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German Pages 190 [194] Year 2003
Kant-Forschungen 21
KANT-FORSCHUNGEN Begründet von Reinhard Brandt und Werner Stark Band 21
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Jakub Sirovátka
Das Sollen und das Böse in der Philosophie Immanuel Kants Zum Zusammenhang zwischen kategorischem Imperativ und dem Hang zum Bösen
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Die Freiheit des Willens und die Faktizität des Sollens als Bedingungen der Rede vom Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1 Freiheitsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1.1 Freiheit als Grundbedingung der Urteilsfähigkeit / Vernunft als iudex-Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.1.2 Freiheit als Grundbedingung der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Transzendentale Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Praktische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Freiheit als Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Exkurs: Freiheit und Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.2 Die Unbedingtheit des Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.2.1 Die Faktizität des unbedingt geltenden Moralgesetzes. . . . . . . . 42 1.2.2 Kant und Levinas: moralisches Bewusstsein aus moralischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.2.3 Autonomie des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.2.4 Kant und Rousseau: das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.2.5 Die moralische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1.2.6 Der kategorische Imperativ und die Goldene Regel . . . . . . . . . . 66 2. Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Das Gute und das Böse als Objekte des Willens . . . . . . . . . . 69 b) Glückseligkeit und Sittlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.1 Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.1.1 Die Anlagen zum Guten – der gute Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.1.2 Der Begriff des höchsten Guts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.2
Das »radikal« Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.2.1 Der Hang zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.2.2 Die Natürlichkeit des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.2.3 Das Böse als Verkehrung der Maximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6 Inhalt6
2.2.4 2.2.5 2.2.6
Das Problem der egoistischen Selbstliebe. . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kant und Ricœur: die empirische Verankerung des Hangs zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Die Fehlbarkeit als Einbruchstelle des Bösen . . . . . . . . . . . . 113 b) Der unfreie Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Die Überwindung des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
3. Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen . . . . 131 3.1 Exemplarische Interpretationen der ›Fallgeschichte‹. . . . . . . . . . . . . . 131 a) Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.2 Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.3 Moral und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.4 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Religion des guten Lebenswandels – moralische Vernunftreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Religion der Gunstbewerbung – Kultreligion des Afterdienstes 163 c) Die christliche Religion als Inbegriff einer Vernunftreligion 165 d) Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit . . . . . . . . . . . 168 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Vorwort Die vorliegende Untersuchung stellt eine geringfügig umgearbeitete Habilitationsschrift im Fach ›Philosophie‹ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt dar. Jedes Denken, zumal das philosophische, lebt vom persönlichen Dialog und vom wissenschaftlichen Gedankenaustausch. Für Unterstützung, Anregungen und Hilfe während des Schreibens möchte ich mich sehr herzlich bei Professor Norbert Fischer bedanken, dessen Assistent ich lange Jahre am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie an der KU Eichstätt-Ingolstadt sein durfte. Zugleich gebührt ihm Dank für die Tätigkeit in der Funktion des Vorsitzenden des Fachmentorats. Allen anderen Mitgliedern des Fachmentorats sei für das Erstellen der Gutachten ebenfalls herzlich gedankt: Prof. em. Dr. Reto Luzius Fetz (Lehrstuhl für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt), Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt) und dem Vorsitzenden der Kant-Gesellschaft Prof. Dr. Bernd Dörflinger (Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Trier). Das Buch wird mit einer großzügigen Unterstützung durch die Südböhmische Universität in Budweis (Jihočeská univerzita v Českých Budějovicích) gedruckt. Dem Rektorat und der Theologischen Fakultät sei hiermit herzlich gedankt. Das Buch sei meiner Frau und meinen Kindern gewidmet. Prag/Budweis
Jakub Sirovátka
Einleitung Der Mensch strebt von Natur aus nach einem Leben in Glück, Sorglosigkeit, Ruhe und Freude. Das Leben scheint in der Weise beschaffen zu sein, dass »jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen« nach einem »Gut« strebt.1 In seinem vielfältigen Streben nach diesem Gut sucht der Mensch offenbar letztlich ein höchstes Glück, die Glückseligkeit (εὐδαιμονία) als das letzte Ziel aller Lebensbezüge.2 Das Glück stellt sich jedoch oft nicht ein: Das Leben wird durch Krankheit, Unfälle, Missgeschicke, Missstände durchkreuzt und der Tod macht dem Menschen den letzten Strich durch die Lebensrechnung. So ist das menschliche Leben durch Sinnwidriges gekennzeichnet. Diese negative Charakterisierung des Lebens, die sich jedoch immer schon auf ein ihr zugrundeliegendes positives Gegenbild bezieht, lässt die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz entstehen. Wenn uns etwas zustößt, das unserer Lebensplanung und unserer Vorstellung vom zufriedenen Leben zuwiderläuft, werden wir aus der gewohnten Bahn geworfen. Wenn wir in unserem Leben, im Leben uns nahestehenden Personen Übles erfahren oder uns Böses angetan wird, fangen wir an, nach dem »Warum?« zu fragen. Wir wollen wissen, woher es kommt, dass uns unsere Existenz entgleiten kann, wir sind manchmal ratlos und wütend zugleich angesichts der Katastrophen in der Welt. Und das Wissen um die eigene Sterblichkeit verbessert die Lage um kein Jota. Schon Augustinus fragt im Angesicht solcher Erfahrungen, ob er das gegenwärtige Leben für ein »sterbliches Leben« vita mortalis oder einen »lebendigen Tod« mors vitalis halten soll.3 Das Lebenswidrige bleibt für uns ein schmerzvoller, ständig bleibender Stachel in unserem Fleisch und in unserem Denken. Das Böse stellt für den Menschen ein Problem dar und zwar in doppelter Hinsicht: praktisch für sein Handeln und theoretisch für sein Denken. Auch wenn das Böse sich in der Tat als »Drama der Freiheit« bezeichnen lässt – »Es ist der Preis der Freiheit.«4 Dennoch hat Susan Neiman völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Böse für den Menschen ein umfassendes Phänomen darstellt, das nicht nur die ethische Reflexion angeht. Neiman schreibt: »Das Problem des Bösen läßt sich sowohl theologisch als auch säkular formulieren, doch im Grunde geht es darum, die Welt als ganze zu verstehen. Daher gehört es weder zur Ethik noch zur Metaphy1 Vgl. den ersten Satz der Nikomachischen Ethik von Aristoteles (EN 1094a 1 f.): »Πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα μέθοδος, ὁμοίως δὲ πραξίς τε καὶ προαίρεσις, ἀγαθοῦ τινὸς ἐφίεσθαι«. 2 Vgl. EN 1095a 18. 3 Vgl. conf. 1,7. 4 R. Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, 13.
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sik, es bildet vielmehr das Band zwischen den beiden.«5 Auch wenn Kant die Frage nach dem Bösen streng unter dem Gesichtspunkt der Ethik stellt und behandelt, beinhalten seine Untersuchungen explizite und implizite religionsphilosophische Motive. Und ebenfalls stellt die Religion, worin die Moral nach Kant gipfelt und zu ihr unausweichlich hinführt, einen Rahmen her, der die Ethik sprengt. Leibniz hat bekannterweise zwischen malum physicum, malum metaphysicum und malum morale unterschieden. Das »mal métaphysique« besteht in der Unvollkommenheit, in der kontingenten Verfassung des Endlichen. Unter dem »mal physique« sind Krankheiten, Schmerz oder Leiden gemeint. Und das »mal moral« besteht im moralisch Bösen, in der Sünde.6 Die deutsche Sprache befindet sich im Unterschied zu anderen Sprachen in der glücklichen Lage zwischen Malum als einem Übel und Malum als einem Bösen zu unterscheiden. Das Übel entspricht dem durch die Verfassung unserer Natur und der Natur der Welt bedingten Lebenswidrigen; Krankheiten, Naturkatastrophen, Seuchen und ähnliches sind darunter zu verstehen. Das Böse entspringt dagegen dem menschlichen freien Willen, ist also als moralisch zu qualifizieren. An diese terminologische Unterscheidung wird sich die folgende Untersuchung halten. Wo vom Bösen die Rede sein wird, ist ausschließlich das moralisch Böse gemeint, das nach Kant »den faulen Fleck« der menschlichen Gattung ausmacht.7 Wer davon spricht, dass der Mensch moralisch Böses tun kann, setzt implizit die Freiheit des Willens voraus. Oder besser umgekehrt: wer die Freiheit des Menschen betont und verteidigt, muss vom Guten aber auch vom Bösen reden. Immanuel Kant ist einer der Philosophen, der das Denken der Freiheit konsequent bis zum Ende durchführt. Mit seiner These vom »radical Bösen in der menschlichen Natur«, vom menschlichen »Hang zum Bösen« hat er seinen »philosophischen Mantel« nicht »beschlabbert«8, sondern ihn gerade durch seine These tadellos unbefleckt gehalten. Die These vom »radical Bösen in der menschlichen Natur« in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gehört, wie noch zu zeigen sein wird, in den systematischen Zusammenhang der Kantischen praktischen Philosophie und entspricht – so die These dieser Arbeit – der phänomenalen
5 S.
Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, 32. G. W. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 1, 1.Teil § 21, 240/241 oder Bd. 2, 3. Teil, § 241, 2/3. 7 Vgl. RGV B 38. 8 Vgl. den berühmten Brief Goethes an das Ehepaar Herder vom 7. Juni 1793: »Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« Vgl. J. W. Goethe: Italien – Im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 676. Herder sprach über »philosophische Satansdogmatik« und über »philosophische Diaboliade«. Vgl. dazu A. Ridder: Die Freiheit und das radikal Böse als intelligibles moralisches Verhältnis, 20 oder Ch. Rößner: Der gute Wille und das böse Herz, 73 f. 6 Vgl.
