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German Pages [159] Year 2023
Engelbert Recktenwald
Wirklichkeitserschließendes Sollen
https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
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https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
Engelbert Recktenwald
Wirklichkeitserschließendes Sollen
https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99511-2 (Print) ISBN 978-3-495-99512-9 (ePDF)
1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
Vorwort
»Wir fingen an zu philosophieren aus Übermut und brachten uns dadurch um unsere Unschuld. Da erkannten wir unsere Nacktheit, und seitdem philosophieren wir aus Not für unsere Erlösung«, schrieb einst Fichte an Jacobi. Als ich vor über vierzig Jahren als Student durch die Vertiefung ins transzendentalphilosophische Denken in die quälende Krise des Bodenlosen geriet, in den »Sturz der Realität« (Fichte), wurde mein Philosophieren tatsächlich ein Philosophieren aus Not. Die Erlösung kam durch eine Erkenntnis, die ich nicht aus Büchern gewann, nach der ich dann aber in Büchern fahndete. Ich wurde fündig. Treffend fand ich sie bei Fichte ausgedrückt: »Aus dem Gewissen allein stammt die Wahrheit.« So ist es! Mit dem Gewissen ist hier die elementare Sollenserfahrung gemeint. In ihr leuchtet auf, was Kant die ehrfurchtgebietende Majestät des Sittengesetzes nannte. Sie zertifiziert unsere Selbstwahrnehmung als vernunftbegabte Frei heitswesen und stößt damit die Tür zur intelligiblen Welt als der eigentlichen Wirklichkeit auf, in die die praktische Vernunft sich hineindenkt. Sie kann sich weiter hineindenken, als Kant meinte. Ein Schlüsselerlebnis für diese wirklichkeitserschließende Kraft der Sollenserfahrung wurde für mich die Begegnung mit dem Denken Anselms von Canterbury, insbesondere in seinem Werk De veritate. Das Studium bei Robert Spaemann eröffnete mir viele Zugänge zur Möglichkeit, jene Erkenntnis mit anderen philosophischen Ansätzen und Denkweisen in Beziehung zu setzen. Fast alle meine Texte sind Variationen dieses Themas. Dass das Gewissen zu einer Quelle der Gewissheit wird, die sich uns nicht in Form eines unabschüttelbaren Denkgesetzes aufdrängt, sondern nur in Freiheit ergriffen werden kann, wurde für mich zu einer Wahrheit, die nicht nur gedacht, sondern auch gelebt werden will. »Überzeugung ist eine Handlung der Vernunft, welche durch einen Akt ihrer Selbst tätigkeit sich der Wahrheit unterwirft, nicht ein Leiden derselben«, schreibt Fichte, und deshalb ist die Zustimmung zur Wahrheit »ein Affekt des Herzens«. John Henry Newman zielt auf denselben Sach verhalt, wenn er realer von begrifflicher Zustimmung unterscheidet.
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Vorwort
Nicht alle Aufsätze in diesem Band sind rein philosophisch. Einige sind Grenzgänger zwischen Philosophie und Theologie. Aber auch die Wege der Theologie können nur gegangen werden kraft einer Vernunft, die die Anstrengung des Begriffs nicht scheut. Es ist dieselbe Vernunft, die in beiden Bereichen eines doch zusammenhängenden Geländes die Wege des Gangbaren auslotet. Der Unterschied besteht darin, dass der theologische Kundschafter eine Landkarte benutzt, von der er überzeugt ist, dass sie ihm bei der Suche nach dem richtigen Weg behilflich ist. Ihre probeweise Nutzung steht auch jenem offen, der nicht an sie glaubt. Er kann umgekehrt anhand entdeckter Wege den Wert der Karte überprüfen. Hannover, den 20. März 2023 Engelbert Recktenwald
6 https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
Inhaltsverzeichnis
Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
Gedanken zur Rehabilitierung moralischer Intuition . . . . . . .
Ringen um das Menschenbild
Ist der Konstruktivismus eine Alternative zum Naturalismus? . .
Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
Ein Blick auf die Philosophie Thomas Nagels . . . . . . . . . .
Ist der Materialismus ein Idealismus?
Reflexionen über den Nagelschen Perspektivendualismus . . . .
Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
9 27 39 59
Ein instruktiver Blick auf die Philosophie von Jürgen Habermas .
71
Joseph Ratzingers Gotteshypothese . . . . . . . . . . .
87
Glaube und Vernunft
Warum mit dem Glauben auch die Vernunft gerettet wird . . . .
Erkennen oder Lieben?
Was vollendet den Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
93 119
Anselms Gottesbeweis im Lichte von De veritate . . . . . . . .
131
Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . .
157
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil Gedanken zur Rehabilitierung moralischer Intuition
Robert Spaemann schreibt in seiner Autobiographie1, dass es keiner besonderen Leistung bedurfte, sich von der Art abzuwenden, mit der die Nationalsozialisten die Juden behandelten. Spaemann war bei Kriegsausbruch zwölf Jahre alt. Es kam dem Jugendlichen nie die Versuchung, dieses Unrecht gutzuheißen. Das bedeutet für die Philosophie: Es gibt so klare Fälle bösen Handelns, dass es keiner weiteren Reflexion mehr bedarf, um es als solches zu erkennen. Seine einfache Wahrnehmung und die Intuition seiner moralischen Qualität liefern eine solche Evidenz, dass die nachträgliche Reflexion dieser Evidenz weder etwas hinzufügen noch sie verdunkeln kann. Auch wenn es andere Fälle gibt: In diesem Fall ist es nicht die Reflexion, die die Evidenz erzeugt, sondern es ist die Evidenz, die die Reflexion trägt und in Gang bringt. Allein die Treue zu seiner moralischen Intuition gibt dem Wider ständler die Kraft, der Tyrannei und ihrem Unrecht nicht nur in der Tat, sondern auch in Gedanken zu widerstehen, will sagen: nicht nur dem Unrecht selber, sondern auch seinen Rechtfertigungsversuchen. Der Versuchung zum Mitmachen geht die Versuchung voraus, die eigene moralische Überzeugung der Herrschaftsideologie anzupassen, das eigene Gewissen zu verbiegen. Nun gibt es philosophische Moralsysteme, die dem Widerständ ler in den Rücken fallen. Den Vertretern dieser Moralsysteme liegt es normalerweise völlig fern, irgendwelche Unrechtssysteme moralisch zu legitimieren. Dennoch fördern sie solche Legitimation, weil sie die Gültigkeit jener moralischen Intuition, aus der der Widerständler seine widerständige Überzeugung speist, in Frage stellen. Eines dieser Moralsysteme ist das Zwei-Ebenen-Modell von Richard M. Hare, das im deutschsprachigen Raum Peter Schaber in
1
Robert Spaemann, Über Gott und die Welt, Stuttgart 2012, 34.
9 https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
seinem Buch »Moralischer Realismus«2 übernommen hat. Es nimmt zwei Ebenen des moralischen Denkens an, die intuitive und die kriti sche. Die intuitive Ebene sei jene, auf der sich der Normalbürger im Alltag bewege. Dessen Intuitionen reichten zur moralischen Orientie rung aus, solange keine außergewöhnlichen Situationen aufträten. Dem kann man bis zu einem gewissen Grad zustimmen. Tatsächlich kann in moralischen Grenz- und Konfliktfällen eine Reflexion auf jene Prinzipien notwendig werden, mit deren Hilfe ich z.B. das Gewicht miteinander konfligierender, mir intuitiv einleuchtender Pflichten abwäge: Darf oder soll ich einen wichtigen, zugesagten Termin platzen lassen, um Erste Hilfe bei einem Unfall zu leisten? Darf ich eine Brü cke mit Zivilisten sprengen, um einen verheerenden terroristischen Anschlag zu verhindern? Das sind Fragen, bei denen die einfache Berufung auf Intuitionen nicht weiterhilft. Bis zu diesem Punkt ist das Zwei-Ebenen-Modell plausibel. Gefährlich wird es erst, wenn es dazu dient, die Intuitionen als letzte Quelle moralischer Erkenntnis auszuhebeln und an ihre Stelle ein konsequentialistisches Nutzenkalkül zu setzen. Genau das tut Schaber im Anschluss an Hare. Er streitet nicht ab, dass wir im Alltag von Intuitionen geleitet werden und dass eine Moraltheorie sie berücksichtigen muss, zumindest jene Intuitionen, die »unter informierten Beobachtern nicht umstritten sind«3. Auf der kritischen Ebene dagegen bewegt sich der Konsequentialist. Er weiß besser, was gut ist. Moralisch gut ist nämlich das, was den Interessen von Perso nen dient. Und woher weiß Schaber, dass darin das Gute besteht? Ist das Gegenstand einer Einsicht? Nein, sondern es ist das Ergebnis von Schabers Definition des Guten. Gegen den Einwand der Existenz alternativer Definitionsmöglichkeiten hält er das Argument parat, dass seine Definition durch den Konsequentialismus bestätigt werde. Dass sich hier die Katze in den Schwanz beißt und diese Bestätigung so ähnlich überzeugend ist wie z.B. eine evolutionstheoretisch argu mentierende Bestätigung einer biologischen Definition des Guten als Optimierungsprinzip der reproduktiven Fitness, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Für unser Thema ist entscheidend, dass für Schaber moralische Intuitionen, selbst wenn sie für die Ausbildung 2 Peter Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg im Breisgau, München 1997. R. M. Hare, Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt am Main 1992. 3 Moralischer Realismus, 315.
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
einer Moraltheorie als Prüfsteine dienen, dennoch nur vorläufige Gel tung haben. Sie unterliegen ihrerseits einer kritischen Überprüfung durch den Konsequentialisten, der weiß, dass das moralisch Gute in Wirklichkeit Gegenstand empirischer Untersuchung ist. Moralische Fragen verwandeln sich in empirische Fragen,4 weil es darum geht, herauszufinden, welche Handlungen am meisten den Interessen von Personen dienen. Die Folge ist, dass alle unsere moralischen Intuitionen unter konsequentialistischen Vorbehalt gestellt werden. Schaber bringt das Beispiel der moralischen Freundschaftsregel »Verrate den Freund nie.« Mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit spricht er aus, dass die Freundschaft »aus konsequentialistischer Sicht bloß einen instru mentellen Wert« habe. »Der moralische Grund, solche Beziehungen zu pflegen, liegt für den Konsequentialisten nicht in der Freundschaft selbst, sondern in ihrem Beitrag zur Wertmaximierung«.5 Daraus ergibt sich: Wenn sie solcher Wertmaximierung im Wege steht, kann der Verrat des Freundes eine erlaubte, ja sogar gebotene Hand lung werden. Dasselbe gilt für die Tötung eines Unschuldigen. Schaber refe riert das Beispiel Bernard Williams’ in dessen Kritik des Utilitaris mus:6 Jim wird von Pedro, dem Hauptmann einer südamerikanischen Armee, vor die Wahl gestellt, entweder einen von zwanzig gefangen genommenen Indianern zu töten oder nicht. Im ersten Fall lässt Pedro die anderen neunzehn frei, im zweiten Fall tötet Pedro alle zwanzig. Schaber plädiert für die konsequentialistische Antwort, d.h. für die Empfehlung an Jim, »einen Indianer zu töten, um neunzehn Men schen das Leben zu retten«7. Dabei macht er sich die Meinung Hares zu eigen, dass die moralische Intuition betreffs des Tötungsverbots Unschuldiger uns in solchen Ausnahmesituationen in die Irre führe.
Ebd. 142 f. Ebd. 301. Schaber spricht auch von einem intrinsischen Wert der Freundschaft. Den hat sie aber nach seiner Meinung nur für die Betroffenen aus deren persönlichen Perspektive, die als solche gerade nicht die moralische Perspektive ist. Mit anderen Worten: Freundschafstreue ist eine Sache von Eigeninteresse, nicht von Moral. Damit wird die Rede vom intrinsischen Wert der Freundschaft konterkariert. 6 Bernard Williams, Kritik des Utilitarismus, Frankfurt am Main 1979, 61–63. 7 Moralischer Realismus, 329. 4 5
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
Was Spaemann darüber denkt, erläutert er an einer wahren Begebenheit, die dem Beispiel Williams’ exakt entspricht: Die Nationalsozialisten stellten einen Polizisten vor die sadistische Alternative, eigenhändig ein zwölfjähriges jüdisches Mädchen zu erschießen oder in Kauf zu nehmen, dass zehn andere Juden erschossen würden. Der Polizist schoss. Er glaubte, die Verantwortung zu haben für den Tod der anderen, wenn er nicht geschossen hätte. Anschließend landete er in der Psychiatrie. Nein, er hätte diese Verantwortung nicht gehabt. Er hatte in diesem Augenblick nur die Verantwortung für das Kind.8
Warum landete der Polizist in der Psychiatrie? Man darf annehmen: weil er gegen sein Gewissen gehandelt und damit seine moralische Integrität zerstört hatte. Aus konsequentialistischer Sicht kann nach Schaber dagegen diese Sorge um die eigene Integrität »als eine Form der Selbstgefälligkeit verstanden werden«. Wenn Jim nicht schießt, drückt er sich »einfach um eine für ihn sehr unangenehme Handlung«.9 Moralität, wie sie sich uns in der Intuition erschließt, wird in konsequentialistischer Perspektive auf die Ebene des Ange nehmen/Unangenehmen herabgedrückt. In diesem Zwei-Ebenen-Modell kann also das, was auf der intuitiven Ebene als Unrecht erscheint, plötzlich zu einer moralisch guten Handlung mutieren. Das gilt, um ein letztes Beispiel zu brin gen, auch für die Folter. Thomas Nagel konstruiert den Fall, in dem der Moralakteur eine Dame zu der für eine Rettung mehrerer Personen notwendigen Hilfe nur bewegen kann, indem er ihrem Enkelkind erpresserischerweise den Arm umdreht.10 Nagel beruft sich auf unsere moralischen Intuitionen, die solche Kindesmisshandlung verbieten. Schaber, der diesen Fall in seinem Buch diskutiert, wider spricht: »Die moralische Intuition kann deshalb in diesem Fall nicht herangezogen werden«11. Er bezweifelt, dass es absolute Grenzen dessen gibt, was wir im Dienste des Guten tun dürfen. Natürlich könnte man das Umdrehen eines Arms als eine relativ milde Form der Folter ansehen. Aber wenn es keine absolute Grenze gibt, ist es nur eine Frage des Ausmaßes der Verschärfung einer Situation, um eine Steigerung der Qual zu rechtfertigen. Je mehr auf 8 9 10 11
Spaemann, Über Gott und die Welt, 260. Moralischer Realismus, 331. Thomas Nagel, Der Blick von nirgendwo, Frankfurt am Main 1992, 303. Moralischer Realismus, 361.
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
dem Spiel steht, umso eher darf ich auf dieses letzte Mittel der Folter zurückgreifen. Die Anfälligkeit des Menschen für solche Rechtferti gung wurde auf erschreckende Weise durch das berühmte MilgramExperiment erwiesen, das Spaemann oft in seiner Argumentation anführt: In einem fingierten wissenschaftlichen Experiment zur Erfor schung des Zusammenhangs zwischen Bestrafung und Lernerfolg war die Mehrzahl der Probanden, die die fingierte Versuchsanordnung für echt hielten, bereit, dem angeblichen Schüler immer stärkere Stromschläge zu versetzen bis zur Evozierung von markerschüttern den Schmerzensschreien und schließlich des vermeintlichen Todes. Aufkommende Gewissensbisse wurden vom Versuchsleiter erfolg reich mit dem Hinweis auf die alternativlose Notwendigkeit des Experiments für die Wissenschaft zum Schweigen gebracht. Hier zeigt sich: Die Akzeptanz des konsequentialistischen Nut zenkalküls geht mit der Anfälligkeit für kriminelle Verführung Hand in Hand. Ebenfalls damit verbunden ist die Bereitschaft, das eigene Gewissen an die Autorität der im Versuchsleiter verkörperten Wis senschaft zu delegieren. Das Zwei-Ebenen-Modell bietet für solche Entmündigung die ideale Grundlage. Von einer Autonomie der prak tischen Vernunft kann keine Rede mehr sein, moralische Erkenntnis wird zum Expertenwissen. Hare scheint sich dieser Gefahr bewusst zu sein, wenn er den Konsequentialisten davor warnt, als gefallener Engel zu enden.12 Um dieses Bild zu verstehen, muss man wissen, dass er die Metapher des Proleten und des Erzengels gebraucht, um in idealtypischer Weise den Denker der jeweiligen Ebene, der intuitiven einerseits und der kritischen andererseits, zu kennzeichnen. In der Realität sind wir immer eine Mischform: Oft ist unser moralisches Urteil intuitiv geleitet, manchmal kritisch konsequentialistisch. Den idealtypischen Denker der intuitiven Ebene nennt Hare im Anschluss an Orwells »1984« den Proleten, den der zweiten Ebene den Erzengel. Der Erzengel ist imstande, sich von allen persönlichen Rücksichten etwa auf Freunde und Verwandte frei zu machen und dem unparteiischen Nutzenkalkül zu folgen. Der Prolet dagegen ist sozusagen stumpfsin nig in seinen Intuitionen gefangen. Intuitionen erscheinen hier bei Hare vor allem als Hindernis zur Einnahme eines unparteiischen Standpunkts. Die positive Funktion, die er ihnen zuspricht, besteht in einem Rationalisierungseffekt: Sie ersparen durch die Anerkennung 12
Hare, Moralisches Denken, 92.
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
von Prima-facie-Pflichten die Mühe, das Rad jeweils neu zu erfinden und vor jeder Handlungsentscheidung mit der konsequentialistischen Nutzenberechnung ihrer Folgen von neuem zu beginnen. Zum Bei spiel: Gegebene Versprechen zu halten ist normalerweise nutzenma ximierend. Deshalb – und nur deshalb – sind wir dazu verpflichtet. Die Intuition des Verpflichtungscharakters eines Versprechens als solchem erspart die Nutzenberechnung, ähnlich wie die erlernte Kunst des Autofahrens den Ablauf der Wagensteuerung automatisiert und die kognitive Aufmerksamkeitsleistung entlastet. Die moralische Intuition ist für Hare keine Erkenntnis, sondern eine Handlungsdis position als Resultat der Verinnerlichung von Entscheidungsprinzi pien. Sie ist das Ergebnis von Erziehung und Gewohnheit.13 Wenn Hare nun den Konsequentialisten davor warnt, ein gefal lener Engel zu werden, dann warnt er vor einer möglichen Selbst überschätzung in der Fähigkeit, den unparteiischen Standpunkt ein zunehmen. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass die Einnahme dieses Standpunkts unvermeidlich ist. Der reine Erzengel hätte ihn dagegen immer inne, er »hätte intuitives Denken nicht nötig; alles würde im Nu von der Vernunft geleistet«.14 Die von den Intuitionen gelieferten Prima-facie-Pflichten sind gleichsam Abkürzungen im Berechnungsablauf der Handlungsfolgen. Der Engelverstand hätte diese Abkürzungen nicht nötig. Ein Problem ergibt sich aber für jene Proleten, die, weil von einer Situation überfordert, nicht imstande sind, den Engelsstandpunkt einzunehmen. Hare hat keine Scheu, quasi die Etablierung einer ethi schen Zwei-Klassen-Gesellschaft zu suggerieren, wenn er schreibt: Die prima-facie-Prinzipien selbst sind jedoch durch kritisches Denken auszuwählen; wenn nicht durch unser eigenes kritisches Denken, so eben durch das von denen, bei denen wir darauf bauen, dass sie dazu imstande sind.15
Im Milgram-Experiment wird eine solche Zwei-Klassen-Gesellschaft exakt widergespiegelt. Da einerseits den Probanden das Expertenwis sen zur Beurteilung des Experiments und seiner Relevanz für das Allgemeinwohl fehlt, andererseits ihre moralischen Intuitionen ihres kognitiven Wertes beraubt sind, haben sie kein Kriterium mehr zur 13 Ebd., 82. Noch ausführlicher hat Hare diesen Vergleich in seinem Frühwerk Die Sprache der Moral, Frankfurt am Main 1972, zur Erläuterung herangezogen: 88–92. 14 Moralisches Denken, 92. 15 Ebd. 94.
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
Hand, um den Erzengel vom gefallenen Engel zu unterscheiden. Dürfen sie dem Versuchsleiter vertrauen oder nicht? Sie sind dem Spruch der Wissenschaft hilflos ausgeliefert. Bei Schaber ist es ähnlich. Einerseits warnt er davor, die intuitive Ebene leichtfertig zu verlassen. Im Alltag ist sie eben ein relativ zuverlässiger moralischer Wegweiser. Auf der anderen Seite schildert er sie als eine defizitäre Ebene. Die Anerkennung von Rechten etwa hat auf der intuitiven Ebene ihren Sinn. Aber ein Konsequentialist, der den Überblick über alle Handlungsfolgen hätte und seine Moti vationsstruktur dem konsequentialistischen Nutzenkalkül vollkom men angepasst hätte, könnte auf die Anerkennung von Rechten als eigenständige moralische Größen verzichten. Denn die »Gründe, Rechte auf der intuitiven Ebene moralischen Denkens einzuführen, haben mit den kognitiven und motivationalen Beschränkungen zu tun, denen wir unterworfen sind,” schreibt Schaber.16 Es braucht dem Moralakteur der ersten Ebene also nur ein Mensch oder eine Partei glaubhaft zu versichern, dass sie jenen Beschränkungen nicht unter liege, um ihn in prekärer Situation dahin zu bringen, seine eigene moralische Einsicht zugunsten der Expertenmeinung oder der herr schenden Ideologie zurückzustellen. Aus der moralischen Intuition als Widerstandshort wird im Zwei-Ebenen-Modell das Hilfsmittel einer bloß provisorischen Alltagsmoral, die sich im Konfliktfall aus kognitiver Bescheidenheit dem Expertenwissen unterwirft. Die anfangs erwähnte Evidenz des Unrechts erlaubte es dem jugendlichen Spaemann, ohne weiteres Nachdenken solches Tun wie das der Nationalsozialisten kategorisch zurückzuweisen. Der Konsequentialist dagegen ist gezwungen, sich zunächst einmal auf eine Diskussion der es rechtfertigenden Ideologie einzulassen, um von deren Ausgang seine Entscheidung abhängig zu machen, ob er Widerständler, Mitläufer oder Komplize wird. Daraus ersehen wir: Es hängt alles an der Frage, ob es Intuitionen gibt, die moralische Standards markieren, an denen sich jede Theorie messen lassen muss, die aber ihrerseits von keiner Theorie in Frage gestellt werden dürfen. Es kommt alles darauf an, ob die moralische Intuition über den Wert der Theorie, oder die Theorie über den Wert der Intuition richtet. Natürlich gibt es moralische Grenzfälle, wo die Grenzen dessen, was man noch tun darf oder nicht, diskutiert werden müssen. Man kann auch darüber diskutieren, ob ein bestimmtes wahrgenommenes 16
Moralischer Realismus, 319.
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Zwischen Widerstandshort und Vorurteil
Türkis noch als Blau zu bezeichnen ist oder eher schon als Grün. Das schließt aber nicht aus, dass es klare Fälle von Blau gibt, selbst dann, wenn sie ihren Platz in einem Spektrum haben, dessen Übergang ins Grün kontinuierlich ist. Es gibt eindeutige Fälle von Unrecht, die eine Überzeugung solcherart in uns begründen, dass sie sich durch das Zitieren moralischer Grenzfälle nicht verunsichern zu lassen braucht. Solche eindeutigen Fälle ziehen eine Grenze, deren Übertretung die Infragestellung von Moral überhaupt bedeutet. In diesem Sinne schreibt Bettina Stangneth in ihrem fulminanten Essay Böses Denken über die Weigerung, Grenzen anzuerkennen, zu Recht: »Was für die Entwicklung des Menschen und seine Kultur ein Geschenk ist, entpuppt sich aber bei Fragen der Ethik als größter anzunehmender Unglücksfall.«17 Wird eine solche Grenze überschritten und die ihr zugrundeliegende moralische Intuition negiert, bleiben keine Argu mente mehr, um die Konstruktion der Rechtfertigung eines beliebigen Verbrechens a priori als illegitim zurückzuweisen. »Geht’s noch?« kann man dann höchstens noch mit Stangneth zurückfragen18 – oder mit Elizabeth Anscombe den Diskurs gleich ganz verweigern: Über jemand, der im Vorhinein denkt, »es sei fraglich, ob man nicht doch so eine Handlungsweise wie die gerichtliche Aburteilung und Hinrichtung eines Unschuldigen in Erwägung ziehen könnte«, d.h. also über den Konsequentialisten, der die Evidenz der moralischen Verwerflichkeit eines ungerechten Gerichtsurteils nochmals einer konsequentialistischen Abwägung unterwirft, schreibt sie: »I do not want to argue with him: he shows a corrupt mind.«19 Eine Theorie, die eindeutige moralische Fälle ins Zwielicht möglicher Diskutierbarkeit rückt, ist Ausdruck bösen Denkens oder – so würde ich vorsichtshal ber hinzufügen – besinnungsloser Reflexion, die nicht wirklich weiß, was sie tut. Die Reaktionen von Stangneth und Anscombe sollten aber nicht suggerieren, dass der Verweis auf die Intuition das Ende des Dis kurses bedeuten müsse. Die moralische Intuition ist kein isoliertes, rätselhaftes Phänomen. Das ist sie nur in bestimmten Weltbildern, z.B. im naturalistischen. Vielmehr kann sie verstanden werden als Knotenpunkt verschiedener Erkenntnislinien, vom dem aus dieselben Bettina Stangneth, Böses Denken, Hamburg 2016, 52. Ebd. 11. 19 G. E. M. Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy, Cambridge Univer sity Press 1958, Vol. 33 (Issue 124), 17.
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weiter- oder zurückverfolgt werden können. Insofern muss ich an dieser Stelle meine Aussage von oben, die Reflexion könne der Intuition nichts hinzufügen, modifizieren: Sie befreit sie aus der Isolation und stellt sie in einen sie stützenden Kontext. Dies hier weiter auszuführen, ist nicht der Platz. Ich möchte beispielhaft nur auf zwei solcher Projekte hinweisen. Das eine ist die »Metaphysik des Gewissens«, die der zu Unrecht vergessene Philosoph Helmut Kuhn in seinem Werk Begegnung mit dem Sein20 vorgelegt hat. Das andere ist Spaemanns Philosophie der Person21. Einer Metaphysik, in der gilt: Weil Personen Personen sind, verdienen ihre Interessen Beachtung (ja haben sie unveräußerliche Rechte), korrespondiert eine andere Ethik als einer, die behauptet, Personen seien zu achten, weil sie Interessen hätten. Die eine Ethik wird eher deontologisch, die andere eher konsequentialistisch sein. Durch das Weiterdenken unserer intuitiven Erkenntnisse entsteht ein Netz von Intuitionen, das in sich stimmig ist und ohne kognitive Gewaltakte auskommt, wie sie vielen Spielformen des Reduktionismus eigen sind. Die Intuition in einen Begründungszusammenhang zu stellen bedeutet, ihren Gegenstand in einen Sachzusammenhang zu stellen. Aber das Sehen selbst des Gegenstandes kann nie durch irgendetwas Anderes ersetzt werden. Ein Blick auf Thomas Nagel kann aus einer anderen Perspektive Erhellendes zu unserer Frage nach der Relevanz moralischer Intuitio nen beitragen. Auch er kennt ein Zwei-Ebenen-Modell. Es ist anderer Art als das von Hare und Schaber, aber in einem relevanten Punkt vergleichbar. Nagel unterscheidet die persönliche Innenperspektive, der allein phänomenale Gehalte aufgehen, und die objektivierende Außenperspektive der wissenschaftlichen Einstellung bzw. deren vor gebliche Perspektivenfreiheit. In seinem Werk Das letzte Wort22 wid met er sich diesem Problem in den verschiedenen Bereichen der Logik, der Wissenschaft, der Ethik usw. Wenn Außen- und Innenperspektive in Konkurrenz zueinander geraten, stellt sich die Frage, welche von ihnen das letzte Wort hat. Nagels Antwort ist klar: Es können nur mathematische Gründe eine mathematische Überzeugung vernünf tigerweise zu Fall bringen.23 Das heißt: In Sachen der Logik und 20 Helmut Kuhn, Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur Metaphysik des Gewis sens, Tübingen 1954. 21 R. Spaemann, Personen, Stuttgart 2019. 22 Thomas Nagel, Das letzte Wort, Stuttgart, 1999. 23 Ebd. 154 f.
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Mathematik dominiert »die interne Perspektive des Bewußtseins [...] jeden Versuch, sie der externen Perspektive der Physiologie und des Verhaltens unterzuordnen«.24 Niemand, so darf ich Nagels These erläutern, käme auf die Idee, z.B. die Überzeugung, dass a plus b gleich b plus a sei, aufzugeben aufgrund einer wissenschaftlichen Erklärung und »Entlarvung« unseres mathematischen Denkens mit Hilfe psy chologischer, physiologischer oder neurologischer Kategorien. Die Geltung des mathematischen Kommutativgesetzes der Addition kann nicht durch das Einnehmen einer Außenperspektive geknackt werden. Dasselbe gilt nun, so Nagel, für die Ethik. Dominanz der Innen perspektive bedeutet hier: Die Beschreibung unseres Verhaltens durch Wünsche, Interessen, Emotionen, Empfindungen, Gewohnheiten, Erziehung oder Kultur macht niemals die Frage »Was soll ich tun?« überflüssig25. Das heißt: Die moralische Frage kann niemals in bloß psychologischen Fragestellungen aufgehen. Die Erfahrung des Sol lens in der Innenperspektive kann niemals durch eine bloß psycho logische, behavioristische oder wie auch immer geartete wertfreie Außenperspektive eingeholt werden. In dem Moment, in dem man, wie Schaber es ausdrücklich tut, der Moralität nur instrumentellen Wert zumisst und moralisches Verhalten als interessegeleitet inter pretiert, hat man die ethische Innenperspektive oder, wie man auch sagen könnte, den moralischen Standpunkt bereits verlassen und sich damit aus dem Lichtkegel aller moralischen Intuitionen herausbege ben, die einem nur in dieser Innenperspektive begegnen können. Auf Hares Zwei-Ebenen-Modell angewandt, bedeutet dies: Die kri tische Ebene besitzt mit ihrem konsequentialistischen Kalkül nicht das geeignete Rüstzeug, um die in der anderen Ebene angesiedelte Intuition ihrer Autorität zu berauben. Im Gegenteil: Das »Sollen«, das der Konsequentialist für die Geltung seines Maximierungsprinzips beansprucht, ist im Grunde der Art nach dasselbe Sollen, das mir weitaus ursprünglicher und deutlicher in der Intuition der konkreten sittlichen Erfahrung aufleuchtet. Noch bevor ich weiß, dass ich das Wohl der Menschheit befördern soll, weiß ich, dass ich diesem verun glückten Kind, dem ich begegne und das hier und jetzt meiner Hilfe bedarf, beistehen soll. Und dass ich ein Kind aus welchem Grund auch immer nicht missbrauchen darf, weiß ich, bevor ich überhaupt auf die Idee komme, mir über allgemeine Regeln der Nutzenmaximierung 24 25
Ebd. 109. Ebd. 155.
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Gedanken zu machen. Die Plausibilität des Konsequentialismus lebt von der Erinnerung an das Sollen, das mir in der konkreten Intuition aufgeleuchtet ist und dessen Autorität er jetzt negiert. Sein Anspruch, die Innenperspektive der moralischen Einstellung zu dominieren, hat keine andere rechtfertigende Grundlage als jene, die ihm erst von der Innenperspektive geliefert wird. Dieser Dominanzanspruch ist ähnlich verfehlt wie im Bereich der Logik der Versuch des Psycholo gismus, die logische Innenperspektive zu dominieren, ein Versuch, der seit Frege und Husserl zu Recht kaum noch Anhänger hat. Es ist nicht verwunderlich, dass die Berufung auf moralische Intuitionen nicht überzeugt, wenn man einen Standpunkt einnimmt, der von jeder konkreten Intuition abstrahiert. Umgekehrt ist die Einnahme des moralischen Standpunkts, oder – in Spaemannscher Diktion – die Anerkennung von Personen als Personen immer ein freier Akt, der durch keine rationalen Gründe erzwungen werden kann, der aber seinerseits die rationale Dimension unserer Praxis überhaupt erst freisetzt.26 Das Misstrauen gegenüber jeder Berufung auf moralische Intui tion wird meistens begründet mit der Unmöglichkeit ihrer intersub jektiven Überprüfbarkeit und der Möglichkeit ihres Missbrauchs. Doch streng genommen sind die moralischen Intuitionen nicht priva ter als die je individuellen Sinneswahrnehmungen. Wilfrid Sellars und Richard Rorty ziehen daraus den umgekehrten Schluss und schließen die Sinneswahrnehmung als Rechtfertigungsinstanz von Behauptungen aus. Rechtfertigung wird ausschließlich zu einer Ange legenheit sozialer Praxis: »Für Sellars ist die Gewissheit von ›Ich habe Schmerzen‹ Resultat des Umstands, dass niemand sich die Mühe macht, diese Aussage in Frage zu stellen, nicht etwa umgekehrt«, referiert Rorty Sellars zustimmend.27 Nun, für den, der Schmerzen hat, ist das Urteil »Ich habe Schmer zen« wahr, gewiss und gerechtfertigt noch vor jeder sozialen Praxis, die er initiiert, indem er dieses Urteil in einen Sprechakt überführt. Und das Urteil bleibt es auch, unabhängig davon, ob seine Behauptung von Anderen in Frage gestellt wird oder nicht. Die Rechtfertigung 26 Den Begriff »rational« meine ich hier im starken Kantischen Sinne, der den Begriff der reinen Zweckrationalität (Max Weber) und einer rein instrumentellen Vernunft (Max Horkheimer) übersteigt. 27 Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main, 82017, 194.
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des Urteils besteht gerade nicht in seiner sozialen Akzeptanz. Und so geht es auch bei der moralischen Intuition erst nachträglich und in zweiter Linie um eine Argumentation im Kontext sprachlicher Verständigung, sondern zunächst einmal und hauptsächlich darum, dass ich für mich selbst Klarheit gewinne und vor mir selbst mein Urteilen, Entscheiden und Handeln rechtfertigen kann. Die Intuition, ausgelöst durch die Konfrontation mit einer Situation in der Außen welt, lässt mich das moralische Gesetz in mir selbst entdecken und erfüllt mich nicht weniger als der gestirnte Himmel »mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt«.28 Und selbst das Prüfungsverfahren, das Kant uns in der Form des kategorischen Imperativs an die Hand gibt, kann ich noch vor jeder Umsetzung in soziale Praxis für mich selber anwenden. Letztere kommt erst danach als Hilfe fürs anhaltende Nachdenken in Form von Rat und freundschaftlicher Besprechung ins Spiel. Hier brauche ich einen Sokrates, der mit mir in dieselbe Richtung schaut, mich auf dem Weg, den mir die Intuitionen weisen, begleitet, der mir durch seine Fragen zu einer tieferen Einsicht verhilft, der meine Aufmerksamkeit lenkt, damit ich nichts übersehe usw. Und erst dann und danach mag auf meine Intuition auch noch die Aufgabe zukommen, in kontroversen Debatten als Argument zu dienen mit dem Ziel, mein Gegenüber zu überzeugen. Und was die Möglichkeit einer missbräuchlichen Berufung auf die Intuition angeht, so ist auch das Umgekehrte möglich: ihre miss bräuchliche Leugnung, so dass das vorgeblich schweigende Gewissen zu einem Alibi wird: »Wo warst du, Adam? ›Ich war in meinem Gewissen – gehört das nicht mir?!‹”29 Wenn sich jemand auf seine ignorantia facti beruft – »Ich ahnte nichts von der Judenvernichtung«, – dann können wir ihm höchstens erwidern: »Dir das zu glauben fällt mir schwer.« Es ist unwahrscheinlich, aber möglich. Wenn sich aber jemand auf die ignorantia iuris berufen wollte – »Ich wusste nicht, dass die Judenvernichtung ein böses Verbrechen war« –, dann können wir ihm antworten: »Das hättest du wissen können und hättest du wissen müssen.« Dennoch bleibt wahr, dass die intersubjektive Verständigung über das sinnlich Wahrgenommene ein so müheloser Weg zur Kon 28 29
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 161. Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher, München 1947, 52.
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sensherstellung ist, dass normalerweise Kontroversen gar nicht erst entstehen, während dem Intuitionisten von seinen Gegnern mitunter sogar entgegengehalten wird, sie wüssten gar nicht, wovon er rede.30 Der Grund für diesen paradoxen Sachverhalt, dass ausgerechnet die Intuition als jener Akt, der uns Evidenz liefern soll, sich unserer Introspektion als etwas eher Opakes darbietet, soll hier unerörtert bleiben, weil es zu weit von unserem Thema wegführen würde. Mir scheint Platons Höhlengleichnis wie auch die Lichtmetaphorik einiges Erklärungspotenzial für dieses Paradox bereitzuhalten: Die Beweisschwierigkeiten, in die uns jemand bringen würde, der sich auf den Standpunkt stellte, er sehe nur Farben und wüsste nicht, was mit dem Wort »Licht« gemeint sei, scheinen mir strukturell ähnlicher Art zu sein wie jene, mit denen der Intuitionist zu kämpfen hat. Wichtiger ist mir in diesem Zusammenhang ein Umstand, auf den Alfred Cyril Ewing aufmerksam macht: Er versucht durch das Auffinden von immer extremeren Beispielen zu zeigen, dass es mora lische Sachverhalte gibt, über die kein geringerer Konsens als der über Dinge der Außenwelt herrscht. »Man soll nicht seine Mutter verspeisen, um mit einer neuen Art von Fleisch zu experimentieren« ist eines dieser Beispiele.31 Es hat über den Erweis eines solchen Konsenses hinaus noch den Vorteil, dass es uns mit einer existenti ellen Gewissheit konfrontiert. Für viele wird wohl gelten, dass sie im gelebten Ernst eher bereit sind, an der Existenz des Baumes zu zweifeln, den sie vor ihrem Haus sehen, als an der moralischen Wahrheit, dass sie ihre Mutter nicht verspeisen dürfen. Julian NidaRümelin stellt deshalb solche Fälle ethischer Wahrheitserkenntnis auf dieselbe Stufe wie die Sinneswahrnehmung: »Der Völkermord an den Juden war ein Unrecht, dies ist ähnlich einfach festzustellen, wie die Tatsache, dass dort ein Baum steht.«32 Reinhard Lauth geht noch einen Schritt weiter und etabliert die Erkenntnis des Guten als die (einzige) Verwirklichung dessen, was er mit Fichte »genetische Evidenz« nennt und die allein legitimer Ausgangspunkt allen Philosophierens sein 30 Vgl. z.B. Peter F. Strawson, Der ethische Intuitionismus, in: G. Grewendorf/G. Meggle (Hgg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt am Main 1974, 100–115, hier besonders 103. 31 A. C. Ewing, Value and Reality. The Philosophical Case for Theism, London 1974, 204; zitiert in Bernd Goebels Einleitung zu Ewing, Ethik. Eine Einführung, Hamburg 2014, LXI. 32 Julian Nida-Rümelin, Unaufgeregter Realismus. Eine philosophische Streitschrift, Paderborn 2018, 82.
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kann, da nur in ihr Erscheinendes und Erscheinung erkennbar in eins fallen.33 Tatsächlich ist die Frage sinnlos, ob das Gute als solches, wie es sich im Einzelfall eines Gewissensspruchs offenbart und um dessentwillen Widerständler wie die Mitglieder der Weißen Rose ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, in Wirklichkeit etwas anderes sei als das, als was ich es in meinem Gewissen erfahre. Denn jede solche Negation kann nur geschehen in Form einer Abgrenzung gegenüber dem wahren Guten, das ich dann doch wieder als ein mir Gegebenes voraussetze. Die Unausweichlichkeit des Sollens, von der Nagel an der oben erwähnten Stelle spricht, ist nichts anderes als die ins Normative gewendete Unvermeidlichkeit des Guten, die George Edward Moore in seinem berühmten Argument der offenen Frage vor aussetzt.34 Und wenn dieses Gute legitimerweise so ins eigene Leben aufgenommen werden darf, dass es das Leben kostet, dann sollte es legitimerweise auch so ins Denken aufgenommen werden dürfen, dass es allein jene Instanz ist, um derentwillen das Denken notfalls jedes andere Urteil preiszugeben bereit wäre. Mit anderen Worten: Es läuft auf einen performativen Selbstwiderspruch hinaus, in der gelebten Praxis dem Guten den obersten Rang einzuräumen, seiner Erkenntnis aber die epistemische Respektabilität abzuerkennen. Dass deren Anerkennung nicht durch logisches Denken erzwungen werden kann, spricht nicht gegen sie. Das Gegenteil ist der Fall: Genetische Evidenz bedeutet hier auch ein Übersteigen der apodiktischen Evidenz im Sinne des Ausschlusses eines jeden möglichen Verdachts, sie könnte das Ergebnis eines nicht durchschauten Denkzwangs sein. Die Anerkennung des Guten kann sich sowohl im Handeln wie im Denken immer nur in Freiheit vollziehen. Mit anderen Worten: Die Suche nach einer Gewissheit, die mir die freie Entscheidung für das Gute – und zwar nicht nur im Handeln, sondern schon zuvor im Erkenntnisvollzug – abnimmt, ist aussichtslos. Erkenntnis des Guten ist ohne freiwillige Anerkennung seines Charakters als des Guten und damit als Quelle einer normativen Inanspruchnahme meines Willens nicht zu haben. Gerade weil sowohl die existentielle als auch die epistemische Konformität mit dem Guten sich nur in Freiheit vollziehen kann, bringt sich das Gute seinerseits der Intuition nicht nötigend zur Selbstgegebenheit, sondern rechtfertigend, nämlich sich 33 Reinhard Lauth, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München 1967, 78 und 95 f. 34 Vgl. G. E. Moore, Principia Ethica, Stuttgart 1970, 46 f.
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selbst und in eins damit die ihm sich öffnende Freiheit rechtfertigend. »Evidenz des Guten« ist gleichbedeutend mit dem, was Stangneth über die Moral schreibt: »Kein Licht, das dem Menschen aufgegangen ist, strahlte je heller«.35 Bei Schaber ist von diesem Licht nicht viel zu merken. Im Gegenteil, bei ihm wird es zu einer Illusion. Als Externalist bestreitet er die motivierende Kraft moralischer Überzeugungen, obwohl wir im Alltag uns manchmal einbilden, deshalb moralisch zu handeln, weil wir es für richtig halten. In Wirklichkeit sind wir nach ihm in unserem moralischen Handeln und Urteilen interessegeleitet. Der Internalist »fällt einer Illusion zum Opfer, die im gesellschaftlichen Interesse an moralischem Handeln begründet ist.«36 Wir haben, so Schaber, ein Interesse daran, dass sich Menschen moralisch verhalten, »da wir moralisches Handeln brauchen, um unser Zusammenleben erträgli cher« zu machen. Wenn dem aber so ist, dann, so müssen wir Schaber entgegenhalten, ist das Interesse am erträglichen Zusammenleben dasselbe Interesse, das unter einem Unrechtsregime Menschen dazu verführt, Mitläufer zu werden. Denn das Leben eines Widerständ lers kann ja ziemlich unerträglich werden. Die Identifizierung des moralischen Standpunkts mit dem Interessenstandpunkt bedeutet seine Leugnung, ähnlich wie in der Philosophie des Geistes die Iden tifizierung desselben mit dem Gehirn auf dasselbe hinausläuft wie seine explizite Leugnung. Ich halte deshalb die übliche Subsumtion des moralischen Naturalismus unter den Begriff des moralischen Realismus für irreführend.37 Schaber nennt seinen Naturalismus einen schwachen Naturalis mus, weil die Interessendienlichkeit des Handelns, mit der er das Gute identifiziert, eine soziale Tatsache ist und nicht eine natürliche im Sinne der Naturwissenschaften. Das ändert nichts daran, dass die Identifizierung des Guten mit dieser Tatsache das Gute zum Ver Stangneth, Böses Denken, 9. Moralischer Realismus, 216. 37 Das ist auch der Grund, warum im Zwei-Ebenen-Modell der moralische Realismus von Schaber so gut mit dem Antirealismus von Hare zusammenpasst. In Wirklichkeit eliminieren beide das Gute und machen damit seine Intuition überflüssig: der eine durch die Identifizierung des Guten mit der objektiven Interessendienlichkeit von Handlungen, der andere durch seine Identifizierung mit subjektiven Akten der Billigung, oder kürzer: der eine durch den naturalistischen Fehlschluss, der andere durch den Präskriptivismus. An die Stelle der Intuition tritt bei Schaber die Empirie, bei Hare ein nonkognitivistischer Dezisionismus. 35
36
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schwinden bringt. Warum soll ich ein interessendienliches Handeln noch »gut« oder »moralisch« nennen, wenn diese Ausdrücke per definitionem nichts anderes bedeuten als »interessendienlich«? Das Verhalten des Widerständlers in einer Gesellschaft von Mitläufern kann in dieser Definition nicht mehr untergebracht werden, denn er handelt weder im eigenen Interesse noch in dem der gesellschaft lichen Mehrheit. Wenn wir Schabers naturalistischen Maßstab ernst nehmen, dann ist lebensgefährliche Zivilcourage nicht moralisch, sondern töricht. Da sind Naturalisten wie der Soziobiologe Edward O. Wilson konsequenter, wenn sie jede Form des Altruismus, die nicht auf egoistischen Interessen beruht, als irrational ansehen.38 Solche Konsequenz scheut Schaber. Im Gegenteil: Er führt die Moralität jenseits seiner eigenen Definition wieder ein, um moralische Interessen von egoistischen Interessen zu unterscheiden. Egoistische Interessendienlichkeit als moralisch gut zu bezeichnen, entspreche »nicht unseren Intuitionen«.39 Hier erscheint die Intui tion als Ausschlusskriterium egoistischer Interessen und damit als Präzisierungswerkzeug für seine Definition des Guten, die nun um die Bestimmung ergänzt wird, dass unmoralische Interessen nicht berücksichtigt werden dürfen. Mit anderen Worten: Schaber definiert »moralisch gut« als die Befriedigung von Interessen, die moralisch gut sind. Es gibt in seinem Buch weder einen Versuch, diesen Zir kelschluss aufzuheben, noch ein Bemühen, den Intuitionsbegriff zu klären. Was ist der Gegenstand der Intuition? Wie kann sein Gegenstand das Moralische sein, wenn das Moralische, wie Schaber an mehreren Stellen ganz in Einklang mit seiner naturalistischen Definition betont, Gegenstand empirischer Untersuchung ist? Aber es kommt noch schlimmer: Seine Einschränkung der naturalistischen Definition des Guten auf moralische Interessen macht er wieder rück gängig, wenn er betont, dass sie nur auf der intuitiven Ebene gelte, nicht auf der kritischen.40 Auf dieser Ebene seien alle Interessen als relevant anzusehen. Damit wird die mögliche Korrekturfunktion der moralischen Intuition gegenüber dem konsequentialistischen Kalkül ausgehebelt. Konsequenterweise müssten nach diesem Kalkül die Taten von Widerständlern wie etwa den Mitgliedern der Weißen Rose nicht nur als töricht, sondern als moralisch verwerflich beurteilt 38 Wilson, Altruismus, in: Kurt Bayertz (Hg.), Evolution und Ethik, Stuttgart 1993, 133–152, hier 138–140. 39 Moralischer Realismus, 122. 40 Ebd. 125.
