiert transepochal die Entwicklung 1815–1960 positiv. Bjork, Religion, S. 246, 257 f.

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etwa anläßlich der maßgeblich gegen das Zentrum angesetzten Reichstagswahl 1906/07, als Agitationsvereine die „nationale Zuverlässigkeit“ von Katholiken erneut bezweifelten. Stetig Friktionen entstanden bei den Bischofswahlen. Hier konnte Preußens Regierung die Kandidaten der Domkapitel mit dem Verdikt „unerwünscht“ (minus grata) ausschließen und tat dies bei bis zu 50 % der Kandidaten von Domkapiteln in den zwölf Diözesen des Landes sowie Straßburg und Metz. Bekannt sind Konflikte bei Bischofswahlen im Westen (Münster 1889, Paderborn 1891, Köln 1899, Limburg 1913). Nationalpolitisch aufgeladene Sedisvakanzen gab es im Osten (Posen-Gnesen 1906–1914), wo polnische Oberhirten verhindert werden sollten, und im Reichsland in Straßburg (1890/91) und Metz (1899–1901). Der politisch konservative Fuldaer Bischof bzw. Breslauer Fürstbischof Georg (Kardinal v.) Kopp agierte ab 1886 als Mittelsmann zwischen Kirche und Staat. Ins Amt kamen am Ende Kandidaten, die den Staatsbehörden (Oberpräsident und Kultusminister) als kooperativ galten. Daß einige so ausgewählte Bischöfe entgegen ihrer falschen Einschätzung durch Staatsbeamte später Eigenständigkeit gegenüber dem Staat Preußen zeigten, stellte die ironische Seite des behördlichen Selektionsprozesses dar. Ferner beobachteten Staatsstellen den katholischen Klerus aufmerksam und förderten staatstreue Männer, z. B. durch Lancierung in staatlich besoldete Ämter (Militärpfarrer, Schulräte oder Gymnasiallehrer), Positionen, aus denen man leichter auf eine Dompropststelle einrücken konnte. Die Konflikte um die Besetzung kirchlicher Führungspositionen sind als Fortführung des Kulturkampfes mit weniger rigiden Mitteln gedeutet worden. Selbst wenn man dies für zu weitgehend erachtet: Zeitgenössische behördliche Einschätzungen gehen dahin, daß eine völlige Integration von Klerus und Kirchenvolk in die protestantische Monarchie Preußen bis 1914 nicht gelang.330 Parallel zum Kulturkampf erlebte auch die Kirche der Union eine neue Rahmensetzung. Die kulturkämpfenden Liberalen erreichten kompensatorisch etwas mehr Teilhabe der Basis in der Unionskirche. Unter Kultusminister Adalbert Falk wurde 1873 eine neue Kirchengemeinde- und Synodalordnung erlassen und die 1875 tagende erste Generalsynode Altpreußens billigte sie. Den drei neuen Westprovinzen hatte man 1867 eigene Landeskirchen belassen; sie waren ähnlich verfasst. Bismarck erhoffte sich von nominell 50 % Laienbeteiligung im Kirchenparlament mehr religiöse Bindung in der Bevölkerung und weniger kirchliche 330 Zu den politischen Phasen nach 1890 detailliert Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984. Vgl. zuletzt A. Linsenmann/M. Raasch (Hg.), Die Zentrumspartei im Kaiserreich. Bilanz und Perspektiven, Münster 2015 und Michael Hirschfeld, Die Bischofswahlen im Deutschen Reich 1887 bis 1914. Ein Konfliktfeld zwischen Staat und katholischer Kirche vom Ende des Kulturkampfes bis zum Ersten Weltkrieg, Münster 2012, S. 810–833.

358  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Einmischung in der Welt – eine Variation seines Mantras, lange Röcke hätten in der Politik nichts zu suchen. Aufgrund der Entfremdung breiter Schichten von der Unionskirche und geringer Wahlbeteiligung erbrachten die stufenweisen Wahlen (Kreis, Provinz) jedoch nach 1875 kirchlich wie politisch (hoch-)konservative Mehrheiten in der Generalsynode. Die „Konfessionellen“ (Lutheraner) stellten ein Viertel, die Anhänger der „Positiven Union“ die Mehrheit, die nationalliberale „Landeskirchliche evangelische Vereinigung“ (sog. „Mittelpartei“) etwa 20 % der Synodalen, so daß für den linksliberalen „Protestantenverein“ nur wenige Sitze übrigblieben.331 Zwecks Gewinnung der Mittel- und Unterschichten und gegen offenkundige soziale Mißstände der Hochindustrialisierung entwickelten sich ab 1878 zwei divergente sozialprotestantische Bewegungen. Unter dem Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker entstand in Fortführung der Inneren Mission eine „Christlich-soziale Arbeiter-Partei“, die caritative Basisarbeit mit dem Programm des monarchischen Christlichen Staates sowie antikapitalistischen und zunehmend antisemitischen Tönen verband. Sie erreichte weniger städtische Industriearbeiter als ökonomisch bedrängte Handwerker oder Kleinhändler und grub der Sozialdemokratie keineswegs das Wasser ab, aber verbreitete den Antisemitismus noch stärker in den Reihen der Konservativen. Im Zuge der staatlichen sozialpolitischen Initiativen wurde 1890 der „Evangelisch-soziale Kongreß“ gegründet, ein eher elitäres Forum für Theologen wie Adolf v. Harnack und Fachwissenschaftler zur Untersuchung der sozialen Zustände und Abgabe von Lösungs-Empfehlungen dazu (1913: 1950 Mitglieder). Er veranstaltete Enquêten, gab Publikationen heraus und wirkte über die Beziehungen zur Bürokratie auf die staatliche Sozialpolitik ein. Ein anfänglicher Mitarbeiter Stoeckers, der Pastor Friedrich Naumann, wortmächtiger Redner und mit Theologieprofessoren wie Ernst Troeltsch und Martin Rade vernetzt, versuchte praktisches evangelisches Christentum, Nation und Monarchie auf neue Weise zu verbinden. Sein 1896 gegründeter „Nationalsozialer Verein“ sollte auf „nationalem Boden“ durchgreifende Sozialreform (in Naumanns Diktion: Sozialismus) bewirken, die Arbeiterschaft in den monarchischen Staat integrieren und damit weltwirtschaftliches Ausgreifen unterfüttern. Als bei den Reichstagswahlen 1903 gerade 30.000 Stimmen auf Nationalsoziale entfielen, löste sich der Verein auf; viele Anhänger traten der linksliberalen Freisinnigen Vereinigung, 1910 der Fortschrittlichen Volkspartei bei. Einige nationalsoziale Köpfe wechselten zur SPD über. Naumann wurde zum Kritiker des Wilhelminismus und erklärte Preußen zum Hort der Reaktion, dessen rückständige Institutionen unreformierbar seien und bloß der marxistischen Sozialdemokratie nützen. Andere Nationalso331 Thadden, Kirchen, S. 603 f. Thadden stützt sich vor allem auf diverse Beiträge des Grundlagenwerks Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2 und, auch für das Folgende, auf Klaus Erich Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, Berlin 1973.

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ziale schwenkten zu rechten christlich-sozialen Gruppierungen zurück, traten 1917/18 in der nationalistischen Vaterlandspartei hervor und landeten um 1933 bei der NSDAP. Indes unterschied sich Naumanns Ansatz in zentralen Punkten wie Rassismus, Vernichtungskampf gegen die Linke und Gewalttätigkeit so klar vom Nationalsozialismus, daß keine gerade Linie von seinem Sozialprotestantismus dorthin zu ziehen ist. Der nicht unbeachtliche Sozialprotestantismus – 1914 zählten evangelische Arbeitervereine rd. 170.000 Mitglieder – litt wie das Gros der Unionskirche jahrzehntelang unter seiner (zu engen) Orientierung auf die preußische Monarchie und konnte keine staatsferne emanzipatorische Bewegung formieren, was seine Überzeugungskraft in der Zielgruppe schwächte. Die Spitzen der Unionskirche, Oberkirchenrat und Generalsynode, wandten sich 1895/97 sogar explizit gegen jede „Einmischung“ in nichtgeistliche öffentliche Angelegenheiten und proklamierten, die Landeskirche sei nicht zur „Schiedsrichterin in weltlichen Sachen“, schon gar nicht zur Intervention bei der Sozialpolitik berufen. Die Amtskirche isolierte sich selbst von sozialen Problemen im Gemeindevolk. In den frühen 1870er Jahren gab es in Berlin nur 66 % Taufen bei evangelischen Eltern, nur ein Viertel ließen sich kirchlich trauen und an normalen Sonntagen gingen wenige Prozent zum Gottesdienst. In den Folgejahrzehnten nahmen Trauung, Taufe und Konfirmation jedoch wieder auf 90 % zu und der sonntägliche Kirchgang erreichte 15 %–20 % in Städten, 20 %–40 % auf dem Lande, aber die Unionskirche blieb in den Augen vieler Zeitgenossen ein Institut für die Geistlichen und die Beamten aller Kategorien. Wilhelm II. trug dazu bei, indem er die Einweihung prominenter Kirchenbauten zu militärisch garnierten Inszenierungen seines Gottesgnadentums und Summusepiskopats gestalten ließ. Zentral ausgeübte, dogmatische „Kirchenzucht“ wie im Katholizismus war wegen der landeskirchlichen Organisation und divergenter professoraler Theologie(n) gemeindlich nicht strikt durchsetzbar. Ein Gutteil der Protestanten ergänzten nun Thron und Altar um die Nation zu einer Trias und propagierten diese militant gegen Sozialdemokratie, Katholizismus und liberalen Protestantismus. Im „Evangelischen Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen“ von 1886 gewann er bis 1911 470.000 Mitglieder. Für diesen Nationalprotestantismus und unter den meisten Vertretern der kirchlichen Mehrheitsparteien „Konfessionelle“ bw. „Positive Union“ galt unbestritten, daß die eigentliche deutsche Nation ausschließlich aus Protestanten bestand – ohne Katholiken, Polen und Juden – und der Staat Preußen die Schutzmacht dieser Nation bildete. Hier verband sich preußische staatskirch­ liche und obrigkeitsorientierte Tradition mit neuem, ausgrenzendem Nationalismus zu einer unheilvollen Mischung.332 332 Zum Sozialprotestantismus vgl. Friedrich, Kirche, S. 259–268 und Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 30–38. Das Zitat des Oberkirchenrats nach Thadden, Kirchen, S.  610 und Rathgeber, Kirchenpolitik, S.  338, die Berliner Zahlen ebd., S. 337 bzw. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1178 f. Zu Nau-

360  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft Parallel entwickelte sich unter Theologen und in einigen bildungsbürgerlichen Kreisen eine rationalistische Strömung, die das Christentum jenseits von Dogmen als historisch gewachsen verstand, und für moralisches Handeln Gottvertrauen und Jesus als Vorbild zur Nacheiferung empfahl. Hauptfigur war hier Adolf (v.) Harnack, Berliner Professor, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Gründungspräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Orthodoxe Lutheraner nannten diese Strömung, die rationalistisch gedeuteten Glauben mit Hochschätzung klassischer deutscher Kultur, moderner Wissenschaft und tagespolitischen Sozialreformbemühungen verband, abschätzig Kulturprotestantismus. Er blieb immer ein Elitenphänomen, aber seine intellektuellen Vertreter wie Harnack, Ernst Troeltsch oder auch Naumann wirkten mehrfach als Ferment oder Katalysatoren bei Reformansätzen in Gesellschaft und Politik vom späten Kaiserreich bis in die frühe Weimarer Republik.333 An der Basis wesentlich erfolgreicher war der Sozialkatholizismus seit Adolf Kolpings Gesellenvereinen ab 1846 und Bischof v. Kettelers Unterstützung für Arbeiterforderungen in den 1860er Jahren. Der westfälische Zentrumsabgeordnete v. Galen stellte bereits 1877 im Reichstag den Antrag auf Arbeiterschutzgesetze, zahlreiche katholische Arbeitervereine unter Führung von Priestern entstanden. Nach 1900 präsentierten sich die laiengeführten Christlichen Gewerkschaften als moderne Interessenverbände der Arbeiter mit demokratischer Binnenstruktur, sachlicher Kritik an repressiver Unternehmerpolitik, teils sogar bereit zum Arbeitskampf im Verein mit freien Gewerkschaften. Mit 464.000 Mitgliedern, davon 14 % Frauen, primär in Preußens Westprovinzen erfaßten sie rd. ein Drittel der katholischen Industriearbeiter. Gewerkschaft und konfessionelle Vereine trugen wesentlich dazu bei, daß Berg- und Hüttenarbeiter in Wahlkreisen des Ruhrgebiets (z. B. Essen, Düsseldorf, Recklinghausen) mehrheitlich Zentrum, nicht SPD wählten. Die Christlichen Gewerkschaften versuchen sogar – gegen Widerstand einflußreicher Bischöfe im sog. Gewerkschaftsstreit zwischen Mönchen-Gladbacher und Berlin-ostelbischer Richtung – interkonfessionell zu sein. Den Optionen für konfessionsübergreifende bzw. exklusiv katholische Organisation lag der strukturelle Unterschied zwischen industrialisierten, dominant katholischen Gebieten in westlichen und mehr ländlichen Regionen mit katholischer Diaspora im östlichen Preußen zugrunde. Hier wirkte sich Preußens Struktur auf die katholische Arbeiterbewegung aus. Die Gegebenheiten in Preußens Osten behinderten auch das Wachstum der katholischen Interessenorganisationen von Unmann vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Naumann (mit Literaturnachweisen). Das protestantische Nationsbild bei Zalar, Political Catholicism, S. 170 f. 333 Zum Kulturprotestantismus vgl. Friedrich, Kirche, S.  211  ff. und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd.  3, S.  1180  f. sowie Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930, Tübingen 2004, S. 189 ff., 331 ff., zu Harnacks Verhältnis zum Katholizismus S. 313 ff.

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ter- und Mittelschicht. Zentrale Faktoren bildeten dabei die schmale Basis katholischer Regionen (Ermland, Westpreußen, Oberschlesien) und die viel geringere Industrialisierung im Osten, die zunehmende Verknüpfung mit der dominanten nationalpolnischen Frage und die aus der Minderheitenposition resultierende Zurückhaltung von Klerus wie Bevölkerung. Im Osten geborene katholische Aktivisten wie der Maschinenschlosser Johannes Gronowski gingen frühzeitig in den Westen und wirkten dort als Arbeiter- oder Parteisekretäre. Mit etwas Verspätung gab es 1906 in der Diözese Ermland aber beachtliche 63 Arbeitervereine mit 8632 Mitgliedern und zudem andere Vereine des katholischen Spektrums. Speziell die kleinbürgerlichen Schichten erfaßte der 1890 in Mönchen-Gladbach gegründete Volksverein für das katholische Deutschland mit 800.000 Mitgliedern (1914) und zahlreichen Bildungsaktivitäten; der Verein war u. a. der größte Verleih deutschsprachiger Filme. Für soziale Belange entstand 1897 der Deutsche Caritasverband, bis heute einer der großen Wohlfahrtsverbände. Der Erfolg des katholischen Vereins- und Verbandswesens aller Sparten kann nur mit dem der SPD und ihres Vereinskosmos‘ verglichen werden. Freilich blieben die Katholiken weitestgehend unter sich, in Frontstellung gegen Protestantismus, Liberalismus und Sozialdemokratie. Gerade unter den auf Preußen orientierten Spitzen der kirchlichen Hierarchie dominierte eine sozialkonservative Haltung, obschon seit der päpstlichen Enzyklika Rerum Novarum 1891 Gerechtigkeit gegenüber Arbeitern bzw. Sozialpolitik gefordert, freilich der Streik abgelehnt wurde und von gottgewollter Harmonie zwischen den besitzenden und den besitzlosen Klassen die Rede war.334 Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kulminierte der nationale Impetus in beiden Konfessionen. Beide glaubten an den Verteidigungsfall; Kriegsdienstverweigerung gab es unter Protestanten genau so wenig wie unter Katholiken. Die Kriegspredigten von Theologen wie Paul Althaus sprachen vom „heiligen Krieg“ und vom Krieg als Gottesdienst; der streng royalistische Berliner Pfarrer Otto Dibelius hielt noch 1918 die Erringung des Siegfriedens für eine „Forderung des Christentums“; der Oberkirchenrat betonte in der Tradition des preußischen Machtstaats Untertanentreue und protestantische Superiorität. Auf katholischer Seite war von Bewährungsprobe und reinigendem Opfer die Rede, auch vom Kampf gegen die „gottesfeindliche Staatsidee aus Frankreich“. Mit der Einreihung in die „nationale Front“ erhofften Katholiken, ähnlich wie Sozialdemokraten, ein Ende aller Dis334 Matull, Ostdeutschlands Arbeiterbewegung, bietet verstreut Informationen zu katholischen Organisationen. Werner Thimm, Die katholische Arbeiterbewegung in den Bistümern Ermland, Kulm und Danzig, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 40 (1980), S. 20–62, S. 37 (Zahlen 1906). Detlef Grothmann, Johannes Gronowski, in: Westfälische Lebensbilder 17 (2005), S. 7–21. Zum Sozialkatholizismus vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1183–1189 und Friedrich, Kirche, S. 269–277.

362  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft kriminierung. Die Amtskirche reagierte mit einer Verteidigungsschrift, als ihr die französischen Glaubensbrüder 1915 die Verletzung der belgischen Neutralität und deutsche Kriegsverbrechen vorhielten. Noch 1917 gelobte ein Hirtenbrief aller deutschen Bischöfe die Verteidigung von Thron und Altar „gegen äußere und innere Feinde, gegen Mächte des Umsturzes.“ Die nationalistische Radikalisierung des Protestantismus, worin im Kriegsverlauf nur manche liberale Kulturprotestanten einen Verständigungsfrieden erstrebten, kontrastierte merklich mit dem (west- und süddeutschen) sozialkatholischen Flügel des Zentrums, wo ab 1917 innere Reformen beispielsweise beim preußischen Dreiklassenwahlrecht gefordert und auch durch päpstliche Vermittlung ein Frieden ohne Annexionen sondiert wurde. Der badische Volksschullehrer und Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger personifizierte diese späte Reform- und Demokratisierungsbereitschaft in zentrumskatholischen Kreisen.335 Im Zwiespalt, ja in der Ablehnung gegenüber der revolutionär geborenen Republik befand sich insbesondere die preußische Unionskirche wie auch andere Landeskirchen. Sie hatte ihren Summus Episcopus verloren und drohte mit der Trennung von Kirche und Staat unter sozialistischem Vorzeichen ihre hundertjährige privilegierte Stellung im Staat zu verlieren. Brüsk propagierte 1919 die SPD/ USPD-Regierung von Preußen (aber auch die Dresdener, Bremer und Hamburger Kabinette) den Stopp der beträchtlichen Staatszuschüsse, ein Ende für die Konfessionsschule und den Religionsunterricht sowie die Demokratisierung der Kirchenverfassung. Nur einer kleinen Minderheit des Protestantismus schien das Fortschreiten in Richtung Volks- und Laienkirche eine gute Option. Als der Pastor Martin Rade zur Bildung von gemeindlichen Volkskirchenräten und Zusammenschluß mit Freikirchen anstelle der bisherigen Pastoren- und Konsistorialkirche aufrief, verurteilten dies Oberkirchenrat und der Berliner Pfarrer Otto Dibelius scharf: Eine Volkskirche gehe nicht an, Neugründungen drohten den Verlust des Kirchenvermögens an den Staat zu bewirken. Der als Staatssekretär im Kultusministerium für Demokratisierung, aber gegen einen antikirchlichen Kampfkurs tätige Theologe Ernst Troeltsch stellte bereits Mitte 1919 mit Sorge fest, daß die Unionskirche „zur konservativen Gegenburg gegen den Staat der Revolution“ zu werden drohe. Dies erwies sich in den Folgejahren als richtige Prophezeiung. Etwa 80 % der Pastoren der Unionskirche hielten sich politisch zu den Rechtsparteien DNVP und DVP. Bei den Kirchengemeindewahlen 1921 beteiligten sich gerade 1,3 Mio. von 18,8 Mio. nominellen Protestanten, schwache 7 %, denn Linke, Großstädter und Unterschichten blieben den Wahlen fern. War in der Monarchie Staatstreue von oben angeordnet und kirchenorganisatorisch 335 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 23–26 (Zitate), die Literatur zu den Konfessionen im Weltkrieg Ebd., S. 1004 f.; Thadden, Kirchen, S. 623 (katholische Verteidigungsschrift). Zu Erzberger vgl. Christopher Dowe, Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011, S. 89 ff.

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sichergestellt, so konnte nun angesichts der Kirchenferne weiter Kreise die mehrheitlich rechtsorientierte Basis durchdringen. Daraus resultierte eine satte zwei Drittel-Mehrheit für die Einheitsliste von Konfessionellen, Positiver Union und rechten Bekenntnislisten. Von 190 Mandaten (darunter ganze 8 Frauen) errangen die kirchlichen Liberalen nur 19, die liberalkonservative Mittelpartei 36. In der Generalsynode von 1925 besaß die Rechte noch 62 % der Sitze, die liberalen Freunde der freien Volkskirche bloß 9 %. Die neue Kirchenverfassung 1922/24 folgte alten Bahnen: Stufenwahlsystem, Beibehaltung von Oberkirchenrat, Konsistorien und Generalsuperintendenten, konfessionelle Bekenntnisformel. Das landesherrliche Kirchenregiment sollte ein Kirchensenat mit Mitgliedern des Oberkirchenrats, Generalsuperintendenten und Synodalen ausüben. Vorsitzender wurde der Präses der Generalsynode Friedrich Winckler, Rittmeister und Landrat a. D., Rittergutsbesitzer und bezeichnenderweise zugleich DNPV-Fraktionsvorsitzender im Landtag. Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union besaß im 1921 von den Landeskirchen etablierten Evangelischen Kirchenbund Deutschlands die Führungsrolle, denn sie umfaßte nominell 19 Mio. und die Landeskirchen der Westprovinzen weitere fünf Mio. Protestanten, die übrigen lutherischen Landeskirchen 16 Mio. nominelle Mitglieder. Beim Kirchentag 1921 bestritt der geistliche Vizepräsident des Berliner Oberkirchenrats, Julius Kaftan, dem angeblich religionslosen Weimarer Staat die gleiche Legitimität wie der früheren Monarchie, es fehle das sittliche Fundament. Alle Nachkriegsübel wurden der Republik angelastet und Pastoren predigten gegen die neue Staatsform. Erzberger galt als „Reichsverderber“, Hindenburg als Held und die Abgrenzung gegen den Katholizismus blieb konstitutiv. Die Generalsynode debattierte über die Abwehr von Simultanschulen, die Austrittswelle und die kirchliche Entfremdung speziell unter Industriearbeitern sowie die Vitalisierung protestantischer Vereine im Vergleich zu den gesellschaftlich tätigeren katholischen. Man klagte, aber ging weder wirkliche Ursachenanalyse noch realistische Lösungswege an.336 In den mittleren Jahren von Republik und Freistaat Preußen verbesserte sich das Verhältnis von Oberkirchenrat und Regierung etwas, zumal gerade Kultusminister C. H. Becker und die mitregierende Zentrumspartei seit 1926 ein Konkordat mit den preußischen Landeskirchen anstrebten. Erst der neue Kultusminister ab 1930, Adolf Grimme, der aus der in süddeutschen Synoden repräsentierten, 336 Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20.  Jahrhundert, S.  1–7; Thadden, Kirchen, S.  626–654, Zitat Troeltsch S.  633, Zitat Kaftan S.  637. Die Wahlbeteiligung nach Rathgeber, Kirchenpolitik S.  348, die Zahlen der Landeskirchen nach Büttner, Weimar, S.  271. Kritisches Grundlagenwerk: Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illlusionen 1918–1934, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1988. Zu Grundproblemen und Entwicklungen der Jahre 1918–1933 zuletzt Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 41–125.

364  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft pazifistisch-volkskirchlichen Gruppe von 5.000 „Religiösen Sozialisten“ stammte, schloß es 1931. Darin wurden den Landeskirchen ihr Eigentum garantiert, höhere Staatszuschüsse z. B. für Gehälter oder Kirchenunterhalt zugesichert und ihr Status als Körperschaften mit Selbstverwaltungsrecht festgeschrieben. Nur bei der Besetzung leitender Positionen der Kirchenleitung konnte die Regierung noch Einspruch wegen staatspolitischer Bedenken (sprich: RechtsextremismusVerdacht) erheben. Es schien, als ob die protestantischen Kirchen Frieden mit der Republik geschlossen hätten. Aber an der Basis, zumal im östlichen Preußen, gärte es – mit erkennbarem Rechtsdrall. In der Theologie der Zeit konkurrierten mehrere divergente Richtungen. Drei seien genannt. Der von Minister C. H. Becker an die Frankfurter Universität berufene Paul Tillich, den religiösen Sozialisten nahestehend, wollte den ewigen Sinn der Zeit durchaus auf der Basis von Bibel und Christus suchen, freilich unter Beachtung ihrer historischen Deutung, fand aber göttliches Ja und Nein auch in den kulturellen Phänomenen inkorporiert. Er verstand sich als Vermittlungstheologe zwischen schriftgläubiger orthodoxer und historisch-kritischer liberaler Theologe, trat 1932 gegen den Nationalsozialismus auf und erhielt 1933 Lehrverbot. Der in Münster lehrende Paul Barth hielt sich eng an die Glaubensinhalte der Bibel und besonders die Person Christus (Christologie). Gottes Wort müsse in Predigten verkündet werden. Damit wies er zwar einerseits die frühere etablierte Staatskirche zurück, propagierte aber andererseits die Weltabgeschiedenheit der Kirche. Bei der Barmer Synode der Bekennenden Kirche 1934 verurteilte Barth die NS-Eingriffe in Lehre und Organisationen. Drittens gab es eine national­ christliche Luther-Renaissance und die Betonung von Kirche als Gemeinschaft. Von da gelangten jüngere Theologen wie Paul Althaus zur Betonung des christlichen Staates und des Volks als Gemeinschaft unter starkem Führertum anstelle undeutschen Wahlrechts. Althaus deutete den Begriff Volkskirche schon beim Königsberger Kirchentag 1927 in Richtung deutsches Volkstum um. Im Satz des neurechten Publizisten Wilhelm Stapel von 1922, das „deutsche Volk ist nicht eine Idee von Menschen, sondern eine Idee Gottes“ wurde die Verknüpfung von völkischen Ideen mit vermeintlicher göttlicher Fügung faßbar.337 Das Beharren auf „positivem Christentum“ und die Ablehnung der republikanischen Trennung von Staat und Kirche fußten auf der Kirchengeschichte Preußens; der Wechsel im Leitbegriff von Staat zu Volk und die nationalistisch imaginierte Volkskirche stellten die neuen Akzente dar. Diese Kombination fand Anfang 1932 ihren Ausdruck in den von Pastoren formierten „Deutschen Christen“. Sie propagierten bald „artgemäßen Christus-Glauben“ – die Nähe zum Nationalsozialismus, in dessen Parteiprogramm (Artikel 24) etwas von „positivem Christentum“, aber auch von „germanischer Rasse“ stand, war unverkennbar. 337 Die theologischen Richtungen nach Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, S. 14–20 und Büttner, Weimar, S. 274 f., dort auch die Zitate.

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Ende 1932 errangen die „Deutschen Christen“ bei den Kirchengemeinde- und Synodalwahlen der altpreußischen Union etwa ein Drittel aller Sitze, im Westen 20 %, im Osten bis 50 %. Bei neuerlichen Gemeindekirchenwahlen im Juli 1933 stimmten zwei Drittel für diese Richtung – Beleg von nationaler Euphorie und dem Wunsch nach Rückgewinnung verlorener kirchlicher Bedeutung in der Gesellschaft, auch von völkischer Überzeugung. Die Verblendung unter vielen Pastoren und Gemeindemitgliedern illustriert die Predigt des kurmärkischen Generalsuperintendenten Otto Dibelius am „Tag von Potsdam“, wo er den Sieg positiven Christentums über Gottlosigkeit und Linke feierte. Der zunächst deutschnationale, aber schon Mitte 1933 mit dem Pfarrernotbund (2000 Pastoren) gegen das Regime auftretende Martin Niemöller – nach 1945 als Exponent des kritischen Protestantismus bekannt – formulierte später die berühmten Sätze: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Sucht man ein Beispiel für unheilvolle Nachwirkungen preußischer Prägungen beim Übergang zum Nationalsozialismus – bei den protestantischen Kirchen ist es zu finden. Gegen die 1933 nationalsozialistisch verordnete Gleichschaltung der Kirche, darunter auch die Ablösung von Otto Dibelius, die Auflösung des Oberkirchenrats und die Besetzung von Kirchenposten mit Parteigenosssen sowie – ein Novum seit der Reformation – die Einsetzung des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller, formierten sich mühsam die Bekennende Kirche und synodale Brüderräte. Bei mehreren, ohne die Bedenken tragenden süddeutschen und die hannoversche Landeskirchen ab 1934 in Barmen bzw. Berlin tagenden „Preußen-Synoden“ wurden völkisch-antisemitische Weltanschauung und der Totalitätsanspruch des Regimes verurteilt. 1500 Geistliche verlasen 1935 ein diesbezügliches Kanzelwort in den Gemeinden; 715 Pfarrer wurden vorübergehend verhaftet. Sie bleiben eine Minderheit von vielleicht einem Drittel, aber setzten Zeichen. Der protestantische Kirchenkampf der NS-Zeit übersteigt den hier gesetzten Rahmen. Festzuhalten ist jedoch, daß die Bekennende Kirche, an der Basis weithin von mutigen Frauen getragen, gerade in der altpreußischen Unionskirche sowie in den Westprovinzen sehr deutlich auftrat, während die Resonanz in Mitteldeutschland, Hannover, Bayern und Württemberg (viel) geringer blieb. Beide christlichen Kirchen traten der Verfolgung der Juden und den Massenmorden kaum je autoritativ entgegen; ängstliche Zurückhaltung und stille Ablehnung, gelegentliche Verweigerung und Hilfe für einzelne Verfolgte traten vielfach zutage. Nur wenige Protestanten (Kreisauer Kreis, Dietrich Bonhoeffer) fanden den Weg in den aktiven Widerstand. An die Bekennende Kirche und den Widerstand knüpfte die evangelische Kirche nach 1945 sukzessive an und ließ Staatshörigkeit, Obrigkeitsorientierung

366  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft und deutschnationale Verengung sowie die soziale Exklusivität im Führungspersonal hinter sich.338 Den Katholizismus in Preußen berührte die Staatsumwälzung 1918/19 organisatorisch und mental weniger, allerdings doch merklich in anfangs bedrohlich wirkenden Sachfragen wie der Konfessionsschule. Kirchliche Dogmatik und Hierarchie bestanden unverändert fort. Weimarer und Preußische Verfassung gewährten der römischen Kirche die gleichen Rechte wie den protestantischen und hoben alle Beschränkungen, z. B. für Orden, auf. Der äußere Druck fiel weg, aber daraus erwuchsen neue innere Differenzierungen und Friktionen. Der Bevölkerungsanteil der Katholiken war von 37 % auf 32 % zurückgegangen, bei Reichstagswahlen erhielten Zentrum und Bayerische Volkspartei 15 %–17 %, also etwa die Hälfte ihres Potentials, denn die innere Kirchen- und Parteibindung katholischer Männer nahm trotz Gottesdienstbesuch und Kommunion erkennbar ab. Demgegenüber entstanden unmittelbar in Kirchengemeinden oder Diözesen neue Gruppen inklusive Sportvereinen, so daß von einer Verkirchlichung katholischer Vereine gesprochen wird. Neue konfessionelle Organisationen florierten: Im Stil der bündischen Jugend versuchte die Jugendbewegung Quickborn, katholische Liturgie und die zeitgenössisch weitverbreitete Suche nach Gemeinschaftserlebnis zu verknüpfen; der Katholische Jungmännerbund zählte fast 400.000 Mitglieder, der Zentralverband der Jungfrauenvereine gar 780.000 und der Zentralverband der Frauen- und Müttergemeinschaften umfaßte rd. 900.000 Personen. Der katholische Akademikerverband zur Pflege der katholischen Weltanschauung schwoll auf 16.000 Mitglieder an. Acht Katholikentage fanden auf preußischem Gebiet statt und das letzte freie Treffen in Essen 1932 zählte 250.000 Teilnehmer. 600 katholische Zeitungen sowie Zehntausende von Weltpriestern, Ordensgeistlichen und Nonnen markierten den Höchststand aller Zeiten im Freistaat Preußen wie in der Republik. Die Epoche darf deshalb als (zweite) Blütezeit katholischer Organisationen gelten. Politisch bildete das Zentrum 1919–32 die dauernde Regierungspartei im Reich – sie stellte vier Kanzler (Konstantin Fehrenbach, Joseph Wirth, Wilhelm Marx, Heinrich Brüning) mit knapp acht Amtsjahren – und gleichzeitig die zweitgrößte Koalitionspartei in Preußen. Im Sinne der jahrzehntelang geforder-

338 Zu den protestantischen Kirchen ab 1933 vgl. Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, S. 22–29, Thadden, Kirchen, S. 654 ff. Thadden stellt die Abläufe, Preußen-Synoden und den Kirchenkampf in Preußen ausführlich dar und zieht auch die Linie von der Bekennenden Kirche zum bundesrepublikanischen Protestantismus. Thomas Brechenmacher, Zwischen Nikolai- und Garnisonkirche. Die Festpredigt des Generalsuperintendenten Otto Dibelius in der Potsdamer Nikolaikirche, in: Kopke/Treß (Hg.), Der Tag von Potsdam, S. 87–99. Das Niemöller-Zitat online: www. martin-niemoeller-stiftung.de/4/zumnachlesen/a100.

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ten Parität sorgte sie energisch dafür, daß ihre Anhänger nun adäquat Ämter und Posten im Staat erhielten, teils sogar überproportional zur Mandatsstärke.339 Wichtigen Ertrag der Regierungsbeteiligung in Preußen stellte das Konkordat von 1929 dar. Danach konnten neue Bistümer (Berlin und Aachen) errichtet werden und die Staatszuschüsse an die Amtskirche sowie die katholischen Universitätsfakultäten blieben garantiert, denn eigene Einnahmen oder Kirchensteuern reichten schon damals nicht für den Betrieb der kirchlichen Einrichtungen aus. Das Bischofswahlrecht der Domkapitel blieb erhalten; jedoch gab eine Klausel der Regierung ein Einspruchsrecht gegen unerwünschte Kandidaten. Ausgeklammert mußte die Frage der obligatorischen Konfessionsschule bleiben, denn diese lehnte die SPD vehement ab, so daß analog zum Weimarer Schulkompromiß von 1920 den Eltern die Schulwahl zukam, sofern überhaupt in kleineren Orten Schulen zur Wahl standen. Im organisierten Katholizismus und seiner Partei ließen sich zwei Flügel ausmachen: Der sozialpolitisch engagierte, uneingeschränkt republikanische, der in Preußen an der Koalition mit der SPD bis 1932 festhielt und in Preußens Westen, zudem auch in Baden oder Hessen, verankert war, und die auf die Dogmatik fixierte, nicht überzeugt republikanische Richtung, die Koalitionen mit der DNVP bevorzugte, gerade im höheren Klerus und ländlichen Regionen wie Niederschlesien, dem Münsterland oder Teilen Bayern-Frankens dominant. Zwischen beiden stand eine Parteimitte und die drei Gruppen überwölbte der konfessionelle Faktor. In vielen Fragen fand man letztlich Kompromisse, um die Parteieinheit zu wahren, 1928 etwa durch die Wahl eines Priesters, des Prälaten Ludwig Kaas, zum Parteivorsitzenden. Katholiken, die die Traditionen Preußens besonders hochschätzten, landeten im Dunstkreis der DNVP und 1933 bei der NSDAP; der Historiker Martin Spahn, Franz v. Papen oder der Jurist Carl Schmitt sind bekannte Beispiele dafür. Zur DNVP hielten sich bei Wahlen aber nur ca. 10 % sog. Rechtskatholiken. Das Spektrum des Zentrums umfaßte am linken Rand den kleinen sozialkatholisch-pazifistischen „Friedensbund deutscher Katholiken“, der Ausgleich mit Frankreich und Belgien erstrebte, ja an die föderale Auflösung Preußens und europäische Einigung dachte. Am rechten Rand entstand ab 1928, vom Vatikan unterstützt, die „Katholische Aktion“ zur kämpferischen Propagierung katholischer Glaubensgrundsätze gegen „sittenloses Großstadtleben“ sowie „Schmutz und Schund“. Dessen Berliner Leiter Erich Klausener, Ministerialdirektor im preußischen Innenressort, hieß 1932 die autoritäre Papen-, 1933 sogar

339 Zum Weimarer Katholizismus vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 445–450 und Büttner, Weimar, S. 276–282, dort auch die Mitgliedszahlen. Zur Partei abwägend Jürgen Elvert, Gesellschaftlicher Mikrokosmos oder Mehrheitsbeschaffer im Reichstag. Das Zentrum 1918–1933, in: M. Gehler u. a. (Hg.), Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien a. u. 2001, S. 160–180.

368  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft die Hitler-Regierung gut, so daß er, wiewohl bei den Mordaktionen des 30.6.1934 selbst Opfer, heute kein Vorbild für christlich-demokratische Politik sein kann.340 Auch in der Lebenswelt der Katholiken ging die Ausdifferenzierung weiter. Schon für das Kaiserreich identifizierte Wilfried Loth vier durchaus widerstreitende Milieus: Adel und Klerus, traditioneller Mittelstand, Bürgertum, Arbeiterschaft. In den 1920er Jahren vertieften sich die Spannungs- und Bruchlinien. Es gab gegen den Klerus eingestellte katholische Bauern und Bürger gerade in konfessionellen Hochburgen, dogmatische Lehrsätze ablehnende liberalkatholische Bildungsbürger, katholische Facharbeiter mit Wahlpräferenz SPD (ca. 35 % dieser Sozialgruppe) und interkonfessionellen Schulterschluß suchende Gewerkschafter. Das von dem Soziologen M. R. Lepsius 1966 identifizierte katholische Milieu entstand nicht als automatisches Produkt eines Landstrichs mit hohem Katholikenanteil. Moderne Studien dazu bilden deshalb methodisch avancierte Beispiele für regionale soziokulturelle Vergesellschaftung aufgrund einer Vielzahl von Faktoren: Klassen- und Wirtschaftsstruktur in der Industrialisierung, Stadt – Land Differenz, Kerngebiet oder Diaspora, jeweilige verfassungspolitische Rahmensetzung und kirchliche Konflikte mit dem Staat, Presse und charismatische Führungspersönlichkeiten. Zudem werden inzwischen auch Vernetzungs- und Transferprozesse zwischen den Katholiken Europas bzw. zwischen Missionaren oder Emigranten in Übersee untersucht, also transnationale Fragestellungen.341 Die weiterhin spannende Debatte über das katholische Milieu mündet oft in eine Betrachtung der Wahlergebnisse speziell 1930–33. Dem Wahlforscher Jürgen Falter zufolge wäre es bei 100 % Katholiken nie zu den NSDAP-Prozentzahlen gekommen, die Hitlers Anspruch auf das Kanzleramt mitbegründeten. Denn die schwächsten NSDAP-Ergebnisse fanden sich – neben linksorientierten Groß340 Zum Konkordat Thadden, Kirchen, S. 648–650. Zu den Flügeln vgl. Elvert, Gesellschaftlicher Mikrokosmos und Elke Seefried, Verfassungspragmatismus und Gemeinschaftsideologie. „Vernunftrepublikanismus“ in der deutschen Zentrumspartei, in: Wirsching/Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus, S.  57–86. Christoph Hübner, Die Rechtskatholiken, die Zentrumspartei und die katholische Kirche in Deutschland bis zum Reichskonkordat von 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des Scheiterns der Weimarer Republik, Münster 2014, S. 248 ff., 793–816. Beate Höfling, Katholische Friedensbewegung zwischen zwei Kriegen. Der „Friedensbund deutscher Katholiken“ 1917–1933, Waldkirch 1979. Klaus Große Kracht, Erich Klausener (1885–1934). Preußentum und Katholische Aktion zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: R. Faber/U. Puschner (Hg.), Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 271–296. 341 Begriff und Forschungserträge resümiert Winfried Becker, Katholisches Milieu – Theorien und empirische Befunde, in: J. Kuropka (Hg.), Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, Münster 2013, S 23–62. In dem Band mit Beiträgen zu Regionen von Oberschlesien und Ermland über Eichsfeld und Emsland bis zu Münsterland und Rheinprovinz werden auch die Erosionsprozesse im katholischen Milieu 1920–33 thematisiert.

11. Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933  

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städten – in katholisch-ländlichen Regionen Süddeutschlands und Preußens, speziell Ermland und Oberschlesien, Eichsfeld und Münsterland, Emsland und Rheinprovinz. 1924 wählten 56 % der Katholiken die Zentrumspartei, 1933 noch 43 %. Aber im Vergleich zum NSDAP-Reichsdurchschnitt, besonders im Kontrast zu frühen Hochburgen wie Pommern und Ostpreußen oder auch dem evangelischen Mittelfranken, standen die NSDAP-Ergebnisse in katholisch geprägten Gebieten 20 und mehr Prozentpunkte zurück.342 Ab 1930 verdammten die Bischöfe den Nationalsozialismus, speziell seine Rassenlehre, als religionsfeindlich: Katholiken seien Parteieintritte bei Strafe des Ausschlusses von den Sakramenten verboten, die NS-Parteigrundsätze gotteslästerlich. Noch am 20.2.1933 bezog die Fuldaer Bischofskonferenz Stellung gegen die Partei. Fünf Wochen später zog sie jedoch ihre „allgemeinen Warnungen und Verbote“ gegenüber dem Nationalsozialismus zurück (28.3.1933) und befürwortete bei den Reichstagswahlen vom November 1933 ein Ja für die nationalsozialistische Einheitsliste. Als Erklärungsfaktoren dafür werden das virulente Trauma des Kulturkampfs, die Achtung vor der Staatsautorität gerade unter Kirchenoberen, massiver Anti-Sozialismus bzw. Anti-Modernismus und Hoffnung auf Vereinbarung eines Modus Vivendi mit dem Nationalsozialismus angeführt. Letzteres Ziel verfolgte das schon von Papen im Herbst 1932 angepeilte Reichskonkordat vom Juli 1933. Dabei ging es dem federführenden Vatikan, beraten von Prälat Kaas, nach dem Vorbild der Lateranvorträge mit Mussolini um Sicherung der Amtskirche, nicht der pluralistischen, säkularen Demokratie. Für die katholische Verankerung in Gemeinde, Schule und Vereinen sowie die Seelsorge schienen im Konkordat hinreichende Garantien gegeben. Das enthaltene Verbot politischer Betätigung für Priester und die Auflösung der längst als zu selbständig angesehenen Zentrumspartei Anfang Juli 1933 nahm der Vatikan (gerne) hin. Bischöfe in Preußen waren skeptischer, etwa Preysing (Berlin), Galen (Münster) und Schulte (Köln), der formulierte, mit der skrupellosen NS-Regierung könne man kein Konkordat schließen. Aber Preußens Primas, Kardinal Bertram (Breslau), dankte Hitler, und Münchens Kardinal Faulhaber nannte das Konkordat eine „Großtat von unermeßlichem Segen“. Es gab kein fixiertes Junktim zwischen dem Reichskonkordat und der Zustimmung der Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz, aber die Hoffnung, dadurch Hitler einige verfassungsmäßige und rechtsstaatliche Garantien zugunsten kirchlicher Autonomie im autoritären Staat abzuhandeln zu können. Ein Dutzend prominenter Abgeordnete widerriet fraktionsintern nachdrücklich der Zustimmung. Parallel erlitten republiktreue Zentrumsabgeordnete bereits gewalttätige Verfolgung, später auch viele Ortspfarrer. Stückweise wurden katholische Vereine 342 Zum Konnex Milieu – Wahlverhalten vgl. bereits Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, S. 131–134, 156–160, zu den Wahlergebnissen 1920–33 Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, S. 169–193, bes. S. 179 (NSDAP-Hochburgen).