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Selbst- und Fremdbeobachtung.9 Das Böse wird zu einer anthropologischen Konstante erhoben. Unter dem Blickwindel der inhaltlichen Kontinuität mit dem Projekt der kritischen Philosophie wird die Religionsschrift in einem eingeschränkten Sinne sogar als eine »vierte Kritik« bezeichnet.10 Die Religionsschrift (A 1793, B 1794)11 ist die erste große Schrift, die nach der Vollendung des »kritischen Geschäfts«, also nach dem Erscheinen der drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft A 1781, B 1787; Kritik der praktischen Vernunft 1788; Kritik der Urteilskraft 1790) erschienen ist. Sie ist also keineswegs ein fremdartiges Dogmatik-Stück, in dem Kant »die kritische Überprüfung einer positiven, historischen Religion: des Christentums« betreibt.12 Die Religionsschrift setzt das Durchdenken des Moralischen fort, indem sie an »das kritische Geschäft« nahtlos anknüpft und es zugleich erweitert. Diese Erweiterung verdankt sich dem Ernstnehmen des Phänomens der Religion, das Kant als eine Quelle des philosophischen Nachdenkens in Anspruch nimmt.13 Vor allem die The 9 Wenn Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift behauptet (RGV B XXV), »es bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu verstehen, nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der p. Vernunft, noch weniger aber der theoretischen enzulassen«, dann ist diese Bemerkung nicht in dem Sinne zu verstehen, als ob sich die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft indifferent zum kritischen Werk verhält. Kant weist lediglich darauf hin, und dieses Motiv finden wir in seinen kritischen praktischen Schriften an vielen Stellen, dass die Moralität keine Angelegenheit von Gelehrten ist oder sein kann, sondern alle Menschen angeht. Jeder – auch der einfachste – Mensch hat einen unmittelbaren ethischen Sinn und kann sich moralisch verhalten, ohne das Vermögen besitzen zu müssen, über die Gründe seines Verhaltens eine genaue theoretische Auskunft geben zu können. 10 Zur Diskussion über eine »vierte Kritik« im Kantischen Werk vgl. R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, 497–531 und O. Höffe: Einführung in Kants Religionsschrift, 1 f. Aufgrund der Fülle der verschiedenen Themen lässt sich die Religionsschrift in unterschiedlichster Hinsicht lesen und interpretieren. Zu den verschiedenen Lesarten vgl. z. B. O. Höffe: Einführung in Kants Religionsschrift, 17–24. 11 Eine informative, vor allem auf die geschichtlichen Zusammenhänge fokussierte Einleitung bietet Bettina Stangneth in der Einleitung zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003, IX–LXXV. Eine misslungene Problemstellung präsentiert Gerd Irrlitz in seinem Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, 381–404, die dem Zeitalter des Konfessionskampfes verhaftet zu sein scheint. Zu einer perspektivenreichen Einführung in das gesamte Werk der Religionsschrift vgl. u. a. zwei anregende Sammelbände: Ch. L. Firestone/N. Jacobs: In defense of Kant’s ›Religion‹, Bloomington 2008 und O. Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 2011. 12 Vgl. G. Sala: Das Reich Gottes auf Erden, 226 f. 13 So hebt u. a. Otfried Höffe hervor, dass alle drei Kritiken in einer philosophischen (natürlichen) Religion gipfeln. Die Religionsschrift »schließt sich also an die Moraltheologie der drei Kritiken nahtlos an und nimmt zugleich eine erhebliche Erweiterung vor«: »Die natürliche Theologie wirft einen Blick über ihre Grenzen und läßt sich vom Jenseits der natürlichen Vernunft, der übernatürlichen Offenbarung, über die Fragen belehren, mit welchen Themen,
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matik des Bösen stellt eine konsequente Fortführung des denkerischen Bemühens um das Problem der Freiheit dar. In der Kritik der praktischen Vernunft wurden das Gute und das Böse als »die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft« bestimmt (KpV A 101). Behandelt wurde jedoch nur der Begriff des Guten unter dem Stichwort des höchsten Guts. Das Problem des Bösen samt einer autonomen Freiheit »für« das Böse konnte Kant offenbar noch nicht befriedigend fassen. Erst mit der Bestimmung des »radikal Bösen in der menschlichen Natur« in der Religionsschrift wird die Lücke geschlossen, die die Kritik der praktischen Vernunft hinterlassen hat. Die Religionsschrift ist also in dieser Hinsicht als »Kants letzter Schritt im Denken der Freiheit« anzusehen.14 Kant selbst hat die Religionsschrift in den Gesamtentwurf seiner Philosophie eingegliedert. In einem Brief vom 4. Mai 1793 schreibt er an Carl Friedrich Stäudlin: »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe). – Mit beikommender Schrift: Religion innerhalb den Grenzen etc. habe die dritte Abtheilung meines Plans zu vollführen gesucht, in welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christliche Religion, dabei aber auch der Grundsatz einer geziemenden Freimüthigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie ich die mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten praktischen Vernunft einzusehen glaube, offen darzulegen.« So hat meiner Meinung nach Bettina Stangneth Unrecht, wenn sie schreibt: »Das Böse ist nur, weil es allgemein gedacht werden muß, im Menschsein als ›gleichsam gewurzelt‹ […] zu denken. Das Böse bezieht sich folglich allein auf die anthropologische Charakteristik und ist damit keine Ergänzung zur Kritik der praktischen Vernunft, sondern eine Untersuchung des Ausgangspunktes einer möglichen Kultur der Disziplin auf der Grundlage des gesamten Kritischen Geschäfts und somit auch der Ethik. Die Bestimmung des moralischen Charakters, unabhängig davon, ob als gut oder böse, hat keine Bedeutung für die Grundlegung ethischer Begriffe oder eine darauf gründende Pflichtenlehre.«15 In der Tat spielt in der Religionsschrift die empirisch-anthropologische Charakteristik eine nicht unwesentliche Rolle. Kant verbindet jedoch diese phänomenologische Methode mit der transzendentalen. Die Bestimmung des radikal Bösen lässt sich als ein Versuch deuten, die Bedingungen des Bösen in ihrer Totalität zu fassen, so wie das Gute im Begriff des höchsten Guts und zwar menschlichen Grundthemen, mit welchen anthropologischen Elementen, vielleicht sogar anthropologischen Konstanten, eine rundum sachgerechte, also eine nicht nur der Sache der philosophischen, sondern auch der Sache der Religion gerechte Religionsphilosophie sich sinnvollerweise befaßt.« Vgl. ebd., 7 f. 14 Vgl. N. Fischer: Das ›radicale Böse‹ in der menschlichen Natur. Kants letzter Schritt im Denken der Freiheit, 67–86. 15 B. Stangneth: Die Kultur der Aufrichtigkeit, 78.
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in der zweiten Kritik. Nebenbei wird dadurch das Vermögen der Freiheit in ihrer Totalität gedacht und zwar als eine Freiheit, die in ihrer Autonomie auch des Bösen fähig ist. Eine solche Bestimmung der Freiheit fehlt in den praktischen Werken vor dem Erscheinen der Religionsschrift. Es ist somit eher Allen Wood zuzustimmen, der in der Religionsschrift eine Neu- und Wiederaufnahme der Frage der Moralität sieht: »In the Religion, Kant reopens the whole question of man’s moral perfectability, and attemps to give a more complete answer to this question than did in any of his earlier works.«16 Die Religionsschrift kann als Versuch einer umfassenderen Antwort aus dem Grunde aufgefasst werden, weil sie das Phänomen des Bösen in die Überlegungen einbezieht, das ja in allen vorherigen Werken weitgehend unberücksichtigt bleibt und dennoch zu einer Reflexion auf Freiheit und Ethik wesentlich gehört. Unter Heranziehung der Nachschriften von Ethik-Vorlesungen, 17 die Kant wahrscheinlich um die Mitte der 1770er Jahre (d. h. noch vor der Veröffentlichung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) gehalten hat,18 lässt sich jedoch zeigen, dass sich Kant mit der Problematik des Bösen früher auseinandergesetzt hat als die veröffentlichten Schriften vermuten lassen. Auch wenn die Schriften Kants zur praktischen Philosophie das Phänomen des Bösen entweder gar nicht oder nur marginal behandeln, stellt sich die These vom radikal Bösen in der menschlichen Natur in der Religionsschrift doch nicht als ein so großer »Paukenschlag« heraus,19 sondern steht eindeutig in einer inhaltlichen Kontinuität seines Werks. Die vorliegende Untersuchung hat drei Teile. Die Rede vom moralisch Bösen setzt im Denken Kants ein Doppeltes voraus: die Freiheit des Willens und die Faktizität des unbedingt geltenden Moralgesetzes. So kommen im ersten Teil die unterschiedlichen Bestimmungen der Freiheit des menschlichen Willens zur Sprache, wie sie Kant in den kritischen Werken ausgearbeitet hat. Als eine zweite bleibende Bedingung der Rede vom Bösen wird der archimedische Punkt der Kantischen praktischen Philosophie dargestellt: das unbedingte Sollen des Sittengesetzes. Unter Zuhilfenahme des Denkens von Emmanuel Levinas wird gezeigt, dass das faktisch auftretende Sittengesetz, das sich im moralischen Bewusstsein kundtut, wiederum die faktische Existenz eines anderen Menschen als eines »Zwecks an sich selbst« voraussetzt. Der zweite Teil, der den eigentlichen Kern der Arbeit bildet, setzt sich mit dem Phänomen des Bösen in der menschlichen Natur auseinander. Zuerst wird
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W. Wood: Kant’s Moral Religion, 209. beziehe mich auf die Schrift: Eine Vorlesung Kants über Ethik. Im Auftrage der Kantgesellschaft hrsg. von Paul Menzer, Berlin 1924. Vgl. ebenso die Nachschrift MoralKaehler (I. Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von W. Stark, Berlin/New York 2004), die etliche wörtliche Übereinstimmungen mit der Nachschrift Menzer beinhaltet. 18 Die Debatte über die komplizierte Problematik der Datierung der einzelnen Nachschriften und über die zeitliche Zuordnung von bestimmten Passagen kann hier nicht verfolgt werden. Vgl. dazu C. Schwaiger: Die Vorlesungsnachschriften zu Kants praktischer Philosophie in der Akademie-Ausgabe, 178–188. 19 Vgl. M. Fleischer: Mensch und Unbedingtes im Denken Kants, 278. 17 Ich
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der Rahmen vorgestellt, innerhalb dessen sich die Thesen Kants zum moralisch Bösen bewegen: die gegenseitige Zuordnung von Prinzipien der Glückseligkeit und der Sittlichkeit und die Einführung der Begriffe des Guten und des Bösen. Vorgestellt werden die verschiedenen Aspekte der Kantischen Theorie: der »Hang zum Bösen« oder »Radikalität« und »Natürlichkeit« des Bösen. Der letzte Grund des Bösen wird von Kant in der bewussten und willentlichen Umkehrung der Grundmaximen der Sittlichkeit und der Selbstliebe verortet. Die Untersuchung hält die These vom radikal Bösen trotz aller interpretatorischen Schwierigkeiten für plausibel. Sie wird der konkreten menschlichen Wirklichkeit im Hinblick auf sein Handeln gerecht und stimmt mit der phänomenalen Selbst- und Fremdbeobachtung überein. Der Akzent der Arbeit liegt also nicht so sehr in der Hervorhebung der Schwierigkeiten der Kantischen Thesen. Sie sucht vielmehr dem Text einen plausiblen Sinn abzugewinnen, der zum Verständnis der menschlichen Natur samt der höchsten Bestimmung des Menschen – der moralischen – beiträgt. Der Kantischen Theorie des radikal Bösen wird in einem größeren Kapitel das Konzept der Fehlbarkeit von Paul Ricœur zur Seite gestellt. Ricœurs Behandlung der Frage nach dem Bösen stellt einen der originellsten Beiträge dar, die von Denken Kants inspiriert worden sind. Im abschließenden dritten Teil kommen religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen zur Sprache. Obwohl Kant die Problematik des Bösen unter einer strikten ethischen Perspektive behandelt, bewegen sich seine Untersuchungen in einem metaphysisch-religiösen Rahmen. So wird – neben verschiedenen Auslegungen der biblischen Fallgeschichte – die These Kants untersucht, nach der die Moral »unausbleiblich« zur Religion führe. Kants moralisches Verständnis der Religion schließt die Untersuchung ab. Die verschiedenen Hinweise auf andere geschichtliche Positionen20 sollen auf der einen Seite helfen, das Denken Kants besser in der Philosophiegeschichte einordnen zu können und zugleich die unterschiedlichen Stellungnahmen miteinander ins Gespräch zu bringen. Auf der anderen Seite versucht die Untersuchung zu zeigen, welchen Einfluss die Gedanken Kants vor allem auf dem Gebiet der Moralphilosophie zeitigten, indem sie die positive Aufnahme, Weiterführung und Inspiration vor allem im Denken von Emmanuel Levinas und Paul Ricœur nachspürt. Beide Philosophen tragen wiederum durch das eigene auch von Kant inspirierte Denken Wichtiges zum Verständnis der Kantischen Position bei. Durch ihre eigenen Entwürfe, die allem voran der Phänomenologie und Hermeneutik verpflichtet sind, 20 Verweise auf geschichtliche Positionen beschäftigen sich mit der quaestio facti eines Problems – mit der Genese der Gedanken und Theorien, mit der gegenseitigen Beeinflussungen etc. Diese sog. ›historisch-kritischen‹ Hinweise sollen jedoch nicht den Blick auf die entscheidendere Frage verstellen, auf die quaestio iuris. Die geschichtlichen ›Abhängigkeiten‹ bilden lediglich die Folie für die Sachfragen, um die es hier allem voran gehen soll. Es geht nicht primär darum, in welchem historischen Rahmen der jeweilige Denker das Problem des Bösen behandelt, sondern ob und wie die einzelne Theorie von der Sache her dem Phänomen des moralisch Bösen gerecht wird.