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werden, weil und insofern sie den egoistischen Interessen der natio nalsozialistisch eingestellten Bevölkerungsmehrheit zuwiderliefen. Wenn es nicht mehr auf die Qualität, sondern nur noch auf die Quan tität der Interessen ankommt, die bei der moralischen Qualifizierung einer Handlung eine Rolle spielen, dann kann jedes Engagement zugunsten der Rechten einer Minderheit als Verrat am Gemeinwohl verurteilt werden. Selbstverständlich zieht Schaber diese Folgerung nicht. Er chan giert je nach Bedarf zwischen der intuitiven und der kritischen Ebene hin und her. Er lebt von der moralischen Intuition wie vom Geruch einer Flasche, die er mit Hilfe des konsequentialistischen Kalküls geleert hat. Das wird besonders an den Stellen deutlich, an denen Schaber für die Abwägung der Handlungsfolgen die Einnahme eines unparteiischen Standpunktes anmahnt. Auf der einen Seite kann er nur im Eigeninteresse die praktische Kraft moralischer Urteile verorten, auf der anderen Seite nimmt er in der Handhabung des kon sequentialistischen Kalküls wie selbstverständlich stets den unpartei ischen Standpunkt ein. Wie ich den Sprung vom egoistischen zum unparteiischen Standpunkt vollziehen kann und warum ich das soll, diskutiert Schaber an keiner Stelle seines Buches. Ich habe oben erwähnt, dass Schaber für eine Berücksichtigung der Intuitionen in der Ausarbeitung einer Moraltheorie plädiert. Schaut man sich genauer an, wie er selbst die Berücksichtigung prak tiziert, dann wird klar, dass er die Intuitionen nicht als Quelle morali scher Einsicht, sondern bloß als psychologische Fakten berücksichtigt. Wir sind z.B. so konditioniert, dass wir Rechten ein eigenes morali sches Gewicht beilegen, Eltern einen Interessenvorzug ihren eigenen Kindern gegenüber im Vergleich zu fremden einräumen usw. Wenn Intuitionen keine eigene moralische Autorität besitzen, sondern nur Konditionierungsfaktoren unseres Verhaltens sind, könnte man auch die umgekehrte Folgerung ziehen, nämlich dass der Konsequentialist sie nicht als etwas Unabänderliches akzeptiert und in seinem Kalkül berücksichtigt, sondern die Konditionierung zu ändern sucht. Schaber ist nicht so konsequent wie C. S. Lewis, der diese Konsequenz in seinem Buch »Die Abschaffung des Menschen« zieht – in kritischer Absicht: nämlich um zu zeigen, wie schnell die Gesellschaft in die zwei Klassen der Konditionierer und der Konditionierten zerfallen kann.41 Eine solche Zweiklassengesellschaft wäre nichts anderes als 41
C. S. Lewis, Die Abschaffung des Menschen, Einsiedeln 41993, 62 ff.
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die konsequente soziale Umsetzung des Zwei-Ebenen-Modells. Sie wird möglich, sobald es Menschen mit genügender Macht zu dieser Umsetzung gibt und mit einer Ideologie, die das konsequentialistische Kalkül benutzt, um ihre Praktiken zu rechtfertigen. Das Ziel, in deren Dienst diese Praktiken stehen, muss nur hehr genug sein, um sie zu rechtfertigen, so unmoralisch sie unseren Intuitionen auch erscheinen mögen. Die moralischen Intuitionen, die gegen sie ins Feld geführt werden, erscheinen dann als Vorurteile unaufgeklärter Prole ten, Prima-facie-Pflichten als bloße Gewohnheiten, die einst ihren Sinn hatten, jetzt aber nur Störfaktoren des moralischen Fortschritts sind. Für Hannah Arendt besteht das Unheimliche und Erschreckende der Nazizeit auf ideologischer Ebene gerade darin, dass die seit 2500 Jahren geltende Moral plötzlich nur noch als eine Sammlung von mores, von Sitten und Manieren, von Gebräuchen und Gewohnheiten angesehen wurde. Die »Existenz eines Gewissens, das mit gleicher Stimme zu allen Menschen spricht«,42 wurde in Abrede gestellt. Wenn Moral auf elementarer und grundlegender Ebene nicht mehr Sache moralischer, jedem Menschen zugänglicher Intuition ist, dann hat der Widerständler keine Rechtsgrundlage mehr. Aus dem Kämpfer gegen das Unrecht wird ein Bremser des Fortschritts und ein Verräter am Gemeinwohl. Man kann nicht beides haben: Spaemann zu seinem Verhalten gratulieren und gleichzeitig die moralische Ein sicht in Misskredit bringen; dem Otto Normalbürger die Verantwor tung zum Widerstand aufbürden, gleichzeitig aber seine moralischen Intuitionen sabotieren – egal, ob in guter oder schlechter Absicht.
42 Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Jerome Kohn. München 122017, 11.
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Ringen um das Menschenbild Ist der Konstruktivismus eine Alternative zum Naturalismus?
»Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht,” meinte einst Joseph Ratzinger.1 Die Frage, ob dies zutrifft, ist von nicht zu überschätzender Bedeutung für unser Selbstverständnis. Welche Alternative gibt es dazu? Ratzin ger selber nennt sie: Es ist der Gedanke, dass wir »das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution« seien. Es stehen sich Theismus und Materialismus gegenüber. Jener erklärt den Menschen »von oben«, dieser »von unten«. Abgesehen von solchen Theorien wie dem Pantheismus oder Panpsychismus, die fast nur von vereinzelten Philosophen vertreten werden, sind das die beiden einzigen großen Alternativen, die Antwort auf die Frage nach unserem Selbstverständnis geben. Dabei hängt die Frage, was der Mensch ist, eng zusammen mit der, woher er kommt. Wenn der Mensch aus der Materie stammt, dann muss alles, was ihn ausmacht, materialistisch erklärt werden, auch das, was wir das Geistige nennen, wie Vernunft, Wille, Freiheit, Moral – also alles, was den Menschen als Person auszeichnet. Das stellt den Materialisten natürlich vor gewaltige Probleme. Stammt der Mensch dagegen von Gott, wird dies alles sofort plausibel: Dann ist der Mensch trotz und in seiner Leiblichkeit Geist von Geist, Person von Person. Er ist mit Vernunft und Wille begabt, weil er ein Ebenbild Gottes ist. Seit Darwin glaubt der Materialismus, mit der Evolutionstheo rie endlich das wissenschaftliche Instrumentarium in der Hand zu haben, um das so sperrige Phänomen »Mensch« als ein Produkt der Materie interpretieren zu können. »Zufall und Notwendigkeit« in Form von Mutation und Selektion haben, die Evolution steuernd, den Schöpfer ersetzt, wie der berühmte Biologe und Nobelpreisträger
1
Am 24. April 2005 in seiner hl. Messe zur Amtseinführung als Papst Benedikt XVI.
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Ringen um das Menschenbild
Jacques Monod 1970 in seinem gleichnamigen Bestseller ausführlich darzulegen sich bemühte. Das philosophische Verfahren, um Phänomene wie Vernunft, Wille, Freiheit und Moral materialistisch zu interpretieren, lautet Naturalisierung. Produkt der Evolution zu sein bedeutet, ein Produkt der Natur und damit selber ein Stück Natur zu sein. Natur aber ist in naturwissenschaftlicher Sicht nichts anderes als ein durch Naturgesetze geregelter, materieller Determinationszusammenhang. Es gibt keine »Gespenster«, die in diesen Zusammenhang eingreifen, lautet das Credo der Naturalisten. Das bedeutet: Es gibt keinen freien Willen, es gibt keine freien Handlungen, es gibt keine Personen. Der Mensch ist bloß ein hochentwickeltes Tier, das wie alle Tiere letztlich vollständig durch seine Triebe, Instinkte und Neigungen gesteuert wird. Gewaltige Schützenhilfe bekommt das Naturalisierungsprojekt seit einigen Jahrzehnten von den Neurowissenschaften. Sie erklären unser Denken, Wollen und Handeln als ein Produkt neuronaler Prozesse, die ihrerseits naturgesetzlich vollständig determiniert sind. Für Freiheit bleibt kein Raum mehr. Freier Wille, Zurechenbarkeit von Handlungen und Verantwortung werden als Illusionen unseres Selbstverständnisses entlarvt. »Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus«, verkündeten elf führende Neurowissenschaftler in einem 2004 veröffentlichten Manifest.2 Die Neurowissenschaft treibt die Naturalisierung noch einen Schritt weiter voran als die Evolutionstheorie: Ist der Biologe davon überzeugt, dass der Mensch bloß ein höherentwickeltes Tier sei, verwischt der Neurologe sogar den Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Es sind chemische und elektrische Prozesse im Gehirn, die Bewusstsein erzeugen und den Menschen in seinem Verhalten steuern. Die künstliche Erzeugung von Bewusstsein ist deshalb in den Augen optimistischer Naturalisten nur noch eine Frage der Zeit. Der Hirnforscher Stanislas Dehaene beispielsweise sieht keinen Grund, entsprechend intelligent sich verhaltenden Maschinen das Bewusstsein abzusprechen. Die Grenzen zwischen Simulation und 2 Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Geist und Gehirn. Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, 6/2004, 30-37. Zitiert von Jürgen Habermas in: Habermas, Das Sprachspiel ver antwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit, in: Peter Janich (Hg.), Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008, 15–29, hier: 15.
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Wirklichkeit zerfließen: Künstliche Intelligenz ist nicht mehr bloß eine Simulation des Gehirns, sondern dessen gleichwertiger Ersatz. Ob man mit Daniel Dennett die Existenz menschlichen Bewusstseins leugnet oder der Maschine Bewusstsein zuschreibt, spielt im Endef fekt keine Rolle: Beides läuft auf dasselbe hinaus. Nun gibt es eine große Strömung in der Philosophie, die solche Naturalisierungsvorhaben entschieden ablehnt und sich trotzdem einer Alternative in Form des Theismus entzieht: der Konstruktivis mus. Er erklärt das Körper-Geist-Problem zu einem Scheinproblem, dem sowohl die Naturalisten aufsitzen wie die Dualisten, die an der Verschiedenheit von Geist und Materie festhalten. Die Frage nach der Herkunft des Menschen wird nicht beantwortet, sondern als Scheinproblem einfach zur Seite geschoben. Ich will diese Strategie anhand eines Textes von Peter Janich erläutern.3 Janich versteht sich zwar nicht als Konstruktivist, aber sein sogenannter Methodischer Kulturalismus ist de facto eine Spielart des Konstruktivismus. Janich macht geltend, dass die Naturwissenschaftler mit den Mit teln ihrer Wissenschaft ihr eigenes Tun nicht reflektieren können. Der wissenschaftliche Charakter dieses Tuns wird z.B. durch kulturhistori sche Umstände gesichert, die sich »der naturwissenschaftlichen Erfas sung entziehen.« Allerdings könnte, so meine ich, dagegen eingewen det werden, dass der Ehrgeiz des Naturalisierungsprojekts gerade in dem Ansinnen besteht, auch die Wissenschaft – wie jedes menschli che Handeln – in die von den Naturwissenschaften bereitgestellten Beschreibungsmuster und Erklärungsparameter hineinzuzwängen. Der philosophisch versierte Naturalist könnte die Schwierigkeiten, denen dieses Unterfangen begegnet, als ein bloß linguistisches Prob lem deuten, nämlich als ein solches der Übersetzung von einem Sprachspiel ins andere, vom lebensweltlichen ins naturwissenschaft liche. Der Aufweis der Unmöglichkeit solcher Übersetzung müsste zeigen, dass durch diese Übersetzung notwendigerweise substanzielle Einsichten in das Wesen des Menschen verlorengehen. Janich ist weit davon entfernt, sich dieser Mühe zu unterziehen. Seine weitere Argumentation setzt ganz woanders an. Janich verwandelt das Körper-Geist-Problem in die Aufgabe, den Kategoriensprung zwischen Körper und Geist aufzulösen. Die Natur 3 Peter Janich, Naturwissenschaft vom Menschen versus Philosophie, in: Janich (Hg.), Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008, 30–51.
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wissenschaften können, so meint er, diese Aufgabe nicht lösen, weil sie infolge des Logischen Empirismus nur zwei Weisen kennen, das Verhältnis zwischen Körper und Geist zu charakterisieren: die formale und die empirische. Die formale bestimmt er als die logisch-definito risch-mathematische, die empirische als die experimentell-kausale. Was will Janich damit sagen? Es bedeutet: Wenn wir uns die Frage stellen, wie sich Geist (Wille, Freiheit, Moral) und Körper (Natur, Gehirn, Materie) zueinander verhalten, dann stehen uns zwei Mög lichkeiten zur Verfügung, dieses Verhältnis zu beschreiben. Entweder halten wir sie für zwei verschiedene Wirklichkeiten. Dann stellt sich sofort die Frage, wie sie aufeinander wirken. Ist unser Denken und Wollen durch die Vorgänge im Gehirn determiniert? Gibt es eine umgekehrte Kausalität, die darin besteht, dass wir durch unseren Willen in die materielle Welt einwirken und z.B. eine Handlung initiieren können? Oder aber – das ist die zweite Möglichkeit - wir identifizieren beide miteinander und erklären den Geist zu einem Epiphänomen der Materie oder gar zu einer Illusion. Das tut z.B. Daniel Dennett, für den das Bewusstsein eine Benutzerillusion des Gehirns ist. Diese Kontroverse zwischen Dualismus und Monismus beherrscht die philosophische Diskussion um das Körper-Geist-Prob lem. Die Dualisten stehen vor dem Problem, eine Wechselwirkung zwischen Geist und Materie zu erklären und sie mit dem naturwissen schaftlichen Dogma des Determinismus zu vereinbaren, die Monisten schaffen das Problem mit einem logischen Trick aus der Welt, indem sie den Geist durch die Materie definieren. Für Janich geht diese Kontroverse am Kern des Problems vorbei. Er führt eine dritte Art der Verhältnischarakterisierung ein, nämlich die Zweck-Mittel-Beziehung. Wer nun denkt, dass Janich im Begriffe steht, der Spaemannschen Rehabilitierung des Teleologiegedankens Schützenhilfe zu leisten, wird schnell enttäuscht sein. Denn diese Zweck-Mittel-Beziehung betrifft nicht Körper und Geist, also das, worüber wir sprechen, sondern unser Sprechen selbst. Es handelt sich um die Beschreibung des Tuns des Naturwissenschaftlers aus dessen Vollzugsperspektive. Mit anderen Worten: Es geht nicht mehr um das Sachproblem, sondern um das Sachbeschreibungsproblem. Janich sagt es in aller Deutlichkeit: »Alle Beispiele von Körper-GeistVerhältnissen müssen unausweichlich in Form ihrer Beschreibungen
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oder Modellierungen diskutiert werden«4. Und dann wird die Sache plötzlich ganz einfach, denn »der Kategoriensprung vom Körper zum Geist löst sich auf in ein Mittel-Zweck-Verhältnis der betref fenden Beschreibungen.« Wie das? Nun, die naturwissenschaftliche Beschreibung ist der Zweck. Bevor wir diesen Zweck erreichen, müssen wir wissen, was wir überhaupt erklären wollen. Das ist das uns lebensweltlich Bekannte, also z.B. der Mensch, den wir mit den Mitteln unserer Alltagssprache beschreiben. Folglich ist dies das Primäre, und nicht, wie die Naturalisten meinen, die niedrigeren organismischen Systemeigenschaften, aus denen heraus die Evoluti onstheoretiker die Genese des Menschen zu erklären beanspruchen. Überhaupt gilt: »Was unter welchen Kriterien als primär und was als sekundär zu gelten hat, ist immer eine Urheber-abhängige Entschei dung.«5 Schauen wir genau hin, was hier eigentlich passiert. Das Sachpro blem wird durch das Beschreibungsproblem ersetzt, und zwar mit dem Anspruch, dass durch die Lösung des Letzteren das erstere nicht etwa gelöst, sondern als Scheinproblem entlarvt werde. Die Entdeckung der Sprache als Mittel der Wissenschaften, als deren Leistung der linguistic turn kurz bezeichnet werden kann, enthält ja die Aufgabe, Scheinprobleme, die bloß aufgrund inadäquater Sprache erzeugt sind, von solchen (›echten‹) Problemen zu unterscheiden, die nicht im Bereich der sprachlichen Formulierung, sondern z.B. im Bereich des Empirischen entschieden werden müssen.6
Handelt es sich beim Körper-Geist-Problem also tatsächlich nur um ein Scheinproblem? Die Antwort von Janich ist klar: Wer aber den Kategoriensprung vom Körperlichen zum Geistigen zum Problem stilisiert, hat damit genau dieses Postulat aus dem linguis tic turn verletzt: Denn es sind ja immer die eigenen Analysen und Beschreibungen der beiden Bereiche, die wiederum mit den Mitteln der Sprache ins Verhältnis gesetzt werden.7
Es war Gilbert Ryle (1900–1976), der als erster von einem Katego rienfehler sprach, wenn nach dem Verhältnis von Körper und Geist gefragt wird. Richard Rorty (1931–2007), der den Ausdruck linguistic 4 5 6 7
Janich, Naturwissenschaft vom Menschen, 46. Ebd. 47. Ebd. 48. Ebd.
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turn etablierte, ging noch weiter und erklärte alle Probleme der Philosophie seit Platon zu Scheinproblemen, weil die Philosophen fälschlicherweise davon ausgingen, es gehe bei Erkenntnis um die Spiegelung dessen, was ist. Diese Spiegeltheorie hat er von Grund auf verworfen und stattdessen alles Sprechen in eine soziale Praxis verwandelt, der es nur um Wirkung, nicht um Wahrheit gehe. Der Versuch, den Unterschied zwischen Geist und Materie zu eliminieren, ist eine Petitesse im Vergleich zur Rortyschen Herkulesanstrengung, die Grenze zwischen Fakt und Fiktion durchlässig zu machen. Rorty bereitet Widersprüchlichkeit in seinen Aussagen keine Schwierigkei ten: Er hält eine Zukunftsvision für möglich, in der »jede Rede, jeder Gedanke, jede Theorie, jedes Gedicht, jede Komposition und jede Philosophie« »vollständig voraussagbar« sein werden, nämlich »in einer rein naturalistischen Terminologie«. Umgekehrt wird niemand »in der Lage sein, seine eigenen Handlungen, Gedanken, Theorien, Gedichte, usf. vorauszusagen, bevor er sich für sie entschieden oder sie erfunden hat«, was wiederum »eine triviale Konsequenz dessen [sei], was es bedeutet, ›sich zu entscheiden‹ oder ›etwas zu erfinden‹.«8 Mit anderen Worten: Ob der Mensch determiniert oder frei sei, ist nur eine Sache der Sprache, die man wählt, um den Menschen zu beschreiben. Dieser Ausweg, mit Widersprüchen zu leben, steht jenem nicht offen, der am Darstellungscharakter der Sprache festhält, der also Beschreibungen noch für Beschreibungen hält, also für etwas, das sein Maß an einem Beschriebenen nimmt. Die Wirklichkeit jenseits der Beschreibung ist es, die darüber entscheidet, wie weit eine Beschreibung zutrifft oder nicht. Sie ist der Wahrmacher der Sätze, die über sie ausgesagt werden. Während Rorty diesen Wahrheitsund Erkenntnisbegriff ausdrücklich ablehnt, macht Janich um dieses Problem einen großen Bogen, um stillschweigend dann doch zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen. Als unhintergehbarer Ausgangspunkt fungiert für Janich unsere alltagssprachliche Verständigung über den Menschen. Es ist interes sant zu sehen, wie er, nachdem er die erwähnte anthropologische Frage als Scheinproblem erklärt hat, dem Naturalisierungsanspruch der Wissenschaft nichts mehr entgegensetzen kann als einen letzt lich hilflosen moralischen Appell. Er meint, dass »doch wohl kein besonnener Bürger« in rechtlicher Hinsicht die Berufung auf das R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt am Main, 2017, 419.
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Zentrale Nervensystem zulasse, um ein Verbrechen zu entschuldigen. Aber gerade nicht mangelnde Besonnenheit, sondern denkerische Konsequenz ist der Grund, warum Naturalisten sehenden Auges auf genau solche Verhältnisse möglicher Exkulpation zusteuern, wenn z.B. Gerhard Roth, wie Janich selbst berichtet,9 die Bestrafung von Mördern für absurd hält. Janich kann seinen Appell nicht mehr rational ausweisen. Im Kontext seines Gedankengangs ist dieser Appell keine Frucht seiner Reflexion, sondern deren nicht weiter begründete Voraussetzung. Er zeigt aber zugleich, dass Janich in der Streitfrage um die Freiheit des Menschen sehr wohl Partei ergreift, nämlich für jenen Standpunkt, der Freiheit voraussetzt und dem Naturalisierungsprojekt entgegensteht. Ob der Mensch frei ist oder nicht, ist eben doch kein Scheinpro blem, ebenso wenig wie die Frage, ob die Natur durchgängig deter miniert ist oder nicht. Und deshalb ist auch nicht die Frage sinnlos, wie sich beides zueinander verhält: Sind Freiheit und Determination miteinander vereinbar (Kompatibilismus)? Oder ist die Freiheit nur ein Schein (Naturalismus)? Oder ist Freiheit als das Andere der Natur wirklich (Dualismus)? Auch Kant war keinem Scheinproblem aufgesessen, als er die Lösung in einer Aufspaltung des Menschen in ein Glied der Sinnenwelt einerseits und in eines der Verstandeswelt andererseits suchte. Die Verschiebung des Problems von der Sachebene auf die Beschreibungsebene ist in Wirklichkeit eine Verdrängung. Janich lässt das Sachproblem einfach nur unbeantwortet links liegen, um eine Antwort zu präsentieren, die ein ganz anderes Problem betrifft. Das lässt sich leicht an dem Beispiel der Uhr demonstrieren, das er zur Illustration heranzieht: Das Räderwerk einer Uhr ist vollständig kausal determiniert. Ihre Fähigkeit, die Zeit exakt anzuzeigen, paral lelisiert Janich nun mit jenen Eigenschaften, die von Evolutionstheo retikern als emergent bezeichnet werden. Der Begriff »Emergenz« soll ausdrücken, dass Eigenschaften als völlig neue (z.B. geistige) aus der Konstellation niedrigstufiger Eigenschaften (z.B. physiologische Eigenschaften des Gehirns) auf bisher ungeklärte Weise entstehen. Er soll den Hiatus zwischen der zu erwartenden Ähnlichkeit mit ihrer Herkunft (der Materie) und der tatsächlich bestehenden Unähnlich keit mit ihr überbrücken. Diese rätselhafte Emergenz wird nun von 9
Janich, Naturwissenschaft vom Menschen, 30.
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Janich durch den Vergleich mit der Leistungsfähigkeit der Uhr entmy thologisiert: Die höheren Systemeigenschaften emergieren also nicht in einem geheimnisvollen, Kausalität und logische Konsistenz bewahrenden und doch nicht vorhersagbaren Emergenzgeschehen aus den niedri geren, sondern werden ihnen (in Be- und Vorschreibungen) vorgege ben.10
Janich will also die Emergenztheorie dadurch ad absurdum führen, dass er das Problem, das sie lösen will, als Scheinproblem entlarvt. Die Frage der Herkunft der geistigen Leistungen des Menschen ist für ihn genauso unproblematisch wie die nach der Herkunft der Leistungsfä higkeit der Uhr. Diese kann erklärt werden durch die Tatsache, dass ihr Zweck (die Zeitmessung) dem Mittel (der zweckmäßigen Konstruk tion der Uhr) vorausging, und zwar in der Planung des Uhrmachers. Der Zweck ist das Primäre. Der Uhrmacher »muß (methodisch) vor seinen Erfindungsschritten schon explizit wissen, wie die Uhr (...) funktionieren soll.« Janich nennt die Beachtung der richtigen Reihenfolge von Teilschritten im Vollzug einer Gesamthandlung das »Prinzip der methodischen Ordnung« (PmO). Der entscheidende Fehler der Naturalisten läge demnach einfach in der Vernachlässigung dieses Prinzips. Sie vergessen, dass sie in ihren naturalistischen Erklärungsversuchen immer schon das Explanandum als das Primäre voraussetzen, so dass die Materie ihre Rolle als das Primäre, aus dem heraus sich der Mensch erklären lässt, verliert. Nun unterschlägt Janich aber einen Unterschied, der diesen Vergleich um seine ganze Beweiskraft bringt: In seinem Beispiel geht es um die Konstruktion, im angeblichen Scheinproblem dagegen um die Beschreibung des zu Erklärenden. In beiden Fällen ist das PmO von völlig unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Im ersten Fall lehrt mich das Prinzip, den Zweck deshalb als das Primäre anzusetzen, weil er bereits vor der Konstruktion der Uhr als Absicht im Geist des Handelnden gegenwärtig ist. Der Konstrukteur weiß, was er will, und dementsprechend baut er die Uhr. Ob in allen anderen Fällen dem Explanandum diese primäre Stellung als Zweck einer Handlung zukommt oder nicht, kann ich nicht entscheiden, solange ich nicht die Frage nach seiner Herkunft beantworten kann. Und genau um diese Frage geht es bei der Herkunft 10
Ebd. 47.
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Ringen um das Menschenbild
des Menschen. Die These der Evolutionstheoretiker besteht ja gerade darin, die Phylogenese des Menschen nicht als Zweck einer Hand lung, sondern als zufälliges Produkt einer Evolution zu begreifen. Die Zweck-Mittel-Relation hat nur Erklärungsrelevanz auf der reflexiven Beschreibungsebene, nicht auf der Sachebene. Dass es sich hier um zwei verschiedene Paar Schuhe handelt, scheint auch Janich bewusst zu sein: Er versteckt diese Ambiguität in der unscheinbaren Verdoppelung »in Be- und Vorschreibungen«. In der Konstruktion der Uhr ist der Konstrukteur tatsächlich jener, der dem Konstrukt den Zweck vorschreibt und es in der Hand hat, das Konstrukt entsprechend teleologisch zu organisieren. Die nachträgli che Frage, woher es bloß komme, dass die Uhr es fertigbringt, die Zeit exakt anzuzeigen, erübrigt sich. Angesichts der Tatsache, dass der Konstrukteur nach dem PmO gehandelt hat, stellt sich die Frage, wie diese emergente Eigenschaft der Uhr aus ihren physikalischen Eigenschaften hervorgeht, als ein Scheinproblem heraus. Ganz anders ist der Sachverhalt, wenn das PmO nicht in der Konstruktion, sondern bloß in der Beschreibung des Explanandums seine Anwendung findet. In diesem Fall kann es die Frage nach seiner Herkunft gerade nicht beantworten. Ist der Mensch nun das Zufallsprodukt einer richtungslosen Evolution oder ist er Geist von Geist, Zweck eines wie immer gearteten Schöpfungsaktes, gewolltes Ziel eines bewussten Plans? In diesem Fall ist die Frage, wie aus Materie Geist, aus Determiniertem Freiheit, aus Vernunftlosem Ver nunft hervorgehen kann, eben kein Scheinproblem. Diese Sachfrage bleibt von der Frage, ob der Naturwissenschaftler das PmO korrekt anwendet oder nicht, unberührt. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Frage nach der Herkunft des Menschen nicht erst durch die Naturwissenschaft aufge worfen wird. Es ist eine Frage von allgemein menschlichem Interesse, in ihr bündelt sich das »Interesse der Vernunft« (Kant). Jeder aufge weckte Mensch wird früher oder später von der Frage nach seinem Woher und Wohin bewegt. Naturwissenschaftlich ist nur einer von vielen Antwortversuchen. Daneben gibt es viele andere: philosophi sche, religiöse, mythologische, künstlerische. Alle diese Antworten können mehr oder weniger zutreffend, verfehlt, aufschlussreich, ver wirrend, erhellend oder was auch immer sein. Aber dass sie bloß ein Scheinproblem betreffen würden, ist eine Idee, auf die erst Konstruk tivisten des 20. Jahrhunderts gekommen sind.
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Ringen um das Menschenbild
In Janichs Beispiel des Uhrmachers ist die Frage nach dem Ursprung der Uhr nur deshalb ein Scheinproblem, weil das Beispiel so gestaltet ist, dass sie schon von vornherein beantwortet ist. Im Falle des Menschen ist sie es nicht. Die Frage, woher der Mensch kommt, ist nicht trivial, auch nicht nach geschehener Reflexion auf die kulturelle Bedingtheit aller wissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Antwortversuche. Die Tatsache, dass die Frage nach der Herkunft der Uhr für uns kein Problem darstellt, macht die Frage nach der Herkunft des Menschen weder überflüssig, noch trägt sie etwas zu ihrer Lösung bei. Die von Janich beklagte Verblüffungsresistenz der Naturalisten beruht nicht, wie er meint, auf dem Vergessen mancher »Einsichten des linguistic turn«11, sondern auf der Einsicht, dass sich Sachpro bleme durch das Ausweichen auf die Beschreibungsebene nicht in Luft auflösen. Eine Frage zu verdrängen bedeutet nicht, ihre Antwort gefunden zu haben. Janich lässt seinen besonnenen Bürger, an den er appelliert, »selbstverständlich« auch den Unterschied zwischen Tier und Mensch hochhalten und daran festhalten, dass man zwar ein Tier, nicht aber einen Menschen als Sklaven besitzen könne. Es ist beruhigend, dass Janich auch auf der Sachebene Stellung bezieht. Sein Argument ist aber bloß ein linguistisches: »Mensch« sei »letztlich kein Gattungsbegriff der Naturwissenschaften, sondern ein Reflexionsbegriff der Moral- und Rechts- sowie der theoretischen Philosophie.«12 Auf dem Hintergrund der Abstinenz von jeglicher Sachargumentation nimmt sich dieses Argument allerdings eher wie ein Trick aus, den Naturwissenschaften die Deutungshoheit über die Frage nach dem Menschen zu entziehen. Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Deutungshoheit mit Argumenten zu bestreiten, die sich dem Sachproblem stellen. Christliche Denker wie Ratzinger oder Spaemann haben das getan. Sie haben mit Atheisten und Wissenschaftlern vom Schlage eines Monod gemeinsam, dass sie sich das Gespür für die ungeheure Relevanz der Frage nach der Herkunft des Menschen bewahrt haben: Ist er bloß ein »Zigeuner am Rande des Universums« (Monod) oder eine Person mit Geist und Würde, Ebenbild eines unendlich heiligen Gottes?
11 12
Ebd. 48. Ebd. 50.
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Ringen um das Menschenbild
Der Naturalismus verhindert bloß die richtige Antwort, der Konstruktivismus aber verdirbt das gesunde Denken.
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus Ein Blick auf die Philosophie Thomas Nagels
»What has gotten into Thomas Nagel? Two philosophers expose the shoddy reasoning of a once‑great thinker«, twitterte der Kognition swissenschaftler Steven Pinker 2012 nach der Veröffentlichung von Nagels Buch Mind and Cosmos1 und dessen Verriss durch Michael Weisberg und Brian Leiter in The Nation2. Die Überraschung Pinkers verwundert und offenbart Ignoranz. Denn das Buch des »einst großen Denkers« bringt gegenüber den vorangegangenen Veröffentlichungen weder etwas substantiell Neues noch markiert es eine denkerische Kehrtwendung, sondern zieht das Resümee jahrzehntelangen Denkens, jetzt lediglich die Fragwürdig keit der schon immer kritisierten, im Untertitel genannten Weltan schauung fokussierend. Trotz seiner Kritik am Naturalismus und Darwinismus ist Nagel Atheist. Warum? Und was ist von seinen Gründen zu halten? Da Nagel ein Philosoph ist, den man auch dort, wo man ihm nicht folgen kann, mit Gewinn und Genuss liest, halte ich es für lohnenswert, diesen Fragen nachzugehen.
Nagels Kritik des Reduktionismus und des Darwinismus Thomas Nagels Lebensthema ist das Problem der Vermittlung von subjektiver Innen- und objektiver Außenperspektive. In subjektiver Perspektive sind mir Erfahrungen wie Bewusstsein, Gefühle, Denken, logische und mathematische Gesetze, Freiheit, Verantwortung, Nor Nagel, Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo‑Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False, Oxford University Press 2012; deutsch: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013. 2 Ausgabe vom 3. Oktober 2012. 1
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
men, Werte und vieles mehr gegeben, die in der objektiven Perspek tive wissenschaftlicher Vernunft verschwinden oder zu verschwinden drohen. In der Außenperspektive ist der Mensch ein Lebewesen, ein Organismus und damit ein Stück Natur, das wie jeder andere Teil der Natur den Naturgesetzen unterworfen ist. Was z.B. in subjektiver Perspektive als (freie, verantwortliche) Handlung erscheint, wird in der objektivierenden Außenperspektive zu einem (determinierten) Naturvorgang, dem man es nicht ansieht, dass er etwas anderes sein soll als jedes andere durch Naturgesetze und die Konstellation der Ausgangsbedingungen unzweideutig festgelegte Ereignis. Schon in seinem berühmt gewordenen Aufsatz What Is It Like to Be a Bat?3 verteidigt Nagel das Recht der subjektiven Perspektive gegen jeden Ausschließlichkeitsanspruch der Außenperspektive. Keine noch so gründliche und fortgeschrittene wissenschaftliche Analyse der orga nischen und neurologischen Vorgänge, die etwa mit der Funktion des Fledermaus-Echolots verbunden sind, wird mir jemals die fehlende Erfahrung dieser Art von Orientierung ersetzen können, die allein mir zeigen könnte, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Ich kann diese Erfahrung nicht in die Sprache der Naturwissenschaft übersetzen. Das bedeutet umgekehrt, dass jede naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt notwendigerweise unvollständig bleibt. »Es ist sinnlos, die Verteidigung des Materialismus auf eine Analyse geistiger Phäno mene zu gründen, die es versäumt, sich explizit mit deren subjek tivem Charakter zu befassen.«4 Dieses Verdikt Nagels ist auf den weitverbreiteten Reduktionismus in der Geistphilosophie gemünzt, der glaubt, Bewusstseinsinhalte auf Gehirnvorgänge reduzieren zu können, und damit die subjektive Erfahrung als Erfahrung außen vor sein lässt – und damit auch alles, was mir nur in solcher Erfahrung zugänglich ist, wie etwa das Kantische Faktum der Vernunft. Die Reduktion der Gesamtwirklichkeit auf Naturtatsachen ist das Projekt des Naturalismus. Der Naturalismus als philosophisches Programm ist die Kapitulation der Philosophie vor den Naturwis senschaften. Er macht aus der Not eine Tugend. Die Not ist die methodische Selbstbeschränkung der Naturwissenschaften. Die den Naturwissenschaften eigenen Methoden bedeuten eo ipso eine Ein 3 What Is It Like to Be a Bat?, in: Philosophical Review 1974, dt.: Wie ist es, eine Fle dermaus zu sein? in: D. R. Hofstadter/D. C. Dennett, Einsicht ins Ich, Stuttgart 1981, S. 375–388. 4 Fledermaus, 376.
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Nagels Kritik des Reduktionismus und des Darwinismus
schränkung ihres Radius auf den zu ihnen passenden Teil der Wirk lichkeit. Aus dieser Selbstbeschränkung macht der Naturalismus eine Allherrschaft, indem er die Existenz jeder Wirklichkeit jenseits jenes Radius’ leugnet. Aus dem Kapitulanten wird ein Steigbügelhalter für den Aufstieg der Naturwissenschaft zur universalen Erkenntnisund Deutungsinstanz allen realen Seins. Den Geisteswissenschaften bleibt dann folglich etwa in der Auffassung des Biologen Ulrich Kutschera nur noch die Rolle von Verbalwissenschaften, die es mit Worten, aber nicht mit der Realität zu tun haben. Eine Schlüsselrolle kommt der Evolutionstheorie zu. Die Naturwissenschaften erklären das Sosein aller Dinge, mit Hilfe der Evolutionstheorie erklären sie ihr Gewordensein. Jede konkurrierende Erklärung wird entweder ihrerseits evolutionstheoretisch vereinnahmt oder als irrational zur Seite geschoben. So ist es nicht verwunderlich, dass Nagel von einem darwinistischen Imperialismus spricht.5 Wie sehr die Philosophie Nagels von dem Bestreben durchzogen ist, diesen Imperialismus in die Schranken zu weisen, zeigt ein Blick in seine Werke, von denen wir hier nur zwei herausgreifen wollen: The Last Word6 und The View from Nowhere7, das als sein Hauptwerk gel ten kann. In diesem widmet er ein eigenes Kapitel den evolutionären Epistemologien. Er nähert sich ihnen aus der Perspektive der Fragestel lung nach den Möglichkeiten der Bedingung nicht nur der Erfahrung, sondern der Vernunft überhaupt als Fähigkeit zur Objektivität, also zur Einnahme der objektivierenden Außenperspektive (genauer: zum nie abzuschließenden Fortschritt solchen Einnahmeprozesses). »Im Grunde ist unsere Fähigkeit zur Objektivität ein großes Geheimnis«8, dessen Erklärung wir noch nicht gefunden haben; und solange dies der Fall ist, können wir nicht einmal entscheiden, wie weit wir den Skepti zismus jemals überwinden können. In diesem Zusammenhang weist er darwinistische Erklärungen als haltlose Spekulationen zurück: Gehaltloses Herumfuchteln mit evolutionären Thesen ist ein weiteres Beispiel für die Tendenz, eine Theorie, die anderswo erfolgreich war, heranzuziehen, um sie auf etwas anzuwenden, das man gerade nicht Nagel, Das letzte Wort, Stuttgart 1999, 194; engl. Original: The Last Word, New York/Oxford, 1997. 6 Siehe vorherige Anmerkung. 7 Nagel, The View from Nowhere, New York/Oxford, 1986; dt.: Der Blick von nir gendwo, Frankfurt am Main 2012. 8 Der Blick von nirgendwo, 137. 5
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versteht – oder vielmehr wendet man diese Theorie nicht eigentlich an, sondern stellt sich ihre Anwendung bloß vage vor. Auch dieser Versuch ist ein Beleg für den allgegenwärtigen reduktionistischen Naturalismus unserer Kultur.9
Die darwinistische Erklärung der Vernunft mithilfe des Selektions vorteils, den Erkenntnis bietet, setzt nicht nur das faktische Gewor densein bereits voraus, sondern berührt nicht einmal die grundsätz liche Frage, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist und deshalb auch nicht die, wie sie möglich geworden ist. Die Möglichkeit von erkennenden Wesen, die sich stufenweise immer objektivere Realitätsbeschreibungen bilden, gehört also nicht zu dem hinzu, was die Theorie der natürlichen Selektion zu erklären suchen kann, da eine solche Theorie nicht Möglichkeiten als solche erklärt, sondern immer nur die Selektion aus einem vorgegebenen Bereich von Möglichkeiten.10
Nagel besteht auf dem Spekulationscharakter der darwinistischen Erklärung der Vernunft. Doch was macht diese Spekulation so attrak tiv? Warum gilt eigentlich die Entwicklung des menschlichen Intellekts nicht immer schon als ein außerordentlich wahrscheinlicher Vorbehalt gegen das Gesetz, dass natürliche Selektion alles und jedes erklärt? Warum zwingt man diese Entwicklung stattdessen mit wenig wahr scheinlichen Spekulationen, die in keiner Weise durch Daten abgesi chert sind, unter ein solches Gesetz? Wir haben es hier mit einem jener einflussreichen Dogmen zu tun, die offensichtlich in der intellektuellen Luft liegen, die wir gegenwärtig atmen.11
Doch warum ist dieses Dogma so einflussreich geworden? Eine Ant wort bietet Nagel in seinem Buch Das letzte Wort an: Es ist die Angst vor der Religion. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Thema Evolutions theoretischer Naturalismus und die Angst vor der Religion. In dieser Angst sieht er den Grund für den weitverbreiteten Szientismus und Reduktionismus und den »groteske[n], übermäßige[n] Gebrauch der biologischen Evolutionstheorie zur Erklärung aller Seiten des Lebens, einschließlich aller Seiten des menschlichen Geistes.«12 Darwin habe 9 10 11 12
Ebd. Ebd. 138. Ebd. 141. Das letzte Wort, 192.
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Nagels Kritik des Reduktionismus und des Darwinismus
der modernen, säkularen Kultur »einen kollektiven Stoßseufzer der Erleichterung« ermöglicht, indem er »Zweck, Sinn und Absicht« zu »Zufallserzeugnissen eines Prozesses« erklärte, der restlos durch physikalische Gesetze erklärt werden kann. Dagegen wendet Nagel ein, dass der Darwinismus Ursache und Wirkung vertauscht: Aber die Existenz des Geistes ist gewiß eine Gegebenheit, die bei der Konstruktion eines jeden Weltbilds vorauszusetzen ist: Zu allermin dest muss seine Möglichkeit erklärt werden.13
In diesem Zusammenhang setzt sich Nagel mit Robert Nozicks evolutionstheoretischer Erklärung menschlicher Vernunft in dessen Werk The Nature of Rationality14 auseinander und macht dabei den Gedanken geltend, dass eine solche Erklärung unser Vertrauen in die Vernunft erschüttern muss, da dieses Vertrauen nur nach dem Maße der Wahrheitsfähigkeit der Vernunft gerechtfertigt ist. Für den Darwinismus ist die Vernunft aber nichts anderes als eine über lebensfördernde Anpassungsleistung. Dass dieselbe auch Wahrheits fähigkeit einschließt, ist damit noch gar nicht ausgemacht. Man denke, so könnte man in diesem Punkt Nagel beispringen, nur etwa an das Mem der Religion, dessen Riesenerfolg in der Menschheits entwicklung Richard Dawkins so sehr beklagt. Es ist erfolgreich, obwohl Religion in Dawkins Augen eines der größten Hindernisse wahrer Erkenntnis darstellt. Der Selektionsvorteil des Denkens ist also nicht notwendigerweise an dessen Wahrheitsfähigkeit gebunden. Eine Vernunft, die als Zufalls- und Selektionsprodukt einer Evolution hinreichend erklärt wäre, böte »keinen Grund, sich in Mathematik und Naturwissenschaft auf ihre Resultate zu verlassen«, und »die evolutionstheoretische Hypothese« würde sich damit »selbst den Boden entziehen«15. Nagel macht diesen fehlenden Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und darwinistischer Erklärung der Vernunft noch einmal deutlich: Ich muß glauben können, dass die evolutionstheoretische Erklärung vereinbar ist mit dem Satz, dass ich den Regeln der Logik entsprechend verfahre, weil sie richtig sind – und nicht nur weil ich biologisch auf dieses Verhalten programmiert bin. Aber um das zu glauben, muß ich unabhängig zu der Überzeugung berechtigt sein, dass die 13 14 15
Ebd. 194. Robert Nozick, The Nature of Rationality, Princeton N.J. 1993. Das letzte Wort, 198.
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Regeln tatsächlich richtig sind. Und das ist nicht schon allein auf der Basis meiner kontingenten psychologischen Neigung mitsamt der Hypothese möglich, dass diese Neigung das Produkt der natürlichen Auslese ist.16
Rationalität kann nur von innen her begriffen werden. Deshalb kann die Vernunft auch nur durch sich selbst gerechtfertigt werden. Dass ihre Wahrheitsfähigkeit einen Überlebensvorteil bietet, braucht nicht bestritten zu werden. Deshalb braucht man auch die Evolution nicht zu leugnen. Diese zeigt dann, »warum die Existenz der Vernunft kein biologisches Geheimnis zu sein braucht.«17 Doch die Frage, wie es kommt, dass die grundlegenden Gesetze der Natur die Mög lichkeit von Vernunft in sich bergen, ist damit nicht beantwortet. Die Unabhängigkeit der Vertrauenswürdigkeit unserer Vernunft von ihren Entstehungsbedingungen steht in Konflikt mit der biologischen Zufälligkeit der menschlichen Art. Das Vertrauen, mit dem wir an unsere Vernunft herangehen, impliziert die Überzeugung, dass, obzwar die Existenz der Menschen und speziell unserer selbst das Ergebnis einer langen Reihe physikalischer und biologischer Zufälle ist und obzwar intelligente Lebewesen nie hätten existieren können, die von uns angewandten Grundmethoden rationa len Denkens dennoch nicht bloß menschlicher Art sind, sondern einer allgemeineren Kategorie von Geist angehören.18
Das bedeutet: Unser Vertrauen in das rationale Denken kann nur gerechtfertigt sein, wenn das Wesen des Geistes unabhängig von der evolutionär bedingten Biologie des Menschen begriffen werden kann. Anders verhält es sich mit der praktischen Vernunft. Hier ist das Retorsionsverfahren, demgemäß die evolutionstheoretische Unter minierung der Vernunft sich gegen den Evolutionismus selber als eine Leistung eben solcher Vernunft wendet, nicht möglich. Eine Entlarvung der praktischen Vernunft und ihrer normativen Geltungs ansprüche wendet sich nicht eo ipso auch gegen die theoretische Vernunft, die diese Entlarvung unternimmt. Hier bleibt nach Nagel nur der Rekurs auf den Gehalt moralischer Argumente, der in der Innenperspektive aufleuchtet. In Das letzte Wort, in dem Nagel noch deutlicher als im Blick von nirgendwo die Dominanz von Erkenntnis 16 17 18
Ebd. 199. Ebd. 200. Ebd. 205.
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sen, die sich der Innenperspektive verdanken, gegenüber jedem exter nen Relativierungs- oder Eliminierungsversuch (nicht nur seitens des Evolutionismus, sondern auch des Emotivismus und der Psychologie) herausarbeitet, schreibt er kurz und bündig, dass nur mathematische Gründe Gründe sind, mathematische Überzeugungen fallen zu las sen. Und Entsprechendes gelte für moralische Überzeugungen.19 In Das letzte Wort sucht er es am Beispiel der Rassendiskriminierung deutlich zu machen: Wenn mir einerseits Rassendiskriminierung als Unrecht erscheint, ich andererseits mit der soziobiologischen Theorie konfrontiert werde, dass dieser Eindruck lediglich das Produkt einer biologischen Veranlagung sei, dann stehe ich vor der Entschei dung, wem ich mehr vertraue: meiner moralischen Einsicht, die mir in der Innenperspektive aufleuchtet, oder jener Theorie, die durch ihren Wechsel in die Außenperspektive diese ursprüngliche Einsicht zum Verschwinden bringt. Die Theorie beraubt normative Urteile ihrer objektiven Gültigkeit und degradiert sie auf das Niveau einer »Vorliebe für Zucker«20. Nagel macht die Gegenprobe und fragt, welche Relevanz angeborene Neigungen haben können angesichts des Gedankenexperiments, dass man eine Neigung zum Rassismus entdeckte. Eine solche Neigung würde den Rassismus nicht von moralischer Kritik freisprechen. Um der Taktik zu begegnen, die wir z.B. bei den genannten Kritikern Weisberg und Leiter beobachten können, nämlich Nagel vorzuwerfen, dass er einen Popanz aufbaue und keine Belege für die kritisierten Positionen beibringe, möchte ich hier lediglich Edward O. Wilson, den Begründer der Soziobiologie, und den Philosophen Michael Ruse anführen, die mehrmals in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit die Moral als eine uns von den Genen vorgegaukelte und von der Wissenschaft entlarvte Illusion dargestellt haben.21 Nach Ruse sind wir von der Evolution in unserer Gefühlslage zu unserem eigenen Vorteil so programmiert, dass wir eher der Illusion der Moral glauben als der These der Evolutionisten, die Moral sei ein bloßes Epiphänomen. Denn der Glaube an die Moral sei inkompatibel mit Ebd. 154 f. Ebd. 208. 21 Siehe z.B. Wilson und Ruse, The evolution of ethics, in: New Scientist (17.10.1985), S. 50–52; Ruse, Evolutionary Ethics: A Phoenix Arisen, in: Zygon 21 (1986), S. 95–112; Ruse, Noch einmal: Die Ethik der Evolution, in: Kurt Bayertz, Evolution und Ethik, Stuttgart 1993, S. 153–165. 19
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dem Glauben an jene These. Der einzige Unterschied zu anderen subjektiven Gefühlen bestehe darin, dass die Moral »von einer Aura der Objektivität umgeben« sei.22 Und der einzige Unterschied, so ist man folglich hinzuzufügen gezwungen, zwischen Michael Ruse und den meisten Evolutionisten besteht darin, dass Ruse offen ausspricht, was die anderen entweder nicht zu äußern wagen oder als Konsequenz ihrer Thesen mangels philosophischer Reflexion erst gar nicht erken nen. Nagel kommt summa summarum für die theoretische und praktische Vernunft zum Ergebnis, dass »eine externe Deutung der Vernunft im Sinne eines bloßen Naturphänomens« unmöglich sei. Und wenn wir versuchen, sie lediglich als natürliches (biologisches oder psychologisches) Phänomen zu begreifen, wird das Resultat eine Erklärung sein, die mit unserem Gebrauch der Vernunft ebenso wenig zu vereinbaren ist wie mit der Auffassung von der Vernunft, während wir von ihr Gebrauch machen.23
Nagels Atheismus Nagel ist weit davon entfernt, als Alternative zum kritisierten Evo lutionismus den Theismus oder gar irgendeine Spielart des Krea tionismus anzubieten. Im Gegenteil lehnt er den Gottesgedanken ausdrücklich ab und bekennt sich zum Atheismus. Ihm geht es vielmehr darum, Kriterien für ein Evolutionskonzept zu entwickeln, das die Entstehung von Geist und Vernunft erwartbar macht, indem es protomentale Elemente in der Materie ansetzt. Wir wollen seine panpsychistischen Spekulationen nicht weiter verfolgen, sondern uns der Frage zuwenden, warum Nagel den Gottesgedanken ablehnt. Wenn Nagel, wie oben berichtet, die Angst vor der Religion als Grund der Beliebtheit des Reduktionismus ausmacht, so ist diese Angst doch gleichzeitig etwas, wozu er sich selber bekennt: Dabei rede ich aus Erfahrung, denn ich selbst bin dieser Angst in hohem Maße ausgesetzt. Ich will, dass der Atheismus wahr ist (...). Es ist nicht nur so, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, mit meiner Ansicht recht zu behalten, sondern eigentlich geht es um meine 22 23
Bayertz, Evolution und Ethik, 165. Das letzte Wort, 210.