370  VI. Staatskultur, Kulturstaat und Bürger­gesellschaft gleichgeschaltet. Die antijüdischen Maßnahmen ab 1933 betrachteten deutsche Bischöfe als politische Angelegenheit jenseits der kirchlichen Aufgaben. Kardinal Bertram beschritt mit schriftlichen Eingaben an die NS-Regierung eine meist wirkungslose, dann illusionäre Linie des Bittens und der Konfliktvermeidung. Der Primat für Amtskirche, Dogmatik und Volksseelsorge, lange eine Quelle innerer Stärke des deutschen Katholizismus, war gegenüber dem braunen Totalitarismus am Ende eine Schwäche. Jenseits der mutigen Predigten des Münsteraner Bischofs Graf Galen gegen die Euthanasie 1941 und trotz der Opferbilanz von über 400 katholischen Priestern in Konzentrationslagern, 110 dort Getöteten sowie weiteren 59 exekutierten Männern, rief die Amtskirche 1939 zur Pflichterfüllung für Führer und Vaterland auf und sah 1941 im NS-Eroberungskrieg den Kampf des Christentums gegen den Bolschewismus. Vor einem öffentlichen Auftreten gegen die Pogrome 1938 schreckte sie zurück, um in ihrer Sicht „größere Übel“ zu vermeiden, nämlich Katholiken als nicht national gebrandmarkt zu sehen. Im voll etablierten NS-System und angesichts des Rassefanatismus hielten Bertram und Faulhaber einen Protest gegen die Massendeportationen Ende 1941 für aussichtslos. Nur der sog. Dekalog-Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz vom September 1943 erklärte die Tötung von Geisteskranken und Geiseln, Kriegsgefangenen und „Menschen fremder Rassen und Abstammung“ für unchristlich. Katholische Organisationen Europas retteten schätzungsweise 100.000 Juden das Leben, aber traditioneller Antijudaismus, Vorrang für die katholische Kirchen­ klientel und Angst vor eigener Verfolgung verhinderten weitreichende Interventionen der Amtskirche gegen den Judenmord. Das unzweideutige Eintreten für die soziale Demokratie und die Öffnung zur kulturellen Moderne, eine überkonfessionelle Partei und das dauerhafte Engagement für den (west-) europäischen Einigungsprozeß setzten sich im deutschen Katholizismus erst nach 1945 völlig durch. 343

343 Zu Reichskonkordat und Amtskirche Thadden, Kirchen, S. 687–703 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, 809–818, dort auch die Zitate. Abwägung bei Winfried Becker, Die Deutsche Zentrumspartei gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Reichskonkordat 1930–1933: Motivationsstrukturen und Situationszwänge, in: Historisch-politische Mitteilungen 7 (2000), S. 1–37, Schulte-Zitat S. 30 und Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 88–97, 116–125, Zit. Faulhaber S. 112, zur Haltung zum NS-Krieg S.  203  ff. Thomas Brechenmacher, Die Kirche und die Juden, in: K.-J. Hummel/M. Kißener (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich, Paderborn u. a. 2009, S. 125–143. Urs Altermatt, Katholizismus und Demokratie im 20. Jahrhundert, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2009, Bonn 2009, S. 83–97.

VII. Preußen und die Welt Historiographie und Erinnerungsgeschichte im Wandel – internationale Verflechtung und transnationale Bezüge als (künftiges) Forschungsfeld

1.

Grundzüge der Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert

Die Historiographie über Preußen ist in diesem Band bisher zwar vielfach mit Zitatsätzen präsent gewesen, aber gemäß der Konzeption gilt es jetzt, Grundlinien systematisch herauszuarbeiten. Es geht nicht um vollständige Rekonstruktion von Werken oder detaillierte Referate von Literaturtiteln, sondern darum, im Längsschnitt zentrale Entwicklungen und ihre Gründe präzise zu lokalisieren, dabei den Zusammenhang mit der jeweiligen Zeitgeschichte zu sehen sowie über die Fachwissenschaft hinaus publizistische Äußerungen einzubeziehen. Es wird sich zeigen, daß die Historiographie häufig nicht unbeeinflußt von der jeweiligen Zeitgeschichte blieb, daß eine breit definierte „preußische Schule“ lange dominierte, historiographische Infragestellung gerade an den Wendepunkten oder Bruchstellen 1871, 1918, 1945 auftrat und die wichtigste Leitkategorie für Preußen-Historiker Staat hieß. In einem anschließenden Abschnitt sollen auch die ausländische Wahrnehmung skizziert und am Ende das Thema preußische Mythen behandelt werden. Forschungsberichte und Aufsätze aus fünf Nachkriegsjahrzehnten, Sammelbände mit Einzelstudien sowie eine weitgespannte Gesamtdarstellung zur Historiographie von den Anfängen bis zum Jahr 2000 bieten eine hinreichende Grundlage.344 344 Stephan Skalweit, Preußen als historisches Problem (Literaturbericht), in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 3 (1954), S. 189–210; Michael Stürmer, Das zerbrochene Haus – Preußen als Problem der Forschung, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1971, S. 175–195; Dirk Blasius, Preußen in der deutschen Geschichte, in: Ders. (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte, S. 9–46; Joachim Rohlfes, Das Interesse an Preußen. Eine Nachlese zum „Preußenjahr“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982), S. 523–549; Günter Wollstein, Preußen – Literatur zur Geschichte des „aufgehobenen“ Staates im „Preußenjahr“ und in dessen Umfeld, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1983, S. 91–116; Seier, Region, Modernisierung und Deutschlandpolitik; Vogel, Bemerkungen zur Aktualität der preußischen Geschichte; Stefan Berger, Prussia in History and Historiography from the Eighteenth to the Nineteenth Century, in: Ph. G. Dwyer (Hg.), The Rise of Prussia, S.  27–44; Nicolas Berg, Preußen – ein lieu de mémoire der deutschen Geschichts-

372  VII. Preußen und die Welt Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keine akademische Historiographie Gesamtpreußens, allenfalls provinziale Landesgeschichte(n). Dies ist ein etwas erstaunlicher Befund, aber erklärlich durch die disparate Territorienvielfalt und die monarchisch-staatliche Zurückhaltung bei der wissenschaftlich-ideologischen Verarbeitung der eigenen Aufstiegsgeschichte, die zunächst publizistisch ohne Nutzung von Archivalien erfolgte. Erst mit Rankes „Neun Büchern Preußischer Geschichte“ (1847/48) und Droysens vielbändiger „Geschichte der preußischen Politik“ (1855–86) setzte sie ein, um mit Heinrich v. Treitschkes „Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert“ (1879–94) und Heinrich v. Sybels „Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I.“ (1889–95) schon ihre borussisch staatsorientierte, Preußens deutsche Einigungsmission hervorkehrende Ausprägung zu erhalten. Der Wahlpreuße Ranke war ein bedeutender und ungemein produktiver, schulbildender, aber auch staatszentrierter Historiker, den Friedrich Wilhelm IV. 1841 zum Historiographen des Preußischen Staates ernannte. Als erster Forscher erhielt Ranke Zugang zu den Archivakten, und er hat sich wissenschaftliche Autonomie ausbedungen. Zugleich versicherte er Friedrich Wilhelm IV. aber wie im antiken Panegyricus: „Wer könnte zweifeln, daß die Absicht der Majestät und der ächte Beruf der Wissenschaft vollkommen übereinstimmen?“ In Rankes Bestallung stand zu lesen, diese erfolge „unter der Bedingung, daß derselbe Uns und Unserem Königlichen Hause jederzeit treu und eifrig ergeben bleibe, und die Pflichten seines Amtes mit Sorgfalt und Fleiß, rein und gewissenhaft zu erfüllen suche, überhaupt aber, so viel er vermag, zum Wohle des Staats, Unseres Königlichen Hauses und Unserer getreuen Unterthanen beitrage.“ Diese Erwartungshaltung entsprach der eigenen Überzeugung des tief protestantischen, lebenslang preußisch-monarchischen, politisch konservativen Ranke. 1848 verteidigte er in Memoranden an den befreundeten Edwin von Manteuffel die gottgegebenen Prärogativen der Krone gegen die Nationalversammlung; er soll ab 1867 nie bei einer demokratischen Reichstagswahl abgestimmt haben und genoß jahrzehntelang monarchisches Wohlwollen. Mit Erbadel (1865), Ordenskanzleramt des Pour le mérite (1867) und dem Exzellenztitel (1882) erhielt er höchste staatliche Ehren. Ähnlich dekoriert wurde sein Nachnachfolger Reinhold Koser 1898–1913, den Wilhelm II. regelmäßig zu Jagden einlud und 1910 dafür lobte, Geschichte im hohenzollernfreundlichen Sinne geschrieben zu haben. Preußisch geprägte Nationsvorstellung, Staatsfixierung, Protestantismus und das Treitschke-Wort „Männer machen Geschichte“ hießen zentrale Leitideen der ganzen „preußischen Schule“ (Georg G. Iggers). Sie stand fest auf dem Boden des sog. Historismus. Dieser besaß grundsätzlich aufklärerisches Potential, nutzte die seither kanonische quellenkritische Methode, aber wies auch Defizite auf, die schreibung. Hans-Christof Kraus (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013 (diverse Aufsätze). Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung.

1. Grundzüge der Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert  

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im deutschen Kontext eine spezifische Ausprägung erfuhren. Denn die universitären Historiker bestanden auf individualisierender Betrachtung, organischem Werden, nicht Struktur oder Typisierung, und dem Verstehen, nicht distanzierter Kausalerklärung. Sie konzentrierten sich auf die Staatspolitik, nicht Gesellschaft oder Ökonomie, fanden mit Ranke jede Epoche „unmittelbar zu Gott“, d. h. waren im ethischen Werturteil relativistisch oder betrachteten den Erfolg als Maßstab. Die humanen Kosten des Machtstaates blendeten sie überwiegend aus. Aufgrund der quellenkritischen Methode und des Professorenamts beanspruchten sie die reine Objektivität und schätzten den Machtstaat Preußen hoch. Nur innerhalb dieser historistischen Hauptströmung und als Anhänger ihrer Spielarten konnte man bis 1914, abgeschwächt noch in der Zeit des Freistaats, an staatlichen Universitäten ins Ordinariat gelangen. In ihren Spitzenvertretern seit Ranke staatlich hochgeehrt, wandelten die borussischen Historiker, die sich im weiteren Sinne von Ranke bis zu den Preußen-Historikern des 20. Jahrhunderts erstreckten, auf solchen Bahnen. Schon die Kooptationsmechanismen der Fakultäten und Professorenernennung durch die Staatsbehörde Kultusministerium bewirkten, daß unter den Hochschullehrern grundsätzlich divergierende Ansichten allenfalls ausnahmsweise auf den Katheder gelangten. Jenseits der fachhistorischen Werke fanden auch popularisierte Darstellungen, die Preußens Gloria verbreiteten, große Resonanz beim Publikum – Ludwig Häussers „Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Reiches“ (1854–57) oder Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (1859–62) sowie nach 1860 Zeitschriften wie „Die Grenzboten“ oder die „Preußischen Jahrbücher“. Die gefeierte „Geschichte ohne Gleichen“, die Edwin v. Manteuffel 1863 Preußen bescheinigte, wurde in mancherlei Variationen medial verbreitet. Hohenzollern förderten positiv gehaltene historisch-publizistische Werke seit 1840 auch vielfach, und nicht nur Fachgrößen wie Reinhold Koser oder der überzeugte Monarchist Paul Seidel, Herausgeber des „Hohenzollern-Jahrbuch“ 1897–1916, ließen sich in Dienst nehmen.345 345 Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Köln u. a. 1997, S. 86–119 (Ranke), 120–162 (preußische Schule). Axel Gotthard, Preußens deutsche Sendung, in: H. Altrichter u. a. (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg 2004, S.  321–369, 322–334; Ingrid Voss, Die preußische Ausrichtung der deutschen Historiographie im 19.  Jahrhundert, in: G. Raulet (Hg.), Historismus, Sonderweg und dritte Wege, Frankfurt/M. 2001, S.  32–50. Jaeger/Rüsen, Geschichte des Historismus, S.  83–93 (preußisch-kleindeutsche Schule). Wolfgang J. Weber, Priester der Klio. Historischsozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, 2. Aufl., Frankfurt/M. u. a. 1987, unpag. Vorwort (Historisten-Dominanz). Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, bes. S. 293–316 (Historiker und Sonderweg). GStA PK, VI. HA, NL Edwin v. Manteuffel, Nr. 3, Bl. 13 (Zitat 1863). Zu

374  VII. Preußen und die Welt ✳ Demgegenüber bildeten die katholischen, zunächst großdeutschen, dann föderalistischen Geschichtsschreiber eine minoritäre Richtung. Der welfische Hannoveraner Onno Klopp (1822–1903) brandmarkte noch als Exilant von Wien aus die „kleindeutschen Geschichtsbaumeister“ und galt als bête noire. Der Historiker und Bonner Extraordinarius Hermann Hüffer hielt nach Akteneinsicht im Berliner Staatsarchiv 1868 die Haltung Preußens gegenüber der französischen Revolutionsregierung bis 1797 für ähnlich „national“ wie die Österreichs. Sybels Einschreiten gegen diese blanke Häresie bewirkte, daß Hüffer ein Bonner Ordinariat erst 1872 durch den neuen Kultusminister Falk erlangte. Johannes Janssens „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ (6 Bde., 1876–88) bildete das wissenschaftliche Gegenstück zur borussischen Sicht und Max Braubachs „Der Aufstieg Brandenburg-Preußens 1640 bis 1815“ von 1933 ein zeitlich spätes Werk aus moderat rheinisch-katholischer Sicht. In katholischen Städten wie Münster oder Freiburg und im teils welfisch gesinnten Göttingen tobte der Streit um das preußisch-protestantische Geschichtsbild jahrzehntelang; gute Teile des Bürgertums waren mit dem Auslaufen des Kulturkampfs nach 1880 aber wilhelminisch national gesinnt.346 Drei preußenkritische Richtungen traten in den 1890er Jahren zutage: Disziplinär-zünftig in Person des Göttinger Ordinarius Max Lehmann (1845–1929), in der Publizistik durch den Rechts- und Staatswissenschaftler Hugo Preuß (1860–1925), in der Sozialdemokratie mit der Fundamentalopposition von Franz Mehring (1846–1919) und Max Maurenbrecher. Lehmann, zunächst von Sybel im Geheimen Staatsarchiv bzw. in der Redaktion der wichtigen „Historischen Zeitschrift“ gefördert und karrierebedacht Ranke kritisch: Dominik Juhnke, Leopold von Ranke. Biographie eines Geschichtsbesessenen, Berlin 2015, S. 98 f. (1841), 112 ff. (1848), 156 (Reichstagswahlen), hochschätzend: Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S. 189 ff., Zitat S. 192. Die historistischen Charakteristika blendet Neugebauer eher aus und betont (zu) stark die Autonomie der Wissenschaft, S. 376–386 auch bezüglich Koser; zu Seidel vgl. ebd., S.  428  f. Der zit. Satz aus Rankes Bestallung (GStA PK, Rep. 76, Vc Sekt. 2 Tit. 23 Lit A Nr. 16 Bd. 1, Bl. 87) fehlt bei Neugebauer. Zur langjährigen Staatsfixierung führender Historiker vgl. zuletzt Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, Berlin 2018, bes. S. 20–39, 130 f. 346 Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S.  292–294 (Klopp), 519 f. (Braubach). Hermann Hüffer, Oestreich und Preußen gegenüber der französischen Revolution bis zum Abschluß des Friedens von Campo Formio, Bonn 1868 und Hermann Hüffer, Lebenserinnerungen, Berlin 1912, S.  190–207, 267  f. (Streit mit Sybel); dazu Peter-Michael Hahn, Friedrich der Große und die deutsche Nation. Geschichte als politisches Argument, Stuttgart 2007, S. 37 f. bzw. 118 f. Heinemann, Stadt, Konfession und Nation (Änderung in den 1880er Jahren). Zur großdeutsch-katholischen Richtung vgl. Jürgen Mirow, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild seit der Reichsgründung, Berlin 1981, S. 41–44, 82–85.

1. Grundzüge der Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert  

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antisemitische Äußerungen nicht scheuend, entwickelte zunehmend kritischen Geist. Aufgrund von Archivalien wies er nach, daß Friedrich Wilhelm III. den Reformen wie dem Befreiungskrieg nur widerstrebend zustimmte; 1894 erklärte er Friedrich II. zum Hauptschuldigen am Ausbruch des Siebenjährigen Krieges. Späterhin betonte er den französischen Einfluß auf das Reformwerk des Freiherrn vom Stein, hielt bismarckkritische Vorlesungen, lehnte die antipolnische Germanisierungspolitik ab, nannte den Bund der Landwirte den „gefährlichsten unserer politischen Schädlinge“, unterschrieb 1914 den „Aufruf an die Kulturwelt“ nicht und trat 1915 für den Verständigungsfrieden auf, ja als pazifistischer Gesinnungsgenosse von Ludwig Quidde und Albert Einstein, und setzte sich 1917 für durchgreifende Wahlrechtsreform und parlamentarisches Regierungssystem ein. Lehmanns Wandlung erfolgte während seines seit 1893 innegehabten Ordinariats in Göttingen. Er konnte somit wegen seiner Kritik nicht mehr am Aufstieg gehindert werden, aber begegnete starker Ablehnung bei Kollegen und mußte die Redaktion der „Historischen Zeitschrift“ verlassen.347 Hugo Preuß, 1889 habilitierter Jurist, aber als jüdischer Sozialliberaler von schneidender Schärfe an Universitäten chancenlos und erst seit 1906 an der Berliner Handelshochschule lehrend, schrieb zwei Jahrzehnte gegen das real existierende Preußen an. In seiner langen Berliner Privatdozentenzeit wurde er 1899 vom Kultusministerium wegen „gotteslästerlicher Äußerungen“ in der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung gerügt und von Gustav Schmoller noch 1916 als einer der vielen jüdischen Privatdozenten, die zu Recht nicht alle Professoren würden, zumal ein jüdischer Ordinarius rasch fünf weitere Juden nachziehe, geschmäht. Preuß erklärte in „Die Junkerfrage“ (1897) und in dem Essay „West-Östliches Preußen“ (1899) die Junker-Herrschaft im Osten zum Urgrund allen Übels und propagierte die Verwestlichung Ostelbiens wie Gesamtpreußens. Er verlangte 1905, daß Bourgeoisie und Sozialdemokratie gemeinsam agieren müßten, um den bevormundenden Obrigkeitsstaat zu überwinden und zumal der in Preußen defizitären städtischen Selbstverwaltung zur Realisierung im Sinne Steins zu verhelfen. Er betrachtete in „Das deutsche Volk und die Politik“ (1915) die durch Preußen bewirkte Abweichung Deutschlands vom Westen in verfassungspolitischer und politisch-kultureller Sicht als zu überwindenden Sonderweg.348 347 Max Lehmann, Bismarck. Eine Charakteristik, hg. von G. Lehmann, Neuausgabe von G. Fesser und H. Donat, Bremen 2015, S. 10–16. Die von Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S. 446 f., angeführten antisemitischen Äußerungen Lehmanns über die als Juden für Mediävistik untauglichen Harry Bresslau und Ernst Bernheim 1890/91 sowie sein Abblocken des Archivzugangs für den Konkurrrenten Alfred Stern um 1880 (ebd., S. 251 f.) werfen Schatten auf Lehmanns Charakter, diskreditieren aber sein späteres Lebenswerk und seine fundamentale politische Wandlung zum linksliberalen Kritiker nicht völlig. 348 D. Lehnert (Hg.), Hugo Preuß, Zit. S. 26–29; Dieter Langewiesche, Moderner Staat in Deutschland – eine Defizitgeschichte. Hugo Preuß‘ radikale Kritik des preußisch-deutschen Sonderweges in die Moderne, in: Ders., Reich, Nation, Föderation.

376  VII. Preußen und die Welt Gänzlich jenseits der ihnen verschlossenen Hochschulen, aber mit Breitenwirkung in der Arbeiterschaft stellten die sozialdemokratischen Publizisten Franz Mehring und Max Maurenbrecher die borussische bzw. mittlerweile imperialistisch-deutschnationale Geschichtsauffassung als ideologische Konstrukte dar. Mehrings Aufsatzserie „Die Lessing-Legende“ (1893) und zahlreiche Essays für Parteiblätter sowie Maurenbrechers streitbare, besonders anschaulich bebilderte „Hohenzollern-Legende“ (1905/06) bekämpften zentrale Ideologeme vom humanen Friedrich II. und dem Preußens Einigungsmission vorarbeitenden Lessing, vom sozialen Königtum der Hohenzollern, von der weltfremden 1848er Revolution, und entlarvten zugleich die borussisch gewendete Literaturgeschichtsschreibung, Treitschkes Geschichtsdeutung, wilhelminische Feiern und andere Stilisierungen Preußens als hohl. Aus der Sicht des freisinnigen Linksliberalismus schreibende Historiker gelangten kaum je in den Ordinarienrang. Martin Philippson, 1875 Extraordinarius in Bonn, aber als Jude ohne Aussicht auf ein geschichtswissenschaftliches Ordinariat 1878 nach Brüssel ausgewichen und wegen dortiger antideutscher Haltungen seiner Kollegen ab 1891 als Privatgelehrter in Berlin lebend, 1897– 1903 Verfasser einer unheroischen Geschichte des Großen Kurfürsten, zudem von Biographien Max Forckenbecks und Kaiser Friedrichs III., wurde von borussischen Rezensenten etwa in den staatlich subventionierten „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte“ mit Verrissen bestraft. Ähnliches gilt von Alfred Stern, Sohn des ersten jüdischen Ordinarius in Deutschland und Schüler Rankes, aber familiär vom linken Liberalismus geprägt, der auch deswegen 1873 eine Professur in Bern annahm und 1887 nach Zürich wechselte, da ihm als Freisinnigen eine Stelle in Preußen verschlossen war. In der zehnbändigen Geschichte Europas 1815–1871, die Stern ab 1894 als ein Pionierwerk der Gattung vorlegte, korrigierte er wo immer möglich Treitschkes Sicht, betonte die europäische Gemeinschaft, dämonisierte Frankreich nicht, aber kritisierte Friedrich Wilhelm III. heftig, bemängelte die Bauern schädigende Bodenregulierung und stellte die langjährige Diskriminierung von Juden heraus. Borussische Historiker beindruckte das wenig. Auch wer nur im Rufe sozialdemokratischer Sympathien stand wie der sozialliberal eingestellte Gustav Mayer als wissenschaftlich arbeitender Biograph von Führungsgestalten der Arbeiterbewegung war in Preußen bis 1918 nicht professorabel. Nationalistische Berliner Großordinarien sabottierten noch 1917/18 seine Habilitation. Mayers Konzeption, daß die sozialdemokratische Bewegung wie die Parteiengeschichte generell zu erforschen seien, nachdem die Historiker im Kaiserreich fast ausschließlich die Aktionen der Regierungen und die ZielsetzunDeutschland und Europa, München 2008, S.  161–179, 298–301; Lothar Albertin (Hg.), Hugo Preuß. Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Gesammelte Schriften Bd. 1, Tübingen 2007, S. 293 ff. Spenkuch, Die Politik des Kultusministeriums, S. 224 (Verweis) und S. 237 (Schmoller 1916).

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gen der politisch oder geistig-kulturell führenden Schichten betrachtet hätten, bedeutete eine beträchtliche thematische Erweiterung gegenüber der bisherigen verengten Konzeption von Geschichtswissenschaft. 1922 berief Kultusminister C. H. Becker Mayer auf ein für ihn neu errichtetes Berliner Extraordinariat.349 Angesichts dieser Faktenlage enthält das Urteil Wolfgang Neugebauers, die akademische Geschichtsschreibung in Preußen sei „durchaus pluralistisch, natürlich auf der Bandbreite des konstitutionellen Grundkonsenses“ gewesen, gleichermaßen die Zurücknahme in sich wie ein Verkennen des Pluralismus-Begriffs. Und wenn er die Historiographen Preußens bis 1914 als „möglich aus einer kulturaristokratischen Welt (…) eingebunden in bildungsbürgerliche Sozialmilieus, alles andere als dominiert von Staatsgewalt“ charakterisiert, dann läßt dieser Satz erkennen, in welchem sozialen wie weltanschaulichen Juste Milieu sich die Historiker realiter langjährig bewegten. Grundsätzliche Staatstreue in den Werken und politisch freikonservativ-nationalliberaler Gouvernementalismus kennzeichnete die Historiker-Zunft bis auf wenige Ausnahmen. Max Lehmann als von universitärer Beamtenstellung geschützter, nichtjüdischer Ordinarius konnte sich eine dezidiert kritische Haltung erlauben. In anderen Fällen brachten sich junge Historiker durch fundamentale, zeithistorische Kritik um ihre akademische Laufbahn, etwa Ludwig Quidde, der als Kritiker von Militarismus und Wilhelm II. („Caligula“), Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft und der Deutschen Volkspartei, dem Hauptstrom der Historiker-Zunft fernstand. Ignaz Jastrow diskreditierten seine seit 1893 öffentlich vertretenen politisch sozialliberalen Positionen bis 1917 im Kultusministerium, und Gelehrte wie Hugo Preuß konnten nur kommunal bzw. in der Publizistik (bezahlt) tätig sein. Denn universitär schrieben nach Herkunft gebürtige und/oder nach Gesinnung überzeugte Preußen preußische Geschichte, kaum je Süddeutsche oder Rheinländer. Zutreffend erscheint deshalb weiterhin das über die Epoche des Kaiserreichs gezogene Resümee, daß es Preußen-Kritiker seit Onno Klopp gegeben habe, aber die 349 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, hg. von Th. Höhle u. a., Bde. 5–9, 5. Aufl., Berlin 1980–1983; Max Maurenbrecher, Die Hohenzollern-Legende. Kulturbilder aus der preußischen Geschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin 1905/06; zu beiden Mirow, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild, S.  95–101 und Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S. 452–457. Zu Philippson Thomas Stamm-Kuhlmann, Borussentum oder kritische Geschichtsschreibung Preußens?, in: W. Freitag (Hg.) Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Halle 2002, S. 108–120, S. 116–118. Alfred Stern, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 (…), Bd. 1, Berlin 1894, S. 411–419; Norbert Schmitz, Alfred Stern (1846–1936). Ein europäischer Historiker gegen den Strom der nationalen Geschichtsschreibung, Hannover 2009, S. 88 ff., 128 ff., 180 ff. Jens Prellwitz, Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos und deutsche Nation: Gustav Mayer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Mannheim 1998; Gottfried Niedhart (Hg.), Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920, München 2009, S. 449 f.

378  VII. Preußen und die Welt etablierte Historiographie „was remarkably successful in closing ranks against anyone challening the Prussian orthodoxy (…), its main parameters were never seriously questioned.“350 Zwei Historiker in und von Preußen hinterließen Werke von hohem Rang, in denen der Begriff des Staates eine zentrale Rolle spielt: Friedrich Meinecke (1862–1954) mit seiner Ideengeschichte der deutschen Nationalbewegung bzw. des historistischen Geschichtsdenkens und als Autor der Selbstkritik „Die deutsche Katastrophe“ (1946) sowie Otto Hintze mit seinen vom preußischen Beispiel ausgehenden Ansätzen zum Typus, zur Strukturgeschichte und zur vergleichenden Verfassungsgeschichte. Meinecke, Neffe eines Staatssekretärs im Finanzministerium, früh vernetzt mit Fachgrößen wie Sybel, Treitschke oder Archivgeneraldirektor Reinhold Koser, bekannt zunächst durch seine Biographie des Militärreformers Boyen und später durch drei weitere Werke, amtierte seit 1893 – von Sybel lanciert – und bis 1935 als Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“. Er stand stark in den Traditionen Preußens, aber besaß auch die Größe zur Selbstkorrektur. Gegen die, so Meinecke später, „Sturmangriffe“ Karl Lamprechts im Streit um dessen psychologisierende Kulturstufen-Theorie und „kollektivistische Geschichtsschreibung“ ließ er in der „Historischen Zeitschrift“ (HZ) namhafte Gelehrte intervenieren und Lamprecht als Propagandisten des westeuropäischen Positivismus gegen den deutschen Idealismus diskreditieren. Nach einem Jahrzehnt gestand Meinecke 1908 aber zu, daß Lamprecht für die traditionellen deutschen Historiker durch seine (zweifelhaften) Theorien und die (versuchsweise) Erweiterung des historischen Gegenstandsbereichs auch anregend wirke. Meineckes Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (1908) ist die Erfolgsgeschichte des Weges von der mitteleuropäischen Kulturnation zur kleindeutschen Staatsnation und von Bismarcks klug-maßvoller Lösung der deutschen Frage. Staat und Ideen besitzen hierbei zentrale Bedeutung für die politische Entwicklung. Wirtschaftliche oder gesellschaftliche Faktoren kennt Meinecke kaum. Für ihn existierte kein eigentlicher Konflikt zwischen staatlichen Machtinteressen und lose definierten Prinzipen der Ethik; Freiheit gebe es im Staat und durch ihn. Meinecke hielt die konstitutionelle Regierungsform für die Deutschland gemäße, 350 Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie, in: Ders. (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 1, Berlin 2009, S. 3–109, Zit. S. 58 und Ders., Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S. 622 (Zitat). Zu Quidde vgl. Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biographie, Düsseldorf 2007, S. 88 ff. Zu Jastrow aktenfundiert Hartwin Spenkuch, Preußische Universitätspolitik im Deutschen Kaiserreich. Dokumente zu Grundproblemen und ausgewählten Professorenberufungen in den Philosophischen Fakultäten zur Zeit Friedrich Althoffs (1897 bis 1907) (= Acta Borussica, N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Abt. 2, Bd.  13), Berlin 2018, S.  98  f. Mirow, Das alte Preußen, S.  80 (86 % der Historiker Preußens waren gebürtige Preußen). Berger, Prussia in History, S. 44 (Gesamturteil).

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mit besseren Ergebnissen als die parlamentarische erwarten lasse. Dem Lob für Bismarcks Reichskonstruktion folgte noch der Appell, daß das spezifische Preußentum der Junker, der Militärs und Ostelbiens nicht gegen deutsche Nationalinteressen obsiegen dürfe. In dieser Hinsicht äußerte sich Meinecke auch publizistisch vielfach über Preußen, zur nötigen Wahlrechtsreform, zur besseren Koordination von Preußen und Deutschland und zur Integration der Arbeiterklasse im Sinne der nationalsozialen Ideen Friedrichs Naumanns. Meinecke unterstützte den „Geist von 1914“, befürwortete noch 1915 deutsche Annexionen, aber betonte dann dezidiert unabdingbare politische Reformen – der Kriegsverlauf hatte seine optimistische Annahme der Harmonie von Geist und Macht in Frage gestellt. 1921 schien ihm eine Auflösung Preußens zugunsten eines unitarischen Reiches aus etwa gleich großen Einzelstaaten sehr erwägenswert, und er hielt der preußischen Militärmonarchie Begünstigung traditioneller Gruppen zulasten neuer Schichten vor. Preußen-Deutschlands Weg bis 1914 sah Meinecke als vorbildlich und defizitär zugleich an. In „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (1924) erkannte Meinecke an, daß das Vernünftige wohl sein soll, aber nicht schlechthin ist. Der rationale Staatsmann, etwa Bismarck oder Bethmann Hollweg, werde von irrationalen „Naturkräften“ wie Kapitalismus, Nationalismus, Militarismus beeinträchtigt. Die von Regierungsseite definierte Staatsräson wird zum Inbegriff vernünftigen Ausgleichs im Gemeinwesen und vernünftigen Handelns erklärt. Auch später verteidigte er in „Die Entstehung des Historismus“ (1936) die deutsche Geistes­ tradition gegen französische Aufklärung und Westeuropa; Goethe war ihm die deutsche Idealfigur. Fragen nach Interessen, nach Ökonomie, nach Institutionen stellt er kaum je vertieft. Die Hoffnung auf friedlich-ausgleichende Entwicklung richtete sich auf den Staat, nicht auf Gesellschaft oder politische Erziehung. Völkisches Denken mied Meinecke, aber Hitlers außenpolitische Erfolge begeisterten ihn. Selbst nach Angriffskrieg und Kenntnis von der Deportation der Juden hielt er den alliierten Bombenkrieg für moralisch verwerflicher. Inwieweit im unter dem Eindruck des militärischen und moralischen Zusammenbruchs verfaßten politischen Essay „Die deutsche Katastrophe“ (1946) Selbstanklage oder Exkulpation durch Verweis auf gemeineuropäische Ursachen des Nationalsozialismus dominieren, ist unter Interpreten umstritten und wohl auslegungsfähig. Die ambivalente Kennzeichnung Preußens als von zwei Seelen erfüllt, einer kulturfähigen und einer kulturwidrigen, wurde seither gerne als Topos zitiert. Zwar erklärte Meinecke Hitler zum Dämon ex machina, aber die Deutschen nicht rundweg zu unschuldigen Opfern. Klarer denn je formulierte er, daß es gerade der preußisch-deutsche Militarismus gewesen sei, der den Aufbau des Dritten Reiches am stärksten befördert habe. Meinecke ist deswegen als Exponent der negativen Sonderwegs-These bezeichnet worden. Gerhard Ritters Schrift „Europa und die deutsche Frage“ (1948) hielt rundum dagegen: Weder

380  VII. Preußen und die Welt komme Preußen Schuld zu, noch sei preußischer Militarismus besonders rabiat gewesen; alles Negative habe in Frankreich begonnen und totalitäre Systeme seien im Massenzeitalter ein gemeineuropäisches Phänomen. 1949 knüpfte Meinecke im Aufsatz „Irrwege in unserer Geschichte“ evident an Ritters Gedankengänge an. Die preußisch-deutsche Geschichte sei fast ausschließlich durch die geopolitische Lage bedingtes „Schicksal“ und „Tragödie“ und das Machtstreben Preußens notwendige Selbstbehauptung mit einigen „Unvollkommenheiten“. Verantwortung von Individuen oder Gruppen benannte er nicht. Es gibt also eine gewisse Diskrepanz zwischen Meineckes Werken – Idealismus und Historismus verpflichtet, den Staat Preußen als organisch gewachsen verstehend, erst in Krisen dezidiert Veränderungen anmahnend – und seiner Haltung in der Tagespolitik, wo er sich vom wilhelminischen Nationalliberalen zum Vernunftrepublikaner – das Wort hat er geprägt – und Anhänger der DDP entwickelte. Bis 1933 verteidigte Meinecke die Republik gegen den Nationalsozialismus und ließ speziell der letzten Generation seiner oft jüdischstämmigen Schüler große Freiheit in ihren Ansätzen. Meineckes Ideengeschichte indessen war später kein tragfähiger Ansatz mehr.351 Wie für Meinecke war Preußen auch das Lebensthema für Otto Hintze (1860– 1940). Der gebürtige Pommer, Mitarbeiter der Acta Borussica unter seinem Förderer Gustav Schmoller, Experte für das 17./18.  Jahrhundert, ab 1899 Professor in Berlin, langjährig Schriftleiter des zentralen wissenschaftlichen Organs „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte“, verfaßte als Opus magnum seines Preußen-Oevres den als offiziöse Festschrift kommissionierten Band „Die Hohenzollern und ihr Werk“ (1915). Dieser sei, so Hintzes Selbstaussage, „kein Panegyrikus“, allerdings von ihm als „Protestant, Preuße und Anhänger der modernen Staatsidee“ konzipiert. Tagesaktuell wähnte er zugleich Deutschland im – genau wie einst Friedrich II. aufgezwungenen – Kampf „gegen eine Welt von Feinden“. 351 In der Interpretation folge ich Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 253–294; Ernst Schulin, F. Meinecke. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, in: V.  Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S.  421– 424; Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Edition und internationale Rezeption, hg. von B. Sösemann, Berlin 2018, S. 421–423 (Nikolai Wehrs, Von den Schwierigkeiten einer Geschichtsrevision, 2007) und S. 426–428 (Jens Flemming; ihm zufolge machte Meinecke 1949 eine Rolle rückwärts). Hans-Christof Kraus, Preußen als Lebensthema Friedrich Meineckes – Geschichtsschreibung und politische Reflexion, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 269–304. Gisela Bock/Daniel Schönpflug (Hg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit, Stuttgart 2007, bes. S. 177–191: Wolfgang Wippermann. Zu Lamprecht zuletzt Jonas Flöter/Gerald Diesener (Hg.), Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 2015.

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Bis heute bekannt sind Aufsätze Hintzes, vor allem „Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung“ und „Der Beamtenstand“ (beide 1911). Durchgängig ging es Hintze um Staatsbildung durch Verwaltung, mit Preußen seit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm als hervorragendem Beispiel; Ökonomie, Kultur, Arbeiterbewegung kommen kaum vor. Hintze war Anhänger des Tirpitz’schen Flottenbaus, las und publizierte nach 1900 in ministeriellem Auftrag auch über englische Seeherrschaft oder Weltpolitik im Imperialismus. Er äußerte sich eher moderat, aber unterschied sich im Denkrahmen nicht von anderen Anhängern der damals vieldiskutierten „Weltreichslehre“ und „Flottenprofessoren“, etwa Hans Delbrück, Max Lenz oder Dietrich Schäfer, die ab 1897 Marinebau und Weltpolitik propagierten. In diesem Zeitkontext läßt sich nicht behaupten, daß er als erster oder einziger eine globalisierte Weltsicht entwickelt habe. Im Aufsatz über „Rasse und Nationalität“ (1903) wies Hintze zwar die Rassentheorien etwa von Graf Gobineau oder von Houston St. Chamberlain als unwissenschaftlich zurück, propagierte aber gegen das perhorreszierte „massenhafte Einströmen“ slavischer Volkselemente eine „Art von Rassenpolitik mit der Front gegen Osten“, ein „kompaktes, einheitliches Volkstum“, die „deutsche Rasse der Zukunft“. Diese völkischen Stränge verfolgte Hintze späterhin nicht weiter. Bekanntlich rechtfertigte Hintze die konstitutionelle Verfassung durch die deutsche Mittellage, Konfessionsspaltung und staatsfeindliche Sozialdemokratie, zerstrittene Parteien und die historische Leistung der Hohenzollern. Hintze anerkannte durchaus die Stärken des Handelsstaats England bzw. der Republik Frankreich, sah Fehlentwicklungen in Außen- und Innenpolitik nach 1890, aber unterstützte das Weltmachtstreben und wertete bis 1917 alles letztlich als positiv, notwendig, erklärbar: Den Machtstaat Preußen als Reichskern, die sozial eng rekrutierte, mächtige Bürokratie, Militärstaat und monarchischen Konstitutionalismus. Im Kulturkrieg von 1914 galt ihm die preußisch-deutsche militärisch geprägte Verfassung im Vergleich mit England als „höherer Typ von Ethik und Zivilisation“. Er wagte nicht, das tradierte Bismarcksche und Wilhelminische politische System grundsätzlich in Frage zu stellen und hier systemische Veränderungen, gesellschaftliche Demokratisierung oder parlamentarische Regierung zu propagieren. Zuviel Rücksicht auf Traditionen und Herrschende hinderten ihn an nachdrücklichen Äußerungen in diese Richtung; zaghaft erhoffte er im Verlauf des Weltkriegs die Umbildung zu Volksstaat und Volkskönigtum. Hintze fand schon 1893 gegen vom Soziologen Georg Simmel postulierte gesellschaftliche „Gesetzmäßigkeiten“ nichts erhebliches einzuwenden und bescheinigte Lamprecht 1897 ein an sich richtiges Prinzip, nur ganz einseitig ausgeführt, denn über kollektive, gesellschaftliche Kräfte dürfe man wirkmächtige Individuen nicht vernachlässigen. Hintze rezipierte auch aufmerksam Max Weber, aber propagierte als empirischer Historiker den aus den Quellen gewonnenen Realtypus im deutlichen Kontrast zu Webers theoriegeleitetem Idealtypus. Beim Vergleichen sah er zwei Herangehensweisen, nämlich eine, die allgemeine

382  VII. Preußen und die Welt Strukturen, Prozesse, Analogien finden will und jene, die die verglichenen Gegenstände in ihrer Individualität genauer erfassen möchte. Dies bedeutete für ihn den Unterschied zwischen Soziologie und Historie, die primär das Besondere im Werden interessiere, wie er im Aufsatz „Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung“ (1929) formulierte. Bereits seit 1902, aber verstärkt nach der lebensweltlichen Zäsur der Niederlage 1918, der Emeritierung 1920 und seiner späten Heirat mit der FrankreichHistorikerin Hedwig Guggenheimer schrieb er 1921 bis 1932 mehrere große typologische Aufsätze zu den Wandlungen des modernen Staates, den Vorbedingungen der Repräsentativerfassung, zu Feudalismus, Kapitalismus und posthistoristischen Ansätzen. Sein Plan einer Allgemeinen vergleichenden Verfassungsund Verwaltungsgeschichte Europas blieb jedoch Torso, nur in Teilstücken oder Vorlesungs-Mitschriften rudimentär faßbar. Die Verknüpfung von Gesellschaftsund Verfassungsgeschichte ist ihm darin allenfalls ansatzweise gelungen. Im publizierten Teil über Polen löste sich Hintze nicht von gängigen, deutschnationalen Urteilen über die „rückständige, entartete, ständische Adelsrepublik“. Hintzes Leben endete bitter. 1933 schlossen die HZ-Herausgeber Meinecke und Brackmann die linksrepublikanische Hedwig Hintze von der weiteren Mitarbeit aus. Umgehend ließ Hintze sich als Mitherausgeber streichen und brach den Kontakt mit Meinecke ab. Als Hintze 1938 den „Arier“-Fragebogen für die Berliner Akademie mit „jüdisch versippt“ beantworten mußte, fügte er dem sofort seinen Austritt aus dieser ehrenwerten Gelehrtengesellschaft an. Nach Hedwig Hintze, 1939 in die Niederlande geflohen, 1942 dem Vernichtungslager durch Suizid zuvorgekommen, ist seit 2004 ein Nachwuchspreis des Historikerverbandes benannt. Hintze war persönlich spröde, bescheiden und kränklich, kein Netzwerker oder typischer Großordinarius mit Sendungsbewußtsein und Geltungsdrang. Die Ausstrahlung seiner an sich innovativen theoretischen Positionen in die Zunft blieb gering, da er nie die projektierte vergleichende Verfassungsgeschichte in Buchlänge vorlegen konnte, die Aufsätze gesammelt erst ab 1962 in einer dreibändigen Werkausgabe vorlagen und er als bedeutender Exponent der preußischen Schule galt. Hintze wurde auch nach 1945 nicht zum rezipierten Vordenker der posthistoristischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, denn seine Werke sind deutlich den Jahren bis 1914 verhaftet und thematisch auf die Monarchie konzentriert. Bei aller Anerkennung etwa von H.-U. Wehler für den bedeutendsten deutschen Historiker im frühen 20. Jahrhundert ist nicht zu erkennen, welche innovativen Impulse von Hintze für heutige Historiographie, seien es gesellschaftsgeschichtliche, kulturhistorische oder transnationale Ansätze, ausgehen könnten – Hintze bleibt Repräsentant einer abgeschlossenen Epoche.352 352 Sönke Neitzel, Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000, S. 304 f., 313. Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen Bd. 2, hg. von G. Oestreich, Göttingen 1964, S. 46–65, Zit.

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✳ In paradigmatischer Weise läßt sich beim Nationalökonomen Gustav Schmoller (1839–1917) der archetypische Abstieg von kanonischer Geltung über die Sedimentierung hin zum Vergessen beobachten. Gebürtiger Württemberger und ab 1882 in Berlin lehrend, langjähriger Herausgeber des Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1908 nobilitiert und bis zu seinem Tode 1917 vielfältig vernetzter Gelehrtenpolitiker, galt der wilhelminische Großordinarius Schmoller in der (modellorientierten) Wirtschaftswissenschaft seit den 1920er Jahren als „toter Hund“ und „Verderber theoretischen Denkens“, zumal unter den gewandelten Nachkriegsbedingungen neue ökonomische Lösungen nötig erschienen. Im Kaiserreich hingegen hat die sog. jüngere historische Schule mit Schmoller als Schulhaupt in der Nationalökonomie dominiert. Drei Charakteristika lagen dieser Dominanz zugrunde: Schmollers Schule war methodisch deskriptiv-induktiv und historistisch ausgerichtet, begriff also die Wirtschaft als abhängige Variable geschichtlich legitimierter Systeme; sie war staatszentriert und fand ihr (antiliberales) Leitbild eher im sozialpolitisch aufgeschlossenen Beamten als im innovativen Unternehmer oder Marktkräften; sie war borussisch orientiert und proklamierte die Hohenzollern-Monarchie zum ausgleichenden „sozialen Königtum“ über den Parteien. Diese Konzentration auf den Staat als Akteur, Mediator und Repräsentant des Gemeinwohls brachte Schmoller hohe Reputation in der Berliner Ministerialbürokratie ein; er war gefragter Verbindungsmann, wenngleich konkrete ökonomische oder sozialpolitische Entscheidungen nicht auf ihn zurückzuführen sind. Als Initiator der Editionsreihe „Acta Borussica“ zur administrativen und ökonomischen Entwicklung im 18. Jahrhundert sowie mit seinen wirtschaftshistorischen Arbeiten legte Schmoller Preußen eine ex post konstruierte Sozialstaats-Tradition bei. Wie andere wilhelminische Gelehrte oder Ministerialbeamte (Theodor Lohmann, Friedrich Althoff, Hugo S. 64 f., im Band S. 7*–67* die Einleitung Oestreichs. Hintze, Hohenzollern, Vorworte zur 1./7. Auf. 1915, S. VIII und S. 685 (Zitate). Meine Darstellung nach und gegen Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861–1940, Paderborn 2015, S. 30, 189 f., 199, 374–393. Otto Büsch/Michael Erbe (Hg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Ein Tagungsbericht, Berlin 1983 (Beiträge von D. Gerhard, O. Büsch, R. Vierhaus, W. Schulze, J. Kocka, F. Gilbert), S. 119 zu Polen, S. 127 zu Lamprecht, S. 141 zu Simmel. Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten, Fragmente Bd.  1, hg. v. G. Di Costanzo u. a., Bari 1998. Kontexte liefern: Wolfgang Hardtwig/Philipp Müller (Hg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010 (Einleitung und Beiträge von A. Thomas, Ph. Müller und O. G. Oexle). Gerhard Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 208 (1969), S. 320–363, überliefert ein Zitat Hintzes von 1939, daß seine Studien von den Vertretern der „Helden-, Staats- und Kriegsgeschichte“ „nicht nach Gebühr“ geschätzt würden. Wehler, Land ohne Unterschichten, S. 118, 134 (Hintze bedeutend).