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werfen sie ein neues Licht auf das Denken Kants, das sich dadurch in einer neuen Weise zu erschließen vermag. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat in einem Essayband ein flammendes Plädoyer für die »Moral des Wesentlichen« im Unterschied zur »Moral des Archivs« gehalten. Kundera vertritt mit Nachdruck die These, dass als Werk eines Romanciers nur das anzusehen ist, was der Autor »in der Stunde der Abrechnung billigen wird«. Jeder Romancier solle alles Zweitrangige beseitigen und »die Moral des Wesentlichen verfechten«. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Erschließung von literarischen Werken geht Kundera mit den Wissenschaftlern hart ins Gericht: »es gibt auch die Forscher, Heerscharen von Forschern, die, von einer entgegengesetzten Moral geleitet, alles akkumulieren, was sie herausfinden können, um Alles – das oberste Ziel – zu erfassen. Alles, nämlich auch einen Berg aus vom Autor verworfenen Entwürfen, gestrichenen Absätzen und Kapiteln, von den Forschern jedoch in sogenannten ›kritischen‹ Ausgaben unter dem perfiden Namen ›Variationen‹ veröffentlicht, was bedeutet, falls die Wörter noch einen Sinn haben, dass alles, was der Autor geschrieben hat, gleichwertig und gleichermaßen von ihm gebilligt ist. Die Moral des Wesentlichen ist der Moral des Archivs gewichen.«21 Zur wissenschaftlichen Erschließung von philosophischen Werken sind sicher kritische Editionen unentbehrlich. Die Sinnspitze dessen, worauf Kunderas Sätze zielen, gilt indessen ebenso für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Werken der Philosophie. Die Gewichtung vom Wesenlichen und Beiläufigen soll allem voran dem Autor selbst zugestanden werden. In diesem Sinne werden für die vorliegende Untersuchung primär die zu Kants Lebzeiten veröffentlichten Hauptschriften herangezogen. Reflexionen oder etwa Nachschriften von Kants Vorlesungen werden zwar ebenfalls verwendet, aber eher zur Verdeutlichung bestimmter Positionen oder zum besseren Verständnis des Entwicklung von Kants Denken.
21 M.
Kundera: Der Vorhang, 131.
1. Die Freiheit des Willens und die Faktizität des Sollens als Bedingungen der Rede vom Bösen
1.1 Freiheitsproblematik Es gehört offensichtlich zum Selbstverständnis des Menschen, sich als frei zu fühlen und sich selbst als frei vorzustellen.1 Diese Vorstellung gehört zum innersten Kern dessen, was wir uns unter dem Begriff des Menschen als einer Person vorstellen. Wir können die Vorstellung der Freiheit nicht aufgeben, ohne das Wesentliche (vielleicht das Wesentlichste) aufzugeben, was den Menschen zum wahren Menschen macht. Zwar mahnen uns sowohl die Alltagserfahrung als auch die Naturwissenschaften samt der Psychologie vorsichtig mit der Bestimmung der Freiheit umzugehen. Es steht außer Frage, dass wir unterschiedlichsten Einflüssen unterliegen: Wir sind in einer bestimmten Familie mit einer bestimmten Erziehung aufgewachsen, sind mit einem veranlagten ›Naturell‹ auf die Welt gekommen, gehören zu bestimmten Gruppen, zu einer bestimmten Gesellschaft, deren Verhaltensweisen uns prägen usw. Wir werden durch unsere biologische Ausstattung beeinflusst. Trotz der Tatsache, dass wir 99,9 % unseres Genoms mit allen Menschen der Welt teilen, gibt es aber keine zwei völlig identischen Individuen. Ebenso müssen wir jedoch daran festhalten, dass wir frei sind. Denn unsere menschliche Freiheit hängt ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist eine konkrete, bestimmte Freiheit, die eben nur in einem konkreten Weltzusammenhang auftreten kann. Dies soll allen ins Stammbuch geschrieben werden, die einen Fehlschluss begehen und aufgrund der vielen Einflüsse der Wirklichkeit auf den Menschen die menschliche Freiheit aufgeben wollen: Die unterschiedlichsten Determinanten der Welt lassen nicht die Freiheit verschwinden, sondern sind lediglich eine notwendige Bedingung dafür, dass ein freier Wille überhaupt sich entfalten kann.2 Schon Kant wendet sich gegen die vielen, »welche diese Freiheit noch immer glauben nach empirischen Prinzipien, wie jedes andere Naturvermögen, erklären zu können« (KpV A 168). Mit Worten Kants gesagt, wirken im Menschen zwei unterschiedliche Kausalitäten: die Kausalität der Natur und die Kausalität aus Freiheit. Der Mensch muss auf 1
Vgl. z. B. GMS BA 113: »Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei.« P. Bieri: Das Handwerk der Freiheit, 50 f.: »Das ist einfach deshalb so, weil jede Welt eine bestimmte Welt ist, die in ihrer Bestimmtheit Grenzen setzt und tausend Dinge ausschließt. Und wir brauchen diese Bestimmtheit und diese Grenzen, damit auch unser Wille jeweils ein bestimmter Wille sein kann. […] Die Grenzen, die dem Willen durch die Welt gezogen werden, sind kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung.« 2 Vgl.
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Die Freiheit des Willens und die Faktizität des Sollens
eine zweifache Art vorgestellt werden, unter zweierlei Gesichtspunkten – als ein Wesen, das sowohl den Gesetzen der Natur unterliegt und auch als ein Wesen, das sich durch seinen freien Willen dieser Kausalität entzieht und zu einer eigenen Gesetzgebung fähig ist. Die beiden Kausalitäten schließen sich im Menschen nicht aus, sondern müssen in demselben Subjekt »als notwendig vereinigt« vorgestellt werden.3 Kant hat gewusst, dass ich bei einer naturwissenschaftlichen Erklärung einer Handlung – wenn ich also eine Handlung aus einem vorherigen Zustande, der nicht mehr in meiner Gewalt liegt und diesen wiederum aus einem vorhergehenden in der Zeit erklären will – gar nicht auf die Freiheit stoßen kann. Denn solange ich die Begebenheiten als »in der Zeit bestimmbar«, also als Erscheinungen betrachte, finde ich immer nur Naturnotwendigkeit vor.4 Der Begriff der Freiheit würde alleine die »Freiheit eines Bratenwenders« (KpV 174) bezeichnen und man könnte das Verhalten der Menschen genauso berechnen wie die Mond- und Sonnenfinsternis. Eine echte Bestimmung der Freiheit wird erreicht, wenn der Mensch in seiner Intelligibilität als ein Ding an sich betrachtet wird »sofern er nicht unter Zeitbedingungen steht« (KpV A 175). Das Phänomen der Gewissensbisse mit Reue und Schmerz dienen Kant als Beispiel. Ein schlechtes Gewissen ist nur deshalb möglich, »weil die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt, und nur frägt, ob die Begebenheit mir als Tat angehöre« (KpV A 177). Ohne Freiheit, d. h. ohne die Möglichkeit der Moralität, würde der Mensch weder als Endzweck existieren, noch würde er einen Endzweck haben. Laut Kant würde ohne Moralität sogar der Endzweck der ganzen Schöpfung – also dasjenige, wozu die Welt letztlich da ist – verloren gehen. Der Begriff der Freiheit stellt für Kant den »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft« (KpV A 4) dar. Zugleich wird dieser Begriff jedoch zu einem Stolperstein,5 denn die Bestimmung dessen, was darunter zu verstehen ist, erweist sich als sehr schwierig, was unter anderem an der Tatsache abzulesen ist, dass die Freiheitsproblematik, die in der kritischen Philosophie entscheidende Ausarbeitung erfahren hat, erst in der Religionsschrift mit den Thesen zum Bösen in der menschlichen Natur ihrer Vollendung zugeführt wird. Kant geht einerseits davon aus, dass jeder Mensch ein Freiheitsbewusstsein hat und dass sich uns unsere Freiheit in dem Moment sichtbar manifestiert, wenn wir moralisch empfinden. Unentwegt beruft sich Kant in seinen Schriften auf den »gemeinen Menschenverstand« eines jeden Menschen. Dieses Vertrauen in die moralische Urteilsfähigkeit eines jeden Menschen (die nicht explizit geäußert werden muss) speist sich aus der Überzeugung Kants, die Moral sei nicht eine Angelegenheit für Gebildete, sondern betreffe jeden Menschen. Mögen sich auch nur manche Gedanken über die Bestimmung der Mo3 Vgl.
GMS BA 116. KpV A 170 ff. 5 Kant bezeichnet den Begriff der Freiheit auch als einen »Stein des Anstoßes« (vgl. KpV A 13). 4 Vgl.
Freiheitsproblematik 19
ral machen, sind dennoch alle dazu aufgerufen, sich im eigenen Leben moralisch zu verhalten. Aus diesem Grund gehört die Einsicht, dass Moral keine Religion voraussetze, streng genommen keine voraussetzen darf, zum festen Bestandteil der Praktischen Philosophie Kants. Alle Menschen – egal unter welchen geschichtlichkulturell-religiösen Bedingungen – stehen unter demselben Anspruch der Moralität. Die Berufung auf den »gemeinen Menschenverstand« darf selbstverständlich kein Misstrauen gegenüber der theoretischen, spekulativen Vernunft bedeuten. Das Vertrauen in diesen Menschenverstand stellt auch keine »Faulheit der Vernunft«6 dar, die sich der Mühe des Nachdenkens entziehen zu meinen glaubt. Der einfache Menschenverstand besitzt für Kant eine ursprüngliche Evidenz und beinhaltet ein echtes praktisches Wissen. Dieser »gemeine« Menschenverstand vermag den spekulativen nicht zu ersetzen, er ist ihm jedoch komplementär. Jeder von beiden hat seine eigene Berechtigung und seinen eigenen Gebrauch: »In der Tat ist’s eine große Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muß ihn durch Taten beweisen, durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, daß, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiß, man sich auf ihn, als ein Orakel beruft. Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdenn und nicht eher, sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen, und es mit ihm aushalte kann. So lange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Notwendigkeit zu ergreifen.« (Prol A 11 f.) Andererseits entwickelt Kant einen kritischen Zugang zum Begriff der Freiheit: Er strebt nämlich einen erkenntnisgesicherten Begriff der Freiheit an. Im Rahmen der Erkenntnistheorie der theoretischen Vernunft wird die Freiheit zum Problem, weil sich die theoretische Aufweisung ihrer Realität als unmöglich herausstellt. Erst das »Faktum« des moralischen Gesetzes wird der Freiheit ihre »sichtbare«, praktische Realität garantieren. Die praktische Philosophie wird so zum Leitfaden, zum Kanon für die theoretische.7 Den Gedanken, dass sowohl die Freiheit als auch das moralische Gewissen eine Lebensevidenz darstellen, dass sie sich in der Existenz eines jeden Menschen erfahren lassen und somit als eine faktische Tatsache der menschlichen Existenz anzusehen sind, teilt Kant mit Jean-Jacques Rousseau, von dem er sich in dieser Hinsicht beeinflussen lässt.8 Rousseau vertritt mit Nachdruck die These, ein jeder 6 Mit Berufung auf die »Alten« spricht auch Leibniz über eine »faule Vernunft« (raison paresseuse). Vgl. G. W. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 1, Préface/Vorwort, u. a. 14/15. 7 Vgl. dazu das 2. Hauptstück aus der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft B 823–859. 8 Vgl. z. B. G. Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 40 ff. oder auch z. B. 125. Ebenfalls relevant ist D. Sturma: Jean-Jacques Rousseau, 88–102. Vgl. auch die Bemerkung Kants: »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb.