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Nagels Atheismus
Hoffnung, es möge keinen Gott geben! Ich will, dass es keinen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so beschaffen ist.24
Einen Grund für diese Angst nennt er nicht. In Geist und Kosmos jedoch ist sein zentrales Argument gegen den Theismus sein Konzept von Intelligibilität. Zunächst zeigt Nagel die Intelligibilität der Welt auf. Wenn er sie eine Hintergrundbedingung der Wissenschaft nennt, so kann man ihm nur zustimmen, ist es doch die Intelligibilität, die es erlaubt, über disparate Beschreibungen verschiedener Phäno mene und Sachverhalte hinaus zu einer so starken Systematisierung wissenschaftlicher Welterklärung vorzudringen, dass man sich sogar der Hoffnung auf eine Weltformel hingibt. Das setzt eine zusammen hängende, rationale Durchstrukturierung der Welt vom Mikro- bis zum Makrokosmos voraus, die von der Wissenschaft wie selbstver ständlich vorausgesetzt wird, von der Philosophie jedoch auf ihre hochbedeutsamen Implikationen hin reflektiert werden muss. Nagel sieht klar, dass diese Intelligibilität nicht nur verantwortlich ist für unsere subjektive Möglichkeit, die Welt zu verstehen, sondern auch für das objektive Sosein der Welt selbst. Mir scheint, dass man die wissenschaftliche Weltsicht nicht wirklich verstehen kann, wenn man nicht annimmt, dass die Intelligibilität der Welt, wie sie mit den von der Wissenschaft aufgedeckten Gesetzen beschrieben wird, selbst ein Bestandteil der tiefschürfendsten Erklä rung ist, warum die Dinge so sind, wie sie sind.25
Auf diesem Hintergrund des Wunsches, dass die Welt aus und durch sich selbst intelligibel sei, macht Nagel dem Theismus den Vorwurf, »die Suche nach der Intelligibilität aus der Welt« zu verstoßen: »Wenn Gott existiert, ist er nicht Teil der Naturordnung, sondern ein frei Han delnder, der nicht den Naturgesetzen unterworfen ist. Er mag zwar zum Teil handeln, indem er eine Naturordnung erschafft, aber was immer er direkt tut, kann nicht Bestandteil dieser Ordnung sein.«26 Das widerspricht Nagels Konzept einer »Intelligibilität der Naturord nung selbst – Intelligibilität von innen.«27 Diese Intelligibilität wird für Nagel von Gott gewissermaßen absorbiert. Gott wird zum Ort eines stellvertretenden Verständnisses. Er allein vermag die Welt zu durchschauen, für uns bleibt sie im Innersten verschlossen, weil sie 24 25 26 27
Ebd. 191. Geist und Kosmos, 31. Ebd. 44. Ebd.
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aus der für uns natürlich opaken Freiheit Gottes hervorgegangen ist und bestimmt wird. Es ist übrigens auch diese Intelligibilität, die im Konzept Nagels die produktive Stelle besetzt, die im Evolutionismus der Zufall ein nimmt. Theismus und Darwinismus haben gemeinsam, dass sie die Intelligibilität aus der Welt verdrängen, nur eben nach verschiedenen Seiten hin und auf verschiedene Weise, das eine Mal durch die Freiheit Gottes, das andere Mal durch den Zufall der Mutation.
Die Verortung der Intelligibilität Was ist von dieser Kritik am Theismus zu halten? Abgesehen davon, dass sie erfrischend anders ist als das ausgelutschte Thema der Theo dizee und deshalb neue Bahnen des Nachdenkens zu eröffnen vermag, sei zunächst einmal der simple Hinweis auf Menschen erlaubt, die den Gottesgedanken ganz anders erfahren haben. C.S. Lewis schreibt in seinem Essay Ist Theologie Dichtung?: Ich glaube an Christus, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.28
Dass Lewis hier von Christus, nicht von Gott spricht, braucht uns nicht weiter zu stören, denn in diesem Zusammenhang ist der Chris tusglaube nichts anderes als ein fortgeschrittener Gottesglaube. Tat sächlich hat ja Lewis diese innere Entwicklung vom Atheismus über den Gottesglauben zum Christentum durchgemacht. Wichtiger ist die Tatsache, dass er diese Entwicklung exakt am Leitfaden jener Fragen durchmachte, mit denen sich Nagel beschäftigt. Ähnlich wie Nagel bezweifelt er die Fähigkeit des Darwinismus, einen Begriff von Ver nunft zu etablieren, deren Erkenntnisansprüche gerechtfertigt werden können. Einerseits ist die Vernunft gemäß dem Darwinismus nichts anderes als »ein unvorhergesehenes und unbeabsichtigtes Neben produkt unbelebter Materie in einem Stadium ihrer endlosen und ziellosen Bewegung«,29 andererseits wird die Vernunft in Anspruch 28 Ist Theologie Dichtung?, in: C.S. Lewis, Der innere Ring und andere Essays, Basel 1991, 41–58, hier 58; engl. Original: Screwtape Proposes a Toast and other Pieces, London 1965. 29 Ebd. 54.
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Die Verortung der Intelligibilität
genommen, um allgemeine, das ganze Universum betreffende Rück schlüsse aus gemachten Beobachtungen zu ziehen: Das gesamte Bild [sc. der Wissenschaft; Anm. ER] behauptet, auf Rückschlüssen aus gemachten Beobachtungen zu basieren. Wenn kein Rückschluß möglich ist, löst sich das Bild auf. Solange wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Wirklichkeit im entferntesten Nebelfleck, im entferntesten Teil des Universums den Gedanken und Gesetzen des menschlichen Wissenschaftlers hier und jetzt in seinem Labor gehorcht (...), liegt alles in Scherben.30
Während Nagel daraus schließt, dass Geist und Materie von Anfang an verknüpft sein müssen, leitet Lewis die Absolutheit der Vernunft daraus ab: “- das heißt, solange die Vernunft nicht absolut ist -”, schiebt er an der ausgelassenen Stelle im letzten Zitat ein. Tatsächlich ist ja nicht einzusehen, warum die Wirklichkeit im entferntesten Nebelfleck der Vernunft des einzelnen, in seiner Existenz höchst kon tingenten und zeitlich begrenzten Wissenschaftlers soll gehorchen können, wenn diese individuelle Vernunft nicht die Instantiierung einer allgemeinen Vernunft ist, die als absolute Vernunft real und für die Vernunftgemäßheit des Universums verantwortlich ist. Allerdings müssen wir hier zwei Strukturebenen der Wirk lichkeit unterscheiden: einerseits die durch Induktion gefundenen Naturgesetze, andererseits und noch grundlegender die notwendigen Wesenssachverhalte. Beide machen die Ordnung der Natur und der gesamten Wirklichkeit aus. Zu den notwendigen Wesenssachverhal ten, um deren Erforschung sich die realistische Phänomenologie ver dient gemacht hat, gehören etwa die mathematischen und logischen Gesetze, die Wahrheiten des Geistes, also etwa der Zusammenhang zwischen Willens- und Erkenntnisakt, zwischen Freiheit und Ver antwortung, und die ethischen Wahrheiten. Sie sind es, die einen starken Vernunftbegriff etablieren, der synthetische Urteile a priori erlaubt: Ich brauche nur einmal beispielsweise das mathematische Kommutativ- oder Distributivgesetz verstanden zu haben, um zu wissen, dass es für alle möglichen Gegenstände in allen möglichen Welten gilt. Wenn Kant den kategorischen Imperativ ein »Faktum der Vernunft« nennt, will er damit nicht zuletzt seine universale Geltung herausstellen, die nicht auf einen bestimmten Kulturkreis, ja nicht einmal auf die Menschheit beschränkt ist, sondern alle möglichen 30
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Vernunftwesen betrifft – eine Wahrheit übrigens, die selbst von solchen Naturalisten wie Dawkins vorausgesetzt wird, wenn sie Gott moralischen Urteilen unterwerfen.31 Die durch Induktion gefundenen Naturgesetze dagegen sind nicht notwendig. Wir beobachten, dass fallende Gegenstände de facto so schnell beschleunigt werden, dass Newtons Gravitationsgesetz gilt. Wenn wir dasselbe verallgemeinern, dann nicht, weil wir von der Vernunft dazu gezwungen werden, sondern aus der optimistischen Hoffnung heraus, dass die Newtonschen Gesetze an allen Ecken und Enden des Universums gelten. Streng genommen haben wir nicht einmal die Garantie, dass sie zeitlich invariant sind. Trotz ihrer Kontingenz begründen die Naturgesetze eine Ordnung, die so kom plex ist, dass ihre wissenschaftliche Erforschung seit Jahrhunderten andauert und ein Ende nicht in Sicht ist. Die notwendigen Wesenssachverhalte bilden die grundlegendere Ordnungsstruktur. Diese ist es, die wissenschaftliche Methodik und damit die Erschließung der sekundären, kontingenten Ordnungs struktur erst ermöglicht. Beide Strukturen legen auf ihre je eigene Weise Zeugnis von der Rationalität der Welt ab. An dieser Stelle darzulegen, inwiefern die erste die Notwendigkeit einer absoluten, die zweite die Freiheit einer schöpferischen Vernunft bezeugt, würde zu weit führen. Hier soll es darum gehen, diese Erkenntnisse mit dem Panpsychismus Thomas Nagels zu konfrontieren. Ohne ihn klar auszusprechen, spürt Nagel den inneren Zusam menhang zwischen Intelligibilität und Notwendigkeit. Das führt ihn dazu, in den Evolutionsprozess, um ihn verständlich zu machen, eine Notwendigkeit einzuführen: Das Universum muss elementare Qualitäten besitzen, die im Verlauf der physikalischen und biologischen Evolution unvermeidlich kom plexe Organismen erzeugen, die imstande sind, Theorien über sich selbst und über dieses Universum hervorzubringen.32
Sowohl der darwinistische Zufall wie die göttliche Freiheit sind ihm ein Feind der Intelligibilität. In dem Moment, in dem er die Freiheit einer schöpferischen Vernunft leugnet, kann er die Unterscheidung zwischen den beiden Strukturebenen, also zwischen notwendigen und 31 Vgl. E. Recktenwald, Gut und böse. Über die Unmöglichkeit ihrer naturalistischen Erklärung, in: Communio, März/April 2014, 183–186. 32 Der Blick von nirgendwo, 142.
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Die Verortung der Intelligibilität
kontingenten Gesetzen, nicht mehr konsequent aufrechterhalten. Sie wird zu einer Unterscheidung nur noch quoad nos, verbunden mit der Hoffnung, dass irgendwann dieser Unterschied fortfallen wird, und sei es in einer Theorie, die »erst in ein paar Jahrhunderten«33 entstehen wird – so als ob die Geschichte der Philosophie Anlass zur Hoffnung gäbe, dass ihr jemals das Glück eines solch linearen Fortschritts beschieden sein werde, wie ihn die Naturwissenschaften durchgemacht haben. Nagel hofft auf einen Fortschritt, dem es gelingt, jene verborgene Notwendigkeit ans Licht zu bringen, die für die Evolution verantwortlich ist, und damit jene Intelligibilität für uns sichtbar zu machen, an die Nagel bis jetzt bloß glaubt. Im Blick von nirgendwo schreibt Nagel: Jede grundlegende Entdeckung hinsichtlich der Frage, warum wir über Bewusstsein verfügen und was wir eigentlich sind, wird uns auch fun damental neue Wahrheiten über den Baustoff des ganzen Universums gewinnen lassen.34
Hier wird deutlich, wo Nagel die eigentliche Quelle der universalen Intelligibilität verortet. Es ist der »Baustoff des ganzen Universums«, dessen Entschlüsselung uns sowohl die Natur der Materie wie die des Bewusstseins plausibel machen wird. Nagel zieht ausdrücklich die Parallele zu Maxwell, der durch die Elektrodynamik und deren neue Begrifflichkeit die Physik revolutionierte, und zu Einstein, der Energie und Materie als verschiedene Erscheinungsformen derselben Wirklichkeit identifizierte. Analog hofft Nagel auf einen psychologi schen Maxwell und einen psychologischen Einstein, die eine Theorie etablieren, »nach der das Psychische und das Materielle in Wirklich keit ein und dasselbe sind.«35 Solche Spekulationen sind es, die in Geist und Kosmos einen noch breiteren Raum einnehmen und Nagel die Kritik eintragen, die darwinistische Spekulation bloß durch eine andere, im Grunde noch gewagtere Spekulation zu ersetzen. Denn erstere arbeitet immerhin mit hinreichend klaren Begriffen wie Mutation und Selektion, wäh rend Nagels Spekulation von der Hoffnung lebt, irgendwann einmal die neuen Begriffe zu finden, mit deren Hilfe die Theorie überhaupt erst formuliert werden kann. Doch für unser Thema noch wichtiger ist die Einsicht, dass hier die Quelle der Nagelschen Intelligibilität 33 34 35
Ebd. 93. Ebd. 95. Ebd.
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
ins Kryptische eines postulierten Grundbaustoffs des Universums jenseits der Unterscheidung von Geist und Materie versenkt wird. Die Quelle aller Verständlichkeit soll etwas bislang völlig Unverständli ches sein. Lewis dagegen hat die Intelligibilität nicht bloß postuliert, sondern offensichtlich erfahren. Die Metapher des Sonnenaufgangs macht deutlich, wie er in dem neuen Licht die Dinge nun an ihrem Platz und die zuvor getrennten Einzelerkenntnisse nun in ihrem Zusammenhang sieht. Dies ist deshalb möglich, weil nicht ein unbekanntes, grundstoffartiges X die Quelle aller Intelligibilität ist, sondern gerade das, was wir selber am besten, weil aus eigener Erfahrung kennen, nämlich die Vernunft, dieselbe aber nicht in ihrer kontingenten und begrenzten Instantiierung, die meine Vernunft dar stellt, sondern die absolute Vernunft. Natürlich können wir uns von derselben keinen adäquaten Begriff machen. Aber der Unterschied zum Nagelschen X besteht darin, dass wir genau den Ausgangspunkt und die Richtung kennen, die wir einschlagen müssen, um zu ihm zu gelangen. Ausgangspunkt ist unsere eigene Vernunft, in deren Erfahrung wir auch erkennen, was Vernunft überhaupt ist, Richtung ist ihre Entgrenzung. Wenn Nagel in dem schon gebrachten Zitat36 die Gültigkeit rationalen Denkens unabhängig macht von der Kontingenz, ja sogar von der Existenz der Menschheit und sie stattdessen in der »allgemei neren Kategorie von Geist« verankert, dann setzt er damit voraus, dass in der Erfahrung des Geistes, der wir selber sind, und seiner Rationa lität uns das Wesen von Geist und Rationalität selber aufgeht. Und gerade wegen dieser Einsicht in das Wesen von Geist und Rationalität sind uns Urteile a priori erlaubt, die wir auf jede Wirklichkeit, sei sie materiell oder nicht, anwenden dürfen. Wenn wir darauf vertrauen dürfen, dass es keine materielle Welt geben kann, die nicht den logischen Gesetzen gehorcht, dann deshalb, weil Rationalität die Art von Wirklichkeit ist, nach der sich die materielle Wirklichkeit richtet, die derselben also vor- und übergeordnet ist. Hier zeigt sich eine Parallelität in der epistemologischen und ontischen Hierarchisierung der Wirklichkeit: Das, was für uns die Quelle der Intelligibilität ist, nämlich die Vernunft, ist gleichzeitig auch die Quelle für die rationale Verfassung der Wirklichkeit selber. 36
Siehe Anmerkung 18: Das letzte Wort, 205.
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Intelligibilität und Freiheit
Nicht die Intelligibilität selber wird also aus der Natur in einen transzendenten Gott verstoßen, sondern ihre Quelle. Die Wirklich keit, wie sie uns in der uns umgebenden Welt begegnet, ist eine Mischung aus Kontingenz und Notwendigkeit, aus einleuchtenden Wesenssachverhalten und zufälligen Individualitäten. »Individuum est ineffabile«: Diese scholastische Weisheit trägt dem Umstand Rechnung, dass die Begriffe unseres Verstandes auf das Allgemeine gehen, weil der unserer Vernunft adäquate, also intelligible Gegen stand jene allgemeinen Wesenssachverhalte sind. Die Erkenntnis der je individuellen Instantiierung ist Sache der Realkonstatierung mittels unserer Sinnesorgane. Zu verstehen gibt es da nichts. Dass auf meinem Weg Blätter eines Baumes liegen, kann ich nur konstatieren. Natürlich kann ich fragen, wie sie dorthin gekommen sind, und dann weiter zurückfragen. Doch die Erzählung, die diese Fragen beantwortet, ist nur eine Aneinanderreihung von Realkonstatierun gen. Verstehen stellt sich in solcher Erzählung nur in dem Maße ein, wie sich im Zusammenhang der einzelnen Ereignisse allgemeine Gesetze manifestieren. Reale Materie ist immer solche Instantiierung und damit eine Mischung aus Allgemeinheit und Individualität, aus Kontingenz und Intelligibilität. Die Quelle der Intelligibilität in irgendeinem Grundbaustoff des Universums zu suchen, heißt, sich von dem Ort zu entfernen, wo allein Intelligibilität ohne Beeinträchtigung durch Kontingenz möglich ist.
Intelligibilität und Freiheit Doch wie sieht es aus mit der Freiheit als Bedrohung der Intelligibili tät? Tatsächlich ist ja Freiheit das Gegenteil von Notwendigkeit. Wenn gerade wesensnotwendige Sachverhalte das sind, was uns einleuchtet und die uns zugängliche Wirklichkeit einleuchtend macht, und wenn Vernunft das ist, was wir als Quelle objektiver Wesensnotwendigkeit und subjektiven Einleuchtens ausmachen können, dann scheint nur ein spinozistischer Gott der reinen Notwendigkeit als Quelle jeder Intelligibilität in Frage zu kommen. Hier ist der Ort, unseren Begriff der Intelligibilität zu erweitern, indem wir Erfahrungen in Betracht ziehen, die wir bisher ausgeblen det haben. Die Erfahrung zeigt uns, dass wir auch das Handeln anderer Personen verstehen können. Dieses Verstehen geht über die bloße
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
Beobachtung der physischen Handlung hinaus. Wenn jemand ein Loch in die Wand bohrt, dann sehe ich zwar, was er tut, aber das bedeutet noch nicht, dass ich die Handlung verstehe. Sie kann mir rätselhaft sein. Erst wenn die beobachtete Person mir erklärt, dass sie ein Regal befestigen will, verstehe ich die Handlung. Das Verständnis der Handlung kommt erst zu einem (vorläufigen) Abschluss, wenn ich die Absicht erfahre, mit der sie vollzogen wird. Dass in diesem Sinne die causa finalis die für das Verständnis entscheidendste Art von Ursache ist, hatte schon Aristoteles erkannt. Doch dieses Verständnis ist nur vorläufig, sobald ich nach dem Grund frage, warum die Person jene Absicht verfolgt. Nehmen wir den Fall, dass es sich um die Wohnung und das Regal eines Dritten handelt. Ein volles Verständnis des Handelns wird mir erst möglich, wenn ich neben dem Handlungskontext auch noch die Gesinnung des Handelnden kenne: Er tut dem Nachbarn einen Gefallen, weil er hilfsbereit ist. Einerseits stellt das Verständnis von Handlungen ein tieferes Verständnis dar als das von Naturvorgängen. Dieses geht letztlich über die reine Deskription nicht hinaus: Ein realkonstatierter Vor gang wird durch induktiv erschlossene Naturgesetze beschrieben. Das Verständnis endet mit der Deskription. Auch die Erklärung von Naturgesetzen durch grundlegendere Naturgesetze bedeutet nur die Verschiebung der Deskription auf eine andere Ebene. Das Verständnis von Handlungen endet nicht mit ihrer Deskription, sondern mit der Entdeckung einer Wirklichkeit, die wir aus Eigenerfahrung kennen: Ich kann die Absichten und Gesinnungen des anderen nachempfin den, mich in ihn einfühlen. Handlung ist ein Vorgang, den ich nicht nur von außen beschreiben, sondern von innen her verstehen kann. Andererseits ist das Verständnis von Handlungen schwieriger, weil ich dabei auf die Offenbarung des anderen angewiesen bin. Die andere Person kann ihre Absichten und Gesinnungen mir gegenüber verbergen, sich sogar verstellen. Sie kann widersprüchliche Signale aussenden, so dass ich aus ihr nicht klug werde. In diesem Falle bleiben mir die Person und ihr Handeln fremd. Das bedeutet: Freiheit als Freiheit ist mir nicht opak, weil ich Freiheit aus eigener Erfahrung kenne. Freies Handeln einer anderen Person bleibt mir gegenüber nur opak in dem Maße, wie sie sich mir gegenüber zu offenbaren sich weigert, mir also fremd bleibt. Es bleibt ihr aber auch die Möglichkeit, sich mir gegenüber zu öffnen und ihr Handeln verständlich zu machen.
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Intelligibilität und Freiheit
Der hl. Anselm von Canterbury wollte die Undurchsichtigkeit von Gottes Handeln durch den Aufweis innerer ethischer Notwen digkeit aufheben. Sola ratione wollte er das Heilshandeln Gottes ergründen und es durch den Aufweis plausibel machen, dass Gott, als er in Jesus Mensch wurde und uns erlöste, indem er für unsere Sünden Genugtuung leistete, gar nicht anders handeln konnte. Er bewerkstelligte das durch den Begriff der Gerechtigkeit. Die Freiheit Gottes verlor ihre Unberechenbarkeit durch die sie determinierende Gerechtigkeit. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine Determi nation von außen. Die Notwendigkeit des Handelns Gottes ist nach Anselm nichts anderes als die Unveränderlichkeit seiner honestas. Das ändert aber nichts an Anselms Erkenntnisoptimismus, der mit Hilfe dieser Notwendigkeit das Erlösungshandeln Gottes a priori aus den Ausgangsbedingungen des menschlichen Sündenfalls und einer zu erreichenden vollkommenen Zahl zu rettender Vernunftwesen deduzieren zu können glaubte. Obwohl Anselm weitere Handlungs gründe, die noch verborgen sind, nicht ausschließt, wird für ihn das freie Handeln Gottes zu einem Gegenstand höchster Vernunfter kenntnis. Thomas von Aquin und fast alle anderen Scholastiker mil dern diesen extremen Erkenntnisoptimismus. Die Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff zum Verständnis göttlichen Handelns wird von dem der Konvenienz abgelöst, der der göttlichen Freiheit einen solchen Spielraum lässt, dass der Vernunft eine Deduktion göttlichen Han delns nicht mehr möglich ist. Dasselbe gleitet andererseits aber auch nicht in reine Willkür ab. Vielmehr wird Gottes Handeln bestimmt und plausibel durch seine unendliche Liebe. Handeln aus Liebe ist einerseits nicht wie das Handeln aus Gerechtigkeit einfachhin im Anselmschen Sinne von vorneherein berechenbar, andererseits erhält es aus eben dieser Liebe eine unvermutete Intelligibilität. Anders aus gedrückt: Das Handeln selber ist eine Offenbarung dieser zuvor weder erahnbaren noch gar berechenbaren Liebe. Das freie Handeln Gottes wird nicht durch Gründe a priori erklärt und verständlich gemacht, sondern wird selber zum Grund der Verständlichkeit Gottes. Es wird nicht gleichsam durch das Licht der Vernunft von außen beschienen, sondern setzt selber erst ein Licht frei, das zuvor verborgene Wahrhei ten zu sehen nun erlaubt. Das freie Handeln Gottes ist hier nicht wie bei Anselm Gegenstand, sondern Quelle höchster Vernunfterkenntnis. Diese Erkenntnis setzt allerdings die freie Offenbarung Gottes voraus.
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
Thomas treibt Theologie, nicht Philosophie, wenn er im Licht dieser Liebe Erkenntnisse gewinnt. Durch die Offenbarung bleibt Gott nicht im Nagelschen Sinne der Ort eines bloß stellvertretenden Verständnisses. Gott lässt uns an seinem Verstehen teilhaben. Diese Teilhabe ist uns in dem Maße möglich, als wir uns von demselben Geist erfüllen und leiten lassen, den wir auch von Gott aussagen müssen und der nach dem Wort des hl. Paulus »alles ergründet« und deshalb dem Geistesmenschen ein Urteil über alles erlaubt (1 Kor. 2, 10.15). Genau dies scheint es zu sein, was C.S. Lewis selber erfahren hat. Wir sehen hier, dass es sich um ein ganz anderes Konzept von Intelligibilität handelt als bei Nagel. Dieser band sie an die Notwen digkeit von Naturprozessen. Freie Personalität ist in diesem Konzept ein Störfaktor. Nagel will die Welt durchschauen, wie man eine komplizierte Maschine durchschaut. Selbst die Begriffe des Geistes und der Vernunft löst er von dem der Personalität und integriert sie in die Ordnung eines sich entwickelnden Universums. Wenn Gott existiert, kann Intelligibilität ihr Paradigma nur in der interpersonalen Beziehung finden. Ich durchschaue keine Maschine, sondern verstehe eine Person. Die Ermöglichung des Verständnisses hängt aber von der Freiheit dieser Person ab. Auch die philosophische Gotteserkenntnis geht auf ein freies Handeln Gottes zurück, nämlich auf seine Offenbarung in der Schöpfung. Die Vernunftgemäßheit des Universums ist Ausdruck einer absoluten Vernunft und in ihrer komplexen, die Wissenschaft über Jahrhunderte beschäftigenden Tie fenstruktur Offenbarung einer unendlichen Weisheit. In anderer Weise ist die sittliche Erfahrung eine Offenbarung Gottes. Sie ist ein Abglanz seiner unendlichen Wertfülle. Die Kantische Ethik zeigt uns übrigens, wie eine rein philosophische Begründung der Ethik es bis zur Achtung vor dem Gesetz schafft, für eine Liebe aber, die darüber hinaus geht, keinen Platz mehr lässt, es sei denn, es handelt sich um die pathologische Liebe, die aber, weil Neigung, keinen moralischen Wert besitzt. Wie Anselm reduziert Kant das Moralische auf das Pflichtgemäße. Die Möglichkeit moralischen Handelns aus freier Huld und Liebe jenseits aller Pflicht scheint erst durch die Menschwerdung Gottes, die den erhabensten Fall solchen Handelns darstellt, plausibel werden zu können. Anselm nahm solches Handeln in den Bereich der Gerechtigkeit zurück, Kant verstieß es aus der Ethik. Die Offenbarung Gottes im Gewissen reicht bis zum Begriff der Gerechtigkeit und des Guten als des sittlich Gebotenen. Um zu
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Intelligibilität und Freiheit
erkennen, dass Gott darüber hinaus überfließende Liebe ist, bedarf es einer weiteren Offenbarung. Doch auch die Offenbarung im Gewissen ist insofern frei, als Gott frei ist, Vernunftwesen zu erschaffen. Wenn er sie aber erschafft, ist die Spur, die er ipso facto von sich selbst in der Vernunft hinter lässt, unvermeidlich. Unvermeidlich ist auch, dass alle Erkenntnis an diesem interpersonalen Charakter partizipiert, insofern auch die Erkenntnis der Welt ihren höchsten Grad in der Erkenntnis der Welt als Schöpfung und somit als Ausdruck und Ausfluss göttlicher Vollkommenheit erreicht. Umgekehrt setzt diese Unvermeidlichkeit der göttlichen Freiheit zwar eine äußerste Grenze, insofern Gott nicht Vernunftwesen erschaffen und sich gleichzeitig vollkommen verbergen kann, aber erstens ist der göttliche Schöpfungsratschluss frei und zweitens bleibt innerhalb der genannten Grenze ein für menschliches Erkennen unauslotbarer Raum göttlicher Freiheit und damit nicht antizipierbarer Offenbarungsmöglichkeiten. Die Intelligibilität interpersonaler Beziehung ist bestimmt von der Freiheit der Person, sich zu offenbaren und damit Nähe zuzulas sen. Meine geliebte Frau, die mir vertraut ist, verstehe ich in einem ganz anderen Maße als irgendeine fremde Person. Es ist eine Intelli gibilität, die kein Verfügungs- oder Herrschaftswissen konstituiert, mit dessen Hilfe ich mir den Erkenntnisgegenstand unterwerfen kann, sondern im Gegenteil ein Verständnis, das meine eigene Unterwer fung unter die Ansprüche des Erkannten verlangt und deshalb meine eigene Freiheit ganz anders zum Engagement herausfordert als im Falle der wissenschaftlichen Forschung. Außerhalb der im engen Sinne interpersonalen Beziehung findet sich diese Art von Erkenntnis am ehesten noch in der Werterkenntnis. Das Wesen der Werte erschließt sich mir in dem Maße, wie ich ihre Geltung anerkenne. Ihre Erkenntnis ist von diesem Akt der freien Anerkennung nicht zu trennen. Dass Gott die Liebe ist, kann ich nur im »Glauben« genannten Eingehen auf seine Offenbarung erkennen. Philosophische Erkennt nis dringt vor – nur, aber immerhin – bis zu einer absoluten Vernunft, die aber auf irgendeine Weise Personalität und Wertfülle umfassen muss. Diese Vernunft ist Quelle einer Intelligibilität, die mir in der von Nagel so hervorragend beschriebenen Ordnung des Universums entgegenleuchtet. Diese Ordnung ist geronnene, aber sich ihrer selbst gerade nicht bewusste Vernünftigkeit. Es scheint in meinen Augen viel vernünftiger, anzunehmen, dass die Intelligibilität des Universums
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Zwischen Evolutionskritik und Atheismus
sich einer unendlichen Vernunft verdankt, als umgekehrt die Vernunft einem Universum, das vernunftgeprägt ist, bevor es Vernunft gibt.
Schluss Wenn wir die von Lewis gebrauchte Metapher von der Sonne und ihrem Licht auf unser Thema anwenden, können wir sagen, dass die Intelligibilität des Universums ihre Quelle in Gott hat, so wie das Licht seine Quelle in der Sonne hat. Das bedeutet keine Verbannung der Intelligibilität aus der Welt, sondern ihre Sicherung. Indem Nagel die Intelligibilität ausschließlich in die Welt verlegt, unterwirft er sie dem Schattenspiel von Kontingenz und Werden. Was ihm bleibt, ist die vage Hoffnung, eines Tages den uns noch unbekannten, Materie und Geist umfassenden Grundbaustoff zu entdecken, der er uns dann erlauben soll, besser zu verstehen, was wir jetzt schon verstehen. Mit anderen Worten: das Unbekannte soll das Bekannte erklären, das Komplexe das Einfache, das Protopsychische das Geistige. Die theistische Konzeption geht den umgekehrten Weg vom Licht zur Quelle, vom Farbenspiel der Schöpfung zum subsistierenden, von aller Brechung und Verschattung gereinigten Licht, von der Intelligi bilität zur absoluten Vernunft.
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Ist der Materialismus ein Idealismus? Reflexionen über den Nagelschen Perspektivendualismus
Es ist immer interessant, Thomas Nagel zu lesen. Sein Lebensthema ist das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, die Vermittlung der Innen- und Außenperspektive unserer Erkenntnis. Auf beide Per spektiven sind wir angewiesen, wenn wir die Welt verstehen wollen. Die Innenperspektive ist die Perspektive der besonderen Person, die wir sind. Deshalb erscheint uns die Welt auf eine besondere Weise, die auf diese Perspektive zugeschnitten ist. Die Außenperspektive ist die Perspektive, die die Wissenschaft einnimmt. Deren Eigenart ist es, gerade von jeder besonderen Perspektive eines Subjekts abzusehen, die Welt also mit einem Blick von nirgendwo zu betrachten. Das Typische des Erkenntniszugriffs, der der Außenperspektive eigen ist, liegt in der Realkonstatierung dessen, was der Fall ist. Er registriert das empirisch Gegebene, von dem wir annehmen, dass es so ist, wie es ist, unabhängig von unserer Erkenntnis. Die Wissenschaft hat es mit Fakten zu tun, die sie vorfindet, ohne sie zu konstituieren. Der Prototyp dieser Fakten ist das Physische und Materielle. Ganz anders sieht es bei den Erscheinungen aus, die sich nur unserer subjektiven Perspektive erschließen und an sie gebunden sind. Dazu gehört z.B. die Bedeutung, die wir Dingen oder Ereignissen beimessen, unsere Wertungen, Werte und Gefühle, aber auch so etwas wie die Gesetze der Logik oder das, was man seit John Locke die sekun dären Sinnesqualitäten nennt. Es handelt sich um Erscheinungen, von denen wir einsehen, dass es sie nicht gäbe, wenn es kein Bewusstsein gäbe, denen sie erscheinen. Die Gefahr, die im Bemühen um die Einnahme eines möglichst objektiven Standpunkts liegt, besteht darin, im Zuge der Distanzie rung von den subjektiven Perspektiven dieselben so sehr zu dominie ren, dass sie mitsamt dem, was sich in ihnen erschließt, als Vorkomm nisse wie andere Dinge auch registriert werden. Mit anderen Worten: Das Subjektive und Mentale wird behandelt wie ein Sonderfall des Physischen. Es wird epistemisch dem Instrumentarium zur Erfassung
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Ist der Materialismus ein Idealismus?
des Physischen angepasst. Dieses Instrumentarium wirkt wie ein Fil ter: Das Mentale wird gedacht nach dem Modell des Physikalischen, und dort, wo es nicht so gedacht werden kann, wird es eliminiert. Ein Beispiel dafür liefern die Versuche von Daniel Dennett, die Existenz der Qualia mit Argumenten zu bestreiten, die ihre Existenz voraus setzen1. Qualia als etwas irreduzibel Subjektives sind ein Störfaktor im Versuch des Szientismus, eine vollständige Weltbeschreibung aus der Außenperspektive zu liefern. Diese Dominanz des Objektiven gegenüber dem Subjektiven, des Außen gegenüber dem Innen, ist die Voraussetzung des Materialismus. Es ist nun interessant, dass Thomas Nagel diesen Materialis mus (so übersetzt Michael Gebauer das Wort »physicalism«) einen Idealismus nennt, und zwar einen »Idealismus der Objektivität«2 präziser: »der restringierten Objektivität«3. Das ist eine Provokation. Denn es bedeutet eine Ohrfeige für den Anspruch der Wissenschaft, die Welt so zu erkennen und zu beschreiben, wie sie an sich ist. Dieser Anspruch will gerade den Subjektivismus überwinden, der sich damit abfindet, dass jeder Erkennende in seiner eigenen, subjektiven Perspektive befangen ist. Doch die Überwindung der subjektiven Perspektive bedeutet, so der Einwand Nagels, auch einen Verlust. Denn auch sie gehört zur Welt, zusammen mit allem, was sich nur ihr erschließen kann. Und selbst die wissenschaftliche Erkenntnisein stellung ist und bleibt eine solche, die dem Menschen qua Mensch eigentümlich ist und aufgrund dieser Spezifität möglicherweise in ihrem Radius so eingeschränkt ist, dass ihr nicht alle Bereiche der Wirklichkeit zugänglich sind. Sie ist nicht vollständig perspektivenlos. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist größer als unsere Vernunft. Das bedeutet: Der Materialismus mit seinem Anspruch, das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen, ist eine verkappte Spielart der idealistischen Idee, dass der Geist der Wirklichkeit die Bedingungen ihrer Existenz diktiert. Im Fall des Materialismus ist es die wissen schaftliche Erkenntniseinstellung, die diese Rolle übernimmt. Die Behauptung, der Blick von nirgendwo könne das Ganze der Wirklich keit erfassen, läuft auf die Annahme hinaus, dass die Wirklichkeit sich den Erkenntnisbedingungen der Wissenschaft fügt. Nagel dagegen 1 Daniel Dennett, Qualia eliminieren, in: Thomas Metzinger (Hg.), Grundkurs Philo sophie des Geistes, Band 1: Phänomenales Bewusstsein, Paderborn 22009, 205–249. 2 Th. Nagel, Die Grenzen der Objektivität, Stuttgart 1991, 30. 3 Th. Nagel, Der Blick von nirgendwo. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Gebauer. Frankfurt am Main 1992, 49.
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Ist der Materialismus ein Idealismus?
hält die Wirklichkeit für weitaus umfangreicher als das, was der objektivierenden Erkenntniseinstellung zugänglich ist. Realismus bedeutet für ihn die Idee, dass unser Denken den Umfang und den Reichtum des Wirklichen nicht ausmessen kann. Das Sein geht über das Denken hinaus. Wenn es die privilegierte Perspektive eines individuellen oder auch des kollektiven menschlichen Bewusstseins gäbe, die es uns ermöglicht, die Welt vollständig zu erfassen, dann würde die Welt ganz in der Erscheinung aufgehen, die sich dieser Perspektive darbie tet. Der Realismus ist also die Voraussetzung für das Wissenschafts projekt einer vollständigen Weltbeschreibung, der Erfolg dieses Pro jekts aber wäre die Verwandlung dieses Realismus in einen Idealismus in Bezug auf das Erkenntnissubjekt jener Beschreibung. Um bei bleibendem Erkenntnisoptimismus der idealistischen Konsequenz zu entgehen, könnte man auf der Subjektseite an der Stellschraube drehen und mit Aristoteles die anima, insofern sie Erkenntnissubjekt ist, im Sinne reiner Potenzialität als tabula rasa ansehen, die eben dadurch offen für alles Sein und deshalb grenzenlos in der Lage ist, durch die mentale Rezeption der substantiellen Form aller Dinge »quodammodo omnia« zu werden.4 Doch Nagel zeigt – und das ist nun der interessanteste Aspekt, der uns jetzt beschäftigen soll –, dass beim Subjekt die Dialektik zwischen Realismus und Idealismus in anderer Gestalt wiederkehrt. Die Formulierung, in die er das Problem kleidet, ist zunächst gewöhnungsbedürftig. Sie lautet: Wie kommt es, dass ich Thomas Nagel bin? An die Stelle von »Thomas Nagel« kann und sollte natür lich jeder Leser seinen eigenen Namen einsetzen. Nagel ist sich bewusst, dass er mit einer Qualifizierung dieser Frage als eines Pseudoproblems rechnen muss. Ja man kann sogar noch weitergehen und sich fragen, wo man hier auf den ersten Blick selbst ein Pseudoproblem soll erkennen können. Doch so einfach ist es nicht. Das Anliegen Nagels wird plausibler, wenn wir seiner Aufforderung nachkommen, die Welt als ein Ganzes zu sehen und uns als einen ihrer Bestandteile. Denn wir sind zwar Iche, aber gleichzeitig auch Personen, die intersubjektiv beobachtbar sind und deshalb in der Welt als Ganzes vorkommen. Und nun sollen
»anima est quodammodo omnia« (»die Seele ist gewissermaßen alles«) schreibt Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles: S.th. I 14,1 c.
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Ist der Materialismus ein Idealismus?
wir uns fragen: »Wie kann ich etwas so Spezifisches sein wie dies; wie kann ich lediglich eine besondere Person sein?«5 Das Problem entsteht durch die Konfrontation des Blicks von nirgendwo mit der Tatsache, dass dieser Blick tatsächlich aber nur der Blick dieser besonderen Person ist, auf die dieser Blick fällt und für den diese Person nur eine unter vielen ist. Mit anderen Worten: In den Augen des Betrachters von nirgendwo hat Thomas Nagel keine privilegierte Stellung. Es macht ja die wissenschaftliche Einstellung aus, dass von jeder besonderen Perspektive abstrahiert wird, und das bedeutet, dass die Perspektive Thomas Nagels keine Bevorzugung verdient gegenüber der Perspektive einer jeden beliebigen anderen Person. Die Person Thomas Nagels ist ein Vorkommnis in der Welt, die sich dem Blick von nirgendwo darbietet wie jedes andere Vor kommnis auch. Und nun stellt sich heraus, dass das Ich, das gerade die Welt als Ganzes denkt, eben dieser Thomas Nagel ist, dass also dieser TN (so kürzt er sich selber ab) sich anscheinend doch eines ganz außerordentlichen Privilegs erfreut. Er und niemand anderes von all den Ichen, die in jenem Blick vorkommen, ist der Blickende. Wie kann es sein, dass TN so privilegiert ist, obwohl doch die objektive Außenperspektive jede Privilegierung eliminiert? Die Lösung besteht für Nagel in der Entdeckung, dass mit dem »Ich« in der Frage »Wie kann ich etwas so Spezifisches sein wie TN?« ein objektives Selbst gemeint ist, das jeder von uns in sich enthält, und das eine unbegrenzte Fähigkeit besitzt, vom Standpunkt der Person, welche ich bin, abzusehen und sich eine neue Auffassung der Welt zu bilden, in die es diese Person und ihre Zustände integriert.6
Ich halte dies für eine richtige und bedeutungsvolle Erkenntnis, die ich mit anderen philosophischen Ideen in Verbindung bringen will, um zu zeigen, dass sie Implikationen umfasst, deren sich Nagel wohl nicht bewusst war. Zunächst einmal bedeutet diese Erkenntnis die weitere Einsicht, dass auch die wissenschaftliche Perspektive, die von der individuellen Perspektive des TN absieht, in Wirklichkeit doch wiederum immer nur eine individuelle Erkenntnisleistung von TN ist. Mit anderen Worten: TN hat die wissenschaftliche Perspektive, die universale 5 6
Die Grenzen der Objektivität, 33 f. Ebd. 34.
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Gültigkeit beansprucht, in seine individuelle Perspektive integriert. Der Blick von nirgendwo ist trotzdem immer noch mein Blick. Die Integration der Perspektiven ist also gegenseitig: Nicht nur hat die objektive Perspektive die subjektive integriert, sondern umgekehrt wird auch die objektive Perspektive immer von einem Ich eingenom men, das damit nicht aufhört, ein Ich mit seiner eigenen subjektiven Perspektive zu sein. Bedeutet dies, dass dadurch die objektive, uni versale Perspektive von der subjektiven, individuellen Perspektive absorbiert und somit ihrer Gültigkeit beraubt wird? Eben nicht! Thomas Nagel geht den umgekehrten Weg und bezeichnet das Ich, dem der Blick von nirgendwo eigen ist, als das eigentliche Ich oder Selbst. Dieses Ich ist mein Wesen: »Meinem Wesen nach bin ich ein Subjekt, das eine zentrumslose Welt auffaßt«7. Mit anderen Worten: Durch die Identifikation des Ichs mit TN wird nicht die universale Perspektive des eigentlichen Ichs in der individuellen Perspektive des TN zum Verschwinden gebracht, sondern umgekehrt wird das Wesen von TN als ein solches erkannt, das die individuelle Perspektive von TN zu überschreiten berufen ist. Oder präziser ausgedrückt: TN ist fähig, sein eigenes Wesen zu verwirklichen, sein eigentliches Ich zu erreichen, indem es seine besondere Perspektive überschreitet. Solange es in seiner subjektiven Perspektive gefangen bleibt, ist es noch nicht es selbst. Die Fähigkeit, die universale Perspektive einzunehmen, ist das, was wir Vernunft nennen. Im Feld der Ethik ist diese Perspektive identisch mit dem unparteiischen Standpunkt der Moral. Indem ich meine privilegierte Stellung, die ich unweigerlich in der subjektiven Perspektive habe, durch Einnahme des unparteiischen Standpunkts eliminiere, somit meine eigenen Interessen relativiere und sie des halb, weil sie meine Interessen sind, nicht für wichtiger nehme als die Interessen anderer Personen, realisiere ich mich als Vernunftwesen. Praktische Vernunft bedeutet die Anerkennung des Vorrangs des Gerechtigkeitsmaßstabs vor dem Standpunkt des Eigeninteresses. Warum nennt nun Nagel den Materialismus einen Idealismus? Einerseits ist der Materialismus jene Weltanschauung, die den wis senschaftlichen, perspektivenlosen Standpunkt als den allein gülti gen betrachtet. Nur so gelingt es ihm, das Mentale aus der Welt hinauszukomplimentieren. Das Mentale wird ganz auf die Seite der subjektiven Perspektive geschlagen und mit der Eliminierung ihrer 7
Ebd. Hervorhebungen im Original.
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Ist der Materialismus ein Idealismus?
privilegierten Stellung gleich miteliminiert. Kant wird auf den Kopf gestellt: Für Kant war die Welt, mit der es die Wissenschaft zu tun hat, Erscheinung, während der Mensch als Vernunft- und Freiheitswesen der noumenalen Welt, der Welt an sich, angehört. Im szientistischen Materialismus werden die Verhältnisse umgekehrt: Die sinnlich erfahrbare Welt wird die einzige Wirklichkeit an sich, während Geist, Bewusstsein und Freiheit, also alles Subjektive, dem etwas erscheint, als Schein entlarvt wird. Dabei übersieht der Materialist – und jetzt kommt der Schachzug Nagels ins Spiel –, dass er gerade wegen seines Objektivitätsanspruchs jenen Standpunkt voraussetzt, den Nagel das eigentliche Selbst nennt. Wenn der Materialist konsequent sein will, muss er, sobald er das individuelle Ich durchstreicht, das eigentliche Ich hypostasieren. Der Materialismus schlägt um in einen Idealismus. Dem Durchstreichen des individuellen Ichs begegnen wir in allen Formen des eliminativen Materialismus. Susan Blackmore z.B. hält den Glauben, dass es ein bewusstes Ich gäbe, für eine Täuschung.8 Dass dieser Materialismus bei vielen seiner Vertreter nicht in einen Idealismus umschlägt, liegt daran, dass sie sich selbst, ihr eigenes Tun und die Existenz des Standpunktes, von dem aus sie die Welt beschreiben, vergessen. Andere bleiben bei diesem Umschlag auf halbem Weg stehen und in einem Beschreibungskonstruktivismus stecken. Bei Richard Rorty beispielsweise ist zu beobachten, dass er sich nicht entscheiden kann (und es auch nicht will), ob die einzige Realität die Materie ist oder unsere Beschreibung, jenseits derer es keine beschreibungsunabhängige Welt gibt. Philosophisch ergiebiger ist die Frage, welche Implikationen sich für das individuelle Ich aus seinem Verhältnis zum eigentlichen Ich ergeben. Der Materialismus anerkennt die Relevanz der Perspektive des eigentlichen Ichs für unsere wissenschaftliche Welterkenntnis, über sieht aber das eigentliche Ich. Nagel dagegen erkennt es, geht aber nicht den Konsequenzen nach, die es für unser menschliches Selbst verständnis haben muss. Den Widerspruch des Materialismus könnte man auch auf die Formel bringen: Er anerkennt die Vernunftleistung, negiert aber die Vernunft. Er anerkennt ihren Objektivitätsanspruch, weil es ihr gelingt, die materielle Wirklichkeit so zur Darstellung zu bringen, wie sie sich unabhängig von jeder individuellen Bewusstseinsperspektive 8
Susan Blackmore, Bewusstsein. Eine sehr kurze Einführung, Bern 2014.