384  VII. Preußen und die Welt Thiel) wollte Schmoller den Problemen der Industriegesellschaft durch Staatsintervention und paternalistische Erziehung „von oben“ abhelfen – ohne politische Demokratie oder autonome Emanzipation. Über dieses Programm, typisch für die gouvernementale Intelligenz (Rüdiger vom Bruch), ging die Zeit nach 1918 hinweg. Im Zuge der neuen Institutionen-Ökonomik und der Suche nach sozialer Rahmung für die Wirtschaft aber nimmt man Schmoller in der Wirtschaftswirtschaft neuerdings wieder deutlicher wahr. Als (Wirtschafts-) Historiker Altpreußens wurde er stets rezipiert.353 Hans Delbrück (1848–1929), Lehrstuhl-Nachfolger Treitschkes ab 1896, betätigte sich einerseits als Militärhistoriker, andererseits als liberal-konservativer „Gelehrtenpolitiker“. Beim Strategiestreit mit dem Generalstab stellte er Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg als Exponenten einer Ermattungs-, nicht der von den Militärs zwecks Aktualisierung präferierten Niederwerfungsstrategie dar. Er war 1883–1919 Herausgeber und politischer Kommentator der meinungsbildenden „Preußischen Jahrbücher“. Wegen Kritik an Polizei-Schikanen gegen Arbeiter, die nach seiner Ansicht das Wachsen der Sozialdemokratie geradezu förderten, und Repressionen gegen Dänen in Schleswig wurde er 1895/99 zweimal (milde) disziplinarisch belangt. Vielfach für kluge Mäßigung und Deeskalation bei politischen Konflikten aller Art eintretend, ab 1915 nachdrücklich für innere Reformen werbend, wandelte er sich wie Meinecke ab 1918 zum Vernunftrepublikaner, und gilt heute als Urvater nicht rein militärtaktisch vorgehender Kriegsgeschichte. Besonders Schmoller und Hintze, aber weithin auch Meinecke oder Delbrück, waren bis in den Weltkrieg systemtreue Dissidenten, die das von west­ lichen Ländern verschiedene konstitutionelle System und das Beamtenregiment „über den Parteien“, die Sozialpolitik und die Wissenschaftstradition Preußens für überlegen hielten. Hans Delbrück brachte dies 1914 auf den Punkt: Man habe in Preußen-Deutschland „eine weit höhere und bessere Form der politischen Gestaltung (…) als in irgendeinem anderen Staate der Gegenwart“. Kritik übten er wie die ganze Gruppe gouvernementaler Intelligenz an Einzelfragen, etwa der repressiven Minderheiten-Politik, dem Egoismus der Junker oder Auswüchsen des Dreiklassenwahlrechts; positive Veränderung erhofften sie stets aufs Neue vom wohltätigen Staat.354 353 Karl Heinrich Kaufhold, Gustav Schmoller (1838–1917) als Historiker, Wirtschaftsund Sozialpolitiker und Nationalökonom, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), S. 217–252; Rüdiger vom Bruch, Gustav Schmoller: Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, in: Ders., Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S.  230–249; Nils Goldschmidt, Gustav Schmoller (1838– 1917), in: H. D. Kurz (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 1, München 2008, S. 287–305; Werner Plumpe, Gustav von Schmoller und der Institutionalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 252–275. 354 Annelise Thimme, Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955, S. 15–116, 151–155; Wilhelm Deist, Hans Delbrück. Militärhistoriker und

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Als grundsätzlicher Systemkritiker trat hingegen der Soziologe Max Weber (1864–1920) auf. Die weltweite Rezeption seiner vielfältigen Schriften hat seit Jahrzehnten Hochkonjunktur. Weber vereinte deutlicher als Hintze oder Schmoller nationalökonomische, historische und soziologische Stränge in seinem Werk und ist wegen seiner breiten theoretischen, zeitlich weitgespannten Herangehensweise anschlußfähig für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Wegweisende Aufsätze wie „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, „Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft“, Schriften zur Wissenschaftslehre, „Politik als Beruf “ sowie das posthum edierte Konvolut „Wirtschaft und Gesellschaft“ zeigen ihn als innovativen Denker. Eine dreifache preußische Prägung läßt sich erkennen: Erstens biographisch durch Lebenswelt und Lebenszeit zwischen Düppel und Versailles, zweitens im Werk als Gesellschaftsanalytiker und drittens in seiner politischen Publizistik. Die Verhältnisse des ländlichen Ostelbiens, die starke staatliche Bürokratie, Bürgertum und Adel, das preußisch-deutsche Regierungssystem seit Bismarck, die sozialökonomischen und kulturellen Folgen des Protestantismus, alle diese in Preußen virulenten Themen beschäftigten Weber. Gerade die erkannten sozialen Probleme im Kapitalismus und die Frage der Bürokratisierung immer weiterer Bereiche – das vielzitierte „eherne Gehäuse“ neuer Hörigkeit – bleiben universale Themen. Weltmachtstreben und Nationalismus waren Weber zumal in den 1890er Jahren nicht fremd, aber zugleich blieb er negativ auf das Herrschafts- und Gesellschaftssystem Preußen fixiert. Er äußerte dutzendfach scharfe Urteile über die egoistischen Junker, Bismarcks unheilvolles Erbe, die politisch unmündige Bourgeoisie, akademischen Antisemitismus oder negative Wirkungen von Friedrich Althoffs Universitätsregime. Es ist wohl kein Zufall, daß der in Berlin habilitierte Weber ab 1894 nicht mehr an einer preußischen Universität lehrte, sondern in Freiburg, Heidelberg und 1918/20 in Wien bzw. München. Mit seinem Einsatz für demokratische Staats- und Gesellschaftsform, Institutionalisierung sozialer Konflikte, Westorientierung und Welthandels- statt Weltmachtpolitik wurde Weber für M. R. Lepsius emphatisch zum „Ahnherrn der Bundesrepublik“. Wissenschaftlich anregend war er jedenfalls, etwa für Pierre Bourdieu, und ist es bis heute international.355 Publizist, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998), S.  371–383; Alexander Thomas, Geschichtsschreibung und Autobiographie: Hans Delbrück in seiner „Weltgeschichte“, in: W. Hardtwig/Ph. Müller (Hg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte, S. 195–215 (mit weiteren Nachweisen). Hans Delbrück, Regierung und Volkswille. Eine Vorlesung, Berlin 1914, S. 186 (Zitat); ebd., bes. S. 59 f., 66, 127 f., 131, 181, 184 zu den vermeintlichen Vorteilen gegenüber westlichen Systemen. 355 Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014, S. 20 ff. M. Rainer Lepsius, Max Weber und seine Kreise, Tübingen 2016, S. 152. Pionierwerk zur Gelehrtenpolitik: Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, S. 16.

386  VII. Preußen und die Welt

2.

Preußen-Kritiker, Preußen-Apologeten und die ­ausländische Sicht

Ausgesprochene Preußen-Kritiker blieben auch in den 1920er Jahren und bis 1945 unter den Fachhistorikern minoritär. Veit Valentins Geschichte der 1848er Revolution (1930), Johannes Ziekursch‘ dreibändige Politische Geschichte des Kaiserreichs (1925/30), Erich Eycks Bismarck-Biographie, natürlich Werner Hegemanns anklagendes, als Sakrileg geschmähtes Fridericus-Buch (1926) oder Raimund Kaindls dezidiert österreichische Sicht auf die deutsche (Fehl-) Entwicklung im 19. Jahrhundert sind als Beispiele hierfür zu nennen. In den „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte“ wurde derartiger Revisionismus zwei Jahrzehnte lang entschieden zurückgewiesen, und wie bis 1914 schwerpunktmäßig Außenpolitik, Staatsbildungsprozesse, Militär- und, methodisch offener, Landesgeschichte behandelt. Schulgeschichtsbücher wie etablierte Historiker hielten an der Hochschätzung Preußens fest, so daß ein republikanischer Aufbruch unterblieb. Immerhin beauftragten Reichs- und preußische Regierung sowohl eine siebenbändige Stein-Edition wie eine populäre Stein-Biographie, in der Franz Schnabel 1931 politische Bezüge zwischen dem Reichsfreiherrn und der Republik herausstellte, etwa das Leitbild des mündigen Bürgers. Dem aus süddeutsch-katholischer Perspektive preußenkritischen Schnabel hielt Gerhard Ritter reale sachliche Fehler vor und sendungsbewußtselbstgerecht auch politische Tendenzhistorie.356 Preußischer Geschichte, primär der Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte des 19.  Jahrhunderts, widmete sich der Lehrstuhl-Nachfolger Hintzes ab 1923 Fritz Hartung. Zunächst politisch freikonservativ, nahm er ab 1918 die Republik mangels Alternative hin, aber stützte sie nicht aktiv öffentlich, etwa im Rahmen des verfassungstreuen Professoren-Zirkels Weimarer Kreis. 1933 verteidigte er die akademische Wissenschaftsfreiheit im Grundsatz, aber riskierte keine offenen Konflikte mit dem NS-Staat, etwa beim (zurückgezogenen) Abschiedsgesuch Eduard Sprangers. Hartung war von Hitlers außenpolitischen Erfolgen beein356 Caroline Flick, Werner Hegemann (1881–1936). Stadtplanung, Architektur, Politik. Ein Arbeitsleben in Europa und den USA, 2 Bde., München 2005, Bd. 1, S. 575 ff., 592 ff. Raimund F. Kaindl, Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung, Wien 1926. Klaus Neitmann, Preußische Geschichtswissenschaft während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Spiegel der „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“, in: Kraus (Hg.), Das Thema „Preußen“, S. 31–100. Pars pro toto: Heinrich Otto Meisner, Preußen und der „Revisionismus“. Eine Abwehr, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 43 (1930), S.  252–289. Mirow, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild, S. 164–179 (Schulgeschichtsbücher). Duchhardt, Mythos Stein, S. 48–58, 115–121 und Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 210–224. Zur Situation 1918–33 allgemein Spenkuch, Wissenschaftspolitik in der Republik,S. 117–135.

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druckt, aber hielt an seinen preußisch-konservativen Überzeugungen fest. Zur Wahrung wissenschaftlicher Standards wies er 1934/35 die durchsichtig-ahistorische Konstruktion des NS-Kronjuristen Carl Schmitt zurück, daß der erfolgreiche Militärstaat Preußen vom bürgerlich-liberalen Konstitutionalismus seit 1866 geschwächt und in die Niederlage 1918 getrieben worden sei, so daß nur der absolute Souverän – Führer und Militär – Deutschlands künftigen Wiederaufstieg gewährleisteten. 1945 bedeutete die große Wende im Leben Hartungs zwischen Preußen und der DDR. Seine späteren Schriften, bis Ende der 1950er Jahre im Kontext der Durchsetzung von SED-Herrschaft und der zunehmend bedrängten (Ost-) Berliner Akademie entstanden, waren nun kritischer gestimmt. In seine Studien zur preußischen Verwaltung flossen sozialgeschichtlich-kollektivbiographische Aspekte ein, während seine Deutsche Verfassungsgeschichte „von oben“ her und ohne Aktennutzung auf das 19./20.  Jahrhundert blickt, immerhin Abschnitte über Parteienentwicklung einbeziehend. 1946 hielt Hartung die deutschen Historiker für mitverantwortlich an der geistigen Vorbereitung des Nationalsozialismus und gebrauchte 1950 das Bild vom Irrweg, den Deutschland unter Wilhelm II. begonnen habe und der unter Hitler im Amoklauf kulminiert sei. Von Hartung stammt ein aussagekräftiges Schlußwort über Preußen, das er 1946 nach Lektüre von Meineckes Aufsatz „Militarismus und Hitlerismus“ dem Autor brieflich zusandte: „Obwohl ich mich mit Ihnen darin einig glaube, daß Hitler das Preußentum mißbraucht und unverdient in Mißkredit gebracht hat, so muß ich Ihnen doch darin Recht geben, daß zwischen Militarismus und Hitlerismus eine Verwandtschaft besteht. Es ist die Schwäche Preußens gewesen, daß es die Enge und Härte, die ihm von seiner Entstehung an anhaftete und die in dem Mißverhältnis zwischen den zur Verfügung stehenden materiellen Kräften und der selbst gewählten Aufgabe der Großmachtbildung begründet war, niemals hat überwinden können. Alle Anläufe, aus der Enge herauszukommen und wahrhaft deutsch zu werden, sind immer wieder gescheitert und haben das Junkerliche und Ungeistige nur immer stärker ausgeprägt, sodaß es jetzt wohl mit Preußen endgültig vorbei ist.“357

357 Zu Hartung Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 [1989], München 1993, S. 16, 207 f. Hartung, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, dort S. 376– 392 die Rezension von Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit. Versuch über Fritz Hartung (1883–1967), in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 221–250, S. 225 f. Dort (S. 246) ist der Brief an Meinecke vom 6.4.1946 in: GStA PK, VI. HA, NL Meinecke, Nr. 14, Bl. 137, bereits teilsweise gedruckt. Hans-Christof Kraus, Fritz Hartung, in: Ders. (Hg.), Geisteswissenschaftler II (= Berlinische Lebensbilder Bd. 10), Berlin 2012, S. 307–327.

388  VII. Preußen und die Welt 1933/34 hatten nicht wenige deutschnationale Gelehrte im Nationalsozialismus die Wiederauflage oder Fortsetzung von Preußens Gloria erblickt; umgekehrt nahmen Goebbels oder Göring damals wie später gerne Preußen als Vorbild heroischen Kampfes und Siegesglaubens in Anspruch, Stichworte: Tag von Potsdam, Friedrich-Filme, Kolberg-Epos 1944, Durchhalteappelle 1945. Politische Anknüpfungspunkte gab es bezüglich der Volkstums- oder Siedlungspolitik im Osten, freilich nicht für Rassenideologie und Menschheitsverbrechen. Für Preußen-Historiker galt Staat als Zentralkategorie, nicht Volk. Aber Republikablehnung und Machtstaatsorientierung, Nationalismus und Befürwortung autoritärer Führung stellten eine ideelle Brücke dar, so daß die Verantwortung hauptsächlich im Verhalten bis 1933 liegt. In der Praxis wurde 1933–45 weder vermehrt zu Preußen geforscht noch war das Gros der Historiker bis Januar 1933 originäre Nationalsozialisten. Die meisten arrangierten sich mit dem NS-Staat; wenige wie der jüdischstämmige Hans Rothfels wurden verfolgt (und in der Emigration geläutert), andere wie Carl Hinrichs profitierten und machten in ihren Werken kleinere oder größere Konzessionen an die NS-Linie. Publizistisch gab es vor und unmittelbar nach Kriegsende bekannte und weniger bekannte Abrechnungen von August Siemsen (Preußen die Gefahr Europas, Paris 1937), Friedrich Wilhelm Foerster (Europa und die deutsche Frage, Luzern 1937), Wilhelm Kosch (Preußen vor dem Richterstuhl der Geschichte, Nymwegen 1945), Wilhelm Röpke (Die deutsche Frage, Zürich-Erlenbach 1945), Alexander Abusch (Der Irrweg einer Nation, Ost-Berlin 1946) u. a. m. Sie alle zogen – doch zu simple – Kontinuitäten von Preußen seit Friedrich II. über Bismarck zu Hitler, hielten aber unisono die Abkehr vom Modell Preußen für überfällig und liberal-demokratische Westorientierung für nötig. In der akademischen Historiographie wie der Publizistik der Bundesrepublik fand sich nach 1945 eine Dreiteilung. (Neubekehrte) Preußen-Gegner bezeichneten Preußen als Ursache des Nationalsozialismus oder wie Meinecke 1946 als förderlichen Faktor. Nationalkonservative trennten Preußen vom Nationalsozialismus, verstanden diesen als Pervertierung des guten Preußen und widmeten sich spezifischen Ausschnitten oder Biographien. Jüngere und die Mehrheit der im Nationalsozialismus wirkenden Fachwissenschaftler ließen das abgeschaffte Preußen stillschweigend beiseite und verfolgte andere Themen. Stephan Skalweits Schlußsatz in seiner Sammelrezension von 1954 besaß offenkundig AppellCharakter an die Kollegen: Die besprochenen Preußen-Arbeiten zeugten „von dem Lebens- und Erkenntniswert, den die preußische Geschichte noch immer und gerade wieder besitzt“.358 358 Mommsen, Preußentum und Nationalsozialismus; Clark, Preußen, S.  743–753. Zu den Historikern: Jäger/Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 95–112. Skalweit, Preußen als historisches Problem, S.  210. Die kritischen Werke sind genannt bei Arno

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Ludwig Dehio, preußischer Archivar in Charlottenburg und Marburg, 1949– 56 erster Nachkriegs-Herausgeber der Historischen Zeitschrift, erntete jahrelang dezidierte Ablehnung mit seiner Bejahung von Kontinuitäten zum NS-Staat und seiner Bezeichnung des Nationalstaats als überlebt. Das „Erfolgsrezept“ Preußens, Militarismus und aggressive Außenpolitik, Machtstreben und autoritäre Führung, waren für ihn die durchgängigen Linien von Friedrich II. zu Hitler und Mitursachen für beide Weltkriege. Seine Nähe zur Sichtweise der alliierten Kriegsgegner diskredierte ihn in den Augen vieler Historiker-Kollegen, zuvörderst denen Gerhard Ritters, des Vorsitzenden des Historikerverbandes, als Nestbeschmutzer wie später Fritz Fischer.359 Der jahrzehntelang in Freiburg lehrende Gerhard Ritter betätigte sich vor wie nach 1945 als Verteidiger Preußens. 1948 hielt er gegenüber Meinecke daran fest, daß altpreußischen Militärstaat, wilhelminische Weltpolitik und NS-Herrschaft keine Kontinuitäten, sondern Degeneration nach 1890 verbinde. Im vierbändigen Werk „Staatskunst und Kriegshandwerk“ (1954–1968) führte er dies umfangreich aus. Beleg waren ihm nicht zuletzt die Verschwörer des 20. Juli, deren personeller Kern Altpreußen und deren ideelles Fundament preußische Tugenden gewesen seien. Als nationalliberaler Hitler-Gegner 1932 und 1944/45 sogar Inhaftierter hielt Ritter die Fahne des unter Friedrich II. und Bismarck rationalen Preußen hoch. Wenigen Kritikpunkten (Kommißgehorsam, mangelnde zivilmilitärische Koordination, französisch inspirierter Nationalismus und Opportunismus des Bürgertums) steht die Hochschätzung des Machtstaats gegenüber. Unverblümt hieß es in Ritters Biographie Friedrichs II. 1936, der König habe mit der Eroberung Schlesiens „den Grund für die Größe Preußens gelegt; und so ist seine Tat vor der Geschichte gerechtfertigt: als eine Tat ‚sui generis‘, als der gewagte, aber unvermeidliche Durchbruchsversuch eines Staates, der (…) aufstrebt zu weltgeschichtlicher Geltung“. In der Neuauflage von 1954 lautet dieses Stelle modifiziert: „und solange dessen [Preußens] Aufstieg dauerte, konnte seine Tat als gerechtfertigt vor der Geschichte erscheinen“. Ritters Werk quillt über vor Stereotypen der Machtstaatsideologie: Frankreich war „schwächlich geführt“ um 1740, Polen „siechte (…) hoffnungslos dahin“, Georg II. von England habe „alles daran gesetzt, eine Koalition zustande zu bringen, die Preußen von allen Seiten einkreisen und zu Fall bringen sollte“; zwar sei in England der Glaube „an die unverbrüchliche Gültigkeit ewiger, über alles Völkergetriebe erhabener Grundsätze des Rechts und der Billigkeit“ nicht ganz geschwunden, aber PreuKlönne/Helmut Donat, Vorwort zu August Siemsen, Preußen die Gefahr Europas, Berlin 1981, S. I–XXIX, S. XIII f. 359  Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  90–106; Thomas Beckers, Abkehr von Preußen. Ludwig Dehio und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, Aichach 2001, S. 50 ff. Ludwig Dehio, Der Zusammenhang der preußisch-deutschen Geschichte 1640–1945 [1960], in: O. Büsch/W. Neugebauer (Hg.), Moderne preußische Geschichte, Bd. 3, S. 1623–1639.

390  VII. Preußen und die Welt ßen bedurfte „am dringendsten der Vergrößerung seines Länderbestandes“, denn das entsprach dem „Lebensrecht der Großvölker“. 1756 bestand die „Einkreisung Preußens“ und die „Ähnlichkeit der Vorgänge von 1756 und 1914 ist ja nicht zufällig“, weshalb man die belgische Neutralität überrennen mußte, „weil es schlechterdings keinen anderen Weg gab“. Über den „allerhand fleckigen oder morschen Stellen“ dürfe man nicht die „großartige Anlage des ganzen Bauwerks“ Friedrichs II. übersehen, da ja „zu dieser Zeit in Wahrheit aller politische Fortschritt an dem Wirken dieser einen Persönlichkeit hing; ohne ihre Allmacht wäre Preußen keinen Schritt vorwärts gekommen; jede Mitarbeit ständischer Organe hätte nur hemmend oder gar lähmend gewirkt.“ Ritter vertrat, gewisse Lerneffekte wie die Unterstützung außenpolitischer Westorientierung seit den 1950er Jahren ausgenommen, zeitlebens borussisch-nationalprotestantische Positionen mit dem erklärten Ziel, den Deutschen, zumal der Jugend, eindeutige historische Orientierung zu vermitteln. Ritter verteidigte das wahre Preußen gegen G. P. Gooch, Erich Eyck und Ludwig Dehio. Fritz Fischers Arbeiten zur deutschen Hauptverantwortung am Ersten Weltkrieg hielt er 1962 für „politisches Flagellantentum“ und nationalmasochistische „Selbstverdunkelung“.360 Über die politisch borussischen Absichten und realhistorischen Fehlurteile der Preußen-Historiker der Bundesrepublik Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), Walther Hubatsch (1915–1984) und Gerd Heinrich (1931–2012) ist bereits im Forschungsbericht von Barbara Vogel 1986 das Nötige bemerkt worden. Der 1946 remigrierte Schoeps behandelte „das andere Preußen“ der Hochkonservativen der Vor-Bismarckzeit mit größter Sympathie, suchte geistesgeschichtlich die „Ehre Preußens“ zu retten und legte 1966 eine mehrfach nachgedruckte Darstellung mit wissenschaftlichem Anspruch vor, worin der vornationale, vermeintlich politisch moderate, aufgeklärte, protestantische Staat bis 1866 im Mittelpunkt steht. Schoeps hielt 1970 der angeblich „im moralischen und weltanschaulichen Nihilismus“ versinkenden Jugend Preußens Staatsidee als Rettungsanker vor Augen: Die „rauhe Luft der Pflichterfüllung“, der „dauernde Zwang zur Leistung“ und „selbstloser Dienst“ seien jene Traditionswerte Preußens bis 1933 gewesen, die ethische Gesundung bewirken könnten. 360 Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S.  46–64. Mildere Beurteilung durch den ehem. Assistenten Ritters Klaus Schwabe, Gerhard Ritter und die Bedeutung Preußens für die deutsche Geschichte, in: Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“, S. 355–373. Zitate nach Gerhard Ritter, Friedrich der Große. Ein historisches Profil, 1. Aufl., Leipzig 1936, S.  100 und 3. Aufl., Heidelberg 1954, S.  102, sonst 1. Aufl., S. 98–101, 115, 130, 245, 248, 252 ff. Hinweis darauf bereits bei Klaus Schwabe/Rolf Reichhardt (Hg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 41, 43 sowie Gotthard, Preußens deutsche Sendung, S. 346. Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 269 ff. (Friedrich II.), 507 ff. (Eyck), 568 ff. (Militarismus). Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 47–67, Ritter-Zitat S. 52.

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Bei Hubatsch und Heinrich bildeten „Staat und Dynastie“, dies der Untertitel von Heinrichs Darstellung, den Gegenstand. Beide feierten in ihren Werken Friedrichs II. Größe und Kriege, rechtfertigten die polnischen Teilungen, schätzten gesellschaftliche Bewegungen gegenüber der „staatsbildenden Kraft“ der Dynastie gering ein, ignorierten bürgerliche Öffentlichkeit und Wirtschaft weitgehend, warfen 1848er Demokraten „zügellose Demagogie“ vor, gegen die der Staat die Ordnung bewahren mußte, straften Linke mit Spott. Den Nachdruck der Schriften Johann Jacobys, „‘eines Außenseiters ohne jede nachhaltige Wirkung‘“ suchte Hubatsch dem Verlag noch 1972 (erfolglos) als überflüssig ausreden. Den Machtstaat Preußen hingegen erklärte er zum „Eckpfeiler Europas“ und seine östlichen Provinzen zu „Bastionen abendländischer Staatsgesinnung“. Für Hubatsch bildeten „‘Staatszucht und Staatsdienst‘“ den Inbegriff der Reformen ab 1807. Er begründete 1958 die Reihe „Studien zur Geschichte Preußens“, in der drei Jahrzehnte lang rund 40, teils beachtliche Dissertationen und Monographien zum östlichen Preußen und dessen Verwaltungsgeschichte vom 17. bis zum späten 19. Jahrhundert erschienen. Als Zentralfiguren im Lager der „neoborussischen Apologetik“ (Jürgen Mirow) scharten Hubatsch, Schoeps oder Heinrich Gesinnungsgenossen und Schülerkreise um sich. Preußen-Verehrer finden in ihren Publikationen bis heute ihre geschätzten Referenzwerke. Auch mehrere sehr verständnisvoll gestimmte Sammelbände von essayistischem Charakter hielten in den 1960er Jahren Preußen publizistisch präsent. Die unstrittig bedeutendste wissenschaftliche Preußen-Publikation der Nachkriegsjahrzehnte, Reinhart Kosellecks „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (1967), ist außerhalb borussischer Kreise als Habilschrift bei Werner Conze entstanden. Die originelle Konzeption der Verknüpfung von Rechtsrahmen (Allgemeinem Landrecht), Modernisierungstätigkeit der Staatsverwaltung und unbeabsichtigten, dialektischen Folgewirkungen, nämlich verminderte bürokratische Steuerungsfähigkeit aufgrund der sozioökonomischen Wandlung von der Stände- zur Klassengesellschaft, hat die Forschungsdebatte zur Epoche 1815–1847/48 langjährig inspiriert. Spätere quellenbasierte Studien modifizierten ­Kosellecks Thesen teilweise.361 361 B. Vogel, Anmerkungen, S. 476–481. Frank-Lothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010, S. 35 ff., 58 ff., 73 ff. Schoeps, Preußen, S. 297 f.; Ders., Preußen und Deutschland. Wandlungen seit 1763, Berlin 1970, S. 270 f. (Zitate). Frank-Lothar Kroll, Walther Hubatsch und die preußische Geschichte, in: Kraus (Hg.), Das Thema „Preußen“, S.  435–461, Zitate S.  441, 457. Mirow, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild, S.  239 (Zitat). Harald v. Koenigswald/Hans-Joachim v. Merkatz (Hg.), Besinnung auf Preußen. Autorität und Freiheit – gestern und morgen, Oldenburg 1964; Hans-Joachim Netzer (Hg.), Preußen. Porträt einer politischen Kultur, München 1968; Richard Dietrich (Hg.), Preußen. Epochen und Probleme seiner Geschichte, Berlin 1965. Stürmer, Das zerbrochene Haus, S. 185; Marian Nebelin, Das Preußenbild Reinhart Kosellecks, in: Kraus (Hg.), Das Thema „Preußen“, S. 333–384.

392  VII. Preußen und die Welt ✳ Ungeachtet aller Publikationen ist kürzlich konstatiert worden, nach 1945 habe das Thema Preußen „bei sehr vielen, nicht nur deutschen Historikern als politisch weitgehend kontaminiert“ gegolten. Dies wird erstens als Folge der unwahren nationalsozialistischen Preußen-Propaganda eingestuft und zweitens als Werk von „wahrhaft merkwürdigen Koalitionen“ aus angeloamerikanischen Kriegssiegern, deren „Umerziehungskünste“ Friedrich Sieburg zufolge willfährige deutsche Rezipienten fanden, mit rheinisch-katholischen und süddeutschen Autoren, die „Preußentum, Illiberalismus und Untertanengeist“ stets in eins gesetzt hätten, bezeichnet. Öffentlich habe das „negative PreußenKlischee“ dominiert. War das so und lauten die Gründe dafür: Verzerrung, Vorurteil, Verschwörung? Erstens werden damit die Publikationen von Carl Hinrichs und Gerhard Oestreich, Otto Büsch und Reinhart Koselleck, Fritz Hartung und Hagen Schulze sowie das Wirken dezidierter Preußen-Verteidiger von S. A. Kaehler über Gerhard Ritter bis zu Stephan Skalweit übersehen. Zweitens wird die Unrichtigkeit und Illegitimität der süd(west)deutsch-katholischen Position vorausgesetzt, die ja nicht 1945 entstand, sondern tief ins 19. Jahrhundert zurückreichte. Drittens wird semantisch die antinazistische „Umerziehung“ in fahles Licht gerückt. Viertens darf sich die neoborussische Gesinnungshistoriographie (W.  Neugebauer) die geringe Ausstrahlung selbst zurechnen. Bereiche wie Aufklärung und Juden in Preußen, 1848/49, die Arbeiterbewegung oder die Zeit des Freistaats waren jedenfalls nicht kontaminiert, aber bei Preußen-Freunden ebenso unbeliebt wie kritische Ansätze zu Traditionsthemen. Selbst wenn man politische Restriktionen einmal unterstellt: Daß die Bundesrepublik nicht auf preußische Traditionsbestände rekurrierte, weder auf Monarchen noch Militär, weder auf Ostelbien noch Hindenburg, weder auf Staatsmetaphysik noch Großmachtanspruch, bedauerten schon ab 1947 und umso mehr gegenwärtig nicht viele. In der Fachhistorie der Bundesrepublik konnten sukzessive Kernelemente borussischer Geschichtsauffassung nicht mehr überzeugen: Daß Preußen aus Staatsräson alternativlos ein Machtstaat mit starkem Militär werden, dessen fähige, erfolgreiche Herrscher vom Volk Opfer verlangen mußten; daß die deutsche Einheit nach Vorarbeiten Friedrichs II. unter dem größten Staatsmann aller Zeiten, Bismarck, glorios erreicht wurde; daß das partikularistische Süddeutschland unfähig zur Reichsbildung war, dabei aber undankbar gegen Preußen, zudem teils klerikal wie das im Schlendrian absteigende Österreich, nicht aufgeklärt und protestantisch; daß mißgünstige Feinde, vor allem Frankreich, Preußens Erfolge neideten, als sie 1756 wie 1914 heimtückisch Koalitionen gegen den Kulturstaat par excellence schmiedeten; daß nur Volkseinigkeit unter geborenen Führern preußischer Herkunft und preußische Tugenden die Zukunft Deutschlands sichern könnten. Die Mehrheit der Betrachter heute wird dies als (auch politischen) Fortschritt einer zivilen Republik ohne Hero-

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en, aber mit Bürgerrechten, Demokratieprinzip und klarer Westorientierung ansehen.362 Kritische Revision in den Reihen der Fachhistoriker unternahmen nach 1945 zunächst vom Ausland her gutenteils zwangsemigrierte Forscher mit anregenden Werken, die auf die universitäre Historiographie der Bundesrepublik ausstrahlten, etwa George P. Gooch, Francis L. Carsten, Erich Eyck, Hajo Holborn, Hans Rosenberg, Ernst Fränkel, Andreas Dorpalen, Hans W. Gatzke, Fritz und Klaus Epstein, Leonard Krieger, Gordon A. Craig, Alfred Vagts, Eugene N. Anderson, Klemens von Klemperer, Fritz Stern, George Mosse, zudem der 1933 jung in den USA verstorbene, erst ab 1965 in Westdeutschland rezipierte Eckart Kehr.363 Manche wirkten auch als Gastprofessoren im Inland, andere bauten ihre Schülerkreise in den westlichen Zufluchtsländern auf. Eine jüngere Generation, die als Jugendliche aus Deutschland oder Österreich fliegen mußten, verstärkte die Reihen der als Erwachsene emigrierten Historiker auf insgesamt 205 Personen. Alle waren nach 1945 Brückenbauer zur Bundesrepublik. Einfluß erlangte speziell Hans Rosenberg, der von Nachwuchshistorikern zwischen Berlin, Köln und Freiburg rezipiert wurde und die entstehende Sozial- und Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Prägung beeinflußte. Preußen-Verteidiger wie Walther Hubatsch hielten den Emigranten, etwa F. L. Carsten 1962, eine durch die „freiwillige oder erzwungene Distanz zum Mutterlande“ erklärbare mangelnde Empathie vor, bemängelten bei anderen Autoren die „von den Quellen völlig entfernte spekulative Deutung“ und sahen die außerdeutsche Publizistik generell von den „vergröbernden und leidenschaftlichen Meinungen“ verzerrt. Gerhard Ritter gestand Hajo Holborn gönnerhaft zu, sich trotz des „Amerikanismus“ warmes Verständnis für 362 Hans-Christof Kraus, Zur Einführung: Fragen und Probleme der Historiographie Preußens in der Zwischenkriegszeit und nach 1945, in: Ders. (Hg.), Das Thema „Preußen“, S. 7–16, Zitate S. 12 f. Schon die Forschungsüberblicke von Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte; Seier, Region, Modernisierung und Deutschlandpolitik; Vogel, Bemerkungen zur Aktualität der preußischen Geschichte sowie Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, Zitat S. 545, 561, widersprechen Kraus‘ Ansichten. 363 George P. Gooch, Frederic the Great. The ruler, the writer, the man, London 1947; Francis L. Carsten, The Rise of Prussia (engl. 1954), Köln 1968; Erich Eyck, Bismarck und das Deutsche Reich, 3 Bde., Erlenbach 1941–44; Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, 1958; Ders., Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; Ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978; Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, History of a Political Tradition, Chicago 1957; Gordon A. Craig, The Politics of the Prussian Army 1640–1945, Oxford 1955; Alfred Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, 2 Bde., New York 1935; Ders., A History of Militarism, New York 1937; Eugene N. Anderson, The social and political conflict in Prussia (1858–1864), Lincoln 1954; Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von H.-U. Wehler, Berlin 1965.

394  VII. Preußen und die Welt die deutsche Geschichte bewahrt zu haben. Wurden Themen der preußischen Geschichte jahrzehntelang in den USA kritisch, aber auch innovativ bearbeitet, so mußte 2011 der Craig-Schüler David E. Barclay beim Blick auf den gegenwärtigen Stellenwert solcher Themen in den USA und die jüngere Fachliteratur „Preußens Verschwinden“ konstatieren. Zu fern liegen preußische Traditionsthemen jüngeren Forschern angesichts durch Internationalisierung und Globalisierung geänderter Fragestellungen.364 Binnendeutsch machte ab 1978 die sog. „Preußenwelle“ Furore. Sebastian Haffner legte sein mehrfach nachgedrucktes Buch „Preußen ohne Legende“ – streckenweise dem Rubrum Preußen als Legende zuordenbar – vor und der Publizist Bernt Engelmann brachte den Band „Preußen – Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ (1979) heraus. Als ferner für 1981 eine Preußen-Ausstellung in WestBerlin geplant war, fürchtete Hans-Ulrich Wehler, daß im Zuge der zeitgleichen sog. Tendenzwende im Zeitgeist politisch gefährliche Nostalgie aufschwappe, der „Obrigkeitsstaat im Goldrähmchen“ wieder salonfähig werde und die alte Ideologie des „Dienstes am Staat“ mit Preußen als leuchtendem Gegenbild zur Bundesrepublik sich als Konzept erneut etabliere. Aber dem war nicht so: Sowohl der fünfbändige Berliner Ausstellungskatalog als auch Publikationen wie Graf Krockows „Warnung vor Preußen“, Martin Greiffenhagens „Die Aktualität Preußens“ und Rudolf von Thaddens „Fragen an Preußen“ (alle 1981) hielten borussische Staatsgesinnung oder Mythen keineswegs als Grundlage für bundesrepublikanische politische Kultur oder Geschichtsbewußtsein geeignet. Dirk Blasius‘ Sammlung grundlegender Aufsätze „Preußen in der deutschen Geschichte“ sowie natürlich Wehlers kritisch akzentuierte Essay-Sammlung „Preußen im Rückblick“ taten dies noch weniger. Bei einer Tagung der Berliner Historischen Kommission zum Preußenbild in der Geschichte 1978 traten deutlich konträre Auffassungen zwischen borussophilen und kritischen Sichtweisen zu Tage (Hubatsch – Wehler, Peter Baumgart – F. L. Carsten, Karl Erich Born – Helmut Böhme). Der Dissens in den Ansätzen und im Grad von Empathie besteht zuweilen bis heute fort.365 364 Gerhard A. Ritter, Die emigrierten Meinecke-Schüler in den Vereinigten Staaten. Leben und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld zwischen Deutschland und der neuen Heimat: Hajo Holborn, Felix Gilbert, Dietrich Gerhard, Hans Rosenberg, in: Historische Zeitschrift 284 (2007), S. 59–102. Walther Hubatsch, Preußen als internationales Forschungsproblem, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13 (1962), S. 71–86, 71, 75, 79; Philipp Stelzel, The Second-Generation Emigrés‘ Impact on German Historiography, in: Andreas W. Daum u. a. (Hg.), The Second Generation. Emigrés from Nazi Germany as Historians, New York/Oxford 2016, S. 287–303, S. 294 (G. Ritter an H. Holborn 1960); im Band S. 33 ff. die Liste aller 205 nach Nordamerika emigrierten Historiker der 1. und 2. Generation. David E. Barclay, Preußens Verschwinden. Ein Streifzug durch die angloamerikanische Literatur in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5,4 (2011), S. 52–64. 365 Haffner, Preußen ohne Legende; Bernt Engelmann, Preußen. Land der unbegrenzten Möglichkeiten, München 1979; Wehler, Preußen ist wieder chic, S. 16 f. Preußen. Eine

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✳ In der DDR war eine quasi spiegelverkehrte Entwicklung zu beobachten. Der langjährigen staatsoffiziellen und historiograpischen Verdammung Preußens folgte seit 1979/80 die Anerkennung gewisser progressiver Elemente in seiner Historie, die als Erbe, so der Begriff, von der sozialistischen Gesellschaft der DDR zu erschließen und partiell zu integrieren seien. 1980 kehrte das Reiterstandbild Friedrichs II. unter die Linden zurück, Fernsehserien über Scharnhorst (1978), Clausewitz (1980) oder „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ (1985–88) offerierten dem breiten Publikum territorial verankerte Identifikationsangebote. Räumlicher Besitz der Hinterlassenschaft Preußens, augenfällige Kunstdenkmale und Archivquellen in Merseburg bzw. Potsdam bildeten die materiale Grundlage dazu. Die Frühneuzeithistorikerin Ingrid Mittenzwei legte eine kritische, aber nicht verdammende Biographie Friedrichs II. vor, Ernst Engelberg eine überaus verständnisvolle Bismarcks; Aufsatzsammlungen und eine Gesamtdarstellung Brandenburg-Preußens bis 1789 erschienen. Mitarbeiter von Akademie der Wissenschaften oder Humboldt-Universität publizierten solide Arbeiten zur Agrargeschichte, zur Revolution 1848/49 oder zu preußischen Biographien des 19. Jahrhunderts, auch wenn Klassiker-Zitationen, Verdächtigungen gegenüber bürgerlichen Historikern und Verklärung der DDR als Endpunkt deutscher Geschichte obligatorisches Beiwerk blieben. Die geschichtspolitische Wende um 1980 war gutenteils Ostberliner Reaktion auf westdeutsche Impulse, aber bedeutete für DDR-Historiker mehr professionelle Freiheit in einer lange von SED-Vorgaben geprägten Disziplin. Hingegen gelang der offizielle Versuch, durch Bezug auf Preußen ein historisch begründetes DDR-Nationalbewußtsein zu fördern, nicht. Überzeugte Sozialisten und manche SED-Kader nahmen den Kurswechsel der 1980er Jahre irritiert zur Kenntnis, bevor 1991/92 ein teils maßlosungerechter Kehraus die DDR-Geschichtswissenschaft abwickelte.366 Bilanz; Krockow, Warnung vor Preußen; Martin Greiffenhagen, Die Aktualität Preußens, Frankfurt/M. 1981, bes.  S. 54–72; Thadden, Fragen an Preußen; Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte; Puhle/Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick. Die Berliner Tagung dokumentiert in: Büsch (Hg.), Das Preußenbild in der Geschichte. 366 Horst Bartel/Ingrid Mittenzwei/Walter Schmidt, Preußen und die deutsche Geschichte [1979], in: H. Meier/W. Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker, Köln 1988, S.  112–128 (zentraler Text). Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen, Berlin 1979; Ernst Engelberg, Bismarck, Bd. 1, Berlin 1985; I. Mittenzwei/K.-H. Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789, Berlin 1983; G. Seeber/K.-H. Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte nach 1789, Berlin 1983; Ingrid Mittenzwei/ Erika Herzfeld, Brandenburg-Preußen 1648 bis 1789, Berlin 1987. Analyse bei: Edgar Wolfrum, Die Preußen-Renaissance. Geschichtspolitik im deutsch-deutschen Konflikt, in: M. Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 145–166; P.-M. Hahn, Friedrich der Große, S. 188–211; André Keil, The Preußenrenaissance Revisited: German-German Entanglements, the Media and the Politics of History in the late German Democratic Republic, in: German History 34 (2016), S. 258–278 und Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung, S. 583–604.

396  VII. Preußen und die Welt ✳ Die erwähnte Berliner Historische Kommission hat auch maßgeblich die bis dahin – mehrere Pionierwerke ausgenommen – eher durch Bonmots präsente europäische Sicht auf Preußen in den Fokus gerückt und erste Ergebnisse vorgelegt. Dieser Ansatz, die Sicht ausländischer Beobachter auf Preußen, genoß in den letzten Jahrzehnten größere Beliebtheit und soll im Folgenden etwas vertieft werden, denn er verspricht noch immer Erkenntnispotential.367 Berichte von Diplomaten aus Berlin (und anderen Landeshauptstädten) in ihre jeweiligen Zentralen, keineswegs nur außenpolitische Fragen betreffend, wurden bereits früh ediert; die Reports der britischen Gesandten aus den Staaten des Deutschen Bundes 1816–1866 bzw. ab 1871 sind das zeitlich letzte Beispiel. Fremde Blicke auf Preußen sind ein Indikator jedenfalls im diachronen Verlauf. Zwar ist zu berücksichtigen, daß teils sprachunkundige Ausländer von oppositionell gesinnten deutschen Informanten lanciertes Material verwendeten, Stereotypen fortgeschrieben wurden, die jeweilige außenpolitische Lage Einfluß nahm, aber die ausländischen Betrachter waren nicht völlig fremdgesteuert oder gänzlich ihren ideologischen Vorurteilen verhaftet. Grosso modo ist eine Entwicklung nach Phasen festzustellen und die Gattung ist eine Form kultureller transnationaler Kommunikation mit Erkenntnispotential. Die Sicht im späten 18.  Jahrhundert war einerseits von der Erkenntnis der monarchischen Autokratie, des Militärstaats und des Wirtschaftsdirigismus‘, andererseits von Verständnis für die schwierige Mittellage und Respekt für Friedrich II. geprägt. Insbesondere in Großbritannien herrschte im Gefolge des Bündnisses im Siebenjährigen Krieg drei Jahrzehnte geradezu Prussomania. Seit den 1830er Jahren wurde das protestantische Preußen als (potentieller) Reformstaat mit vorbildlichem Bildungswesen und möglicher Bündnispartner für England bzw. die USA wahrgenommen. Nach 1870 gab es Anerkennung für die Leistung Bismarcks, die wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung und Hoffnung auf weiteren liberal-demokratischen politischen Fortschritt. Im Zuge von Bülows Weltpolitik und Flottenbau, der Aufrüstung in Europa und diplomatischen Krisen wurden die politischen Einschätzungen nach 1900 negativer, wenngleich manche kulturelle Affinitäten fortdauerten. Wie seit Madame de Stael die französischen, erkannten nun speziell englische oder amerikanische Beobachter two Germanies. 367 O. Büsch (Hg.), Preußen und das Ausland, Berlin 1982. Frühe Werke waren: Gilbert Ziebura, Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs von 1911–1914, Berlin 1955; Klaus Rudolf Wenger, Preußen in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1815–1870, Göttingen 1979; Manfred Schlenke, England und das friderizianische Preußen 1740–1763, Freiburg/München 1963; Günter Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860–1914, Wiesbaden 1974. Diplomatiegeschichtlich: Enno Eimers, Preußen und die USA 1850 bis 1867. Transatlantische Wechselwirkungen, Berlin 2004.