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auch der einfache Mensch fühle sich frei und empfinde moralisch.9 Die Freiheit des Willens macht das entscheidende Charakteristikum des Menschen überhaupt aus. Im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in dem die Sonderstellung des Menschen herausgearbeitet wird und zwar in Absetzung von den Tieren,10 wird der Freiheit auch gegenüber dem Verstand der Vorrang eingeräumt: »Ce n’est donc pas tant l’entendement qui fait parmi les animaux la distinction spécifique de l’homme que sa qualité d’agent libre.«11 Die Natur nötige das Tier mittels der Instinkte zu gehorchen, der Mensch verspüre zwar denselben Druck der Natur, besitze jedoch die Möglichkeit, ihm nachzugehen oder ihn zurückzuweisen. So bezeichnet Max Scheler den Menschen als einen »Neinsagenkönnen«, der kraft seines Geistes zu seinen natürlichen Triebimpulsen Distanz zu halten vermag.12 Im Bewusstsein der Freiheit zeigt sich nach Rousseau die Geistigkeit der menschlichen Seele, im Vermögen des Wollens, des Wählens werden »rein geistige Akte« vollzogen, die als Akte der Freiheit anzusehen sind.13 Das faktische Erleben des Menschen zeigt in aller Deutlichkeit: die Freiheit als die edelste Fähigkeit des MenEs war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen.« (AA XX, 44). 9 Vgl. auch P. Bieri: Das Handwerk der Freiheit, 223: »Die erlebte Spontaneität des Wollens und Tuns ist die eine wichtige Quelle für den Gedanken, daß die Freiheit im Sinne der Unbedingtheit nicht nur ein abstraktes Postulat ist, sondern etwas, das wir erleben und das den Rang einer intuitiven Gewißheit besitzt.« 10 Ähnlich wie Rousseau charakterisiert auch Kant an einigen Stellen den menschlichen freien Willen in Absetzung von dem determinierten Verhalten der Tiere, das er als vollständig »nezessitiert« sieht. Ob sich diese vollständige Determiniertheit des Verhaltens im Bezug auf Tiere heute mit den Ergebnissen der heutigen Biologie und vor allem der Ethologie verträgt, ist eine andere Frage, die hier nicht behandelt wird. Aber auch bei vielleicht nicht so strikten Trennung bleibt ein grundsätzlicher Unterschied (nicht nur gradueller Art, sondern auch qualitativ) zwischen Mensch und Tier bestehen. Karl Vorländer weist unter Berufung auf die Rezension zu einem Vortrag des italienischen Anatoms P. Moscati Von dem körperlichen Unterschiede zwischen der Struktur der Tiere und Menschen darauf hin, dass Kant sehr wohl sowohl die Ferne als auch die Nähe zwischen Mensch und Tier differenziert gesehen habe. Vgl. K. Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, 213 f. und 345. Einige zeitgenössische Verhaltensforscher unternehmen den Versuch, moralische Vorformen oder einzelne Elemente der menschlichen Moral (wie z. B. soziale Fürsorge) bereits bei den Menschenaffen nachzuweisen. Vgl. dazu u. a. Frans de Waal: Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren, München 2000. 11 Vgl. J.-J. Rousseau: Discours sur l’origine, 93. 12 M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 55. 13 Vgl. ebd., 93: »La nature commande à tout animal, et la bête obéit. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnait libre d’acquiescer ou de résister; et c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son âme; […] mais dans
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schen (die er jedoch stets missbrauchen kann, wie der Zivilisationskritiker Rousseau weiß) stellt eine unveräußerliche Gabe der Natur, die der Mensch als Mensch erhält. Im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars des Emil lesen wir später die thesenartigen Sätze: »Der Ursprung einer jeden Handlung liegt im Willen eines freien Wesens, darüber kommt man nicht hinaus. […] Der Mensch ist also in seinen Handlungen frei und als freies Wesen von einer immateriellen Substanz beseelt.«14 Die Freiheitsproblematik ist vielleicht der neuralgischste Punkt der Kantischen Philosophie, da seine Philosophie insgesamt auf die praktische abzielt und sich in ihr vollendet. Kant schreibt, dass »die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet« (KrV B 829) ist.15 Und in der zweiten Kritik betont er: »Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige [Hervorh. von Verf.] ist, was allen endlichen vernünftigen Menschen zusteht […]« (KpV A 58). Die Gültigkeit des Primats des Praktischen ist in allen drei Kritiken zu finden und gilt für die gesamte kritische Philosophie.16 Aufgrund der für Kant ausgewiesenen Annahme, dass die praktische Vernunft ursprüngliche Prinzipien a priori besitzt – la puissance de vouloir ou plutôt de choisir, et dans le sentiment de cette puissance, on ne trouve que des actes purement spirituels, dont on n’explique rien par les loi de la mécanique.« 14 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, 293. Die These, dass der Täter seiner Taten alleine der Mensch selber ist, hat bei Rousseau auch Konsequenzen im Hinblick auf die Frage nach dem Bösen in der Welt. Für das Böse seiner Handlungen ist allein der Mensch verantwortlich, die Vorsehung Gottes ist aus dem Spiel zu lassen. 15 Der letzte Zweck des Menschen, der Endzweck ist »kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral« (KrV B 868). Vgl. auch eine Stelle aus den Vorlesungsnachschriften zur Metaphysik (Pölitz): »Die Hauptsache ist immer die Moralität: dieses ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und dieses ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Speculationen und Untersuchungen. Alle metaphysischen Speculationen gehen darauf hinaus. Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen, und wenn die Begriffe von Gott und von der andern Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, so wären sie nichts nütze.« (AA XXVIII, 301). 16 Zur KrV vgl. u. a. O. Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft, 23: »Letztlich will Kant aber nicht vorempirische Voraussetzungen der Empirie, sondern die Möglichkeit von Moral und Moraltheologie mit ihren Fragen nach Seele, Freiheit und Gott ausloten. […] Wer die Kritik nur als Theorie der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, vielleicht zusätzlich noch als allgemeine Erkenntnistheorie liest, dem entgeht die Pointe: Nicht erst in seiner Moraltheorie, sondern schon in seiner Theorie des Wissens philosophiert Kant in praktischer, genauer: moralischer Absicht. Wer das Werk bis zum letzten Teil, der ›Methodenlehre‹, liest, erfährt, was schon im Motto und der zweiten Vorrede anklingt: Die Kritik als ganze ist eine im emphatischen Sinn praktische Philosophie.« Vgl. ebenfalls J. Silber: Die metaphysische Bedeutung des höchsten Guts, 549: »In allen drei Kritiken wird der moralische Gebrauch der Vernunft als primär anerkannt, denn nur in diesem Gebrauch findet die Vernunft Befriedigung für alle ihre Interessen.«
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das unbedingt geltende praktische Sittengesetz bestimmt den Willen unmittelbar –, mit denen zwar »unzertrennlich« gewisse theoretische Positionen verbunden sind, die sich aber dem Erkennen der theoretischen Vernunft entziehen, kann Kant behaupten: »In der Verbindung also der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat« (KpV A 218).
1.1.1 Freiheit als Grundbedingung der Urteilsfähigkeit / Vernunft als iudex-Richter Unter dem Begriff der Freiheit stellen wir uns meistens diejenige Fähigkeit des Menschen vor, selbstbestimmt handeln zu können und zwar aus eigenem Antrieb heraus. Doch bevor über die Freiheit im Zusammenhang des Praktischen, also als Grundbedingung der Moralität die Rede sein wird, soll die Freiheit zuerst in einem speziellen theoretischen Sinne vorgestellt werden: nämlich als die Fähigkeit, ein Urteil zu fällen. In diesem Sinne tritt die Vernunft als Richter auf. Im Zuge seiner Kopernikanischen Wende hat Kant gesehen, dass er – wenn er mit seinem selbst aufgestellten Programm, die Metaphysik als eine exakte Wissenschaft zu etablieren, fortkommen möchte – dem Weg der Naturwissenschaften zu folgen versuchen müsse, die schon erfolgreich eben jenen Weg zur Wissenschaftlichkeit gegangen sind. Laut Kant haben die Naturforscher begriffen, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten […]. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.« (KrV B XIII.). Die Vernunft geht nicht nur auf die Natur im Sinne der äußeren sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit heran, sondern bezieht sich genauso auf die eigene Natur. Sie unterzieht sich selbst einer genauen Prüfung, um die Grenzen, die Quellen und den Umfang der eigenen Erkenntnis bestimmen zu können. Kant bezeichnet deshalb die ganze Kritik der reinen Vernunft als einen »Gerichtshof«17 der Vernunft über sich selbst: »Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat […].« (KrV B 780). Der Titel der Kritik der reinen Vernunft muss folglich im Sinne eines genitivus obiectivus als auch eines genitivus subiectivus gelesen werden. Es wird das Vermögen der Vernunft »kritisiert«, indem seine Grenzen und Fähigkeiten abgesteckt werden. Diese kritische Bestimmung leistet jedoch die Vernunft selbst. Die 17 Vgl.
KrV A XI.
Freiheitsproblematik 23
Vernunft führt die kritische Operation an sich selber durch und zwar in der Funktion des operierenden Chirurgen als auch des zu operierten Patienten. Die Urteilsfähigkeit des Menschen zeigt sich bereits im Prozess des Erkennens. Bekannterweise bestimmt Kant die Erkenntnis als eine Zusammensetzung aus der »Rezeptivität der Eindrücke« und der »Spontaneität der Begriffe«.18 Und gerade in der Spontaneität des Denkens zeigt sich die in ihr vorausgesetzte Freiheit. So kann auch der Verstand als das »Vermögen zu urteilen« (KrV B 94)19 bestimmt werden, der durch die von der Spontaneität hervorgebrachten Begriffe im Erkenntnisvorgang unaufhörlich urteilt.20 Die Synthesis als die Verbindung, die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung im Denken, besser gesagt in der reinen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, ist laut Kant ein Akt der »Selbsttätigkeit« des Subjekts.21 Das heißt ohne die Annahme der Freiheit, die sich in der Spontaneität des Denkens manifestiert, ist das menschliche Erkennen gar nicht denkbar. In einem zweiten Schritt unterscheidet Kant in der Transzendentalen Dialektik den Vernunftschluss von dem Verstandesschluss. Die Vernunft als das »Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien« (KrV B 359) urteilt wiederum, indem sie die Mannigfaltigkeit der Verstandeserkenntnisse (d. h. Verstandesurteile) zu einer höchsten Einheit zu verbinden sucht. Die Vernunft ist bestrebt »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden« (KrV B 364). Das Ergebnis ihrer Suche sind dann reine Vernunftbegriffe, die transzendentalen Ideen. Es sind Ideen, denen zwar kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen zugeordnet werden kann, die jedoch notwendig nach den Regeln der Natur der Vernunft erzeugt werden und in denen sich die Einheit aller möglichen Erkenntnis vollendet. Die drei höchsten Ideen, an denen die Vernunft das innigste Interesse hat, sind: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (vgl. KrV B 395). Die menschliche Vernunft urteil nicht nur unaufhörlich im Erkenntnisprozess und darüber hinaus über sich selbst im Sinne der Grenzbestimmung seiner theoretischen Leistungsfähigkeit, sondern auch in praktischer Hinsicht. Und zwar erneut in doppelter Hinsicht: Sie muss über die Zwecke und Ziele des menschlichen freien Willens urteilen und neben der theoretischen Selbsterkenntnis ebenfalls eine praktische Selbsterkenntnis leisten, indem sie die moralische Qualität der Handlungen beurteilt.22 Die Vernunft tritt als »praktischer Richter« des Gewissens auf: »Denn