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verhält. Für ihn ist der vernünftige Standpunkt der allein gültige. Aber er negiert die Vernunft, weil er so gebannt auf die Materie als das allein anerkannte Erkenntnisobjekt blickt, dass er den Blick selbst vergisst. Er ist nur an der Materie interessiert. Durch diese Interessenfixiertheit ist er immun gegen die Zumutung der transzendentalphilosophischen Rückwendung der Vernunft auf sich selbst. Er anerkennt das Ergebnis der Vernunft, nicht aber die Vernunft selbst. Umgekehrt wird Nagel zu wenig dem Umstand gerecht, dass die Perspektive des eigentlichen Selbst ihrerseits das Ergebnis der Handlung eines individuellen Ichs ist. Dieses hat sich zu dieser Per spektive aufgeschwungen. Das eigentliche Selbst ist das empirische Ich selber, aber als ein solches, das sein Wesen verwirklicht. Vor der Verwirklichung existiert das eigentliche Selbst, die Vernunft, als ein dem individuellen Ich vorgegebener, nicht disponierbarer Ort der Verwirklichung dessen, was das individuelle Ich zu sich selbst bringt, als ein Ideal, das erst jene Gültigkeit des Erkenntnisanspruchs ermöglicht, auf welche die szientistischen Materialisten so stolz sind. Die von den Materialisten geleugnete Vernunft ist es, die dem wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch Gültigkeit verleiht und die sich damit als etwas erweist, das radikal jenseits von allem existiert, das als bloß Mentales in der je subjektiven Perspektive des Einzelnen aufscheint und darin aufgeht. Vernunft ist gleichzeitig das Innerste der je einzelnen Person und das Äußerste der wissenschaftlichen Per spektive. Es ist dasjenige, was das Innen und Außen gleichermaßen umfasst und so erst kommensurabel macht. Vom szientistischen Materialismus wird die Legitimität des Ver nunftanspruchs in der wissenschaftlichen Welterfassung anerkannt, in der Ethik dagegen normalerweise übersehen. Gemeinsam ist dem jeweiligen Ermöglichungsgrund dieser Legitimität die Perspektiven überwindung, also der Blick von nirgendwo in der Wissenschaft, der unparteiische Standpunkt in der Ethik. Bei Kant können wir die mangelnde Unterscheidung zwischen eigentlichem und individuellem Ich in anderer Gestalt wiedererken nen. Sie führt bei ihm zu einem Erklärungsdefizit in Bezug auf das Verhältnis des Gedankens unserer Unterordnung unter das Sittenge setz zur Idee der Selbstgesetzgebung. In seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« finden wir einerseits starke Ausdrücke für unsere Unterordnung unter das Gesetz, andererseits eine außeror dentliche Betonung unserer Autonomie. In dieser Spannung spiegelt sich exakt das Verhältnis wider, in dem sich das Nagelsche individuelle
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Ich zum eigentlichen Ich verhält. Man könnte es folgendermaßen formulieren: Wir sind Gesetzgeber, insofern wir Vernunft sind. Wir sind dem Sittengesetz unterworfen, insofern wir Vernunft bloß haben. Ich will das näher erklären: Der kategorische Imperativ ist ein Faktum der Vernunft. Insofern er ein Faktum ist, ist er etwas, welches das empirische Ich vorfindet. Es entdeckt in sich das Sittengesetz und kommt darüber ins Staunen, wie Kant es so schön am Ende der »Kritik der praktischen Vernunft« beschreibt. Insofern ist das empirische Ich dem Sittengesetz unterworfen. Es gelangt zur Autonomie nur in dem Maße, wie es dem Sittengesetz gehorcht und sich aus der Fremdbestimmung der Gegenstände seiner Neigungen befreit. Andererseits realisiert sich gerade durch diesen Gehorsam der Mensch als Vernunftwesen. Diese Vernunft ist ihm nicht etwas Fremdes, sondern sein Wesen, in dem allein der Mensch zu sich selbst kommt. Insofern der Mensch »zur Vernunft kommt«, wird er autonom und selber zum Gesetzgeber, denn die Vernunft, die als Gesetzgeber fungiert, ist ja gleichzeitig auch seine Vernunft. Indem der Mensch moralisch wird, steigert er nicht etwa den Charakter der Unterwerfung, den seine Pflichterfüllung besitzt, sondern steigert er seine Identität mit der Vernunft, die die Quelle des Gesetzes ist. Er wird selber zum Gesetzgeber. An dieser Stelle möchte ich, bevor ich fortfahre, noch auf einen Einwand eingehen, der in Form einer These erhoben wird, die tatsäch lich zuweilen vertreten wird. Dieser Einwand betrifft die in diesen Ausführungen zu beobachtende Gleichsetzung von kategorischem Imperativ und Sittengesetz. Stattdessen vertritt er die These, dass der kategorische Imperativ bloß ein Prüfverfahren zur Evaluierung von Normen sei, die als Konkretionen des Sittengesetzes in Frage kommen. Dieser Einwand übersieht, dass auch der kategorische Imperativ ein Imperativ ist, unbeschadet seiner Funktion als Prüfver fahren. Der Kategorische Imperativ sagt nicht nur: Wenn du moralisch sein willst, dann handle so und so! Sondern er sagt: Handle so! Er gibt das Prüfverfahren zu jenem Handeln an, das er zugleich kategorisch befiehlt. Es wäre ein völliges Missverständnis Kants, wenn die Unterwerfung, von der er spricht, nur die Unterwerfung unter die instrumentelle Notwendigkeit eines Prüfverfahrens zum Generieren von Normen wäre, die ihrerseits erstmals den moralischen Imperativ ins Spiel brächten. Der kategorische Imperativ ist selbst ein moralischer und als solcher Gegenstand einer sittlichen Urerfahrung, vergleichbar der Synderesis bei den Scholastikern. Unterwerfung und
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Selbstgesetzgebung verteilen sich bei Kant nicht auf hypothetische und kategorische Imperative, sondern auf verschiedene Aspekte unse res Selbst in Bezug auf den kategorischen Imperativ als Quelle des aus ihm zu deduzierenden Sittengesetzes. Nach dieser Klärung können wir nun die exakte Parallele des ambivalenten Verhältnisses unseres Ichs zum Sittengesetz einerseits und des ambivalenten Verhältnisses der wissenschaftlichen Einstel lung zur Vernunft andererseits erkennen. Die eine Seite der Parallele: Einerseits sind wir dem Sittengesetz unterworfen, andererseits besitzen wir Autonomie und sind selbst Gesetzgeber. Die andere Seite: Einerseits sind wir immer ein individu elles Ich mit seiner besonderen Perspektive, andererseits können wir uns zur universalen Perspektive aufschwingen und unser eigentliches Selbst erreichen, den Ort des Blicks von nirgendwo. Gemeinsam ist beiden Seiten die Fähigkeit zur Selbstrelativie rung als Folge der Einnahme eines Standpunkts, der jenseits dieser Relativierung liegt. Dieses Moment des Absoluten liegt deshalb sowohl im Begriff der Wahrheit wie in dem des Guten. In der Wissenschaft erreichen wir einen Standpunkt, der eine nichtrelative Beschreibung der Welt erlaubt, in der Ethik eine unparteiische Beur teilung dessen, was zu tun ist. Dieser Standpunkt selber aber ist eingenommen von dem indivi duellen Ich, das als dieses individuelle Ich nicht aus seiner Haut kann. Es bleibt immer dieses Ich, das seine individuelle Perspektive niemals los wird. Aber es kann die absolute Perspektive in seine individuelle Perspektive integrieren. Das bedeutet: Indem es dies tut, wird es virtuell, nicht real jene Vernunft, die in Wirklichkeit der Gesetzgeber ist, die Quelle der Gültigkeit jenes Anspruchs, der der Wissenschaft im Bereich der Erkenntnis, dem Sittengesetz im Bereich des Handelns eigen ist. Dieser Aufschwung des individuellen Ichs ist nur möglich, weil Vernunft nicht bloß etwas Mentales ist von der Art, wie es in der wissenschaftlichen Perspektive zum Verschwinden gebracht wird. Die Vernunft ist nicht etwas, das bloß den Status einer Erscheinung in der subjektiven Perspektive des individuellen Ichs hat. Es wird nun Zeit, eine Zweideutigkeit im Begriff der Außenper spektive zu beseitigen. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass dieser Zweideutigkeit eine Ambivalenz der Bewertung dieser Außenperspektive entspricht: Sie ist einerseits das Proprium des szientistischen Materialismus, der durch Leugnung des Geistigen die Grundlagen seines eigenen Anspruchs untergräbt, andererseits die
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Voraussetzung der Einlösung des Vernunftanspruchs, die Wirklich keit perspektivenlos zu erkennen. Diese Zweideutigkeit hängt mit der doppelten Möglichkeit zusammen, die eigene Perspektive zu transzendieren. Die eine Mög lichkeit besteht darin, mit diesem Überschreiten die je einzelnen subjektiven Perspektiven zu übersehen, zu ignorieren oder gar zu leugnen. Nagel beschreibt diesen Vorgang in seiner Erklärung der Genese des physikalischen Weltbildes: »Die physikalische Welt, wie sie eigentlich beschaffen sein soll, enthält keine subjektiven Gesichtspunkte, sie enthält nichts, was nur aus einer besonderen Perspektive zugänglich wäre.« Dem szientistischen Materialisten ist es infolgedessen eigen, »die Wirklichkeit von etwas zu bestreiten, das sich nicht als auf das Physikalische reduzierbar erweist«9. Die andere Möglichkeit besteht darin, die je fremde Perspektive ernst zu nehmen und in die eigene zu integrieren. Die erste Möglich keit führt zur Leugnung des Subjektiven überhaupt, die zweite zur Anerkennung fremder Subjektivität. Die erste Möglichkeit entgeht dem Solipsismus durch Leugnung des eigenen Ichs, die zweite über windet ihn durch Anerkennung mehrerer Ichs. Nagel sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit der Integration der subjektiven Perspektiven, aber in ihrer Durchführung in den je verschiedenen Bereichen der Metaphysik, Ethik und Logik bleibt er fragmentarisch. Die Linie dieser zweiten Möglichkeit konsequenter durchgezogen zu haben, ist das Verdienst der Philosophie Robert Spaemanns. Er bezeichnet die Anerkennung fremder Subjektivität in Form des Selbstseins von Personen als Erwachen zur Wirklichkeit. Ausgangspunkt dieses Gedankens ist gerade die Anerkennung des sen, was der Skepsis der Physikalisten gegenüber der individuellen Perspektive Legitimität verleiht, nämlich der relative Für-uns-Cha rakter dessen, was wir wahrnehmen. Alles, was wir wahrnehmen, ist zunächst einmal Erscheinung. Gerade die Qualia, die als uneinnehm bare Bastion des Anti-Materialismus gelten, haben kein Sein jenseits ihres Wahrgenommenseins. Wo hört das percipi auf und beginnt ein Sein jenseits des percipi? Darüber kann man lange streiten. Wo genau die Grenze liegt, mag ungewiss sein, sicher aber ist Eines: In dem Moment, wo ich den Anderen als Person wahrnehme und anerkenne, habe ich Selbstsein und damit Subjektivität, in deren Perspektive ich wiederum auftauche als Person, deren Sein als Selbstsein anerkannt 9
Die Grenzen der Objektivität, 15.
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sein will. Gleichgültig, wo ich die Grenze zwischen percipi und Sein lokalisiere: der Andere ist auf jeden Fall jenseits dieser Grenze. Personsein ist Wirklichkeit katexochen. Damit eröffnet sich eine dritte Möglichkeit gegenüber der Nagel schen Alternative: Ich kann auch die Perspektive des Anderen einneh men. Das ist der radikale Gegensatz zur physikalistischen Überschrei tung der eigenen Perspektive: nicht Leugnung oder Marginalisierung subjektiver Perspektiven, sondern ihr Ernstnehmen. Dieses Ernst nehmen führt zu einem objektiven Standpunkt durch Verschmelzung meines Horizonts mit dem der Anderen: Aus meiner Welt wird unsere Welt. »Im Wachen haben wir Eine und gemeinsame Welt. Die Träumenden aber wenden sich jeder dem Eigenen zu.« Dieses Wort Heraklits hat Spaemann einem seiner Werke als Motto voran gestellt.10 Das Erwachen zur Wirklichkeit besteht in der Wahrnehmung des Anderen als einer Person, die ebenso wie ich Wahrnehmung und Interessen hat und in der Lage ist, deren Relativität durch die virtuelle Identifikation mit einer Vernunft zu überwinden, die uns gemein sam vorgegeben ist. Die gemeinsame Überwindung der je eigenen Erkenntnisperspektive in einem gemeinsamen Wahrheitshorizont und Wahrhaftigkeitsethos konstituiert die Wissenschaftsgemeinde, die gemeinsame Überwindung der je eigenen Interessenperspektive in der gemeinsamen Anerkennung eines nichtrelativen Sittengeset zes konstituiert die sittliche Gemeinschaft. Mit Recht lokalisiert Spaemann das Gewissen diesseits von theoretischer und praktischer Vernunft als deren gemeinsame Wurzel: Denn im selben Moment, in dem ich Selbstsein wahrnehme, also zur Wirklichkeit erwache, erwacht auch mein Gewissen, nehme ich also den Anspruch wahr, der vom Anderen ausgeht: »Töte mich nicht«, sagt sein Antlitz zu mir (Emmanuel Levinas), sobald ich es erkenne. Das Gewissen ist das Persönlichste im Menschen, und gerade in ihm offenbart sich das Allgemeinste und Allgemeingültigste, nämlich das Sittengesetz, das für alle nur denkbaren Vernunftwesen in allen möglichen Welten gilt. Dieser Charakter des Gewissens hängt wie derum zusammen mit dem Verhältnis von Freiheit und Erkenntnis. Der Vollzug von Freiheit ist immer das unvertretbar Persönlichste, nie Verallgemeinerbare oder Delegierbare eines Menschen. Nur im Vollzug dieser individuellen Freiheit der Anerkennung des Unbeding 10
R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, Stuttgart 1989.
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ten erreiche ich jene Wirklichkeit, die ich mit Anderen teile und die Kommunikation und Gemeinschaft ermöglicht. Der je individuelle Akt der virtuellen Identifikation mit der Vernunft führt zur Erfahrung der Realität jenes Unbedingten, das in der Innenperspektive jedes Gewissens aufscheint und zugleich sowohl höchste Erkenntnis wie tiefste Gemeinsamkeit ermöglicht: der Realität der Liebe. Und zwar jene Liebe, von der zu Recht gesagt wird: »Amor oculus est.«11 Sie allein ist es, die den Nagelschen Perspektivendualismus ohne Verlust auf beiden Seiten überwindet.
11 Richard von St. Viktor, zitiert in: Spaemann, Antinomien der Liebe, in: Spaemann, Schritte über uns hinaus II, Stuttgart 2011, 9–26, hier 12.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft Ein instruktiver Blick auf die Philosophie von Jürgen Habermas
1. Das Dilemma: Die Abwehr des Naturalismus ohne Metaphysik Das Philosophieren von Jürgen Habermas zeigt bei aller Geniali tät und Redlichkeit, die es auszeichnet, das Dilemma, in welches ein Denken gerät, das die Existenz Gottes bestreitet und dennoch bemüht ist, nicht in einen kruden Naturalismus abzugleiten. Die berühmte Friedenspreisrede 20011 signalisierte den Versuch, in die sem Bemühen die Religion als Bündnispartner zu gewinnen, präziser ausgedrückt: den Versuch, jene Wahrheitsgehalte der Religion, die die Feuerprobe aufklärerischer Kritik bestehen, für dieses Bemühen fruchtbar zu machen. Habermas prangert die Gefahr der Entpersonalisierung des Men schen durch den Naturalismus an. Er illustriert sie an einem frappie renden Beispiel, indem er auf den Philosophen Winfrid Sellars (1912– 1989) und seine Schüler verweist, die »die altmodischen Sprachspiele unseres Alltags zugunsten der objektivierenden Beschreibung von Bewußtseinsvorgängen außer Kraft« setzen wollen.2 Mit den altmo dischen Sprachspielen ist jegliche Rede über den Menschen gemeint, die ihn als Person und Autor eines einsichtsvollen, verantwortlichen und moralischen Handelns versteht und darstellt. Der Naturalismus kennt nur Natur. Er verwandelt Handlungen in Naturvorgänge. Sein Projekt der Naturalisierung versucht sich in dem Unterfangen, »die Intentionalität des menschlichen Bewußtseins und die Normativi 1 J. Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001, in: Ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt am Main 2003, 249–262. 2 Ebd. 253.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
tät unseres Handelns« restlos in die extensionale »Begrifflichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie« zu bringen.3 Ein solches Unterfangen ist zum Beispiel die Teleosemantik, »die gedankliche Inhalte biologisch erklären will«4, indem sie etwa die Idee von Normativität evolutionistisch aus dem Bienentanz herleitet, wie Habermas unter Hinweis auf einen einschlägigen Artikel W. Detels5 berichtet. Solchen Naturalisierungsversuchen erteilt Habermas eine radi kale Absage: Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbe schreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie.6
Doch was kann Habermas dem argumentativ entgegenhalten? Zunächst einmal die simple Tatsache, dass wir uns selbst ganz anders erleben als es der Naturalismus beschreibt, nämlich als sprach- und handlungsfähige Subjekte, als »Personen, die voneinander Rechen schaft fordern können, die von Haus aus in normativ geregelte Interaktionen verwickelt sind und sich in einem Universum öffent licher Gründe begegnen.«7 Der Kern unseres Selbstverständnisses sei »dieses Bewußtsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft.«8 Diese unser Leben in der Alltagswelt strukturierende Teilnehmerper spektive steht widerspenstig gegen die Beobachterperspektive des Naturwissenschaftlers. Damit beschreibt Habermas genau jene Dia lektik zwischen Innen- und Außenperspektive, die das Lebensthema Thomas Nagels ist. Auch dieser wendet sich gegen die Dominanz der Außenperspektive, die der Innenperspektive jede epistemische Rele vanz abspricht. Auch Nagel sah sich deshalb genötigt, den mit dieser Dominanz einhergehenden totalitären Welterklärungsanspruch der Evolutionstheorie zurückzuweisen. Nur war er nicht so klug wie Habermas, sich auf einen besonders plumpen Versuch solcher Erklä rung wie den genannten Bienentanz zu beschränken, sondern die Ebd. 254. Ebd. 5 W. Detel, Teleosemantik. Ein neuer Blick auf den Geist? in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 49, 2001, S. 465–491. 6 Habermas, Glauben und Wissen, 255. 7 Ebd. 8 Ebd. 3
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1. Das Dilemma: Die Abwehr des Naturalismus ohne Metaphysik
Problematik tiefer und grundsätzlicher aufzugreifen, was ihm nach der Veröffentlichung von Geist und Kosmos eine Welle der Kritik einbrachte. Tatsächlich ist Habermas, will er die Naturalisierung des Geistes zurückweisen, gezwungen, das Gleiche zu tun. Die referierte biologische Erklärung der Moral ist für dieselbe nicht deshalb desas trös, weil sie auf die Evolution des Bienentanzes rekurriert, sondern auf die Evolution. Dem Antagonismus zwischen Beobachter- und Teilnehmerper spektive entspricht die Kantische Aufspaltung des Menschen in einen homo phaenomenon, in ein Naturwesen, wodurch er Teil der Sin nenwelt ist, und in einen homo noumenon, in ein Freiheitswesen, wodurch er ein Wesen der intelligiblen Welt (Fichte: »Geisterwelt«9) ist. Als phaenomenon ist der Mensch Objekt der reinen, als noumenon Subjekt der praktischen Vernunft. Der Naturalismus depotenziert die Teilnehmerperspektive und reduziert den Menschen auf das, was die Naturwissenschaft über ihn herausfinden kann. Als vorläufige metho dische Selbstbescheidung wäre er legitim. Diese Legitimität büßt er ein, sobald er sich zum Kriterium aller rational verantwortbaren Erkenntnis hochstilisiert. Ein neueres Beispiel dieser Art liefert uns etwa Klaus Peter Rippe, der in philosophischen Debatten nur eine Argumentation für akzeptabel hält, »die mit einem ontologischen Naturalismus vereinbar ist«.10 Unter einem solchen Naturalismus versteht er in treuer Nachfolge Quines die Meinung, dass nur Erfah rung und Naturwissenschaft uns zu verlässlichen Erkenntnissen über die Wirklichkeit verhelfen. Konsequenterweise scheidet er in der Diskussion der Frage, ob der Mensch eine moralische Sonderstellung gegenüber den Tieren einnimmt, das Argument aus der Idee der Got tebenbildlichkeit des Menschen ebenso aus wie die Erkenntnis, dass »der Mensch als intelligibles Wesen außerhalb der Naturordnung steht und Teil eines Geisterreichs ist.«11 Mit Rippe stimmt Habermas überein, dass Religion und Meta physik irreversibel überwunden seien. Doch während Rippe mit 9 So Fichte an mehreren Stellen in seinem Werk, wohl am bekanntesten in der Wendung »Synthesis der Geisterwelt« in seinem Brief an Schelling von 1801: J. G. Fichte, Briefwechsel; Band 2, herausgegeben von H. Schulz, Leipzig 1930, 323. 10 Klaus Peter Rippe, Kann es eine naturalistische Begründung für die moralische Son derstellung des Menschen geben?, in: A. Holderegger/S. Weichlein/S. Zurbuchen (Hgg.), Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft, Fribourg/ Basel 2011, S. 117–126, hier 118. 11 Ebd. 117.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
dem Umstand, dass diese Überwindung nur noch den Naturalismus übriglässt, zufrieden ist, hat Habermas ein waches Gespür für den Verlust, der damit droht. Der Schlüsselbegriff, mit dem er diesen Verlust abwehren will, ist der der rettenden Übersetzung. Es geht ihm darum, die Aussagen der Religion in die säkulare Spreche so zu übersetzen, dass ihr kognitiver Gehalt erhalten bleibt. Zu diesem Gehalt gehört für ihn die Intuition, die hinter der Rede von der Got tebenbildlichkeit des Menschen steht. Während Rippe sie ersatzlos fallen lässt, meint Habermas: »Daß der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muß man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist.«12 Und was ist mit ihr gemeint? Für Habermas lautet die Antwort, dass der Mensch intersubjektiv als Person konstituiert ist, begabt mit Freiheit und deshalb fähig zu Erkenntnis und Liebe. »Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben.«13 Doch die entscheidende Frage, die sich hier stellt, lautet: Kann ich diese Wahrheiten in einer Übersetzung retten, die gerade das weglässt, wodurch sie plausibel werden? Die Freiheit des Menschen wird ja gerade erst dadurch verständlich, dass ich ihn verstehe in seiner Abkünftigkeit von einem Schöpfer, der seinerseits frei ist, und nicht als das Produkt einer Natur, die ihn notwendigerweise vollkommen determiniert, weil sie selber durch und durch determi niert ist. Die Lücken übrigens, die die Quantenphysik gegebenenfalls in den Determinationszusammenhang reißt, werden in naturwissen schaftlicher Perspektive nicht mit einsichtsvoller Freiheit, sondern mit dem Spiel des Zufalls gefüllt. Die Quantenphysik kann deshalb Gottes Retterrolle für die Freiheit nicht übernehmen. Darin weiß ich mich mit Habermas einig: »Die deterministische These ist unabhän gig davon, ob wir Naturgesetze probabilistisch interpretieren. Denn Willkür lässt sich nicht auf Zufall zurückführen.«14 Ob mit oder ohne Quantenphysik: »Zufall und Notwendigkeit« ist nach einem berühmten Buchtitel von Jacques Monod15 das Einzige, was gemäß der Naturwissenschaft die Welt regiert. Habermas beschreibt den Habermas, Glauben und Wissen, 261. Ebd. 14 J. Habermas, Freiheit und Determinismus, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, 155–186, hier 155. 15 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit, München 1971.
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2. Der moralische Standpunkt als Zuspitzung des Dilemmas
Gegenentwurf zum naturalistischen Menschenbild in einer Weise, wie es ein christlicher Theologe nicht besser hätte tun können: Die ins Leben rufende Stimme Gottes kommuniziert von vornherein innerhalb eines moralisch empfindlichen Universums. Deshalb kann Gott den Menschen in dem Sinne ›bestimmen‹, daß er ihn zur Freiheit gleichzeitig befähigt und verpflichtet.16
Die Pointe des Naturalismus besteht gerade darin, Gott durch die Natur zu ersetzen. Der Mensch ist nicht mehr Ebenbild eines freien Gottes, sondern Produkt einer unfreien Natur. Die Freiheit, die sich der Innenperspektive darbietet, ist täuschender Schein, der durch die außenperspektivische Analyse der Naturwissenschaften entlarvt wird. Habermas stellt sich dieser Analyse entgegen, aber er bleibt eine Erklärung der Genese von Freiheit schuldig. Die naturalistische lehnt er ab, weil sie die Freiheit dementiert, die metaphysische, weil Metaphysik überwunden sei. Er will an der Konsequenz des Gottesge dankens festhalten, ohne ihn selber festzuhalten. Personalismus wird zu einem reinen Wunschdenken.
2. Der moralische Standpunkt als Zuspitzung des Dilemmas Schärfer noch als Habermas hat Max Horkheimer dieses Dilemma gesehen. Habermas zitiert ein Wort von ihm über die Kritische Theorie: »Sie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.«17 Berühmt ist Horkheimers Diktum: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.«18 Mit ihm setzte sich Habermas zehn Jahre vor seiner Friedenspreisrede in einem Aufsatz auseinander.19 In diesem Aufsatz zeigt Habermas anhand des Horkheimer schen Denkens sehr schön die Aporie, in die die nachmetaphysi Habermas, Glauben und Wissen, 262. M. Horkheimer, Gesammelte Schriften; Band 14: Nachgelassene Schriften 1949– 1972, Frankfurt am Main 1988, 508 (zitiert nach: Habermas, Glauben und Wis sen, 260). 18 M. Horkheimer, Theismus – Atheismus (1963), in: Ders., Gesammelte Schriften; Band 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main 1985, 173–186, hier 184. 19 J. Habermas, Zu Max Horkheimers Satz: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel«; in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, 21992, S. 110–126. 16
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
sche Vernunft geraten ist. Einerseits will Horkheimer am kognitivis tisch begründeten Wahrheitsanspruch moralischer Urteile festhalten: Die Positivisten wissen nichts davon, daß der Haß gegen einen anständigen und die Ehrfurcht vor einem niederträchtigen Menschen nicht bloß vor der Sitte, sondern vor der Wahrheit verkehrte Regungen, nicht bloß ideologisch tadelnswerte, sondern sachlich verkehrte Erfahrungen und Reaktionen sind.20
Andererseits dürfte es diese Einsicht nach der im Naturalismus zu Ende gedachten Aufklärung gar nicht mehr geben, da dieselbe mora lische Werte aus dem Bereich der Wirklichkeit verbannt hat. Daraus ergibt sich die berühmte Schlussfolgerung, die Adorno und Horkhei mer in der Dialektik der Aufklärung gezogen haben, dass es nämlich unmöglich sei, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen. Diese Aussage ist berechtigt, sofern sie eine Kritik an der instrumentellen Vernunft darstellt. Die Kernfrage, die sich hier angesichts des Problems der Beziehung zwischen Moral und Vernunft stellt, ist die: Was ist nach der Kantischen Vernunftkritik noch an nichtinstrumenteller Vernunft übriggeblieben? Horkheimer ist pessimistisch. Kants praktische Vernunft lehnt er als formalistische ab. Und Metaphysik ist der Vernunft für immer verschlossen. So bleibt für Horkheimer zur Rettung der Moral, jenseits der Vernunft, nur noch der Rückgriff auf die Theologie: »Diese hütet das Erbe einer inzwischen entmachteten substantiellen Vernunft«, so Habermas Horkheimer referierend.21 So weit will Habermas nicht gehen. Er setzt an die Stelle von Kants praktischer Vernunft die kommunikative Vernunft seiner Dis kursethik. Mit diesem Ansatz kann er einen Gerechtigkeitsbegriff etablieren, der sich aus den Geltungsansprüchen ergibt, die jeder not wendigerweise anerkennt, der sich auf eine Kommunikation einlässt. Damit ist schon einmal viel für eine egalitäre, universalistische Moral gewonnen. Doch wie weit trägt dieser Ansatz? Streng genommen beschränkt sich die durch ihn ermöglichte Moral auf Fragen der Verfahrensfairness in der Suche nach einem Konsens über einen auszuhandelnden Kompromiss zwischen konfligierenden Interessen. Habermas spricht deshalb zurecht von prozeduraler Vernunft. Aber 20 Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, Frankfurt am Main 1974, 102 (zitiert nach: Habermas, Zu Max Horkheimers Satz, 112 f. 21 Habermas, Zu Max Horkheimers Satz, 113.
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2. Der moralische Standpunkt als Zuspitzung des Dilemmas
eine solche Vernunft kann weder die Frage beantworten nach den materialen Gehalten dessen, was Interessen überhaupt legitimiert, noch jene nach dem, was das eine große Interesse an einem gelingen den, sinnvollen Leben befriedigen kann. Hier nun steht für Habermas Religion als Sinnressource bereit. Habermas gibt zu, dass er Horkheimers Diktum nur widerlegen kann, insofern es bei dem zu rettenden Sinn um die im Diskurs erhobenen Wahrheitsansprüche geht. Diese können wir retten ohne Gott: »Nachmetaphysisches Denken unterscheidet sich von Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott oder ein Absolutes.«22 Nicht dagegen wird gerettet »ein unbedingter Sinn, der Trost spendet« angesichts von Leid und Unge rechtigkeit, und auch nicht ein Sinn, der dazu motiviert, überhaupt moralisch zu sein. Der Verzicht auf Trost, das Aufgeben der Hoffnung auf end gültige Wiedergutmachung von Leid und Ungerechtigkeit mag als Heroismus intellektueller Redlichkeit angesichts der Wahrheitsfrage durchgehen. Wenn die Wahrheit freudlos ist, bleibt uns tatsächlich nur noch Horkheimers »metaphysische Trauer«.23 Mut zur Wahrheit bedeutet dann Mut zur Verzweiflung und das Eingeständnis, dass Horkheimers »Sehnsucht nach dem Anderen«24 unerfüllbar bleibt. In dieser Konsequenz ist Habermas rechtzugeben. Anders verhält es sich bei dem Mangel an Sinn, der den morali schen Standpunkt unterläuft. Habermas handelt das Problem unter dem Stichwort mangelnder motivationaler Kraft der normativen Ver nunft ab. Dabei geht es nicht nur um die kontingente psychische Verfassung des Einzelnen. Das wäre trivial. Jedes einzelne Verbre chen, das auf der Welt geschieht, geht darauf zurück, dass beim Täter die Einsicht in das Gute nicht genügend Kraft hatte, sich gegen die Übermacht jener Leidenschaften durchzusetzen, die als Triebfeder hinter dem Verbrechen standen. Es geht um etwas Grundsätzlicheres, das die praktische Vernunft als solche tangiert. In seinem Artikel Ein Bewußtsein von dem, was fehlt aus dem Jahr 2007 spricht Habermas Ebd. 125. M. Horkheimer, Zu Theodor Haeckers »Der Christ und die Geschichte«, in: Ders., Kritische Theorie. Eine Dokumentation; Band 1, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1968, 361–373, hier 372. 24 So der Titel eines Gesprächs mit Helmut Gumnior, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften; Band 7, 385–404. 22
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
von der Verzweiflung der praktischen Vernunft. Er meint damit ihre Ohnmacht, die sich zeigt, wenn sie ohne geschichtsphilosophischen Rückhalt an der motivierenden Kraft ihrer guten Gründe verzweifelt, weil die Tendenzen einer entgleisen den Moderne den Geboten ihrer Gerechtigkeitsmoral weniger entge genkommen als entgegenarbeiten.25
Und er spricht davon, dass die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung [verfehlt], wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.26
Ganz deutlich bereits seine Aussage in einem früheren Aufsatz: »Tatsächlich kann eine nachmetaphysisch denkende Philosophie die Frage, an die auch D. Tracy erinnert – warum überhaupt moralisch sein? –, nicht beantworten«.27 In seinem Horkheimeraufsatz gibt er sich ebenfalls pessimistisch im Hinblick auf eine »motivierende Antwort auf die Frage«, warum wir »überhaupt moralisch sein sollen«, und zieht die Konsequenz: »In dieser Hinsicht ließe sich vielleicht sagen: einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.«28 Damit spricht Habermas ein Defizit an, das in seiner Philoso phie dem moralischen Standpunkt als solchem innewohnt. Einerseits beansprucht der moralische Standpunkt eine der Vernunft einsichtige absolute Geltung, andererseits kann er nicht garantieren, dass es sinnvoll ist, konsequent nach ihm zu handeln und sein Leben nach ihm auszurichten. Die innere Sinnhaftigkeit des moralischen Stand punkts ist bedroht, wenn das Unrecht triumphiert und das letzte Wort hat, wenn folglich jene moralischen Nihilisten wie Nietzsche Recht haben, die behaupten, dass er uns in Wirklichkeit nur vom wahren Leben abhält. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Sinnlosigkeit des Lebens propagiert oder seinen Sinn in außermoralische Werte wie Macht oder Lustgewinn verlegt. Der entscheidende Punkt ist der, dass die Geltung der Moral von innen her bedroht ist, wenn 25 J. Habermas, Ein Bewußtsein von dem, was fehlt, in: M. Reder/J. Schmidt (Hgg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas; Frankfurt am Main 2008, 26–36, hier 30. 26 Ebd. 30 f. 27 J. Habermas, Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits; in: Ders., Texte und Kontexte, 127–156, hier 144. 28 Habermas, Zu Max Horkheimers Satz, 125 (Hervorhebung im Original).
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3. Unvereinbarkeit des moralischen Standpunkts mit dem Naturalismus
der moralische Standpunkt nicht mehr imstande ist, sich gegen den Vorwurf der Sinnlosigkeit zu wehren, sei es, weil er angeblich der eigentlichen Sinnerfüllung im Wege stehe, sei es, weil das Leben im Ganzen sinnlos sei. Auch auf diesen Zusammenhang können wir Adornos Wort »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« abwandelnd anwenden: »Es gibt keine sinnvolle Moral im Sinnlosen.« Wenn Blaise Pascal sagt: »Die Gerechtigkeit ist ohnmächtig ohne die Macht; die Macht ist tyrannisch ohne die Gerechtigkeit«,29 dann dürfen wir darin die Einsicht in den Sachverhalt erkennen, um den es hier geht. Wenn die Gerechtigkeit ohnmächtig ist, dann ist der, der sich ihr verschreibt, der Dumme, und jener, der nach dem Grundsatz handelt, dass das Recht des Stärkeren gelte, darf sich durch den praktischen Erfolg seines Grundsatzes in seinem moralischen Nihilismus bestätigt fühlen. Oder nochmals anders gewendet: Sokra tes’ Grundsatz, es sei besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, kann vor dem Vorwurf der Torheit nur geschützt werden, wenn – aufs Ganze gesehen – der moralische Handelnde sich durch seine Moralität nicht selber ruiniert und um das bringt, was die Erfüllung seines Menschseins ausmacht. Wenn die Antwort auf die Sinnfrage aus anthropologischer Perspektive anders ausfällt als aus moralischer, dann ist es um die Geltung moralischer Normen geschehen. Deren Autorität wird von innen her ausgehöhlt, wenn sie vom Standpunkt des moralischen Nihilismus aus ungestraft der Lächerlichkeit preisge geben werden kann und damit gegen ihre eigene Intention dessen Anspruch bestätigt, dass nur er sich im praktischen Leben bewährt. Wenn Moral nicht lebbar oder – aufs Ganze gesehen – nur etwas für solche ist, die sich damit abfinden, auf der Verliererseite des Lebens zu stehen, würde ein Schatten auf ihren Anspruch fallen, der ihr Licht verdunkelt. Umgekehrt bedeutet das: Die strahlende Evidenz sittlicher Einsicht ist unvereinbar mit einem Weltbild, das jenen Schatten unvermeidlich macht.
3. Die Unvereinbarkeit des moralischen Standpunkts mit dem naturalistischen Weltbild Hier zeigt sich, dass die Anerkennung moralischer Normen in ihren Konsequenzen nicht weltbildneutral ist. Habermas’ Konzeption baut 29
Blaise Pascal, Gedanken, Berlin 2012, 70.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
ganz auf der Trennung von Moralität und Weltbild auf. Das Weltbild mit seinen Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des Menschen und der Welt im Ganzen überlässt er der Kompetenz der empirischen Wissenschaften, während er die Konzeption der Moralität allein aus der Teilnehmerperspektive der Diskursteilnehmer entwickelt. Er will die Moral vor den Naturwissenschaften retten, ohne deren totalitären Welterklärungsanspruch in die Schranken zu weisen, denn das würde Metaphysik bedeuten. Zwar meint Habermas, dass die nachmetaphysische Vernunft ohne Rückgriff auf Metaphysik und Theologie mit dem Naturalismus fertig werden kann. Doch ein Blick auf den Aufsatz Freiheit und Deter minismus30, wo er das versucht, lässt Zweifel aufkommen. Tatsächlich bleibt ihm hier nur der Rekurs auf die Teilnehmerperspektive, um den epistemischen Totalitätsanspruch des objektivierenden Zugriffs der Naturwissenschaften, insbesondere der Neurologie, abzuwehren. Doch dieser Rekurs wird zu einem hilflosen Appell, wenn er schreibt, der Preis des Determinismus sei die Notwendigkeit, »das Selbstver ständnis rational Stellung nehmender Subjekte zur Selbsttäuschung« zu erklären.31 Denn diese Selbsttäuschungsthese ist nicht der Preis, sondern der exakte Inhalt der naturalistischen These. Der Clou des Naturalismus ist ja gerade jener Aufklärungsgestus, mit dessen Hilfe er sich einen Spaß daraus macht, unser lebensweltliches Selbstver ständnis als Illusion zu entlarven. So zutreffend Habermas’ Darlegungen über Willensfreiheit, Zurechenbarkeit und verantwortliche Handlungsurheberschaft, die unser personales Selbstverständnis ausmachen, auch sind, so auto destruktiv ist seine Warnung vor einer Ontologisierung des Perspek tivendualismus zu einem Dualismus von Geist und Natur. Er will nur einen »methodologischen Dualismus der Erklärungsperspektiven von Teilnehmern und Beobachtern« gelten lassen.32 Aber er bleibt jede Erklärung schuldig, wie dieser schwache Dualismus logisch konsistent sein kann mit seiner Ablehnung des Reduktionismus und des Epiphänomenalismus, den er bei Wolf Singer kritisiert. Denn wenn Geist, Freiheit und Selbstbewusstsein kein echtes ontisches Plus gegenüber der Natur implizieren, bleibt rätselhaft, was sie denn anderes sein sollen als bloße Epiphänome von Naturvorgängen. Oder 30 31 32
Habermas, Freiheit und Determinismus (Anm. 14). Ebd. 179. Ebd. 166.
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3. Unvereinbarkeit des moralischen Standpunkts mit dem Naturalismus
ganz banal gefragt: Kann Materie als solche frei, verantwortlich oder moralisch sein? Wenn wir diese Eigenschaften notwendigerweise an Personalität binden, dann deshalb, weil Personsein kategorial über Materiesein hinausgeht. Auch unsere Leiberfahrung und unsere Iden tifizierung mit unserem Leib ändert nichts an diesem Sachverhalt. Wenn auch unser bewusstes Leben verkörpert (»embodied«) ist, so ist doch letztlich das, was verkörpert ist, etwas Anderes als der Körper selbst. Fichtes polemisches Wort über jene Menschen, die sich eher »für ein Stück Lava im Mond, als für ein Ich halten«33, zielt auf jene Ureinsicht der Bewusstseinsphilosophie, die jeden graduellen Übergang zwischen dem Ich und der Lava ausschließt, auch wenn diese Lava die komplexe Form eines menschlichen Gehirns hat. Auch der von Habermas in Anschlag gebrachte linguistic turn nach dem angeblichen Scheitern der Bewusstseinsphilosophie kann diese Einsicht nicht als überholt erweisen. Zwar scheint Habermas, wenn er sowohl von »sozialisierten Gehirnen« wie auch von »sozialisierten Geistern«34 spricht, eine Austauschbarkeit dieser Begriffe zu belegen. Doch erstens kann er diesen Sprachgebrauch nicht durchhalten, und zweitens gibt er zu, dass auch mit der Leugnung der ontologischen Differenz zwischen Geist und Gehirn das Problem der Wechselwirkung zwischen der Kausalität der Natur und jener aus Freiheit nicht aus der Welt geschafft ist. Habermas versucht das Problem zu präzisieren und beschreibt es als das Problem der Interaktion zwischen den determinierenden neu ronalen Prozessen und dem, was er die »kulturelle Programmierung« des Gehirns nennt.35 Damit meint er die Handlungsmotivation durch Gründe. Aber das so gefasste Problem dieser Interaktion wird gerade dann unlösbar, wenn der Adressat der neuronalen Prozesse und der intentional erlebten Motivation ein und dasselbe Subjekt, nämlich das Gehirn ist. Dieses Konzept führt zu einer Überbestimmtheit des Gehirns: Die naturwissenschaftliche Erklärung seines Verhaltens will ja, weil deterministisch, auch als hinreichend anerkannt werden und lässt deshalb keinen Raum mehr für eine weitere Erklärung aus der Innenperspektive. Wenn das Gehirn bzw. der Leib alles ist und die Rede von »Geist« dasselbe nur aus anderer Perspektive meint, 33 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: Ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von R. Lauth und H. Jacob; Band I,2: Werke 1793–1795, 175–451, hier 326. 34 Habermas, Freiheit und Determinismus, 177 und 178. 35 Ebd. 179.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
bleibt für die auch Habermas so teure Freiheit kein Platz mehr. Wie soll das Ich, das frei ist, mit dem Gehirn, das naturgesetzlich determi niert ist, identisch sein können? Habermas zeigt überzeugend, dass Handlungsgründe Ermächtigungsinstanzen zur freien Entscheidung sind, also in ihrer Wirkung das Gegenteil von determinierender und damit entmächtigender Naturkausalität. »Programmierung« ist ein Wort, das im normalen Sprachgebrauch einen Vorgang beschreibt, der gerade keine Freiheit stiftet, sondern nur eine besondere Weise der Determination darstellt. Der Zusatz des Adjektivs »kulturell« kann dem nicht abhelfen. Sprachliche Gewaltstreiche können den Dualismus in der Sache nicht aus der Welt schaffen. Es bleibt bei der Frage: Wie soll ein und dasselbe Subjekt gleichzeitig zur Freiheit ermächtigt und von Naturgesetzen determiniert sein? Eine Korrela tion zwischen Bewusstseinsvorgängen und neuronalen Prozessen soll und braucht gar nicht bestritten werden. Aber sie setzt, sofern man beide Wirklichkeiten ernst nimmt, eine ontologische Verschiedenheit der Korrelata voraus. Deshalb ist und bleibt Intentionalität nicht in Naturkausalität übersetzbar. Davon ist ja auch Habermas überzeugt. Nur liegt eben diese Unübersetzbarkeit in der dualistischen Struktur der Wirklichkeit begründet. Der Weg, auf dem uns Habermas an einem starken Dualismus von Geist und Natur vorbeiführen will, erweist sich als Sackgasse. Diesen Dualismus hat übrigens Kant gerade auch mit seiner Vernunftkritik erneut bestätigt und verankert, denn dieselbe lebt ganz aus der Einsicht, dass Vernunft als solche etwas anderes ist als alles, was uns jemals als Natur erscheinen kann. Das sonst so beliebte Verdikt, nicht hinter Kant zurückgehen zu dürfen, scheint recht selektiv angewandt zu werden. Man kann nicht den Ertrag seiner Vernunftkritik dogmatisieren, ohne ihre Vorausset zungen zu teilen. Die Widerlegung des Reduktionismus ist ohne Abschied vom Materialismus nicht zu haben: das ist ein gemeinsamer Nenner der metaphysischen wie der nachmetaphysischen Vernunft. Doch nur für jene wird dieser Sachverhalt nicht zu einem Dilemma. Die Folge von Habermas’ Weltbildneutralität ist für seine eigene Position desaströs. Er muss den Naturwissenschaften das Monopol in allen Fragen überlassen, die das Woher betreffen. Da er keine Alternative zu einer materialistisch imprägnierten Evolutionstheorie anbieten kann, bleibt der behauptete Bereich einer kommunikativen Vernunft, der in sich alles birgt, was unser personales Selbstverständ nis ausmacht, eine verlorene Insel im Meer des Naturalismus, die der anschwellenden naturwissenschaftlichen Objektivierung schutz
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4. Habermas‘ Zurückweichen vor den Konsequenzen
los preisgegeben ist. Die von Habermas prätendierte Einhegung naturwissenschaftlicher Aussagen auf eine bloß regionale Geltung ist angesichts dieses Sachverhalts illusorisch. Sein als unwiderruflich proklamierter Abschied von jeder Metaphysik bedeutet die Absage an jede Art von Festland, das jenes Meer einhegen und als Binnenge wässer in eine Region jener Landschaft integrieren könnte, die als eine geborene Heimat der Vernunft in Frage käme.
4. Habermas‘ Zurückweichen vor den Konsequenzen Habermas lehnt es auch ab, jene Insel als archimedischen Punkt zu benutzen, um von ihm aus eine Brücke übers Meer zum Festland zu konstruieren. Einen solchen Versuch hat in der Diskussion mit Habermas Josef Schmidt SJ unternommen36. Er wählt einen anderen Ansatz als ich. Während ich wie oben beschrieben einfachhin von der in der sittlichen Erfahrung gegebenen Geltung moralischer Normen und ihrer Implikationen ausgehe, spinnt Schmidt den Habermaschen Gedanken der Unhintergehbarkeit der Diskursvoraussetzungen wei ter. Die Diskursethik verschafft sich ja einen festen Grund durch den Nachweis, dass der Leugner einer unbedingten Geltung etwa von Wahrheitsansprüchen oder von Handlungsrechtfertigungen in einen performativen Widerspruch zu sich selbst gerät, sobald er am Diskurs teilnimmt. Schmidt lädt nun dazu ein, diese Unhintergehbar keit oder, wie er es nennt, den »reflexiven Zirkel der Vernunft«37 nicht nur faktisch hinzunehmen, sondern auch seinerseits reflexiv zu begründen. Der Naturalismus kann diese Begründung nicht leisten. Schmidt verankert den Zirkel deshalb im Gedanken Gottes als der »schlechthinnige[n] Unbedingtheit«, aus der die unausweichliche Verpflichtung auf Wahrheit und Gutheit wie auch die Befähigung, dies zu erfassen, zu verstehen und zu begründen [ist]. Mit dieser Unbedingtheit ist dann auch der absolute Selbstzweck gegeben, der Selbstzweck Gottes, der in uns präsent ist und als Norm und Ziel unseres Strebens unseren Selbstvollzug ausmacht. Er ist es,
36 Josef Schmidt SJ, Ein Dialog, in dem es nur Gewinner geben kann, in: Reder/Schmidt (Hgg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt, 79–93. 37 Ebd. 91.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
der uns die unbedingte Achtung abfordert, wo immer er erscheint: in uns selbst und in jedem Mitmenschen.38
Es ist nun interessant zu sehen, wie Habermas auf diese Einladung reagiert. Er könnte sich ja darauf einlassen und, wenn er nicht damit einverstanden ist, zu zeigen versuchen, dass Schmidts Schlussfol gerungen falsch oder jedenfalls nicht zwingend seien. Stattdessen antwortet er in seiner sehr höflich und vornehm gehaltenen Replik: »Nun, diese weiterreichenden Züge muß und kann der Agnostiker auf sich beruhen lassen«.39 Was heißt das? (a) Tatsächlich kann es der Agnostiker auf sich beruhen lassen, insofern er Pragmatiker ist, dem es letztlich einfach darum geht, dass der Diskurs klappt. In diesem Fall genügt es, sich auf die unmittelbaren Voraussetzungen des Diskurses zu verständigen, ohne sich auf eine Reflexion ihrer Verortung im Weltganzen einzulassen. An anderer Stelle meint Habermas sogar, die Sprachpragmatik setze die Prämis sen der Körper-Geist-Problematik »außer Kurs«.40 Natürlich tut sie das nicht. Sie löst nicht das Körper-Geist-Problem, sondern richtet ihren Fokus im Zuge der »kommunikationstheoretischen Wende« auf ein Problemfeld, in dem es nicht mehr vorkommt. Das hängt mit jener Strategie zusammen, die die Bewusstseinsphilosophie dadurch für überwunden erklärt, dass sie an die Stelle subjektiver Einsichten die Öffentlichkeit grammatischer Ausdrücke setzt41 – als ob die Intersubjektivität der Sprache jemals den jeweils höchst individuellen und freien Akt der erkenntnismäßigen Aneignung oder Ablehnung des sprachlich Vernommenen ersetzen könnte. (b) Und der Agnostiker muss es auf sich beruhen lassen, solange er Agnostiker bleiben will. Aber muss er das wollen? Habermas betreibt einen großen Aufwand, um zu zeigen, dass das Denken nach Kant nie mehr zur Metaphysik zurückfinden kann.42 Seine souveräne Beherrschung des philosophiegeschichtlichen Stoffes erlaubt es ihm, aus dem dichten Netz historischer Ideenverläufe auf geniale Weise jene herauszugreifen, die ihn ein Bild zeichnen lassen, das die ganze Philosophiegeschichte im Sinne eines kontinuierlichen Aufklärungs Ebd. 90 f. J. Habermas, Eine Replik, in: Reder/Schmidt (Hgg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, 94–107, hier 106. 40 J. Habermas, Metaphysik nach Kant, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philo sophische Aufsätze, Frankfurt am Main 62013, 18–34, hier 28. 41 J. Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, in: Ebd. 35–60, hier 54. 42 Vor allem in seinem Aufsatz Motive nachmetaphysischen Denkens (Anm. 41). 38
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4. Habermas‘ Zurückweichen vor den Konsequenzen
fortschritts auf die Diskursethik zulaufen lässt. Die Ideengeschichte, wie er sie zeichnet, erscheint wie der Gang der Vernunft selbst. Doch bei genauerem Hinschauen stellt sich heraus, dass das Ergebnis des sich auf höchstem Abstraktionsgrad bewegenden Durchlaufs durch die Philosophiegeschichte in Wirklichkeit von vorneherein der klammheimliche Kriterienlieferant für seine Selektion der Ideenver läufe war. Mit anderen Worten: Das gewünschte Vexierbild ist nur deshalb das Ergebnis jener Linien, die es zeichnen, weil es zuvor ihr Favorisierungsprinzip war. So ist z.B. nicht einsehbar, nach welchen Kriterien Infragestellungen Kantischer Theoreme das eine Mal als legitim, das andere Mal als Rückfall in voraufgeklärte Zeiten gelten sollen. Wenn das Kriterium der Gebrauch des eigenen Verstandes ist, dann kann nur die Bereitschaft zur Reflexion auf die Implikatio nen dessen, was die Bedingung der Möglichkeit der Diskursethik ausmacht, als aufgeklärtes Denken durchgehen, vollkommen gleich gültig, ob solche Reflexion auf metaphysisches Festland vordringt oder nicht. Doch bei Habermas reichen die Gründe solcher Reflexions verweigerung tiefer. Wer befindet sich im Dialog? Habermas und Schmidt, Philosoph x und Theologe y? Das ist nicht die Perspektive Habermas’. Wenn wir in seiner Replik solchen durchaus typischen Wendungen begegnen wie jener, dass »sich die säkulare Vernunft mit den Mitteln nachmetaphysischen Denkens Gehalte aus der christli chen Überlieferung nach eigenen Maßstäben anzueignen versucht«,43 dann erahnen wir, dass sich für Habermas nicht einzelne, um Erkennt nis ringende Personen im Dialog befinden, sondern verschiedene Vernunfttypen. Mit der metaphysischen Vernunft setzt sich die säku lare Vernunft auseinander, und Habermas ist ihr Prophet. Insofern er sich ein für alle Mal auf die Rolle des Repräsentanten der säkularen Vernunft festgelegt hat, kann er sich nicht mehr auf einen Gedanken gang einlassen, der ihn aus ihr herausführen würde. Damit hängt ein letztes Phänomen zusammen, das hier ange sprochen werden soll. Einerseits will Habermas das Wahre an der Religion im Geist der Aufklärung retten, andererseits betont er immer wieder, dass die säkulare Vernunft sich nicht anmaßt, über die Wahr heit der Religion zu richten. Aber wie soll es möglich sein, ohne Urteil über den Wahrheitsgehalt die wahren und damit rettungswürdigen Gehalte der Religion aus der Gesamtmasse des religiös Geglaubten 43
Habermas, Replik, 103.