2. Preußen-Kritiker, Preußen-Apologeten und die ­ausländische Sicht  

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In politischer und zivilisatorischer Hinsicht unterschieden sie das militärischobrigkeitliche, expansive (östliche) Preußen und das bürgerlich-zivile Süd- und Westdeutschland in der Tradition des Heiligen Römischen Reiches und der klassischen Geisteswelt. Ähnlich differenzierte auch der Italiener Giuseppe Antonio Borgese 1909 das liebenswürdige Süddeutschland von der „Prussia autoritaria e violenta, militaresca e rozza“. Unverkennbar waren bei auswärtigen Betrachtern vor 1914 bereits jene argumentativen Muster vorhanden, die im Ersten Weltkrieg beim Kampf der Federn gegen den Prussian Despotism aufgegriffen wurden.368 Der liberaldemokratische belgische, in Edinburgh lehrende Romanist Charles Sarolea formulierte 1912 am entschiedensten die Eckpunkte: „Prussia stands in the way of political advance”, und solange “Prussian spirit shall prevail in the councils of the German Empire, it behoves us to be vigilant and (…) European liberty and European democracy are still at the mercy of military force and political tyranny”. Ganz Deutschland lebe unter Preußens Bann. Dabei sei Süd- und Westdeutschland wie zu Zeiten Madame de Staels poetisch, kunstliebend, leger im Umgang, individualistisch, lokalpatriotisch; aber materialistische, steife, disziplinierte, staats- und machtfixierte Preußen hätten es durch eine mächtige Armee und die junkeradelig dominierte Verwaltung unter ihre Kontrolle gebracht. Sarolea prophezeite: „Before Prussian reaction capitulates, it will play its last card und seek salvation in a European conflagration”. In dieselbe Kerbe 1913 schlug der liberale US-Amerikaner L. Price Collier, ehedem Student in Heidelberg. Er anerkannte das Niveau der Volksbildung, die Daseinsvorsorge der Städte, die große Buchproduktion und die klassische Literatur, aber geißelte Preußen wegen „seiner steifen Unbeholfenheit als regierende Macht“ und seiner harten Methoden z. B. bei der Germanisierung als „unfreundlichen Nachbar und anmaßenden Herrscher“. „Keine andre Bevölkerung würde sich den preußischen Methoden fügen, die Deutschland geschaffen haben, und es gibt auch 368 Volker M. Schütterle, Großbritannien und Preußen in spätfriderizianischer Zeit (1763–1786), Heidelberg 2002, S.  107  ff. Ulrich Päßler, Fremdes Preußen. Wahrnehmungen in Großbritannien und in den USA im 19. Jahrhundert, in: Neugebauer (Hg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens, Berlin 2014, S. 289–306; British Envoys to Germany 1816–1866, 4 Bde. London 2000–2010, Bd. 1871–1883 hg. v. M. Mößlang, Cambridge 2016; Dominik Geppert/Robert Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Affinity, Oxford 2008; Richard Scully, British Images of Germany. Admiration, Antagonism and Ambivalence 1860–1914, Basingstoke 2012, S. 1–7. Ilja Mieck, Das Preußenbild der Franzosen zwischen 1815 und 1870, in: M. Grunewald/J. Schlobach (Hg.), Vermittlungen. Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17.  Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 1, Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 281–301. Berichte von Italienern analysiert: Klaus Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte. Bd. 2: 1800–1915, Heidelberg 2008, zu Borgese S. 627 ff., Zit. S. 634. Matthew S. Seligmann, Germany and the Origins of the First World War in the Eyes of the American Diplomatic Establishment, in: German History 15 (1997), S. 307–332.

398  VII. Preußen und die Welt nirgends auf der Welt ein Volk, das nach ihnen verlangt“. Aus amerikanischer Sicht „würde jedes Opfer, jeder Krieg noch immer besser sein als die Vorherrschaft der preußischen Methode des Nation-Machens“. Preußen-Deutschlands staatsfixiertes politisches System und Führungsfiguren im Gefolge Bismarcks oder Wilhelms II. fanden nach etwa 1900 unter US-Amerikanern keine Bewunderer mehr. Der französische Soziologe Paul Descamps beklagte nach drei Besuchen 1911/13 gleichfalls die Dominanz Preußens in Militär, Verwaltung und politischer Kultur. Damit erleide der deutsche Westen „la déformation prussienne, de sorte qu‘elle présente des caractères différents de ceux qu’elle aurait eus naturellement.“ Ihm mißfielen gesellschaftliche Hierarchie, die Macht der kontrollversessenen Bürokraten, allgegenwärtige Verbotsschilder. Auf eine relativ breite, auch deutschsprachige Literaturbasis rekurrierend und noch vor Kriegsausbruch verfaßt, legten die Oxforder Politologen John A. R. Marriott und Charles C. Robertson 1915 ihre Entwicklungsgeschichte Preußens seit dem Mittelalter vor. Ohne Anstrengungen und Leistungen zu leugnen, wurde Friedrich II. aus liberaler Sicht lähmender Wirtschaftsdirigismus, selbstsüchtige Autokratie und „ruthless interference with the liberty, property and lives of every Prussian vorgehalten“ vorgehalten. Preußen sei nicht durch Freiwilligkeit oder Gesetzgebung geschaffen, sondern durch Bürokraten und Soldaten. 1866/71 bedeutete für sie die „Prussianization of Germany“ und „the grip of the Prussian governing class on the Imperial Executive was the real arcanum imperii”. Im Epilog werden Regierung bzw. Eliten und Bevölkerung differenziert: „Prussia imposed her will in all the essentials that made the principles and atmosphere of policy, and the Prussian will was not the will of the Prussian people but of the Prussian governing class.” Selbst der seit den 1880er Jahren um britisches Verständnis für das Reich werbende Publizist William H. Dawson, der dessen städtische Selbstverwaltung, umfangreiche Sozialpolitik und das entwickelte Bildungswesen als vorbildliche Errungenschaften betrachtete, äußerte sich ab 1908 kritischer zu deren illiberalen Begrenzungen. Unter dem Eindruck des Weltkriegs hielt er 1915 Staatsfixierung, Verpreußung Deutschlands und Machtstaatsdenken für Grundübel. Der 1911–14 vieldiskutierte Standpunkt des Pazifisten Norman Angell, daß zwar „Prussianism“ als rückschrittliche, inhumane Verknüpfung von Machtstaatsdenken und Militarismus verschwinden müsse, um gemeinsam Frieden und Fortschritt in Europa zu befördern, aber es Kriegsverherrlichung auch in Großbritannien gebe – „The Prussian within our midst“ formulierte er – und bloße Siegerwillkür nach einem Kriegssieg keine innere Umkehr der Deutschen und kollektive Sicherheit mit ihnen erreichen könne, geriet mit dem blutigen Verlauf des Krieges zur randständigen Minderheitsmeinung auf der Insel.369 369 Charles Sarolea, The Anglo-German Problem, London u. a. 1912, S.  63, 67, 88  f., 305, 364. L. Price Collier, Deutschland und die Deutschen vom amerikanischen Gesichtspunkt aus betrachtet, Berlin 1914 (englisch London 1913), S. 311, 356, 360.

3. Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945  

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Zugespitzt und politisch instrumentalisiert wurden die bereits vorhandenen Versatzstücke der Wahrnehmung bekanntermaßen im Herbst 1914. In einem englischen Sammelband aus diesen Monaten schrieb der deutschstämmige Alfred Zimmern, es habe „really always been two Germanies, different in history, in temper, in ideals, and in their stages of development in civilization” gegeben. Dabei sei „the Prussian outlook so foreign to western habits of thought”, denn „Prussia remains today, what she has been for the last two centuries, an aggressive military monarchy”. Hier bilde selbst „Culture, like military service, a part of the State machinery”. Deshalb gelte: „Our real opponent is the system of training and education, out of which both German culture and German militarism spring.” Das „Prussian system” bedeute „elaborate control and direction from above” und damit das Gegenteil von liberty, free assoziation and civil responsibility in England. Anders als zu Zeiten Humboldts sei die spezifisch deutsche Sichtweise nun „to regard the citizen as existing for the State, instead of the State for its citizens.” Diese schon vor 1914 vielfach nachweisbare Sichtweise hatten vor dem Ersten Weltkrieg sozialisierte britische und amerikanische Politiker im Kopf, als sie, hier mit den Worten Churchills, im Zweiten Weltkrieg planten, die süddeutschen Staaten von Preußen zu separieren, denn „southern Germans were not going to start another war“, und äußerten „Prussia is the root of the evil and the Prussian military caste“, weshalb die Auflösung Preußens zugunsten föderaler Länder ein Kriegsziel bilden müsse. Das alliierte Auflösungsdekret von 1947 gründete evident in Jahrzehnten negativer europäischer Preußen-Rezeption.370

3.

Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945

Die Politiker der unmittelbaren Nachkriegsjahre folgten der negativen Sicht der Alliierten auf Preußen nicht unter Zwang, wegen plötzlicher Ressentiments oder aus blindem Opportunismus, aber natürlich im Kontext des Besatzungsregimes Scott H. Krause, A Modern Reich? American Perceptions of Wilhelmine Germany, 1890–1914, in: K. Jarausch u. a. (Hg.), Different Germans, Many Germanies: New Transatlantic Perspectives, New York 2017, S. 25–52. Paul Descamps, La formation sociale du Prussien moderne, Paris 1916, S. 4, 247 ff., 265. John A. R. Marriott/Charles C. Robertson: The Evolution of Prussia. The Making of an Empire, Oxford 1915, 3. Aufl. 1946, S. 143 f., 281, 435 f. Stefan Berger, W. H. Dawson: The Career and Politics of an Historian of Germany, in: English Historical Review 116 (2001), S. 76–113, S. 81–91. Norman Angell, Prussianism and its Destruction, London 1914. Resümee: Keith Robbins, Present and Past. British Images of Germany in the First Half of the Twentieth Century and their Historical Legacy, Göttingen 1999, S. 19–30. 370 R. W. Seton-Watson u. a., The War and Democracy, London 1914, ND Port Washington/London 1970, S. 90, 98 f., 356, 359, 361. Ähnlich Sätze bei Torstein Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution, New York 1915, ND 1964, S. 153 f., 249, 270. Robert Cooper, The Myth of Prussia, S. 225 f. (Churchill 1943/44).

400  VII. Preußen und die Welt und auch aus politischem Kalkül. Insbesondere katholische CDU/CSU-Vertreter von Adenauer bis Stegerwald bezeichneten (Alt-)Preußen als Geburtsstätte des Militarismus und Kernland des Nationalsozialismus, zudem verbunden mit einer antiwestlichen Einstellung, der Idee von Staatsomnipotenz und zugleich dem gottlosen Sozialismus. In dieser historischen Betrachtung ließ sich die damalige CDU-Programmatik mit der Einigungsformel der frühen Bundesrepublik – Antimarxismus und Anti-DDR-Haltung – kombinieren. Paradigmatisch kann dafür eine Rede Peter Altmeiers stehen. Der spätere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz erklärte 1946 in Koblenz für die Ohren der französischen Besatzungsmacht die Rheinländer und Pfälzer zu Opfern einer historischen Fehlentwicklung. Seit der reichsfeindlichen Hausmachtpolitik Friedrichs II. sei die Führung auf Kräfte Ostelbiens übergegangen, deren legitime Nachfolger Hitler und seine Paladine waren. Am Rhein habe der zentralistische Machtstaatsgedanke keine Wurzeln geschlagen, sei der preußische Militarismus niemals zuhause gewesen, sondern selbst in der Nazizeit demokratisches, föderales und friedliebendes Denken lebendig geblieben. Man bekenne sich zur traditionellen Verbindung mit den Völkern Westeuropas. Deshalb müsse nach dieser hundertjährigen Preußen-Verirrung das Kraftzentrum zur politischen Weiterentwicklung wieder wie früher an den Rhein zurückkehren, um Deutschland nun (wieder) in die europäische Völkergemeinschaft einzugliedern. Ähnlich äußerte sich Rudolf Amelunxen als erster Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens 1946. Das neue Land bedeute völlige Abkehr vom „blutrünstigen Idol des Machtstaates“, zumal an Rhein und Ruhr immer friedlebende, kultivierte Menschen gelebt hätten, ohne Kommißgeist, aber mit Achtung vor der Freiheit des Individuums. In der Sicht Konrad Adenauers führte die Staatsvergottung in Preußen von Bismarck zu Hitler. Mit Bismarck sah er eine verhängnisvolle Entwicklung eingeleitet, geradezu einen Sonderweg, und billigte ihm nicht den Status als „strahlender Heros“ zu. Bismarck war für Adenauer ein „sehr schlechter Innenpolitiker“, einzig für die Sozialpolitik zollte er ihm Lob. Hingegen gestand er zu: „Außenpolitisch war er ein wirklich großer Meister“, Realpolitiker im besten Sinne, und daran orientierte er sich. Inhaltlich freilich lehnte Adenauer bekanntlich die preußische Schaukelpolitik zwischen Ost und West dezidiert ab und verfolgte die Maxime der festen Verankerung im Westen. In den zentralen Punkten der Beurteilung traf sich Adenauer mit Willy Brandt, der als Sozialist im Exil (1944) die preußische Traditionsline von Militarismus und Junkermacht bekämpfte. Brandt sah das reaktionäre Deutschland von Preußen und dessen nationalsozialistischen Erben im Widerstreit mit dem guten Deutschland der Arbeiterbewegung und Teilen des Liberalismus. Auch er setzte sich von Bismarcks „Blut und Eisen“-Rede ebenso ab wie von neutralistischer Großmachtpolitik. Das Reich sei ein Groß-Preußen gewesen. In den 1960er Jahren und im Blick auf das erstrebte Kanzleramt harmonisierte Brandt dieses Geschichtsbild und formulierte 1969 taktisch: „Preußen war besser als sein Ruf.

3. Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945  

401

Es hat vieles an guten Eigenschaften und Errungenschaften in unseren Staat eingebracht.“ Brandts praktische Politik danach war jedoch eine in Methoden wie Zielen deutlich andere und er äußerte sich über Bismarck und Preußen später nicht mehr explizit.371 Zu drei Zeitpunkten gab es in den letzten Jahrzehnten erhöhte wissenschaftliche wie breite publizistische Aufmerksamkeit. Anläßlich der Preußen-Ausstellung 1981, im Umfeld des „Preußenjahres“ und der medialen Debatte um die Umbenennung Brandenburgs in Preußen 2001/02 sowie nach der Publikation von Christopher Clarks Buch 2006/07. Vom schroffen Gegensatz zwischen Verdammung und Ehrenrettung konnte keine Rede sein. Merklich mildere Urteile wurden geäußert; unterschiedliche Akzentuierungen bleiben freilich bis heute. Deutlich verringert hat sich mit dem Ende des „Restpreußen“ DDR und anschließender Wiedervereinigung, der Konzentration auf die NS-Vergangenheit und dem kulturalistischen Fokus in der Wissenschaft der politische Stellenwert. Formulierte Michael Stürmer 1982 noch beschwörend, „wer die preußische Geschichte sich aneignet, der meint die künftige Gestalt der deutschen Nation”, hielt Christian Graf Krockow 1981/1993 noch eine „Warnung vor Preußen“ für angebracht und befürchtete Wehler damals politische Nekrophilie, so ist der unmittelbare Nutzwert heute weit geringer. Berliner Politiker versuchten in Festreden 2001, aus Preußen zugeschriebener religiöser Toleranz, Offenheit für Zuwanderung und multiethnischem Nebeneinander ein Vorbild für aktuelle politische Problemlösungen im Sinne von Multikulturalismus herzuleiten. Aber besondere Sympathien für das historische Staatsmodell Preußen fanden und finden sich weder in Süd(west)deutschland noch im Ausland. Die kurz danach ventilierte Idee der Umbenennung Brandenburgs in Preußen blieb eine Debatte der Zeitungsfeuilletons. Der CDU-Politiker Norbert Lammert setzte sich davon ab. Er benannte die Eroberungskriege, Lessings Diktum zur geringen Meinungfreiheit in Preußen, Heines Wort vom „Tartuffe unter den Staaten“, die begrenzte Rechtsstaatlichkeit und den Primat des Staates gegenüber den Untertanen klar. Für Lammert verkörperte Adenauer den Bruch mit den schlechten Traditionen und den Neubeginn als demokratischer Rechtsstaat mit (west-) europäischer Einbindung. Das war 371 Maria Mitchell, Materialism and Secularism: CDU-Politicians and National Socialism, 1945–1949, in: Journal of Modern History 67 (1995), S. 278–308, S. 291 ff. Michael Kißener, Haßlieben am Rhein. Vergleichende Beobachtungen zur bayerischen und preußischen Präsenz am Rhein im 19. und 20. Jahrhundert, in: Franz J. Felten (Hg.), Preußen und Bayern am Rhein, Stuttgart 2014, S.  47–62, 58–60 (Altmeier). Veit Veltzke, „Über den Tod hinaus“. Gedanken über die Beziehung Nordrhein-Westfalens zu einem untergegan-genen Staat, in: G. Mölich u. a. (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen, S. 381–398, S. 383 f. (Amelunxen). Ulrich Lappenküper (Hg.), Otto von Bismarck im Urteil deutscher Bundeskanzler, Friedrichsruh 2009, S. 21–27 bzw. 36 ff., 51 f.

402  VII. Preußen und die Welt keine Verdammung rundum, aber eine westdeutsch-katholisch akzentuierte Absetzung von Preußen. Der amerikanische Historiker Gavriel Rosenfeld rubrizierte dies 2004 unter der Überschrift der „New Normalcy“, die er aber zugleich als dauerhaft unter dem Schatten der NS-Vergangenheit stehend ansah. Die tendenzielle Entpolitisierung und Ästhetisierung öffentlicher Präsentationen hat generell eine problematische Seite. Denn Gestalten wie Friedrich II., Bismarck, Wilhelm II. bleiben populär wie überhaupt im breiten Publikum die Orientierung an Herrschern, großen Männern und ihren vermeintlichen Großtaten nicht gering ist. In dieser Wahrnehmung wird jedes Gebäude, jede Aktion, jede Neuerung dem gerade regierenden Monarchen zugeschrieben. Damit sitzt man der früheren monarchistischen Stilisierung auf und hängt einem reduktionistischen Geschichtsbild an. Bert Brecht hat dagegen die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ gestellt: Brauchte nicht selbst jeder Alexander oder Cäsar mindestens auch einen Koch zur Bereitung des Siegesschmauses. Allgemein gesprochen: Ohne Mitarbeiter und Ideengeber, opferbereite Soldaten und folgsame Untertanen kamen „große Herrscher“ früher nicht aus. Dies sollte moderne Geschichtserinnerung reflektiert berücksichtigen.372 Zu den lange und in Ausläufern bis heute erinnerten Versatzstücken aus der Vergangenheit Preußens zählen die preußischen Tugenden: Disziplin und Pflichtbewußtsein, Einsatzfreude und Zuverlässigkeit, Unbestechlichkeit und Bescheidenheit, Ordnungssinn und Fleiß, Pünktlichkeit und Sparsamkeit. Mit beabsichtigter oder unfreiwilliger Ironie bemerkte der Pädagoge Eduard Spranger im Rückblick 1947 dazu: „Wer auf preußische Art gelebt hat, kann in seinem Alter nicht sagen, daß er viel vom Leben gehabt habe.“ Als erste Frage drängt sich auf: Was ist preußisch daran? Der historische Ursprung der Tugenden ist zu Recht bei Friedrich Wilhelm I. lokalisiert worden, denn sie liegen nahe beim reformiert-pietistischen Ethos. Arbeitsleistung und Pflichterfüllung als Weg zur Erlangung der Gnade Gottes, in erkennbarem Kontrast zur Lebens- und Sinnenfreude des barocken Katholizismus. Musikalischer Ausdruck war das Lied „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab“, das seit 1797 dem Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche unterlegt war. Mit paternalistisch vorgegebenen Tugenden sollten im 18. Jahrhundert den ungebildeten Unterschichten grobe Sitten, Unbeherrschtheit und Genußfreude zugunsten eines Arbeitsethos ausgetrieben werden. Seit Gerhard Oestreich wird dieser Vorgang im Begriff Sozialdisziplinierung gefaßt. 372 Michael Stürmer, Ein Preußen für die DDR – umstrittenes Erbe, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982), S.  582–598, Zitat 585. Norbert Lammert, “Letztlich sind wir alle Preußen”. Adenauer und Preußen: Das doppelte Erbe, in: Die politische Meinung 385 (2001), S. 79–85, wieder abgedruckt in: Bömelburg/Lawaty (Hg.), Preußen, S. 576–584. Rosenfeld, A Mastered Past? S. 519 ff.

3. Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945  

403

Aus der Genese wird bereits deutlich, daß die Tugenden generell auf Nutzen für den Staat orientiert und speziell als Vorgaben für Beamte oder Militärs gedacht waren. Die Tugenden standen regelmäßig im Kontext von kritikloser Hingabe an Kollektive, zumal Preußen. Was in der Regel nicht mitgeliefert wurde, waren Erläuterungen zum Zweck und zum Wertebezug der Tugenden. Die zentrale inhaltliche Problematik besteht aber gerade in der Frage der Rückbindung an humane Werte, denn abstrahierte Tugenden ohne solche Verankerung sind leicht mißbrauchbar und geraten dann zu sog. Sekundärtugenden. Diesbezüglich erregte Oskar Lafontaine 1982 einen Sturm der Entrüstung, als er gegen Helmut Schmidt gerichtet meinte, mit Sekundärtugenden wie Pflichtgefühl und Standhaftigkeit, abgekoppelt von humanem Wertbezug, könne man auch ein KZ betreiben. Tatsächlich hatten die Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Preußen-Deutschland den Tugenden weithin die Überzeugungskraft genommen; die Instrumentalisierung zugunsten von Kadavergehorsam und Arroganz, Obrigkeitsgläubigkeit und Einordnung in Kollektive stand warnend vor Augen. Zumal den Ideologen der sogenannten Konservativen Revolution der 1920er Jahre dienten Preußens Tugenden als Chiffre zur Propagierung ihrer Ziele wie starker Staat (Arthur Moeller van den Bruck), antiliberaler „Sozialismus“ (Oswald Spengler), Osten versus Abendland (Ernst Niekisch), Schaffung eines neuen Reichs (Wilhelm Stapel). Traditionen und konstruierte Wesensmerkmale Preußens sollten den ersehnten machtpolitischen Wiederaufstieg Deutschlands befördern. Diese phantasievollen Konstruktionen waren spätestens 1934 bloße Makulatur. Aber auch darüber hinaus dienten die als spezifisch preußisch stilisierten Tugenden oft dazu, andere Länder oder Mentalitäten abzuwerten. Jedoch erheben binnendeutsch Württemberger und Hanseaten, Westfalen und Hannoveraner ebenfalls Anspruch auf den Besitz dieser positiv gedeuteten Eigenschaften. Sie firmierten im Ausland, z. B. bezüglich der deutschen Auswanderer in Brasilien, als deutsche Tugenden. Umgekehrt bestand ein Teil der (Vor-) Urteile der Nachbarn über Deutschland aus solchen über Preußen, nämlich Staatsorientierung und Militarismus, Ordnungsfanatismus und Pflichtstrenge, Humorlosigkeit und Rechthaberei. Hingegen galten bis vor wenigen Jahrzehnten, ja gelten zuweilen noch heute, Freiheitsliebe und Individualismus, Humor und Ironie oder großzügige Jovialität nicht als deutsche Tugenden. Um die Tugenden zu retten, deuten Preußen-Freunde sie entweder zu positiven, zeitlos menschlichen um oder bezeichnen sie als für jedes Gemeinwesen nötige. Aus den Tugenden seien religiöse Toleranz, humane Asylpraxis, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs- und Kulturstaat erwachsen – der kausale Zusammenhang wird beschworen, nicht bewiesen. Mögen Fleiß, Zuverlässigkeit, Sparsamkeit bei Individuen als positiv gelten, so müssen abstrakte Tugenden auf staatlicher Ebene auf ihren Zweck und die verfolgten ethischen Ziele hinterfragt werden. Betrachtet man als Ziele demokratischer Staatlichkeit Menschenwürde und politische

404  VII. Preußen und die Welt Freiheit, gesellschaftlichen Pluralismus und individuelle Selbstverwirklichung, Wohlstandsmehrung für alle und partizipative Entscheidungsfindung, dann sind preußische Tugenden schon aufgrund ihrer historischen Vorbelastung als Leitbegriffe staatlicher Organisation im 21.  Jahrhundert untauglich. Abschreckend mögen zudem Versuche autoritärer Regime, z. B. in China, wirken, mit Tugenden analog den preußischen von oben gesetzte sozioökonomische Modernisierung durch ein stilisiertes Vorbild historisch zu legitimieren. Fazit: Das unscharf definierte Konglomerat „preußische Tugenden“ dient meist als nostalische Verklärung früherer, vermeintlich besserer Zustände oder zur Untermauerung politisch rückwärtsgewandter Absichten.373 Wie die preußischen Tugenden als im 21.  Jahrhundert unzeitgemäßer Mythos gelten dürfen, so sind auch andere Mythen Preußens mit dem Untergang des Staates verblasst. Der Kult um Königin Luise beispielsweise, in den 1920er und 1930er Jahren noch ungemein populär. Unter den geänderten Rahmenbedingungen nach 1945 taugte Luise als Frau, Monarchengattin und antinapoleonische Führungsfigur nicht mehr als Rollenmodell oder Identifikationsfigur. Einen wichtigen, seit den 1950er Jahren neu konstruierten Groß-Mythos stellte die Stilisierung des preußischen Adels im Umkreis des 20. Juli 1944 zur einzigartigen und vorbildlichen Bastion gegen Hitlers Nationalsozialismus dar. Der geringe Wahrheitsgehalt dieser Konstruktion ex post ist inzwischen allein wegen der Quantität nachgewiesen – fünfzig adeligen Todesopfern infolge des Attentats standen je viele Tausend adelige NSDAP-Mitglieder und Offiziere preußischer Herkunft gegenüber. Zudem gilt für die meisten Verschwörer von 1943/44 (Henning v. Tresckow, Carl-Hans Graf Hardenberg, Rudolf-Christoph v. Gersdorff und andere mehr), daß sie 1933/34 die Beseitigung der Republik bejubelten, als Wehrmachtsangehörige 1939/40 Polen bzw. Frankreich mit überfielen und jahrelang verifizierte Kenntnis von Kriegsverbrechen und Vernichtungsaktionen im 373 Eduard Spranger, Das Preußische (um 1947), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Tübingen 1970, S. 392–410, S. 406. Frank-Lothar Kroll, Sehnsüchte nach Preußen? Preußenbild und Preußendiskurs nach 1945, in: Ders., Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn 2001, S.  241–251, 248  f. Hans Hecker, Preußen – Staat der Grenzen. Ein Versuch über Voraussetzungen und Wirkungen staatsbedingter Tugenden, in: G. Hundrieser u. a. (Hg.), Geistiges Preußen – Preußischer Geist, Bielefeld 2003, S. 13–25. Michael Epkenhans u. a., Preußen. Aufstieg und Fall einer Großmacht, Stuttgart 2011, S. 152 f. Astrid v. Schlachta, Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über Preußen, Darmstadt 2014, S. 59–71. Hans-Christof Kraus, „Preußen“ als politische Chiffe. Zum Preußenbild der Konservativen Revolution, in: M. C. Bienert/L. Lüdicke (Hg.), Preußen zwischen Demokratie und Diktatur. Der Freistaat, das Ende der Weimarer Republik und die Errichtung der NS-Herrschaft 1932–1934, Berlin 2018, S. 221–240, 235, 239. Frederik Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt. ‚Deutschtum‘ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien (1824–1941), Köln u. a. 2016, S. 135 f.

3. Verblassende Mythen: Preußen-Rezeption nach 1945  

405

Osten besaßen. Andreas Kosserts Diktum, ohne den Adel hätte es keinen 20. Juli 1944, aber auch keinen 30. Januar 1933 gegeben, bündelt dies prägnant. Aber dieser Mytos entfaltete in der Bundesrepublik auch einen dialektischen Turn. Indem sich Eliten(teile) als antinazistisch stilisierten, integrierten sie sich ideologisch leichter in die neue Bundesrepublik, wandten sich vom extremen Nationalismus ab und dem liberal-föderalen Europa zu. Diese Wendung stärkte die politische Kultur des Bonner Staates, als es im Westen zwar eine Republik gab, deren mentale Verankerung und sozial-demokratischer Ausbau aber Zeit erforderten. Diese und andere Nachwirkungen könnten in einer systematisch recherchierten, quellengestützten Rezeptionsgeschichte Preußens in Politik, Kultur und Geistesgeschichte der Bundesrepublik wie auch der DDR analysiert werden – ein Desiderat künftiger Preußenforschung. Preußen als Erinnerungsort verbleibt in der Regel die Funktion als Idealstaat für heimatlose politische Nationalkonservative der Bundesrepublik, für die Staatsorientierung, Autoritätsgedanken, Opferbereitschaft, Militärfreudigkeit politische Werte darstellen, oder als historische Wärmestube für nostalgisch fühlende Zeitgenossen, die in der jubiläumsfreudigen Gegenwart genug von negativen Erzählungen haben und schon den Nationalsozialismus als überaus belastend empfinden. Überzeugte Bewunderer findet man meist bei rechtsorientierten Kreise am Rande des demokratischen Spektrums oder gar jenseits davon: Beim Preußen-Apologeten Ehrhardt Bödecker, in Zollern-Kreis und Preußeninstitut, beim hohenzollern-monarchistischen Verein „Tradition und Leben“, im Rahmen der „Preußischen Gesellschaft Berlin-Brandenburg“, im Namen der Lobby „Preußische Treuhand“ um das Erstreiten von Entschädigung für OderNeiße-Flüchtlinge, bei Alexander Gauland und Björn Höcke vom nationalkonservativen Flügel der AfD. All das mag man als lunatic fringe abtun, günstig für Preußens Image post mortem im In- und Ausland sowie für seriöse, öffentlicher Fördergelder bedürftige Preußen-Forschung ist es nicht.374 374 Philipp Demandt, Luisenkult. Die Unsterblichkeit der Königin von Preußen, Köln 2003; Birte Förster, Der Königin-Luise-Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit“ 1860–1960, Göttingen 2009, S. 403–409. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 573–593; Gerd R. Überschär (Hg.), Nationalsozialistische Verbrechen und der deutsche militärische Widerstand gegen Hitler, Darmstadt 2000; Regina Holler, 20. Juli 1944. Vermächtnis oder Alibi, München u. a. 1994; Eckart Conze, Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 483–508, 497 (Dialektik); Jan ­Eckel, Intellektuelle Transformationen im Spiegel der Widerstandsdeutungen in: St.-A. Glienke u. a. (Hg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S.  140–176. Mölich u. a. (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen, S. 8 (Desiderat). Wolfgang Wippermann, Preußen. Kleine Geschichte eines großen Mythos, Freiburg 2011, S. 159–163 (rechter Rand).

406  VII. Preußen und die Welt

4.

Internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens

Preußens Geschichte hatte stets internationale Bezüge. Für die Außenpolitik, die Wirtschaft oder die politische Ideengeschichte sind diese Bezüge seit langem einbezogen worden. Die Wahrnehmung durch das Ausland wurde in diesem Band mehrfach berührt. Seit einem Jahrzehnt erfreut sich der transnationale Ansatz zunehmenden Zuspruchs. Er fokussiert die Interaktion oder Verflechtung zwischen Individuen, Gruppen und Organisationen über die Grenzen von einzelnen (National-)Staaten hinweg und entwickelt ein Deutungsmuster, das über traditionelle Nationalgeschichte hinausgeht. Obwohl als Beziehungsgeschichte auch auf das 16.–18.  Jahrhundert anwendbar, befassen sich Studien dieser Richtung eher mit dem 19. und 20. Jahrhundert. Methodisch werden Verflechtungs- oder Transferprozesse bevorzugt. Aufgrund der Globalisierung in weiten Lebens­ bereichen begreifen auch Historiker Geschichte wissenschaftlich im weltweiten Zusammenhang und untersuchen einerseits das Teilgebiet Globalisierung, andererseits mit der Zugangsweise Globalgeschichte Themenfelder, die vom Warenhandel über Umweltgeschichte bis zur Kunstform Oper reichen. Globale Betrachtung löst sich vom Europazentrismus des „the West and the rest“. Der transnationale oder globalgeschichtliche Ansatz darf als zukunftsträchtiger Weg der Forschung gelten, denn er weitet das alte nationale Paradigma, das übernationale Perspektiven marginalisierte; er entspricht der Lebenswelt auch von Historikern im 21. Jahrhundert und ist wegen der kontinuierlich vermehrten Kontakte über Nationsgrenzen hinweg sinnvoll, ja nötig.375 Bezogen auf Preußen ragen vier umfangreiche Gegenstands- und Forschungsfelder für inter- und transnationale Verflechtungen heraus: 1) Preußen in Ost(mittel)europa, 2) Migrationen nach bzw. aus Preußen heraus seit 1648, 3) Preußens Beziehungsgeschichte zu Staaten anderer Kontinente von der wirtschaftlichen Dimension bis zum Kulturtransfer, 4) Preußen und der Kolonialismus vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Diese Felder werden nachfolgend etwas detaillierter entfaltet, um Breite und Relevanz, gewisse Defizite und künftiges Forschungspotential herauszupräparieren.

375 Zur Definition von transnationaler Geschichte und der Abgrenzung zur Globalgeschichte vgl. Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 16–19 sowie Philipp Gassert, Transnationale Geschichte, in: F. Bösch u. a. (Hg.), Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S.  445–462. Zur Globalisierung Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, 2. Aufl., München 2004. Preisgekröntes Pionierwerk für Globalgeschichte: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

4. Internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens  

407

Auf der Hand liegt das erste Gegenstandsfeld, nämlich die Beziehungen Preußens zu Ost(mittel)europa und die Rolle seiner (späteren) Ostprovinzen als Teil dieser Region. Im 17. Jahrhundert standen Ost- und Westpreußen unter der Oberhoheit der Krone Polens, die Stände waren personell wie ideell vornational, die politischen, wirtschaftlichen und lebensgeschichtlichen Verflechtungen mit Polen-Litauen dürften intensiver als mit dem fernen Berlin-Brandenburg gewesen sein. Die Königskrönung 1701 wurde erst vor dem Hintergrund des spanischen Erbfolge- bzw. des nordischen Krieges möglich, die dem Wiener Kaiser wie dem Warschauer Wahlkönig aus Sachsen Friedrich August die Einwilligung nahelegten. Schon im mittleren 16. Jahrhundert und erneut ab 1710 wanderten Tausende litauische Bauern als Kolonisten in den späteren Regierungsbezirk Gumbinnen ein; in diesem sog. Klein-Litauen, in den Städten Tilsit und Ragnit, konnten im 18. und 19. Jahrhundert Druckwerke für das russisch kontrollierte Groß-Litauen publiziert werden. Das erst 1793 preußische Danzig, aber auch Memel besaßen nicht nur wirtschaftliche Kontakte den Njemen bzw. die Weichsel aufwärts. Königsberg bildete ein geistiges Zentrum im südlichen Ostseeraum und noch in den 1860er Jahren nahm etwa Wojciech Ketrzynski dort Sympathien für den polnischen Freiheitskampf wahr. Von deutschnationalen Historikern allenfalls en passant registriert, studierten an der Königsberger Universität jahrhundertelang junge Leute aus allen Nachbarregionen. Seit 1718 bzw. 1728 bestanden ein Litauisches und ein Polnisches Seminar (1901 aufgelöst), die primär evangelische Pfarrer mit Sprachkenntnissen versahen. 1544–1772 sollen rd. 3500 Studenten aus Polen-Litauen in Königsberg studiert haben, die 1744 fast 20 % aller damals etwa 1000 Studenten ausmachten, nach 1870 freilich weniger als 5 %.376 Die transnationalen Kontakte vieler Künstler aller Sparten über die Zeiten und vieler Gelehrter seit den Humanisten sind bekannt, aber beispielsweise der Einfluß preußisch-deutscher Musikpraktiken in Ostmitteleuropa erst ansatzweise untersucht. Vor- und übernationale Orientierung sowie kultureller Eigensinn sind oben bereits skizziert worden. Die Reihe interessanter Einzelfiguren zwischen den (künftigen) Nationen reicht vom kurfürstlichen Statthalter in Ostpreußen, dem polnisch-litauischen Fürsten Bogislav Radziwill (1620–1669), bis zu den bereits genannten J. Sembritzki, I. Gulgowski und M. Jankus. Die anfangs friedliche, aber selbst im konfliktreichen Jahrhundert ab den 1830er Jahren nicht 376 Matthias Weber (Hg.), Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte, München 2003; Jörg Hackmann, Liegt Preußen ostwärts? Ein Rückblick auf die historische Literatur des neuen „Preußenjahres“ 2001 in Deutschland, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 53 (2004), S.  99–117. Danuta Bogdan, Das Polnische und das Litauische Seminar an der Königsberger Universität vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Nordost Archiv 1994, H. 2, S. 393–425; Witold Molik, Die Polen und die Universität in Königsberg in den Jahren 1871 bis 1914, in: Nordost Archiv 1994, H. 2, S. 427–446. H. Marti/M. Komorowski (Hg.), Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit, Köln 2008 (Ansätze und Desiderate).

408  VII. Preußen und die Welt rein negative Beziehungsgeschichte ist längst nicht ausgeforscht. Im Zuge der Untersuchung grenzüberschreitender Biographien in Ost(mittel)europa ging Matthias Weber soweit zu formulieren, daß in Großreichen wie dem Alten Reich, der polnisch-litauischen Union, der Habsburger-Monarchie und auch dem östlichen Preußen „Multinationalität nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall“ war. Noch für das Bismarck-Reich hat Mark Tilse Zweisprachigkeit und deutschpolnische Mischehen, Katholizismus und regionale Sozialdemokratie als Indikatoren für vorhandene transnationale Bindungen in Posen bzw. Westpreußen untersucht. Ob damit transnationale Identitäten konstitutiert wurden, ist auch bezweifelt worden, aber der Ansatz bleibt weiterer Betrachtung wert.377 Inzwischen erfährt gerade die deutsch-polnische Erinnerungsgeschichte bis zur Gegenwart vermehrt Aufmerksamkeit und ertragreiche multinationale Kooperationsprojekte werden durchgeführt, etwa vom Oldenburger Bundesinstitut für die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Mitteleuropa, dem Lüneburger Nordost-Institut oder vom Deutschen Historischen Institut Warschau. Überhaupt läßt sich die Regionalgeschichte der östlichen Provinzen von der Frühneuzeit bis 1945 heute am besten in Kooperation mit Forschern aus Polen, Rußland und Litauen weiter erkunden, wie Arbeiten zu Erinnerungsorten und zum Adel in Schlesien oder Sammelbände zur Kulturgeschichte Ost- und Westpreußens bzw. zu Memel als transnationale Brücke, aber auch Monographien zur Stadtgeschichte Danzigs, zur Architektur Ostpreußens und Oberschlesiens oder zur Arisierung in Breslau belegen. Über die Gesellschaftsgeschichte der Ostprovinzen Schlesien, Pommern und Ostpreußen 1918 bis 1945 ist noch immer so wenig bekannt wie wohl über keine anderen Regionen des Reichs. Deshalb eröffnen sich hier Manfred Kittel zufolge lohnende Arbeitsfelder. In dieser Richtung ist moderne Preußen-Historie evident anschlußfähig für aktuelle Forschungswege.378 377  Erik Fischer (Hg.), Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Stuttgart 2012 (24  Aufsätze zum 19./20.  Jahrhundert); Ders. (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen, Stuttgart 2018 (Ordenszeit bis 20. Jahrhundert, u. a. in Elbing, Thorn, Graudenz). Matthias Weber, Zur Aktualität geschichtswissenschaftlicher Erforschung grenzüberschreitender Biographien zwischen Mittel- und Osteuropa, in: T. Weger (Hg.), Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost- und Mitteleuropa. Wirkung – Interaktion – Rezeption, Frankfurt/M. 2009, S. 67–77, S. 73. Zu Tilse, Transnationalism in the Prussian East, vgl. die kritische Rez. von E. Drummond in: German History 2013, S. 256 f. 378 Jan M. Piskorski (Hg.), Pommern im Wandel der Zeiten, Szczecin 1999. M. Czaplinski u. a. (Hg.), Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region, Görlitz 2005; J. Harasimowicz/M. Weber (Hg.), Adel in Schlesien, 2 Bde., München 2010. Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001; Sabine Beckmann/Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005; Liliana Lewandowska u. a. (Hg.), Vergangenes in Erinnerung rufen. Beiträge zur Kulturgeschichte des Königlichen Preußens, Münster 2014; Bernhart Jähnig (Hg.), Memel als Brücke zu den baltischen Ländern, Osnabrück 2011; Adam Storring, Konferenzbe-

4. Internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens  

409

Hingegen scheint die aus der postkolonialistischen Perspektive erwachsene Frage, ob Preußen ab 1795 bzw. Preußen-Deutschland ab 1871 ein Imperium gewesen sei, mittlerweile verneinend beantwortet. Letzteres kennzeichnet nach Lutz Raphael, daß erstens koloniale Untertanen in heterogenen eroberten Gebieten (Peripherien) als Beherrschte lebten, zweitens diese Bevölkerungsgruppen ethnisch, sprachlich und religiös Vielfalt kennzeichnete und drittens allenfalls kleine indigene Eliten an der politischen Herrschaft und der hegemonialen Kultur partizipierten. Die drei maßgeblichen Kennzeichen Herrschaft, Exklusion nach der Hautfarbe und Ausbeutung trafen auf die afrikanischen Kolonien voll zu, im slawophonen Osten Preußens trotz versuchter Segration, etwa mittels Wohnungsbau in der Stadt Posen ab 1898, hingegen nicht. Allenfalls lassen sich drei basale Parallelen konstatieren: Versuchte Segregation in der Bevölkerungspolitik, diachrone Zunahme rassistischer Denkmuster und Radikalisierung im Krieg, ohne daß diese Entwicklungen bis 1914 in Posen und den Kolonien in gleicher Schärfe auftraten. Zudem waren mehrere imperiale Mächte (Frankreich, Italien, Deutschland) im Zentrum um 1900 trotz ihrer jeweiligen Minderheiten zugleich auch Nationalstaaten, wo, bei allen Begrenzungen, rechtlich gleiche und politisch mitspracheberechtigte Bürger auf einen Kern an geteilter Geschichte, Sprache und Kultur rekurrieren konnten. Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Nationalitäten-Dimension nicht weiter vergleichend adressiert werden soll.379 Das zweite Gegenstandsfeld Migration ist kein neues Phänomen, sondern ein Jahrtausende altes. Für Preußen ist die Immigration von Hugenotten und Niederländern, Salzburgern und Schweizern, Böhmen und Juden lange historiographisch anerkannt. Ideentransfer fand seit der Orientierung des Kurfürsten richt Contacts and Cultural Transfer in the Historical Region of East Prussia 1700– 2000, in: H-Soz-u-Kult 24.10.2013. Loew, Danzig. Biographie einer Stadt; Jan Salm, Ostpreußische Städte im Ersten Weltkrieg. Wiederaufbau und Neuerfindung, München 2013; Störtkuhl, Moderne Architektur in Schlesien; Christof Baier u. a. (Hg.), Retablissement. Preußische Stadtbaukunst in Polen und Deutschland, Berlin 2016; Ramona Bräu, Arisierung in Breslau. Die „Entjudung“ einer deutschen Großstadt und deren Entdeckung im polnischen Erinnerungsdiskurs, Saarbrücken 2008. Man­ fred Kittel, Preußens Osten in der Zeitgeschichte. Mehr als nur eine landeshistorische Forschungslücke, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 435–463, 437, 460 f. 379 Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 13 f., ähnlich Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 615 f. Dickinson, The German Empire: An Empire?, S.  139, 150. Im Freiburger Projekt zu Imperien (Großbritannien, Osmanisches Reich, Rußland, Habsburgerreich), fehlte Preußen; vgl. Jörn Leonhard/Ulrike v. Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19.  Jahrhundert, Göttingen 2009. Dörte Lerp, Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspolitik in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884– 1914, Frankfurt/M. 2016, S. 248 ff. (Zonenbauordnung Posen), 334–336 (Posen ungleich Deutsch-Südwestafrika), 339 f. (drei Parallelen).