18 Vgl.
KrV B 74. Kant später den Verstand als »Vermögen der Regel« bestimmt, so ist diese Charakterisierung mit der vorherigen kompatibel, indem der Verstand als »Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln« präzisiert wird. Vgl. KrV B 359. 20 Vgl. KrV B 93: »Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt.« 21 Vgl. KrV B 130 und B 132. 22 Nach Kants Überzeugung hat der Mensch sogar eine Pflicht zur moralischen Selbsterkenntnis, die als das »erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst« angesehen wird 19 Wenn
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Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft.« (MSTL A 37 f.) Auch wenn die Charakterisierung der Vernunft als Richter in praktischen Belangen einen gewissen thematischen Vorgriff darstellt, da die Problematik der Freiheit als Grundbedingung der Moralität erst im nächsten Kapitel behandelt wird, soll dieser Vorgriff dennoch unternommen werden, um der Vieldimensionalität des Richterbegriffs im Denken Kants gerecht zu werden. Das Gewissen ist ein »wundersames Vermögen«, das als »Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen« (MSTL A 99) vorgestellt wird, an dem sowohl der Verstand, die Urteilskraft als auch die Vernunft beteiligt sind.23 Es handelt sich um eine »ursprüngliche intellektuelle und moralische Anlage«: »Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt […] gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt.« (MSTL A 99 f.) Nach Kant hat der Mensch zwar die Möglichkeit und wohl die Fähigkeit, sich um den Richterspruch des Gewissens nicht zu kümmern, er kann es jedoch nicht vermeiden, dass die Vernunft als innerer Richter in ihm urteilt.24 (MSTL A 104): »Erkenne […] dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit […], sondern nach der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz – ob es gut oder böse sei […]. Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang.« Vgl. dazu auch R. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 137–140. 23 Vgl. auch Refl 6815: »Gewissen ist das Bewustseyn der Pflicht, in der Zurechnung seiner eigenen That aufrichtig zu seyn. Aufrichtig ist, der das Bekentnis seines Urtheils jederzeit dem Bewustseyn desselben gemäs fällt. — Das Gewissen ist also ein Gerichtshof, in dem der Verstand der Gesetzgeber, die Urtheilskraft der Ankläger und Sachwalter, die Vernunft aber der Richter ist. In der zweyten Instanz wird aufrichtigkeit verlangt.« In der Religionsschrift wird das Gewissen als ein Bewusstsein bestimmt, »das für sich selbst Pflicht ist« (B 287). Dies ist jedoch in dem Sinne zu verstehen, dass ich mich bei eigener Handlung immer vergewissern muss, ob sie auch recht ist. Es ist eine unbedingte Pflicht, über die Richtigkeit der Handlung Gewissheit zu haben. So gesehen stellt das Gewissen »die sich selbst richtende moralische Urteilskraft« dar (RGV B 288). Ob eine Handlung überhaupt richtig ist oder nicht, darüber fällt nicht das Gewissen ein Urteil, sondern die Vernunft. Das Gewissen reflektiert also nicht auf die moralische Qualität von Handlungen im Allgemeinen, es beurteilt vielmehr die moralische Rechtmäßigkeit derjenigen Handlungen, die ich vollziehen will. Deshalb sagt Kant, dass das Gewissen den Menschen »wider oder für sich selbst, zum Zeugen« aufstellt. 24 KpV A 175 f.: »Ein Mensch mag künsteln, soviel er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit, die man niemals gänzlich vermeiden kann, folglich als etwas, worin er vom Strom der Naturnotwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger in ihm keinesweges zum Verstummen bringen könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d. i. im Gebrauche seiner Freiheit war […]« Vgl. auch RGV B 104. Obwohl der Mensch als Kläger und Angeklagter in einer Person vorzustellen
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Kant weiß jedoch, dass der Mensch nicht in der Lage ist, seine Motivlage völlig zu durchschauen. Denn bei aller Aufrichtigkeit und Offenheit sich selbst gegenüber, können wir uns selber nicht abschließend beurteilen (»man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt« RGV B 87). Die letzendliche Moralität unserer Taten bleibt uns verborgen: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich25 verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« (KrV B 579).26 Wir sind uns selbst nur als Erscheinungen gegeben und zwar sowohl im theoretischen als auch im praktischen Sinne. Im theoretischen Selbst-Bewusstsein besitze ich keine »Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine« (KrV B 158). Das transzendentale Subjekt kann in seiner Spontaneität nur die Vorstellung »das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (KrV B 131) äußern. Was ich als Ding an sich bin, bleibt mir verborgen, hinter die transzendetale Einheit des Selbstbewusstseins kann ich nicht zurückgehen.27 Ebenso bleibt mir auch mein intelligibler Charakter verborgen. Ich vermag alleine meinen empirischen Charakter zu beurteilen. Wie es jedoch tatsächlich mit meinen Motiven bei den jeweiligen Handlungen bestellt ist, kann ich nicht wissen. Für das kantische System der Moralität ist es jedoch wichtig, dass die innere Motivlage eines jeden Einzelnen offenbar wird, damit die Vernunft nicht ist, erklärt Kant, »als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht, zu betrachten« (MSTL A 101 f.). 25 Eine »gänzliche« Verborgenheit unserer Moralität scheint nicht möglich zu sein. Wenn der Mensch ein moralisches Leben führen soll, muss er eine Möglichkeit besitzen, ein moralisches Urteil über sich selbst fällen zu können. Für die Gesamtorientierung seines Lebens muss er wenigstens in bestimmten Grenzen abschätzen können, wie es mit ihm moralisch bestellt ist. Dass er jedoch seine eigene Moralität nicht völlig durchschauen kann, bleibt in der Tat zutreffend. 26 Schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (z. B. GMS BA 26 oder 48 f.) erteilt Kant der Erfahrung als einem Beurteilungskriterium hinsichtlich der Moralität unserer Handlungen eine Absage. Mit Erfahrung, d. h. mit empirischen Beispielen, lässt sich nicht einmal mit völliger Gewissheit ausmachen, ob es überhaupt Imperative der Sittlichkeit gibt. Denn die Imperative der Sittlichkeit drücken nicht das aus, was ist, sondern was sein soll. Sie gelten auch dann, wenn man gar kein Beispiel von ihnen in der Welt zeigen könnte. 27 Vgl. KrV B 404: »[…] an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x […].«
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in Widerspruch zu sich selbst gerät. Denn nach Kant denkt die Vernunft notwendigerweise die Zuordnung von Tugend und Glückseligkeit in einem ganz bestimmten Verhältnis: die Tugend wird als »Würdigkeit glücklich zu sein« gedacht und somit die Glückseligkeit proportioniert zur Tugend.28 Erst diese Verbindung zwischen beiden stellt laut Kant das höchste vollendete Gut dar, das wir anstreben sollen.29 Dadurch, dass uns das Moralgesetz unbedingt gebietet, sich das höchste Gut zum Zwecke unseres Handelns zu machen, muss (alleine) in praktischer Hinsicht ein Gott angenommen werden, der diese der Tugend entsprechende Glückseligkeit gewährleistet. Die Erfahrung lehrt uns, dass in der Welt der Tugendhafte nicht immer der ihm zustehenden Glückseligkeit teilhaftig wird, sondern sogar unter Umständen der Möglichkeit zur Glückseligkeit, sprich des Lebens, verlustig gehen kann. Aus diesem Grund ist es also nötig, dass es eine Instanz gibt, die die innere Moralität eines jeden Menschen restlos offenbart, um jedem nach seiner Tugendhaftigkeit die Glückseligkeit zuzuteilen. Der Mensch bleibt auf einen »Herzenskündiger« angewiesen und dieser wird als Gott vorgestellt, der das Innere des Menschen in seiner vollständigen Moralität offenbart.30 Die Vernunft muss in praktischer Hinsicht einen Gott als einen gerechten Richter postulieren, um die Idee einer ethischen Gemeinschaft, einer moralischen Welt als Endzweck für das eigene Handeln denken zu können: »Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen, und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen.« (RGV B 138 f.)
28 Kant ersetzt die traditionelle philosophische Rede über »Tugenden« mit der Rede über eine »Tugend«. Unter Tugend versteht er nicht eine ausgezeichnete, optimale Verhaltensweise in einer bestimmten Hinsicht, sondern »die Sittlichkeit« selbst (vgl. z. B. GMS BA 61 f. Anm.), die völlige Angemessenheit des Willens an das Sittengesetz. 29 Vgl. dazu KpV A 198 ff. 30 Vgl. RGV B 95 f. »Der Richterausspruch eines Herzenskündigers muß als ein solcher gedacht werden, der aus der allgemeinen Gesinnung des Angeklagten, nicht aus den Erscheinungen derselben, den vom Gesetz abweichenden oder damit zusammenstimmenden Handlungen, gezogen werden.« In der Metaphysik der Sitten bezieht Kant die Vorstellung Gottes als eines inneren Richters direkt auf das Phänomen des Gewissens: »so wird das Gewissen als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen« (MSTL A 101 f.). Zur Vorprägung des Gedankens, dass nicht der Mensch, sondern Gott als »Offenbarer« der tatsächlichen inneren Beschaffenheit fungiert, vergleiche Augustinus »homo non est cordis inspector« (mend. 36); nur Gott ist »cordis ipsius et intimae voluntatis inspector« (spir. et litt. 14).
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1.1.2 Freiheit als Grundbedingung der Moralität Freiheit in einem eminenten Sinne des Wortes stellt die Freiheit des Willens dar, die wiederum eine Bedingung sine qua non ist, um über Moralität sprechen, um den Menschen seine Handlungen zurechnen zu können. Da die Philosophie Kants als Ganze auf die Praktische Philosophie zielt, erhält die Freiheitsproblematik ein kaum zu überschätzendes Gewicht. Auch wenn die Thematik der Freiheit des Willens als einer anderen Kausalität neben der der Natur ihre volle Bedeutung im Denken Kants erst in der kritischen Philosophie entfaltet, ist sie als ein Problem schon in den vorkritischen Schriften virulent, etwa in der Nova Dilucidatio. In dieser frühen Schrift aus dem Jahre 1755 entfaltet Kant einen fiktiven Dialog zwischen Caius und Titius.31 Es wird im Gespräch um die Frage gerungen, ob die menschlichen Handlungen frei sind, also auf eigene innere Gründe zurückzuführen sind oder ob die menschlichen Handlungen in einer Reihe von Ursachen und Wirkungen als deterministisch aufgefasst werden müssen. Die Reihe der Gründe wird in gedanklicher Konsequenz bis zu Gott und seinem Vorherwissen gezogen. Falls die Handlungsakte des Menschen nur von außen als eine Art Ergebnis verursacht sind, ist der Mensch unfrei. Schon in der vorkritischen Philosophie entfaltet Kant also das grundsätzliche Problem, das ihn in seiner kritischen Philosophie umtreiben wird: die Problematik eines freien Willens, der unabhängig von einer äußeren Determination agieren kann. Es bleibt überdies zweitrangig, ob es sich bei dem Determinanten um natürliche Neigungen oder um Einfluss Gottes handelt. Dass sich der Mensch bei der Verwirklichung des höchsten Guten als eines Zweckes seines Willens in einer anderen Art und Weise auf Gott bezieht, ist eine andere Frage. Im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft finden wir die Freiheit zuerst als eine Idee vor, das heißt als einen höchsten reinen Vernunftbegriff. Die Vernunft steigt gemäß ihrer eigenen Regel vom Bedingten zum Unbedingten auf. Ihre Suche endigt laut Kant in drei notwendigen Ideen, die zwar nicht als das Unbedingte selbst zu denken sind, auf Unbedingtes jedoch hinzielen.32 Die Vernunft projektiert gleichsam diese drei Einigungspunkte, um die systematische Einheit der Erfahrungserkenntnis zu erreichen. Die Natur der Vernunft selbst stellt diese drei Aufgaben zur Lösung unvermeidlich auf: »Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.« (KrV B 7) Warum muss die Vernunft die Frage nach diesen höchsten »Gegenständen« notwendigerweise stellen? Da sie die höchste Einheit des menschlichen Erkennens darstellen, würde die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch geraten, wäre ihr diese Einheit gleichgültig. Der Vernunft kann sie nicht gleichgültig sein, wenn sie sich in der Wirklichkeit orientieren will und in der Wirklichkeit ›zurecht‹ kommen will. Denn die Natur der Vernunft ist ar31 Vgl.
Nova Dilucidatio. Sectio II. Confutatio dubiorum (in WW 1, 450–469). KrV B 367: »Wenn sie [die Vernunftbegriffe] das Unbedingte enthalten, so betreffen sie etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist: etwas, worauf die Vernunft in ihren Schlüssen aus der Erfahrung führt […].« 32 Vgl.
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chitektonisch gebaut33 und zielt immer auf eine Ganzheit, auf die Unbedingtheit.34 Das Phänomen, dass die Vernunft »durch Fragen belästigt wird, die sich nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben [Hervorh. von Verf.], die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII), nennt Kant die »metaphysische Naturanlage«.35 Die Freiheit als Grundbedingung der Moralität zeigt sich also im Rahmen der theoretischen Philosophie zuerst als ein problematischer Begriff, dem theoretisch nicht beizukommen ist, wie wir sehen werden. Zuerst wird von Kant festgehalten, dass die »Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft«, die drei höchsten Gegenstände betrifft, nämlich »die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes« (KrV B 826). Die Vernunft kann von diesen drei Ideen nicht absehen, obwohl sie keinen immanenten Gebrauch von ihnen machen kann, das heißt, dass die Ideen auf die Gegenstände der Erfahrung nicht anwendbar sind. So stellt sich heraus, diese spekulative Endabsicht der Vernunft sei doch nicht die letzte Absicht der Vernunft: die Vernunft habe eine »entferntere Absicht«, nämlich »was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn Gott und eine zukünftige Welt ist. […] so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet« (KrV B 828 f.). War die Freiheit in der spekulativen Endabsicht nur eine von drei höchsten Ideen, bekommt sie in der praktischen (die für Kant die entscheidende ist) Endabsicht eine einzigartige Stellung, indem sie zum Dreh- und Angelpunkt für die anderen zwei wird. In diesem Sinne ist die »Merkwürdigkeit« der Idee der Freiheit zu verstehen, die in der Kritik der Urteilskraft im Gegensatz zu den anderen Ideen unter »Tatsachen« und unter »Scibilia mit gerechnet werden muß« (KU B 457).
a) Transzendentale Freiheit In einer grundsätzlichen Unterscheidung charakterisiert Kant die Freiheit in doppelter Art: er unterscheidet zwischen einer praktischen und einer transzendentalen Freiheit. Unter der transzendentalen Freiheit versteht Kant »eine absolute Spontaneität der Ursachen«, ein Vermögen »eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« KrV B 474.36 Die äußere sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit, die uns als Erscheinung gegeben ist, unterliegt den Gesetzen der 33 Vgl. KrV B 502: »Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System […].« 34 Vgl. KrV B 436: »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben […].« 35 Vgl. KrV B 21 f. 36 Vgl. auch KrV B 561.