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Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft
herauszufiltern? Auflösen lässt sich dieser Widerspruch nur, wenn man diese beiden Akte der Rettung und der Urteilsenthaltung auf verschiedene Subjekte verteilt: Der Einzelne mag sich der Religion öffnen, sich ihre Wahrheitsgehalte aneignen und ihre Sinnressourcen in den gesellschaftlichen Diskurs einspeisen; die säkulare Vernunft als solche kann das nicht, ohne aufzuhören, sie selbst zu sein; sie bleibt notwendigerweise agnostisch und antimetaphysisch. Aber eine für sich agierende säkulare Vernunft, wie sie hier vorausgesetzt wird, gibt es nicht, sie ist ein Abstraktionsbegriff. Es gibt nur den Einzelnen, der frei ist und sich entscheiden muss, ob er seine Vernunft für die Erkenntnis jener Wahrheiten öffnet, deren Nut zen Habermas retten will, ohne sie selbst anzuerkennen. Nach dem Motto: »Wasch mich, aber mach mich nicht nass«, kann der einzelne Philosoph nicht verfahren. Die Idee der Menschenwürde als absoluter Wert kann nur dann auf Dauer von Nutzen bleiben, wenn sie von der Wissenschaft nicht entzaubert werden kann, sondern überzeugend in der Wirklichkeit verankert wird. Wenn sie aber innerhalb eines naturalistischen Weltbildes nicht zu halten ist, kommt jeder Einzelne, der von ihr überzeugt ist, nicht umhin, sich den Konsequenzen zu stellen und sich einem alternativen Weltbild zu öffnen, in dem Würde, Vernunft und Moral ihren Platz haben. Dafür bietet sich das theisti sche Weltbild an, in dem die Vernunft am Anfang steht, nämlich als göttliche: Aus ihr erklärt sich ganz zwanglos sowohl die Intelligibilität des materiellen Kosmos, von der die Naturwissenschaften profitieren, wie auch die höherstufig intelligible Welt der Personen mit ihrem moralischen und axiologischen Inventar.
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Joseph Ratzingers Gotteshypothese
Als Joseph Kardinal Ratzinger am 1. April 2005 in einem tiefschür fenden Vortrag über die Errungenschaften und Grenzen der Aufklä rung »unseren Freunden, die nicht glauben«, den Vorschlag machte, so zu leben, »veluti etsi Deus daretur – als ob es Gott gäbe«1, fehlte es nicht an Kritikern, die diesen Vorschlag wie einen schlechten April scherz behandelten. Und es war ausgerechnet ein Theologe, der von einem »Taschenspielertrick« sprach.2 Natürlich sieht der Vorschlag zunächst wie ein solcher Trick aus, dreht er doch einfach den Spieß um, den der aufklärerische Slogan »etsi Deus non daretur« (»so als ob es Gott nicht gäbe«) darstellt. So leben, als ob es Gott nicht gäbe? Der biblisch geschulte Leser denkt bei diesem Slogan an den Wunsch der in den Psalmen so oft beklagten Gottesleugner, mit dem Wegfall Gottes auch von seinen Geboten befreit zu sein, die ihrem gott‑ und sittenlosen Treiben im Wege stehen. Doch so war und ist der Slogan von vielen Aufklä rern gerade nicht gemeint. Der Atheismus soll nicht den Weg für die ersehnte Sittenlosigkeit frei machen, sondern im Gegenteil die Moral von ihrem metaphysischen Ballast befreien, damit sie auch der nachmetaphysischen Vernunft plausibel bleibt. Die Moral soll auf ein Fundament gestellt werden, das nicht auf den Gottesglauben angewiesen ist und deshalb von den einschlägigen Kontroversen unberührt bleibt. Die Aufklärer wollten eine Moral, die den Tod Gottes überlebt. Das ist an sich ein ehrenwertes Unterfangen. Doch ist dieses Projekt nicht gescheitert? Ratzinger verweist auf die verschiedene Geschwindigkeit, mit der einerseits der technische, andererseits der moralische Fortschritt sich vollzogen hat. Dieser hinkt jenem hinterher. Dank der Gentechnik sind der menschlichen Selbstmanipulation kaum noch Grenzen gesetzt. Der Mensch
J. Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen (Rede in Subiaco am 1. April 2005), in: JRGS 3, 765–777, hier 776. 2 Henning Klingen, Als wenn es keinen Gott gäbe, in: Die Furche, April 2011. 1
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Joseph Ratzingers Gotteshypothese
Ist in die Brunnenstuben des Seins hinabgestiegen, hat, die Bausteine des Menschseins entziffert und kann nun sozusagen selbst den Men schen montieren, der dann nicht mehr als ein Geschenk des Schöpfers in die Welt tritt, sondern als Produkt unseres Machens und damit auch nach den selbstgewählten Bedürfnissen selektiert werden kann. Über diesem Menschen leuchtet dann nicht mehr der Glanz der Gottebenbildlichkeit, der ihm seine Würde und seine Unantastbarkeit gibt, sondern nur noch die Macht des menschlichen Könnens.3
Genau dieser drohende Verlust des Gedankens der unverletzlichen Menschenwürde ist es, was auch Jürgen Habermas umtreibt, also jenen Philosophen, der als der einflussreichste zeitgenössische Vor kämpfer philosophischer Aufklärung gelten kann. Er sucht nach einem Äquivalent der Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen, nach einer rettenden Übersetzung dieser Idee in die säkulare Sprache. Habermas und Ratzinger haben gemeinsam, dass sie Kant in dieser Übersetzerrolle sehen. Dabei stellt Ratzinger aber fest: »Auch das grandiose Bemühen Kants hat die nötige gemeinsame Gewissheit nicht schaffen können.«4 Der kategorische Imperativ Kants ist ein Faktum der Vernunft. Aber gerade die Vernunft selber wurde in der Folgezeit desavouiert: Von Philosophen wie Nietzsche etwa wurde sie im Namen des nach Kraftentfaltung drängenden Lebens entmachtet, von den Naturalisten als biologisches Epiphänomen bagatellisiert. Wenn nun Habermas schreibt: »Bei Kant findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo«5, dann wirft er damit – da ja für das aufgeklärte Denken die Autorität göttlicher Gebote entfällt – die Frage auf, woher die moralischen Imperative ihre Autorität denn nun haben. Auch Habermas' kommunikative Vernunft ist vor dem naturalistischen Zugriff nicht a priori gewappnet. Habermas' älterer Kollege aus der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, hat die Unentbehrlichkeit der Gottesidee deutlicher ausgesprochen, wenn er über die Kritische Theorie sagt: »Sie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn«6. Horkheimer merkte dies genau in dem Zusammenhang an, der uns hier beschäf Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, 765. Ebd. 776. 5 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001, in: Ders., Zeitdia gnosen. Zwölf Essays, Frankfurt am Main 2003, 249‑262, hier 257. 6 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt am Main 1988, S. 508, von Habermas zitiert in Glauben und Wissen, 260. 3
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tigt. Die kategorische Verurteilung des Mordes etwa setze eine »letzte Autorität« voraus, die ihn verbiete. Das bedeutet: Wenn der Gang der Ideen seit der Aufklärung das Projekt einer atheistischen Moral zum Scheitern gebracht hat, dann muss man in Sachen der Moral wenigstens so tun, als ob es Gott gäbe – also genau das, was Ratzinger vorgeschlagen hat. Diese Volte macht Habermas freilich nicht mit. Er hält am Ausgangspunkt seines Philosophierens, nämlich an der Erfahrung unserer selbst als Personen und verantwortliche Urheber normenge leiteten Handelns wie an einem archimedischen Punkt fest, an dem sich der Naturalismus die Zähne ausbeißt. Der Naturalismus, der im Namen der Wissenschaft dieses personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Beschreibung mittels szientistischer Kategorien ablösen will, ist deshalb für ihn keine Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie. Tatsächlich ist diese Ablösung nur ein Projekt, ihre Möglichkeit lediglich eine Arbeitshypothese. Bewiesen ist gar nichts. Es stellt sich die Frage der Beweislastverteilung in dieser Dialektik zwischen wissenschaftlicher Außen‑ und sich lebensweltlich stets durchsetzender Innenperspektive. Solange keine plausible Vermitt lung zwischen ihnen gelingt, hat jede Entscheidung, sei es für die eine, sei es für die andere Perspektive, etwas Willkürliches an sich. Prekärer noch als für die Moral erweist sich freilich die Situation für die Sinnfrage. Auch hier rekurriert Horkheimer auf Gott: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.« In einem eigenen Aufsatz, der sich nur mit diesem Diktum befasst, hat Habermas sich anheischig gemacht, es zu widerlegen.7 Gelungen ist ihm das nur für einen sehr begrenzten Sinn von »Sinn«, nämlich in Bezug auf die Geltung von Wahrheitsansprüchen in Behauptungen. Deren Unbe dingtheit führt jeden Wahrheitsrelativismus zu einem performativen Widerspruch. Um das einzusehen, braucht man keinen Gott. Doch dadurch ist nichts gewonnen für die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem möglichen Sinn der Moral in einem sinnlosen Leben. Das Problem, das Horkheimer bedrückt, ist der Schatten, den nicht wiedergutzumachendes Unrecht und das Leiden seiner Opfer auf alle Anstrengungen wirft, dem Leben des Einzelnen wie auch dem Gang der Geschichte einen Sinn abzugewinnen. Welchen Vgl. Jürgen Habermas, Zu Max Horkheimers Satz: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel«; in: Ders., Texte und Kontexte, Frankfurt am Main 1991, 21992, 110–126.
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Sinn kann das Leben im Ganzen haben, wenn jede Hoffnung auf Wiedergutmachung zum Scheitern verurteilt ist, wenn das Unrecht, das die menschliche Geschichte durchwaltet, das letzte Wort hat? Diesen Sinnmangel empfindet auch Habermas: »Die verlorene Hoff nung auf Resurrektion hinterläßt eine spürbare Leere.«8 Diese Leere kann Habermas nicht ausfüllen. Ebenso wenig findet er eine Antwort auf die Frage, wie sich die Geltung der Moral angesichts solcher Sinnlosigkeit soll behaupten können. Natürlich hat Habermas Recht, wenn er die Wünschbarkeit eines Gedankens nicht als Argument für seine Richtigkeit gelten lässt. Aber das ist nicht der springende Punkt. Es ist schon viel gewonnen, wenn diese Wünschbarkeit dazu führt, die Frage nach der Existenz Gottes als Aufgabe philosophischen Denkens überhaupt einmal wieder zuzu lassen. Denn ihre Verbannung aus der Philosophie im Namen der Aufklärung ist nicht die Frucht einer Einsicht, sondern einer Entschei dung, die ihrerseits interessegeleitet ist. Das erwähnte Interesse an einer metaphysikfreien Moral mag seine ehrbaren Gründe haben, hat aber inzwischen zu einem atheistischen Dogmatismus geführt, der seine Grenze immer weiter vorschiebt. Während Habermas Freiheit, Verantwortung und Moral in philosophischen Ehren hält, gehören sie für den Naturalisten bereits zu einer Metaphysik, die dieser für so überwunden hält wie Habermas den Gottesgedanken. In dieser naturalistischen Optik hinkt Habermas der Entwicklung einfach nur ein Stück weit hinterher. Doch keine Entscheidung ist unrevidierbar. Der Denkweg des ehemaligen Naturalisten Holm Tetens zeigt, dass es auch heute noch möglich ist, auf der Höhe der philosophischen Diskussion mit intel lektueller Redlichkeit den atheistischen Dogmatismus zu überwinden und Gott zu denken. Das Ideologem der Unmöglichkeit des Gottesgedankens oder seiner Sinnlosigkeit kann sich auch nicht auf Kant berufen. Dieser behauptete ausdrücklich, dass es möglich sei, Gott zu denken, ja sich überhaupt in die intelligible Welt hineinzudenken. Und die praktische Vernunft muss das nach ihm sogar tun, um sich selbst als das, was sie ist, nämlich als moralische Vernunft, die der Verantwortung fähig ist, zu verstehen. Er leugnete lediglich die intellektuelle Anschauung, die sein unmittelbarer Nachfolger Fichte allerdings sofort wieder einführte und die verhindert, dass metaphysische Begriffe leer sind. 8
Habermas, Glauben und Wissen, 258.
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Joseph Ratzingers Gotteshypothese
Für Kant war Gott der um der Möglichkeit des moralischen Handelns willen anzunehmende Garant einer letztendlichen Kongruenz von Glück und Glückswürdigkeit. Doch zunächst einmal ist auch diese Annahme nicht vor dem Verdikt geschützt, ein bloßer Wunschge danke zu sein. Doch wir können noch tiefer bohren. Habermas beklagt die »schleichende Entropie der knappen Ressource Sinn«9. Wir brauchen nicht zu wiederholen, dass es die Vernunft selber ist, die sich von den Sinnressourcen abschneidet, wenn sie Gott aus ihrer Reflexion verbannt. Jetzt wollen wir vielmehr die Sinnfrage stellen in Bezug auf den Sinn des Ganzen und seiner Relevanz für die Idee des moralisch Guten. Denn wie kann der moralische Imperativ uns wirklich binden, wenn das Leben aufs Ganze gesehen sinnlos ist, ja wenn es vorkom men kann, dass dieser Imperativ seinen Adressaten in eine Falle lockt, nämlich immer dann, wenn der Adressat situationsbedingt vor die Wahl gestellt wird, entweder Opfer von Unrecht zu werden oder selber Unrecht zu tun? Zwar hatte schon Sokrates mit Entschiedenheit die Position vertreten, es sei besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Und er hat Recht. Aus diesem Urteil spricht eine tiefe Einsicht in das Wesen, die Autorität und die Hoheit des moralischen Sollens. Aber gerade dieser Hoheit widerspricht der Gedanke einer letzten Machtlosigkeit, die das moralische Sollen in der realen Welt begleitet und aus ihm einen Imperativ macht, der im Konfliktfall der Macht des Stärkeren unterlegen ist. Wenn der Ehrliche der Dumme ist und das Recht des Stärkeren sich auf Dauer gegenüber dem moralisch Guten durchsetzt, dann wird die Idee des Guten selber desavouiert. Seine innere Hoheit und Autorität erweist sich dann als täuschender Schein, als ein Scheck, der nicht gedeckt ist. Diese Ohnmacht gibt das Gute der Lächerlichkeit preis angesichts des durch sie ermöglichten Triumphalismus dessen, der sich in seinem Leben nach dem Grund satz des Rechts des Stärkeren einrichtet. Der innere Gehalt des Guten wird durch diese Sinnlosigkeit unglaubwürdig gemacht, und dennoch wird auch diese Unglaubwürdigkeit den guten Menschen nicht dazu bewegen, Unrecht zu begehen. So wird ein innerer Widerspruch in die Idee des Guten selbst hineingetragen. Ein machtloser morali scher Imperativ wird sinnlos und verliert damit auch seine Rechtfer tigungskraft. Das Gute ist ja das, was allein jede Machtausübung als legitim rechtfertigen kann. Wenn es aber letztlich nur das »Recht« 9
ebd., 261.
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Joseph Ratzingers Gotteshypothese
des Stärkeren gibt, die pure Machtausübung, wie kommen wir dann überhaupt auf die Idee der Rechtfertigung? Ist es nicht so, dass, wenn das Gute als das, was es ist, gedacht wird, es notwendigerweise so gedacht wird, dass es auch angesichts ungerechter Macht aufs Ganze gesehen nicht ohnmächtig sein kann, ohne dass wir sofort aufhören, es selber zu denken? Dieser Gedankengang erinnert uns an den onto logischen Gottesbeweis Anselms von Canterbury, den ich tatsächlich für schlüssig halte unter der Bedingung, dass der Begriff der Größe in Anselms Gottesdefinition (»das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann«) nicht inhaltsleer bleibt, sondern das uns in der sittlichen Erfahrung aufstrahlende Gute mit einschließt.10 Für Horkheimer wird ohne Gott die unendliche Liebe zu einem undenkbaren Begriff. »Ohne den Glauben an Gott trägt jede Freund lichkeit gegen einen anderen den Stempel der Sinnlosigkeit.«11 Es ist genau diese Einsicht, die uns einen dritten Weg zwischen Metaphy sikverdrossenheit einerseits und einer unaufgeklärten Metaphysikre stauration andererseits eröffnet. Denn wenn ich das Gute als einzige in Frage kommende, unbedingte Geltung beanspruchende Rechtfer tigungsinstanz jeglichen Wollens und Handelns erfahre, dann auch als solche, die mir gebietet, im Handeln den entgegenstehenden »Stempel der Sinnlosigkeit« zurückzuweisen. Wenn aber im Handeln, dann auch im Denken. Wenn die moralische Evidenz ein hinreichender Grund ist, nicht zu morden, dann ist sie auch ein hinreichender Grund für mein ethisches Urteil über den Mord. Wenn das Gute mein Leben im existentiellen Vollzug rechtfertigt, dann erst recht auch meine Weltanschauung, in der diese Rechtfertigung ihren Platz hat. Wenn ich auf die sittliche Erfahrung mein Leben gründen darf und soll, dann a fortiori auch eine Metaphysik, die dieser Erfahrung Rechnung trägt. Die Umsetzung des Vorschlags Ratzingers, so zu leben, als ob es Gott gäbe, könnte bei jenen, die nach einem moralisch guten Leben streben, zu der Erkenntnis führen, dass sie nun festen Boden unter ihre Füße bekommen. Es könnte sich anfühlen wie ein intellektuel les Nach-Hause-Kommen. Sie sind mit der theoretischen Vernunft dort angekommen, wo sie mit der praktischen schon immer zu Hause waren.
10 Vgl. Engelbert Recktenwald, Die ethische Struktur des Denkens von Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998. 11 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften 14, 369.
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Glaube und Vernunft Warum mit dem Glauben auch die Vernunft gerettet wird
»Glaube und Vernunft« ist das Thema dieser Überlegungen. Norma lerweise fasst man das Verhältnis zwischen diesen beiden Größen so auf, dass sich der Glaube vor der Vernunft ausweisen muss. Und das stimmt. Es gibt eine eigene theologische Disziplin, die sich dieser Aufgabe widmet, die Fundamentaltheologie. Doch wenn man sich den Gang der Geistesgeschichte anschaut, muss man sich die Frage stellen: Vor welcher Vernunft soll sich der Glaube ausweisen? Denn die Vernunft selbst ist in die Krise gekom men und bedarf der Rettung. Und welche Rolle kann der Glaube dabei spielen? Darüber wollen wir nachdenken, und ich beginne mit C. S. Lewis (1898–1963), dem bekannten Literaturwissenschaftler und Autor christlicher Essays und Romane.
Der Verfall der Vernunft Im Februar 1943 hielt Lewis an der Universität von Durham drei Vorlesungen. Sie wurden noch im selben Jahr unter dem Titel The Abolition of Man (Die Abschaffung des Menschen) veröffentlicht.1 Walter Hooper nannte sie die beste Verteidigung des Naturrechts, die er je gesehen habe. Die National Review setzte das Werk auf Platz 7 der 100 besten Sachbücher des 20. Jahrhunderts. C. S. Lewis beschreibt darin die Abschaffung des Menschen infolge der Abschaffung der Ver nunft. Nur wenig später, im Februar 1944, hielt in New York der marxistische Philosoph Max Horkheimer (1895–1973), Gründer der Frankfurter Schule, an der Columbia Universität Vorlesungen, die C. S. Lewis, The Abolition of Man, London 1943. Deutsch: Die Abschaffung des Menschen, Einsiedeln 41993.
1
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Glaube und Vernunft
1947 unter dem Titel Eclipse of Reason erschienen2, Verfinsterung der Vernunft. Der Titel der deutschen Übersetzung, die zwanzig Jahre später erschien, lautete: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft.3 Horkheimer beschreibt – aus seiner Perspektive – den gleichen Vorgang wie Lewis und kritisiert ihn mit verblüffend ähnlichen Argumenten. Während Lewis in der Fachphilosophie fast vollständig ignoriert wird, wurde Horkheimers Analyse viel beachtet, wenn sie auch nicht die von ihr beklagte Entwicklung aufhalten konnte. Wichtiger aber ist ein weiterer Unterschied zwischen den beiden: Während Horkheimer kein Rezept fand, die Vernunft zu retten, sieht es bei Lewis anders aus. Doch kommen wir zur Sache und schauen wir uns an, worum es eigentlich geht. Ausgangspunkt der Überlegungen Lewis’ ist die Passage in einem Schulbuch, die scheinbar harmlos daherkommt. In einer erzählerischen Szene stehen zwei Touristen vor einem Wasser fall, und einer der beiden bezeichnet ihn als erhaben. Dazu schreiben die Schulbuchautoren – Lewis nennt sie Gaius und Titius: Als der Mann sagte Das ist erhaben, machte er scheinbar eine Fest stellung über den Wasserfall. In Wirklichkeit aber äußerte er sich nicht über den Wasserfall, sondern über seine eigene Empfindung. Im Grunde sagte er Ich fühle etwas, das ich im Geiste mit dem Wort ›erhaben‹ verbinde, kurz: Ich empfinde erhabene Gefühle.4
Was geschieht hier? Es handelt sich bei der Aussage »Das ist erhaben« um ein Werturteil. Wenn nun dieses Werturteil keine Aussage über den Wasserfall darstellt, sondern, wie die Autoren meinen, bloß über die eigenen Empfindungen, dann bedeutet das die Leugnung des Wertes in der Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist wertfrei. Ich bin es, der die Werte in sie hineinprojiziert. Solange es um bloß ästhetische Werte geht wie die erhabene Schönheit eines Wasserfalls, mag das nicht weiter tragisch sein. Das ändert sich sofort, wenn es um moralische Werte geht. Es gibt dann keine Gründe mehr, eine gute Tat zu billigen und eine böse Tat zu verurteilen. Denn wenn ich sage: »Dieses Verbrechen ist abscheulich«, dann sage ich jener Logik zufolge nichts über die Tat aus, sondern nur etwas über mich, M. Horkheimer, Eclipse of Reason, New York 1947. Beide Bücher erschienen übrigens im selben Verlag: Oxford University Press. 3 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main, 1967. Ich zitiere im Folgenden aus der Auflage vom Dezember 2007. 4 Die Abschaffung des Menschen, 14. 2
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Der Verfall der Vernunft
nämlich dass ich Abscheu empfinde. Die Wirklichkeit zerfällt dann in zwei Teile, die nichts miteinander zu tun haben: in die objektive Welt der wertneutralen Tatsachen und in die subjektive Welt meiner Gefühle. Mit jener hat es die Wissenschaft zu tun, mit dieser die Moral. Moral wird zu einer Geschmacksfrage. Werturteile sind dann unwissenschaftlich und subjektiv. Lewis beschreibt diese Aufspaltung der Welt folgendermaßen: So betrachtet stehen sich die Welt der Tatsachen, ohne die mindeste Spur von Werten, und die Welt der Gefühle, ohne die geringste Spur von Wahrheit oder Irrtum, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit gegenüber, und keinerlei Annäherung ist möglich.5
Lewis nennt diese Anschauung den Wertsubjektivismus. Durch die sen werden die Gefühle ihrer Rationalität beraubt. Der Abscheu vor der verbrecherischen Tat ist nicht mehr durch deren moralische Qualität gerechtfertigt und deshalb auch nicht mehr vernünftig. Alle Gefühle werden irrational. Die Rationalität wird aus der Welt der Moral verbannt und auf den Bereich der empirischen Wissenschaften eingeschränkt. Damit haben wir das Gegenteil zur klassischen Auffas sung der Moral. Nach Thomas von Aquin etwa ist die Moral geradezu durch ihre Vernünftigkeit definiert: Denn nach ihm handeln wir mora lisch genau dann, wenn wir der Vernunft gemäß handeln; er spricht von der »lex intellectus nostri«, von dem Gesetz unserer Vernunft. Ich möchte hier eine Zwischenbemerkung zum Thema »Gefühle« machen. Tatsächlich können wir zwei Arten von Gefühlen unterscheiden: rationale und nicht-rationale Gefühle. Nichtrational sind jene Gefühle, die einen Zustand beschreiben, z.B. Schmerzen wie Kopfweh, Empfindungen wie Kälte, Stimmungen wie gute Laune. Rational sind Gefühle, die intentional sind. »Intentional« heißt: gerichtet auf eine Wirklichkeit, z.B. der Abscheu vor einem Verbre chen, die Dankbarkeit für eine Wohltat, die Freude über das Glück eines Freundes. Diese Gefühle sind rational, weil sie eine angemes sene Antwort auf den Wert oder Unwert eines Ereignisses darstellen. Dietrich von Hildebrand reserviert für diese Art von Gefühlen den Ausdruck »Affekte« bzw. »affektive Antworten«.6 Die Rede von vernünftigen Gefühlen mag überraschend klingen und uns befremden, aber das ändert sich sofort, wenn wir uns klarma chen, dass gerade der Ausfall der Affekte irrational ist. Wir würden 5 6
Ebd. 29. D. v. Hildebrand, Ethik, Stuttgart, 21973, 212–216.
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ihn sogar als pathologisch ansehen. Wenn jemand kein Mitleid mit dem Leiden eines Freundes oder keine Dankbarkeit gegenüber einer Wohltat empfindet, dann fehlt ihm etwas. Er braucht vielleicht eine Therapie. Erst recht würden wir demjenigen eine Therapie empfehlen, der falsche Affekte zeigt, der etwa auf eine Wohltat mit Entrüstung antworten würde. Ein solches Verhalten wäre völlig irrational. Es gibt also eine vernünftige Ordnung der Affekte. Der Wertsubjektivismus dagegen behandelt die Affekte wie zuständliche Gefühle. Er leugnet damit ihre Bezogenheit auf die Wirklichkeit und beraubt sie ihrer Vernünftigkeit. Die Affekte sind auf die Wirklichkeit bezogen unter dem Aspekt von deren Werthaftigkeit. Wir sind über einen Mord entrüstet, weil er böse ist, und wir bewundern eine Lebensrettung, weil sie gut ist. Sie ist gut und damit bewundernswert. An ihr selbst hängt diese Eigen schaft, der Bewunderung wert zu sein. Sie verdient diese Antwort. Es handelt sich um eine meiner Erkenntnis vorgegebene Qualität, die mein Gefühl der Bewunderung zu einem vernünftigen Gefühl und mein Werturteil zu einem zutreffenden Urteil macht. Das ist die Anschauung des gesunden Menschenverstandes. Lewis drückt es so aus: Bis vor kurzem noch haben alle Lehrer, ja alle Menschen die Welt für so beschaffen gehalten, dass gewisse unserer Gefühlsreaktionen ihr entweder angemessen oder unangemessen sein können. Sie dachten also, dass die Dinge unsre Billigung oder Missbilligung nicht bloß erhalten, sondern verdienen können.7
Diese Beziehung des Verdienens nimmt eine Schlüsselstellung in der Erkenntnis dessen ein, worum es hier geht. Dietrich von Hildebrand spricht von der Beziehung des Gebührens: Den Werten gebührt eine entsprechende Antwort. Der hl. Anselm von Canterbury spricht von der Gerechtigkeit als der Rechtheit des Willens, die um ihrer selbst willen gewollt werden soll. Zur moralischen Gesinnung gehört also nicht nur, dass wir das Gute wollen, sondern dass wir es auch aus dem rechten Grund wollen, nämlich weil es gut ist. Beispiel: Wenn ich nur ehrlich bin, weil ich mir dadurch Vorteile erhoffe, dann bin ich noch kein ehrlicher Mensch. Die Ehrlichkeit meines Redens ist dann nur der Ausdruck einer Gerissenheit, die moralisch fragwürdig ist. Ich stelle mich nur ehrlich, bin es aber nicht. Einen ehrlichen Charakter 7
Die Abschaffung des Menschen, 24.
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habe ich nur dann, wenn mir die Ehrlichkeit ein Wert ist, den ich um seiner selbst willen anstrebe, um seiner inneren Güte willen. Allge mein formuliert: Der moralisch reife Mensch zeichnet sich aus durch Hellsichtigkeit gegenüber dem Guten, durch Sensibilität gegenüber den Werten, wodurch er der Wirklichkeit und der in ihr ruhenden Bedeutsamkeit gerecht wird. Diese moralische Motivation fällt bei den Wertsubjektivisten weg. An ihre Stelle tritt das Nützlichkeitsdenken. Die Wirklichkeit wird nur noch betrachtet unter dem Aspekt ihrer Verwertbarkeit zum Nutzen, und zwar entweder zum eigenen individuellen Nutzen oder zum kollektiven Nutzen einer Gruppe oder der Gesellschaft. Lewis zeigt, wie dieses Nützlichkeitsdenken oft durch Begriffe kaschiert wird, die Scheinwerte vorgaukeln. Er bringt als Beispiel die Begriffe »notwendig«, »fortschrittlich« und »effizient«. Das sind Floskeln, die ein vorausgesetztes Wertsystem verschleiern, denn man kann ja, so Lewis, sofort weiterfragen: »notwendig wofür?«, »fortschrittlich woraufhin?«, »effizient in welcher Hinsicht?« Es stellt sich heraus, dass Gaius und Titius, unsere Schulbuchautoren, mit völlig unkritischem Dogmatismus am ganzen Wertsystem fest halten, das in den Zwischenkriegsjahren bei den durchschnittlich gebildeten jungen Leuten aus Beamtenkreisen im Schwange war. Ihr Skeptizismus den Werten gegenüber bleibt an der Oberfläche: er wird nur auf die Werturteile anderer angewandt. Den Werten gegenüber, die in ihren eigenen Kreisen gelten, sind sie nicht annähernd skep tisch genug.8
An dieser Stelle möchte ich nun auf eine erste Parallele zu Max Horkheimer hinweisen. Er kritisiert die Verkürzung der Vernunft auf die instrumentelle Vernunft und beklagt, dass unsere industrielle Kultur davon geprägt ist. Was meint er damit? Er versteht unter der instrumentellen Vernunft jene, die sich darauf beschränkt, nur die Mittel zu vorgegebenen Zwecken zu beurteilen, die aber nicht mehr imstande ist, die Zwecke unseres Wollens, Strebens und Lebens nach ihrem inneren Sinn und Wert einzuschätzen. Er schreibt: Der Gedanke, dass ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann – auf Grund von Vorzügen, von denen Einsicht zeigt, dass das Ziel sie
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Ebd. 36 f.
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enthält –, ohne auf irgendeine Art subjektiven Gewinnes oder Vorteils sich zu beziehen, ist der subjektiven Vernunft zutiefst fremd.9
»Subjektive Vernunft« meint hier dasselbe wie »instrumentelle Ver nunft«, die beiden Ausdrücke sind bei Horkheimer austauschbar. Horkheimer kritisiert hier also eine Verkümmerung der Vernunft, wodurch sie unfähig wird, Ziele nach ihrem inneren Wert zu beurtei len. Eine solche Vernunft hat kein Auge mehr für die innere Schönheit und Güte von Dingen, Personen und Handlungen. Sie kann nicht die Frage beantworten: Welche Ziele sind es wert, angestrebt zu werden, sind fähig, meinem Leben Sinn zu verleihen? Es ist dieselbe Wertblindheit, die Lewis bei Gaius und Titius kritisiert. Um die Zwecke nach ihrem inneren Wert zu beurteilen, reicht die instrumentelle Vernunft nicht aus. Dazu bedarf es einer Vernunft, die Horkheimer die objektive Vernunft nennt und die in der Sphäre des moralischen Handelns die praktische Vernunft genannt wird. Man nennt sie auch substanzielle oder normative Vernunft. Diese Vernunft ist es, die die zweite von Kants drei Grundfragen der Philosophie beantwortet: »Was soll ich tun?« Ich möchte diese Unterscheidung, auf deren klare Erkenntnis alles ankommt, noch einmal von einer anderen Seite erläutern. Romano Guardini unterscheidet in seinem Vortrag über das Gute und das Gewissen10 zwei Arten menschlichen Handelns. Er führt darin aus, dass es etwas anderes sei, ob ich mit meinem Handeln »nur einen ›Zweck‹ verwirkliche, oder ein ›Sollen‹ vollbringe.«11 Mit dem Zweckhandeln meint er jenes Handeln, das auf einen Nutzen zielt. Er schreibt dazu: Das Leben des Hauses, des Berufes, der Öffentlichkeit stellt ein Gewebe von Zwecken und darauf gerichteten Handlungen dar. Solche Handlungen haben ihren Sinn darin, dass ihr Zweck verwirklicht wird. Den Zweck aber will ich verwirklichen, weil das für mein Dasein nötig oder förderlich ist (...) Der gemeinsame Charakter aller Zweckhandlun gen liegt im ›Nutzen‹.12
9 10 11 12
Kritik der instrumentellen Vernunft, 17. R. Guardini, Das Gute, das Gewissen und die Sammlung, Mainz 1931. Ebd. 13. Ebd. 13 f.
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Ganz anders sieht es bei jenen Handlungen aus, die ein Sollen erfüllen. Guardini erläutert: Die Wahrheit zu sagen, weil das so recht ist; zu arbeiten, weil ich dazu verpflichtet bin; gerecht zu sein, weil ich mich dazu gehalten weiß. Was ich soll, tue ich nicht, weil ich damit etwas erreichen will, (...) sondern weil es in sich recht ist.13
Der Philosophiehistoriker erkennt hier sofort die Unterscheidung von Zweck- und Wertrationalität, mit der der Soziologe Max Weber (1864–1920) wenige Jahre zuvor die Rationalität von Handlungen kategorisieren wollte. Bei Weber ist die Verkümmerung der Vernunft schon in vollem Gang: Er gibt der Zweckrationalität den Vorzug. Diese hat es mit wissenschaftlich klar erfassbaren Kriterien des Erfolgs oder Misserfolgs zu tun, während wertrationales Handeln, das auf den Eigenwert einer Sache antwortet, auf Werte wie Würde, Schönheit oder Güte, sich nur einem Glauben an diese Werte verdankt. Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus ist Wertrationalität irrational. Horkheimer erwähnt deshalb Webers Lehre als typisches Beispiel einer Lehre, die die Vernunft auf die instrumentelle Vernunft ein schränkt: Ein Ziel kann nach ihm [Weber], gegenüber anderen, bei der Vernunft keinen Vorzug beanspruchen, die Macht ist so vernünftig und so unvernünftig wie die Gerechtigkeit.«14
Es ist nur der Nutzen, der ein Handeln vernünftig macht. Dabei war Max Weber noch zurückhaltend: Gegenüber der Wertfrage nimmt er eine eher agnostische Haltung ein. Es ist der Soziologe Theodor Geiger (1891–1952), der einen Schritt weitergeht und Werturteile als illusionäre Objektivierungen subjektiver Empfindungen denunziert, also genau jene Auffassung vertritt, die Lewis bei Gaius und Titius aufs Korn nimmt. Der Unterscheidung zwischen Zweck- und Wertrationalität entspricht Webers bekanntere Unterscheidung zwischen Verantwor tungs- und Gesinnungsethik. Da für Weber die Zweckrationalität entscheidend ist, fällt für ihn die moralische Gesinnung, also jene Haltung, die dem Guten als Guten gerecht werden will, aus dem Sicht Ebd. 14. M. Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, Rede am 20.11.1951 in Frankfurt, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main 1985, 22–35, hier: 23. 13
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feld der Vernunft heraus. Damit steht er in diametralem Gegensatz zu Immanuel Kant (1724–1804), für den das moralische Sollen ein Faktum der praktischen Vernunft ist. Für Kant fällt, ähnlich wie für Thomas von Aquin, Moralität und Handlungsrationalität zusammen. Eine Handlung ist für Kant dann vernünftig, wenn sie moralisch ist, d.h. wenn sie dem kategorischen Imperativ gehorcht, wenn sie aus Achtung vor dem Sittengesetz vollzogen wird. Man könnte auch sagen: Eine Handlung ist dann vernünftig, wenn sie aus der richtigen Gesinnung hervorgeht. Es ist die Moralität, die die Handlung zu einer Handlung der Vernunft macht. Damit wird klar: Ein größerer Gegensatz als zwischen diesen beiden Vernunftbegriffen ist kaum denkbar. Auf der einen Seite steht ein Vernunftbegriff, der das Moralische ausschließt und ins Irrationale oder gar Illusionäre abschiebt, auf der anderen Seite ein Vernunftbegriff, der untrennbar mit dem Moralischen verknüpft ist. Auf der einen Seite die These: Nur wer gut handelt, handelt aus Vernunft. Auf der anderen Seite die These: Nur wer zweckrational handelt, handelt vernünftig. Für Kant bedeutet Handeln aus Vernunft: sich dem Nutzenkalkül entziehen, für Weber: dem Nutzenkalkül folgen. Für Geiger sind Werturteile Ideologie, für Kant Bedingung der Vernünftigkeit des Handelns. Auch heute noch ist der Vernunftbegriff heftig umstritten. Der Philosoph Ernst Tugendhat etwa bestreitet einen Zusammenhang zwischen Moral und Vernunft und wirft Kant »eine Irreführung durch Missbrauch eines Wortes« vor, nämlich des Wortes »Vernunft«.15 Solcher Dogmatisierung der instrumentellen Vernunft stellt Joseph Ratzinger die Notwendigkeit entgegen, der Vernunft ihre ursprüng liche Weite zurückzugeben: »Die Rationalität des auf sich selbst zentrierten technischen Machens erweist sich jedoch als irrational, weil sie eine entschiedene Ablehnung von Sinn und Wert mit sich bringt«, schreibt er 2009 als Papst Benedikt in seiner Enzyklika Caritas in veritate.16 Sinn und Wert erscheinen hier als etwas, wodurch Rationalität überhaupt erst zustande kommt. So sieht es auch Lewis. Er betrachtet Werte als rational, ja als »die Rationalität selbst«, »als etwas so offensichtlich Vernünftiges, dass sie einen Beweis E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 2002, 70. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verlautbarung des Apostoli schen Stuhles Nr. 186, Enzyklika CARITAS IN VERITATE von Papst Benedikt XVI., Bonn 2009, 113. 15
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weder fordern noch zulassen.«17 Das Ringen um diesen umfassenden Vernunftbegriff ist geradezu ein Lebensthema Ratzingers: Immer wieder kommt er darauf zurück. Und er verknüpft den normativen Vernunftbegriff ganz eng mit dem Gottesgedanken. 2007 schreibt er in seiner Enzyklika Spe Salvi: Wann herrscht die Vernunft wirklich? Wenn sie sich von Gott gelöst hat? Wenn sie für Gott blind geworden ist? Ist die Vernunft des Kön nens und des Machens schon die ganze Vernunft? Wenn der Fortschritt, um Fortschritt zu sein, des moralischen Wachsens der Menschheit bedarf, dann muss die Vernunft des Könnens und des Machens ebenso dringend durch die Öffnung der Vernunft für die rettenden Kräfte des Glaubens, für die Unterscheidung von Gut und Böse ergänzt werden.18
Natürlich, so könnten wir hier einwenden, brauchen wir nicht den Glauben, um Gut und Böse unterscheiden zu können. Der Mensch ist von Natur aus ein moralisches Wesen mit einem Gewissen, also mit einem Erkenntnisorgan für Gut und Böse. Aber wir können jetzt schon erahnen, inwieweit der Glaube dennoch rettende Kraft für diese Unterscheidung besitzt, insofern nämlich erst durch den Gottesge danken der innere Zusammenhang zwischen Moral und Vernunft plausibel wird. Denker wie Tugendhat und Max Weber mögen an dieser Stelle unserer Überlegungen genügen als Probe aufs Exempel für den Verlust dieses Zusammenhangs infolge des Atheismus. Formulieren wir nochmals den Gegensatz, um den es hier geht: Wenn Kant die Frage beantworten will: »Was soll ich tun?«, dann schaut er auf die Vernunft und erkennt in ihr das Sittengesetz. Wenn Max Weber diese Frage beantworten will, dann schaut er auf seinen Willen und fragt: »Was will ich denn?« Der Wille gibt ihm sein Ziel vor, die Vernunft zeigt ihm bloß den Weg dorthin. Aber nun lässt sich die Frage nicht weiter aufschieben: Woher hat der Wille denn nun seine Ziele und Zwecke, wenn nicht von der Vernunft? Es muss etwas sein, das den Willen spontan weckt in Form von Wünschen. Lewis nennt es den Instinkt. Damit meint er »einen unreflektierten, spontanen Trieb«.19 Doch was soll daran schlimm sein?, könnten wir einwenden. Es gibt z.B. eine Art instinktiver Die Abschaffung des Menschen, 46. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verlautbarung des Apostoli schen Stuhles Nr. 179, Enzyklika SPE SALVI von Papst Benedikt XVI., Bonn, 3., kor rigierte Auflage 2008, 31. 19 Die Abschaffung des Menschen, 41.
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Mutterliebe, die zu moralischem Handeln führt. Aber in diesem Fall ist das moralische Handeln, das einfach nur dem Instinkt folgt, bloß ein Zufallstreffer. Denn es gibt viele Instinkte, die Quelle des Egoismus und des Lasters sind statt der Moral, denken wir etwa an Machtstreben, Geltungsbedürfnis und Pädophilie. Lewis zeigt, dass aus dem Instinkt keine moralische Norm folgt. Von der Feststellung der psychologischen Tatsache: ›Ich habe den Impuls, so und so zu handeln‹, lässt sich auf keine noch so scharfsinnige Weise das praktische Prinzip ableiten: ›Ich soll diesem Impuls gehor chen.‹20
Kant drückt dasselbe so aus: »Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen«.21 Wir stehen ja oft vor der Entscheidung, ob wir einem Trieb folgen sollen oder nicht, und wir alle kennen Situationen, in denen wir zum Ergebnis kommen, es sei besser, ihm zu widerstehen statt ihm zu folgen. Es können auch verschiedene Instinkte in Konflikt miteinander geraten. Die Entscheidung, welchem Instinkt wir folgen sollen, ist nicht Ergebnis eines dritten Instinkts, sondern einer ver nunftgeleiteten Überlegung. Wir können also Werte nicht auf den Instinkt gründen. Entweder enthält ein Werturteil in seinen Voraus setzungen bereits »einen verborgenen Imperativ, oder die Folgerung bleibt bloßer Indikativ.«22 Und schließlich haben wir z.B. auch keinen instinktiven Drang, Verträge zu halten. Aber es kann eine Situation vorkommen, in dem ein Vertrag einem instinktiven Drang im Wege steht. Wäre der Instinkt die Quelle der Moral, dann hätte in diesem Fall der Vertragsbruch die Moral auf seiner Seite. Nochmals Lewis: Der Neuerer versucht, aus Voraussetzungen im Indikativ eine Schluss folgerung im Imperativ zu ziehen; und mag er es in alle Ewigkeit ver suchen, es wird ihm nicht gelingen, denn die Sache ist an sich unmög lich.23
Lewis besteht also auf der Unmöglichkeit, aus reinen Ist-Sätzen einen Soll-Satz zu folgern. Man nennt eine solche Folgerung den naturalistischen Fehlschluss oder – korrekter – das Humesche Gesetz. 20 21 22 23
Ebd. 42. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 576. Die Abschaffung des Menschen, 43. Ebd. 39.