410  VII. Preußen und die Welt Friedrich Wilhelm am niederländischen Beispiel statt und Kulturimporte aus Frankreich, Italien oder anderen Ländern waren ebenso lange ubiquitär. Verschiedene Kategorien von Migrationen sind zu unterscheiden: intranational oder über nationale Grenzen hinweg, zeitweilig oder dauerhaft, insgesamt nach Gruppen und Gründen differenziert. Für Preußen sind für das 19. Jahrhundert die säkularen Land – Stadt sowie die Ost – West Wanderungen von Millionen Menschen zu nennen, wesentlich Arbeitsmigration in die (westlichen Industrie-) Städte und Flucht aus ländlicher Armut und Unfreiheit. Zehntausende Juden verließen Preußens Osten zugunsten von Berlin und westlichen Gebieten, um aufzusteigen. Mit dem Kürzel „Ruhrpolen“ wird die Anwerbung und dauerhafte Zuwanderung von Arbeitern aus den östlichen Rändern in das boomende Revier an Rhein und Ruhr seit den 1870er Jahren begrifflich gefaßt, wenngleich auch Hamburg, Bremen sowie die mitteldeutsche Industrieregion Ziele darstellten. In die landwirtschaftlichen Provinzen Sachsen, Brandenburg, Pommern, Schlesien strömten aus dem Zarenreich und der Habsburger-Monarchie zum Großteil polnische Arbeitskräfte ein (1913: 365.000); dazu kamen 540.000 in der Industrie in Preußen. Preußische Ruhrpolen wie Polen aus Rußland bzw. Österreich oder auch Tschechen unterlagen als Unterschicht und Gefährder ethnischer Homogenität staatlichen Maßnahmen, nämlich politischer Überwachung und Behinderung der Sozialaktivitäten im Binnenland, strengem Grenzregime mit „Polenkarte“, Rückkehrzwang im Winter sowie Ausweisung bei geringsten Vergehen. Im Ersten Weltkrieg schufteten bis zu 2,5 Mio. Kriegsgefangene und 1 Mio. zivile ausländische Arbeitskräfte für das Deutsche Reich; in der Lagersituation kamen ca. 6 % der Gefangenen zu Tode. (Zwangs-) Migration konnte durchaus auch nationalistische Vorurteile verstärken, wie beispielsweise ab 1919 der durch Diskriminierung seitens der neuen Landesherren beförderte Zufluß von einer Million Deutschen aus dem polnischen „Korridor“, Elsaß-Lothringen und Nordschleswig belegte. Im weiteren 20. Jahrhundert sind unter dem Rubrum Migrationen zunächst die Funktion von Republik und Freistaat als Zufluchts- oder Durchgangsland für Osteuropäer im Gefolge der Sowjetrevolution (Künstler und sog. Ostjuden wurde bereits in Kapitel sechs thematisiert) zu fassen, dann das Zwangsexil von Zehntausenden rassistisch oder politisch Verfolgter ab 1933 und als Kulminationspunkt die millionenfachen Flucht-, Vertreibungs- und Umsiedlungsbewegungen im bzw. unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.380 380 Forschungsüberblick: Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2016, S. 23–29, 35–39, 43 f., 103 f. (Experten), 109 f., 142 ff. (polit. Exil); Ders. (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016, darin S. 341–384 Christiane Reinecke, Staatliche Macht im Aufbau: Infrastrukturen der Kontrolle und die Ordnung der Migrationsverhältnisse im Kaiserreich. Pionierwerk: Johannes Nichtweiß, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik 1890 bis 1914, Berlin 1959.

4. Internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens  

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Umgekehrt gab es seit dem 16. Jahrhundert die zeitweilige oder dauerhafte Tätigkeit von deutschsprachigen Handwerkern, Kaufleuten und technischen Fachleuten aller Gebiete im Ausland. Gerade diese sog. Expertenwanderung etwa aus Preußen in die ganze Welt ist noch unzureichend bekannt, und wurde offenbar in der englischsprachigen Fachliteratur nicht recht wahrgenommen, während die Tätigkeit von preußisch-deutschen Gelehrten anderwärts leichter zu rekonstruieren ist. Manche aus dieser Gruppe wiederum blieben in ihrem Herkunftsland fast unbekannt, etwa der Lausitzer Geologe, Zoologe und Botaniker Ludwig Leichhardt, der 1844–48 auf drei Expeditionen mit Aborigines das Outback Australiens erkundete, Namensgeber für Pflanzen und Tiere des fünften Kontinents sowie eines Stadtteils von Sidney wurde und dort jedem Schulkind ein Begriff ist. Deshalb und weil die Archive vom zentralstaatlichen Berliner Geheimen Staatsarchiv über regionale Landesarchive bis zu Stadt- und Kirchenarchiven noch immer ergiebige, auch nichtstaatliche Quellen-Korpora bereithalten, bleiben weitere Forschungen zum Themenfeld Migration möglich und nötig.381 Inwieweit verändert der intensivierte Blick auf Migrationen das historische Bild? In neuer Weise stellt sich das 19. Jahrhundert als Säkulum mobiler und verflochtener Gesellschaften dar. Diese Erkenntnis bleibt künftig grundlegend. Die Migrationserfahrung förderte aber keineswegs schlechthin Toleranz, sondern zugleich Abwehr und (nationale) Abrenzung. Das preußische Untertanengesetz von 1842 wie das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 enthielten Exklusionsund (für Auslandsdeutsche) Inklusions-Paragraphen, die (auch) auf Migration reagierten, wenngleich andere Zwecke wie Festlegung der Militärpflichtigkeit nicht zu übersehen sind. Weltweite Migrationen hatten politische Folgen. Die Dynamik des Nationalismus speiste sich auch aus internationalen Kontexten, etwa der xenophoben Angst vor der „gelben Gefahr“ bzw. der Zuwanderung von chinesischen Kulis; deshalb verfügten die USA wie Australien 1882/88 (Chinese Exclusion Act) ein Einreiseverbot für Chinesen und Großbritannien gab sich 1905 ein restriktiveres Fremdenrecht. Jirí Koralka/Johannes Hoffmann (Hg.), Tschechen im Rheinland und in Westfalen. Quellen aus deutschen, tschechischen und österreichischen Archiven und Zeitschriften, Wiesbaden 2012. W. Röder/H. A. Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München 1980–83 und C.-D. Krohn u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998. 381 David Blackbourn, Germans Abroad und Auslandsdeutsche. Places, Networks and Experiences from the Sixteenth to the Twentieth Century, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 321–346, S. 333 (Preußen fehlt in Bücher-Indexen). Vgl. aber Stefan Manz u. a. (Hg.), Migration and Transfer from Germany to Britain, 1660–1914, München 2007 (Kaufleute, Arbeiter, Musiker, Gelehrte wie F. M. Müller oder A. W. Hofmann ab 1846). Günter Bayerl/Tim S. Müller (Hg.), Ludwig Leichhardt (1813– 1848), die Niederlausitz und Australien, Münster 2013.

412  VII. Preußen und die Welt Die „Kulifrage“ seit 1894 und polnische Migration sollen auch den deutschen völkischen Nationalismus und das schärfere preußische Grenzregime im Osten mitverursacht haben. Allerdings verwundert der selbstbewußt postulierte Verzicht auf exakte Bestimmung der Wirkung von Migration. So las man 2009 bei Sebastian Conrad, es könne „nun nicht darum gehen, interne und externe Faktoren gegeneinander aufzurechnen oder die Primat-Frage zu reaktivieren“, sondern darum, Interaktionen in einem globalisierten Kontext zu untersuchen. Im Sinne analytisch erklärender Herangehensweise stellt sich dem Historiker jedoch definitiv die Aufgabe, gewichtete Kausalgründe für Entwicklungen wie die Verschärfung des Nationalismus herauszupräparieren.382 Preußen verfolgte eine Politik der Abwehr überseeischer Migration. Bis 1845 blieb es wegen Binnenwanderung in Industriestädte von Königsberg bis Magdeburg und in den Westen ohne Wanderungsverlust. Parallel wurde überseeische Auswanderung vom Innenministerium behördlich stark behindert. Bis 1848 verweigerte Preußen mehrfach Verträge mit Zielstaaten wie Brasilien – Auswanderung dorthin wurde 1859 sogar verboten – oder multilaterale Vereinbarungen zur Versorgung von Auswanderern in Überseehäfen. Auswanderungsagenten erhielten in der Regel keine Konzession, die Zensur verbot Ankündigungen oder positive Berichte über Auswanderung, lokalbehördlich wurden Konsense zur Entlassung aus dem preußischen Untertanenstatus nicht erteilt, Gutsbesitzer hielten ihre Landarbeiter zurück. Hilfe für Auswanderer war in Preußens Verwaltung Anathema, denn Wegzug galt als Beleg für bürokratisches Versagen und die Debatte darüber als geeignet, um den Gedanken an Auswanderung in den Köpfen zu verbreiten. Erst auf äußeren Anstoß hin erörterte Kultusminister Friedrich Eichhorn in einem Memorandum 1845 mögliche Maßnahmen, um Auswanderern die deutsche Sprache und den Zusammenhang mit ihrem Herkunftsland zu erhalten, Preußens Geltung in fremden Weltteilen zu erhöhen und so auch den Handel zu mehren. Er schlug die Unterstützung des Kirchen- und Schulwesens vor und die Gründung eines Zentralvereins in Berlins nebst Zeitschrift zur Pflege kultureller Kontakte mit den Auswanderern. Das Außenministerium lehnte dies als Förderung von Auswanderung aber ab und wegen des florierenden Handels mit Mexiko auch jede Diskussion über eine formelle Kolonie in mexikanisch-Kalifornien. Im Nachgang 382 Thomas Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, in: Müller/Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, S. 374–391, 388–391. Sebastian Conrad, Globalisierungseffekte: Mobilität und Nation im Kaiserreich, in: Müller/Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, S. 406–421, Zitat S. 421. 2013 warnte Conrad, Globalgeschichte, S. 102, hingegen explizit davor, „daß die Rolle der Mobilität überbetont wird“ und in globalhistorischen Werken „die Kapitel über gesellschaftliche Entwicklungen durch Abschnitte über Migrationsgeschehen ersetzt“ werden. Conrad monierte ferner S. 99 zu Recht, hinsichtlich der „Frage der Kausalität“ müßten „die unterschiedlichen Dimensionen angemessen abgewogen werden“.

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propagierte der Chef der Seehandlung Rother analog der mittelalterlichen Ostsiedlung die innere Kolonisation in Hinterpommern, Ost- und Westpreußen, wo der Unterentwicklung durch westdeutsche Ansiedler auf Domänen und angekauften Gütern entgegenzuwirken sei. Friedrich Wilhelm IV. hieß den Plan gut, zumal Preußen so nationalpolitisch Ansehen im Bund gewinnen könne. Finanzminister Flottwell setzte die Anfügung der Provinz Posen als Siedlungsgebiet durch, aber die Frage der dafür nötigen Zuschüsse entzweite die Minister. Ein öffentlicher Aufruf zur Meldung bei Ostsiedlungskommissaren wurde 1847 binnen Wochen widerrufen. Rothers Plan scheiterte am Widerstand in der Domänenverwaltung, im Großgrundbesitz und unter hohen Staatsbeamten. Auch in den Folgejahrzehnten tat Preußen nichts zugunsten von Auswanderern, reglementierte vielmehr mit einem Gesetz 1853 die Auswanderungsagenten, und Bismarck ordnete noch 1873 an, behördlich vor Wegzug zu warnen. Aufgrund bürokratischer Konditionierung, nicht primär wegen der guten Lebensverhältnisse, erreichte die Auswanderung aus den Ostprovinzen erst seit den 1860er Jahren die nach der Bevölkerungszahl erwartbare Größenordnung. Auswanderung, soziale Mißstände und politische Unzufriedenheit stellten sich als verknüpfte Stränge dar – Beschweigen und Verbote hieß die Strategie dagegen.383 Unübersehbar ist die Bedeutung von Auswanderung aus Armut und sozialer Perspektivlosigkeit oder Flucht vor politischer Verfolgung. Etwa 5,5 Mio. Deutsche emigrierten 1800–1914 in die USA, Hunderttausende in weitere Länder von Argentinien bis Australien, mit quantitativen Höhepunkten nach 1850 und 1880/82. In Wisconsin waren 1905 zwei Drittel der Einwohner deutscher Herkunft. Trotz der Umbenennungen während der Weltkriege heißen noch heute 16 Orte in den USA Minden und weltweit gibt es 118 Berlin, davon über 30 in den USA. Nur die Spitze von Massenmigration markierten politisch verfolgte Oppositionelle im Vormärz und nach der Revolution 1848/49. Ihre Ziele hießen häufig Paris, England, Schweiz. Um 1850 soll es bis zu 100.000 Deutsche in Paris gegeben haben, 60.000 um 1900 in Großbritannien. Unter den Exilanten befanden sich später Berühmte, aber im Lande relativ isolierte Männer wie Heine in Paris oder Karl Marx in London. In den USA aber nahmen Immigranten aus Preußen wichtige Positionen ein: Der Berliner Franz (Francis) Lieber, 1819 als „Demagoge“ inhaftiert, seit 1827 in den USA, 1863 Verfasser des Lieber Code, eines bis 383 Mack Walker, Germany and the Emigration 1816–1885, Cambridge/Mass. 1964, S. 94–100, 120 f., 169–171, 196 f. Georg Smolka, Die Auswanderung als politisches Problem in der Ära des Deutschen Bundes (1815–1866), Speyer 1993, S.  154–181 (Eichhorn, Rother). Uwe Reich, Aus Cottbus und Arnswalde in die Neue Welt. Amerika-Auswanderung aus Ostelbien im 19.  Jahrhundert, Osnabrück 1997, S.  26  ff., 183 ff. Uwe Plaß, Überseeische Massenmigration zwischen politischem Desinteresse und Staatsintervention, in: Oltmer (Hg.) Handbuch Staat und Migration seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 291–315, S. 310–314.

414  VII. Preußen und die Welt heute fortgeführten Field Manual für Soldaten, Mitbegründer des Kriegsvölkerrechts und Politologie-Professor an der Columbia Universität; der Kölner Carl Schurz, 1852 in die USA geflohen, Mitreorganisator der Republikanischen Partei und Berater Präsident Lincolns, 1869 Senator und 1877–81 US-Innenminister; die Bürgerrechtlerin Mathilde Franziska Anneke aus Westfalen, Ehefrau eines 1849 in Baden kämpfenden früheren preußischen Offiziers und mit ihm emigriert, als eine der wichtigsten frühen Frauenrechtlerinnen in den Vereinigten Staaten. Zwar blieben Enttäuschungen in den Zielländern nicht aus, aber nur ein Bruchteil politisch motivierter Emigranten kehrte nach Europa zurück. Gerade in der Wirtschaft der USA taten sich Ex-Deutsche hervor und ein aktuelles Forschungsprojekt erkundet dies genauer. Genannt seien pars pro toto nur Levy Strauss (Jeans) und zwei Gründerväter der Investmentbank GoldmanSachs aus Franken, aus Preußen Clemens Vonnegut, Sohn eines Staatsbeamten aus Minden, nach der Revolution in die USA geschickt und Gründer einer Eisenwarenhandlung, bis heute eine der angesehensten Familien in Indianapolis oder 1868 Wilhelm Böing aus Hagen, dessen Sohn William Edward Boeing 1916 in Seattle mit dem Flugzeugbau begann. All dies rückt mit der Erforschung von Migrationen stärker in das (hier binnendeutsche) Bewußtsein. Manche Auswanderer der ersten zwei Generationen wechselten transatlantisch und wirkten als Vermittler. Lieber hätte bei einem Besuch 1844 gerne eine Professur in Preußen übernommen; sein Sohn nahm als Student an der Revolution in Berlin 1848 teil. Emanuel Leutze (1816–1868), Sohn einer 1825 aus Schwäbisch Gmünd nach Philadelphia ausgewanderten demokratisch gesinnten Familie, kehrte ab 1841 als Malerei-Student an die Düsseldorfer Akademie zurück, heiratete die Tochter eines preußischen Offiziers, lebte zeitweise in München und Rom, war 1848 Mitbegründer des Malkasten und 1856 der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft, aber kehrte 1859 endgültig in die USA zurück. In Düsseldorf am Rhein begann er 1849 mit dem patriotischen Historienbild „Washington überquert den Delaware“. Eine großdimensionierte Fassung des Gemäldes im New Yorker Metropolitan Museum of Art zählt heute zu den visuellen Ikonen der USA.384 384 Blackbourn, S. 337 (Paris 1850). Jörg Nagler, Politisches Exil in den USA zur Zeit des Vormärz und der Revolution von 1848/49, in: J. Elvert/M. Salewski (Hg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert, T. 1, Stuttgart 1993, S. 267–293. Hartmut Berghoff, Immigrant Entrepreneurship Project: Rationale, Design, and Outcome, in: Bulletin of the German Historical Institute, Supplement 12, Washington 2016, S. 53–66. Peter Schäfer/F. Schmitt (Hg.), Franz Lieber und die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, Weimar u. a. 1993. Willi Kulke (Hg.), Vom Streben nach Glück – 200 Jahre Auswanderung aus Westfalen nach Amerika, Essen 2016 (Vonnegut, Boeing). Emanuel Leutze – In Deutschland blühen meine Rosen nicht, Schwäbisch Gmünd 2016 (Ausstellungskatalog). Vgl. auch die Namensartikel in Wikipedia online.

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Bezüglich der Aus- bzw. Einwanderung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, einem in den USA schon lange bedeutsamen Thema, haben sich die Perspektiven erweitert: Auswanderer sind nicht einfach „weg“, sondern Wissenschaftler betrachten deren Vereine und ihre Vergemeinschaftung im Zielland, die Rückwanderung (von geschätzt 10 %–20 %), die Kontakte zum Herkunftsland, die politischen Rückwirkungen von (starker) Auswanderung auf das Herkunftsland. Dabei stellt sich heraus, daß in den Zielländern nicht die Migranten dominierten, die in der Diaspora ein überhöhtes, nationalistisches Deutschtum konstruierten, sondern daß ungeachtet (übergangsweiser) Aufrechterhaltung von Sprache und Kultur rasch die Loyalität zum Aufnahmeland den Regelfall bildete. Kaiserzeitliche Versuche, das „Auslandsdeutschtum“ in den USA oder Südamerika als 5. ­Kolonne für das Reich politisch zu instrumentalisieren, scheiterten bekanntlich bis 1917 kläglich. Eine letzte Facette des Migrationsthemas wurde erst kürzlich gewürdigt. Der Freistaat Preußen leistete einen wegweisenden, heute aktuellen Beitrag zum Asylrecht für Flüchtlinge. Aufgrund des deutschen Auslieferungsgesetzes von 1929 – späte Umsetzung einer vom Reichstag seit 1892 debattierten Materie – erließ Innenminister Severing Ende April 1932 eine Polizeiverordnung zur Ausländerausweisung. Darin stand, es sei die „vornehme Pflicht Preußens (…), politischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren“. Migranten ohne ordnungsgemäße Papiere hätten dann ein Aufenthaltsrecht, wenn sie glaubhaft machten, daß sie bei Rückkehr in den Heimatstaat politisch motivierter Verfolgung ausgesetzt sein würden. Die Anwendung hat der Regimewechsel 1932/33 verhindert, aber sowohl das Bonner Grundgesetz 1949 wie die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 folgten der preußischen Verordnung von 1932. Insgesamt, so das evidente Fazit zur transnationalen Sicht auf Migrationen und Auswanderung, stellt dieses Forschungsfeld eine wesentliche Blickerweiterung im Zeitalter der Globalisierung dar. Allerdings dürfen die Rückwirkungen der Migrationsprozesse auf Preußen-Deutschland nicht verabsolutiert und müssen die jeweiligen nationalen Kontexte adäquat einbezogen werden. Dies geschieht in soliden Werken auch. Hingegen wird der selbst beschränkte Anspruch, man wolle Geschichten jenseits von master narratives wie Monarchie, Nationalstaat oder Bürgertum schreiben, der Aufgabe (noch) nicht gerecht.385 385 Stefan Manz, Constructing a German Diaspora. The „Greater German Empire” 1871– 1914, Oxford 2014; Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt, S.  345  f. Muster für Nachweis von Rückwirkungen: Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005. Jochen Oltmer, Ein deutsches Asylrecht am Ende der Weimarer Republik? Das Auslieferungsasyl in Westeuropa und seine Grenzen, online: www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-4199 (Juni 2017). Christina Reimann, Tagungsbericht Das lange 19. Jahrhundert: Neuere Forschungen und Forschungsperspektiven, in: H-Soz-Kult 26.5.2016 (Zitat Konferenzeinleitung L. Harders/Ch. Nübel).

416  VII. Preußen und die Welt Ein drittes wichtiges Gegenstandsfeld für die inter- und transnationale Verflechtung Preußens, seit langem wissenschaftlich bearbeitet, sind Wirtschaft und Handel. Hier läßt sich zugleich die Frühphase des preußisch-deutschen Kolonialismus lokalisieren, denn Kolonialwaren und Sklavenhandel waren zentrale Antriebsmotive für die gewalttätige Expansion Europas. Am Beginn standen im 17.  Jahrhundert Projekte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Nach dem Vorbild der niederländischen Ostindischen Compagnie konzessionierte er 1682 die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie, die 1683 an der westafrikanischen Goldküste Groß-Friedrichsburg (heute Princesstown in Ghana) gründete und Handel mit insgesamt bis zu 30.000 Sklaven für die Karibik und tropischen Waren betrieb. Aber Kapitalmangel, fehlende Verarbeitungsfähigkeit und geringer Absatzmarkt im Inland blieben strukturelle Probleme. Von Emden aus, ohne feste karibische Besitzung und schützende Flotte war der Dreieckshandel Afrika–Karibik–Europa nicht gegen die etablierten Seemächte einträglich durchführbar. Die bereits 1692 bankrotte Handelsgesellschaft wurde verstaatlicht und 1717 von Friedrich Wilhelm I. an die Amsterdamer Westindische Compagnie verkauft: Für „12 Mohren“ und 7.200 Gulden. Den seit 1685 vertraglich erlaubten, aber diskontinuierlich besetzten, winzigen preußischen Stützpunkt auf der dänischen Karibik-Insel St. Thomas gab Friedrich Wilhelm I. auf; 1735 endete auch der Geschäftsbetrieb der privaten Handelsgesellschaft dort. Ab 1668 versuchten Kurfürst Friedrich Wilhelm und sein Nachfolger Preußen via Rußland in den Seidenhandel mit Persien einzubringen, aber bis 1720 scheiterten letztlich irreale Hoffnungen an wirtschaftlichen Problemen und der Ablehnung seitens Rußlands. Einige andere Projekte kamen nicht über das Vorbereitungsstadium hinaus und auch die habsburgische Ostender Kompanie für Tee-, Seiden- und Porzellanhandel mit China 1722–32 unterlag ihren englischen und niederländischen Konkurrenten.386 Die von Kaufleuten aus Amsterdam und anderen Personen seit 1744 propagierte und 1751 von Friedrich II. konzessionierte Asiatische Compagnie betrieb 386 Richard Schück, Brandenburg-Preußens Kolonialpolitik unter dem Großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern (1647–1721), Leipzig 1889. Sven Klosa, Die Brandenburgisch-Africanische Compagnie in Emden. Eine Handelscompagnie des ausgehenden 17. Jahrhunderts zwischen Protektionismus und unternehmerischer Freiheit, Frankfurt/M. 2011; Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika, 2. Aufl., Berlin 2001; Otto Friedrich von der Groeben, Guineische Reise-Beschreibung, Marienwerder 1694, ND Hildesheim 2011; Gernot Lennert, Kolonisationsversuche Brandenburgs, Preußens und des Deutschen Reiches in der Karibik, in: S. Carreras/G. Maihold (Hg.), Preußen und Lateinamerika, Münster 2004, S. 9–30. Michael Hundt, „Woraus nichts geworden“ – Brandenburg-Preußens Handel mit Persien (1668–1720), Hamburg 1997. Weitere Projekte benennt Bernd Eberstein, Preußen und China. Eine Geschichte schwieriger Beziehungen, Berlin 2007, S. 12–34.

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wiederum von Emden aus Handel mit China. Vier Schiffe brachten von Kanton aus Seide, Porzellan und Tee nach Preußen, aber der englisch-französische Seekrieg ab 1755 und die französische Besetzung Emdens 1757 beendete das Unternehmen faktisch; 1765 wurde es formell aufgelöst. Eine parallele PreußischBengalische Handelsgesellschaft von 1753 scheiterte 1762 nach Schiffsverlusten. Ferner kam die vom Amsterdamer Kaufmann Clement initiierte Levante-Gesellschaft für den Handel mit dem Nahen Osten, zugunsten derer Friedrich II. Großbürger und Juden Anteilscheine zu zeichnen zwang, nach wenigen Jahren infolge der Amsterdamer Finanzkrise 1769 ans Ende. Die einzige derartige Gründung Friedrichs II. von Dauer war die 1772 mit 1,2 Mio Talern Staatsgeld etablierte Preußische Seehandlung in Berlin. Als Staatsunternehmen erhielt sie u. a. das Monopol zum Salzimport, aber betrieb fünf Jahrzehnte nicht Überseehandel, sondern wurde als Institut zur Staatsfinanzierung genutzt. Erst ab 1822 ließ die Seehandlung mit neun eigenen bzw. gecharterten Schiffen 133 Auslandsreisen durchführen und aus Südamerika, der Karibik, Afrika und China Waren importieren sowie vor allem heimische Textilien im Millionenwert exportieren. Die Staatsreederei endete mit der Revolution 1848.387 Für die Mißerfolge des 17. und 18. Jahrhunderts lassen sich regelmäßig vier Gründe benennen: Erstens verhinderte der 30jährige Krieg samt seiner nachwirkenden ökonomischen Folgen sowie die Nichtverfügung der größeren deutschen Staaten inklusive Brandenburg-Preußens über Nord- bzw. Ostsee-Häfen (Niederlande, Emden, Stettin, Danzig) jahrzehntelang die Hinwendung zum Überseehandel, der den Ostseehandel der Hansezeit überrundet hatte. Zweitens gab es im 18. Jahrhundert die primäre Ausrichtung der reichsfürstlichen Binnenländer auf ihren Territorialausbau und die europäische Politik, nicht auf überseeische Unternehmungen. In Preußen stand seit Friedrich Wilhelm I. der Aufbau einer inländischen Warenproduktion an erster Stelle, nicht der Handel, und Importe als Weg des Geldabflusses waren verpönt. Über die Hansestädte und Nachbarländer konnten nötige überseeische Produkte oder auch Luxusartikel auf den Binnenmarkt gelangen. Drittens brachten im Gegensatz zur Kapitalstärke der holländischen, englischen oder französischen Konkurrenz weder die (finanzschwachen) Staaten noch Private dauerhaft die Investitionen für das recht riskante Geschäft mit Überseeschiffen auf. So kamen Preußen wie auch Österreich gegen die um 1700 bereits etablierten Welthandels- und Seemächte England, die Niederlande oder Frankreich nicht an. Viertens ist der militärische Aspekt einzubeziehen. Friedrich II. schrieb 1768, man brauche „eine gute Armee und keine Flotte. Unsere Ostseehäfen gestatten uns nicht, unsere Schiffahrt auszudehnen, und wenn 387 Zu den asiatischen Handelskompagnien vgl. Eberstein, Preußen und China, S. 37–72 sowie Florian Schui, Prussia’s ‚Trans-Oceanic Moment‘: The Creation of the Prussian Asiatic Trade Company in 1750, in: Historical Journal 49 (2006), S.  143–160. Zur Seehandlung vgl. Eberstein, Preußen und China, S. 89–107 und Radtke, Preußische Seehandlung, bes. S. 252–261.

418  VII. Preußen und die Welt wir keine Kolonien in Afrika und Amerika haben, beglückwünsche ich meine Nachfolger, weil diese entfernten Besitzungen die Staaten, denen sie gehören, entvölkern, man muß sie durch große Flotten schützen und sie bilden fortwährend neue Anlässe zu Kriegen“. Eine kostspielige Flotte, die den großen Marinen doch nie gleichkäme und finanziell wie personell zu Lasten der Landtruppen ginge, lehnte Friedrich erneut 1777 ab, denn „es ist besser, die erste Armee Europas zu haben, als die schlechteste Flotte unter den Seemächten.“ So blieben Preußen und Österreich, deren politische wie ökonomische Interessen primär in Europa lagen, europäische Landmächte. Man kann mit Heinz Schilling mutmaßen, daß sich durch einen guten Zugang zum Meer schon Mitte des 17. Jahrhunderts „womöglich in BrandenburgPreußen eine andere politische Kultur herausgebildet“ hätte, und sogar folgern, daß die Verspätung bei der überseeischen Wirtschafts- und Handelsausrichtung der frühneuzeitlichen Territorialstaaten als Fernwirkung eine der Grundlagen zur „Katastrophe des 20.  Jahrhunderts“ legte. Aber dies bleibt kontrafaktische Spekulation.388 Jenseits der staatlichen Ebene Preußens entwickelte sich allerdings seit den 1820er Jahren eine reiche Vielfalt wirtschaftlicher Aktivitäten von Kaufleuten zumal in Nord- und Südamerika. Ein Historiker hielt 318 Firmen-Niederlassungen um 1845 für nachgewiesen. Jedoch waren 2/3 davon hanseatischen Ursprungs, so daß auf Preußen vermutlich kein Sechstel entfiel. Indessen wurden diverse Projekte ventiliert. Der Kolberger Seemann Joachim Nettelbeck hegte 1815 den Plan, Frankreich eine Karibik-Kolonie wie Cayenne abzunehmen. Preußens Gesandter in London Bunsen propagierte in den 1840er Jahren die Idee, auf mexikanischkalifornischem Boden um San Francisco ein Territorium mit Freihafen zu erwerben oder die Chatham-Inseln bei Neuseeland zu besiedeln. 1847 lag dem Vereinigten Landtag eine Denkschrift H. v. d. Oelsnitz‘ „über die Erhebung Preußens zu einer See-, Kolonial- und Weltmacht ersten Ranges“ vor, die Flottenbau und Gebietserwerb forderte, mit „deutschem Blut“ global germanisieren und in Afrika, dem „Schlüssel der Welt“, in Europa und Amerika drei Reiche errichten wollte. 1858 erhob ein Anonymus in einer Artikelserie der „Preußischen Jahrbücher“ die Forderung, vom seit 1854 preußischen Hafen Wilhelmshaven aus Gebiete in Südamerika oder China zu kolonisieren. Projektideen kamen von Privaten, einzelnen Beamten, Vereinen und Firmen zumal der deutschen Hafenstädte. Aber selbst als Mexiko Preußen 1837 formell anbot, gegen das Vordringen der USA in Kalifornien selbstverwaltete deutsche Siedlungen anzulegen und 1841 der Ankauf eines Teilterritoriums für 6 Mio. Dollar offeriert wurde, ging Berlin nicht 388 Richard Dietrich (Hg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern, Köln 1986, S. 489 und Reinhold Koser, König Friedrich der Große, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart/Berlin 1905, S. 512 (Zitate Friedrich II.). Gründe des Mißerfolgs der deutschen Staaten nach Schilling, Höfe und Allianzen, S. 61–70, Zitate S. 63, 70.

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darauf ein. Der Standpunkt der preußischen Regierungen und der Bismarcks als Reichskanzler bis 1884 blieb ablehnend; kostspieliges überseeisches Engagement war in der Staatsspitze nicht mehrheitsfähig.389 Aus der preußisch-österreichischen Konkurrenz im Deutschen Bund erwuchsen indes zwei aufsehenerregende Vorhaben. 1857–59 sandte auf Betreiben von Finanzminister Bruck Österreich die Fregatte Novara auf eine Weltumseglung und suchte sich damit als Vormacht in Deutschland zu profilieren. In Häfenstädten Südamerikas und Südasiens grüßten ansässige Deutsche das Schiff mit Jubel, beispielweise in Shanghai und in Sidney, aber dauerhafte Folgen zeitigte die Reise nicht, da die Niederlage Österreichs in Italien 1859 globales Engagement ausschloß. Im gleichen Jahr warf sich das Preußen der „Neuen Ära“ mit der OstasienExpedition als norddeutsche Führungsmacht auf. Bis dahin waren Preußens konservative Regierungen höchst zurückhaltend bei der Finanzierung von Expeditionen aller Art. Die wissenschaftlich bedeutsame Ägypten-Reise von Richard Lepsius 1842–45 finanzierte König Friedrich Wilhelm IV. quasi aus seiner Privatschatulle mit 45.000 Talern und nach 1870 überließ Preußen die Kosten für Forschungsreisen mehrfach dem Reich. Als der preußische Konsul in Kanton nach der Öffnung Japans 1854 eine Marineintervention anregte, zeigte sich die Berliner Admiralität wegen Mangel an geeigneten Schiffen ablehnend. Erst in der „Neuen Ära“ optierten die altliberalen Minister sowohl aus wirtschaftlichen wie, noch wichtiger, deutschlandpolitischen Gründen für das Unternehmen, denn Preußen konnte sich als Führung der Zollvereinsstaaten sowie der Hansestädte gerieren und ostentativ in die Reihe der in Ostasien bereits präsenten Großmächte eintreten. Expeditionsleiter Graf Eulenburg erreichte 1861 nach längeren Verhandlungen, daß China den nach englischem und französischem Muster vorbereiteten, asymetrisch ungleichen Handelsvertrag mit Preußen unterzeichnete. Wie im Monate abgeschlossenen Vertrag mit Japan waren Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, diplomatische Vertretung (nach 5 Jahren) und günstige Zollsätze für preußische Waren garantiert. Einen kolonialen Stützpunkt wie England Hong389 Percy Ernst Schramm, Deutschland und Übersee. Der deutsche Handel mit den anderen Kontinenten, insbesondere Afrika, von Karl V. bis zu Bismarck, Braunschweig u. a. 1950, S. 55; in dem Band weitere Pläne. Hans Fenske, Imperialistische Tendenzen in Deutschland vor 1866. Auswanderung, überseeische Bestrebungen, Weltmachtträume, in: Historisches Jahrbuch 97/98 (1978), S. 336–383, S. 341 (Nettelbeck), 348 f. (Oelsnitz); Ders., Ungeduldige Zuschauer. Die Deutschen und die europäische Expansion 1815–1880, in: W. Reinhard (Hg.), Imperialistische Kontinuität und nationale Ungeduld im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991, S. 87–123, S. 107–111 (Mexiko). Ulrike Kirchberger, Aspekte deutsch-britischer Expansion. Die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 370 ff. Anonymus, Preußen und das Meer, in: Preußische Jahrbücher 2 (1858), S. 533–542.

420  VII. Preußen und die Welt kong wollte man auch erwerben und erwog dafür die Besetzung von Formosa (Taiwan) oder der Inselgruppe Tschou-San vor Shanghai. Solche Erwägungen gingen jahrelang weiter, aber Kostenfrage, Nutzenabschätzung und eventuell nötiger Militäreinsatz wirkten abschreckend gegen kolonialwirtschaftliche Expansion in China oder Japan. Eine späte Rückwirkung läßt sich im Seminar für orientalische Sprachen an der Berliner Universität finden. Es wurde 1887 gegründet, weil Dolmetscher für asiatische Sprachen von Türkisch über Persisch bis Chinesisch und Japanisch rar waren und Beamte des auswärtigen Dienstes an diese „exotischen“ Idiome herangeführt werden sollten. 1862 kamen aus Ostasien dortige Tiere und Pflanzen zur wissenschaftlichen Untersuchung nach Berlin und der später führende preußische Geograph Ferdinand Freiherr von Richthofen erkundete jahrelang den Westen Chinas. In Memoranden von 1868/1871 schlug er (erfolglos) Bismarck Gebietserwerb bei Shanghai vor und bezeichnete in Publikationen der 1880er Jahre das KiautschouGebiet mit Qingdao/Tsingtau als potentielles Kolonialgebiet und geeigneten Hafen für das Reich. Von den Marineoffizieren und Seekadetten der EulenburgMission wurden je zwei Staatssekretäre des Reichsmarineamts bzw. Minister, je über 20 Admirale oder Generale bzw. Seekapitäne. All dies wirft die Frage nach dem Stellenwert der Episode für die Gründungsgeschichte des Kaiserreichs auf und legt Kontinuität zur Kolonialpolitik Bismarcks und zur Flotten- und Weltpolitik ab 1897 nahe, zumal die Expedition von 1859–62 nach 1880 publizistisch mehrfach als Vorbild für globale Expansion bezeichnet wurde. Die Idee von Kolonien und der wirtschaftliche Imperialismus erfuhren sicherlich um 1860 einen ersten Aufschwung. Ob man deshalb mit B. Naranch von einer „global unification of the German nation“ „made in China“ sprechen kann, ist indes zweifelhaft. Die Rolle der Episode im Gesamtprozeß der Reichsgründung und ihre Bedeutung im Vergleich mit anderen Faktoren kann kaum so hoch angesetzt werden. Die Ostasien-Expedition war nicht der Motor der Reichsgründung, sondern ein Indikator für bestehende Konkurrenz, die 1866 in Königgrätz militärisch entschieden wurde. Eine direkte Linie zur Kolonialpolitik ab 1884 und zur Weltpolitik läßt sich nicht ziehen. Erst politische Entscheidungen der 1880er und 1890er Jahre, die gewachsene Kraft des Deutschen Reiches – wirtschaftlich, militärisch, kapitalmäßig – und intensivierte kolonial- bzw. weltpolitische Diskurse machten beides möglich.390 390 Ingelore Hafemann (Hg,), Preußen in Ägypten, Ägypten in Preußen, Berlin 2010, S.  193 (Beitrag B. Holtz). Beschreibung der Eulenburg-Expedition bei Eberstein, Preußen und China, S. 171–202; Analysen liefern Michael Salewski, Die Preußische Ostasienpolitik (1859–1862), in: Ders., Die Deutschen und die See, Stuttgart 1998, S. 68–81, und Bernd Martin, Die preußische Ostasien-Expedition und der Vertrag über Freundschaft, Handel und Schiffahrt mit Japan (24. Januar 1861), in: G. Krebs (Hg.), Japan und Preußen, München 2002, S.  77–101. Zur frühen China-Politik Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, 4. Aufl., München 1976,

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✳ Wirtschaftliche und machtpolitische Gründe bestimmten maßgeblich die Haltung Preußen-Deutschlands zu Japan, China und Lateinamerika. Japan gab 1871–73 mit der Mission von Außenminister Iwakura nach Europa und den USA den Impetus; für die anstehenden Meiji-Reformen wurden zwölf westliche Länder besucht. Im gerade siegreichen Preußen waren die hochrangigen Vertreter Nippons beeindruckt von der autoritären Staatsstruktur und dem strammen Militär, vom entwickelten Bildungswesen und der modernen (Schwer-) Industrie verkörpert in den Krupp-Werken. Als Wesensverwandtschaft zu Japans Traditionen erschienen der Delegation zudem Lerneifer und Fleiß, Disziplin und Gehorsam. Preußens Regierungsmaxime, hieß es im Reisebericht Kume Kunitakes, sei für Japan weit nützlicher als die der liberaldemokratischen französischen Republik oder der handelskapitalistisch orientierte Parlamentarismus Englands. Bismarck persönlich empfahl den Japanern Preußens Weg zum Machtstaat als Vorbild. Ab 1874 gelang es aber nicht, Krupp zur Errichtung und Vorfinanzierung einer Stahlfabrik in Japan zu bewegen, da man in der Essener Firmenzentrale Konkurrenz und Kapitalverlust befürchtete. Eine japanische Anleihenaufnahme lehnte die Berliner Regierung noch 1881 ab. Trotzdem lassen sich die 1880er Jahre als preußische Dekade Nippons bezeichnen. Die preußische Verfassung von 1850 bildete einen wichtigen Referenzpunkt in der damaligen japanischen Verfassungsdiskussion, ohne daß von einer vollen Übernahme zu sprechen ist. Die Meiji-Verfassung von 1889 gewährte dem Gottkaiser die volle Souvernität gegenüber dem Parlament aus (zunächst von wenigen Prozent der Männer) gewähltem Abgeordneten- und ernanntem Oberhaus, aber der Tenno hatte traditionsgemäß politisch nicht in Erscheinung zu treten. (Not-) Verordnungsrecht gegen parlamentarische Renitenz, Haushaltsdurchführung auf Basis des letzten verabschiedeten Budets und die Möglichkeit von Polizei- und Ordnungsgesetzen setzten der Volksvertretung Grenzen. Als Gegengewicht zu den Ministerien fungierte ein Geheimer Staatsrat, parlamentarisch nicht verantwortlich. All dies entsprach im Grundsatz Preußens Konstitutionalismus nach 1850. Im Militärbereich hatte Japan bereits seit 1878 die Unabhängigkeit des Generalstabs vom Heeresministerium gestärkt und 1882 eine Heereshochschule gegründet. In beiden Instituten wirkte 1885–88 der preußische Major Jakob Meckel als Berater und Ausbilder. Er propagierte nach preußischem Vorbild die GlieS. 198–206 und David M. Crowe, Sino-German Relations 1871–1917, in: Ders./J. M. Cho (Hg.), Germany and China. Transnational Encounteres since the 18th Century, New York 2014, S. 71–96 (S. 72 zu Richthofen). Bradley Naranch, Made in China: Austro-Prussian Overseas Rivalry and the Global Unification of the German Nation, in: Australian Journal of Politics and History 56 (2010), S. 366–380.Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005, resümiert S. 23: „In der Summe drängten weder Wirtschaft noch Parteien das Deutsche Reich in die Kolonialpolitik hinein.“

422  VII. Preußen und die Welt derung der Armee in Administration (Kriegsminister), Truppenführung (Generalstab) und Ausbildung (Generalinspektion), regelmäßige Übungen, Stabsreisen und Auftragstaktik, aber auch Uniform-Gestalt und infantristischen Frontalangriff als Strategie im Krieg. Meckel galt seinen japanischen Schülern und in Preußen als Vater der Siege über China 1894/95 und Rußland 1905, aber persönlich beteiligt war er nicht. In den 1880er Jahren leisteten auch abgeordnete preußische Zivilbeamte Dienst. Ein Dutzend preußischer Juristen, darunter der spätere Reichskanzler Georg Michaelis, fertigten die Entwürfe von Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozeßordnung, Handelsgesetzbuch und anderen Gesetzen. Im Schulwesen wirkten Berater aus Preußen bei der Konzeption von Schultypen oder Rahmenlehrplänen mit. An der Universität Tokio lehrte 1887–1902 der Historiker Ludwig Riess, Schüler Hans Delbrücks, exakte Quellenkritik, die Konzentration auf Diplomatiegeschichte und die national ausgerichteten Maximen des Historismus. Umgekehrt besuchten bis zu 900 japanische Studenten vor 1914 Universitäten im Reich, vor allem Berlin, Heidelberg und Halle. Als bekanntester kultureller Vermittler zum Deutschland seiner Zeit gilt bis heute in Japan Mori Ogai. Der Militärarzt studierte als Regierungsstipendiat 1884–88 das deutsche Heeressanitätswesen und die deutsche (Hygiene-) Medizin. Mit 140 Übersetzungen klassischer deutscher Dichtungen und eigenen Werken, etwa der traurigen Berlin-Novelle „Das Ballettmädchen“, hat er das poetische Deutschland-Bild nicht weniger Japaner geprägt. So vielfältig somit die Orientierung der militärischen und von Teilen der politischen Elite Japans an preußischen politischen und kulturellen Mustern zeitweilig war, so dominierten doch beiderseits Nützlichkeitserwägungen. Und in eine Gesamtperspektive gesetzt erweist sich die vermeintliche preußisch-deutsche Prägung Japans Takenaka Toru zufolge in dreifacher Hinsicht als Mythos. Erstens blieb die soziale Reichweite beschränkt und zweitens dominierte Englisch sprachlich. Von rd. 2400 ausländischen Beratern kamen ganze 279 aus PreußenDeutschland, aber rd. 800 aus Britannien, 400 aus Frankreich und 350 aus den USA; unter 8.000 (zeitweilig) in Japan ansässigen Ausländern befanden sich nur 780 Deutsche, aber 2.500 Briten und 1.700 Amerikaner. Die Hochschulen waren am angolamerikanischen Modell ausgerichtet und Englisch dominierte unter den Fremdsprachen; selbst Riess lehrte in Tokio auf Englisch, da seine Schüler kein Deutsch verstanden. 95 % der privat finanzierten Studenten absolvierten ihre Auslandsaufenthalte in den USA und Werke deutscher Hochkultur von der Philosophie bis zur Musik gelangten als englische Übersetzungen in das Land. Das deutsche Bildungsideal imponierte staatsfixierten Angehörigen der Meiji-Eliten, aber gesamtgesellschaftlich blieben die Kontakte zu Preußen-Deutschland sehr begrenzt. Drittens gab es seit dem chinesisch-japanischen Krieg 1895 zunehmende politische Distanz. In Preußen hielt man sich Japans zügige Modernisierung zugute