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Naturkausalität. So ist auch der Mensch als ein Teil der naturhaften Welt dieser Naturkausalität unterworfen. Die Vorstellung der Freiheit durchkreuzt die Vorstellung einer durchgängigen Wirkung der Naturkausalität. Die transzendentale Freiheit wird von Kant definiert als eine Fähigkeit, selbst aus eigenem Antrieb heraus eine Kausalreihe anzufangen, die dann nach den Gesetzen der Natur abläuft. So gesehen ist die Naturkausalität nicht die einzige, ihr konkurriert gleichsam die Kausalität der Freiheit. Wie das Zusammenwirken, oder besser gesagt das Zusammenbestehen von diesen zwei Kausalitäten zu denken ist, bleibt ein Problem. Wenn die Vernunft dieses Problem theoretisch zu durchdringen versucht, gerät sie in eine »ganz natürliche Antithetik«, in welche sie »von selbst und zwar unvermeidlich gerät«, die Kant die Antinomie der reinen Vernunft nennt.37 Die Freiheit wird in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft abgehandelt, in der sich zwei widersprechende Sätze gegenüber stehen: die Thesis besagt, dass die Kausalität der Natur nicht die einzige ist, sondern dass neben ihr noch die Kausalität aus Freiheit angenommen werden muss. Die Antithesis behauptet, es gebe keine Freiheit, in der Welt herrsche allein die Naturkausalität.38 Für die Zwecke unserer Untersuchung reicht es aus, festzuhalten, dass man sowohl für die Thesis als auch für die Antithesis stichhaltige Gründe anführen kann und somit beide wahr sind. Für die Gültigkeit der Thesis spricht folgende Überlegung: Falls alles nach den Gesetzen der Naturkausalität abläuft, so ist jeder Zustand der Welt ein bewirkter, das heißt der jeweilige Zustand ist auf einen vorherigen zurückzuführen. Dies würde jedoch einen Regressus in infinitum bedeuten. Da die Welt jedoch existiert, muss es einen ersten unbewirkten Anfang geben. Somit, so die Schlussfolgerung aus der Überlegung, müsse grundsätzlich eine andere Kausalität, nämlich die Freiheit, angenommen werden können. Dieser Gedankengang zielt jedoch (zuerst) nicht auf die Freiheit des Menschen, sondern auf die Gottesfrage, indem ein »erster Verursacher« angenommen wird.39 37 Vgl. KrV B 433 f. Das Antinomienhauptstück gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zum ursprünglichsten Bestand der Kritik der reinen Vernunft. Die Widerstreite der theoretischen Vernunft mit sich selbst haben womöglich das ganze »kritische Geschäft« hervorgerufen. Vgl. dazu z. B. Kants Brief an Christian Garve vom 21. September 1798: »Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit usw. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ›Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang usw. bis zur vierten: es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit;‹ diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« I. Kant: Briefe von und an Kant, Bd. X, 352. 38 Vgl. KrV B 472 f. 39 Im Hintergrund steht die Aristotelische Vorstellung eines ersten »unbewegten Bewegenden« (τὸ πρϖτον κινοῦν ἀκίνητον), das – selbst unbewegt – alles andere in Bewegung hält. Vgl. Mp – 1073a 25 ff. Bekannterweise nimmt diese Bestimmung Thomas von Aquin wieder auf, um aus ihr den ersten Weg (ex parte motus) zum Aufweis des Daseins Gottes zu entwickeln (S. th. I, 2, 3c).
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In der Antinomie sollte allerdings die Frage der Freiheit des menschlichen Willens behandelt werden, die einen Anfang nicht der Zeit nach setzen kann, sondern eben der Kausalität nach. An dieser Stelle scheint es sich Kant ein wenig leicht zu machen, wenn er diesen Unterschied zwischen der Annahme einer ersten göttlichen Kausalität (die die Reihe der Erscheinung überhaupt am Anfang der Zeit anstößt) und der menschlichen Freiheitskausalität (die eine Reiher der Erscheinung schon in der Zeit anstößt) einfach übergeht. Es leuchtet nicht auf Anhieb ein, wieso man befugt ist, von der einen auf die andere zu schließen. Meiner Meinung nach übergeht Kant diesen Widerspruch, wenn er schreibt: »Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen« KrV B 478.40 Die Stützung der These steht somit auf einem unsicheren Boden. Die Darlegung der Antithesis – es gäbe keine Freiheitskausalität – führt vor Augen, was es bedeuten würde, wenn wir das Phänomen der Freiheit annehmen würden: es käme dabei ein »leeres Gedankending« heraus. Denn wenn die transzendentale Freiheit als ein spontaner Anfang einer Reihe der Erscheinungen definiert wird, fällt damit unversehens die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung weg. Wenn alles in der Natur ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, sprich: jeder Zustand hat notwendigerweise seinen Grund in einem anderen Zustand, dann stellt Freiheit einen »voraussetzungslosen Zustand« dar, mithin etwas, was es in der Erfahrung nicht geben kann. Natur bedeutet Gesetzmäßigkeit, Freiheit lediglich Gesetzlosigkeit.41 Freiheit als Unabhängigkeit von den Gesetzen der Natur sei »eine Befreiung 40 Auch wenn Kant offensichtlich keinen grundsätzlichen strukturellen Unterschied zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Freiheit sieht, wie die Ausführungen in der Religionslehre Pölitz nahe legen (AA XXVIII, 1066 ff.). Vgl. dazu D. Schönecker: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 70–74. Die Annahme einer gleichen Verfassung der göttlichen und der menschlichen Freiheit lässt sich immerhin problematisieren, legte man Kants Bestimmungen des Unterschied zwischen einer göttlichen und menschlichen Vernunft zu Grunde. Die Vernunft als »absolute Spontaneität« steht mit der Freiheit in enger Verknüpfung. Auch wenn man von einer grundsätzlichen Ähnlichkeit auch im Hinblick auf die Vernunft ausgehen kann, macht Kant einen klaren Unterschied aus. Die göttliche Vernunft wird als ein intellectus originarius und archetypus bestimmt, der die Dinge nicht voraussetzt, sondern sie möglich macht. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der menschlichen Vernunft lediglich um einen intellectus derivativus und ectypus, der auf Äußeres und Gegebenes – trotz seiner Spontaneität – angewiesen ist. Vgl. dazu KU B 350 f. und Refl 6041 (AA XVIII, 431). Wäre es völlig von der Hand zu weisen, diese Unterscheidung ebenfalls auf die Charakterisierung von göttlicher und menschlicher Freiheit zu übertragen? 41 Vgl. KrV B 475. Dass Freiheit »Gesetzlosigkeit« darstellt, darf an dieser Stelle nicht im praktisch-moralischen Sinne verstanden werden. Es drückt lediglich einen negativen Begriff von Freiheit aus, nämlich Gesetzlosigkeit, jedoch immer nur angesichts der Naturkausalität. Vgl. dazu G. Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, 42 ff. Die Gesetzlosigkeit der Freiheit stellt mitnichten eine Gesetzlosigkeit an sich dar, da der Wille den Gesetzen der praktischen
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vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln«, an dem jedoch »allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist« (KrV B 475). So stehen sich zwei theoretisch wahre Sätze unversöhnlich gegenüber, auch wenn für die Thesis schwächere Argumente sprechen als für die Antithesis. Kant kennzeichnet diesen Widerstreit der Sätze als ein Streit zwischen Empirismus (für den steht die Antithesis) und einem dogmatischen Rationalismus (vertreten durch die Thesis). Entscheidend ist die kritische Lösung, die Kant vorträgt. Interessanterweise taucht also die Freiheit des menschlichen Willens in der Kritik der reinen Vernunft – in ausgearbeiteter Form – zuerst im Rahmen einer kosmologischen Problematik auf. In der Auflösung der Antinomie wiederholt Kant erneut seine ›Definition‹ der Freiheit als eines »Vermögen[s], einen Zustand von selbst anzufangen«. Freiheit ist in diesem Sinne eine transzendentale Idee, die »erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann« (KrV B 561). Der rigorose Ausschluss der Erfahrung im Hinblick auf die transzendentale Freiheit hat einen guten Grund: die Freiheit – verstanden als transzendentale Idee – steht nicht innerhalb der Naturkausalität, kann als absolut spontanes Vermögen nicht auf eine vorgängige Ursache zurückgeführt werden, kann also auch eo ipso nicht in der Erfahrung angetroffen werden. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Freiheit und ihrer Erfahrbarkeit ist in Kants System von entscheidender Bedeutung und stellt in der Kritik der reinen Vernunft (und darüber hinaus) ein Problem dar, wie aus dem Widerspruch zwischen den Abschnitten in der Dialektik und im Kanon bezüglich dieser Frage deutlich zu sehen ist. Die Problematik der ›Erfahrbarkeit‹ der Freiheit des menschlichen Willens wird uns noch beschäftigen. Für die Möglichkeit der Kompatibilität der Kausalität der Natur und der der Freiheit ist die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich entscheidend. »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (KrV B 564) – falls Erscheinungen mit Dingen an sich identisch wären, würde die Naturkausalität die ganze Wirklichkeit durchgehend bestimmen und für eine Freiheit wäre kein Platz. Als Konsequenz dieser Unterscheidung kann auch der Mensch als Erscheinung und zugleich als ein Ding an sich angesehen werden. Dem Menschen ist folglich ein doppelter Charakter zu eigen: als Mitglied der empirischen Sinnenwelt besitzt er einen empirischen Charakter; aufrund seiner freien Kausalität steht er jedoch auch außerhalb der sinnlichen Welt42 und hat insofern einen Vernunft unterliegt. In der KpV A 167 f. sagt Kant, dass »man praktische Freiheit auch durch Unabhängigkeit des Willens, von jedem anderen, außer alleine dem moralischen Gesetze, definieren könnte«. 42 Mit der Rede von den zwei Welten (der sinnlichen und übersinnlichen), denen der Mensch angehört, möchte Kant weder eine ontologisch ausgerichtete ›Zwei-Welten-Lehre‹ einführen, noch eine neue ›Hinterwelt‹ errichten: »Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktischen zu denken« (GMS BA 119).
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intelligiblen Charakter.43 Unter dem Aspekt der Kausalität kann man den Menschen in doppelter Hinsicht betrachten: »als intelligibel nach ihrer [der Kausalität] Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt« (KrV B 566). Laut Kant müssen wir eine Handlung aus Freiheit als intelligibel ansehen, die Wirkungen dieser Handlung spielen sich jedoch innerhalb der Naturkausalität ab, sind somit als Erscheinung sichtbar und erfahrbar. Falls Freiheit keine bloße theoretische Chimäre bleiben soll, muss sie ja auf die Welt der Erscheinungen – deren Teil der Mensch selber ist – Einfluss nehmen können.44 Die Freiheit im transzendentalen Sinne ist etwas, was wir vorauszusetzen genötigt sind, deren Wirklichkeit wir jedoch nicht nachweisen können. Die Auflösung der dritten Antinomie endet mit einem vorerst negativen Resultat, in dem Kant festhält, er habe weder die Wirklichkeit (»als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten«) noch die Möglichkeit (»weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Kausalität, aus bloßen Begriffen a priori, die Möglichkeit erkennen können«) der Freiheit dartun wollen (vgl. KrV B 585 f.). Dieses negative Ergebnis bezieht sich alleine auf die Freiheit im transzendentalen Sinne, von der wir in theoretischer Hinsicht nur die Nicht-Unmöglichkeit behaupten können. Die Nichtbeweisbarkeit der transzendentalen Freiheit hat sogar einen guten Grund, denn falls sie als eine andere Kausalität als diejenige sein soll, die sich in der Natur ereignet, kann sie in der Art der ›Erfahrungsgesetze‹ nicht dargestellt werden. Ob sich die Situation bei der praktischen Freiheit anders darstellt, wird das Thema des nächsten Kapitels sein.