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Wenn uns der Ausweg des naturalistischen Fehlschlusses ver sperrt ist, bleiben nur zwei mögliche Konsequenzen: Entweder wir anerkennen die Existenz des in sich Guten, oder wir geben jedes moralische Sollen auf. Im letzteren Fall schränken wir die Wirklichkeit auf den Bereich des rein Faktischen ein, und dem entspricht die Einschränkung der Vernunft auf die instrumentelle Vernunft. Jetzt kommt der nächste Schritt: Wenn die Vernunft nur noch für die Mittel zuständig ist und die Triebe für die Ziele, dann wird die Vernunft zur Sklavin der Triebe. Und genau das behauptete David Hume (1711–1766). Hume war es auch, der als erster die Fragwürdigkeit des Bestrebens aufdeckte, aus dem Sein ein Sollen zu folgern. Für ihn ist die Vernunft die Sklavin der Antriebe, und sie sollte »nie vorgeben, einem andern Geschäft nachzugehen, als ihnen zu dienen und zu gehorchen.«24 Gegenstandsbereich der instrumentellen Vernunft ist das Empi rische, oder wir können auch sagen: die Natur. Wenn nun die instru mentelle Vernunft im Dienst der Triebe steht, dann auch die Natur. Mit anderen Worten: Erkenntnis ist nicht Selbstzweck, ihr Zweck ist vielmehr Naturbeherrschung. Die Natur wird den Zielen und Bedürf nissen des Menschen unterworfen, sie wird ihm gefügig gemacht. Das Schicksal der instrumentellen Vernunft und das ihres Gegenstandes korrelieren miteinander. So wie die Vernunft von den Trieben unter jocht wird, so die Natur vom Menschen. Mit der Abschaffung der wertsichtigen Vernunft wird der Mensch unfähig, den Eigenwerten der Natur gerecht zu werden. Sowohl Lewis als auch Horkheimer werden nicht müde, diese verschiedene Einstellung zur Natur heraus zustellen, die sich aus den beiden Vernunftbegriffen ergibt. Um die angemessene Einstellung zu beschreiben, zitiert Lewis den Dichter Thomas Traherne (1636–1674), der mit folgendem Vers den Menschen anspricht: »Alle Dinge wurden für dich geschaffen, und du wurdest geschaffen, sie ihrem Wert entsprechend zu würdigen.«25 Mit dieser Würdigung ist es nun vorbei. Unter der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft werden die Dinge nur noch nach ihrem Nutzen eingeschätzt. Die Natur wird nicht gewürdigt, sondern ausge beutet. Horkheimer drückt diesen Wandel so aus: Hume, A Treatise of Human Nature, II, 3, 3. »Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.« 25 Die Abschaffung des Menschen, 25. Lewis zitiert aus Th. Traherne, Centuries of Meditations I, 12. 24
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Einmal war es das Bestreben von Kunst, Literatur und Philosophie, die Bedeutung der Dinge und des Lebens auszudrücken, die Stimme alles dessen zu sein, was stumm ist, der Natur ein Organ zu leihen, ihre Leiden mitzuteilen oder, wie wir sagen könnten, die Wirklichkeit bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Heute ist der Natur die Sprache genommen. (...) Auf der einen Seite wurde die Natur alles innern Werts oder Sinnes entkleidet. Auf der anderen wurde der Mensch aller Ziele außer dem der Selbsterhaltung beraubt.26
Das Letztere, die Eliminierung aller Ziele außer der Selbsterhaltung, geschah schon bei Thomas Hobbes (1588–1679). Für ihn ist das Streben nach Selbsterhaltung der einzige Grundsatz der praktischen Vernunft. Horkheimer spricht vom geistigen Imperialismus des Prin zips des Selbstinteresses. Unter diesem Imperialismus wird der Vernunft die Kraft zur Wahrnehmung des Eigenwertes der Dinge abgesprochen. Sie wird nur noch nach ihrem operativen Wert für die Beherrschung der Natur beurteilt. Jetzt folgt ein weiterer wichtiger Schritt in unserer Gedankenent wicklung: Die Triebe, die dem Menschen seine Ziele vorgeben, sind ein Stück Natur. Das bedeutet: Es ist die Natur, die mittels der Triebe über den Menschen herrscht. Der Mensch, der ausgezogen ist, um kraft seiner Vernunft die Natur zu beherrschen, wird mitsamt seiner Vernunft zum Sklaven der Natur. Die Beherrschung der Natur durch die Vernunft schlägt um in die Beherrschung der Vernunft durch die Natur. Beide, Lewis und Horkheimer, erkennen und beschreiben diesen dialektischen Umschlag. Lewis beschreibt sehr schön, wie auch das Gewissen davon betroffen ist. Denn was bedeutet Gewissensbildung in der Erziehung, wenn es keine objektiven Werte mehr gibt? Erzieher und Zögling ste hen dann nicht mehr gemeinsam unter einem Sittengesetz. Erziehung bedeutet dann nicht mehr: das Gewissen für die Werte zu sensibi lisieren, sondern es nach Maßstäben zu formen, die der Erzieher zufälligerweise hat, die aber dem Zögling auf jeden Fall fremd sind. Erziehung wird notwendigerweise willkürliche Fremdbestimmung. Lewis wörtlich: »Während die alte [Erziehung] eine Einweihung war, wird die neue eine ›Konditionierung‹ sein.«27 Und die Konditionierer
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Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 118. Die Abschaffung des Menschen, 31.
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Der Verfall der Vernunft
»entscheiden, welche Art von Gewissen sie ›produzieren‹ wollen.«28 »Sie sind die Motivierer, die Schöpfer der Motive.«29 Und wie werden die Motivierer selbst dabei motiviert? Da die Vernunft ausscheidet, bleiben nur mehr die Triebe übrig, und da es kein Kriterium mehr gibt, diese zu bewerten, werden die Erzieher zu einem Spielball des zufälligen Wechsels dieser Triebe. Lewis bringt es drastisch auf den Punkt: Entsprechend der Logik ihres Standpunkts müssen sie ihre innern Impulse hinnehmen, wie sie kommen, als Zufall. Und Zufall heißt hier Natur. Der Vererbung, der Verdauung, dem Wetter und der Gedanken assoziation werden die Motivierungen der Konditionierer entspringen. Ihr extremer Rationalismus, der alle ›rationalen‹ Motive ›durchschaut‹, macht aus ihnen Geschöpfe eines völlig irrationalen Verhaltens.«30
Und jetzt der Satz, der den dialektischen Umschlag beschreibt: Die Natur, unbehindert durch Werte, beherrscht die Konditionierer und durch sie die ganze Menschheit. Der Sieg der Menschen über die Natur erweist sich im Augenblick seines scheinbaren Gelingens als Sieg der Natur über den Menschen.31
Horkheimer beschreibt denselben Vorgang: »Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein.«32 Damit teilt der Mensch das Schicksal der Natur: Er wird zum Beherrschten. »Die Unterjochung der Natur innerhalb und außerhalb des Menschen [geschieht] ohne ein sinnvolles Motiv«33, will sagen: ohne ein Motiv, das der Vernunft einsichtig ist, denn die instrumentelle Vernunft kennt außerhalb des Nutzenkalküls keine Ziele, die ihren Sinn in sich selbst tragen. Und so kommt es zum »dialektische[n] Umschlag des Prinzips der Herrschaft, durch welche der Mensch sich zum Werkzeug eben jener Natur macht, die er unterjocht«.34 Horkheimer bringt in diesem Zusammenhang noch einen weiteren Gedanken, den wir so bei Lewis nicht finden: »Je mehr Apparate wir zur Naturbeherrschung erfinden, desto mehr müssen wir ihnen dienen, wenn wir überleben
28 29 30 31 32 33 34
Ebd. 64. Ebd. Ebd. 69. Ebd. 70. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 110. Ebd. 111. Ebd. 112.
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Glaube und Vernunft
sollen.35 Dieses Dienen ist ein Anpassungsverhalten, das seinerseits wiederum, wie Horkheimer hervorhebt, durch den Darwinismus zu höheren Weihen gelangt ist. Da der Darwinismus die Vernunft als ein Stück Natur, nämlich als ein zufälliges Evolutionsprodukt ansieht, wird die Idee einer objektiven Vernunft zu einem Mythos. Die Vernunft dient nicht mehr der Erkenntnis der Wahrheit, sondern der Anpassung an die Umwelt. Damit verliert die Wahrheit ihre Bedeutung für die Wissenschaft. Es kommt nur noch auf den Erfolg in der Naturbeherrschung an. Die Philosophie des Pragmatismus passt sich dem an und verfälscht entsprechend den Wahrheitsbegriff. »Wahrheit ist nichts als der Erfolg der Idee«, so bringt es Horkheimer auf den Punkt, um den Pragmatismus John Deweys (1859–1952) zu beschreiben.36
Der Glaube vor der Vernunft In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Selbstentwertung der Ver nunft steht nun das Ansinnen an den Glauben, sich vor der Vernunft verantworten zu sollen. Das ist das Geschäft der Fundamentaltheolo gie. Der Theologe selbst hat allerdings ein großes Interesse daran, denn er nimmt die Vernunft noch ernst. Es ist gerade die katholische Kirche, die 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zur Verteidi gerin der Vernunft und ihrer Würde geworden ist. Doch wenn man Glaube und Vernunft auf Theologie und Philosophie verteilt, wird es zu einer Ironie der Geschichte, wenn sich plötzlich der Glaube vor einer Vernunft als wahr ausweisen soll, die ihrerseits die Idee der Wahrheit aufgegeben hat. Der Gläubige soll sich vor dem Philo sophen rechtfertigen, nachdem dieser selbst das Programm rationaler Rechtfertigung gegen einen erfolgsorientierten Pragmatismus einge tauscht hat. Vielleicht besteht aber gerade deshalb das überzeugendste Argu ment für den Glauben in seiner Fähigkeit, die Vernunft zu retten und wieder zu sich selbst zu bringen. Denn die Vernunft zu retten ist ja noch vernünftiger, als sich bloß vor der Vernunft auszuweisen. Der Glaube kann nicht seine eigene Wahrheit beweisen, aber er 35 36
Ebd. 113. Ebd. 56.
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Der Glaube vor der Vernunft
kann die Idee der Wahrheit wieder herstellen und rehabilitieren. Einer Vernunft, der es auf die Wahrheit ankommt, müsste das noch willkommener sein als die Erfüllung des genannten Ansinnens, auch wenn sich dadurch ihre Rolle von der eines Richters, der über den Glauben urteilt, in die eines Patienten verwandelt, der von ihm geheilt wird. Aber es gibt, das möchte ich sofort hinzufügen, auch das umgekehrte Verhältnis: Der Glaube braucht die Vernunft, um nicht in Fanatismus und Aberglaube abzurutschen. Josef Kardinal Ratzinger sprach einmal von den Pathologien der Vernunft und den Pathologien der Religion.37 Beide, Vernunft und Glaube, sind aufeinander ange wiesen, um gesund zu bleiben. Und auch diese Überlegungen, die ich hier vortrage, sind ja Vollzüge der Vernunft. Insofern könnte man auch sagen: Das Licht des Glaubens ist die Medizin, mit deren Hilfe die Vernunft sich selbst heilen und retten kann. Doch wie sieht nun diese Rettung aus? Horkheimer ist pessimis tisch. Er stellt die Diagnose, bietet aber keine Therapie an. Von ihm stammt das berühmte Wort: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.« Weniger bekannt ist das andere »Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit«, beide aus einem Vortrag des Jahres 1963.38 Horkheimer sieht hier den Weg zur Rettung, ohne ihn selber zu gehen, denn sein Denken ist, wie er einmal in einem Brief bekannte, »zu sehr materialistisch verseucht.«39 Was Horkheimer erkannt hat – nämlich dass ohne Gott weder die Idee einer ewigen Wahrheit noch die eines unbedingten Sinnes zu halten ist – hängt ganz und gar mit der Idee der Vernunft zusammen. Werfen wir deshalb einen kurzen Blick auf die Geschichte der Ver nunft. Das, was Horkheimer die objektive Vernunft nennt, setzt vor aus, dass es eine Korrespondenz gibt zwischen unserer Vernunft als Erkenntnisvermögen und der Struktur der Welt, die wir kraft unserer Vernunft erkennen. Das heißt: Auch die Welt muss vernünftig sein, im Sinne von: vernunftgeprägt, intelligibel, einsichtig. Und sie muss es sein im umfassenden Sinne, das heißt: sowohl in Bezug J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: J. Habermas/J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg. von F. Schuller, Freiburg im Breisgau 2005, 39–60. 38 Horkheimer, Theismus-Atheismus, in: GS Band 7, Frankfurt am Main 1985, 173– 186, hier: 184. 39 Horkheimer in einem Brief an Walter Benjamin vom 16. März 1937, in: GS Band XVI: Briefwechsel 1937–1940, Frankfurt am Main 1995. 37
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Glaube und Vernunft
auf die theoretische wie auch auf die praktische Vernunft, sowohl die materielle wie auch die soziale Welt betreffend, den Kosmos wie auch den Menschen, die Mittel wie auch die Ziele. Oder anders ausgedrückt: Wenn, wie Horkheimer einmal sagt, die Welt eine eigene Sprache besitzt, zu deren Mund sich die Philosophie kraft der objektiven Vernunft macht,40 dann setzt das einen inneren Sinn, eine Semantik voraus, der sich in der Welt verbirgt und durch Vernunfter kenntnis ans Licht kommt, denn es gibt keine Sprache ohne Semantik. Horkheimer bringt zwei sehr schöne Beispiele: die »Offenbarung moralischer oder ästhetischer Schönheit«, die »zur Liebe einlädt«, und den »Anblick eines ertrinkenden Kindes«, das »dem Vorbeigehenden, der schwimmen kann, sein Handeln vorschreibt«, »ohne dass erst noch eine besondere Richtschnur gegeben werden müßte«.41 Woher kommt die Korrespondenz zwischen Vernunft und Wirk lichkeit? Platon und Aristoteles konnten nicht die Frage, woher sie kommt, beantworten, wohl aber, worin sie besteht, und zwar durch das Konzept ewiger Ideen, die Platon in einer Ideenwelt verortete, Aristoteles dagegen im Inneren der sinnlich wahrnehmbaren Ein zeldinge als deren Wesenheiten. Beiden gemeinsam ist, dass der eigentliche Gegenstand der Vernunft nicht die Einzeldinge sind – die werden mit den Sinnen wahrgenommen –, sondern das Wesen, die Idee. Wenn wir an Platons Höhlengleichnis denken, dann sehen wir, dass Platon den Weg zur Ideenschau als Abkehr von der Sinnenwelt konzipierte. Aristoteles wandte sich gegen diese Verdoppelung der Welt in eine sinnenhafte und in eine intelligible. Die Ideen sind als all gemeine Wesenheiten in den sinnlich wahrgenommenen Dingen, und wir erkennen sie durch Abstraktion aus ihnen. »Nihil est in intellectu, nisi prius in sensu« (»Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war«), so hat Thomas von Aquin das aristotelische Konzept auf den Punkt gebracht.42 Das funktioniert weitgehend für die theoretische Vernunft, nicht aber für die praktische. Denn, wie wir von Lewis gelernt haben und was schon Hume wusste: Aus dem Sein lässt sich kein Sollen ableiten. Die höchste Idee Platons, die Idee des Guten, gewinne ich deshalb nicht durch Abstraktion aus der Sinneswahrnehmung. Das verkannt zu haben, ist auch der Grund, warum Aristoteles als Ausgangspunkt 40 41 42
Zum Begriff der Vernunft, 25. Ebd. 24 f. Thomas von Aquin, De veritate, q. 2 a. 3 arg. 19.
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Der Glaube vor der Vernunft
seiner Ethik nicht das Gute wählt, sondern das Glück, also nicht die Idee eines Guten, das wir anstreben sollen, sondern das Glück, das wir alle sowieso schon anstreben. Seine Ethik ist Eudämonismus, Glückseligkeitslehre. Augustinus, der Platons Einsicht rehabilitierte, sieht deshalb die Lösung wieder in der Abkehr des Blicks von der Sin nenwelt, nämlich nach innen, wo das ursprünglich Gute und Schöne zu finden ist: Denn Gott ist mir innerlicher als mein eigenes Inneres.43 »Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«, meint Augustinus, und der Mensch muss in sich selbst zurückkehren und im eigenen Inneren die vernunftbegabte Seele nochmals transzendieren, um dorthin zu gelangen, »wo das Licht der Vernunft entzündet wird.«44. Ich wage es, diesen Ort des ursprünglichen Aufleuchtens der Vernunft mit Kants kategorischem Imperativ zu identifizieren. Er ist ein Faktum der Vernunft, das heißt: Diese ursprüngliche Erfahrung des moralisch Guten, die Erfahrung eines in sich sinnvollen, sich selbst rechtfer tigenden Sollens hat ihren Ort in der Vernunft. Im aristotelisch geprägten Thomismus findet sich diese Einsicht in der Lehre von der Synderesis, dem Urgewissen mit seinem ersten praktischen Prinzip: »Du sollst das Gute tun und das Böse meiden«, eine Einsicht, die im Schulthomismus nie eine Chance bekam, sich zugunsten einer Überwindung des Eudämonismus zu entfalten. Kehren wir wieder zurück zur Idee der Intelligibilität der Welt: Die Griechen konnten nicht die Frage beantworten, woher die Korre spondenz zwischen Vernunft und Welt kommt, so dass das eine zum anderen passt wie der Schlüssel zum Schloss. Die Antwort brachte die christliche Offenbarung: Es gibt eine ewige Vernunft, die am Anfang steht. Sie ist der Logos, durch den alles geworden ist. Deshalb ist alles, was von ihr stammt, vernünftig, und leuchtet jeder Vernunft ein, die von ihr stammt. Ein anderes Sein und eine andere Vernunft als solche, die aus ihr stammen, gibt es aber nicht. Das Wesen der Vernunft bleibt ewig dasselbe, und die Gesetze der Vernunft gelten für alle Vernunft und für alles Sein. Augustinus verlegte deshalb Platons Ideen in den Geist Gottes als dessen Gedanken: »in divina intelligentia«.45 Die Schöpfung verstehen bedeutet, Gottes Gedanken lesen zu können. Oder mit den Worten Ratzingers: »Durch die Vernunft der Schöpfung blickt uns 43 44 45
Augustinus, Confessiones III, 11. »unde ipsum lumen rationis accenditur«: Augustinus, De vera religione 39, 72. Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus, Quaestio 46: De ideis.
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Glaube und Vernunft
Gott selber an.«46 Der Mensch bringt die Schöpfung zum Sprechen über Gott, indem er die göttliche Herrlichkeit erkennt, die sich in ihren Werten widerspiegelt. Die größte Verherrlichung findet Gott in der Verwirklichung des Guten. Platons Behauptung, dass die Idee des Guten die höchste Idee ist, findet ihre Bestätigung in der Offenbarung, dass Gott die Liebe ist. Das Gute ist die wesentlichste Beschreibung Gottes, und die Liebe ist die wesentlichste Beschreibung des Guten. Diese Einheit der Vernunft, die wie eine Klammer Geschöpf und Schöpfer, Erkennenden und Erkanntes zusammenhält und damit Erkenntnis möglich macht, wurde zum ersten Mal gesprengt im Nominalismus des Spätmittelalters. Dieser löste die allgemeinen Wesenheiten auf. Für ihn gab es nur noch Einzeldinge. Durch Worte fassen wir Gruppen von ihnen zusammen, aber der gemeinsame Nenner, aufgrund dessen wir das tun können, hat keinen Rückhalt mehr in der Wirklichkeit. Die Konsequenz war, dass wir das Seiende nicht mehr verstehen, sondern nur noch Einzelexistenzen empirisch feststellen können. Es gibt keine Sinnzusammenhänge mehr, die dem nach innerem Verstehen dürstenden Intellekt Nahrung geben, sondern nur noch Einzelseiendes, das von den Sinnen registriert und katalogisiert wird. Damit ist der Nominalismus der Urvater des positivistischen Wissensideals. Nachdem der Nominalismus die Brücke zwischen Vernunft und Wirklichkeit eingerissen hatte, machte der Rationalismus verzwei felte Versuche, sie wieder zu errichten: Spinoza durch seinen Pan theismus, indem er also die Welt mit Gott, die Wirklichkeit mit der Vernunft einfach identifizierte, Leibniz mit seiner prästabilierten Harmonie, indem die fensterlose Monade, also die blinde Vernunft, mit der Gesamtheit der Monaden aufgrund göttlicher Koordination harmoniert: der Täuschungscharakter der Erkenntnis wird durch diese Koordination wieder aufgehoben, Erkenntnis wird zu einem Produkt reibungslosen Zusammenspiels von Illusionen, zu einem Sechser im Lotto, der deshalb immer trifft, weil Gott nachhilft. Die natürliche Einheit der Vernunft ist ersetzt durch die künstliche Einheit göttli cher Mechanik. Der Empirismus, der legitime Erbe des Nominalismus, löste dann die Sinnenwelt in Erscheinung auf. Mit dem Satz »Esse est percipi« bringt es Berkeley (1685–1753) auf den Punkt: Das Sein der 46 Ratzinger, Im Anfang schuf Gott. Vier Münchener Fastenpredigten über Schöpfung und Fall, Einsiedeln 22005, 34.
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Der Glaube vor der Vernunft
Dinge besteht in ihrem Wahrgenommenwerden. Woher aber kommt die Ordnung im Wahrgenommenen? Hier schlägt die Stunde Kants. Er schreibt nun dem menschlichen Verstand in Bezug auf die Erschei nungswelt jene Rolle zu, die bei Platon der Demiurg für die reale Welt hatte: Der Verstand ist es, der mittels seiner Begriffe Ordnung ins Chaos der Sinnesdaten bringt. Bei Kant sah dieses Konzept noch nach einer kritischen Selbstbescheidung der Vernunft aus, da deren Reichweite auf die Erscheinungswelt beschränkt wurde und es ihr als Anmaßung ausgelegt wurde, über das Ding an sich urteilen zu wollen. Doch diese Selbstbescheidung schlug dann im Deutschen Idealismus dialektisch um in eine hoffnungslose Überforderung der Vernunft in dem Moment, wo das Ding an sich fallen gelassen wurde und aus der Erscheinungswelt wieder die Gesamtheit aller Realität wurde. Infolgedessen wurde nun der philosophischen Vernunft jene Aufgabe aufgebürdet, die einst die göttliche Vernunft hatte: Den Zusammenhang zwischen Vernunft und Wirklichkeit überhaupt erst zu stiften, statt bloß von ihm zu profitieren. Und wie wir alle wissen, ist das Hegel (1770–1831) endlich gelungen, in dem der Weltgeist zu sich selbst kam. Hegels dialektische Methode ist eine Simulation des göttlichen Schöpfungsvorgangs und dessen Verwandlung in eine Entwicklung des Geistes, die nach Art eines Naturprozesses gedacht wird. Im Verständnis Hegels erklimmt die philosophische Vernunft den Gottesstandpunkt und produziert als Begriffsphilosophie jene Intelligibilität, der gegenüber eine um ihre Geschöpflichkeit wissende Vernunft sich doch nur demütig rezeptiv verhalten kann. Die Gegenreaktion auf diese Vergöttlichung der Vernunft konnte nur ein antimetaphysischer Affekt sein, eine Denunziation der Ver nunft, eine Flucht ins Irrationale, eine Verherrlichung jener Kräfte im Menschen, die schon immer die Vernunft als unliebsamen Kon kurrenten in der Kommandozentrale der Seele ansahen. Nietzsche (1844–1900) hat dieses Geschäft auf genialste Weise betrieben. Er stößt die Vernunft vom Sockel, und zwar die theoretische wie die praktische, und zerstört folgerichtig die ihr korrelierenden Ideen der Wahrheit und des Guten. Während Humes Titulierung »Sklavin der Leidenschaften« auf die praktische Vernunft gemünzt war und noch naiv eine relativ konfliktfreie Beziehung zwischen Vernunft und Leidenschaft konnotierte, ist die Haltung Nietzsches der Vernunft gegenüber durchaus feindselig: Die Vernunft mit ihren Idealen von Wahrheit und Güte steht dem Lebensdrang im Wege, der sich als Macht manifestieren will. Nietzsche schüttelt ihre Tyrannei ab und
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Glaube und Vernunft
zerreißt die Fesseln, mit denen sie das Machtstreben knebelt. Diese Fesseln sind vor allem das Gewissen und die Moral. Gleichzeitig gibt es gegenläufig einen explosionsartigen Ratio nalitätsschub in Form des Fortschritts der Naturwissenschaften. Er betrifft die instrumentelle Vernunft und steht zu dem eben skizzierten Irrationalismus nicht im Widerspruch, sondern ist ihm willkommen, weil er dem Machtstreben erlaubt, seinen Einflussradius zu verlän gern und in Naturbeherrschung überzugehen. Die Folge aber ist, dass die Vernunft sich selbst fremd wird, weil sie gezwungen ist, sich selbst naturwissenschaftlich zu erklären. Dieses Geschäft übernimmt die Evolutionsbiologie. Sie verwandelt die Vernunft in ein Naturprodukt mit all den Folgen, die Lewis und Horkheimer beschrieben haben. Die Rettung der Vernunft hängt also ganz an der Frage, wie sie sich selbst versteht. Ist Vernunft – um es in den Worten Robert Spaemanns auszudrücken – nur eine Variante von Unvernunft, Sinn nur eine Variante von Unsinn?47 Vernunft kann sich selbst nur ver stehen als Vernunft, oder sie muss auf jedes Verständnis überhaupt verzichten. Aber das wäre das Ende jeder Kommunikation, und die Frage, wie sich der Glaube vor der Vernunft zu verantworten habe, hätte sich erledigt, weil sie gar nicht mehr gestellt werden könnte. Sich vor der Vernunft verantworten bedeutet: sich verständlich machen. Und der Glaube macht nicht nur sich, sondern auch die Vernunft vor der Vernunft verständlich. Denn wenn Vernunft sich als Vernunft versteht, kann sie sich nicht gleichzeitig als eine Variante von Unver nunft und damit als das zufällige Produkt eines vernunftlosen Natur geschehens verstehen. Oder, um es mit den Worten Josef Ratzingers auszudrücken: Sie kann nicht »auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen« und damit »auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben.« »Es geht um die Frage«, so Ratzinger, »ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht.«48
47 Vgl. das Vorwort Spaemanns zu: R. Spaemann/R. Löw, Die Frage Wozu? Mün chen/Zurück 31991, 11. 48 Ratzinger, Das Christentum – die wahre Religion? Vortrag am 27. November 1999 an der Sorbonne, in: J. Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, Freiburg im Breisgau 4 2005, 131–147, hier 145 f.
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Als Spaemann 2007 seinen Gottesbeweis aus der Wahrheit ver öffentlichte49, erntete er von manchen Atheisten Spott. Dabei nahm er nur den von Atheisten ganz und gar nicht verspotteten Nietzsche ernst und zog lediglich den Umkehrschluss aus dessen Folgerung des Todes der Wahrheit aus dem Tode Gottes – ein Gedankengang, den wir auch bei Denkern wie Leszek Kolakowski differenziert erörtert finden50 oder eben auch, wie wir gesehen haben, bei Horkheimer. Mich persönlich überzeugt am meisten der Rettungsweg über den Gegenstand der praktischen Vernunft, über das Gute. Denn die Gewissheit, dass es in sich böse wäre, einen beliebigen Menschen zu Demonstrationszwecken gelebter ethischer Skepsis umzubringen, ist die existenziellste Gewissheit, die ich mir vorstellen kann. Ich bin eher bereit, mit Descartes an der Existenz der Außenwelt zu zweifeln, als diesen moralischen Sachverhalt in Frage zu stellen. Denn selbst dieser Zweifel gäbe mir keinen Freibrief zu solchem Tun, denn er wäre ja bloß ein Zweifel, keine Gewissheit darüber, dass die mir begegnenden Menschen bloß ein Produkt der Matrix seien und beliebig getötet werden dürften. Mir ist bisher ein Philosoph bekannt, der es liebt, Beispiele extremer moralischer Sachverhalte als archimedischen Punkt philosophischer Reflexion zu nutzen, nämlich Alfred Cyril Ewing (1899–1973). Eines seiner Beispiele: »Man soll nicht seine Mutter verspeisen, um mit einer neuen Art von Fleisch zu experimentieren«.51 Die Wahrheit dieser Aussage existenziell zu bejahen bedeutet: Mit derselben Entschiedenheit und Gewissheit, mit der ich ein solches Ansinnen ablehne, lehne ich jedes Weltbild ab, das mir sagt, diese Norm sei nur eine soziale Konvention, ein psychologisches Faktum, eine Illusion der Gene, das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags, eine verinnerlichte Erziehungsmethode oder ein Produkt der Evolution, kurz: jedes Weltbild, das diese Norm ihrer inneren, absoluten Autorität beraubt. Und indem ich es ablehne, nehme ich die Aufforderung des Skeptikers nach Ausweis der Ver nünftigkeit meines Glaubens ernster als derjenige Skeptiker, der 49 Spaemann, Der letzte Gottesbeweis. Mit einer Einführung in die großen Gottes beweise und einem Kommentar zum Gottesbeweis Robert Spaemanns von Rolf Schönberger, München 2007. 50 L. Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt. Die Gottesfrage zwischen Skepsis und Glaube, Gütersloh 2008, 82–93. 51 Ewing, Value and Reality. The Philosophical Case for Theism, London 1974, 204; zitiert in: Bernd Goebel, Einleitung, in: A. C. Ewing, Ethik. Eine Einführung, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Bernd Goebel, Hamburg 2014, S. LXI.
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Glaube und Vernunft
zwar diese Forderung aufstellt, die Normativität der Vernunft aber anzweifelt. Mit anderen Worten: Der Gläubige kann nicht nur sein eigenes Tun, sondern auch das des Skeptikers besser rechtfertigen als dieser selbst. Es handelt sich in beiden Fällen um eine Vernunftnorm, deren Autorität und Sinn ich einsehe und der ich mich mit Freuden beuge. Sobald ich nun weiter über sie reflektiere und mir z.B. die Frage stelle, wo sie in vorgeschichtlicher Zeit war, wird mir klar, dass das Gute unabhängig von Raum und Zeit existiert. Und als vernünftige Norm, die meine Vernunft bindet, muss das Gute selbst von höherer Vernünftigkeit und Würde als ich selber sein, der ich doch eine Person bin. Das bedeutet: Das Gute ist personal und göttlich. Wenn es Gott nicht gäbe, würde alles im Strudel der Sinnlosigkeit verschwinden. Horkheimer hat vollkommen recht: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.« Aber wenn es diesen Sinn nicht gäbe, könnten wir ihn nicht einmal denken, wir könnten nicht die Erfahrung des sittlich Guten machen, das seinen Sinn in sich selbst trägt, weil es wert ist, um seiner selbst willen getan und erstrebt zu werden. Dann wäre seine Autorität, mit der es uns das Böse verbietet, trügerisch. Die Art und Weise, wie wir die Stimme unseres Gewissens erfahren, schließt ein, »dass hier Einer ist, dem wir verantwortlich sind«.52
Die Art der Erkenntnis Das Gute als das Gute anzuerkennen, ist ein Akt der Freiheit. Er ist genau so frei wie das Tun des Guten. Aber ohne diese Anerkennung ist die Evidenz des Guten mit ihren Implikationen bis hin zum Gottesglauben nicht zu haben. Hans Urs von Balthasar drückt es in seinem Vorwort zur »Abschaffung des Menschen« sehr schön aus: »Der Mensch steht unmittelbar zum Guten schlechthin, aber er muss es anerkennen und tun, um innerhalb seines Lichtes zu sein.«53 Jeder Mensch denkt, was er will – so wie er auch tut, was er will. Ich kann niemals durch einen Beweis einen Menschen zwingen, irgendetwas zu denken. Das gilt erst recht für das Denken des Guten, weil dieses Denken immer auch gebunden ist an einen freien Wil lensakt der Anerkennung. Wenn ich das Gute denke, ohne es als Gutes anzuerkennen, dann denke ich nicht das Gute, sondern etwas 52 53
John Henry Newman, Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961, 77. Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 12.
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Die Art der Erkenntnis
Anderes. Es geht also um eine freie Entscheidung. Diese Entscheidung kann kein Mensch dem anderen abnehmen. Das Denken dessen, wodurch die Vernunft gerettet wird, hat deshalb die gleiche Struktur wie eine Gewissensentscheidung. Es ist frei. So wenig, wie ich jeman den zwingen kann, seinem Gewissen zu folgen, kann ich jemanden zwingen, an Gott zu glauben. Seit Descartes ist die Meinung weit verbreitet, Gewissheit bedeute Denknotwendigkeit: eine Notwendigkeit, die den Zweifel unmöglich mache. Als Modell dafür gelten die logischen und mathe matischen Gesetze. Diese zwingen mein Denken in eine bestimmte Richtung. Sie lassen ihm keinen Spielraum in der Berechnung etwa einer mathematischen Aufgabe. Ob die Quadratwurzel von sechzehn vier ist, war deshalb niemals Gegenstand philosophischer Diskussion. Aber diese rein faktische Denknotwendigkeit ist nicht das, was wir suchen. Die Wahrheit, die unserer Freiheit Ziel und Sinn verspricht, kann ihrerseits nur in Freiheit ergriffen werden. Nur in Freiheit kann ich mich dem Guten öffnen und mich von seinem Licht erfüllen lassen. Nur wenn ich selber liebe, kann ich wissen, was Liebe ist und jene Wahrheiten entdecken, die ohne Liebe nicht zu haben sind. Dazu gehören nach einem bekannten Wort Blaise Pascals »die göttlichen Dinge«: Sie muss man lieben, um sie zu erkennen. Das Überschreiten der bloß instrumentellen Vernunft, die Aner kennung des Guten und damit die Rettung eines normativen Ver nunftbegriffs muss jeder für sich persönlich vollziehen. Das ist es, was Horkheimer übersieht. An einer Stelle seiner Kritik schreibt er: »Die Geschichte hat alle derartigen Versuche als illusorisch erwiesen«54, nämlich Versuche, die Idee einer objektiven Vernunft in einer wahren Ontologie zu verankern. Aber was soll das heißen, dass die Geschichte eine Philosophie als illusorisch erweist? Wenn der Siegeszug der instrumentellen Vernunft Horkheimer trotzdem nicht von der Idee einer objektiven Vernunft abbringt, warum soll dann der Siegeszug der Aufklärung ein Beweis für die Unhaltbarkeit der Metaphysik und der des Atheismus für die des Gottesglaubens sein? Über Wahr heit oder Falschheit einer Idee entscheidet nicht der geschichtliche Erfolg. In diesem Punkt ist Horkheimer ein Gefangener seines Mar xismus, der die »Bewusstseinsformen« (Marx) als Überbau über die ökonomischen Gesellschaftsverhältnisse interpretiert. Deshalb betrachtet Horkheimer die Rettung der Vernunft als einen kollektiven, 54
Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 199.
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Glaube und Vernunft
geschichtlichen Prozess. Aber genau das kann sie ihrem Wesen nach nicht sein. Jeder kann die Vernunft nur je für sich allein retten, so wie jeder nur für sich allein entscheiden kann, ob er das Gute tut oder nicht. Genau in demselben Sinne kann ich auch die Entscheidung, ob ich an Gott glaube, nicht an den Verlauf der Geistesgeschichte abtre ten. Im Gegensatz zu Horkheimer ist Lewis um einen Rettungsweg für die Vernunft nicht verlegen, weil er selbst diese Rettung erfah ren und dabei auch den geschilderten Entscheidungscharakter erlebt hat. In seiner Autobiographie beschreibt er ihn folgendermaßen: »Das Merkwürdige war, dass ich, bevor Gott mich einholte, sogar etwas geboten bekam, was heute wie ein Moment der vollkommen freien Wahl erscheint.«55 Um was für eine Wahl handelte es sich? »Ich konnte die Tür öffnen oder verschlossen lassen; ich konnte die Rüstung ablegen oder anbehalten«56, und zwar die Tür vor Gott als dem Handelnden, als demjenigen, der die Initiative ergreift, als demjenigen, der der Herr ist.57 Wie beschreibt Lewis diesen Gott? Es gibt zwei Schlüsselaussa gen: Gott ist »per definitionem die Vernunft selbst.«58 Lewis schreibt hier das Wort »Reason« im Englischen groß. Und er schreibt: »Gott zu kennen bedeutet zu wissen, dass ihm unser Gehorsam gebührt.«59 Diese beiden Beschreibungen bringen es auf den Punkt, um zu verstehen, wie im Gottesbegriff der Vernunft- und der Wertbegriff zusammenfallen. Die praktische Vernunft, die von den Neuerern so sehr verkannt wird, ist nicht eine verminderte Form der Rationalität oder eine durch Gefühle verunreinigte Vernunft, sondern Vernunft in Höchstform, weil sie uns mit dem Guten in Kontakt bringt, das seinerseits das Wirklichste ist, weil es am meisten das innerste Wesen des Absoluten widerspiegelt. Das, was die instrumentelle Vernunft als die handfeste Realität ansieht, die Materie, die wir sehen, berühren und messen können, ist am meisten von der Urwirklichkeit entfernt, während das Gute, das sie als Schein oder bloßes Epiphänomen zu betrachten pflegt, in Wirklichkeit die schwergewichtigste Realität darstellt, die dem Absoluten am nächsten kommt. Oder wie Ratzin 55 56 57 58 59
Lewis, Überrascht von Freude, Gießen 1992, 268. Ebd. 269. Ebd. 272 und 273. Ebd. 273. Ebd. 277.
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Die Art der Erkenntnis
ger sagt: »Die praktische (oder moralische) Vernunft ist Vernunft im höchsten Sinn, weil sie tiefer in das eigentliche Geheimnis des Wirklichen vordringt als die experimentelle Vernunft.«60 In der christlichen Offenbarung empfängt dieser Gottesbegriff Bestätigung und Vertiefung. Diese Vertiefung betrifft vor allem den Begriff des Guten: Das Gute in Gott ist nicht nur die Quelle des Sit tengesetzes, die Beziehung des Gebührens gegenüber dem Wert, eine Gerechtigkeitsforderung, ein kategorisches Sollen, sondern überflie ßende Güte, sich verschenkende Gnade, Liebe. Dadurch wirft der christliche Glaube ein neues Licht auf die Wirklichkeit, weil ich sie jetzt als ein Werk der Liebe erkennen kann, wodurch alles erst in seiner letzten Tiefe verständlich wird. Alle Teilerkenntnisse fügen sich wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen. Alles findet seinen Platz und erhält seinen Sinn. C.S. Lewis schreibt: »Ich glaube an das Christentum, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.«61 Dieses Licht des Glaubens, das alles andere sichtbar macht, kommt aus der geoffenbarten Wahrheit, dass Gott nicht nur Logos, sondern auch Liebe ist. »Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.«62 Deshalb findet die Vernunft in Gott nicht nur ihre Rettung, sondern auch ihre Vollendung: Sie rettet sich durch den Glauben an Gott, der die Vernunft selbst ist. Und sie vollendet sich durch die Hingabe an Gott, der die Liebe ist.
Ratzinger, Abbruch und Aufbruch. Die Antwort des Glaubens auf die Krise der Werte (Eichstätter Hochschulrede am 26. November 1987), in: Wendezeit für Europa? Dia gnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln 1991, S. 11–29, hier 26. 61 Ist Theologie Dichtung?, in: C.S. Lewis, Der innere Ring und andere Essays, Basel 1991, 41–58, hier 58; engl. Original: Screwtape Proposes a Toast and other Pieces, London 1965. 62 Ratzinger, Das Christentum – die wahre Religion? in: J. Ratzinger, Glaube, Wahr heit, Toleranz, Freiburg im Breisgau 42005, 131–147, hier 147. 60
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Erkennen oder Lieben? Was vollendet den Menschen?
Der hl. Franz von Sales schreibt in seiner Abhandlung über die Gottes liebe: »Der Mensch ist die Vollendung des Universums, der Geist ist die Vollendung des Menschen, die Liebe (l’amour) die des Geistes, die Gottesliebe (charité) die der Liebe. Daher ist die Gottesliebe Ziel, Vollendung und Vortrefflichkeit (l’excellence) des Universums.«1 Mit dieser Aussage steht der Kirchenlehrer im Gegensatz zu einem anderen Kirchenlehrer, zum hl. Thomas von Aquin. Dieser sieht die Vollendung nicht in der Liebe, sondern in der Schau Gottes. Da die Liebe ein Akt des Willens, die Gottesschau ein Akt des Intellekts ist, stehen sich hier Voluntarismus und Intellektualismus gegenüber. In der Philosophie haben diese Begriffe verschiedene Bedeutungen. In diesem Text meine ich damit nur die Antworten auf die Frage, welches der beiden Seelenvermögen das vorzüglichere und mithin jenes ist, auf dessen Konto die Vollendung des Menschen und mit ihm des ganzen Universums geht: der Wille oder der Intellekt? Ausschließlich in diesem Sinne ist jetzt von »Voluntarismus« und »Intellektualismus« die Rede. Wer von beiden hat Recht? Das ist die Frage, um deren Antwort wir in den folgenden Reflexionen ringen wollen. Es gibt das bekannte irische Sprichwort: »Wenn Gott den Men schen misst, legt er das Maßband nicht um den Kopf, sondern immer um das Herz.« Das Herz ist der Ort der innersten Willenseinstellung und somit »Sitz und Quelle der Liebe«2. Das Sprichwort besagt: Es ist nicht das Wissen, sondern die Liebe, die darüber entscheidet, welchen Wert der Mensch vor Gott hat. Durch das Wissen wird das Erkenntnisvermögen, durch die Liebe der Wille vollendet. Folglich ist der Wille das Vermögen, von dem der Wert eines Menschen abhängt. Wenn Gott den Menschen richtet, schaut er nicht darauf, wie groß 1 Franz von Sales, Abhandlung über die Gottesliebe, Band II, Eichstätt 1960, 168. Übersetzung von mir präzisiert. 2 Franz von Sales, Abhandlung über die Gottesliebe, Band I, Eichstätt 1957, 74.
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seine Erkenntnis, sondern wie groß seine Liebe ist. In diesem Sinne sagt ein vielfach kolportiertes Wort, das dem hl. Johannes vom Kreuz zugeschrieben wird: »Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden.« Der Wille entscheidet also über den moralischen Wert eines Menschen. In diesem Sinne war auch Immanuel Kant ein Voluntarist. Ob ein Mensch im eigentlichen Sinne gut ist, hängt für Kant allein von seinem Willen ab. Nur der Wille kann Träger jenes Wertes sein, der mit dem eigentlich Guten identifiziert wird. »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«3 Unsere Frage scheint also klar zugunsten des Voluntarismus entschieden zu sein. Dagegen steht allerdings ein anderer Gedanke, dessen Berech tigung aus christlich theologischer Sicht schwer abzustreiten ist: Unsere Seligkeit im Himmel besteht in der Schau Gottes. Es ist also Schau, Erkennen, Kontemplation, worin letztlich unsere Seligkeit und Vollendung besteht. Natürlich gehört im Himmel beides zusammen: Gottesschau und Liebe. Dennoch bleibt die Frage bestehen, worin die Seligkeit genau – »formaliter«, wie die Scholastiker sagen – besteht: in einem Akt des Willens oder in einem Akt der Erkenntnis? Es kann nur eines von beiden sein. Um sich davon zu überzeugen, dass es sich bei dieser Frage nicht um Spitzfindigkeiten handelt, genügt ein vertiefter Blick in das Buch des Philosophen Josef Pieper Glück und Kontemplation4. Es ist nach meiner Einschätzung das spannendste Buch, das Pieper geschrieben hat, und die beste mir bekannte Vertei digung der thomistischen Position. Das Frappierende an dieser Position ist, dass sie eine Offen barungswahrheit, nämlich das Dogma über die visio beatifica, die beseligende Gottesschau im Himmel, exakt mit der von Thomas übernommenen Philosophie des Aristoteles harmonieren lässt. Denn für Aristoteles besteht das Glück des Menschen in der Theoria, in der Kontemplation der Wahrheit. Natürlich dachte Aristoteles nur an das irdische Leben und war sich infolgedessen auch darüber im Klaren, dass dieses Glück nur auf unvollkommene Weise und auch nur für einen Teil der Menschheit, nämlich für die Philosophen, erreichbar sei. Doch seine Begründung ist einleuchtend: Das Glück des Men 3 4
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 393. J. Pieper, Glück und Kontemplation, München 1957.
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schen kann nur in dem bestehen, was seine Vollendung ausmacht. Diese aber besteht in der Betätigung seiner edelsten Fähigkeit, die ihn von den Tieren unterscheidet, nämlich der Vernunft. Die Kontempla tion der Wahrheit ist Selbstzweck. In ihr erreicht der Mensch sein Ziel. Und genau darin besteht seine Seligkeit. Vollendung und Seligkeit gehören zusammen und werden von Aristoteles in dem einen Wort »Eudaimonie« zusammengefasst. Eudaimonie wird oft mit »Glück« übersetzt. Aber sie ist bei Aris toteles mehr als ein subjektiver Gefühlszustand. Es ist damit immer auch das Erreichen eines Zieles gemeint, das die Bestimmung und Vollendung des Menschen ausmacht. Robert Spaemann übersetzt den griechischen Ausdruck deshalb mit »Gelingen des Lebens«5. Dadurch wird deutlich, dass die mit dem Begriff der Eudaimonie gemeinte Wirklichkeit eine objektive und eine subjektive Seite hat. Die objek tive Seite stellt sich der Außenperspektive dar, in der das Leben, die Biographie eines Menschen, den Augen des Betrachters (oder auch – im Rückblick – den eigenen Augen) als »schön« erscheint, weil es erfolgreich, geordnet und geglückt war. Subjektiv wird die Eudaimo nie als Freude empfunden. Diese Freude ist eine Folge gelungener Praxis. Die Wahrheitskontemplation ist jene höchste Praxis, die ihren Zweck in sich selbst trägt, weil in ihr der Mensch seine vornehmste Fähigkeit, die Vernunft, verwirklicht und darin selig wird. Bei Aristoteles gehen also Selbstvollendung und Freude Hand in Hand. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Freude, um die es im Begriff der Eudaimonie geht, ist nicht Sinnenlust oder ein künst lich hervorgerufener Zustand der Euphorie, sondern die Folge und Begleiterscheinung der Betätigung der vorzüglichsten menschlichen Fähigkeit, nämlich des Erkenntnisvermögens. Dadurch erreicht der Mensch sein naturgegebenes Ziel, sein telos. Wenn Aristoteles Recht hat, geht die Siegespalme in unserer Streitfrage also an den Intellek tualismus. Wie kommen wir nun aus dieser Pattsituation zwischen Volunta rismus und Intellektualismus heraus? Wenn wir genauer hinschauen, haben wir es mit einem verschiedenen Begriff der Vollendung zu tun. Die moralische Vollendung des Menschen durch die Liebe ist von anderer Art als seine Vollendung durch Erkenntnis. Diese ist eine Vollendung seiner Bedürfnisstruktur, jene besteht im Überschreiten, im Transzendieren dieser Struktur. Wegen dieses Transzendierens 5
R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, 32–44.
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sprechen Robert Spaemann und Reinhard Löw von der »ekstatischen Natur des Geistes«6. Das aristotelische Vollendungskonzept setzt ein Bedürfnis vor aus. Die Fokussierung auf dieses Konzept lässt die der Liebe eigen tümliche Art moralischer Vollendung nicht ins Blickfeld geraten. So schön und richtig der aristotelische Begriff der Eudaimonie auch ist, er darf doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aristoteles mit der Erkenntnis eine außermoralische Vollkommenheit als Ziel der Selbstvollendung des Menschen ansetzt. Die anfangs erwähnte Liebe als das, was über den Wert des Menschen entscheidet, liegt außerhalb seines Gesichtskreises. Für Aristoteles ist Liebe Streben nach einem Gut, das dem Strebenden fehlt, und deshalb ein Zeichen von Bedürftigkeit. Liebe wird als Eros gedacht. Da Gott unbedürftig ist, liebt er nicht. Gott ist das Denken des Denkens und besitzt deshalb eine bedürfnislose, autarke Glückseligkeit. Liebe ist für Aristoteles nicht die Verwirklichung des höchsten moralischen Wertes, sondern ein Zustand, der zu überwinden ist, nämlich durch das Erreichen des in der Liebe begehrten Gutes. Wenn es erreicht ist, kommt das liebende Begehren zur Ruhe und verwandelt sich in Freude. Der Akt des Erreichens aber ist das Erkennen. Das Wollen hört auf, das Erkennen bleibt. Wollen ist ein Streben. Wird das Ziel des Strebens erreicht, wird das Wollen überflüssig. Erkennen, nicht Wollen oder Lieben ist bei Aristoteles Selbstzweck. Das Streben ist also die Folge oder der Ausdruck eines erleb ten Bedürfnisses. Das aristotelische Vollendungskonzept setzt dieses Streben voraus, also ein »Aus-Sein-auf« (Spaemann), eine Teleologie. Ich möchte diese Art der Vollendung die teleologische nennen. Im Kontrast dazu steht jene Vollendung, die dem Vollendeten seinen höchsten Wert verleiht. Ich möchte sie die axiologische Vollendung nennen. Beim Menschen besteht sie in der moralischen Vollendung, denn der moralische Wert steht an der Spitze der Werthierarchie. Er allein ist es, der einen Menschen schlechthin gut macht und ihm eine Würde verleiht, vor der sich der Geist beugt, er mag wollen oder nicht, wie Kant einmal schreibt. Die axiologische Vollendung hat einen anderen Charakter als die teleologische. Sie antwortet nicht auf ein Bedürfnis. Im Gegenteil, oft kostet sie Überwindung und die Verleugnung eines Bedürfnisses. Dieser Gegensatz zwischen einer Vollendung, die unserer inneren 6
R. Spaemann/R. Löw, Die Frage Wozu? München/Zurück 31991, 93.
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Tendenz entspricht, und einer solchen, die ihr widerstreitet, spiegelt sich in den beiden Wegen, von denen Christus spricht, dem breiten Weg, der ins Verderben führt, und dem schmalen, der zum Leben führt (Mt. 7, 13 f). Nach dem hl. Johannes Chrysostomus sind die Wanderer auf dem breiten Weg jene Menschen, die einfach ihren Freuden folgen. Es ist der Weg, der ihnen durch ihre Bedürfnisstruktur vorgezeichnet ist. Der Weg der Gerechtigkeit dagegen ist der Weg des Kreuzes und der Selbstverleugnung. Selbstverleugnung bedeutet unter anderem: Verleugnung unserer Bedürfnisse, also das Gegenteil der aristoteli schen teleologischen Vollendung. Der hl. Fulgentius von Ruspe (+ 533) stellt gemäß dieser Logik Liebe und Begierlichkeit einander gegenüber und etabliert damit einen Begriff der Liebe, der gerade den konträren Gegensatz zum aristotelischen Eros darstellt: »Die Liebe ist die Wurzel alles Guten, die Begierlichkeit die Wurzel alles Schlechten. Begierlichkeit leidet ewige Qual, da sie vom Rauben nie gesättigt wird. Liebe aber ist stets voll Freude; denn in dem Maß, in dem sie zunimmt, gibt sie sich um so freigebiger aus«7. Liebe ist hier also nicht wie bei Aristoteles ein Streben, sondern ein Sich-Verschenken. Sie hat »am Schenken ihre Freude«8, wie Fulgentius in derselben Predigt sagt. Die Begierlichkeit sucht ihr Glück im Haben des Begehrten, die Liebe dagegen ist Schenken und findet ihr Glück in ihrem eigenen Tun. Es ist dies eine Variante des bekannten Gegensatzes zwischen Eros und Agape. Im Bild von den zwei Wegen erscheinen die beiden Arten der Vollendung (die teleologische und die moralische) als einander aus schließende Alternativen. Die moralische Vollendung steht quer zu unserer Bedürfnisstruktur und damit zur teleologischen Vollendung. Doch das Verhältnis dieser beiden Vollendungsarten auf diesen Gegensatz der zwei Wege zu reduzieren, wäre eine irreführende Vereinfachung. Denn nicht jede Bedürfnisbefriedigung ist illegitim, so dass sie ins moralische Verderben führt. Außerdem gibt es sinnliche und geistige Bedürfnisse. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass das Bild des schmalen Weges nur auf die sinnlichen Bedürfnisse zutrifft, nicht aber auf das von Aristoteles gemeinte geistige Bedürf nis, den Eros der Erkenntnis. 7 Fulgentius von Ruspe, Predigt Von der Gottes- und Nächstenliebe, in: O. Barden hewer (Hg.), Bibliothek der Kirchenväter 2,9: Des hl. Bischofs Fulgentius von Ruspe ausgewählte Schriften, München 1934, 221–226, hier 225. 8 Ebd. 226.