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und schmeichelte sich mit dem Wort von den „Preußen Ostasiens“. 1895 aber zwang die Berliner Regierung im Einklang mit Japans Hauptgegner Rußland sowie Frankreich, jedoch im Ton besonders rabiat, Japan zur Freigabe eines Großteils seiner festlandschinesischen Eroberungen.  Jahrelang beleidigte die nicht zuletzt von Wilhelm II. gebrauchte Parole von der „gelben Gefahr“ die Japaner und die Kolonie-Gründung in Qingdao/Tsingtau ließ das Reich als invasive Kolonialmacht erscheinen. 1902 schloß Tokio ein Bündnis mit England, Folge der Japan enttäuschenden Unterstützung Berlins für Rußland. Kanzler Bülows hochmütiger Kurs während des russisch-japanischen Krieges 1904/05 entfremdete Nippon weiter. Im Rückblick auf die politische Verselbständigung des Militärs, den zunehmend antiwestlich aufgeladenen Nationalismus und die Expansionspolitik in Asien bis 1942 ist Japan im negativen Sinne als Parallele zu Preußen(-Deutschland) gesehen worden – diszipliniert, gehorsam und effizient, wirtschaftlich entwickelt, aber politisch antiliberal. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß die Attraktivität Preußens auf der Vorliebe mancher Meiji-Reformer für autoritäre Modernisierung beruhte, daß sich die Japaner massiv erst seit den 1920er Jahren die Zivilisierungsmission gegenüber den asiatischen Nachbarn zuschrieben, daß langjährig starke anglo-amerikanische Einflüsse und Vorbilder existierten, daß das Bündnis mit Nazi-Deutschland 1936/40 erst nach erfolglosen Sondierungen bei den Westmächten eingegangen wurde und im Jahrzehnt zuvor durchaus andere Entwicklungen möglich erschienen. Eine ähnliche Konstellation war mit der Rolle beider Länder als Monarchien mit starker Bürokratie, machtpolitische Newcomer und rohstoffarme, wirtschaftlich aufstrebende Staaten wohl gegeben. Aber die imperialistische Entwicklung Japans läßt sich nicht allein Preußen anlasten, sondern primär als Adaption des europäischen Kolonialstaatsmodells bestimmen, wobei, wie stets bei Adaptionen, endogene Faktoren die Übernahmen von außen stark beeinflußten.391

391 Krebs (Hg.), Japan und Preußen, S. 20 f. (Regierungsmaxime, Bismarck), S. 103–232 (Iwakura-Mission, Armee, Sprachenseminar, Verfassung, Rechtswesen), S. 287–318 (wirtschaftl. Beziehungen, Bildungswesen). Paul-Christian Schenck, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens. Deutsche Rechtsberater im Japan der Meiji-Zeit, Stuttgart 1997, S. 190 ff., 323–331. Ch. W. Spang/R.-H. Wippich (Hg.), Japanese-German Relations 1895–1945. War, Diplomacy and Public Opinion, London/New York 2006, S. 1 ff., 21–27 (Sven Saaler), 74–77, 80–97 (Akira Iikura). Takenaka Toru, The Myth of „Familiar Germany”. German-Japanese Relationships in the Meiji Period Reexamined, in: J. M. Cho u. a. (Hg.), Transnational Encounters between Germany and Japan, Basingstoke 2015, S. 19–34. Bernd Martin, Fatal Affinities. The German Role in the Modernisation of Japan in the Early Meiji-Period (1868–1895) and its Aftermath, in: Ders., Japan and Germany in the Modern World, Oxford 1995, S. 17–75, 189–238 (1918–1941). Sebastian Conrad, Die Zivilisierung des „Selbst“. Japans koloniale Moderne, in: B. Barth/J. Osterhammel

424  VII. Preußen und die Welt ✳ In China wirkten 1870–1914 etwa 130 preußisch-deutsche Militärberater und 114 chinesische Studenten besuchten 1901–11 deutsche Universitäten, nur ein Bruchteil des Personenkreises, der in Japan oder den USA studierte. Die Regierungsstipendiaten und andere chinesische Besucher waren am Wissens-Tranfer in dreifacher Beziehung interessiert. Im Militär ging es um Ausbildung und Waffenkauf. Politisch wurde der deutsche Konstitutionalismus positiv rezipiert. Der nationalchinesische Philosoph Kang Youwei schrieb: „In Amerika und Frankreich herrschen zu viel Freiheit, England ist zu überheblich und macht keine Fortschritte, und der Rest sind kleine Länder (…). Aus diesem Grund steht Deutschland heute allein an der Spitze.“ Tatsächlich gab die 1906 proklamierte Verfassung dem Kaiser volle Machtbefugnis, Parlament und Regierung sollten ihn unterstützen und Gerichte auf die Einhaltung der Gesetze sehen. Die idealisierte deutsche Bildungsidee wurde in China geschätzt und einige Hochschulen, darunter die Peking-Universität, versuchten deutsche Lehr- und Lernmethoden zu übernehmen. Insgesamt freilich blieben dies punktuelle Kontakte in wenigen Städten eines Riesenreichs, das eigene Wege beschritt und mit der Revolution sowie der Republikgründung 1912 Preußen sechs Jahre vorausging. Preußen war an der Öffnung des chinesischen Marktes durchaus interessiert und nahm an der europäischen Kanonenboot-Politik beispielsweise 1876 teil. Aber Landerwerb unterblieb, denn Bismarck erklärte 1870, den „barbarischen Völkerschaften“ gegenüber genügten „kleinere Flottenabtheilungen (…) mit der Weisung, jeden zu Boden zu schlagen, der einem Deutschen ein Haar krümmt; Landerwerb ist hierzu nicht erforderlich.“ Im französisch-chinesischen Konflikt 1884/85 stützte Bismarck die Position Frankreichs. Am Ende seiner Amtszeit genehmigte er die von Wirtschaftskreisen betriebene Gründung der „DeutschOstasiatischen Bank“, des ersten deutschen Finanzinstituts für Fernost. Jedoch wickelte China noch 1911 ein Drittel seines Handels mit Großbritannien ab, gut 15 % mit Japan, je 8 % mit den USA und Rußland, ganze 3,6 % mit dem Deutschen Reich. Die Wirtschaftsbeziehungen stoppten kriegsbedingt 1914 und 1917 trat China der alliierten Siegerkoalition bei. Die politische Entfremdung hatte maßgeblich Wilhelm II. angebahnt. Er forderte 1894 eine dauerhafte Niederlassung in China, vorzugsweise in Formosa, und beorderte 1897 ein Kreuzer-Geschwader ins Chinesische Meer. Mit der erpressten Pachtung einer 50 km Zone um den Hafen Kiautschou entstand ein Gebiet, das zur „Musterkolonie“ erklärt wurde und den Ausgangspunkt für ökonomische Expansion in Berg- und Eisenbahnbau sowie für deutsche Importe bilden sollte. Gegen die nationalistische Boxer-Bewegung gewann eine „Strafexpedition“ europäischer Großmächte unter dem Kommando des preußischen (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18.  Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 245–268.

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„Weltmarschalls“ Alfred v. Waldersee 1900 rasch die militärische Kontrolle. Im Nachgang kam es zu beträchtlichen Gewalttaten gegen Zivilisten und Massakern in Dörfern. Den Freibrief dazu stellte Wilhelm II. mit seiner bis heute bekannten „Hunnen-Rede“ aus: Es sei weder Pardon zu geben noch dürften Gefangene gemacht werden, damit „niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ Das wiederholte Eindringen Fremder stellte für das Reich der Mitte eine Demütigung dar. Trotz aller Interventionen der Europäer und späterer Besatzung durch Japan blieb das Innere Chinas aber außerhalb direkter kolonialer Unterwerfung. Ein Jahrhundert später hat sich die Situation vollkommen geändert. China ist politische wie wirtschaftliche Großmacht und dabei, seine Einflußsphäre im südpazifischen Raum auch militärisch zu festigen. Die dabei versuchsweise angewandten Methoden des Drohens, Intervenierens und Eingehens hoher Risiken aus Statusambitionen veranlaßten den Politologen Reinhard Wolf, vor den desaströsen Fehlern beim vergleichbaren wilhelminischen Griff nach der Weltmacht zu warnen. Weder dürfe China im Bewußtsein eigener Kraft die Sicherheitsbedürfnisse der anderen Staaten mißachten noch militärische Gewalt für territoriale Gewinne einsetzen. Der chauvinistische Diskurs im eigenen Land müsse gebremst, diplomatische Lösungen für Konflikte gesucht und besonnen der Zuwachs an wirtschaftlichem Gewicht und korrespondierendem politischem Einfluß genutzt werden. Ganz ohne kriegerische Konflikte seien damit längerfristig Macht- wie Statusgewinn zu erreichen. Preußen-Deutschland könnte so ex negativo als Lehrstück für Chinas Strategie im 21. Jahrhundert dienen – ob das im Reich der Mitte politisch erkannt wird, steht dahin.392 Wirtschaftszentriert stellten sich Preußens Beziehungen zu Lateinamerika dar; dazu kam der Einfluß europäischer Militär- und Bildungssysteme auf mehrere Länder des Halbkontinents. Nach den mißlungenen Festsetzungsversuchen der Frühzeit (St. Thomas 1686–1735, Interesse an Tobago bis 1721) ging es seit der Gründung der Rheinisch-Westindischen Compagnie 1821 um Absatzmärkte, zumal für die 392 Mechthild Leutner u. a. (Hg.), Preußen, Deutschland und China. Entwicklungslinien und Akteure (1842–1911), Berlin 2014, S. 27–62 (Cord Eberspächer), S. 195–229 (Xu Jian), S.  231–293 (Andreas Steen). Mechthild Leutner (Hg.), Quellen zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen 1897 bis 1995, Bd. 1: „Musterkolonie Kiautschou“. Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914, Berlin 1997, S. 40 f. (Zurückhaltung bis 1890), S. 80, 100 (Wilhelm II.); Helmuth Stöcker, Deutschland und China im 19.  Jahrhundert. Das Eindringen des deutschen Kapitalismus, Berlin (Ost) 1959, S.  71  ff. (Richthofen), 103  ff. (1876), 190  ff. (Deutsch-Asiatische Bank). Crowe, Sino-German Relations, S. 76 (Handel), S. 89 f (Kriegseintritt). Kuß, Deutsches Militär, S. 49 ff., 419 f. (BoxerKrieg). Reinhard Wolf, Rising Powers, Status Ambitions, and the Need to Reassure: What China Could Learn from Imperial Germany’s Failures, in: The Chinese Journal of International Politics 2014, S. 185–219.

426  VII. Preußen und die Welt daran interessierte Textilindustrie der preußischen Westprovinzen. Die Südamerikabilder in der preußisch-deutschen Publizistik waren von Ahnungslosigkeit und Ressentiment geprägt; Hegel nannte die indianischen Amerikaner „unverständige Kinder, die von einem Tag auf den andern fortleben, fern von höhern Gedanken und Zwecken.“ Als Aufklärer und Vermittler wirkte demgegenüber Alexander von Humboldt, dessen Buch über Kuba 1826 Stereotypen bekämpfte. Im Vormärz bestand ökonomisches Interesse an der Republik Haiti und an Kuba, wo deutsche Kaufleute nach dem dominierenden Spanien und den USA die drittgrößte Gruppe bildeten. Freilich blieben preußisch-deutsche Repräsentanten stets sekundär gegenüber den regional je führenden Kolonialstaaten. Zeitweilig eine Spitzenstellung nahmen deutsche Kaufleute ab den 1870er Jahren zwei Jahrzehnte in Venezuela ein; seit 1868 ab es einen Geschäftsträger des Norddeutschen Bundes in Caracas. Mehrfach schickte Berlin Marineeinheiten gen Südwesten: 1866 nach Brasilien, 1870 nach Venezuela, dreimal nach Haiti, 1891 nach Chile, 1913/14 nach Mexiko und die sog. Detachierte Division nach Brasilien, Argentinien und Chile. Letztere fungierte nicht als Interventionsstreitmacht, sondern als schwimmende Industriemesse. Im Zuge des Marinebaus seit den 1890er Jahren hoffte man in Berlin, verschuldete Staaten zur Abtretung von Stützpunkten oder Inseln bewegen zu können, etwa Brasilien bezüglich eines Hafens oder Venezuela bezüglich der Isla de Margarita. Als das Reich, England und Italien 1902 eine Seeblockade verhängten, um Venezuela zur Schuldentilgung zu zwingen, mußte diese auf Druck der USA aufgehoben werden. Von größerer Bedeutung waren stets die kommerziellen Kontakte – und die Luxusdampfer des Lloyd oder der Hapag, die den Zivilverkehr von Tausenden Reisenden bewerkstelligten. Zwei Länder bezogen sich in Teilbereichen explizit auf Preußen: Chile beim Militär, Argentinien im Schulwesen. In Chile unterstützen ca. 40 preußisch-deutsche Instrukteure ab 1886 den Armeeaufbau; 150 Chilenen erfuhren Offiziersausbildung in Deutschland. Der Artilleriehauptmann Emil Körner reorganisierte die Kriegsakademie und war zuletzt Generalinspekteur des Heeres; man führte preußische Uniformen mit Pickelhaube nebst dem preußischen Exerzier-Reglement ein, 1901 die Wehrpflicht. Die Chilenen galten als die Preußen Südamerikas. Deutsches Hauptinteresse waren Waffenverkäufe an Chile. Ab 1904 wurde auch Kritik an der prusianización laut. 1907 war das Militär für ein Massaker an streikenden Arbeitern verantwortlich und verstand sich allmählich als unpolitische Elite und Garant des Staatswesens. Die spätere Tradition des Putsches gegen Regierungen leitete sich aber nicht von den preußischen Instrukteuren bis 1914 her. Wie stets bei Transfers handelte es sich um partielle Übernahme und Adaption im Rahmen eigener Traditionen der Empfänger: Eine Pickelhaube macht noch keinen Preußen, hat Stefan Rinke resümiert. In Argentinien rührte eine gewisse Bewunderung für das preußische Bildungswesen seit einer Europareise des Publizisten und späteren Präsidenten ­Domingo Sarmiento 1847 her. Ihm gefielen Schulpflicht, Schulorganisation und

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Unterrichtsgestaltung. Die liberale Reorganisation der argentinischen Schulen nach 1880 folgte jedoch französischem Vorbild: Zentralistisch, laizistisch und ohne Schulgeld. Das preußische lokalistische, konfessionelle, kostenpflichtige Modell vertraten konservative Kräfte und unterlagen im Parlament. Im Zuge neuer Debatten zwischen konservativen und linksliberal-sozialistischen Parteien um berufspraktischen, auch technischen Schulunterricht, pädagogische Lehrmethoden und Schulsystem wiederholte sich die Ablehnung des preußischen Modells 1916/17. Die bei den Kongreßwahlen siegreichen Radikale Bürgerunion und Sozialisten hielten das gegliederte Schulwesen, das soziale Hierarchien reproduzierte, für unvereinbar mit den Traditionen der (idealiter egalitären) Republik. Die Bezugnahme auf Preußens Schulwesen war in Argentinien ähnlich wie in Japan primär eine Sache liberal-konservativer Bildungsbürger.393 Das vierte Gegenstandsfeld, der Kolonialismus, beschäftigte die Forschung in den letzten Jahren besonders stark. Mit den Sätzen „Die koloniale Vergangenheit ist heute allgegenwärtig“ und „Die deutsche Kolonialgeschichte ist noch nicht zu Ende“, beginnen die breit rezipierten Darstellungen der preußisch-deutschen Kolonialgeschichte von S. Conrad und Winfried Speitkamp. Forscher betrachten den Kolonialismus sowohl als die zentrale Rahmenbedingung für die Verflechtung der Welt wie auch als Grundlage für wichtige Probleme der bis heute andauernden Entkolonisierung. Dabei sind die kolonialen Projekte zwischen 1683 und 1870 eindeutig Preußen zuzuordnen. Die deutsche Kolonialexpansion ab 1884 weist insofern preußische Prägungen auf, als die Lage der Machtzentrale Berlin in Preußen, dessen politische Hegemonie im Reich bis 1918 und der hohe Anteil gebürtiger Preußen am administrativen Personal in den Kolonien wie in den Nationalitäten-Gebieten evident sind. Für mehrere Fragen werden auch Fernwirkungen Preußens debattiert, etwa bezüglich der oben bereits berührten nach dem kolonialen Charakter der gemischtnationalen Gebiete im Innern oder der Militärdoktrin bei afrikanischen Kolonialmassakern.394 Der neue Ansatz verfolgt vier Zielrichtungen: Erstens mißt er der Kolonialgeschichte weit höhere geschichtliche Bedeutung als zuvor üblich bei; zweitens werden die Kolonisierten als Subjekte erforscht und die Erinnerungsgeschichte 393  Stefan Rinke, Eine Pickelhaube macht noch keinen Preußen: Preußisch-deutsche Militärberater, „Militärethos“ und Modernisierung in Chile 1886–1973, in: S. Carreras/G. Maihold (Hg.), Preußen und Lateinamerika, S. 259–283 und Marcelo Caruso, Zweideutige Verweise. Preußen als Vorbild argentinischer Schulreformen unter besonderer Berücksichtigung des Projekts von Carlos Saavedra Lamas, in: Ebd., S. 285–304. Gerhard Wiechmann, Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914. Eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik, Bremen 2002. 394 Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, 3. Aufl., München 2016, S. 7, 107; Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, S.  9 (Zitate). Faktenreich und detailliert zum Ablauf: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, 6. Aufl., Paderborn u. a. 2012.

428  VII. Preußen und die Welt unter Kolonisierern und Kolonialisierten bis heute verfolgt; drittens geht es um diverse Rückwirkungen der kolonialen Peripherie auf die Kolonialmächte selbst; viertens soll die Verbindung zahlreicher Problemfelder mit dem Kolonialsystem aufgezeigt werden, die koloniale Globalität. Grundsätzlich ist die fromme Legende von der strengen, aber gerechten, insgesamt guten Verwaltung gerade der deutschen Kolonien völlig ad acta gelegt worden: Gewaltanwendung, Diskriminierung und wirtschaftliche Ausbeutung waren an der Tagesordnung. Kolonialrecht bedeutete zweierlei Rechtskreise für Europäer und „Eingeborene“, vielfache Prügelstrafen und willkürliche Landwegnahme. Neuere Arbeiten, die Quellen vor Ort auswerten, lassen die indigene Kolonialbevölkerung nicht mehr nur als Objekte, sondern auch als handelnde Subjekte erscheinen. Die Tagebücher und Briefe des Stammesführers der namibischen Nama, Hendrik Witbooi, aus den 1880er/1890er Jahren belegen dies eindrücklich. Handlungsmächtig zeigte sich auch der Kameruner Duala-Prinz Rudolf Manga Bell, als er 1911 eine öffentlich beachtete Petition an den Reichstag gegen die Enteignung von Land zugunsten einer segregierten Europäerstadt richtete. Zu Kriegsbeginn 1914 konstruierte man abwegig einen „Hochverrat“ Manga Bells und ließ ihn hinrichten, offensichtlicher Justizmord.395 Schon für das späte 17. und 18. Jahrhundert konnten „Preußens schwarze Untertanen“ als präsent nachgewiesen und spezifische Lebenswege rekonstruiert werden. Etwa 50 Afrikaner waren ab 1683 Militärmusiker und „Hofmohren“, Hauspersonal vor allem in Berlin-Potsdam, Königsberg oder Militärstandorten und nur in je einem Fall Kaffeehausbetreiber bzw. Doktor der Philosophie in Halle (Anton Wilhelm Amo). Die heute kontrovers diskutierte Berliner Mohrenstraße bezeichnete einen Unterkunftsort. Afrikaner wurden überwiegend als Sklaven käuflich erworben, aber nach der generell üblichen Taufe mit oft hochrangigen Taufpaten als Soldaten bzw. als exotisches Zubehör der Hofstaaten verwandt und tauchten regelmäßig auf zeitgenössischen Gemälden auf, etwa bei Pesne 1714 oder Knobelsdorff 1735. Schwarze Militärmusiker stellten das Gros, so daß Friedrich Wilhelm I. 1731 26 „Mohren aufspielen“ und Friedrich II. bei einem Fest 1750 mehrere Dutzend kostümiert auftreten lassen konnten. Soziale Aufstiege blieben ihnen verwehrt, aber Heiratskonsense mehrfach erteilt und auch 395 Noch Winfried Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus (1890–1914), 2. Aufl., Frankfurt/M. u. a. 1976, formulierte S.  82 das Urteil, daß die deutsche ­Kolonialverwaltung „‘sehr streng, zeitweilig hart, aber stets gerecht‘ gewesen sei“ habe „seine Gültigkeit behalten“, die Versailler „Kolonialschuldlüge“ sei widerlegt. Speitkamp, Kolonialgeschichte, S. 60–72 (Kolonialrecht), 112 f. (Manga Bell). Brigitte Lau (Hg.), The Hendrik Witbooi Papers, 2. Aufl., Windhoek 1996. Michael Kißkalt, Das Tagebuch des Richard Edube Mbene und sein missionshistorischer Kontext, Stuttgart 2015. Christian Bommarius, Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914, Berlin 2015.

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Familiengründungen sind nachweisbar erfolgt. Intellekt wurde ihnen rundum abgesprochen. So notierte Kant in Königsberg, wo eine Anzahl Afrikaner lebten, in seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ 1764 apodiktisch, „dieser Kerl war vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz; ein deutlicher Beweis, daß das, was er sagte, dumm war.“396 Besonders plastisch treten Einzelschicksale von Afrikanern im späteren 19.  und im 20.  Jahrhundert hervor. Der in Kamerun 1876 geborene Quane a (Martin) Dibobe kam 1896 nach Berlin und arbeitete 1902–1920 als Zugführer auf der U-Bahnlinie 1. 1919 richtete er mit anderen eine Eingabe an das Reichskolonialamt, worin in 31 Punkten die soziale Republik begrüßt und Gleichheit vor dem Gesetz, Ende von Enteignungen oder Zwangsarbeit, Abbau der Militärpräsenz und höhere Löhne, Schulpflicht und Achtung afrikanischer Gebräuche gefordert wurden. Insgesamt wurde der Anspruch auf Gleichberechtigung für Afrikaner erhoben und Dibobe als Vertreter Kameruns in der Nationalversammlung vorgeschlagen. Wegen politischen Engagements auch bei Streiks verlor Dibobe 1920 seine Stelle; er reiste nach Afrika zurück und seine Spur verliert sich im westafrikanischen Liberia. Die Umbenennung einer Berliner Straße nach ihm wurde 2017 debattiert. Gustav Sabac el Cher, 1868 als Sohn eines Sudanesen, der 1843 dem Prinzen Albrecht von Preußen als Hausdiener geschenkt worden war, und einer deutschen Mutter in Berlin geboren, diente ab 1885 als Militärmusiker, ab 1895 als Dirigent beim Grenadier-Regiment in Königsberg, aber verließ das Militär 1909 und arbeitete als Kapellmeister. In der Weimarer Republik trat er wiederholt als Dirigent im Rundfunk auf. Ende der 1920er Jahre eröffnete er mit seiner deutschen Ehefrau ein Gartenlokal in Senzig bei Königs Wusterhausen, das er wegen der NS-Machtübernahme ebenso schließen mußte wie ein Kaffeehaus in der Berliner Oranienburger Straße, da Gäste dem „Negercafé“ fernblieben. Gustav, politisch deutschnational, starb 1934, und der Ex-Kaiser in Doorn sandte ein Beileidstelegramm. Ein Sohn überlebte die NS-Zeit und dessen Enkelin Angela Sabac el Cher erforschte die Familiengeschichte. Gustav Sabac el Cher ist ideell noch heute präsent, denn das im Deutschen Historischen Museum ausgestellte Gemälde „Preußisches Liebesglück“ bildet ihn und seine Verlobte zwar nicht porträthaft ab, aber ist von seiner Lebensgeschichte inspiriert.

396 Andreas Becker, Preußens schwarze Untertanen. Afrikanerinnen und Afrikaner zwischen Kleve und Königsberg vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22 (2012), S. 1–32, Kant-Zitat S. 5. Stephan Theilig, Türken, Mohren und Tataren. Muslimische (Lebens-)Welten in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 353–362; Ulrich van der Heyden (Hg.), Unbekannte Biographien in Deutschland. Afrikaner im deutschsprachigen Raum vom 18.  Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 2008, S. 65–75 (A. W. Amo), S. 162–172 (M. Dibobe).

430  VII. Preußen und die Welt Mahjub bin Adam Mohamed Hussein, kurz Bayume Mohamed Husen genannt, 1904 in Tansania (Deutsch-Ostafrika) geboren und 1944 im KZ Sachsenhausen ermordet, verknüpft Kolonialepoche, Republik und NS-Zeit bis hin zum erwachenden Gedenken in der Bundesrepublik. Der Sohn eines Askari diente zu Kriegsende noch als Kindersoldat, kam 1929 nach Berlin, um (erfolglos) ausstehenden Sold einzufordern, aber erhielt Anstellung als Sprachlehrer am Orientalischen Seminar der Universität. Er trat als Darsteller in der kolonialrevisionistischen „Deutschen Afrika-Schau“ auf und als Schauspieler, beispielsweise als Adjutant von Hans Albers im Film „Carl Peters“. 1941 wegen „Rassenschande“ denunziert, bewahrte er noch im KZ Würde. Sein Sohn Heinz Bodo kam 1945 bei einem Luftangriff um; ein Stolperstein vor seinem Berliner Wohnhaus erinnert seit 2007 an ihn. Bis in die Gegenwart reicht das Leben von Theodor Wonja Michael: 1925 in Berlin als Sohn eines Kameruner Kolonialmigranten und dessen deutscher Ehefrau geboren, 1938 vom Gymnasialbesuch ausgeschlossen, aber quasi als Reservepersonal für künftig restituierte Kolonien nicht weiter verfolgt, 1940/41 Statist im Film „Carl Peters“, 1943 zur Zwangsarbeit verbracht, in der Bundesrepublik nach Studium als Journalist tätig, Chefredakteur des „Afrika Bulletin“, dann Beamter beim Bundesnachrichtendienst. Als aktives Mitglied der Schwarzen Gemeinde lebt er in Köln.397 Auch Frauenrollen thematisiert die Forschung: Als Kulturimperialistinnen in agitatorischen Verbänden, um so das traditionelle bürgerliche Rollenbild partiell zu durchbrechen; als Schriftstellerinnen, die wie die preußischen Diplomatentöchter Frieda von Bülow bzw. Elisabeth von Heyking entweder populär-kitschige Kolonialromane schrieben oder sich aus besorgter Humanität kolonialkritisch äußerten; in der kolonialen Welt einerseits als Gattinnen von Kolonialverwaltern, andererseits als naturwüchsig-inferiore „schwarze Eva“.398 397 Die Kolonialpetition online: https:/blackcentraleurope.com/sources/interwar/petitions-to german-authorities-1919. Gorch Pieken/Cornelia Kruse, Preußisches Liebesglück. Eine deutsche Familie aus Afrika, Berlin 2007 und Wikipedia-Eintrag Gustav Sabac el Cher. Marianne Bechhaus-Gerst, Treu bis in den Tod. Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen. Eine Lebensgeschichte, Berlin 2007 und Wikipedia-Eintrag Bayume Mohamed Husen. Theodor Michael, Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, München 2014. Weitere Schicksale bei Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 195–227 sowie Robbie Aitken, Education and Migration. Cameroonian Schoolchildren and Apprentices in Germany, 1884–1914, in: Mischa Honeck u. a. (Hg.), Germany and the Black Diaspora, New York 2013, S. 213–230. 398 Birthe Kundrus, Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs, in: S. Conrad/J. Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 213–235. Marianne Bechhaus-Gerst, Frieda von Bülow, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt/M. 2013,

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Berlin war die deutsche Kolonialmetropole. Hier wirkten die Kolonialbehörden und fanden die Kolonialdebatten im Reichstag statt. Hier gab es ein Kolonialhaus als Großhandelsfirma für Kolonialwaren und Dutzende von kolonial tätigen Einzelfirmen. Hier baute man die große Kolonialausstellung 1896/97 auf, die zwei Millionen Besucher anzog und von deren 103 „ausgestellten“ Kolonialbewohnern mehrere infolge Kälte im Juni starben; hier etablierte man aus den Ausstellungsstücken ab 1899 ein Kolonialmuseum, und benannte im Afrikanischen Viertel in Moabit 23 Straßen mit Namen von Afrikanischer- bis Togo­straße, die neuerdings nach indigenen Freiheitskämpfer*innen umbenannt werden. Berliner Museen sammelten Kunstwerke aus Kolonien, Lebendabgüsse aus Neuguinea und vermutlich über 2000 Schädel überwiegend von Afrikanern, die teils bis heute in der Charité liegen. Völkerschauen bis 1914 und bis 1939 Kolonialausstellungen im revisionistischen Sinne gab es auch andernorts, etwa in Bremen ein Kolonialmuseum (heute Überseehaus), überall Kolonialwaren, in vielen Städten nach „Kolonialhelden“ wie Lettow-Vorbeck benannte Straßen, einige Kolonialdenkmäler. Bis heute blieben geistige Erinnerungsorte präsent: Der Sarotti-Mohr und der Askari, die Südsee und Deutsch-Südwest (Namibia). Im Kürzel Edeka lebt unerkannt die ehemalige „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“ weiter. Hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung wurde jüngst darüber sinniert, ob das bis in die späten 1970er Jahre im ehem. Bismarck-Archipel in Papua-Neuguinea lokal endemische, mit deutschen Wörtern durchsetzte Unserdeutsch nicht als Beispiel für erwartbare koloniale Sprachentwicklungen auf Basis des Deutschen gelten müsse, hätte der deutsche Kolonialismus Jahrzehnte länger gedauert. Für das Englische („World-Englishes“) und Französische in der Karibik oder Afrika gab es ja ähnliche Prozesse, aber kreolische Deutsch-Varianten jenseits des genannten Falles verhinderte der Schnitt 1914/18.399

S. 365–371. Mechthild Leutner, „Sind wir ehrlich, so haben wir uns doch alle als armselige Blechgötzen erkannt ...“. Elisabeth von Heykings ambivalente Positionen zur Kolonialpolitik, in: Dies./M. Bechhaus-Gerst (Hg.), Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009, S. 57–65. 399 Heyden/Zeller (Hg.), Kolonialmetropole Berlin, S. 29 ff. (Behörden), 67 ff. (Kolonialdebatten), S. 81 ff. (Firmen und Kolonialhaus), 135 ff. (Kolonialausstellung, Kolonialmuseum), 261 ff. (Afrikanisches Viertel), S. 280 ff. (Museen). Ulrich van der Heyden/ Joachim Zeller (Hg.), Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007. Marianne Bechhaus-Gerst/Anne-Kathrin Horstmann (Hg.), Köln und der deutsche Kolonialismus. Eine Spurensuche, Köln 2013. Matthias Heine, Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte, Hamburg 2018, S. 94–149.

432  VII. Preußen und die Welt Noch die (regierungsamtliche) Bundesrepublik tut sich schwer mit dem kolonialen Erbe, so bei der Umbenennung von Straßen oder der Erklärung des Krieges gegen Herero und Nama zum Völkermord und (Reparations-)Zahlungen an die Nachfahren dieser Völkergruppen. Die Potsdamer SPD/CDU-Regierung lehnte es 2008 ab, einem fachkundig geleiteten Verein Geld zur Erforschung des brandenburgischen Kolonialismus seit 1682 zuzuwenden, da dieser Erinnerungskultur kein besonderer Stellenwert zukomme, die Thematik an den Landeshochschulen keine Rolle spiele und heutige Entwicklungszusammenarbeit nicht aus der kolonialen Geschichte hergeleitet werde. 2009 wurde der Togolese Gerson Liebl nach 18 Jahren und Familiengründung in der Bundesrepublik ausgewiesen, da er nach Behördenansicht das Bestehen einer Ehe seines Großvaters, eines 1908–11 in Togo tätigen bayerischen Kolonialarztes, mit einer Togolesin nicht nachweisen könne, und überhaupt „Mischehen“ nach deutschem Kolonialrecht keine gültigen Ehen gewesen seien – frei nach dem skandalösen Wort des ehemaligen Marinerichters Hans Filbinger von 1977, was bis 1945 Recht gewesen sei, könne nun kein Unrecht sein. Liebl lebt seit 2018 wieder in Berlin.400 Der Anspruch der wissenschaftlich betriebenen Postcolonial Studies geht jedoch über die Nachzeichnung von Schicksalen und das Wachhalten der kolonialen Erinnerungsgeschichte hinaus. Es sollen die Rückwirkungen des Kolonialismus auf Politik und politisches Denken in den europäischen Kolonialmächten und dessen Funktion als Rahmensetzung für die politische, wirtschaftliche oder mediale Globalisierung nachgewiesen werden. Für die deutsche Nationalhistorie war die Kolonialvergangenheit eine auf die drei Jahrzehnte ab 1884 begrenzte Episode mit einer Nachgeschichte von Kolonialrevisionismus und damit nicht Großbritannien oder Frankreich vergleichbar. In den Kolonien ließen sich kaum 20.000 Deutsche zum langjährigen Aufenthalt als Siedler etc. nieder; weniger als 1 % aller Ausfuhren, maximal 2 % der Kapitalinvestitionen gingen dorthin; aus den deutschen Überseegebieten kamen knapp 0,5 % der deutschen Importe. Europas Anteil lag jeweils bei etwa drei Viertel. Schon zeitgenössisch erwies sich der propagierte Gewinn für die Kolonialmacht Deutschland in Wahrheit als Zuschußgeschäft: 725 Mio. M Reichszuschüsse und rd. 250 Mio. (nie getilgte) Reichsdarlehen erhielten die vier afrikanischen Kolonien 1893–1913. Diese zeitlich eng begrenzte Sicht weisen aktuelle Fragestellungen jüngerer Forscher zurück. Deutlich vor der Phase des formellen preußisch-deutschen Kolonialismus‘ beschäftigte sich der Naturforscher und transnationale Brückenbauer Alexander von Humboldt mit den Phänomenen Kolonialismus, Rassedenken und Sklaverei. 400 Jens Klocksin/Uwe Prüfer (Hg.), Die Kolonialmacht Brandenburg. 325 Jahre brandenburgische Landnahme in Westafrika, Potsdam 2008, S. 21 ff.; Artikel „Staatlich gewollte Familienzerstörung“, in: Freitag 19.5.2012 und „Verdrängte, nahe Kolonialgeschichte“, in: Berliner Zeitung 17.12.2008, beide online verfügbar.

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Seine Erfahrungen in der Karibik und Südamerika ab 1799 führten Humboldt zu dezidierter Ablehnung. Er nannte 1803 „die Idee der Kolonie selbst eine unmoralische Idee“; „je größer die Kolonien sind, je konsequenter die europäischen Regierungen in ihrer politischen Bosheit sind, umso stärker muß sich die Unmoral der Kolonien vermehren.“ Die antikolonialen Revolutionen in Lateinamerika erkannte Humboldt ab 1820 als begründet an. In seinem Werk „Kosmos“ widerlegte er die Vorstellung von Rassen verblüffend einfach damit, daß alle Varietäten von Menschen untereinander fortpflanzungsfähig sind, tierische Rassen aber in aller Regel nicht. Der Weltweise aus Berlin formulierte klar: „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechts behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen.“ Hegels Herabsetzung der amerikanisch-indianischen Welt hielt er für ein „abstraktes Behaupten“, das ihn ängstige. Humboldt untersuchte zwar empirisch Knochen von indigenen Stämmen und erachtete auch die europäische Kultur seiner Zeit im Ganzen für weiter entwickelt als die Stammeskulturen Amerikas, aber er folgerte daraus gerade kein Herrschaftsrecht für Europäer: „Es gibt bildsamere, höhergebildetere, durch geistige Kultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt“, heißt es im „Kosmos“. Humboldt trat zudem langjährig entschieden gegen die Sklaverei ein, die barbarisch sei und auch als ökonomisches System unproduktiv. Er wirkte zugunsten des preußischen Antisklavereigesetzes vom 9. März 1857, demzufolge jeder Sklave auf preußischem Gebiet frei wurde, und das im Ausland als politisches Signal rezipiert wurde.401 An spezifischen Beispielen für Rückwirkungen des Kolonialsystems auf Europa wird in der neueren Forschungsliteratur erstens der überseeische Baumwollanbau genannt. Die weltweite Verflechtung der Textilindustrie wurde durch das Werk Sven Beckerts über die erste globale Industrieware umfassend ausgeleuchtet. Andrew Zimmerman behauptet darüber hinaus aber weitreichende Folgewirkungen. Der von deutschen Diplomaten in den USA initiierte Versuch, durch Entsendung von vier afroamerikanischen Agrarexperten des Tuskegee Bildungsinstituts im deutschen Togo den Baumwollanbau zu etablieren, was wegen lokal divergenter Strukturen nur mühsam gelang, belege: „The Tuskegee expedition to Togo helped transform the political economy of race and agriculture characteristic of the New South into a colonial political economy of the global South.” Ferner soll Max Webers „Protestantische Ethik“ (1905) durch seinen Besuch in Tuskegee 1904 und die „Rassenfrage“ in den USA geprägt worden sein. Diese 401 Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen, S.  206  f.; Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 60 f. (Zahlen). Michael Zeuske, Der „Kosmos“ Alexander von Humboldts oder: Was soll „Welt“ vor der Wirtschaftsglobalisierung im 19. Jahrhundert sein?, in: Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne, S. 344–354, Zit. 346, 352; Ette, „daß einem leid tut“, S. 52 f. (Hegel); Bruhns, Humboldt, Bd. 2, S. 296 f.; Philip S. Foner, Alexander von Humboldt über die Sklaverei in den USA, Berlin 1984, S. 18–27.

434  VII. Preußen und die Welt Wirkungen einer eher marginalen Episode halten Rezensenten von Zimmermans Buch aber für überzogen sowie bei Weber gar nicht nachweisbar.402 Die Bedeutung des weltwirtschaftlichen Rahmens wird zweitens hinsichtlich der Einführung von Zöllen, besonders auf Getreide und Metallwaren, seit 1879 hervorgehoben. Bismarcks Schutzzollpolitik sei primär dem weltweiten Protektionismus gefolgt und weniger als innenpolitisches Kartell von Rittergut und Hochofen zu bewerten, argumentiert Cornelius Torp. Zu dieser Sicht paßt aber nicht, daß bei gleichen weltwirtschaftlichen Bedingungen unter Kanzler Caprivi 1891–94 zollsenkende Handelsverträge abgeschlossen wurden und die spezifische Ausgestaltung der deutschen Zollsätze die ostelbischen GetreideGroßproduzenten stärker begünstigte bzw. die Verbraucher stärker belastete als in Frankreich. Dem gallischen protektionistischen Konsens und der Absicht liberaler Republikanisierung standen im Reich nämlich politische Polarisierung und obrigkeitliche Reglementierung gegenüber. Deshalb sind Bismarcks politische Intentionen der Gewinnung reichstagsabhängiger Einnahmen und des Setzens eines Spaltpilzes in den Liberalismus keineswegs zu vernachlässigen. Die zunehmend protektionistische Weltwirtschaft und auch die Gegenmacht großer Vertragspartner wie der USA oder Rußlands setzten wohl einen Rahmen, aber die Maßnahmen fielen unterschiedlich aus, je nach den politischen Zielen der Akteure und den inneren Machtstrukturen.403 Drittens sind die „Erziehung zur Arbeit“ von Indigenen in den Kolonien und von „Arbeitsscheuen“ in Ostwestfalen (Friedrich v. Bodelschwingh) bzw. in ganz Preußen als zwei Seiten einer Medaille herausgestellt worden. Dabei wird zugegeben, daß der Ansatz innerpreußisch viel früher und seit den 1840er Jahren von protestantischen Kreisen, etwa um Johann Heinrich Wichern, verfolgt wurde. Armenhilfe sollte schon im 18. Jahrhundert zugleich Armenerziehung sein, etwa auch im pietistischen Württemberg. Preußische Gesetze über Armenpflege von 1842/43 sahen bereits die „Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen“ vor. Schon ab 1700 gab es etliche „Arbeitshäuser“ in Preußen und später unterhielten Kommunen oder Provinzialarmenverbände Armenanstalten mit gewissem Arbeitszwang. Konzediert wird ferner, daß die ethnisch diskriminierende Arbeitserziehung in Kolonien, die primär der Ausnutzung diente, und die Armenpolitik im Inland keine identischen Projekte waren, ja, daß man so402 Sven Beckert, King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2014, S. 335 ff. Andrew Zimmerman, Alabama in Africa. Booker T. Washington, the German Empire, and the Globalization of the New South, Princeton 2010, S. 1 und 205. Kritik daran: Manfred Berg, Rezension von Zimmerman, Alabama in Africa, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 236–238. Die Bedeutung des Togo-Experiments unterstreicht hingegen Conrad, Kolonialgeschichte, S. 108–110. Zur protestantischen Ethik vgl. Kaesler, Weber, S. 522–544. 403 Torp, Die Herausforderung der Globalisierung, und Ders., Von Junkern und Schlotbaronen. Die Argumente gegen Torp bei Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus, S. 132, 171 f., 179, 188, 221–225.

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gar die Durchsetzung des bürgerlichen Arbeitsverständnisses seit dem 18. Jahrhundert eurozentrisch ohne koloniale Bezüge analysieren könne. Einzig dessen Überlagerung mit rassistischem kolonialem Denken sei neu und habe zur „Aktion Arbeitsscheu“ 1933 und dem zynischen Leitspruch über KZ-Toren „Arbeit macht frei“ geführt. Von der Genese her ist somit logisch eher die Übertragung in Preußen erprobter Methoden auf die Kolonien zu konstatieren.404 Die Rückwirkung auf den deutschen Nationalismus wird viertens am Rassediskurs und am Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 festgemacht. Die „germanische Rasse“ wurde von ihren Theoretikern aber nicht primär durch das Gegenbild der „Negerrasse“ definiert, sondern durch Romanen und Slawen; „Ariern“ stellte man vor allem „Semiten“ gegenüber. Das Verhältnis von kaiserzeitlichem Kolonialismus und Antisemitismus bestimmte Dieter Gosewinkel überzeugend als parallele, aber nicht kausal verschränkte Entwicklung. Trotzdem soll nach Christian Davis die koloniale Rasse-Idee auf nicht näher erklärte allgemeine Weise den Rassen-Antisemitismus bestärkt haben, während zugleich einzelne jüdischstämmige Akteure wie Bernhard Dernburg und Eduard Schnitzer (Emin Pascha) öffentliche Anerkennung erfuhren. Eine spezifische Erklärungskraft des Kolonialismus in Afrika für den generellen Zynismus, den antijüdischen Radikalrassismus oder die „Eugenik“ des Nationalsozialismus ist somit bisher nicht nachgewiesen. Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit hat sicherlich das „Auslandsdeutschtum“ als Folge von Massenmigration, freilich ganz überwiegend außerhalb der Kolonien, eine Rolle gespielt. Aber schon seit 1870 konnte die preußische, bayerische etc. Staatsangehörigkeit bei deutschen Konsuln verlängert werden oder lebte durch Rückkehr in das Reich automatisch wieder auf. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hatten vor wie nach 1913 amtlich um Einbürgerung zu ersuchen. Der amtlich dekretierte Ausschluß von „Mischehen“ in Südwestafrika seit 1905, Ostafrika seit 1906 und in Samoa ab 1912 schließlich schlug auf das fixierte Eherecht im deutschen Binnenland nicht erkennbar durch.405 Soweit der wilhelminische Nationalismus bei S. Conrad „nur [als] ein Teil innerhalb einer globalen Rekonfiguration des Nationalen um 1900“ verstanden wird, geraten leicht deutsche Spezifika aus dem Blick. Mark Hewitson verortet sie explizit in der Betonung von deutscher Kultur seit dem 18. Jahrhundert und 404 Sebastian Conrad, „Eingeborenenpolitik“ in Kolonie und Metropole. „Erziehung zur Arbeit“ in Ostafrika und Ostwestfalen, in: Ders./J. Osterhammel, Das Kaiserreich transnational, S. 106–128. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1998, S. 244–256 und 115–125 (Arbeitshäuser in Preußen). 405 Dieter Gosewinkel, Rückwirkungen des kolonialen Rasserechts? Deutsche Staatsangehörigkeit zwischen Rassestaat und Rechtsstaat, in: Conrad/Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational, S. 236–256, S. 256; Christian S. Davis, Colonialism, Antisemitism, and Germans of Jewish Descent in Imperial Germany, Ann Arbor 2012, S. 246–256. Nathans, Politics of Citizenship, S. 171–178.