43 Paul Ricœur, der eine originelle Interpretation und Weiterführung von Kants Theorie des radikal Bösen entwickelt, sieht in der doppelten Angehörigkeit des Menschen zur sinnlichen und intelligiblen Welt einen »gleichsam existentiellen Spalt, der die Zerbrechlichkeit des Menschen ausmacht«. Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit des Menschen, 104. Die Zerbrechlichkeit des Menschen macht in ihren verschiedenen Facetten die Fehlbarkeit der menschlichen Natur aus, die den Ort des Einbruchs des Bösen darstellt. Vergleiche dazu das Unterkapitel Kant und Ricœur im zweiten Teil Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz. 44 Vgl. z. B. KrV B 575 f.: »Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. […] Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. Nun muß die Handlung allerdings unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung.«
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b) Praktische Freiheit In der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft bestimmt Kant die praktische Freiheit als »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«,45 deren Begriff sich auf die transzendentale Freiheit gründe (KrV B 561 f.). Im Gegensatz zur transzendentalen Freiheit geht es in der praktischen Freiheit um die Bestimmung der Beziehung des freien menschlichen Willens im Bezug auf die Sinnlichkeit. Dass der Mensch durch die Sinne affiziert wird, stellt eine triviale Feststellung dar. Er ist dadurch jedoch nicht festgelegt, sondern kann sich auch gegenüber den Einflüssen der Sinnlichkeit frei verhalten. In dieser ersten Bestimmung wird die praktische Freiheit in einer sehr engen Verzahnung mit der transzendentalen Freiheit vorgestellt, sodass Kant sagen kann, die Aufhebung der transzendentalen Freiheit würde zugleich alle praktische Freiheit vertilgen (vgl. KrV B 562). Und umgekehrt gilt laut der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft: wenn es zu zeigen gelingt, dass die reine Vernunft für sich praktisch ist, dann steht »die transzendentale Freiheit nunmehro fest« (KpV A 4). Im Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft nimmt der Text eine überraschende Wendung, wenn es nun heißt, das Praktische46 – vorgestellt als notwendigerweise mit dem Gefühl der Lust und Unlust verbunden – gehöre nicht zum Gebiet der Transzendentalphilosophie.47 Noch ein stärkerer Gegensatz zum Dialektik-Abschnitt ergibt sich, wenn nun Kant im Kanonstück lapidar feststellt: »Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden« (B 830) und noch schärfer »wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst […] von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert« (B 831). Wie eine praktische Freiheit, die als auf die transzendentale basierend vorgestellt worden ist, plötzlich nach der scharfen Trennung zwischen der Kausalität der Natur und der Kausalität der Freiheit als »eine von den Naturursachen« sein soll, bleibt ein unauflösbares Rätsel.48 Es ist an dieser Stelle überhaupt nicht sichtbar, wie und warum 45 In der Kritik der praktischen Vernunft wird die praktische Freiheit als »Unabhängigkeit des Willens, von jedem anderen, außer allein dem moralischen Gesetze« (A 167 f.) definiert. Wenn jedoch Kant in der zweiten Kritik über Freiheit spricht, ist meistens – in der Terminologie der ersten Kritik – eine transzendental-praktische gemeint. 46 Wenn es heißt, »praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist« (KrV B 828), dann handelt sich um eine inkonsequente Redeweise. Denn strenggenommen müsste unter »Freiheit« auch die transzendentale gemeint sein, die aber wohl zur Transzendentalenphilosophie gehört. Falls wir jedoch das Wort »praktisch« akzentuieren, müsste es heißen, »praktisch ist alles, was durch die praktische Freiheit möglich ist«, was auf eine Tautologie hinauslaufen würde. 47 Vgl. KrV B 829 und B 831 f. 48 Immerhin hält es Kant in der Kritik der praktischen Vernunft für erlaubt, »die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen«, sofern man sich allerdings
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uns die praktische Freiheit in der Erfahrung gegeben ist und um welche Art der Erfahrung es sich handelt. Dieses Problem wird erst in der Kritik der praktischen Vernunft einer endgültigen Klärung zugeführt. Für die Zwecke unserer Untersuchung reicht es aus, auf die Widersprüche in der Bestimmung der Freiheit in der ersten Kritik hinzuweisen, ohne sie im Einzelnen zu untersuchen. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.49 Zwei Hinweise zur Interpretation seien jedoch genannt. Die sich widersprechenden Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft können erstens von der späteren entwickelten Praktischen Philosophie gelesen werden, in der Kant für sich und sein philosophisches System eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Zuordnung von Freiheit und Erfahrung gefunden hat. Die schon klassisch gewordenen Stelle lautet: »Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz«. Die Freiheit ist »die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit« (KpV A 5). Festgehalten sei jedoch die Tatsache, dass von dieser eindeutigen Zuordnung die erste Kritik noch weit entfernt ist. Zweitens lässt sich angesichts der begrifflichen Unschärfen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen im Hinblick auf die Bestimmung der Freiheit eine schwache Lesart der kritischen Stellen im Kanon in Anspruch nehmen. Dass die praktische Freiheit »durch Erfahrung bewiesen« und »erkannt« werden kann, lässt sich im Sinne einer Tatsache, eben einer alltäglichen Erfahrung lesen. Der Mensch wird unter zweierlei Hinsicht gesehen – als Mitglied der intelligiblen Welt hat er einen intelligiblen Charakter und als Teil der empirischen Welt besitzt er einen empirischen Charakter. Eine Handlung aus einem freien Willen heraus hat eine intelligible Ursache, aber die Handlung selbst als ein »Phänomen der Äußerung« des Willens
dabei alleine auf die Form der Gesetzmäßigkeit bezieht: »Er [der Verstand] hat es also jederzeit bei der Hand, nur daß er in Fällen, wo die Kausalität aus Freiheit beurteilt werden soll, jenes Naturgesetz bloß zum Typus eines Gesetzes der Freiheit macht, weil er, ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte.« (KpV A 123) 49 Eine sehr detaillierte und anregende Studie Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit hat diesem »Kanonproblem« Dieter Schönecker gewidmet. Schönecker thematisiert allem voran die sich widersprechenden Passagen der Dialektik und des Kanons in der Kritik der reinen Vernunft unter Heranziehung der kantischen Schriften bis zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Nach 1785 wurde ja die Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs beseitigt. Mit der Unterscheidung zwischen einem Theorie- und einem Praxiskontext (vgl. D. Schönecker: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 20), in dessen Rahmen die jeweiligen Ausführungen zur Freiheit gelesen werden müssen, versucht die Untersuchung von Schönecker zu zeigen, dass Kant je nach Kontext unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet. Das Problem, wie eine praktische Freiheit gemäß der Charakterisierung im Kanonabschnitt, eine Grundlage der Moralität abgeben kann, bleibt nach Schönecker unlösbar (vgl. ebd., v. a. das Kapitel Freiheit und Moral im Kanon, 106–165).
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wird alleine in der empirischen Erscheinungswelt angetroffen.50 Und eben in diesen unseren alltäglichen Erfahrungen nehmen wir uns als freie Wesen wahr.51 Dies ist zugegeben eine sehr schwache Lesart des Freiheitsbegriffs. Diese alltägliche Erfahrung der Freiheit lässt sich aber doch mit dem späteren »einzigen Faktum der reinen Vernunft« (KpV A 56) verbinden. Denn Kant beruft sich unentwegt auf das jedermann zugängliche Bewusstsein eines moralischen Sollens. Das Moralgesetz tritt als Erfahrung eines moralischen Bewusstseins unversehens auf, die jedem Menschen zugänglich ist. Eben dadurch zeigt sich die Wirklichkeit der Freiheit.
c) Freiheit als Postulat Noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bekennt Kant sein Unwissen darüber, »wie Freiheit möglich sei« (GMS BA 120). Ebenso unbegreiflich stellt sich die unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs dar.52 Am Ende der Grundlegung steht aber ein Satz, der für die gesamte Praktische Philosophie Gültigkeit beanspruchen kann: »wir begreifen« alleine die »Unbegreiflichkeit« des objektiv geltenden moralischen Gesetzes.53 Auch wenn sich in der späteren Kritik der praktischen Vernunft Kant einer Lösung des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Moralgesetz bewusst wird, bleibt trotzdem die Unbegreiflichkeit eben jenes unbedingt geltenden Gesetzes bestehen. Aus diesem und keinem anderen Grund nennt Kant das »Faktum der reinen Vernunft« befremdlich.54 In der Kritik der praktischen Vernunft wird die Suche nach der ›Beweisbarkeit‹ der Freiheit umgedreht. Nicht mehr wird zuerst nach der Darstellung der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit gefahndet, um dadurch auch die praktische wirklich zu machen. Der praktische Begriff der Freiheit macht nun den Anfang, indem er sich durch die Gegebenheit eines moralischen Gesetzes »offenbart«. Kant verwendet in der zweiten Kritik meistens nur den Begriff der »Freiheit«, ohne nochmals zwischen transzendentaler oder praktischer Freiheit zu unterscheiden. Von
50 Vgl.
KrV B 826. Vgl. dazu z. B. D. Schönecker: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 89. 52 Ähnlich in der KpV A 79 f.: »Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit, möglich ist, läßt sich nicht weiter erklären, nur die Zuverlässigkeit derselben in der theoretischen Kritik gar wohl verteidigen.« 53 Vgl. GMS BA 128. Vgl. auch RGV B 209: »So ist die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmbarkeit seiner Willkür durch das unbedingt moralische Gesetz kund wird, kein Geheimnis, weil ihr Erkenntnis jedermann mitgeteilt werden kann; der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist ein Geheimnis, weil er uns zur Erkenntnis nicht gegeben ist. Aber eben diese Freiheit ist auch allein dasjenige, was, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft, die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks, angewandt wird, uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt.« 54 Vgl. dagegen G. Prauss: Kant über Freiheit, 68. 51
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der inhaltlichen Beschreibung und von dem inhaltlichen Zusammenhang her, in dem der Begriff der Freiheit verwendet wird, ist davon auszugehen, Kant meine mit Freiheit eine transzendental-praktische. Denn, wie es in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft heißt, wenn es reine praktische Vernunft gibt, d. h. wenn es gelingt zu zeigen, dass die reine Vernunft praktisch ist, dann steht auch die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit fest.55 Nun ist in der faktischen Gegebenheit des unbedingt geltenden Sittengesetzes, das sich die Vernunft selber gibt, das eben Verlangte geglückt, wie im Kapitel zur »Unbedingtheit des Sollens« noch zu zeigen sein wird. Durch die Faktizität der Erfahrung eines moralischen Sollens wird auch der Begriff der Freiheit »wirklich«. Die bloß als Idee gedachte Freiheit wird nun »durch ein Faktum bestätigt« (KpV A 9). So ergibt sich eine fast paradox anmutende Situation, wenn Kant sagt, die Freiheit sei die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, »wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen« (KpV A 5). In der Kritik der Urteilskraft wird die Freiheit sogar unter die Tatsachen gerechnet (wenn auch in einem erweiterten Sinne) und als ein »Scibilium« bezeichnet (KU B 457): »Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die sich an keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besondern Art von Kausalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft, und, diesen gemäß, in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung, dartun läßt. – Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist, und unter die Scibilia mit gerechnet werden muß.« Kant selber bezeichnet das Faktum des moralischen Bewusstseins und das Offenbarwerden der Freiheit durch das Moralgesetz sogar als einen »archimedischen Punkt«: »Hier ist nun das, was Archimedes bedurfte, aber nicht fand: ein fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann, und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige noch eine künftige Welt, sondern bloß an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage darliegt, anzulegen, um den menschlichen Willen, selbst beim Widerstande der ganzen Natur, durch ihre Grundsätze zu bewegen.« (VT A 419) Die Konzeption Kants greift auf die menschliche Erfahrung zurück und versucht die Quelle der Moralität als solche freizulegen und plausibel zu machen. Das uns unmittelbar gegebene und unbedingt geltende moralische Gesetz wird nun »selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens«, der Freiheit.56 Das Sittengesetz sichert so dem Begriffe der Freiheit, der als Idee in der theoretischen Vernunft quasi
55 Vgl. 56 Vgl.
KpV A 3 f. KpV A 82.