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Doch dem ist nicht so. Bei beiden Arten müssen wir zwischen legitimen und illegitimen (sprich: unmoralischen) Weisen ihrer Erfül lung unterscheiden. Hunger ist ein sinnliches Bedürfnis. Ihn zu stillen ist legitim, im Hinblick auf die Erhaltung unseres Lebens sogar moralisch geboten. Völlerei und Schlemmerei dagegen sind unmoralische Weisen dieser Bedürfnisbefriedigung. Der Unterschied liegt darin, dass das Bedürfnis das eine Mal in geordneter, das andere Mal in ungeordneter Weise gestillt wird. Geordnet ist die Weise, wenn sie vernunftgemäß ist. Das ist im Zusammenhang ethischer Handlungstheorie das Vernunftkonzept des Aristoteles. Das Werk der Tugend besteht im Ordnen der Leidenschaften gemäß der Vernunft. Fällt diese Ordnungskraft aus, kommt es zu dem, was Paulus die Werke des Fleisches nennt, auf deren Vollbringer das Bild vom verderbenbringenden breiten Weg aus Jesu Gleichnis zutrifft. Für Aristoteles entscheidet sich die Frage nach der Vollendung des Menschen an der Frage, worin der Mensch sein wahres Gut sieht. Durch die sinnliche Bedürfnisbefriedigung wird der Mensch nur vollendet, insofern er ein Sinnenwesen ist, ein animal. Das Typische des Menschen aber, seine differentia specifica, ist seine Vernunft, er ist ein animal rationale. Die Vernunft aber wird, wie wir schon gesehen haben, vollendet durch die Erkenntnis der Wahrheit. Der hedonistisch gesinnte Mensch verfehlt deshalb die Eudaimonie. Er verkennt, worin sein höchstes Gut besteht. Im Aristotelismus ist also der Irrtum, das Versagen des Erkenntnisvermögens, für den moralischen Unter schied zwischen den Menschen verantwortlich. Der Irrtum besteht im Verwechseln der scheinbaren Güter mit dem wahren Gut bzw. der minderwertigen Güter mit dem höchsten Gut. Und mit »Gut« ist hier in jedem Fall etwas gemeint, das den Menschen dadurch vollendet, dass es einem empirischen, seiner Natur entspringenden Bedürfnis entspricht. Dieses Konzept hat sich von Aristoteles über den Thomismus bis heute erhalten. Vollendet wird der Mensch, indem er erreicht, was er von Natur aus erstrebt: teleologische Vollendung. Aber auch bei den geistigen Bedürfnissen gibt es die Unter scheidung hinsichtlich ihrer Moralität. Das Streben nach Wahrheits erkenntnis ist ehrbar und wichtig. Es ist das Streben nach einem wahren Gut. Und trotzdem heißt es in 1 Kor 8, 1: »Die Erkenntnis bläht auf.« Sie kann hochmütig machen. Es gibt also auch ein unge ordnetes Streben nach dem, was in den Augen des Aristoteles die Eudaimonie darstellt. Dann aber kann die Eudaimonie nicht der letzte Maßstab sein, der über den Wert des Menschen entscheidet. Wenn
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Erkenntnis den Menschen nicht nur, wie Aristoteles meint, glücklich, sondern auch hochmütig machen kann, dann gibt es eine Vollendung des Menschen, eben die moralische, die außerhalb des Blicks des Aristoteles liegt und die dessen teleologisches Vollendungskonzept überholt. Und damit wären wir wieder beim irischen Sprichwort, dass Gott das Maß nicht um den Kopf, sondern um das Herz legt. Dieses ist wichtiger als jener. Der gute Mensch kann mit größerem Recht beanspruchen, als vollendet zu gelten, als der glückliche. Die moralische Vollendung kennt ihrerseits eine Differenzie rung, die der besprochenen Differenzierung der teleologischen Voll endung spiegelbildlich analog ist: Einerseits bedeutet Liebe Selbstver leugnung, andererseits Glück und Erfüllung. Einmal steht sie unserer teleologischen Vollendung im Weg, ein anderes Mal fällt sie mit ihr zusammen. Schauen wir uns den ersten Aspekt an: Es heißt von der Liebe, dass sie nicht das Ihre sucht, d.h. ihr geht es gerade nicht um die eigene Bedürfnisbefriedigung. Worum geht es ihr dann? Um den Geliebten! Alles, was sie will, will sie um des Geliebten willen. Liebe bedeutet, dass dem Liebenden das Wohlergehen des Geliebten schlechthin wichtig ist. Sie braucht keinen weiteren, eigennützigen Grund. Im Falle der Gottesliebe geht mit dieser Liebe die Erkenntnis Hand in Hand, dass der Geliebte diese Liebe tatsächlich verdient – mehr als der Liebende selbst. Das bedeutet, dass diese Liebe gleichzeitig sich ihrer sinngesättigten Richtigkeit bewusst ist. Der Liebende wird von der Gewissheit getragen, dass er seine Liebe nicht sinnlos verschwendet, dass er sich selbst dabei nicht verliert. Je weniger es ihm in dieser Liebe um sich selbst geht, desto mehr findet er sich selbst. Er findet zu sich, indem er durch eben diese Liebe den Übergang vollzieht von dem, der er ist, zu dem, der er sein soll. Wer sein Leben verliert, wird es finden, sagt Christus, um diesen paradoxen Sachverhalt auszudrücken. Erst durch das Absehen von sich selbst, das der Liebe eigen ist, verwirklicht der Mensch seine Bestimmung. Mit anderen Worten: Erst wenn dem Menschen die teleologische Vollendung nicht mehr das Wichtigste ist, findet er zu seiner moralischen Vollendung, die ihm dann mehr bietet als die teleologische. Da aber die moralische Vollendung nicht auf ein Bedürfnis antwortet, kann die Sinnerfahrung, die dem Liebenden dadurch, dass er liebt, geschenkt wird, nicht antizipiert werden. Bei der teleologi schen Vollendung ist das anders. Das erlebte Bedürfnis erlaubt die Antizipation seiner Stillung: Wer Hunger hat, sucht nach Nahrung,
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selbst dann, wenn er noch nicht weiß, welche Nahrung er finden wird. Aber er hat schon einen Begriff der Nahrung, der ihn bei der Suche leitet, und eine Vorstellung ihrer Wirkung. Er sehnt sich ja nicht danach, dass der Hunger auf irgendeine beliebige Weise verschwindet, sondern er sehnt sich danach, zu essen und satt zu werden. Wer nach der Wahrheit strebt, hat schon einen Vorbegriff von einer Wahrheit, die seinem Erkenntnisinteresse antwortet, selbst wenn er nicht im Voraus weiß, wie die Wahrheit aussehen wird. Ein Egoist aber hat keinen Vorbegriff von der Erfüllung, die die Liebe ihm bereithält. Er liebt es nicht zu lieben, während der Liebende in dem Moment, in dem er zu lieben beginnt, nicht nur den Geliebten, sondern auch die Liebe zu ihm liebt und von ihr wünscht, dass sie immer bleibt. Der unmoralische Mensch kann das Glück selbstloser Liebe nicht erahnen. Dieses Glück ist der ausgeprägteste Fall des moralischen Glücks, von dem Kant schreibt: »Man muß wenigstens auf dem halben Wege schon ein ehrlicher Mann sein, um sich von jenen Empfindungen auch nur eine Vorstellung machen zu können.«9 Die Freude, die mit der Liebe als Verwirklichung von Moralität, oder allgemein gesprochen: die mit der Tugend verbunden ist, kann mit dem Leid der Selbstverleugnung sehr wohl zusammen bestehen. Eine Mutter, die aus Liebe zu ihrem kranken Kind keine Opfer scheut, um ihm beizustehen, wird ihm auf eine entsprechende Frage dennoch antworten: »Das tue ich mit Freude für dich!« So war auch für den hl. Ignatius von Antiochien zur Zeit Trajans die Aussicht auf das grausame Martyrium in der römischen Arena ein Grund großer Freude: »Freuen will ich mich auf die Tiere, die für mich bereit gehalten werden, und ich bete, dass sie sich scharf gegen mich zeigen«, wie er in seinem berühmten Brief an die Römer bekennt. Sobald die Tugend Freude gewährt, besteht die Möglichkeit, sie des versteckten Egoismus’ zu verdächtigen und die ekstatische Vollendung des Willens in eine teleologische umzudeuten. Diese Umdeutung geschieht durch die Unterstellung, dass nicht die Morali tät, sondern heimlicherweise die Freude der Beweggrund der Tugend übung sei. Aus der Möglichkeit solcher Tugendfreude kann man dann die Existenz eines Bedürfnisses nach Moralität folgern. Genau diesen Weg beschritt David Hume. In einer aufschlussreichen Passage stellt er die Tugend mit der Befriedigung gleich, die sie dem Tugendhaf ten beschert: 9
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 38.
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Da nun Tugend ein Endzweck und um ihrer selbst willen, ohne Entgelt oder Belohnung, lediglich um der unmittelbaren Befriedigung willen, die sie gewährt, erstrebenswert ist, so muß notwendigerweise irgend ein Gefühl vorhanden sein, an welches sie rührt, eine innere Neigung oder ein inneres Empfinden, oder wie immer man es sonst nennen mag, das zwischen dem moralisch Guten und Bösen unterscheidet und das sich dem einen zuwendet und das andere verwirft.10
Hier wird das Verhältnis zwischen teleologischer und moralischer Vollendung auf den Kopf gestellt. Hume zufolge übe ich die Tugend um der Befriedigung willen, die sie beschert, und sie beschert sie, weil es eine Neigung zu ihr gibt. Damit wird der Begriff der Liebe zerstört. Selbstlose Liebe wird zu einem eigennützigen Streben nach der Freude, die die Liebe dem Liebenden bereitet. Was soll man dagegen sagen? Es gibt keine logisch zwingende Widerlegung solcher Deutung. Spaemann schreibt dazu: »Gegen diese Deutung ist die Liebe ohnmächtig. Denn wer keine Liebe hat, kann die Wirklichkeit der Liebe auch nicht sehen.«11 Wer keine Liebe kennt, sieht überall nur Egoismus. Er ist blind für Werte im Sinne Dietrichs von Hildebrand, also für eine Wirklichkeit, die der Liebe wert ist. Der Leugner der Liebe kann nicht von außen überzeugt, sondern nur innerlich bekehrt werden. Er kann es, indem er sehend wird, indem er Liebe irgendwie erfährt, z.B. dadurch, dass er sich verliebt. Joseph Roth hat im fünften Kapitel seines Romans Beichte eines Mörders12 eine solche Liebe, die sehend macht, literarisch dargestellt. Dort lässt er den hasserfüllten Titelhelden Golubtschik erzählen, wie dieser durch die Liebe zu einem Mädchen sehend wird, »sehend« im Sinne von wertsichtig: »Ich erkannte plötzlich und dank einer sinnlo sen Liebe zu einem gewöhnlichen Mädchen, daß ich bis zu dieser Stunde schlecht gewesen war.«13 Die Liebe bricht den Egoismus, die Gefangenschaft in der eigenen Teleologie auf und macht sehend für Gut und Böse und damit für das, was wertvoller ist als die eigene teleologische Vollendung. Golubtschik erfährt diese Sehfähigkeit als Erlösung und als die Entdeckung, dass er ein Herz hat.
Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, herausgegeben und über setzt von G. Streminger, Stuttgart 2012, 158 f. 11 R. Spaemann, Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1–51, Stuttgart 2014, S. 274 f. 12 J. Roth, Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht, Köln und Amsterdam 1951. 13 Ebd. 92. 10
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Allein schon die Gnade, daß ich imstande gewesen war, mich so plötz lich auf den ersten Blick zu verlieben, machte mich meiner selbst sicher und schuf mir zugleich Gewissensbisse wegen meiner schändlichen Handlungen. Ich versuchte, dieser Gnade einer jähen Verliebtheit würdig zu werden.14
Die Liebe enttarnt die Falschheit des egoistischen Maßstabs, der alles, was ihm begegnet, dem Eigennutzenkalkül unterwirft. Sie wird zu dieser Enttarnung fähig, weil sie eine Wirklichkeit sichtbar macht, angesichts derer der Liebende sowohl die eigene Unwürdigkeit erkennt als auch den moralischen Imperativ, ihrer würdig zu werden. Das geliebte Mädchen ist in diesem Fall nur Anlass und Symbol dieser Wirklichkeit. Wen und was immer man liebt: der Mensch wird dabei sehend und keineswegs blind. Ich hatte bis zu dieser Stunde niemals geliebt; wahrscheinlich deshalb also war ich ein Verbrecher, ein Spitzel, ein Verräter, ein Schurke geworden.15
Normalerweise schlagen wir das Verliebtsein dem Eros zu und iden tifizieren es eher mit dem, was Fulgentius von Ruspe die Begierlichkeit nennt. Tatsächlich aber kann sie auch das Gewissen und das ekstati sche Moment des Geistes wecken. In Roths Erzählung ist das nur kurzfristig der Fall. Es kommt zu keiner anhaltenden Bekehrung. Allzu schnell kann Liebe wieder in Begierlichkeit umkippen. Aber es wird deutlich, dass es eine Liebe gibt – man könnte sie vielleicht die romantische Liebe nennen –, die beide Momente vereinigt: das Moment des Eros, also der bedürftigen Liebe, die nach dem Gelieb ten und dessen Liebe strebt, um dort Glück und Erfüllung, also teleologische Vollendung zu finden, und das ekstatische, sich selbst transzendierende Moment, wodurch der Geliebte und nicht das eigene Ich im Mittelpunkt des Interesses steht. Solche Liebe ist mehr als bloße Triebbefriedigung. Gerade deshalb ist sie auch geeignet, im biblischen Hohelied Salomos als Bild der Liebe zwischen Gott und der Seele zu fungieren. Die Liebe Gottes zur Seele und der Seele zu Gott ist nicht nur interessenlose Agape, sondern auch Sehnsuchtsliebe nach Vereinigung. Der Unterschied zur egoistischen Liebe liegt darin, dass im Falle der Gottesliebe der eine zum anderen nicht sagt: »Ich liebe
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Ebd. 92 f. Ebd. 92.
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dich, weil ich dich brauche«, sondern: »Ich brauche dich, weil ich dich liebe.« Die selbstlose, ekstatische Liebe geht so weit, dass sie sich dem Anderen hingibt, und zwar in einer Weise, dass der Liebende Glück und Sinn der eigenen Existenz von dieser Liebe abhängig macht. Wenn der gottliebende Mensch sagt, er wolle seine Freude nur noch darin finden, Gott zu lieben, dann will er diese Liebe nicht ihres selbstlosen Charakters berauben und in ein Werkzeug der Eigenliebe verwandeln, ihr also bloß instrumentellen Wert im Hinblick auf die eigene Freude zusprechen. Sondern gerade umgekehrt: Die Liebe wird für ihn so existenziell, dass sie den ganzen Sinn und Zweck seines Lebens ausmacht. Gott wiederum liebt den Menschen ebenfalls in der Weise echter Selbsthingabe. Aber wie kann Gott sich ihm schenken? Das geschieht in vollendeter Weise gerade in der visio beatifica. Gott ist Geist, und indem Gott sich vom Geist des Menschen erkennen lässt, geht er in den Geist des Menschen ein. Der Mensch darf ihn schauen und in die sem Schauen genießen und besitzen. Im Falle der Gottesschau bedeu tet Erkenntnis innigstes Vereintwerden von Geist und Geist. Und gerade dadurch wird der Mensch tatsächlich teleologisch vollendet. Aber diese teleologische Vollendung des Menschen ist gleichzeitig die axiologische Vollendung kraft der Liebeshingabe Gottes. Nun endlich können wir das Zueinander von Liebe und Erkennt nis, von moralischer und teleologischer Vollendung aufklären und die Streitfrage zwischen Intellektualismus und Voluntarismus ent scheiden. Die Liebe ist die Vollendung des menschlichen Wertes, die Gottesschau aber die Vollendung des göttlichen Werkes. Sie ist ein Werk seiner Liebe. Liebe ist das Wertvollste, was der Mensch wirken kann. Deshalb ist seine axiologische Vollendung durch die Liebe wertvoller als seine teleologische durch die Gottesschau. Es ist tatsächlich so, dass nicht die Erkenntnis, sondern die Liebe den Menschen vor Gott wertvoll macht. Deshalb ist ja auch die Liebe das Maß seiner Seligkeit in der Gottesschau. Aber die Gottesschau ihrerseits ist die Vollendung dessen, was die göttliche Liebe für den Menschen tut. Die letzte Vollendung des Menschen, die teleologische, geschieht nicht durch seine eigene Tat, sondern durch die Tat Gottes. Der Mensch gibt sich seine Vollendung nicht selbst, sondern empfängt sie als Geschenk von Gott. Der Mensch ist Geschöpf. Deshalb besteht seine Vollendung in einem Empfangen. Im Schauen empfängt der Mensch Gott als Geschenk, dieses Geschenk aber ist eine Tat göttli
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cher Liebe. Deshalb ist die teleologische Vollendung des Menschen gleichzeitig eine axiologische Vollendung aufgrund der Tatsache, dass sie die krönende Liebestat Gottes ist. Der hl. Franz von Sales hat also recht: Die Gottesliebe ist »Ziel, Vollendung und Krönung des Universums«. Allerdings müssen wir diesen Satz in einem doppelten Sinn verstehen. Der heilige Kirchen lehrer versteht sie im Sinne der Liebe des Menschen zu Gott – es han delt sich im Ausdruck »Liebe Gottes« um den Genitivus objectivus. Und tatsächlich ist Lieben das wertvollste, was der Mensch tun kann. Aber das Wertvollste, was überhaupt getan werden kann, wird von Gott getan, und das ist seine Liebe. Diese gelangt zur Vollendung im Sich-Verschenken an den Menschen durch das Sich-Erkennen-lassen in der visio beatifica. Gott zeigt sich dem Menschen »unverhüllt, klar und offen«16. Die Liebe Gottes ist die Vollendung des Universums schlechthin: Hier handelt es sich um den Genitivus subjectivus. Das letzte Werk dieser Liebe aber ist die Beseligung des Menschen in der himmlischen Gottesschau. Deshalb hat Thomas von Aquin Recht, wenn er die visio beati fica als letzte Vollendung und Beseligung des Menschen denkt. Als Erkenntnis ist sie teleologische Vollendung der ganzen Schöpfung. Aber deren axiologische Vollendung ist sie deshalb, weil sie gleichzei tig eine Tat der Liebe ist, nämlich der Liebe, mit der Gott sich dem Menschen schenkt. Deshalb bleibt es dabei: Nicht die Erkenntnis, sondern die Liebe ist die Vollendung des Universums.
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»nude, clare et aperte«, Konstitution Benedictus Deus von Benedikt XII., 1336.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo Anselms Gottesbeweis im Lichte von De veritate
1. Die Definition der »Gerechtigkeit« in De veritate Ein Blick in die reichhaltige Forschungsliteratur zum Anselmschen Gottesbeweis im Proslogion kann schnell davon überzeugen, wie sehr sich die Diskussion auf den logischen Aspekt von Anselms Gedanken gang konzentriert. Vor allem im englischsprachigen Raum scheint seit Malcolms Versuch einer modallogischen Rekonstruktion des Anselmschen Beweises1 die Kontroverse von dem Konsens bestimmt zu sein, daß die Logik die zuständige Disziplin ist, die über die Stichhaltigkeit des Beweises entscheidet. Selten dagegen wird der Versuch unternommen, den Beweis als die Explikation einer originären Einsicht zu verstehen, die durch kein noch so durchdachtes logisches Schlußverfahren ersetzt werden kann. Genau dies aber ist die These, die ich hier stützen möchte. Meine These lautet, daß Anselms Denken im Ganzen und sein Gottesbeweis im Besonderen von der Evidenz einer sittlichen Erfah rung getragen ist. Diese wird erst in der Schrift De veritate,2 die
1 N. Malcolm, Anselm's Ontological Argument, in: The Philosophical Review 69 (1960), 41–62. Zu dieser Diskussion cf. die Literaturangaben bei W.L. Gombocz, Anselm von Canterbury. Ein Forschungsbericht über die Anselm-Renaissance seit 1960, in: Philosophisches Jahrbuch, 87 (1980), 109–134; K. Kienzler, Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury, Freiburg i. Br. 1981, 275 ff.; K. Jacobi, Begründen in der Theologie. Untersuchungen zu Anselm von Canterbury, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992) 225–44. 2 Franciscus Salesius Schmitt OSB (Hg.), S. Anselmi Cantuarensis Archiepiscopi Opera omnia, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, Zwei Bände. In Band 1: De Veritate: S. 169–199. Ich zitiere im Folgenden aus allen Werken Anselms nach dieser zweibändigen Ausgabe unter Angabe des Werkes, des Bandes und der Seitenzahl.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
einige Jahre nach dem Proslogion entstanden ist,3 eigens thematisiert. Im zwölften Kapitel von De veritate (191–196) arbeitet Anselm eine Definition der Gerechtigkeit heraus, indem er Schritt für Schritt die allgemeine Charakterisierung der iustitia als einer rectitudo im Sinne des Vollzugs eines debere immer mehr spezifiziert, bis er zu seiner bekannten Definition gelangt: »Iustitia igitur est rectitudo voluntatis propter se servata« (194). Wenn wir die Begriffselemente, die in die Definition der Gerechtigkeit eingehen, in der Reihenfolge ihrer Herausarbeitung überschauen wollen, ergibt sich folgendes Bild: Gerecht ist, wer (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
facit quod debet; volens facit quod debet; percipiens rectitudinem facit quod debet; rectitudinem voluntatis habet; sciens se debere vult; volendo se debere vult; volendo propter quod debet, i.e. propter rectitudinem vult.
Das erste Element bestimmt die Gerechtigkeit als Rechtheit in einem so allgemeinen Sinn, daß auch noch die rectitudo des Steines darun terfällt. Die Elemente 2 bis 4 spezifizieren die Gerechtigkeit als eine besondere Art der rectitudo dadurch, daß sie das mögliche Subjekt der Gerechtigkeit bestimmen: Das zweite Element schränkt den in Frage kommenden Bereich auf die Gattung des animal ein, das dritte auf das animal rationale, das vierte auf ein bestimmtes Vermögen dieses animal, nämlich auf den Willen. Die Gerechtigkeit ist also die rectitudo voluntatis eines vernunftbegabten Wesens, das tut, was es soll. Die Elemente 5 bis 7 werden in einer Handlungsanalyse herausgearbeitet, indem die Bedingungen untersucht werden, die eine Handlung erfül len muß, damit der Handlungswille gerecht sei. Daß die Handlung gesollt ist, wird bereits durch das erste Element sichergestellt. Das fünfte Element besagt, daß jene Folge der Handlung, die sie zur gesollten macht, beabsichtigt sein muß. Das sechste Element fordert, daß die Gesolltheit selber bejaht wird, und das letzte, daß sie um ihrer selbst willen bejaht wird. 3 Zur Chronologie der Werke Anselms vgl. die Ausführungen des verdienstvollen Herausgebers Franciscus Salesius Schmitt OSB in seinen Prolegomena seu Ratio Editionis, 41⃰-63⃰, die er in der Ausgabe bei Frommann-Holzboog den Werken Anselms vorangestellt hat.
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2. Der ontische Status der Rechtheit in De veritate
Es ist von großer Bedeutung zu sehen, daß die Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit ohne jeden Rückgriff auf metaphysische Theoreme geleistet wird. Die Untersuchung ist ganz konzentriert auf die Analyse dessen, was in der menschlichen Handlung gegeben ist, wenn wir sie nach dem befragen, was sie zu einer moralischen macht. Die Analyse kann geradezu als Paradebeispiel einer phänomenologi schen Untersuchung bezeichnet werden, die sich ganz von dem leiten läßt, was dem phänomenologischen Blick im Verlauf der fortschrei tenden Herausarbeitung des befragten Phänomens sichtbar wird. Es handelt sich nicht um eine metaphysische Spekulation, die aus irgend welchen Theoremen Folgerungen ableitet, sondern um eine ganz an der Sache orientierte Analyse, die von Einsicht zu Einsicht, von Sehen zu Sehen fortschreitet. Das Ergebnis ist eine Wesensschau der Gerechtigkeit, die dieselbe als ausschlaggebenden, motivierenden Letztwert und als letzte sittliche Instanz für die ethische Beurteilung menschlicher Handlungen erkennt.
2. Der ontische Status der Rechtheit in De veritate Bevor ich mich anhand des Proslogion dem Versuch eines Erweises der These, daß die in De veritate explizierte Einsicht in die Eigenart der Gerechtigkeit, bzw. Rechtheit den intuitiven Hintergrund des Anselmschen Gottesbeweises bildet, zuwende, möchte ich noch auf eine wichtige Passage in De veritate aufmerksam machen, die zeigen kann, welche Tragweite Anselm selber der Einsicht in die rectitudo zutraut. Im dreizehnten Kapitel vergleicht Anselm den ontischen Status der Farben mit dem der Rechtheit von Aussagen. Der Paralle lismus der sprachlichen Struktur, in der wir die Farbe von Körpern und die Rechtheit von Aussagen prädizieren, scheint auch die Ver gleichbarkeit ihres ontischen Status' nahezulegen. Anselm dagegen legt Wert auf die Erkenntnis, daß es sich damit genau umgekehrt verhält: Während die Farbe in ihrem Sein vom Körper abhängig ist und mit ihm vergeht, wenn er zugrunde geht, bleibt das Sein der Rechtheit von der Vergänglichkeit der Aussage, deren Rechtheit sie ist, unberührt: »Non similiter se habent color ad corpus et rectitudo ad significationem.«4 »Rectitudo igitur qua significatio recta dicitur, non 4
De veritate, I, 197.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
habet esse aut aliquam motum per significationem, quomodocumque ipsa moveatur significatio.«5. Zur Begründung rekurriert Anselm auf den Umstand, daß die Frage, ob es recht ist, daß die Aussage anzeigt, was sie soll, unabhängig beantwortet werden kann davon, ob jemals eine Aussage gemacht worden ist: M. Si nullus aliquo significare velit signo quod significandum est: erit ulla per signa significatio? D. Nulla. M. An ideo non erit rectum, ut significatur quod significari debet? D. Non idcirco minus erit rectum, aut minus hoc exiget rectitudo.6
Der Verdacht auf Tautologie, der hier auftauchen könnte, weil doch das rectum nur das debet, bzw. den im Gebrauch des Gerundivums (significandum) ausgedrückten Sollenscharakter wiederholt, greift zu kurz. Es geht nicht um irgendeinen allgemeinen Grundsatz, wie etwa denjenigen, daß alles Gesollte recht sei, der sich tatsächlich als Tautologie herausstellen würde. Vielmehr bedeutet der Gebrauch des Gerundivums bzw. des debere nur eine abkürzende Bezeichnung des Gegenstandes dieses Sollens, nämlich der gnoseologischen Wahrheit der Aussage. Daß die Aussage anzeigen soll, daß ist, was ist, d.h. daß die Aussage wahr sein soll, ist alles andere als eine Tautologie. Vielmehr stellt sie gerade eine Einsicht in den axiologischen Cha rakter der Wahrheit dar, der das Eigentümliche des Anselmschen Wahrheitsbegriffs ausmacht und im Verlauf der Untersuchung den Begriff der rectitudo zu etablieren ermöglichte. Wenn aber keine Tautologie vorliegt, dann impliziert die Aus sage, daß es auch dann recht ist, die (gnoseologische) Wahrheit zu sagen, wenn nie jemand irgendetwas gesagt hat, eine Aussage über den Status der Rechtheit: »M. Ergo non existente significatione non perit rectitudo qua rectum est et qua exigitur, ut quod significandum est significetur.«7 Die Einsicht in diesen ontischen Status der Rechtheit, der ihre Unabhängigkeit von allem was ist, bedeutet, ist also nicht das abgelei tete Ergebnis irgendwelcher metaphysischer Prinzipien, sondern die Frucht der Einsicht in die Eigenart der Rechtheit selber. Sie ist der Inbegriff des zurecht um seiner selbst willen Gesollten. Wenn jemals Ebd. I, 198. Ebd. I, 197. In den folgenden Zitaten steht M für Magister und D für Discipulus. Anselm hat sein Werk De veritate als einen Dialog zwischen Lehrer und Schüler kon zipiert. 7 Ebd. I, 197.
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2. Der ontische Status der Rechtheit in De veritate
etwas als gesollt erkannt wird, dann wird gleichzeitig miterkannt, daß dieses Sollen nicht selber eine zeitliche Entität ist, die mit dem, was gesollt wird, entsteht und vergeht. Modern ausgedrückt: Die Geltung ist unabhängig von der Genesis — und nicht nur von der Genesis, sondern von allem Sein. Was immer auch als Sein wirklich ist oder gedacht werden kann: es kann und muß immer als unter einem Sollen stehend gedacht werden, das ihm immer schon voraus ist. Wenn dieser Zusammenhang anders konzipiert wird, ist es schon nicht mehr das Sollen, das gedacht wird, sondern ein Surrogat. Versuche, das Sollen nach dem Muster von etwas anderem zu interpretieren, z.B. als Ausdruck irgendeines Willens, lassen wieder die Frage nach der Gesolltheit dieses Willens zu. Diese Unausweichlichkeit des Sollens führt uns Anselm vor Augen, wenn er den Schüler auf die zuletzt zitierte Behauptung des Lehrers antworten läßt: »D. Si interisset, non esset hoc rectum, nec ipsa hoc exigeret.«8 Es handelt sich hier nicht bloß um eine Retorsion im Sinne des Aufweises einer Unhintergeh barkeit, die Ausdruck einer rein faktischen Denknotwendigkeit wäre, die ihrerseits gerade zur Debatte steht. Vielmehr wird hier nur die Konsequenz gezogen aus der Vermeidung dessen, was Moore den naturalistischen Fehlschluß genannt hat. Diese Vermeidung ist gerade keine bloße Denknotwendigkeit, sondern die Frucht der Einsicht in die Eigenart der rectitudo als die letzte, sich selbst rechtfertigende Instanz jedes Sollens. Jeder Versuch, dieses Sollen wegzuerklären, kann nur mit dem Preis des naturalistischen Fehlschlusses bezahlt werden. Gerade weil in diesem Fehlschluß der Begriff des Sollens selbst substituiert wird durch den Gedanken eines Faktischen, kann dieser Gedanke wieder sinnvoll der Instanz des wahren Sollens unterworfen werden — ohne daß es sich um eine sinnlose Iteration der Anwendung des Sollens auf sich selbst handelte. Die scheinbar bloß faktische Unvermeidlichkeit des Sollensgedankens stellt sich als intelligible Konsequenz des Charakters der Rechtheit heraus, deren ontischer Status niemals an den irgendeines Faktums gekettet sein kann. Dieser Status wird, wenn die Rechtheit selbst erst einmal fest ins Auge gefaßt wird, nicht nur miterkannt, sondern es wird gleichzeitig durchschaut, wie und warum es um der Rechtheit willen gar nicht anders sein kann. Wir haben es nicht nur mit einem bloß konstatierbaren Konnex zu
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Ebd. I, 198.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
tun, sondern mit einem sinnvollen Zusammenhang, dessen Intelli gibilität identisch ist mit der der rectitudo selber9.
3. Der Begriff der »Größe« im Proslogion Dasjenige, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist der Dreh- und Angelpunkt des Beweises. Entscheidend für das Verständnis des Beweises ist deshalb die klare Auffassung dessen, was Anselm unter jenem versteht. Der Begriff der Größe ist hier kein rein formaler, sondern im Kern ein axiologischer Begriff. Ein erstes Indiz finden wir dafür bereits im Vorwort Anselms, wo er als Beweisziel nicht nur die Existenz Gottes angibt, sondern auch dessen Kennzeichnung als summum bonum: »… ad astruendum quia Deus vere est, et quia est summum bonum«.10 Zwar kann Anselms Begriff des bonum nicht auf die 9 Hansjürgen Verweyen beschreibt denselben Sachverhalt in Zusammenhang seiner Kant-Interpretation sehr schön: »Der Begriff [Hervorhebung im Original] ›Ich soll‹ wird nur wirklich gedacht, wenn sich darin zugleich das Hoheitliche eines Seins zeigt, das seine Festigkeit über alle sinnlich feststellbare Realität hinaus behauptet« (Ver weyen, Gottes letztes Wort, Düsseldorf 1991, 119 f.). Später aber schreibt er: »Im Unterschied zum Ausgangspunkt des transzendentallogischen Arguments ist Kants Faktum der reinen Vernunft allerdings keine unhinterfragbare Selbstgewißheit der Vernunft, die etwa über die methodisch versuchte Negation eben dieser Gewißheit gesichert werden könnte. Die sittliche Evidenz bildet nicht den apodiktisch unaufheb baren Konstitutionsgrund von Bewußtsein überhaupt (…) Erst wenn sich zeigen ließe, daß eine endliche Vernunft überhaupt ohne die Anerkennung eines unbedingten Sol lens nicht als widerspruchslos vernünftig zu denken ist, wäre jenes ›Faktum‹ als der adäquate Ausgangspunkt einer letzte Fragen thematisierenden Wissenschaft kritisch gesichert« (S. 145). Das bedeutet, daß in den Augen Verweyens das Retorsionsver fahren Verifizierungsinstanz der sittlichen Evidenz sein soll. Doch dieses Verfahren kann immer nur faktische Denknotwendigkeit zutage fördern. In Wirklichkeit muß diese in einer Evidenz verankert werden, die die Wahrheit der Denknotwendigkeit durchschaut. Daß Verweyen dies der sittlichen Evidenz nicht zutraut, liegt daran, daß er sie im Anschluß an Kant nur als ein »Faktum der praktischen Vernunft« ansieht, also das »Ich soll« als einen Begriff interpretiert, nicht als eine Anschauung, in deren Licht ich mit dem sittlichen Wert gleichzeitig die Genesis der Erscheinung seiner Not wendigkeit intelligiere. 10 Proslogion, I, 93. Der Ausdruck ad astruendum bietet Richard Heinzmann Gele genheit, den Beweischarakter des Anselmschen Gedankenganges im Proslogion zu leugnen. Er übersetzt astruere mit stützen und schreibt: »Was dann denkend entfaltet wird, ist strenggenommen kein Gottesbeweis, sondern der Aufweis der inneren Sinn haftigkeit, der Rationalität dieses Glaubensinhaltes. Im Prooemium spricht Anselm
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3. Der Begriff der »Größe« im Proslogion
ethische Dimension beschränkt werden, doch kann er auch umgekehrt niemals unabhängig von ihr konzipiert werden. Dieser Beschreibung des Beweisziels entspricht ein Wechsel vom maius auf das melius, der im dritten Kapitel stattfindet, ohne daß Anselm ihn begründet oder erläutert. Offensichtlich hält Anselm ihn deshalb für so wenig erklärungsbedürftig, weil er von vorneherein das melius im maius mitgedacht hat. Der Wechsel findet an einer Stelle im Proslogion statt, an der der Beweis der Existenz des id quo11 und der Denkunmöglichkeit seiner Nichtexistenz gerade zum Abschluß gekommen ist. Anselm geht zur Anredeform über, um in ihr das id quo mit dem angeredeten Gott zu identifizieren: Et hoc es tu, domine deus noster. Sic ergo vere es, domine deus meus, ut nec cogitari possis non esse. Et merito. Si enim aliqua mens posset cogitare aliquid melius te, ascenderet creatura super creatorem, et iudicaret de creatore; quod valde est absurdum.12
Das enim deutet eine Kausalbeziehung an. Es bezieht sich offen sichtlich auf das merito und verbindet das melius des angeführten ausdrücklich von einem Argument, das allein hinreicht, um zu stützen, daß Gott in Wahrheit existiert. Stützen kann man aber nur etwas, das vorher und auf andere Weise gegeben ist, in unserem Falle eben durch den Glauben. Die ratio beweist dann nicht, sondern sie versucht zu verstehen (intelligere), daß es rational verantwortbar ist, solches zu glauben.« (Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, Stuttgart 1992, 173) Ohne auf diese bei Karl Barth virulente Frage ausführlich eingehen zu können, sei hier nur so viel vermerkt, daß Heinzmann verschweigt, daß im selben Satz (!) des Prooemiums auch von beweisen (probare) die Rede ist. Wie willkürlich das Heraus greifen des astruere ist, zeigt die Übersicht über das Vokabular, die Rolf Schönberger zusammenstellt: »Besonders deutlich wird Anselms rationaler Anspruch durch das verwendete Vokabular: Er spricht von ›argumentatio‹ (II; 132, 10; X: 138, 28–29), »argumentum« (V; 135,24), ›probatio‹ (V; 134, 28), ›probari‹ — in Abwandlungen (V; 135,8.25.22; VI; 136,28), ›monstrare‹ (II; 132, 15; X; 138,28), ›von concludere‹, ›inferri‹, ›astruere‹.« (Schönberger, Responsio Anselmi: Anselms Selbstinterpretation in seiner Replik auf Gaunilo, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 36 (1989), 3–46, hier 42). Schließlich zeigt auch der Gebrauch des astruere an anderer Stelle, wie wenig dieser Ausdruck einen Rückschluß auf ein Gegebensein durch den Glauben erlaubt, vgl. Anselm in De grammatico: »quidquid valet ad astruendam unam partem, destruit alteram, et quidquid unam debilitat, alteram roborat.« (De grammatico, I, 146). Es geht dabei um die Frage, ob grammaticus eine substantia oder eine qualitas sei, eine Frage, von der Anselm an dieser Stelle ausdrücklich bekennt, daß sie von philosophi behandelt werde. 11 Ich erlaube mir, hier und in Zukunft das id quo maius cogitari non potest abkürzend nur mit id quo zu bezeichnen. 12 Proslogion, I,103.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
Grundes mit der Denkunmöglichkeit der Nichtexistenz Gottes, die ein Indikator seiner Größe ist. Das bedeutet mit anderen Worten: Gott muß nicht nur faktisch als existierend gedacht werden, sondern soll es auch, weil sonst etwas Besseres gedacht werden könnte13. Das Größere ist also immer auch das Bessere. Etwas Besseres als Gott zu denken aber bedeutete, über Gott zu Gericht zu sitzen. Daß Anselm dies als absurd bezeichnet, darf als Hinweis darauf gewertet werden, daß Anselm sich hier Gott gleichzeitig als höchsten sittlichen Maßstab denkt. Denn wenn Gott selbst Quelle aller Werthaftigkeit ist, dann kann es keinen weiteren Maßstab geben, anhand dessen das Geschöpf über den Schöpfer urteilen könnte. Gott selbst ist letzter Beurteilungsmaßstab, letzte sittliche Instanz. Dieser Begriff aber entspricht genau der Anselmschen rectitudo. In der weiteren Explikation der Eigenschaften des id quo wird das melius zum Kriterium dessen, was von Gott ausgesagt werden kann: Gott ist all das, von dem es besser ist, daß es sei, als daß es nicht sei: »Tu es itaque iustus, verax, beatus, et quidquid melius est esse quam non esse. Melius namque est esse iustum quam non iustum, beatum quam non beatum.«14 Aus diesem Grund kann Anselm die Formel des
13 Diesen Aspekt hebt Karl Barth hervor, wenn er das id quo vor allem als Verbot interpretiert, etwas Größeres als Gott zu denken (Barth, »Fides quaerens intellec tum.« Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, in: E. Jüngel/J.U. Dalferth (Hgg.), Karl Barth Gesamtausgabe II/13, Zürich, 1981, 84). Der Fehler Barths liegt darin, daß er die Bedeutung des id quo auf dieses Verbot beschränkt: »weil ontischer Gehalt diesem Gottesnamen ja eben abgeht.« »Es handelt sich um einen Begriff streng noetischen Inhalts, den Anselm hier als Gottesbegriff bezeichnet. Er sagt nicht, daß und nicht, was Gott ist, sondern, in Form eines vom Menschen vernommenen Verbotes, wer er ist. Er ist une définition purement conceptuelle (A. Koyré, L'idée de Dieu p. 203). Nichts ist in ihm enthalten an Aussagen über die Existenz und über das Wesen des bezeichneten Gegenstandes. Nichts Derartiges wird also nachträglich analytisch aus ihm zu erheben sein« (ebd. 77, Hervorhebungen im Original). Durch diese Beschränkung raubt Karl Barth dem Verbot seine Intelligibilität. Für Anselm ist es genau umgekehrt: Weil man es dem id quo ansehen kann, daß nichts Größeres und Besseres gedacht werden kann, handelt es sich hier um den einzigen Fall eines Verbotes, das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Denn es handelt sich um jenes Sollen, das als Rechtheit mit seinem materialen Gehalt zusammenfällt und deshalb nicht nur alle davon abgeleitete Werthaftigkeit unter sich läßt (melius), sondern auch jedes denkbare werthafte Sein immer schon in sich enthält (maius). 14 Proslogion, I,104. Siehe auch: »Sic ergo vere et sensibilis, omnipotens, misericors et impassibilis, quemadmodum vivens, sapiens, bonus, beatus, aeternus, et quidquid melius est esse quam non« (ebd. 110).
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3. Der Begriff der »Größe« im Proslogion
id quo auch auf die Eigenschaften Gottes anwenden: Gott ist z.B. so gerecht, daß er nicht gerechter gedacht werden kann: „ Justum quippe est te sic esse iustum, ut iustior nequeas cogitari.«15 Der Begriff des Großen im id quo kann nicht auf das Gute im ethischen Sinn beschränkt werden. Das zeigt die Aufzählung außersittlicher Werte wie Seligkeit, Macht und Ewigkeit. Aber die Gerechtigkeit als der Inbegriff des ethisch Guten macht gewisserma ßen das Rückgrat der Größe aus. Die beatitudo beispielsweise wäre für Anselm kein Moment von Größe, wenn sie nicht die beatitudo dessen wäre, der wegen seiner Gerechtigkeit ihrer würdig wäre. Das Gleiche gilt für die anderen Eigenschaften. Die rectitudo bleibt das entscheidende Moment jeder Größe. Der Gedanke des melius als des Kriteriums dessen, was als größer zu gelten hat, wird auch in der Antwort auf Gaunilo wiederholt, wenn zur Erläuterung des id quo gesagt wird: »Credimus namque de divina substantia, quidquid abso lute cogitari potest melius esse quam non esse.«16 Allerdings zeigen die anschließenden Ausführungen, daß das melius auch außersittliche Güter umfaßt: »Verbi gratia melius est esse aeternum quam non aeternum, bonum quam non bonum, immo bonitatem ipsam quam non ipsam bonitatem.«17 Doch zehrt der Werthaftigkeitscharakter der außersittlichen Güter ganz vom sittlichen Wert. Dieser Zusammenhang zwischen »Größe« und »Gutheit« wird auch bestätigt durch einen Blick auf das Monologion. Dort heißt es bereits im ersten Kapitel lapidar: »Sed quod est summe bonum, est etiam summe magnum.«18 Im kurzen zweiten Kapitel, wo es um den Erweis der Größe Gottes geht, wird der Gedanke wiederholt: »Et quoniam non potest esse summe magnum nisi id quod est summe bonum«19. Größe im räumlichen Sinn schließt Anselm aus: »Dico autem non magnum spatio, ut est corpus aliquod; sed quod quanto maius tanto melius est auf dignius, ut est sapientia.«20 Ebd. 109. Responsio Editoris; Schmitt I,139. 17 Ebd. 18 Monologion, I, 15. 19 Ebd. 20 Ebd. Gillian Evans beschreibt m.E. den Anselmschen Begriff der »Größe« am besten »But the idea of greatness was chosen by Anselm in preference to the idea of goodness — or blessedness or justice or mercy or omnipotence, or any one of dozen other possibilities mentioned by him in the Monologion. It may be that the reason for his choice lies in the particular properties the idea of magnitude possesses 15
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
In Kapitel fünfzehn des Monologion wird das melius als Kriterium dessen eingeführt, was als Eigenschaft von der summa essentia ausge sagt werden kann. Denn alles, von dem es besser ist, daß es sei, als daß es nicht sei, muß von Gott ausgesagt werden, z.B. Leben, Weis heit, Macht, Wahrheit, Gerechtigkeit, Glückseligkeit, Ewigkeit.21 Das Kriterium des melius gilt in diesem Zusammenhang nur zur Entschei dung der Alternative zwischen Existenz oder Nichtexistenz derselben Eigenschaft. Es dient nicht der Hierarchisierung der Eigenschaften untereinander. Diese Frage wird von Anselm nicht thematisiert. Einem Einwand, den er sich selber stellt, können wir aber entnehmen, daß er die Gerechtigkeit der Weisheit gegenüber als höherrangig erachtet: »Quamvis enim iustus non sapiens melior videatur quam non iustus sapiens, non tarnen est melius simpliciter non sapiens quam sapiens.«22 Wenn auch das videatur eine solche Zurückhaltung ausdrückt, daß aus dieser Stelle allein die Meinung Anselms über die Höherrangigkeit des ethischen Wertes gegenüber der Weisheit — die man einen intellektuellen Wert nennen könnte — nicht mit Sicherheit erschlossen werden könnte, so fügt sich dennoch diese Meinung so harmonisch in das Gesamtbild der Anselmschen Lehre ein, daß an eine umgekehrte Hierarchisierung nicht im Ernste gedacht werden kann. Die Stellung der iustitia als entscheidendem Letztwert ergibt sich nicht nur aus dem schon untersuchten zwölften Kapitel von De veritate, sondern wird noch einmal explizit verdeutlicht, wenn Anselm sie in Cur Deus homo mit der einzigen und ganzen Ehre identifiziert, die wir Gott schulden:
in the Categories tradition. Anselm shows that he has the category of quantity in mind in Chapter 2 of the Monologion, where he explains that when he says that God in the summum magnum, the ultimate greatness, he means, not magnitude of bodiliy or spatial dimension, but greatness of another kind. We call God great because he is ›better‹ or ›more worthy‹, rather as we might speak of ›greater wisdom‹; it is an evaluative greatness which is intended here.« (Evans, Anselm and Talking about God, Oxford 1978, 51). Gar nicht nachzuvollziehen ist dagegen die Meinung Heribert Boeders, der die Anselmsche »Größe« mit dem Begriffsumfang identifiziert (Boeder, Topologie der Metaphysik, Freiburg/München 1980, 277). 21 Im selben Kapitel finden wir auch die Kennzeichnung der höchsten Natur als einer solchen, über die hinaus es nichts Besseres gibt: »Illa enim sola est qua penitus nihil est melius et quae melior est omnibus quae non sunt quod ipsa est« (Monologion, I, 29). 22 Monologion, I, 28.