436  VII. Preußen und die Welt in der antisemitischen Aufladung. Europa, Frankreich und England zumal, habe den Referenzrahmen gebildet, nicht die Kolonien; die Nationswerdung sei durch binnendeutsche Bruchlinien, Ländervielfalt, Konfessionsspaltung und die neue Klassenfrage geprägt, nicht das Auslandsdeutschtum; der große Stellenwert des (verbandlich organisierten) Nationalismus für die Staatsführung sei durch das kaiserzeitliche Regierungssystem, nicht die Globalisierung, bedingt gewesen; hier sei der populistische Appell an das Volk anstelle der Interessenaggregation durch Parteien als Legitimations- und Integrationsmittel genutzt worden. Hinweise auf diverse globale Kontexte seit den 1890er Jahren könnten bei einer Analyse des Nationalismus nicht die Berücksichtigung innerer Konflikte, Traditionen und europäischer Referenzrahmen ersetzen noch werde damit deren Stellenwert für die Erklärung nationalistischer Phänomene ädaquat herauspräpariert. Eine neue detaillierte Untersuchung der Auswanderung nach Brasilien von Frederik Schulze äußert zudem Zweifel sowohl an den empirischen Nachweisen wie am behaupteten großen Stellenwert der Rückwirkungen überseeischer Migration für das deutsche Binnenland.406 Als fünftes Beispiel des Einflusses der Kolonien auf die Politik in der Metropole führt man die „Hottentottenwahlen“ 1907 an. Auf das Nein von SPD und Zentrumspartei zum Nachtragshaushalt wegen Finanzierung des Herero-Krieges folgten scharf nationalistische Parolen im Wahlkampf inklusive der ideologischen Verknüpfung von „schwarzen Bestien“ – rebellierende Afrikaner – mit der „roten Gefahr“ zu einem Feindbild sowie nach der Wahl eine neue gouvernementale Mehrheit aus Konservativen, National- und – erstmals –Linksliberalen. Die Parlamentsauflösung wegen Ablehnung eines Militäretats gab es jedoch schon 1887 bzw. 1893 und Anlaß und Gründe sind zu trennen. Reichskanzler Bülow unternahm diesen Schritt im Gefolge mehrerer Streitpunkte mit der Zentrumspartei und speziell gegen die „Zentrumsdemokraten“ um Erzberger sowie nicht zuletzt zur Festigung seiner eigenen gefährdeten Stellung bei Wilhelm II. Daß im Wahlkampf alle „nationalen“ Register gegen SPD und Katholikenpartei gezogen wurden, stand in jahrzehntelanger Kontinuität. Der Freisinn trat nicht aus Kolonialenthusiasmus in den sog. Bülow-Block ein, sondern um langjährige eigene Ziele (Wahlrecht, Vereinsgesetz) umsetzen zu können. Diese Gründe und Motive lagen also tiefer als der Anlaß, der Streit um den Kolonialetat.407 406 Conrad, Globalisierung und Nation, S. 31 (Zitat). Mark Hewitson, Nationalism, in: M. Jefferies (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, S. 123– 141, 132–138, gegen Sebastian Conrad, Globalisierungseffekte, S. 406–412. Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt, S. 32 (schmale Quellengrundlage, überdehnte Folgerungen). 407 Frank Oliver Sobich, „Schwarze Bestien, rote Gefahr“: Rassismus und Antisozialismus im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 235 ff. Die Argumente dagegen bei Loth, Katholiken im Kaiserreich, S. 113–130; Winfried Becker, Kulturkampf als Vorwand: Die Kolonialwahlen von 1907 und das Problem der Parlamentarierung des Reiches, in: Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 59–84; Reuter, Paul

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In Verbindung damit steht die Aussage namhafter Autoren, der starke Mandatsrückgang der SPD 1907 habe in der Partei den Schwenk zum bloß graduell anderen Kolonialismus anstelle dessen grundsätzlicher Verwerfung ausgelöst. Mit der Formulierung, in der Partei habe Konsens über die „grundsätzliche Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse“ bestanden, wird zudem unterstellt, das politische Programm der SPD sei weithin identisch mit der Kolonialideologie der nationalistischen Rechten gewesen. Diese Ansicht erscheint nach den detaillierten Untersuchungen von Jens-Uwe Guettel und A. G. Bonnell weit überzogen.408 Schon Bebels vielzitierte Passage seiner Reichstagsrede vom 1.12.1906, Kolonialpolitik könne auch „Kulturtat“ und „Kulturmission“ sein, ist nicht vom Kontext seiner gleichzeitigen nachdrücklichen Anklage gegen brutale Gewalt, Eroberung und Eigentumswegnahme in deutschen Kolonien zu lösen. Dabei brandmarkte Bebel das Verhalten von Trothas in Südwestafrika als auf „Vernichtung und Ausrottung der Eingeborenen“ hinauslaufend. Er billigte den Herero bereits 1905 das Widerstandsrecht gegen eine barbarische Kriegführung zu. Voraussetzung einer „Kulturtat“ bildete für Bebel, daß Europäer mit „edler Absicht und in der richtigen Weise“ als „Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not“ auf zivilisatorischen Fortschritt abzielten – ein immenser Unterschied zum realen Kolonialismus der Zeit. Drei Tage später schlug er konkrete Verbesserungen vor (Truppenreduktion, Verhandlungsfrieden, ausreichende Landzuweisung, Beseitigung von Folter und Prügelstrafen), um im Parlament eine Mehrheit für eine weniger gewaltsame Kolonialverwaltung zu gewinnen. Der in langen Opposi­ tionsjahren recht pessimistisch gewordene Bebel agierte hier wie öfter sonst im Reichstag als Reformist und peilte eine informelle Reformkoalition an. Denn bei der gegebenen politischen Konstellation stellte die Kooperation mit (Teilen von) Linksliberalismus und Zentrum den schnellsten, ja einzigen Weg zur Gewinnung von Gestaltungsmacht für die 30 %-Partei SPD dar. Ohne diese Stichwahlpartner Singer, S. 459 ff. Winzen, Reichskanzler Bernhard von Bülow, S. 419 ff. Abgewogen: Frank Becker, Die Hottentotten-Wahlen (1907), in: Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne, 176–189. Zum Linksliberalismus vgl. Alastair Thompson, Left Liberals, the State, and Popular Politics in Wilhelmine Germany, Oxford 2000, S. 158 ff. 408 Behauptung von SPD-Anpassung beispielsweise bei Conrad, Globalisierung und Nation, S.  85 und Conrad, Kolonialgeschichte, S.  28; Ulrich van der Heyden, Die „Hottentottenwahlen“ von 1907, in: J. Zimmerer/J. Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 97–102, 102; Christian Koller, Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse? Die Diskussion über eine „sozialistische Kolonialpolitik“ vor dem Ersten Weltkrieg, in: B. Barth/J. Osterhammel (Hg), Zivilisierungsmissionen, S.  229–243, 243. Diese Ansicht widerlegen Jens-Uwe Guettel, The Myth of the Pro-Colonialist SPD: German Social Democracy and Imperialism before Word War I, in: Central European History 45 (2012), S. 452–484 und Andrew G. Bonnell, Social Democrats and Germany’s war in South-West Africa, 1904–07: the view of the socialist press, in: M. P. Fitzpatrick/P. Monteath (Hg.), Savage Worlds. German encounters abroad, 1798–1914, Manchester 2018, S. 206–229, 224 f.

438  VII. Preußen und die Welt drohten im absoluten Mehrheitswahlrecht auch Mandatsverluste. Genau deshalb verlor die SPD 1907 im bisher roten Sachsen 13, in Großstädten weitere 15 Mandate (davon 7 in Preußen) sowie Stimmenanteile in Ostpreußen oder Schlesien. Genau wie bei ihrer Haltung zu Militärfragen und zum Kaiserreich insgesamt befand sich die SPD auch hier in der Spannung zwischen ihrem prinzipiellen Standpunkt und der Mitwirkung bei unvollkommenen, aber realen Verbesserungen im Jetzt. Bebels Haltung war keine Ausnahme. Die Untersuchung von SPD-Flugblättern im Wahlkampf 1907 und der SPD-Presse generell ergab nämlich die durchgängige Verurteilung von kolonialen Ungerechtigkeiten aller Art und des barbarischen Systems als Kardinalfehler. Daß daneben einzelne, gegen übermächtige Konservative chancenlose Kandidaten in Westpreußen rassistische Ressentiments bedienten, indem sie den bei deren Sieg drohenden Import von Kulis und die „Chinesenpest“ schmähten, stellt eine sekundäre Wahrheit dar. Die SPD-Delegierten trugen die Resolution des Stuttgarter Sozialistenkongresses gegen Kolonien und für Völkerfreiheit mit, und die SPD-Abgeordneten stimmten im Reichstag gegen Infrastrukturmaßnahmen, die Indigene beeinträchtigten, zuletzt 1914 gegen eine Eisenbahnstrecke in Ostafrika. 1912 bezeichnete selbst Gustav Noske vom rechten Parteiflügel im Reichsparlament die „Vernichtungsstrategie“ von 1904 mit 60.000 Herero-Opfern klar als unmenschlich. Sein Parteifreund Alfred Henke hielt Rassenunterschiede für wissenschaftlich nicht erwiesen, vor allem gebe „höhere Kultur“ Weißen kein Recht dazu, Schwarze schlimmer als Tiere zu behandeln. Folgeredner Erzberger resümierte Henkes Position mit dem Satz: „Er will keine Kolonialpolitik, er will keine Kolonien und deshalb wohl auch kein Kolonialamt“. Für Georg Ledebour vom linken SPD-Flügel verkörperte der Kolonialismus der „weißen Herrenrasse“ das dem Kapitalismus inhärente Ausbeutungs- und Unterdrückungsbedürfnis. Er wie die SPD-Fraktion lehnten im Reichstag 1912 das in Samoa verfügte Mischehenverbot ab, denn der „unvermeidliche Rassenmischungsprozeß“ sei eine Art Naturgesetz wie die Osmose. In ähnlicher Weise bezeichnete Wilhelm Dittmann im März 1914 trotz gewisser Verbesserungen in der Kolonialverwaltung seit 1907 das Kolonialsystem als kapitalistische Ausbeutungsherrschaft, als „Stück aus dem Tollhaus“ mit Sklavenjagden auf Flüchtige und Rechtlosigkeit der Eingeborenen. Kolonien seien ein Zuschußgeschäft und Plantagenarbeit bedeute mittelfristig Tötung der Indigenen. Für Folgeredner Erzberger wies Dittmann damit „die Kolonialpolitik im allgemeinen, grundsätzlich und prinzipiell“ zurück, während Erzbergers eigene Zentrumspartei Kolonialpolitik nicht rundum ablehne, im Interesse des Christentums, der Missionierung, der deutschen Kultur und Wirtschaft. Die zitierten Redner vertraten die große Mehrheit der SPD. Es stimmt folglich nicht, wenn 2014 erneut geschrieben wurde, die Partei habe von Trotha nicht als grausam-unmenschlich, sondern bloß als erfolglos kritisiert, und wenn gar formuliert wird, die SPD habe im „permanenten Wettbewerb“ mit den Konserva-

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tiven gestanden, „wer der wirkliche Patriot sei“. Dies verkennt, daß die SPD zwar patriotisch im Sinne der Interessenvertretung ihrer Wähler, aber nicht „national“ im Sinne des zeitgenössischen Nationalismus agierte, und Sozialdemokraten selbstverständlich überzeugt waren, die besseren Vertreter des Gemeinwohls zu sein. Ihre konkreten Vorschläge standen im stetigen Spagat zwischen programmatischen Fernzielen, pragmatischer Reformpolitik und den auch partikularen Interessen ihrer Wählerbasis. Der moralische Rigorismus geht ferner zu weit, wenn aus dem Konsum von „Kolonialwaren“ durch Arbeiter oder deren Interesse am Export von deutschen Industriewaren in alle Welt die Befürwortung imperialistischer Kolonialherrschaft an sich gefolgert wird. Dies verkürzt die skizzierten Kontexte und negiert eine damals wie heute grundsätzlich mögliche faire Gestaltung des globalen Austausches.409 Daß sechstens der Kolonialismus manche Wissenschaften beeinflußte, ist unbestritten; genannt seien Völkerkunde/Ethnologie, Biologie, Erdkunde/Geologie und Medizin. Gerade Berliner Institute und Museen waren beteiligt. Am 1908 etablierten Hamburger Kolonialinstitut – intentional freilich vor allem Grundstock für die ersehnte, 1919 realisierte Universität und funktional Bildungsanstalt für kaum 20 Kolonialbeamte jährlich – lehrten fünf Professoren kolonialwissenschaftlich akzentuiert Ökonomie, Tropenmedizin, Afrikanistik, Völkerkunde und Geographie. Aber erst mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik entstand 1927 ein institutionelles Bindeglied zur NS-Rasse- und Erbgesundheitslehre. Zuvor reüssierten die „Kolonialwissenschaften“an Preußens Universitäten nicht so recht. Es bedurfte einer Intervention Wilhelms II., damit der Ethnologe und Direktor des Völkerkundemuseums, Adolf Bastian, 1900 eine Honorarpro409  Stenographisches Reichstagsprotokoll 30.1.1905, S.  4103 (Widerstandsrecht), 1.12.1906, Sp. 4057, 4059, 4063 ff., 4.12.1906, Sp. 4135 ff. (Bebel); 2.5.1912, S. 1639 (Noske); 29.4.1912, S. 1522–1524 (Henke); S. 1525 (Erzberger); 7.5.1912, S. 1736 (Ledebour); 7.3.1914, Sp. 7900–7903 (Dittmann), Sp. 7907 (Erzberger). Holger CzitrichStahl, Sozialdemokratie und Parlamentarismus 1903–1912: Im Spannungsfeld von Opposition und Kooperation, Tradition und Transformation, in: Lehnert (Hg.), SPD und Parlamentarismus, S. 97–121. Werner Jung, August Bebel. Deutscher Patriot und internationaler Sozialist, Pfaffenweiler 1988, S. 141 f. Sobich, „Schwarze Bestien, rote Gefahr“, S. 301 ff., belegt breit die antikolonialistische SPD-Haltung im Wahlkampf 1907, mißt aber der Position der Minderheit um Bernstein, Calwer, Schippel zu hohen Stellenwert bei. Die westpreußischen Ausnahmen nach Sobich in: Heyden/Zeller (Hg.), Kolonialismus hierzulande, S. 191. Jörn Wegner, Die Kriegs- und Kolonialfrage in der britischen und deutschen Arbeiterbewegung im Vergleich 1899–1914, Berlin 2014, S. 27, 142, 349. Zu SPD-Verlusten vgl. Wolfgang Wölk, Sozialstruktur, Parteienkorrelation und Wahlentscheidung im Kaiserreich am Beispiel der Reichstagswahl 1907, in: O. Büsch u. a. (Hg.), Wählerbewegung in der deutschen Geschichte, Berlin 1978, S. 505–548, S. 540 f. und Carl-Wilhelm Reibel, Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse – Ergebnisse – Kandidaten, Düsseldorf 2007, S.  3–113 (Ost-/Westpreußen), 336 ff. (Schlesien).

440  VII. Preußen und die Welt fessur (kein Ordinariat!) und sein Assistent Felix v. Luschan ein unbezahltes Extraordinariat in der Berliner Philosophischen Fakultät erreichten. Dahinter standen sicherlich Vorbehalte der Geisteswissenschaftler gegen Bastians Abwertung von humanistischer, textorientierter Bildung zugunsten naturwissenschaftlicher Sammlung von Gegenständen sowie generelle Skepsis gegen neukreierte Wissenschaften. In der Medizinischen Fakultät dagegen erhielt Karl v. Steinen eine bezahlte außerordentliche Professur für Ethnologie. Der kultusministerielle Antrag von 1905 auf je ein Extraordinariat für Kolonialwirtschaft bzw. Kolonialrecht an der Friedrich-Wilhelms Universität fand bei der Philosophischen Fakultät wie schon 1899 wenig Interesse, da die (allenfalls partiell kolonialistisch ausgerichtete) Lehre der Staatswissenschaftler Max Sering, Ernst von Halle, Otto Hintze und anderen ausreiche. Es gebe auch kaum erwägenswerte Kandidaten für eine Professur und der eventuell geeignete Paul Rohrbach müsse erst habilitieren. Das Finanzministerium lehnte beide Stellen ab, aber gestand nach erneuertem Antrag 1907 eine außerordentliche Professur für Kolonialrecht zu. Dessen im Abgeordnetenhaus beantragte Umwandlung in ein Ordinariat lehnte das Kultusministerium 1910 ab; das koloniale Teilgebiet rechtfertige dies nicht. 1909 erhielt v. Luschan jedoch das in der Medizinischen Fakultät neugeschaffene Ordinariat für physische Anthropologie. Der Münsteraner Jurist Hubert Naendrup erklärte 1921 auf die ministerielle Nachfrage, ob er noch Kolonialrecht lehre, daß dies wegen Wegfalls der Kolonien aussichtslos geworden sei. An der Kölner Universität gab es zwar ab 1922 jedes Semester weltwirtschaftliche, völkerrechtliche, geographische und völkerkundliche Lehrveranstaltungen, aber dominant im Lehrbetrieb waren sie nicht. Das universitäre Interesse für separate akademische Kolonialwissenschaften blieb begrenzt, zumal im Vergleich mit dem größeren Stellenzuwachs anderer Fächer. Das Kolonialargument konnte disziplinäre Bruchlinien offenkundig nicht ausräumen. Wenig überzeugend gerät die Sichtweise, wonach die Ausstrahlung von Preußens Bildungswesen, Universitätsmodell und Wissenschaftlern auf andere Länder Europas und die USA seit den 1830 Jahren, Japan oder das Osmanische Reich seit den 1880er Jahren als Ausfluß „kolonialer Hierarchien“ und „innerhalb der Logik hegemonialer Diskurse“ liegend zu verstehen seien. Bildungstransfer wie ökonomische Gefälle waren lange vorher existent und sind jenseits kolonialer Weltordnung weiterhin geläufig. Wenn unter den Begriff kolonialistische Überwältigung umstandslos alle Formen asymmetrischer Beziehungen zwischen Entitäten unterschiedlichen Entwicklungstandes subsumiert werden, verliert der Terminus Sebastian Conrad zufolge seine Spezifik und kommt Allgemeinbegriffen wie Macht oder Herrschaft gleich.410 410 Jens Ruppenthal, Kolonialismus als „Wissenschaft und Technik“. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908–1919, Stuttgart 2007, S.  255–258. GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 2 Tit 4 Nr. 61 Bde. 10, 14, 15 (Berliner Professuren); Anne-Kathrin Horstmann, Wissensproduktion und koloniale Herrschaftslegitimierung an den Kölner

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Zuweilen scheint auch Übertreibung auf, etwa wenn ausgeführt wird, die Therapie Robert Kochs mit dem arsenhaltigen Mittel Atoxyl gegen die 20.000 Tote fordernde Schlafkrankheit in Ostafrika 1906 sei bei 1000 Kranken mit „hoher Mortalitätsrate“ einhergegangen, was billigende Tötung unterstellt. Realiter versuchte Koch zunächst, die Parasiten-Brutstätten auszumerzen, Kranke zu isolieren und wandte die experimentelle medikamentöse Therapie erst nach einem Andrang ansonsten totgeweihter Schlafkranker an, ähnlich wie mit Chinin Malariafieber bekämpft wurden. Als hohe Dosen unerwartet Erblindungen nach sich zogen, reduzierte Koch die Dosis. Anderthalb Jahrzehnte zuvor ging Kochs Forscherehrgeiz so weit, daß er sein Mittel Tuberkulin an seiner erst 17jährigen Geliebten und nachmaligen zweiten Ehefrau ausprobierte. Billigende Tötung geht somit zu weit, aber man kann wohl sagen, daß europäische Mediziner gegen Tropenkrankheiten von Afrikanern sorgloser vorgingen, als sie es aus Sorge vor schweren Nebenwirkungen in Europa getan hätten. Erst ab 1916 stand mit Bayer 205 ein wirksames, ungiftiges Präparat gegen die Schlafkrankheit zur Verfügung.411 Im Militärbereich – siebtes Beispiel kolonialer Rückwirkungen – konnte Christoph Kamissek kürzlich allerdings sog. imperiale Biographien nachweisen. Zwar waren kaum 2 % deutscher Offiziere 1913 (400 von 22.000) auch zeitweise in Kolonien tätig, aber an einigen prominenten Namen läßt sich das Hin- und Her-Wechseln zwischen Preußens Nationalitätengebieten und überseeischen Territorien belegen. Der Magdeburger Lothar von Trotha etwa war an der östlichen Peripherie in Posen stationiert, stand 1870 französischen Kolonialtruppen gegenüber, schlug 1894–97 die Opposition in Ostafrika blutig nieder, amtierte 1900/1901 als Brigadegeneral in China und 1904 als Kommandeur in Südwest­ afrika – eine imperiale Biographie der Aufstandsbekämpfung, Kleinkriege und Besatzungsregime. Auch General Eduard v. Liebert, Vorgesetzter Trothas in Posen, und gut bekannt mit weiteren führenden Offizieren wie Karl Litzmann oder Colmar von der Goltz, war 1896–1900 Gouverneur in Ostafrika. Er stand ab 1904 dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie vor, publizierte zur Militärstrategie und amtierte 1914 als Kommandant in Lodz sowie bis 1917 an der Westfront. Berthold v. Deimling war 1904–07 Kommandeur der Schutztruppe in Südwestafrika und ab 1913 Armeekorpschef in Straßburg – während der berüchtigten Hochschulen, Frankfurt/M. u. a. 2015, S.  319–325, 334–337. Conrad, Deutscher Kolonialismus, S. 114 f. (Universität, Wissenschaft), S. 15 (Warnung vor unscharfer Defini­tion von Kolonialismus). 411 Zurückhaltender als Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S.  82 (Versuche „mit hoher Mortalitätsrate“) formuliert bereits Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945, Paderborn 1997, S. 206 f., 342 f. Genaue Analyse bei: Hiroyuki Isobe, Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen „Schutzgebieten“ vor dem Ersten Weltkrieg, Münster 2009, S. 53–57.

442  VII. Preußen und die Welt Militärübergriffe in Zabern. Diese und weitere Fälle bleiben Ausnahmen, aber sie zeigen, daß die koloniale Sphäre partiell mit Preußen verflochten war.412 Abschließend erscheinen drei Folgerungen sachadäquat. Nach den vorliegenden Arbeiten zu urteilen, stellt transnationale wie postkoloniale Geschichte eine wichtige Ergänzung, aber nicht die Ersetzung bisheriger nationaler Geschichtsbilder dar. Als Perspektive(n) gut geeignet, nationale Engführungen aufzuheben, liegt als Synthese-Modell für eine umfassende Gesellschaftsgeschichte der Moderne bis jetzt wenig mehr als Jürgen Osterhammels Opus Magnum „Die Verwandlung der Welt“ (2009) vor. Zweifellos bringen transnationale und postkoloniale Ansätze jedoch neue Erkenntnisse über bisher unterbelichtete Bereiche oder Themen und versehen legitime aktuelle Erkenntnisinteressen mit historischer Tiefenschärfe. Zwei grundsätzliche Einwände bleiben. Erstens sind neue Perspektiven stets in Beziehung zu setzen zu anderen säkularen Bewegungen der Zeit, zu Staatsbildung und Industrialisierung, zu Klassenformation und sozialer Ungleichheit, zu Bildungsrevolution und Interventionsstaat, zu Demokratisierung oder Emanzipationsbewegungen in Europa und es muß jeweils bestimmt werden, wie groß die Betroffenheit der Millionen Zeitgenossen von außereuropäischen Geschehnissen genau war. Zweitens müssen sich neue Ansätze die Frage nach ihrem Anspruch, ihrer Methodik und ihrer Begrifflichkeit gefallen lassen. Vielfach wird von Kontexten und Kontinuität(en), von Rahmensetzung und Prozessen, von Parallele(n) und Analogie(n), von Rezeption(en) und Adaption(en) geschrieben. Wie verhalten sich diese Begriffe zum geschichtswissenschaftlichen Zentralbegriff der Kausalität(en), der Ursachen, der Bedingungsfaktoren? Heißt Kontinuität gleiche Rahmensetzung, gleiches Konzept oder gleiche Kausalität? Geht es um Interdependenzen, Ähnlichkeiten und Unterschiede oder lineare Ableitung? Lockere Formulierungen, wie die, man müsse sich „nicht der Suche nach direkten, kausalen Verbindungen anschließen“, denn die Zusammenhänge seien „komplexer“ und „der Kontext“ wichtiger, sind erkenntnistheoretrisch problematisch, mißverständlich und können der Akzeptanz des Ansatzes schaden. Historiker sollten unzweideutig definieren und formulieren; ausdeutbare Ambivalenz paßt nicht in wissenschaftliche Texte.413 412 Christoph Kamissek, „Ich kenne genug Stämme in Afrika“. Lothar von Trotha – eine imperiale Biographie im Offizierskorps des deutschen Kaiserreiches, in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 67–93. 413 Dies schon der Tenor bei: Hans-Ulrich Wehler, Transnationale Geschichte – der neue Königsweg historischer Forschung?, in: G. Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 161–174; Dieter Langewiesche, Artikel Weiter Blick, kurzer Klick = Rezension von S. Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.1.2007; Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871–1918, S. 117 f. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 102 f., 105 (lockere Formulierungen). Conrad, Globalgeschichte, S. 97–111, nimmt solche Monita inzwischen sehr ernst.

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Ungeachtet dieser grundsätzlichen Fragen sollten in der preußisch-deutschen Geschichte die transnationalen, postkolonialen und globalhistorischen Arbeiten rezipiert und als Anregung zur Erforschung neuer Themenfelder produktiv aufgegriffen werden. Die Historiker des Nationalstaats können von den übernationalen Sichtweisen profitieren und umgekehrt postkoloniale Ansätze und Globalhistoriker zuweilen von kritischen Nachfragen zu Abläufen, Ursachen und zum gewichteten Stellenwert. Gerade die methodisch weithin konventionelle und binnenorientierte Preußen-Historie würde, ja sollte durch Bearbeitung transnationaler Fragen attraktiver für Forscher werden. Die Rolle bzw. Wirkung Preußens in Europa und der Welt auf breiten Feldern zu untersuchen, ist ein lohnendes Unterfangen mit Erkenntnispotential.

Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens

Im Blick auf die Geschichte Preußens läßt sich die Durchsetzung von Staatlichkeit nach Phasen gliedern. Unter der Führung von einigen aktiven Monarchen mit Geltungsdrang wurden im 18. Jahrhundert die regionalen Stände entmachtet und parallel bis ins frühe 19. Jahrhundert die anfangs getrennten Länderkomplexe zum Gesamtstaat Preußen zusammengeführt. Agenten der inneren Staatsbildung waren eine allmählich ausgebaute, vergleichsweise effiziente Beamtenschaft und ein zahlreiches, ab Mitte des 18.  Jahrhunderts junkeradelig dominiertes Militär das Mittel für territoriale Expansion. Sie definierten, was als Staatsinteresse galt. Die etablierten Institutionen Monarchie, Bürokratie und Militär beanspruchten umfassende Leitung auch als im 19. Jahrhundert breite Gruppen Partizipation einforderten und neue Sozialformationen infolge der Industrialisierung den Massenanhang von Parteien bildeten. Die mobilisierte Gesellschaft integrativ zu steuern und zur Nation zu formen, gelang den alten Eliten in dieser dritten Phase nicht mehr. Staat und Gesellschaft gerieten in bis 1918, mittelbar bis 1932 ungelöste Gegensätze. Die staatlichen Maximen, die im 17. und 18. Jahrhundert beim Aufstieg Preußens vorgewaltet hatten, bildeten unter den grundlegend gewandelten Bedingungen des späteren 19. und 20. Jahrhunderts eine Belastung, trugen maßgeblich zu jenen Rückständigkeiten bei, die Deutschlands politische Entwicklung beeinträchtigten. Nicht nur die Herrscher Preußens seit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm und noch Wilhelm II. waren im Anstoßen wie im Verhindern bedeutsam. Das gilt mindestens genau so für die Staatsmänner Hardenberg, Bismarck oder Otto Braun, mit denen staatliche Formierungs- und Reformperioden über ein Jahrhundert personell verbunden sind. Monarchie und bürokratische bzw. militärische, gutenteils adelige Eliten sowie autoritäre Traditionen wirkten bis 1918 wie ein Pfropfen auf dem politischen System. Mit dem Wegfall dieser Barrieren konnten sich Preußen und Reich zu demokratischen, zivilen Republiken wandeln. Mentale Überhänge des Kaiserreichs blieben freilich in der Krise ab 1930 reaktivierbare Belastungen.414 Die Anwendung der Leitkategorie Staat in diesem Band hat sich bewährt: Die Staatsbildung im 17./18. Jahrhundert, die Staatsreform ab 1807, der Kampf um Liberalisierung und der Aufstieg des Interventionsstaats, Preußens Staatsorgane 414 Puhle, Preußen: Entwicklung und Fehlentwicklung, S.  14 (Maximen und Rückständigkeit). Klaus v. Beyme, Preußen als Kulturnation, in: Chr. Jansen u. a. (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit (Festschrift H. Mommsen), Berlin 1995, S. 189–202, S.  191  f., 201 (Preußen keine Kulturnation); Koselleck, Lernen aus der Geschichte Preußens, S. 162 (Preußen als Staat ohne Staatsvolk).

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als konservativer Treibanker im Kaiserreich, die Demokratisierung des Freistaats ab 1918, die Beseitigung von Preußens Staatlichkeit als Vorbedingung von 1933, dies alles belegt die zentrale Bedeutung der gewählten Leitkategorie. Ferner ist an die Rahmensetzung des Staates für die Wirtschaft vom Merkantilismus über die sozialökonomische Liberalisierung bis hin zur protektionistischen Zollpolitik, den staatlichen Paternalismus als Grundlage für die frühe Sozialpolitik, die Staatsorientierung im Protestantismus und die Rolle des Staates im Bildungsbereich, bei der Wissenschaftsorganisation und beim formellen Kolonialismus zu erinnern. Preußen war ein Staat ohne Nation (Ernst Hinrichs) und nie eine homogene Einheit oder gar Kulturnation, sondern territorialer Rahmen für unterschiedliche regionale, auch kulturelle Traditionen. Da es allenfalls eine rudimentäre, auf altpreußische Gebiete beschränkte, die neuen Provinzen von 1815/1866 nicht einschließende Nationswerdung gab, schon bis 1914 teils rezessiv, ferner die Staatsgewalt in den Konflikten um Partizipation bzw. Demokratisierung jahrhundertelang eine entscheidende Rolle spielte und schließlich Staaten ungeachtet evidenter inter- oder transnationaler Dimensionen weiterhin wichtige historische Analyseeinheiten bilden, ist keine überlegene diachrone Leitachse zur Geschichte Preußens zu erkennen. Aus der Leitachse Staat folgt nicht die anachronistische Behauptung allumfassender Durchstaatlichung schon bis zum frühen 19. Jahrhundert, denn Begrenzungen in Apparaten, Logistik und Denkhorizonten standen dem entgegen. Staat, das bedeutete nach Wolfgang Reinhard anfänglich den kleinen Verwaltungsapparat einer Dynastie, die ihre Konkurrenten Kirche, Städte, Adel allmählich zur Kooperation bewog oder zur Subordination zwang. Dies läßt sich im 17. und 18. Jahrhundert in Preußen verfolgen. In vergleichender, ja universalgeschichtlicher Perspektive stellte der Aufstieg des Kriegs, Verwaltungs-, Militär-, Versorgungs- und Interventionsstaates ein konstitutives Merkmal der Moderne dar, auf das Christof Dipper zufolge analytisch nicht zu verzichten ist. Wolfgang Reinhard bezeichnete den modernen Staat kürzlich sogar als „wichtigste(n) Exportartikel Europas“. Nicht zuletzt ihrer effektiven staatlichen Organisation verdankten die Länder Europas maßgeblich ihre machtpolitische Dominanz in der Welt bis 1914. Die Bürgergesellschaft war keineswegs nur untertäniges Objekt, sondern aktives Subjekt, zumal in Städten, im Bildungs- und Kulturbereich, in der Ökonomie, in der modernen Kunst. Zugleich bildete das staatsnahe, teils beamtete Bildungsund Kleinbürgertum einen Anker in der Gesellschaft. Aufklärer, frühliberale Reformer und 1848er Demokraten, Arbeiterbewegung und politischer Katholizismus arbeiteten sich am Staat Preußen ab; ohne die bürgerliche Nationalbewegung wäre die Reichsgründung unter Bismarck vermutlich anders ausgefallen. Aber daß die – in sich vielfältige – Gesellschaft Preußens sich ihren Staat ge-

446  Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens schaffen, ihn geformt und regiert hat, dies läßt sich nicht behaupten. Folgerichtig besaßen Beamte und Militärs das höchste soziale Prestige. Der Hanseat Thomas Mann hat im Ersten Weltkrieg rückblickend seine kindliche Staatsvorstellung auf die berühmte Metapher „General Dr. von Staat“ gebracht und damit den Anteil der Bürgergesellschaft gewichtet. Wenn es eine Grundidee Preußens gab, dann hieß sie bis 1918 monarchischer Staat, nicht Volk, Freiheit oder materielle Glückseligkeit. Durch Bekenntnis zum Staat wurden Nichtpreußen zu Preußen. Staatshandeln prägte selbst die systemoppositionelle Arbeiterbewegung hinsichtlich ihrer bürokratisch modellierten Organisationsfixierung und der langjährigen Diskrepanz revolutionäre Fernziele – reformistische Praxis. Preußens Bauprinzip war bis 1918 die Wahrung staatlicher Autorität, was sich analytisch in vielen Sachbereichen und anschaulich mit (teils oben zitierten) Aussagen von Zeitgenossen belegen läßt.415 Liegt diesem Fazit eine zu stark institutionell ausgerichtete Vorstellung des Staates in Preußen zugrunde? In der Historiographie besteht manchmal terminologische Unklarkeit, was als Staat und was als Zivilgesellschaft oder Bürgerschaft zu definieren ist. Gerade neuere revisionistische Studien, die Preußen (partiell) rehabilitieren wollen und die Rolle der Zivilgesellschaft in Opposition zum alten Topos der Untertanen-Gesellschaft aufzuwerten suchen, bedienen sich zuweilen normativ verkürzter Begriffe. Sicherlich kann man Staat basal als Konglomerat von formellen Institutionen eines abgegrenzten Territoriums, die öffentliche Gelder eintreiben bzw. ausgeben und zur Ausübung von Zwang, ja Gewalt legitimiert sind, definieren. Aber in der Konsequenz dieser Definition liegt es, daß der Staat spätestens im 19. Jahrhundert mehr umfaßt als nur die obersten Zentralbehörden in Form von Ministern und Ministerien. Wären allein sie der Staat, dann hätten sich vom 17. zum 20. Jahrhundert kaum Veränderungen vollzogen. Deshalb sind expandierende Verwaltungen oder mitwirkende, gemischte Gremien unterschiedlicher Art zum Staat zu zählen und die Beschäftigten von obersten Beamten bis zu lokalen Subalternen. Zugegebenermaßen geht das staatliche Personal nicht in der Rolle als Exekutor von Anordnungen Vorgesetzter auf, so wie jeder Mensch diverse Rollen einnimmt; aber gerade in der allgemeinen, hoheitlichen Administration nahm die befehlsgemäße Vollzugsverwaltung zum 415 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S.  878–880 (Grenzen der Durchstaatlichung). Christof Dipper, Moderne, http://docupedia.de/zg/Moderne, S. 12. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 22–29 (Staatsbildung), S. 46 und 57 (Dynastie), 443 (Staatsgewalt vor Nation). Wolfgang Reinhard, Staatsmacht und Staatskredit. Kulturelle Tradition und politische Moderne, Heidelberg 2017, S. 5 (Staat als Exportartikel). Jürgen Kocka, Bürgertum und Sonderweg, in: P. Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000, S. 93–110, 105–107 (Beamte und Staatslastigkeit). Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd.  13,1, hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 2013, Separatdruck Frankfurt/M. 2015, S. 270 (Zit.).

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Ende des 19.  Jahrhundes nicht etwa ab. In praktische Forschungsheuristik gewendet: Es geht nicht an, regional bzw. lokal nachgeordnete Behörden Preußens wie Ober- und Regierungspräsidien oder Landräte als Basis zu bezeichnen, mittelbare oder gemischte Behörden (Provinzialbehörden, Bezirksausschüsse) und Auftragsverwaltung (städtische Polizei) nicht einzubeziehen, Schul-, Bau- oder Kirchenämter nicht als Staatsbehörden zu betrachten, außeramtlich aktive Beamte gänzlich der Bürgergesellschaft zuzurechnen oder den zumal im öffentlichen Recht unvollständigen Rechtsstaat als durchwegs effektive Bremse gegen obrigkeitliches Handeln einzustufen. Nur mit solchen verzogenen Definitionen läßt sich die Existenz von vielerlei amorphen Entscheidungszentren behaupten und damit Hierarchie, Anordnung von oben und staatliche Durchdringung vieler Lebensbereiche minimieren. Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Bürokratieebenen indizieren noch keine frei diskutierende Bürgergesellschaft. Seit der Kritik von David Blackbourn und Geoff Eley an Sonderweg und Bürgerlichkeitsdefizit ist dieser mit Wegdefinition arbeitende Ansatz nicht selten und beispielhaft in einem Aufsatz von M. P. Fitzpatrick nachlesbar. Dabei wird der bekannte Satz des Rheinpreußen Karl Marx vernachlässigt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“416 Autoritäre, obrigkeitliche Staaten im europäischen Sinne haben durchaus ihre Vorteile gegenüber liberal-freiheitlichen: Beim Einschreiten gegen Gewalt und der Linderung von Notständen, bei der Durchsetzung von Regeln und zentralen Vorgaben. Geldmacht und (monetäre, nicht systemische) Korruption unter 416 Brewer/Hellmuth (Hg.), Rethinking Leviathan, S. 20 (Staatsdefinition). Bernd Wunder, Verwaltung als Grottenolm? Ein Zwischenruf zur kulturhistorischen Verwaltungsgeschichtsschreibung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 19 (2007), S. 333–344 (Hierarchie kennzeichnet Verwaltungen, nicht Kommunikation); Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd.  1, Opladen 1993, S. 453 f. (Vollzugsverwaltung). David Blackbourn/Geoff Eley, The Peculiarities of German History, Oxford/New York 1984, S. 134 ff., 238 ff. Matthew P. Fitzpatrick, A State of Exception? Mass Expulsions and the German Constitutional State, 1871– 1914, in: The Journal of Modern History 85 (2013), S. 772–800. Diverse Fehleinschätzungen – das Sozialistengesetz sei public consensus, nicht Bismarcks Werk gewesen; bei den Polen-Ausweisungen 1885 könne man antisemitische Untertöne nicht nachweisen; Landräte würden die gesellschaftliche Basis repräsentieren; Ausweisungen seien aufgrund prozedural legitimierter Gesetze ergangen – hat Fitzpatrick in der Buchfassung etwas abgemildert: Purging the Empire. Mass Expulsions in Germany (1871–1914), Oxford 2015. Vgl. die Rezension von Christhard Hoffmann in: Neue Politische Literatur 61 (2016), S. 305–307, online bei: www.recensio.net/rezensionen/ zeitschriften/npl. Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115.

448  Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens Amtsträgern waren dort tendenziell geringer, die Infrastruktur teils besser funktionierend. Das durchgesetzte staatliche Gewaltmonopol und rechtliches Ordnungsdenken in Preußen verhinderten, daß es blutige Juden-Pogrome wie in Rußland oder Lynchjustiz wie in den USA mit fast 5000 Ermordeten 1882–1946 gab. Dieser positiven Seite stehen aber gleichzeitig Nachteile gegenüber: Staatsgläubigkeit und Rechtfertigung menschlicher Opfer durch ein obrigkeitlich definiertes Gemeinwohl, Neigung zum Polizeistaat und unvollständiger Rechtsstaat. Die Sicherheit geht in autoritären Staaten zulasten der bürgerlichen Freiheit, die wirtschaftliche Innovationsfähigkeit wird mindestens sektoral gehemmt, partizipative politische Kultur wird nicht allmählich erlernt. Gerade die Fixierung auf den starken Staat erleichterte sowohl die Machtübertragung 1933 wie die Durchsetzung des NS-Regimes danach. In Preußen-Deutschland war man rechtstreu, aber auch skrupellos mörderisch, sofern formaljuristisch abgesichert. Auf extreme Weise zeigte sich hier, aber weniger gewalttätig auch andernorts, daß Staaten bzw. Regime materielles Unrecht tun können, formaliter gesetzlich-legal, aber massiv und menschenrechtswidrig. Gegen Staatsunrecht Recht zu erhalten, ist schwierig, und Opfer (gesundheitlich Geschädigte, Inhaftierte, Enteignete) erlangen selten adäquate Entschädigung. Selbst die Beseitigung starker Staaten durch Kriegsniederlagen oder Revolutionen zieht regelmäßig quasi posthum vielfältige Probleme nach sich: Wirtschaftliche Desintegration und soziale Unruhe, Verlusterfahrungen für bisher staatsnahe Eliten oder breite Schichten und politische Reaktionskräfte sowie eine polarisierte Erinnerungskultur zwischen Vergangenheitsverklärung und Bejahung neuer Strukturen. Preußen nach 1918 oder die sowjetkommunistischen Staaten nach 1989 bieten hierfür Beispiele. Wer heute den starken Staat kritisch sieht, steht im Ruch des moralfreien Neo-Liberalismus, ja der Ignoranz und selbstsüchtigen Ideologie, die soziale Ungleichheit oder gravierende Krisen des Kapitalismus einfach leugnet. Es sollte deutlich geworden sein, daß der Autor in diesem Band keineswegs einen derartigen Standpunkt einnimmt und nicht der Abschaffung staatlicher Regulierung schlechthin das Wort redet. Umgekehrt ist der kontrollsüchtige Obrigkeitsstaat bestimmt kein erstrebenswertes Modell, und staatliche Ordnung muß stets auch humane Freiheitsräume für alle gewährleisten.417 Zudem waren die Konstellationen in den zwei Jahrhunderten bis 1918 häufig so verschieden von heutigen Problemlagen, daß sich schnelle Analogieschlüsse wissenschaftlich verbieten. Erst mit der wirtschaftlichen Liberalisierung ab 1807 und 1867 schaffte es der Staat Preußen, ökonomisch die Moderne aufzutun und Anschluß an die Konkurrenz zu halten, ja diese zu überholen. Aber er laborierte ein ganzes Jahrhundert lang 417 Manfred Berg, Lynchjustiz in den USA, Hamburg 2014, S. 11 (4716 Tote); dazu Rudolf Walther, Artikel „Im Namen des Volkszorns“, in: Süddeutsche Zeitung 16.9.2014. Downing, The Military Revolution, S. 251 f. (posthume Folgen). Extrem antistaatlich: Fabian Wendt, Politische Autorität. Eine Einführung, Münster 2018.

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am Problem politischer Teilhabe der Bürger. In dieser Kombination von autoritärem Staat und wirtschaftlicher Modernisierung bildete Preußen für die Eliten diverser Länder weltweit sogar ein (partielles) Vorbild – bis zum heutigen China. Der Fortgang des dortigen Experiments bleibt abzuwarten. Preußen ist mit seinem besonderen Weg auf die Dauer gesamtgesellschaftlich und hinsichtlich der langfristigen humanen Kosten nicht gut gefahren.

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Personenregister

Abbt, Thomas 24 Abegg, Bruno Erhard 270 Abel, Karl v. 29 Abelshauser, Werner 81 Abusch, Alexander 388 Achenbach, Andreas 264 Adams, Henry 326 Adenauer, Konrad 103 f., 106, 244, 248 f., 332, 400 f. Ahlwardt, Hermann 163 Albers, Hans 430 Albrecht, Prinz v. Preußen 429 Alexis, Willibald 278 Alfieri, Vittorio 141 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 172 f., 266, 323, 325, 328, 339, 351 Althaus, Paul 361, 364 Althoff, Friedrich 323, 330 f., 339, 383, 385 Altmeier, Peter 400 Alvensleben, Albrecht (Graf) v. 200 Alvensleben, Gustav v. 174 Amelunxen, Rudolf 400 Amo, Anton Wilhelm 428 Ancillon, Friedrich v. 194, 196, 199 Anderson, Eugene N. 393 Anderson, Margaret 220 f., 355 Anna, Kurfürstin von Brandenburg 19 Anneke, Mathilde Franziska 414 Arendt, Hannah 169 Arndt, Ernst Moritz 303, 305 Arnhold, Eduard 287 Arnim, Achim v. 277 Arnim-Boitzenburg, Adolf Heinrich Graf v. 200 Arnim-Suckow, Heinrich Alexander v. 28 Arons, Leo 330 Ascher, Saul 262 Auerswald, Rudolf v. 211 Aufseß, Hans v. 303 Augspurg, Anita 123 Augusta, preuß. Königin und Kaiserin 212, 233

Augustenburg, Friedrich Herzog v. 100 f. Augustine, Dolores 121 B Bach, Carl Philipp Emanuel 271 Bachem, Julius 99 Bach, Johann Sebastian 272 Bächtold, Hermann 338 Baczko, Ludwig v. 171 Badt, Hermann 243 Baeck, Leo 169 Bahrdt, Carl Friedrich 262 Ball, Richard 315 Baluschek, Hans 288 Bamberger, Ludwig 163, 216 Barclay, David E. 394 Barlach, Ernst 296 Bartels, Adolf 310 Barth, Paul 364 Bassermann, Ernst 230 Bastian, Adolf 439 f. Bauer, Gustav 132, 136 Bäumer, Gertrud 240 Baumgart, Peter 159, 394 Bayer, Friedrich 61 Bebel, August 128, 132–135, 230, 437 f. Becker, Carl Heinrich 235, 293, 321, 323, 339–341, 363 f., 377 Becker, Frank 147 Becker, Hermann 208, 223 Beckert, Sven 433 Beckmann, Max 288 f., 295 Beethoven, Ludwig van 272, 305 Begas, Reinhold 265, 306, 308 Beguelin, Amalie v. 267 Behm, Margarethe 240 Behrens, Peter 299, 301, 334 Behring, Emil v. 330, 334 Bellini, Vincenzo 272 Bellotto, Bernardo, gen. Canaletto 258 Bell, Rudolf Manga 428 Bender, Georg 84 Benecke, Otto 341 Benn, Gottfried 281

Personenregister 

Bennigsen, Rudolf v. 94, 215 Berenhorst, Georg Heinrich v. 141 Berghoff, Hartmut 121 Berg, Max 297 f. Bergner, Elisabeth 293 Berlepsch, Hans Freiherr v. 73, 79 Bernfeld, Siegfried 342 Bernhardi, Friedrich v. 285 Bertram, Adolf Kardinal 369 f. Bethmann Hollweg, Theobald v. 40, 42–44, 135, 156, 180, 224–226, 230, 232, 379 Beuth, Peter 305 Beyme, Karl Friedrich (v.) 194 Bienek, Horst 281 Birtsch, Günter 117 Bismarck, Otto (Fürst) von 28–33, 38 f., 46 f., 64, 69 f., 72–76, 78–80, 96, 101 f., 128–130, 142–144, 147, 151, 154 f., 163 f., 174 f., 180, 212–218, 222, 224 f., 233 f., 243, 250, 268, 273, 283, 306, 312, 321, 336 f., 347, 353–357, 378 f., 385, 388 f., 392, 395 f., 398, 400–402, 413, 419–421, 424, 434, 444 f. Bizet, Georges 273 Blackbourn, David 447 Blanning, Tim 258 Blaschke, Karlheinz 37 Blasius, Dirk 394 Bleibtreu, Georg 283 Bleichröder (Bankiersfamilie) 70 Bleichröder, Gerson (v.) 163 Blücher von Wahlstadt, Gebhardt Leberecht (Fürst) 27, 303 Bobrowski, Johannes 281 Böckel, Otto 163 Böcklin, Arnold 296 Bödecker, Ehrhardt 8, 405 Bodelschwingh, Friedrich v. 312, 434 Bode, Wilhelm (v.) 287 Bodt, Jean de 254 Boeing, William Edward 414 Boetticher, Karl Heinrich (v.) 224 Böhme, Helmut 394 Böhmermann, Jan 271 Bohrdt, Hans 283 Böing, Wilhelm 414 Boleslaw, poln. Fürst v. Posen 306

521

Bollenbeck, Georg 287 Bölsche, Wilhelm 280 Bömelburg, Hans-Jürgen 91 Bondy, Curt 342 Bonhoeffer, Dietrich 365 Bonnell, Andrew G. 437 Boockmann, Hartmut 9 Borgese, Giuseppe Antonio 397 Börne, Ludwig 268 f. Bornemann, Friedrich Wilhelm 269 Born, Karl Erich 394 Börsch-Suppan, Helmut 253 Borsig, August 61, 66 Bosch, Robert 301 Bosse, Robert 79, 328 Botzenhart, Manfred 193, 205 Bourdieu, Pierre 385 Boyen, Hermann v. 144, 194, 378 Bracher, Karl Dietrich 140 Bracht, Franz 248 Brackmann, Albert 382 Brahms, Johannes 272 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf v. 204, 210 Brandt, Willy 139, 400 f. Braubach, Max 374 Braun, Otto 78, 132, 237 f., 240, 246–249, 319, 444 Brecht, Arnold 246–248, 322, 342 Brecht, Bertolt 274, 281, 402 Brentano, Lujo 334 Bresslau, Harry 331 Bringmann, Wilhelm 52 Brose, Eric D. 65 Bruch, Rüdiger vom 384 Bruck, Karl Ludwig (Freiherr v.) 419 Brüning, Heinrich 140, 244–248, 320, 366 Buchholz, Friedrich 262, 268 Büchner, Georg 277 Bülow, Bernhard (Fürst) v. 40, 75, 219, 232, 396, 423, 436 Bülow, Frieda v. 430 Bülow, Hans v. 272 Burckhardt, Jakob 306 Burke, Edmund 171 Burkhardt, Johannes 45, 192 Burney, Charles 271 Büsch, Otto 11, 143, 392

522  Personenregister Camphausen, Ludolf 69, 202 Camphausen, Wilhelm 283 Canitz und Dallwitz, Karl v. 28, 200 Caprivi, Leo (Graf) v. 73, 156, 175, 232, 434 Caro, Elme-Marie 337 Carsten, Francis L. 393 f. Cassirer, Paul 292 Cauer, Minna 123 Cézanne, Paul 295 Chagall, Marc 295 Chamberlain, Houston St. 381 Chodowiecki, Daniel 263, 282 Churchill, Winston 399 Clark, Christopher 7, 13, 15, 19, 37, 41, 48, 86, 107, 112, 127, 131, 193, 196, 207, 231, 240, 247, 401 Classen-Kappelmann, Johann 305 Claß, Heinrich 168 Clemens August, Erzbischof v. Köln, Kurfürst 103 Clement (Amsterdamer Kaufmann) 417 Collier, L. Price 397 Cölln, Friedrich v. 262, 268 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Marquis de 260 Conrad, Sebastian 178, 412, 427, 435, 440 Conze, Werner 391 Corinth, Lovis 285 Courant, Richard 342 Craig, Gordon A. 393 Cranach, Lukas d. Ä. 253 Cranach, Lukas d. J. 253 Crispien, Arthur 132 Croce, Benedetto 310 Crowe, Eyre 40 D Dach, Simon 275 d’Alembert, Jean-Baptiste 260 Daumier, Honoré 269, 286 Davis, Christian 435 Dawson, William H. 398 Dehio, Ludwig 389 f. Deimling, Berthold v. 441 Delacroix, Eugène 286 Delbrück, Clemens (v.) 220, 224, 230 Delbrück, Hans 381, 384, 422 Delbrück, Rudolf 69, 198

Descamps, Paul 398 Dibelius, Otto 361 f., 365 Dibobe, Quane a (Martin) 429 Diepgen, Eberhard 7 Diergardt, Friedrich (v.) 305 Dipper, Christof 445 Disraeli, Benjamin 33 Dittmann, Wilhelm 438 Dix, Otto 288, 290 f. Dmowski, Roman 181 Döblin, Alfred 281 Dohm, Christian Wilhelm (v.) 160 Domhardt, Johann Friedrich v. 160 Donizetti, Gaetano 272 Döring, Detlef 37 Dorner, Alexander 296 Dorner, Isaac August 330 Dorothea von Holstein-Glücksburg, Kurfürstin von Brandenburg 253 Dorpalen, Andreas 393 Droste zu Vischering, Clemens August Freiherr 351 Droysen, Johann Gustav 330, 333, 372 Drzymala, Michal 176 Dubois-Reymond, Emil 334 Duchhardt, Heinz 190 Dunin, Martin v. 351 Durieux, Tilla 293 Dyck, Anton van 258 E Ebert, Friedrich 137, 319 f. Ebhardt, Bodo 299 Eckener, Hugo 238 Ehrlich, Paul 330, 334, 336 Eichendorff, Joseph v. 277 Eichhorn, Friedrich 412 Einstein, Albert 154, 169, 331, 333, 340–342, 375 Eisner, Kurt 208 Eley, Geoff 447 Elisabeth, Kaiserin v. Österreich 309 Elisabeth, Zarin von Rußland 22 f. Ellstätter, Moritz 163 Engelberg, Ernst 395 Engelmann, Bernt 394 Ephraim, Veitel H. 159 Epstein, Fritz 393 Epstein, Klaus 393

Personenregister 

Erdmann, Karl Dietrich 241 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm v. 262 Ernst Ludwig, Großherzog v. Hessen 234 Erzberger, Matthias 243, 362 f., 436, 438 Eulenburg, Friedrich Graf zu 419 Euler, Leonhard 260 Eyck, Erich 386, 390, 393 F Fahrenkamp, Emil 299 Failly, Gustave de 86 Falk, Adalbert 357, 374 Falk, Bernhard 238 Falkenhayn, Erich v. 44 Falter, Jürgen 368 Faulhaber, Michael Kardinal (v.) 369 f. Fechner, Hermann 55, 57 Fehrenbach, Konstantin 366 Feininger, Lyonel 296 f. Fellner, Carl 98 Fichte, Johann Gottlieb 266 Filbinger, Hans 432 Fischer, Emil 331, 334 Fischer, Fritz 389 f. Fischer, Hubertus 279 Fitzpatrick, Matthew P. 447 Flechtheim, Alfred 295 Flottwell, Eduard v. 173, 180, 413 Foerster, Friedrich Wilhelm 154, 388 Fontane, Theodor 8, 275, 279–281, 284 Forckenbeck, Max v. 215, 309, 376 Förster, Stig 156 Francke, August Hermann 303, 344 Franck, James 342 Fränkel, Ernst 342, 393 Franklin, Benjamin 54 Frank, Ludwig 136, 153 Franz Joseph, Kaiser v. Österreich, König v. Ungarn 285 Freund, Gisèle 169 Frey, Johann Gottfried 115 Freytag, Gustav 279, 373 Frick, Wilhelm 245 Friedberg, Heinrich (v.) 163 Friedenthal, Rudolf 163 Friederike, Prinzessin v. Mecklenburg-Strelitz 265 Friedrich August II., Kurfürst v. Sachsen, König v. Polen 37

523

Friedrich August I., Kurfürst v. Sachsen, König v. Polen 35 Friedrich Barbarossa, römisch-deutscher Kaiser 279 Friedrich, Caspar David 266, 303 Friedrich II., Großherzog v. Baden 234 Friedrich I., König in Preußen 20 f., 87, 254–257, 259, 345 Friedrich II., König v. Preußen 7–9, 19– 22, 24 f., 30–32, 35–37, 46 f., 51, 53–58, 88–90, 99, 115, 117 f., 142 f., 159 f., 171, 189, 191 f., 250, 256–261, 263, 265, 271, 273, 275 f., 284, 303, 311, 345 f., 350, 353, 375 f., 380, 384, 388–392, 395 f., 398, 400, 402, 416 f., 428 Friedrich III., König v. Preußen, deutscher Kaiser 233, 376 Friedrich, Karin 55, 91 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 11, 19–21, 37, 49, 87, 159, 186, 253–255, 276, 343 f., 381, 410, 416, 444 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 20 f., 23, 36, 142 f., 159, 189–191, 250, 255 f., 344, 350, 402, 416, 417, 428 Friedrich Wilhelm II., König v. Preußen 53, 56, 160, 257, 259, 262, 266 Friedrich Wilhelm III., König v. Preußen 25, 28, 93, 154, 161, 172, 194–196, 200, 257, 262, 276, 299, 302–305, 309, 323, 347, 375, 376 Friedrich Wilhelm IV., König v. Preußen 28, 154, 161, 173, 199–202, 204 f., 207 f., 210, 269, 273, 282, 299, 303 f., 348 f., 351, 372, 413, 419 Frie, Ewald 9, 100 Furrer, Johann Ulrich 146 Furtwängler, Wilhelm 272 Füssel, Marian 37 G Gaertner, Eduard 282 Gailus, Manfred 113 f. Galen, Clemens August Graf v. 370 Galen, Ferdinand v. 360, 369 Galsworthy, John 310 Garve, Christian 275 Gatzke, Hans W. 393 Gauguin, Paul 295 Gauland, Alexander 405

524  Personenregister Gauß, Karl Friedrich 330 Gayl, Wilhelm Freiherr v. 247 f., 322 Gehrke, Roland 96 Geibel, Emanuel 279 Geiger, Theodor 342 Geissel, Johannes v. 203 Gellert, Christian Fürchtegott 260 Gerhardi, Ida 290 Gerlach, Leopold v. 154 Gerlach, Ludwig v. 210 Gerlach, Philipp 257 Gersdorff, Rudolf-Christoph v. 404 Gilbert, Felix 342 Gilly, Friedrich 263, 298 Glaßbrenner, Adolf 269 Gneisenau, August (Graf) Neithardt v. 144, 328 Gneist, Rudolf 330 Gobineau, Josephe Arthur Comte de 381 Goebbels, Joseph 249 f., 322, 388 Goethe, Johann Wolfgang (v.) 23, 260, 266, 334, 336 f., 379 Gogh, Vincent 295 f. Goltz, Colmar (Graf) v. d. 149, 155, 441 Gontard, Carl v. 257, 263 Gooch, George P. 22, 390, 393 Gorki, Maxim 282, 310 Görres, Joseph 194, 277, 351 Göse, Frank 190, 345 Gosewinkel, Dieter 435 Goßler, Gustav v. 81 Gottsched, Johann Christian 255, 260 Gounod, Charles 273 Grass, Günter 182, 281 Greiffenhagen, Martin 394 Griewank, Karl 27 Grimme, Adolf 293, 297, 320, 341, 363 Groener, Wilhelm 319 Gronowski, Johannes 361 Gropius, Martin 264 Gropius, Walter 298 Groß, Gerhard P. 155 Grosz, George (Georg Gross) 288–290 Gruner, Justus v. 172 Gryphius, Andreas 275 Grzesinski, Albert 140, 241, 244 f. Grzywatz, Berthold 116 Guettel, Jens-Uwe 437

Guibert, Comte de 141 Gulgowski, Izydor 181, 407 Gutzkow, Karl 268, 277 H Haase, Hugo 132, 167 Haas, Ludwig 129, 153 Haber, Fritz 334, 340 Hachtmann, Rüdiger 203, 208 Haenisch, Konrad 246, 293, 341 Haffner, Sebastian 11, 394 Hagen, William W. 109, 174 Hahn, Hans-Werner 113 Hahn, Otto 331 Halle, Ernst von 440 Hammer, Ludwig 304 Händel, Georg Friedrich 272 Haniel (Familie) 61 Haniel, Franz 69, 305 Hansemann, David 61, 66, 69, 200, 202, 305 Hardenberg, Carl-Hans Graf 404 Hardenberg, Karl August (Fürst) v. 25 f., 59–62, 94, 161, 164, 172, 193–198, 200 f., 262, 265 f., 268, 305, 309, 328, 444 Harnack, Adolf (v.) 323, 331 f., 334, 340, 358, 360 Hart, Julius 280 Hartley, Marsden 289 Hart, Otto 280 Hartung, Fritz 125, 386 f., 392 Haugwitz, Christian Graf v. 25 Hauptmann, Gerhart 274, 280 f., 285, 291 f., 310, 334, 336 Haupt, Moritz 330 Hauser, Oswald 99 Häusser, Ludwig 373 Haußmann, Conrad 129 Heartfield, John (Helmut Herzfeld) 288, 290 Heckel, Erich 288 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 198, 305, 426, 433 Hegemann, Werner 386 Heilmann, Ernst 238 Heine, Heinrich 268 f., 278, 309 f., 401, 413 Heine, Thomas Theodor 271 Heine, Wolfgang 153

Personenregister 

Heinrich, Gerd 12, 390 f. Heinrich, Prinz v. Preußen 257 Held, Hans v. 262 Helldorff-Bedra, Otto v. 215 Henke, Alfred 438 Henkel, Fritz 61 Henschel (Familie) 98 Herder, Johann Gottfried (v.) 260, 275 Herold, Carl 104 Herres, Jürgen 92 Herter, Ernst 310 Hertz, Henriette 160 Herzfelde, Wieland 290 Herz, Henriette 267 Hesekiel, Georg 278 Hesse, Hermann 281 Heß, Joseph 238 Hettling, Manfred 123, 308 Heuß, Theodor 301 Hewitson, Mark 435 Heydebrand, Ernst v. 222 Heydt, August v. d. 69 Heyking, Elisabeth v. 430 Heynitz, Friedrich August (Freiherr) v. 58, 263 Heyse, Paul 279 Hilferding, Rudolf 139 Hillgruber, Andreas 38, 48 Hinckeldey, Carl Ludwig v. 69, 209, 271 Hindenburg, Oskar v. 247 Hindenburg, Paul v. 44, 82, 105, 108, 140, 155, 157, 233, 237 f., 245, 247–249, 298, 318–321, 363, 392 Hinrichs, Carl 16, 344, 388, 392 Hinrichs, Ernst 445 Hinterkeuser, Guido 300 Hintze, Hedwig 382 Hintze, Otto 11 f., 19 f., 36, 54, 59, 121, 186, 190 f., 235, 308, 334, 378, 380–382, 384–386, 440 Hirschfeld, Magnus 289 Hirsch, Paul 166 Hirtsiefer, Heinrich 239 Hobrecht, Arthur 309 Höch, Hannah 288 Höcke, Björn 405 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 272, 277 Hoffmann, Ludwig 264

525

Hohendahl, Peter Uwe 276 Hohenlohe, Joseph Graf v. 350 f. Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 119, 229 Holborn, Hajo 342, 393 Holz, Arno 280 Höpker Aschoff, Hermann 244, 246 Horkheimer, Max 342 Hoym, Carl Georg Graf v. 160 Hubatsch, Walther 12, 390 f., 393 f. Hüffer, Hermann 374 Hüffer, Johann Hermann 94 Hugenberg, Alfred 239 Hull, Isabel 157 Humboldt, Alexander v. 161, 259, 273, 305, 308 f., 324, 426, 432 f. Humboldt, Wilhelm v. 161, 194, 266, 305, 308, 324–328, 331, 399 Husen, Bayume Mohamed 430 I Iffland, August Wilhelm 276 Iggers, Georg G. 372 Ihne, Ernst v. 299 Isherwood, Christopher 281, 289 Itzig, Isaac Daniel 159 Iwakura, Tomomi 421 J Jacoby, Johann 129, 203–205, 270, 391 Jaeckel, Willy 288 Jagow, Gottlieb v. 41 f. Jankus, Martynas 182, 407 Jansen, Christian 146 Janssen, Johannes 374 Jarres, Karl 319 Jastrow, Ignaz 330, 377 Jaurès, Jean 134 Jawlensky, Alexej 296 Jessner, Leopold 274, 293 Joachim II., Kurfürst v. Brandenburg 253, 259 Joachim, Joseph 272 Johann Sigismund, Kurfürst v. Brandenburg 19, 343 Jordan, Wilhelm 173 Joseph Ferdinand, Prinz v. Bayern 35 Joseph II., König von Österreich, deutscher Kaiser 160 Justi, Ludwig 293 K

526  Personenregister Kaak, Heinrich 110 Kaas, Ludwig 247, 367, 369 Kaehler, Siegfried August 392 Kafka, Franz 281 Kaftan, Julius 363 Kähler, Wilhelm 242 Kaindl, Raimund 386 Kaiser, Michael 186 Kamissek, Christoph 441 Kandinsky, Wassily 288, 295 Kant, Immanuel 122, 260 f., 265, 336 f., 429 Kantorowicz, Hermann 236 Kapp, Wolfgang 241 Kardorff-Oheimb, Katharina v. 240 Karl Albrecht, Kurfürst v. Bayern 35 Karl I., Kaiser von Österreich 45 Karl Ludwig, Kurfürst von der Pfalz 345 Karl Theodor, Kurfürst von Bayern 34 f. Kaufmann, Leopold 304 Kaunitz, Graf 22 Kaznelson, Siegmund 167 Kehr, Eckart 393 Kerrl, Hanns 248 f. Kestenberg, Leo 293 Ketrzynski, Wojciech (Adalbert v. Winkler) 181, 407 Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr v. 360 Kirchner, Ernst Ludwig 288 f. Kirdorf, Emil 139 Kirsch, Martin 221 f. Kittel, Manfred 408 Klagges, Dietrich 245 Klausener, Erich 367 Klee, Paul 289 Klein, Felix 323, 330 Kleist, Heinrich v. 266, 275–277, 291 Kleist-Retzow, Hans v. 305 Kleist, v. (Familie) 110 Klemperer, Klemens v. 393 Klemperer, Otto 293 Klenze, Leo v. 263 f. Klepper, Jochen 281 Klimsch, Fritz 265 Klimt, Gustav 285 Klopp, Onno 374, 377 Klosmann, Christian 89 Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus v. 257, 259, 272, 428

Koch, Robert 330, 441 Koehler, Bernhard 295 Köhler, Wolfgang 341 Kokoschka, Oskar 289, 293, 296 Kolbe, Georg 265, 310 Köller, Ernst v. 102 Kollwitz, Käthe 285, 288 f. Kolping, Adolf 360 Koner, Max 283 Kopisch, August 283 Körner, Emil 426 Körner, Theodor 305 Kosch, Wilhelm 388 Koscielski, Jozef v. 175 Kosciuszko, Tadeusz 25 Koselleck, Reinhart 18, 65, 116, 196–198, 391 f. Koser, Reinhold 372 f., 378 Kossert, Andreas 405 Kotzebue, August v. 276 Kraatz, Emil 125 Kratz-Kessemeier, Kristina 294 Kraus, Hans-Christof 210 Kraus, Karl 292 Kretzer, Max 280 Krieger, Leonard 393 Kroboth, Rudolf 230 f. Krockow, Christian Graf 394, 401 Kroener, Bernhard 23, 143 Kroll, Frank-Lothar 231 Krüger, Franz 282 Krupp (Familie) 61, 71, 421 Krzeminski, Adam 177 Kugler, Franz 284 Kühne, Thomas 220, 225 f. Kunisch, Johannes 260 Kunitake, Kume 421 L Lafontaine, Oskar 403 Lammert, Norbert 401 Lamprecht, Karl 378, 381 Landsberg, Otto 246 Langen, Albert 271 Langewiesche, Dieter 9, 29, 328 Lang, Fritz 293 Langhans, Carl Gotthard 257, 262 Lasker, Eduard 163 Lasker-Schüler, Else 169 Lassalle, Ferdinand 128

Personenregister 

Lauterbach, Ansgar 215 Ledebour, Georg 438 Lederer, Emil 342 Legien, Carl 131 Lehmann, Max 374 f., 377 Leibl, Wilhelm 295 f. Leichhardt, Ludwig 411 Leistikow, Walter 285 Lenbach, Franz (v.) 284, 296 Lenné, Peter Joseph 265 Lenya, Lotte 293 Lenz, Max 334, 381 Lenz, Siegfried 281 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst v. Anhalt 262 Lepsius, M. Rainer 227, 368, 385 Lepsius, Sabine 289 Lessing, Gotthold Ephraim 260 f., 265, 274–276, 307, 376, 401 Letterhaus, Bernhard 239 Lettow-Vorbeck, Paul v. 431 Leutze, Emanuel 414 Levin-Varnhagen, Rachel 267 Leyen, v. d. (Krefelder Familie) 56 Lichtenstein, Max 165 Lichtwark, Alfred 282, 296 Lieber, Franz (Francis) 413 f. Liebermann, Max 285, 288, 296, 310, 334 Liebert, Eduard v. 441 Liebig, Justus (v.) 330 Liebknecht, Karl 137, 236 Liebknecht, Wilhelm 128 Liebl, Gerson 432 Lienhard, Friedrich 291 Lill, Rudolf 9 Lincoln, Abraham 414 Lissitzky, Eliezer 282 Littmann, Ismar 296 Litzmann, Karl 441 Lloyd George, David 40, 426 Löbe, Paul 132 Loebell, Friedrich Wilhelm v. 219 Lohmann, Theodor 79, 383 Lohmeyer, Hans 82 Lorentz, Friedrich 181 Lortzing, Albert 273 Loth, Wilfried 219, 355, 368 Louise Henriette von Oranien, Kurfürstin von Brandenburg 253

527

Löwe, Adolf (Adolph Lowe) 342 Löwenstein, Karl 342 Lowe, Robert 30 Ludendorff, Erich 44, 155, 233, 248 Lüders, Marie-Elisabeth 240 Ludwig I., König v. Bayern 303 Ludwig XVI., König v. Frankreich 192 Lueger, Karl 167 Luise, Königin v. Preußen 304, 404 Luitpold, Prinzregent v. Bayern 234 Lukaschek, Hans 106, 298 Luschan, Felix v. 440 Luther, Martin 303, 337, 364 Lützow, Adolf Freiherr v. 305 Luxemburg, Rosa 131, 236 M Maaßen, Karl Georg 65 Macaulay, Thomas B. 22 Macke, August 288, 295 Majakowski, Wladimir 282 Mann, Bernhard 228 Mann, Golo 233 Mann, Heinrich 315 Mann, Thomas 127, 281, 446 Manteuffel, Edwin v. 154, 209, 372 f. Manteuffel, Otto Freiherr v. 70, 210 f. Marc, Franz 288 Maria Theresia, Königin von Österreich 88 Marriott, John A. R. 398 Marwitz, F. A. Ludwig v. d. 193, 324 Marwitz, Ludwig v. d. 164 Marx, Karl 47, 49, 128–130, 136, 269, 413, 447 Marx, Wilhelm 238, 366 Maupertuis, Pierre-Louis de 260 Maurenbrecher, Max 374, 376 Max Emanuel, Kurfürst v. Bayern 35 Max III. Joseph, Kurfürst v. Bayern 37 Maximilian II., König v. Bayern 303 f. Mayer, Gustav 129, 376 f. May, Ernst 298 Meckel, Jakob 421 f. Mehring, Franz 276, 374, 376 Meidner, Ludwig 288 Meier, Brigitte 113 Meinecke, Friedrich 12, 101, 147, 342, 378–380, 382, 384, 387–389 Mendelsohn, Erich 169, 299

528  Personenregister Mendelssohn (Bankiersfamilie) 70, 287 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 273, 305 Mendelssohn, Joseph 162 Mendelssohn, Moses 159, 260, 273, 307 Menzel, Adolph (v.) 8, 282–284, 291 Merckel, Friedrich Theodor (v.) 94 Messel, Alfred 164, 264, 299 Metternich, Clemens Fürst v. 28, 194, 197, 202 Mevissen, Gustav (v.) 61, 70 Meyerbeer, Giacomo 273, 305 Michael, Theodor Wonja 430 Michels, Robert 134, 330 Mieczyslaw, poln. Fürst v. Posen 306 Mies van der Rohe, Ludwig 298 Milde, Karl August 203 Miquel, Johannes (v.) 75 f., 176, 229 Mirabeau, Victor Gabriel comte de 141 Mirow, Jürgen 391 Mises, Ludwig v. 342 Mittenzwei, Ingrid 395 Modersohn Becker, Paula 296 Moeller, Eduard v. 304 Moeller van den Bruck, Arthur 281, 403 Möller, Horst 237 Moltke, Helmuth (Graf) v. 154 Moltke, Helmuth v. 32, 42, 147, 153, 155, 283, 312 Mommsen, Theodor 163, 216, 323, 330 Mommsen, Wolfgang J. 225, 231, 233 Moritz, Karl Philipp 266 Mosse, George 317, 393 Motz, Friedrich v. 29, 65, 94, 305 Mueller, Otto 288 Müller(-Franken), Hermann 46, 320 Müller, Ludwig 365 Müller, Michael G. 20 Munch, Edvard 292, 295 Mundt, Klara (Luise Mühlbach) 278 Mussolini, Benito 369 Muthesius, Hermann 300 f. N Nabokov, Wladimir 282 Nadler, Josef 277 Naendrup, Hubert 440 Naphtali, Fritz 169 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 32 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 17, 19, 26 f., 36 f., 59 f., 63, 144, 187

Naranch, Bradley 420 Naumann, Friedrich 78, 301, 349, 358–360, 379 Nernst, Walter 334 Neugebauer, Wolfgang 50, 187, 190, 323, 377, 392 Neumann, Franz L. 342 Nicolai, Friedrich 261, 267 Nicolai, Georg Friedrich 154 Nicolai, Otto 273 Niebuhr, Barthold Georg 197, 333 Niekisch, Artur 272 Niekisch, Ernst 403 Niemöller, Martin 365 Nietzsche, Friedrich 306 Nipperdey, Thomas 15 f., 27, 30, 59, 231, 233, 307, 330 Nolde, Emil 288 Nolte, Paul 12, 197 Nonn, Christoph 231 Noske, Gustav 137 f., 438 O Obenaus, Herbert 118, 195 Oelsnitz, H. v. d. 418 Oestreich, Gerhard 186, 392, 402 Ogai, Mori 422 Opitz, Martin 275 Oppenheimer, Franz 332 Oppenheim, Simon 162 Oppenheim, (v.) (Bankiersfamilie) 70 Osterhammel, Jürgen 442 Osthaus, Karl Erich 286, 294 Otto-Peters, Luise 123 P Pallat, Ludwig 293 Paneth, Fritz 341 Papen, Franz v. 108, 140, 238, 242, 244 f., 247–249, 367, 369 Paul, Bruno 301 Paul, Helmut 67 Pauli, Gustav 295 Payer, Friedrich 129 Pechstein, Max 288, 290 Persius, Ludwig 264, 299 Pesne, Antoine 256, 428 Peter I., Zar von Russland 20 Peters, Hans 341 Pfemfert, Franz 289 Pfuel, Ernst v. 204

Personenregister 

Philippson, Martin 376 Picasso, Pablo 295 Piontek, Heinz 281 Piscator, Erwin 274 Planck, Max 334 Poelzig, Hans 297 f., 300 f. Poincaré, Raymond 40 Popitz, Johannes 239 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf v. 224 Preuß, Hugo 101, 111, 220, 223, 246, 330, 374 f., 377 Preysing, Konrad v. 369 Prittwitz und Gaffron, Friedrich v. 104 Pufendorf, Samuel v. 255 Puhle, Hans-Jürgen 134 Puttkamer, Eugen v. 174 Puttkamer, Robert v. 208, 222, 227, 268, 309 Q Quantz, Johannes Joachim 271 Quidde, Ludwig 129, 147, 154, 375, 377 R Radbruch, Gustav 223, 321 Rade, Martin 358, 362 Radowitz, Joseph v. 28 Radziwill, Anton Heinrich Fürst 172 f. Radziwill, Bogislav Fürst 407 Ranke, Leopold (v.) 15, 24, 372 f., 376 Raphael, Lutz 409 Raschdorff, Julius 299 Rathenau, Emil 61 Rathenau, Walther 124, 165, 167, 244, 301, 320 Rauch, Christian Daniel 265, 303, 305 f. Rauh, Manfred 229 Raumer, Karl v. 349, 352 Reden, Friedrich Wilhelm v. 58 Redslob, Edwin 318, 320 Reichardt, Johann Friedrich 271 Reichensperger, August 305 Reichensperger, Peter 203 Reif, Heinz 118, 313 Reimer, Georg 269 Reinhardt, Max 274, 334 Reinhard, Wolfgang 188, 445 Renan, Ernest 184, 337 Retallack, James 124 Richter, Eugen 310 Richter, Werner 321, 341

529

Richthofen, Bernhard 281 Richthofen, Ferdinand Freiherr v. 420 Riesbeck, Johann Kaspar 267 Riess, Ludwig 422 Riezler, Kurt 42 f., 141 Riezler, Walter 296 Rilke, Reiner Maria 281 Rinke, Stefan 426 Riotte, Torsten 313 Ritter, Gerhard 12, 155, 197, 379 f., 386, 389 f., 392 f. Robertson, Charles C. 398 Röchling, Karl 283 Rochow, Gustav v. 117 Rochow-Reckahn, Eberhard v. 324 Rodbertus, Johann Karl 203 Roethe, Gustav 235, 276, 334 Rohe, Karl 228 Röhl, John C. G. 231, 233 Rohrbach, Paul 440 Rolland, Romain 310 Roon, Albrecht (Graf) v. 142, 146, 211 f. Roosevelt, Franklin D. 250 Röpke, Wilhelm 342, 388 Rosenberg, Hans 190, 218, 342, 393 Rosenfeld, Gavriel D. 402 Rössner, Philipp R. 56 Rother, Christian (v.) 64–67, 413 Rothfels, Hans 388 Roth, Joseph 293 Rothschild (Bankiersfamilie) 65, 70 Rotteck, Karl v. 269 Rubenow, Heinrich 304 Rubens, Peter Paul 258 Ruge, Arnold 269 Rumpler, Helmut 29 Runge, Philipp Otto 296 Russell, Arthur Lord 33 S Sabac el Cher, Angela 429 Sabac el Cher, Gustav 429 Sack, Johann August 94 Salomon, Ernst v. 281 Saltzmann, Carl 283 Sarmiento, Domingo 426 Sarolea, Charles 397 Schadow, Johann Gottfried 8, 265 f., 291, 303 Schäfer, Dietrich 235, 381

530  Personenregister Schaffgotsch, Philipp Gotthard Graf v. 350 Schardt, Alois 296 Scharnhorst, Gerhard v. 144, 303, 395 Scharnweber, Christian Friedrich 193 Scharoun, Hans 298 Scheel-Plessen, Carl (Graf) v. 94 Scheffler, Karl 291 Schenk, Tobias 160 Schiele, Egon 285 Schilling, Heinz 418 Schinkel, Karl Friedrich 257, 264, 266, 279, 285, 298 f., 303, 319 Schlaf, Johannes 280 Schlegel, Friedrich (v.) 260, 266 Schlegelmilch, Arthur 222 Schleicher, Kurt v. 154, 157, 247 Schleiermacher, Friedrich 266, 305, 328, 347 Schleinitz, Alexander (Graf) v. 31, 273 Schlieffen, Alfred (Graf) v. 155 Schlögel, Karl 282 Schlüter, Andreas 254, 257, 302 Schmidthals, Hugo v. 104 Schmidt, Helmut 403 Schmidt-Ott, Friedrich 290, 331 f., 340 Schmidt-Rottluff, Karl 288 Schmitt, Carl 367, 387 Schmittmann, Benedikt 104, 239 Schmitz, Bruno 307, 316 Schmoller, Gustav (v.) 12, 65, 123, 334, 375, 380, 383–385 Schnabel, Franz 386 Schneider, Gerhard 315 Schoenaich-Carolath, Heinrich Prinz zu 223 Schoeps, Hans-Joachim 11 f., 390 f. Schönberg, Arnold 292 f. Schönberger, Christoph 220 Schön, Theodor (v.) 94, 118, 305 Schopenhauer, Arthur 89 Schopenhauer, Johanna 89 Schreker, Franz 293 Schrödinger, Erwin 340–342 Schroetter, Friedrich Leopold Freiherr v. 59 Schücking, Lothar Engelbert 96, 227 Schuckmann, Kaspar Friedr. (Freiherr) v. 194, 196, 199

Schulenburg, v. d. (Familie) 256 Schulin, Ernst 15 Schulte, Karl Joseph Kardinal 369 Schulze-Delitzsch, Hermann 307 Schulze, Frederik 436 Schulze, Hagen 240, 392 Schulze, Johannes 328–330 Schumann, Robert 272 Schumpeter, Joseph 341 Schurz, Carl 414 Schwarz, Karl 294 Schwechten, Franz 299 Schwerin, (Grafen) v. (Familie) 256 Schwieger, Klaus 112 Seidel, Paul 373 Sembritzki, Johannes (Jan Sembrzycki) 181, 407 Sering, Max 440 Severing, Carl 166, 241, 244, 247, 319–321, 415 Shakespeare, William 260 Siehr, Ernst 82 Siemens, Wernher (v.) 61, 332 Siemsen, August 388 Sievers, Johannes 293 Simmel, Georg 330, 335 f., 381 Simon, Heinrich 147 Simon, Hugo 169 Simon, James 287 Simons, Hans 342 Singer, Paul 166 Sintenis, Renée 288 Sinzheimer, Hugo 332 Skalweit, Stephan 388, 392 Skytte von Duderhof, Bengt 254 Slevogt, Max 285, 296 Small, Albion W. 335 Smith, Adam 59 Smith, William S. 141 Solly, Edward 266 Solms-Laubach, Friedrich Ludwig Graf zu 94 Sombart, Werner 121 f. Sommer, Ingo 300 Sonnemann, Leopold 129 Sophia Dorothea, Königin in Preußen 20 Sophie Charlotte von Hannover, Königin in Preußen 254 f.

Personenregister 

Sösemann, Bernd 9, 12 Spahn, Martin 367 Speitkamp, Winfried 427 Spener, Philipp Jakob 344 Spengler, Oswald 281, 403 Splitgerber, David 56 Spoerer, Mark 76 Spontini, Gasparo 272 Spranger, Eduard 386, 402 Staegemann, Friedrich August (v.) 193 Stael, Anne Germaine de 267, 337, 396 f. Stägemann, Elisabeth v. 267 Stahl, Friedrich Julius 161 Stapel, Wilhelm 364, 403 Steffeck, Karl 283 Stegerwald, Adam 238, 400 Steinen, Karl v. 440 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 25, 59 f., 95, 115 f., 193, 305, 309, 375 Stein, Oliver 156 Stengel, Karl v. 153 Stern, Alfred 376 Stern, Fritz 169, 393 Stern, Selma 159 Stinnes, Hugo 42, 61 Stinnes, Matthias 69 Stöcker, Helene 123 Stoecker, Adolf 358 Stolberg-Wernigerode, Otto (Fürst) zu 94 Strack, Johann Heinrich 264, 299 Straubel, Rolf 52, 57, 114 f. Strauss, Levy 414 Strauß, Richard 272, 274, 310 Stresemann, Gustav 46, 301, 320 Ströbel, Heinrich 139 Struve, Kai 106 Stuck, Franz (v.) 284 Stüler, August 264, 299, 304 Stupp, Hermann 304 Stürmer, Michael 401 Sudermann, Hermann 280 Surminski, Arno 281 Süvern, Johann Wilhelm 324 f. Swarzenski, Georg 295 Sybel, Heinrich v. 330, 372, 374, 378 Sydow, Reinhold 224 Szabo, Franz 22 T

531

Taut, Bruno 299 f. Taut, Max 299 Temme, Jodokus 208 Tessendorf, Hermann 130 Tessenow, Heinrich 319 Thadden, Rudolf v. 394 Thiel, Hugo 384 Thieme, Clemens 316 Thier, Andreas 76 Thomasius, Christian 255 Thyssen (Familie) 61, 71 Tieck, Ludwig 277 Tillich, Paul 364 Tilse, Mark 408 Tirpitz, Alfred (v.) 41, 44, 152, 154, 232, 381 Tönnies, Ferdinand 330 Torp, Cornelius 434 Toru, Takenaka 422 Townsend, Mary L. 270 Tramm, Heinrich 296 Treitschke, Heinrich v. 124, 163, 200, 273, 278, 372, 376, 378, 384 Tresckow, Henning v. 404 Tretjkow, Sergej 282 Troeltsch, Ernst 358, 360, 362 Trommler, Frank 282 Trotha, Lothar v. 157, 437 f., 441 Tschudi, Hugo v. 286 Turner, R. Steven 329 Tusk, Donald 182 Twain, Mark 292 U Ulitzka, Carl 106 Ullmann, Hans-Peter 225, 231 Unruh, Hans Viktor v. 203 Ursinus, Erhard 53 Ury, Lesser 285 V Vagts, Alfred 393 Valentin, Veit 386 Varnhagen, Rahel 160 Venedey, Jakob 18 Verdi, Giuseppe 273 Vernezobre de Laurieux, Mathieu Baron 256 Viktoria Luise, Prinzessin v. Preußen 313 Vincke, Georg Freiherr 211

532  Personenregister Vincke, Ludwig Freiherr 94 Virchow, Rudolf 163, 308, 330, 353 Vogel, Barbara 193, 390 Vogel, Jakob 150 Vollert, Michael 155 Voltaire, Francois-Marie 260 Vonnegut, Clemens 414 Voss, Luise Gräfin v. 267 W Wachenheim, Hedwig 240 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 277 Waetzoldt, Wilhelm 293 Wagener, Hermann 163 Wagner, Adolph 334 Wagner, Martin 299 Wagner, Patrick 111 Wagner, Richard 273 Waldeck, Benedikt 203, 205, 265, 307 Walden, Herwarth (Georg Lewin) 289, 292, 295 Waldersee, Alfred (Graf) v. 154, 425 Warburg, Max 42 Watteau, Antoine 258 Weber, Carl Maria v. 272 Weber, Helene 240 Weber, Matthias 408 Weber, Max 14, 120, 159, 216, 272, 327, 330, 381, 385, 433 f. Wedekind, Frank 271 Wegscheider, Hildegard 174, 240 Wehler, Hans-Ulrich 9, 13, 33, 75, 216, 342, 382, 394, 401 Weichmann, Herbert 342 Weigel, Helene 293 Welcker, Karl Theodor 269 Wellington, Arthur Wellesley (Duke of) 27 Wende, Erich 341 Wessel, Helene 240 Westarp, Kuno Graf 222, 239 Westphalen, Ferdinand v. 210, 352 Weyl, Hermann 341 f. Wichern, Johann Heinrich 434 Wiedemann, Conrad 266 Wieland, Christoph Martin 260 Wildenbruch, Ernst v. 278, 291

Wilder, Billy 293 Wilhelm I., deutscher Kaiser 78, 130, 146, 154, 201, 211 f., 233 f., 265, 273, 279, 283 f., 305 f., 308 f., 312, 372 Wilhelm II., deutscher Kaiser 41 f., 131, 144, 153 f., 164, 189, 220, 224, 226, 231–233, 271, 274, 285 f., 299 f., 307, 311–316, 332, 359, 372, 377, 387, 398, 402, 423–425, 436, 439, 444 Wilhelm II., König v. Württemberg 234 Wilhelmine, Prinzessin von Preußen 21 Willisen, Wilhelm v. 174 Winckelmann, Johann Joachim 260, 303 Winckler, Friedrich 363 Windthorst, Ludwig 310, 354 f. Winkler, Heinrich August 48 Wirsching, Andreas 15 Wirth, Joseph 321, 366 Witbooi, Hendrik 428 Wittgenstein (Sayn-Wittgenstein-Hohenstein), Wilhelm Fürst zu 194, 196, 199 Wolff, Christian 255 Wolff, Theodor 119 Wolf, Reinhard 425 Wrangel, Friedrich (Graf) v. 146 f., 204, 306 Wunder, Bernd 191 Wundt, Wilhelm 336 Wyndham, Neville 141 Y Youwei, Kang 424 Z Zedlitz, Karl Abraham Freiherr v. 258 Zedlitz-Trützschler, Robert Graf 313 Zelter, Friedrich 271 Zemlinsky, Alexander 293 Zerboni, Joseph v. 94, 262 Zernack, Klaus 24, 170 f., 173 Zetkin, Klara 240 Ziblatt, Daniel 227 Ziekursch, Johannes 115, 386 Ziemann, Benjamin 150 f. Zierold, Kurt 341 Zimmerman, Andrew 433 f. Zimmern, Alfred 399 Zwehl, Konrad v. 219