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4. Die Beweiskraft des id quo maius cogitari non potest
Haec est iustitia sive rectitudo voluntatis, quae iustos facit sive rectos corde, id est voluntate. Hic est solus et totus honor, quem debemus deo et a nobis exigit deus.23
Das bedeutet nichts anderes, als daß Anselm überzeugt ist, daß die Gerechtigkeit nicht nur von uns als der letzte gültige Selbstzweck gefunden wird, sondern daß sie dies auch tatsächlich — nämlich in den Augen Gottes — ist. Sie macht deshalb die Mitte jeder Größe aus. Niemals darf deshalb im Verständnis des id quo als des denkbar Größten von dessen ethischem Charakter abgesehen werden.
4. Die Beweiskraft des id quo maius cogitari non potest Die entscheidende Bedingung, um den Anselmschen Gottesbeweis zu verstehen, besteht meines Erachtens in der Erkenntnis, daß nicht der Begriff des id quo qua Begriff der Ausgangspunkt des Beweises ist, sondern der Gehalt dieses Gedankens. Der aber besteht, wie wir aus der Untersuchung des Begriffs der »Größe« gesehen haben, zum entscheidenden Teil im sittlichen Wert, in der Gerechtigkeit. Aus diesem Grund gibt es, wenn der Tor den Ausdruck id quo hört, auch etwas zu verstehen: Sed certe ipse idem insipiens, cum audit hoc ipsum quod dico: aliquid quo maius nihil cogitari potest, intelligit quod audit; et quod intelligit in intellectu eius est, etiam si non intelligit illud esse.24
Das intelligere gebraucht Anselm zur Kennzeichnung jener Einsicht in die Rechtheit, die ein Schauen im starken Sinne ist. Deshalb kann der Gegenstand des intelligere nicht bloß der Begriff sein. Die intelligierte Bedeutung der gehörten Formel id quo kann sich nicht erschöpfen in einem bloß Gedachten, das den Rang eines sogenannten ens rationis hat. Von vorneherein ist ein Gehalt im Spiel, der den Status eines bloß Ausgedachten transzendiert und einem intelligere als geistigem Intuitionsakt zugänglich ist. Der entscheidende Akt ist also nicht das cogitare innerhalb des id quo, sondern das intelligere desselben. Bleibt man beim cogitare stehen, kommt man nicht über einen Begriff hinaus, dessen Bildung sich einem Willkürakt verdankt. Der Gedanke einer »vollkommensten Insel« etwa hat diesen Status. Das intelligere 23 24
Cur deus homo, II, 68. Proslogion, I, 110.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
aber weist auf einen Gehalt hin, der dem Erkennen vorgegeben ist. Der Begriff qua Begriff ist Produkt eines Denkens, niemals ist aber der Gegenstand eines intelligere dessen Produkt. Den Anselmschen Beweis deshalb als einen Schluß zu verstehen von einem Begriff, über dessen Herkunft man zudem noch rätselt, auf die Existenz, bedeutet eine verhängnisvolle Verkennung desselben. Ein weiteres Indiz für diese Interpretation finden wir in dem im Zitat zuletzt auftauchenden intelligit, das nur ein Verstehen im eigentlichen Sinne meinen kann, da es ja auf die Existenz geht, deren Erkenntnis das Beweisbemühen gilt. Da aber das Beweisziel ohne Zweifel ein intelligere im starken Sinne ist, legt sich dieselbe Deutung bezüglich des intelligit quod audit nahe, wenn man nicht annehmen will, daß Anselm, ohne es zu erkennen zu geben, innerhalb desselben Satzes das intelligere einmal in einem schwachen, einmal in einem starken Sinne verwendet. Vielmehr geht es beide Male um ein Verste hen im vollen Sinne eines geistigen Aktes von Erkenntniswert, einmal um die noch ausstehende Einsicht in die Existenz, ein anderes Mal um die Einsicht in die Eigenart der Entität, deren Existenz begriffen werden soll. Eine Bestätigung dieser Interpretation finden wir im vierten Kapitel, wo Anselm sich mit dem Problem auseinandersetzt, wie eine Gottesleugnung angesichts seines Beweises möglich ist. Die Antwort lautet: Aliter enim cogitatur res cum vox eam significans cogitatur, aliter cum id ipsum quod res est intelligitur. Illo itaque modo potest cogitari deus non esse, isto vero minime.25
Hier finden wir wieder die Bezogenheit des intelligere auf die res selber. Das cogitare erlaubt eine zweifache Verwendung: die Verwendung im schwachen Sinn, die sich auf die vox bezieht, und die Verwendung im starken Sinn, die in diesem Falle auf ein intelligere hinausläuft und auf eine res geht, die auf Grund ihrer Vorgegebenheit möglicher Gegenstand eines Intuitionsaktes ist. Wenn nun der Existenzbeweis seinen Ausgang nimmt von einem Intuitionsakt, dann bedeutet das mit anderen Worten, daß die Suche nach dem Beweis der Existenz identisch ist mit der Untersuchung des ontischen Status des Gehaltes, der intelligiert wird. Welchen ontischen Status der Gehalt hat, kann nur der Gehalt selbst beant worten. Anselm kennzeichnet ihn als das, worüber hinaus Größeres 25
Proslogion, I, 103.
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4. Die Beweiskraft des id quo maius cogitari non potest
nicht gedacht werden kann. Wenn Größe wesentlich den sittlichen Wert (mit)aussagt, dann meint das denkbar Größte jenen Wert, der nicht noch einmal an einem höheren Wert gemessen werden kann. Dieser Wert kann unmöglich nur im Verstand sein. Denn er macht es möglich, das, was bloß im Verstand ist, mit dem, was darüber hinaus auch in der Wirklichkeit ist, zu vergleichen. Er stellt sich immer wieder ein, auch wenn er aufgrund eines naturalistischen Fehlschlusses mit etwas identifiziert wird, was nicht er selber ist. Aus diesem Grund kann Anselm im dritten Kapitel des Proslogion aus demselben Gehalt des id quo die Unmöglichkeit des Denkens seiner Nichtexistenz schließen: »Quod utique sic vere est, ut nec cogitari possit non esse.«26 Dies entspricht der schon besprochenen Unvermeidlichkeit des Sollens. Gerade weil es sich um das alles richtende Sollen handelt, um die letzte sittliche Instanz, ist es unmöglich, ihr zu entrinnen und sie in actu exercito nicht zu veranschlagen, auch wenn sie in actu signato geleugnet wird. »Nam potest cogitari esse aliquid, quod non possit cogitari non esse; quod maius est quam quod non esse cogitari potest.«27 Das id quo maius cogitari non potest holt mich immer wieder ein, und zwar als es selbst. Wenn ich es mit irgendetwas anderem unterhalb (eine Wertung!) seiner identifiziere, stellt es sich unweigerlich wieder ein als das, was diese Lokalisierung überhaupt möglich macht. Und es macht sie deshalb möglich, weil es in Wahrheit nicht das ist, womit ich es fälschlicherweise identifiziert habe. Denn es ist gerade das, was jede wertmäßige Lokalisierung umgreift und deshalb auch die Differenzierung zwischen in intellectu und in re und deren Bezug auf einen gemeinsamen Wertungsmaßstab möglich macht. Jedes faktische Sein ist ihm genauso unterworfen wie jeder Gedanke. Wenn es schon nicht mit einem faktischen Sein identifiziert werden darf, dann noch weniger mit einem bloß Gedachten. Es bedeutet deshalb ein radikales Mißverständnis, Anselms Beweis als einen Übergang zu konzipieren von einem zunächst bloß Gedach ten zu einer Existenz, die erst faktisch gedacht wird, aus der dann wiederum in einem nächsten Schritt ihre Notwendigkeit gefolgert wird. Vielmehr ergibt sich das, was in der entfalteten Darstellung des Beweises nacheinander ausgeführt wird, in Wirklichkeit mit einem Schlag aus dem Gehalt des id quo, sobald es intelligiert wird. Deshalb kommt es darauf an, den Gehalt selber tatsächlich zu intelligieren. 26 27
Ebd. 102. Ebd.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
Es ist nicht möglich, von einem formalen Begriff des »Großen« auszugehen, den Beweis logisch zu formalisieren — wie es heute üblich geworden ist — und dann mittels eines logischen Kalküls seine Existenz abzuleiten. Das bleibt ein Glasperlenspiel, wie geschickt und komplex es auch aufgebaut werden mag. Ich muß des Gehaltes des id quo ansichtig werden, und dies ist die Gerechtigkeit als der Inbegriff des höchsten, sich selbst rechtfertigenden Wertes, über den hinaus ich einsichtigerweise nichts Größeres denken kann.28 Es genügt, ihn selbst wahrhaft zu denken, um mit einem Schlag zu erkennen, daß er nicht bloß in meinen Gedanken existieren kann, ja sogar — mit demselben Schlag — seine Notwendigkeit zu erkennen. Solange dies geleugnet wird, ist er selbst noch nicht intelligiert. In der Responsio auf Gaunilo besteht Anselm darauf, daß es auf das Denken des Gehaltes selber ankommt: Tantam enim vim huius prolationis in se continet significatio, ut hoc ipsum, quod dicitur, ex necessitate eo ipso, quod intelligitur vel cogi tatur, et revera probetur existere et id ipsum esse, quidquid de divina substantia oportet credere. Credimus namque de divina substantia, quidquid absolute cogitari potest melius esse quam non esse.29
28 Dieses einsichtigerweise entfällt, sobald ich von der Intuition des Gehaltes des id quo absehe und bei seinem Begriff stehenbleibe. Was dann übrigbleibt, ist ein Denkzwang, eine »verwirrende Notwendigkeit der Vernunft," wie Verweyen den Anselmschen Beweis wertet: »Nein, evident ist lediglich eine verwirrende Notwen digkeit der Vernunft, ein berückendes Paradox. Wo die Vernunft hingreift, begreift sie Wesen, die keinen zweifellos gesicherten Bestand in der Wirklichkeit haben. Wo sie aber über alles hinausgreift, denkt sie ein Wesen, das sie nicht ernsthaft zu konzipieren vermag, ohne es als seiend, und zwar notwendig seiend zu denken. Diesem Zwang kann sie nicht entrinnen. Warum sollte dieser Zwang aber, über die bekannten Absurditäten des Denkens hinaus, nicht vielleicht die äußerste Verrückt heit der Vernunft darstellen? Warum muß der Denknotwendigkeit, jenseits des in sich schlüssigen Zirkels der Vernunft, unbedingt eine Seinswirklichkeit entsprechen? Wer sagt, daß die Denkzwänge der menschlichen Vernunft nicht letztlich, ohne Fundament im wirklichen Sein, in der ihr eigenen Leere belassen sind?« (Verweyen, Gottes letztes Wort, 122). Diesen Fragen sind alle Denknotwendigkeiten ausgesetzt, die nur durch Retorsion gesichert sind. Dem Anselmschen Gottesbeweis kann Verweyen sie nur deshalb entgegensetzen, weil er denselben nicht als einen solchen versteht, der von einer Intuition initiiert und getragen wird. Die Erfahrung sittlicher Evidenz bedeutet den Einbruch eines Lichtes in den Zirkel der Vernunft, dem diese es ansieht, daß es nicht von ihr stammt. 29 Responsio editoris, I, 138.
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4. Die Beweiskraft des id quo maius cogitari non potest
Hier finden wir den beschriebenen Sachverhalt im eo ipso, quod intel ligitur in aller Deutlichkeit ausgedrückt. Es handelt sich nicht um eine logische Schlußfolgerung, auch wenn die Darstellung im Proslogion notgedrungen diesen Anschein erweckt. Der Satz, der die Existenz des id quo ausdrückt, ist nicht ein logisch aus Prämissen abgeleiteter Satz, so daß es genügen würde, sich der logischen Korrektheit zu vergewissern, sobald die Wahrheit der Prämissen feststeht — sei es aus der natürlichen Einsicht, sei es aus dem Glauben. Vielmehr geht es um eine Einsicht in die Eigenart des id quo, in dessen Licht wir, sobald die Einsicht gelingt, gleichzeitig sehen, daß sein ontischer Status ein von jeglicher Einsicht unabhängiger ist. Was Anselm durch die »Schlußfolgerung« aufweist, ist ja nur, daß man zum Gedanken des id quo in Widerspruch gerät, wenn man seine Existenz leugnet — daß man es also noch gar nicht gedacht hat. Mit klassischer Prägnanz drückt er dies an anderer Stelle seiner Antwort aus: »Dum ergo cogitatur quo maius non possit cogitari: si cogitatur quod possit non esse, non cogitatur quo non possit cogitari maius.«30 Es genügt, es zu denken, und zwar als es selbst, d.h. es zu intelligieren31, um es als existierend zu erkennen. Es ist deshalb kein Zufall, daß Anselm ausgerechnet in diesem Zusammenhang, wo er die Notwendigkeit der Realisierung des Gehaltes herausstellt, das melius statt des maius benutzt. Der Sache nach denkt Anselm an jene Wirklichkeit, der er in De veritate den Namen rectitudo gibt. So wie dort die rectitudo unabhängig existiert von der Aussage, so hier das id quo unabhängig vom Denken. So wie dort die rectitudo sich herausstellt als das, was nicht noch einmal in seiner Gesolltheit hinterfragt werden kann, so hier das id quo als das, was nicht noch einmal dadurch beurteilt werden kann, daß es an einem melius gemessen wird. Aus diesem Grund verwendet Anselm das melius auch an der schon erwähnten Stelle Ebd. Deshalb die Parallelisierung intelligitur vel cogitatur. Dies ist kein Widerspruch zur Beobachtung, daß das intelligere ein weitaus stärkerer Ausdruck ist als das cogitare. Wir finden diesen Rangunterschied in der Erkenntnisrelevanz z.B. deutlich in der Responsio editoris: »Falsum est igitur non esse aliquid quo maius cogitari non possit, si vel cogitari potest. Multo itaque magis, si intelligi et in intellectu esse potest.« (I, 131). Die Parallelisierung des intelligere und des cogitare ist allein beim id quo möglich, weil dies der singuläre Fall dessen ist, was nur dann (als es selbst) gedacht wird, wenn es intelligiert wird. Treffend dazu Schönberger: »Gott anders denn wirklich zu denken heißt nicht, ihn anders denken, sondern ein Anderes denken.« (Schönberger, Anmerkung 10, 46). 30 31
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des dritten Kapitels des Proslogion, wo er den Gedanken als absurd zurückweist, über den Schöpfer zu urteilen: »Si enim aliqua mens posset cogitare aliquid melius te, ascenderet creatura super creatorem, et iudicaret de creatore; quod valde est absurdum.«32 Auch hier wird deutlich, daß das von Anselm gemeinte und intelligierte id quo jene sittliche Instanz ist, als welche wir die rectitudo kennengelernt haben.
5. Ein Blick auf die Forschung Zwar hat sich seit Gilson in der Forschung die Ansicht etabliert, daß De veritate eine Schlüsselstellung zum Verständnis des Anselmschen Oeuvres einnimmt, doch habe ich im Laufe meiner Nachforschungen nur drei Autoren entdeckt, die sich dieses Schlüssels zur Deutung des Anselmschen Gottesbeweises zu bedienen versucht haben: Kurt Flasch, Hans-Joachim Werner und Adolf Schurr.33 Schurr interpretiert in seiner ausführlichen Arbeit das id quo im Lichte von De veritate als absolutes debere.34 Merkwürdigerweise läßt er in der Erklärung des Existenzbeweises (im zweiten Kapitel des Proslogion) diesen Ansatz ungenutzt und interpretiert, indem er auf das Monologion zurückgreift (!), das maius esse als jenes Moment, das in einem Grund-Folge-Verhältnis der Grund der Folge voraushat35. Daraus soll sich dann ergeben: »... die geistige Wirklichkeit Gottes ist der Ermöglichungsgrund des Wirklichseins der Gottesvorstellung im Bewusstsein.«36 Doch es erscheint vollkommen unplausibel, warum der Gedanke des id quo allein durch die Wirklichkeit des id quo Proslogion, I, 103. Flasch, Zum Begriff der Wahrheit bei Anselm von Canterbury, in: Philosophisches Jahrbuch, 72 (1965), 322–52). Werner, Anselm von Canterburys Dialog De veritate und das Problem der Begründung praktischer Sätze, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie, 20 (1975), 119–30. Schurr, Die Begründung der Philosophie durch Anselm von Canter bury. Eine Erörterung des ontologischen Gottesbeweises, Stuttgart 1966. 34 Schurr, Begründung, 80. 35 Im Kapitel »Die Explikation des terminus a quo: a) Erster Schritt: Zur Wirklichkeit des Absoluten« heißt es: »Anselm formuliert einen Grundsatz, der eine Lösung andeutet: Quidquid ... per aliud est ... minus est quam id, per quod est .... Stehen zwei Glieder in einem Grund-Folge-Verhältnis, so wird dem einen ein maius esse, dem anderen ein minus esse zugesprochen.« (Begründung, 89; Auslassungen und Hervorhebung im Original) Das Zitat entstammt, wie eine Anmerkung referiert, dem Monologion I,17. 36 Ebd. 90. 32
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5. Ein Blick auf die Forschung
möglich sein soll, wenn nicht gleichzeitig aufgezeigt wird, daß im Unterschied zu allen anderen möglichen Gedanken der Inhalt die ses Gedankens dies erheischt. Erst im nächsten Kapitel,37 das sich mit dem dritten Kapitel des Proslogion, also mit dem Nachweis der Notwendigkeit des id quo beschäftigt, rekurriert Schurr auf den Inhalt des Gedankens und faßt ihn als »unbegrenzte Wertfülle«38. Der »Absolutheitscharakter der Wertevidenz« wird nach Schurr erst verständlich durch die »transzendentale Reduktion« auf den »Ermög lichungsgrund« von Bewußtsein überhaupt. Im Unterschied zu Schurr reißen Flasch und Werner unser Thema in ihren Artikeln nur an. Flasch kommt in seiner Untersuchung des Anselmschen Wahrheitsbegriffes auf das Proslogion zu sprechen, um dieses vom rectitudo-Gedanken her zu interpretieren.39 Dieser Ansatz entspricht der These dieser Arbeit, doch Flasch verankert ihn nicht in der Intuition des sittlichen Wertes, sondern in der Den knotwendigkeit desselben, da er die Denknotwendigkeit für Anselms Wahrheitskriterium hält40. Deshalb kann Flasch den Gedankengang des Proslogion mit dem des Monologion parallelisieren, ohne die Revolution in der grundsätzlichen Erkenntniseinstellung, die bei Anselm zwischen der Abfassung der beiden Werke stattgefunden Kapitel »(b) Zweiter Schritt: Zur Undenkbarkeit des Nichtseins des Absoluten«, Begründung, 93–113. 38 Schurr, Begründung, 98. 39 »Jedenfalls ist Anselms Lehre von der mens als dem Ort der Wahrheit und Notwendigkeit vorausgesetzt in seinem ontologischen Argument. Es beruht zwar auch darauf, daß das esse in intellectu nicht ohne weiteres das esse in re besagt, daß das objektiv Reale ›größer‹, d.h. vollkommener ist als das nur Gedachte. Aber es verbürgt uns Gottes Dasein nicht, weil es einen entsprechenden ›Gegenstand‹ oder eine seiner Wirkungen vorweisen könnte, auch nicht nur, weil die objektiven Fundierungsverhältnisse ein qualitativ Größtes als Voraussetzung fordern, sondern weil das Denken seiner eigenen Gesetzlichkeit nach nicht anders denken kann, als die Existenz dessen, worüber hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann, bejahend zu denken. Der realistische Wahrheitsbegriff muß hier versagen. Denn jedes einzelne Objekt, auf das er als auf die causa der Wahrheit verweist, kann auch als nichtseiend gedacht werden und erweist sich durch diese Wegdenkbarkeit als zufällig, als nichtseiend und nicht wahr im Vergleich zur unbedingten rectitudo.« (Flasch, Zum Begriff, 346). 40 »Wahr ist alles das, was von uns nicht anders gedacht werden kann.... Anselm sieht in der Notwendigkeit das eigentliche Kriterium des Wissens« (Zum Begriff der Wahrheit, 344). Flasch unterstellt Anselm sogar eine »Identifikation von Wahrheit und Notwendigkeit« (ebd.). Zur Kritik sei auf die Bemerkungen zu Verweyen verwie sen. 37
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hat, zu berücksichtigen.41 Da Flasch Anselms Beweis für einen aus »reinem Denken« hält42, kommt er zu so fatalen Aussagen wie: »Die mens humana ist der letzte Maßstab alles unseres Wissens«.43 »Nach Anselm hat das menschliche Denken normative Kraft«.44 Flasch schreibt damit dem Denken jene Stellung zu, die in Wirklichkeit die rectitudo hat. Ganz deutlich wird dies bei der Aussage: »Dann ist es das Privileg Gottes, als einziges Wesen dem Maßstab von Werthaftigkeit zu entsprechen, der unser Geist ist«.45 Unser Geist ist hier also zum Wertmaßstab geworden, und Gott zum Bewerteten und damit zu etwas minder Großem! Beim späteren Flasch ist aus dem id quo als Index dieses hohen Anspruchs des reinen Denkens »Anselms theoretisches Konstrukt« geworden.46 Hans-Joachim Werner stellt in seinem Aufsatz Anselm von Can terburys Dialog De veritate und das Problem der Begründung prakti scher Sätze Anselms De veritate in den Kontext der modernen Diskus sion über die Möglichkeit der Ableitung von Sollens- aus Seinssätzen und stellt Anselms Idee der Rechtheit bzw. des Wahren als einen Lösungsvorschlag vor. In dieser Idee begegne uns ein apriorisches Richtmaß, das allen Seins- und Sollensverhältnissen vorausgehe. In ihr sei »eine Identität von Sein und Sollen gedacht«47. Werner erkennt 41 »Um auf den Zusammenhang von De veritate und Proslogion-Beweis zurückzu kommen: Im Dialog wird die Wahrheit als unbedingt, als eine, als identisch mit der Gutheit dargestellt. Muß nun nicht, wer sie denkt, sie auch als Seiendheit denken, und zwar im prägnanten Sinne des ›muß‹, daß sie nicht anders als seiend gedacht werden kann? Dann ist es denkunmöglich, daß die Wahrheit, d.i. die unbedingte Vollkom menheit nicht sei. Dieser Gedankengang, der sich aus platonischen Prämissen wie von selbst ergibt, findet sich bereits in De veritate I: Schmitt I,176; X; Schmitt I,190), ja bereits im Monologion (XVIII: Schmitt 1,33; cf. als Quelle Augustin, Soliloquia II,ii,2; xiv,28) — und zwar als Beweis für die Ewigkeit der Wahrheit. Das ist der ontologische Beweis in nuce« (Zum Begriff, 348). Übrigens scheint Flasch (wie auch K. Kienzler) De veritate für älter zu halten als das Proslogion, cf. S. 349). In Wirklichkeit macht die spätere Datierung von De veritate und damit der phänomenologischen Herausarbei tung der rectitudo die Tatsache plausibel, daß im Proslogion der Wertgedanke nur sehr unausdrücklich gegenwärtig ist. 42 Flasch, Zum Begriff, 349. 43 Ebd. 344. 44 Ebd. 349. 45 Ebd. 350. 46 So in seiner Einleitung zur zweisprachigen Ausgabe der Kontroverse Anselms mit Gaunilo: B. Mojsisch (Hg.), Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Mainz 1989, 7–48, hier 37. 47 Werner, S. 128.
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5. Ein Blick auf die Forschung
die Bedeutung dieses Gedankens für die Gotteserkenntnis und deutet den Weg an, den eine Interpretation des Proslogion einschlagen müßte48. Er selber führt diesen Gedanken nicht mehr aus: in erster Linie sicherlich, weil es den Rahmen seines Artikels sprengen würde, vielleicht aber auch, weil er, wie er selber bekennt, diese Auswertung des Gedankens für »problematisch« hält. Die drei genannten Autoren bieten eine Ausnahme in der For schungsliteratur. Am meisten ist eine Deutung des Anselmschen Beweises verbreitet, die das Intuitionsmoment übergeht und stattdes sen den Beweis im Sinne einer reinen Begriffsanalyse versteht. In diesem Fall kann er nur interpretiert werden im Sinne eines Schlusses von der Bedeutung eines Ausdrucks auf die Wirklichkeit dessen, was er bedeutet. Das intelligere des Toren, von dem im Beweis die Rede ist, ginge nicht auf eine denkunabhängige res, sondern lediglich auf die Bedeutung der gehörten Worte. Wenn wir Freges Terminologie zugrunde legen, können wir die Frage, die sich hier stellt, auch in der Gestalt formulieren, ob das intelligere sich bloß auf den Sinn oder auch auf eine von Anselm angesetzte Bedeutung der Formel id quo bezieht. Nun zeigt gerade ein Blick in Anselms Werk De grammatico, daß Anselm der Sache nach die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung bekannt war49. In De grammatico unterscheidet Anselm zwischen der significatio und der appellatio eines Wortes. Neuestens hat Wolfgang Röd wieder darauf aufmerksam gemacht. Er stellt 48 »Ein näheres Eingehen auf den im Proslogion entwickelten Gottesbeweis würde nun zeigen, daß damit [sc. mit der ursprünglichen, denknotwendigen Einheit von Sein und Sollen] für Anselm zugleich auch die Notwendigkeit eines Transzendierens der nur idealen Sphäre gegeben ist. Die im Gedanken der höchsten Wahrheit erreichte Einheit von Sein und Sollen ist mehr als nur ideales Regulativ, sie zeigt, wenn man den Gedanken der höchsten Wahrheit als höchsten Gedanken überhaupt interpretiert, vielmehr an, daß diesem Gedanken notwendig reale Existenz entspricht, wobei die Betonung auf ›notwendig‹ liege. Im Proslogion zeigt Anselm, daß das Denken dem jenigen, worüber hinaus nichts Größeres denkbar ist, notwendig das Prädikat der Existenz zuerkennt. Es erkennt, daß es sich in Widersprüche verwickeln würde, wenn es dem, was in diesem Gedanken gedacht wird, die Existenz absprechen würde« (Werner, 128 ff.). 49 Wolfgang Gombocz spricht davon, daß »Anselm die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung nachdrücklich eingeführt und verwendet« habe (Anselm von Canterbury. Ein Forschungsbericht, s. Anm. 1, S. 118). Die Aufmerksamkeit auf De grammatico hat vor allem D.P. Henry gelenkt (The De grammatico of St. Anselm, Notre Dame 1964; St. Anselm's »De grammatico«, Dordrecht 1974), dessen Arbeiten zur Logik Anselms Gombocz für den bedeutendsten Anstoß zur »Wiedergeburt« der Anselm-Forschung hält, Forschungsbericht, 112.
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heraus, daß Anselm sich klar bewußt ist, daß man aus der Analyse des Sinnes eines Ausdrucks nicht auf einen Gegenstandsbezug folgern kann50. Anselms Gottesbeweis im Proslogion interpretiert er als die einzige Ausnahme von dieser Regel51. Nun macht gerade die Entdeckung, daß Anselm sich über das Verhältnis von Intension und Extension eines Begriffs im Klaren war, die Interpretation des Anselmschen Beweises auf der Begriffsebene nur unwahrscheinlicher. Wenn Anselm im Proslogion die schon zitierte Auskunft gibt: Aliter enim cogitatur res cum vox eam significans cogitatur, aliter cum id ipsum quod res est intelligitur. Illo itaque modo potest cogitari deus non esse, isto vero minime52,
dann zeigt dies deutlich, daß es um die mit dem Ausdruck id quo bezeichnete res geht, die intelligiert wird, daß also von Anfang an der Ausdruck id quo eine appellatio besitzt, die so lange jeder logischen Analyse des Anselmschen Beweises verborgen bleibt, wie man sich nicht die Frage stellt, welche Wirklichkeit mit dem Begriff der »Größe« gemeint ist. In De grammatico finden wir eine interessante Unterscheidung zwischen dem intelligere des Gesagten und dem considerare der bezeichneten Wirklichkeit: Unde iam intelligo quid dixeris quia bene intellexi sed non bene consideravi. Bene enim intellexi quid loquendo mihi significares, sed
»Durch Analyse des Inhalts (der Intension bzw. des Sinnes) eines Begriffs läßt sich nichts über dessen Extension ausmachen, wenn außer dem Sinn keine weiteren Faktoren berücksichtigt werden. Anselm hat sich mit diesen Zusammenhängen in der kleinen Schrift De grammatico auseinandergesetzt.... Daraus, daß ein Ausdruck wie ›grammaticus‹ einen Sinn (significatio) hat, kann somit nicht gefolgert werden, daß er einen Gegenstandsbezug (appellatio) hat, d.h. auf Dinge referiert« (Röd, Der Gott der reinen Vernunft, München 1992, 36). 51 »Anselms Theorie von significatio und appellatio schließt den Übergang von der Analyse des Begriffsinhalts zu Behauptungen über den Begriffsumfang aus; wenn Anselm in einem Fall dennoch diesen Übergang vollziehen zu können meinte, dann wird klar, daß er dem Begriff Gottes als des Unüberbietbaren eine Ausnahmestellung zuweisen wollte: er gilt als der einzige Begriff, zu dessen Inhalt die Bestimmung des Seins in der Wirklichkeit gehört, dessen significatio somit die appellatio eines wirklichen Wesens einschließt. Die Frage, ob ›Wirklich-Sein‹ nicht dadurch, daß es in den Inhalt eines Begriff aufgenommen wird, ungeeignet wird, etwas über den Umfang eines Begriffs auszusagen, hat sich Anselm offensichtlich nicht gestellt« (Röd, 37). 52 Proslogion, I, 103. 50
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5. Ein Blick auf die Forschung
idipsum quod significabas non bene consideravi, quia quomodo me deciperet ignoravi.53
De grammatico ist ein Dialog zwischen Magister und Discipulus. Es handelt sich bei der zitierten Passage um einen Redeteil des Schülers, der sich auf die Behauptung des Lehrers bezieht: »Bene intellexisti quid dixi sed forte non bene considerasti quod dixi.«54 Der Gegenstand des Gespräches sind Erwägungen über den Zusam menhang der Bedeutungen von grammaticus und homo. Was der Schüler verstanden hatte, waren zwei Beispielfälle von Syllogismen, was seiner mangelnden Aufmerksamkeit entging, war die Tragweite der verstandenen Syllogismen, indem er unbewußt in dem einen Fall etwas mitdachte (Anselm spricht von subauditio55) was beispielbe dingt nur für den anderen Fall galt. Das intelligere bezieht sich also auf einen logischen Zusammenhang, das considerare über diesen Zusam menhang hinaus auf die Wirklichkeit, anhand derer der logische Zusammenhang beispielhaft demonstriert wurde. Dies zeigt, daß die res, auf die sich das intelligere bezieht, nicht unbedingt die dinghafte Erfahrungswirklichkeit sein muß, sondern auch etwas von der Art sein kann, wie es die logischen Zusammenhänge sind. Aber auch hier wird deutlich, daß diese logischen Zusammenhänge — welchen Seinsmodus sie auch sonst haben mögen — etwas Vorgegebenes und damit etwas der Erkenntnisbemühung Würdiges sind. Wenn Anselm z.B. den Dialog auf die Weise verlaufen läßt, daß der Meister auf das Bekenntnis des Schülers »intelligo quod dicis« mit der Aufforde rung antwortet: »Si ergo bene intelligis quae dixi: dic quomodo tu dissolveres hunc syllogismum«56, dann zeigt dies die Möglichkeit an, durch das intelligere des Gehörten sich von der Abhängigkeit vom Sprechenden so zu emanzipieren, daß der Verstehende eigenständig im Erkenntnisprozeß fortschreiten kann. Das intelligere bleibt also nicht beim Verstehen des Sprechenden und von dessen Aussagein tention stehen, sondern dringt zum Verstehen des Gemeinten als einer vom Sprach- und Erkenntnisvollzug unabhängigen Wirklich keit vor. Anselm gebraucht in diesem Zusammenhang einmal den bezeichnenden Ausdruck »secundum veritatem intelligere von propo
53 54 55 56
De grammatico, I, 151. Ebd. 150. Ebd. 152. Ebd. 150.
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
sitiones«57. Diesen Status der Vorgegebenheit haben die logischen Gesetze mit dem Gedanken des id quo gemeinsam. Weder sind die logischen Zusammenhänge von uns erfunden, noch ist das id quo ein theoretisches Konstrukt oder eine »virtuose Begriffskonstruktion«58, sondern beides sind Entdeckungen. Der Unterschied ist nur der, daß die rectitudo, wenn sie erst einmal entdeckt und intelligiert ist, sich als eine Wirklichkeit offenbart, deren Seinsmodus der der realen Existenz ist. Man kann deshalb Kienzler zustimmen, wenn er über das intel ligere schreibt: Der Bezug auf die res ist für das intelligere Anselms in zweifacher Hinsicht konstitutiv: Zum einen beginnt das intelligere gerade mit einer Erfahrung von außen, d.i. mit einem Vernehmen, auditum vel dictum. Damit ist der Bezug zu Erfahrung überhaupt gewahrt. Andernfalls käme das intelligere auch gar nicht in Gang. Zum anderen schließt das intelligere das Erkennen der res nicht aus, sondern kommt im Erkennen der res gerade zur Vollendung ... und das intelligere vollendet sich im Erkennen der res.59
Der Sonderstatus der rectitudo bringt es mit sich, daß die Leugnung der Existenz den Gedanken des id quo zerstört. Es wird in diesem Falle nicht etwa dasselbe id quo gedacht, nur eben als nichtexistierend, sondern etwas Anderes, nämlich Geringeres. An enim si est vel in solo intellectu, non potest cogitari esse et in re? Aut si potest, nonne qui hoc cogitat, aliquid cogitat maius eo, si est in solo intellectu?60
Das aliquid maius ist, indem es etwas Größeres ist, ein Anderes als ein als nichtexistierend gedachtes (und deshalb nur noch vermeintliches!) Ebd. Einleitung zu B. Mojsisch (Hg.), Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Mainz 1989, 36. 59 Kienzler, Glauben und Denken, 239. Vgl. außerdem P. Michaud-Quantin: »L'intel ligere implique une confrontation, un contact permanent entre l'esprit et la réalité extérieure ... Cogitare, qui s'applique à la pensée pure...« (in: Notes sur le vocabulaire psychologique de Saint Anselme, Spicilegium Beccense I, 25). Michaud-Quantin sieht also im Realitätskontakt den Unterschied des intelligere zum cogitare und wendet diese Erkenntnis auf das unum argumentum an: »L'argument du Proslogion pourrait alors s'exprimer sur le plan psychologique par la formule: il existe un cogitare tel que de soi il constitue un intelligere, c'est-à-dire dont l'object comporte et inclut obligatoirement sa réalité« (ebd.). 60 Responsio editoris, I,132. 57
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5. Ein Blick auf die Forschung
id quo. Selten wird diese Möglichkeit der Deutung des Anselmschen Gedankenganges gesehen und gewürdigt. Zuletzt hat Brian Davies darauf aufmerksam gemacht, wenn er zur Proslogion-Stelle »et certe id quo maius cogitari nequit non potest esse in solo intellectu. Si enim vel in solo intellectu est potest cogitari esse et in re quod maius est«61 schreibt: What does Anselm mean here? The text can be translated in two ways (people rarely seem to see that there are two possibilities here): (1)’And for sure, that than which a greater cannot be conceived cannot exist only in the intellect. For if it is only in the intellect it can be thought to be in reality as well, which is greater.’ (2) ›And for sure that than which a greater cannot be conceived cannot exist only in the intellect. For if it is only in the intellect, what is greater can be thought to be in reality as well.‹62
Die Proslogionstelle habe ich hier so wiedergegeben, wie Davies sie anführt. Sie unterscheidet sich durch ein wichtiges Detail von der Schreibart in den von F.S. Schmitt besorgten Opera omnia: In diesen ist zwischen re und quod ein Komma gesetzt, das in der Wiedergabe von Davies fehlt. Nun hat Schmitt einen Faksimile-Abdruck aus dem Codex Oxoniensis Bodleian, Bodley 271, fol. 30v. in seine Ausgabe eingefügt,63 der unsere Textstelle enthält. In seiner Ratio editionis geht Schmitt ausführlich auf den Codex Bodley 271 ein und stellt ihn als die wichtigste erhaltene Handschrift heraus: Der Text im einzelnen wird gleichfalls von keiner anderen Hs. mehr erreicht, ja darf als fast vollkommen bezeichnet werden, weshalb er bei der Herstellung des Textes meiner Ausgabe der Opera omnia von ausschlaggebender Bedeutung war.64
Der Faksimile-Abdruck läßt nun aber deutlich erkennen, daß zwi schen dem re und dem quod ein Satzzeichen nicht gesetzt ist. Indem Schmitt ein Komma eingefügt hat, lenkte er zwangsläufig die Inter pretationsmöglichkeiten in eine bestimmte Richtung, so daß die Bemerkung Davies, daß nur wenige Anselm-Interpreten die doppelte Proslogion,I, 101. Davies, An Introduction to the Philosophy of Religion, Oxford 1993, 56. 63 Im Proslogion, I zwischen den Seiten 122 und 123. Gombocz hat in seinem For schungsbericht, in dem er auch die Editionsprinzipien Schmitts würdigt (S. 112–115), darauf aufmerksam gemacht (S. 114, Anm. 1). 64 Prolegomena seu Ratio Editionis, Schmitt I, 234*. 61
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Deutungsmöglichkeit unserer Stelle bemerkten, nicht mehr verwun derlich ist. Legt man die zweite Interpretationsmöglichkeit zugrunde, dann ist es nicht mehr notwendig, Existenz als eine Vollkommenheit zu verstehen. Für die Schlüssigkeit des Gedankengangs genügt es, reale Existenz als Bedingung für das Größersein aufzufassen. Wenden wir diese Überlegung auf die rectitudo an, wird sie unmittelbar plausibel: Ein unbedingter Wert, der den Willen dem Anspruch eines katego rischen Imperativs unterwirft, würde, wenn er als ein bloßes ens in solo intellectu entlarvt würde, sofort als ein täuschender Schein zusammenfallen, der überhaupt keine bindende Kraft hätte. Er wäre gerade in seinem Wertcharakter zerstört und hätte sich als etwas Anderes herausgestellt. Der Begriff des Wertes schließt notwendiger weise, wenn er der Evidenz der sittlichen Erfahrung gerecht werden will, einen Existenzmodus seines Gehaltes jenseits bloßen Gedacht seins ein. Erst recht ist durch die zweite Interpretationsart ein angebliches Prinzip Anselms ausgeschlossen, das ganz allgemein die Existenz gleich welcher Entität für größer hält als die Nichtexistenz. Röd z.B. glaubt dieses Prinzip als eine von vier »axiomatischen Voraussetzun gen« Anselms festmachen zu können, und zwar in der Formulierung: »Etwas, das Sein im Intellekt und zugleich in der Wirklichkeit hat, ist ›größer‹ (seinsmächtiger) als etwas mit denselben Eigenschaften, das nur im Intellekt ist.«65 Die Unzulässigkeit der Unterstellung dieses Prinzips wird allein schon durch den Umstand erkennbar, daß Anselm ein Kriterium einführt, um zu entscheiden, wann das Größersein die Existenz involviert und wann nicht (siehe oben). Dies setzt voraus, daß die Existenz von sich aus, unabhängig von dem, was existiert, gerade nicht eine Steigerung der Größe mit sich bringt. Röd dagegen faßt »größer« von vorneherein im Sinne von »seinsmächtiger« auf66. Ist dies einmal getan, dann bildet es freilich keine Schwierigkeit mehr, dem Anselmschen Gottesbeweis nachzu weisen, daß er lediglich eine analytische Wahrheit zutage fördert: So wie ›Mensch‹ als ›vernünftiges Lebewesen‹ definiert und daher der Satz ›Menschen sind Lebewesen‹ analytisch wahr ist, so enthält ›unüberbietbar‹ die Bestimmung ›in Wirklichkeit seiend‹, so daß 65 66
W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft, 33. Ebd. 32.
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5. Ein Blick auf die Forschung
sich der Satz, das Unüberbietbare habe ein Sein in der Wirklichkeit, ebenfalls als analytisch wahr erweist.67
Tatsächlich wird diese Kritik unvermeidlich, wenn der Zusammen hang zwischen den Begriffen des maius und des esse in re ein bloß von uns durch Begriffsbildung gestifteter ist. Nur eine Interpretation, die diesen Zusammenhang als einen durch eine Intuition entdeckten und im Charakter des intelligierten Gehaltes selber gründenden aner kennt, kann den Gottesbeweis Anselms vor dieser Kritik bewahren. Kann deshalb die Kritik als dem Selbstverständnis Anselms nicht ent sprechend aufgewiesen werden, hätten wir ein weiteres Indiz für diese Interpretation, die die These dieses Artikels ausmacht. Dieser Aufweis aber ist möglich. Denn wenn der Nerv des Anselmschen Beweises auf eine analytische Wahrheit hinausläuft, dann ist nicht einzuse hen, warum allein beim id quo ein Existenzbeweis aus dem Begriff möglich ist. Der Gedanke des id quo würde seine von Anselm so sehr hervorgehobene Singularität verlieren68. Denn per definitionem Ebd. 37. Dieselbe Kritik hat neuerdings auch K. Jacobi vorgebracht, der Shaffer zitiert: »Ich zitiere die besonders klare Fassung, die Jerome Shaffer dem Gegenargu ment gegeben hat: ›Gleich was sein Gehalt sein mag, dieser Begriff von Gott ist immer noch schlicht ein Begriff. Was gezeigt werden muß und was durch bloße Analyse des Begriffs nicht gezeigt werden kann, ist, daß wirklich etwas existiert, was auf diesen Begriff antwortet. Selbst wenn wir hier den Begriff eines notwendigerweise existieren den Gegenstands haben, bleibt doch die weitere Frage, ob irgendein Existierendes den begrifflichen Spezifikationen entspricht.« Weiter schreibt Schaffer: »Wenn jemand den Satz ›Gott existiert‹ auf tautologische Weise gebraucht, dann teilt er uns nur mit, daß Existent-sein ein logisches Erfordernis von Gott-Sein ist. Wenn andererseits jemand auf nicht-tautologische Weise behauptet ›Gott existiert,' dann behauptet er, daß der Terminus ›Gott‹ eine Extension hat, daß er auf ein Existierendes Anwendung findet.... Daß das Argument auf den ersten Blick so plausibel erscheint, liege daran, daß hier ein Satz intensional gebraucht wird, dessen typischer Gebrauch extensional ist.« (Jacobi, Begründen in der Theologie. In: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), 225–44, hier 244. Jacobi zitiert bzw. übersetzt aus: J. Shaffer, Existence, Predication, and the Ontological Argument, Mind 71, 283 (1962), 307–25. 68 Z.B. Responsio editoris, I,133. Vgl. dazu sehr gut Schönberger: »Die Singularität des Gedankens, die das Gebet gleichsam atmosphärisch werden läßt, ist in der Responsio Gegenstand vielfältiger und nachdrücklicher Betonung. Gerade an der Art, wie Anselm das Inselbeispiel von sich weist, zeigt, daß keine inhaltsinvariante Argumentationsstruktur bloß auf einen Sonderfall angewendet werden sollte. Die Stellung des Gedankens als eines vollständig uniken setzt umgekehrt voraus, daß nicht ein allgemeiner Realismus nun auch hier seine Geltung hat, sondern es sich einzig im Denken von Gott so verhält, daß seinen Sinn zu erschließen heißt, ihm eine Bedeutung zu geben. Alle Universalisierung mithin, ob kritisch oder apologetisch gemeint, geht an dem vorbei, was Anselm sagen will.« (Schönberger, Anmerkung 10, 39). 67
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Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo
können beliebig viele Begriffe gebildet werden, die die Bestimmung »in Wirklichkeit seiend« in sich enthalten. Allein schon der Begriff eines »notwendigen Wesens« enthält diese Bestimmung, aber auch Mackies »Marsbewohner«69 und Gaunilos »vollkommenste Insel.« Umgekehrt zwingt aber das Ernstnehmen der von Anselm so beteuerten Singularität des id quo zur Identifizierung desselben mit der Gerechtigkeit. Denn eine reale Unterscheidung beider würde dem id quo in der Gerechtigkeit eine Konkurrenzinstanz bescheren, die es der Ehre der Singularität berauben würde: sowohl in Hinsicht der Erkenntnisordnung wie der Axiologie. Denn weder wäre weiterhin das id quo das unum argumentum, da es neben seinem Licht noch das der Gerechtigkeit gäbe, das in De veritate so hell leuchtet, daß es mit Gott identifiziert werden kann, noch wäre einzusehen, wie es das denkbar Größte sollte sein können, wenn der Selbstzweckcharakter der Rechtheit ihm die Ehre streitig macht, als letztes Motiv sittlichen Handelns anerkannt werden zu dürfen. An beidem festzuhalten, am Selbstzweckcharakter der Rechtheit von De veritate und am denkbar Größten des Proslogion, ist nur möglich, wenn die Rechtheit das denkbar Größte ist. Wir dürfen deshalb die Entdeckung des unum argumentum mit der sittlichen Evidenz der Gerechtigkeit und der Intuition ihrer Tragweite identifizieren. Diese Intuition strukturiert das ganze Denken Anselms bis in die Gotteserkenntnis hinein. Solange diese ethische Struktur seines Denkens nicht mit Entschie denheit ins Auge gefaßt und kontinuierlich in der Deutung seines Werkes berücksichtigt wird, kann ein gelungener Nachvollzug seiner Einsichten nicht erhofft werden.
»Wir kennen z.B. schon den Begriff `Marsbewohner', definiert als ›ein intelligentes Wesen, das vom Planeten Mars stammt.‹ Dennoch bezweifeln wir aus guten Gründen die Existenz solcher Wesen. Um solche Zweifel auszuräumen, wollen wir den Begriff ›Remarsbewohner‹ (als Kurzformel für ›realer Marsbewohner‹) so definieren, daß er die Existenz als Teil seiner Bedeutung einschließt und der andere Teil das meint, was wir bereits unter `Marsbewohner' verstehen. In diesem Fall wäre der Satz ›Der Mars bewohner existiert nicht‹ in sich widersprüchlich, wir müssen ihn also verwerfen und dem Satz zustimmen ›Der Marsbewohner existiert‹ und daher folgern, daß es wenig stens ein intelligentes Wesen gibt, das vom Mars stammt.« John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus: Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1985, 70 f.). 69
156 https://doi.org/10.5771/9783495995129 .
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Zwischen Widerstandshort und Vorurteil. Gedanken zur Rehabilitierung mora lischer Intuition: W. Buchmüller/H. B. Gerl-Falkovitz/G. Trausmuth (Hgg.), Ambo 2021. Lite ratur und Glaube. Zur Wiederbegegnung von Kultur und Christentum. Jahrbuch der Hochschule Heiligenkreuz 2021. 6. Jahrgang, Heiligenkreuz 2021. Ringen um das Menschenbild. Ist der Konstruktivismus eine Alternative zum Naturalismus? Die Neue Ordnung 2/2022 Zwischen Evolutionskritik und Atheismus. Ein Blick auf die Philosophie Thomas Nagels: AEMAET, Band 3, 2014. Eine englische Übersetzung ist erschienen in: Communio. International Catholic Review, Volume 44.1, Spring 2017. Ist der Materialismus ein Idealismus? Reflexionen über den Nagelschen Perspek tivendualismus: AEMAET, Band 9, 2020. Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft. Ein instruktiver Blick auf die Philosophie von Jürgen Habermas: Theologie und Philosophie 93 (2018). Joseph Ratzingers Gotteshypothese: R. Voderholzer/Ch. Schaller/F. X. Heibl (Hgg.), Mitteilungen Institut Papst Benedikt XVI., Bd. 13 / 2020. Glaube und Vernunft. Warum mit dem Glauben auch die Vernunft gerettet wird. Reinhard Dörner (Hg.), »… allzeit bereit gegen jeden, der Rechenschaft fordert über eure Hoffnung« (1 Petr 3,15), Berichtband der Osterakademie 2018 Keve laer, Books on Demand GmbH. Erkennen oder Lieben? Was vollendet den Menschen? Originalbeitrag. Das id quo maius cogitari non potest als rectitudo: Anselms Gottesbeweis im Lichte von De veritate: F. Van Fleteren/J. C. Schnaubelt (Hgg.), Twenty-Five Years (1969–1994) of Anselm Studies, Volume III of Anselm Studies, Lewiston, NY 1996. Es handelt sich um die komprimierte Kurzfassung des Buches E. Recktenwald, Die ethische Struktur des Denkens von Anselm von Canterbury, Heidel berg 1998.
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