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nur einen leeren Platz bereithalten konnte, »objektive« und »unbezweifelte Realität«, wenn auch nur in praktischer Hinsicht. So lassen sich die in der ersten Kritik noch problematische Sätze im Lichte der zweiten Kritik interpretieren, in der der Zusammenhang zwischen der Erfahrung des moralischen Bewusstseins und dem unbedingt geltenden moralischen Gesetz einer klaren Lösung zugeführt wird: »daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei« (KpV A 5). Das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewusst sind, führt auf den Begriff der Freiheit, sodass Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz wechselweise auf einander verweisen, wie Kant sagt.57 Der Beweis für die Wirklichkeit der Freiheit lässt sich nach Kant alleine auf dem moralisch-praktischen Weg durchführen: »Ein Beweis von ihrer Wirklichkeit [der Freiheit] kann schlechterdings nicht, weder in einer unmittelbaren noch mittelbaren Erfahrung, angetroffen werden; und ohne allen Beweis kann man sie doch auch nicht annehmen. Da nun ein Beweis derselben nicht aus bloß theoretischen Gründen (denn diese würden in der Erfahrung gesucht werden müssen), mithin aus bloß praktischen Vernunftsätzen, aber auch nicht aus technisch-praktischen (denn die würden wieder Erfahrungsgründe erfordern), folglich nur aus moralisch-praktischen geführt werden kann […].« (TP A 225 Anm.).58 Die Erfahrung des moralischen Bewusstseins stellt keine empirische Erfahrung dar, sondern es handelt sich um eine Erfahrung sui generis, um eine besondere Erfahrung. Laut Kant sind wir nicht nur berechtigt, sondern geradezu gezwungen, aus der faktisch-praktischen Gegebenheit des Moralgesetzes heraus auch die theoretische Möglichkeit der Freiheit anzunehmen. Das ist der Sinn eines Postulats der reinen praktischen Vernunft, worunter Kant »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz« versteht, »sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220). Bekannterweise gibt es drei Postulate: Freiheit, Unsterblichkeit, Dasein Gottes. Postulate sind aber theoretisch nicht nachweisbar, stellen in diesem Sinne keine »theoretische[n] Dogmata« dar. Die Unmöglichkeit einer spekulativen dogmatischen Metaphysik wurde von Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft aufgezeigt.59 Die Postulate sind lediglich 57 Vgl.
KpV A 52. ebenfalls RGV B 219 Anm. »Daher wir, was Freiheit sei, in praktischer Beziehung (wenn von Pflicht die Rede ist) gar wohl verstehen, in theoretischer Absicht aber, was die Kausalität derselben (gleichsam ihre Natur) betrifft, ohne Widerspruch nicht einmal daran denken können, sie verstehen zu wollen.« 59 Im 3. Hauptstück des zweiten Buchs der Dialektik wird die Unmöglichkeit eines ontologischen, eines kosmologischen und eines physikotheologischen Beweises des Daseins Gottes dargelegt (vgl. KrV B 620–B 658). Die Kritik der traditionellen Gottesbeweise trägt Kant bereits in seiner ›vorkritischen‹ Philosophie vor, hält aber an der Möglichkeit eines theoretischen »mit mathematischer Evidenz« geführten Beweises vom Dasein Gottes fest. Einen solchen Beweis findet man z. B. in der 1763 veröffentlichten Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Allerdings sind auch schon da gewisse skeptische 58 Vgl.
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»Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht« (KpV A 238). Innerhalb der kantischen Postulatenlehre finden wir eine gewisse Asymmetrie zwischen den einzelnen Postulaten: das Postulat der Freiheit nimmt gegenüber den Postulaten der Unsterblichkeit und des Daseins Gottes eine herausragende und vorrangige Stellung. Ein erster formaler Hinweis liegt in der – allgemein bekannten – expliziten Nichtbehandlung des Freiheitspostulats in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Im Abschnitt IV. und V. des zweiten Hauptstücks wird zwar die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft behandelt, das Postulat der Freiheit sucht man indessen vergebens. Im darauffolgenden Abschnitt ist jedoch wieder von allen drei Postulaten die Rede, als ob Kant selber nicht einmal gemerkt hätte, dass eine explizite Behandlung des Freiheitspostulats fehlt. Inhaltlich jedoch wurde die Freiheit als Postulat vom Beginn der Kritik der praktischen Vernunft an behandelt. Freiheit scheint in einem anderen Sinne Postulat zu sein, als es die übrigen beiden sind: die Idee der Freiheit stellt nämlich »die Bedingung des moralischen Gesetzes« (als eine vorgängige Bedingung, die aber erst nachträglich sichtbar wird) dar, wogegen die Ideen von Gott und Unsterblichkeit nur als »Bedingungen des notwendigen Objekts eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens« (KpV A 5 f.) fungieren, das heißt als Bedingungen zum Erreichen des höchsten Guts. Und nur deshalb kann Kant sagen: »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität […].« (KpV A 4) Die Postulate des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit setzen die Freiheit als eine gegebene voraus. Erst durch die Freiheit bekommen sie, wie Kant sagt, objektive Realität, wenn auch nur in praktischer Hinsicht. Erst nachdem sich der Wille durch das faktische Auftreten eines moralischen Sollens als frei erwies, kann über die Bedingungen zur Erreichung des höchsten Guts gesprochen werden, das sich der Mensch zum Objekt seines Willens machen soll. Die Verwirklichung des höchsten vollendeten Guts kann alleine unter der Annahme der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes gedacht werden.
Exkurs: Freiheit und Schöpfung Es wurde bereits deutlich, wie Kant die Freiheit des Menschen unter den Bedingungen der Naturkausalität zu denken versucht. Als Sinnenwesen unterliegt der Mensch den Gesetzmäßigkeiten der Natur, als intelligibles Wesen zeigt er sich von Momente gegenüber seinem eigenen Vorhaben spürbar. Vgl. dazu J. Sirovátka: Kants langer Weg zur kritischen Metaphysik und zur Gottesfrage, 50–54.
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dieser Naturkausalität unabhängig und verfügt über die Fähigkeit, eine Kausalreihe selbst anzufangen. Die höchste Form der Freiheit stellt die Freiheit für das Sittengesetz dar, in der der Mensch seiner höchsten moralischen Bestimmung gerecht wird. Neben der deterministischen Auffassung der Naturkausalität erörtert Kant noch eine andere Vorstellung, die sich als eine Gefahr für die Freiheit des Menschen herausstellen könnte: die völlige Determiniertheit der menschlichen Handlungen durch Gott. Gott wird in seiner Schöpferfunktion als ein »allgemeines Urwesen« vorgestellt, das die »Ursache auch der Existenz der Substanz [des Subjekts]« abgibt (vgl. KpV A 180).60 In dieser Vorstellung hätten die menschlichen Handlungen ihren bestimmenden Grund nicht in der eigenen freiheitlichen Kausalität, sondern in der eines Gottes, d. h. in einem Grund, der völlig außerhalb der Macht des Menschen steht. Mit dieser vollkommenen Abhängigkeit der Handlungen von einer göttlichen Kausalität wäre der Mensch lediglich eine »Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat« (KpV A 181). Wie in der Kritik der praktischen Vernunft so auch in der Religionsschrift ringt Kant mit der Frage der Vereinbarkeit des Begriffs der Freiheit mit dem Begriff eines Schöpfergottes. Für die Vernunft ist es unbegreiflich, wie ein Wesen erschaffen werden konnte, das mit einer freien Kausalität ausgestattet ist (RGV B 215 f.): »weil wir, nach dem Prinzip der Kausalität, einem Wesen, das als hervorgebracht angenommen wird, keinen andern innern Grund seiner Handlungen beilegen können, als denjenigen, welchen die hervorbringende Ursache in dasselbe gelegt hat, durch welchen (mithin durch eine äußere Ursache) dann auch jede Handlung desselben bestimmt, mithin dieses Wesen selbst nicht frei sein würde.« Offenbar entzieht sich unserer Vernunfteinsicht, wie »göttliche, heilige, mithin bloß freie Wesen angehende Gesetzgebung mit dem Begriffe einer Schöpfung derselben« in Einklang zu bringen ist. Wir können nicht einmal beim Menschen die Ursachen erklären, »aus welchen eine freie Handlung auf Erden geschehe oder auch nicht geschehe« (RGV B 218). Diese überaus skeptische Einschätzung bezüglich der Erklärbarkeit eines geschaffenen und dennoch freien Menschen wird doch ein wenig relativiert, indem Kant eine mögliche Lösung anbietet. Der Schlüssel zur Auflösung der ganzen Problematik liegt im Verständnis des Begriffs der Schöpfung und im Begriff der Kausalität. Zuerst muss festgehalten werden, dass die faktische Gegebenheit der menschlichen Freiheit, die sich durch das auftretende moralische Bewusstsein zeigt, einen unausweichlichen Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen abgibt. Wie verträgt sich nun diese festgestellte Freiheit mit dem Begriff der Schöpfung? Wenn es heißt, es wäre ein Widerspruch zu sagen, »Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen« (vgl. KpV A 183), muss man sich in Erinnerung rufen, wie Kant die Schöpfung der natürlichen Welt und des ganzen Kosmos betrachtet. Diese Frage beschäftigt Kant sehr früh und wird vor allem in seinen frühen naturwissenschaftlichen Schriften behandelt. Etwa in der Allgemeine[n] 60 Diese Problematik behandelt Kant bereits in den Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz); AA XXVIII. Vgl. dazu D. Schönecker: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 34–38.
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Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt aus dem Jahre 1755 wird die Frage aufgeworfen, wie eine mit naturwissenschaftlichen Methoden beschreibbare Welt als eine Schöpfung denkbar sei. Kant versucht zu zeigen, dass die beiden Beschreibungen der Welt – die naturwissenschaftliche und die theologische – miteinander kompatibel sind. Dabei hält sich Kant an den Grundsatz, keine Phänomene der Welt metaphysisch zu erklären, wenn sie auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden können. Kant zeigt sich überzeugt, »daß die Anordnung und Einrichtung der Weltgebäude aus dem Vorrathe des erschaffenen Naturstoffes in einer Folge der Zeit nach und nach geschehe; allein die Grundmaterie selber, deren Eigenschaften und Kräfte allen Veränderungen zum Grunde liegen, ist eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseins«.61 Das direkte göttliche Wirken muss (und darf) nicht in der späteren Entwicklung angenommen werden. Für eine befriedigende vernünftige Erklärung ist es ausreichend, das Wirken Gottes an den Anfang zu legen. Die Materie hat zwar die Prinzipien ihrer Entfaltung von Gott erhalten, ihre Entwicklung geschieht jedoch weitgehend selbstbestimmt, gemäß der inneren Anordnung und den Gesetzmäßigkeiten, die der Materie als solche eigen sind.62 Parallel zu dieser Schöpfung der Natur ist nun die Schöpfung der Freiheit zu betrachten. Die Schöpfung betrifft nicht die sensible Existenz des Menschen, sondern lediglich die intelligible. Gott kann als Schöpfer laut Kant gar nicht die Ursache für die Handlungen in der Sinnenwelt abgeben: »Wenn die Existenz in der Zeit eine bloße sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist, folglich sie, als Dinge an sich selbst, nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst; weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann. Folglich, wenn ich von Wesen in der Sinnenwelt sage: sie sind erschaffen; so betrachte ich sie so fern als Noumenen.« (KpV A 183)63 Auch wenn Kant seine Auf61 NTH A 107. 62 Vgl. R. Theis: Gott, 99: »Kant nimmt also Gott aus der in aktualer Ordnung sich konstituierenden Welt heraus (contra Newton) und setzt ihn als Ursache der Möglichkeit von Ordnung. Gott ist somit im eigentlichen Sinne nicht Prinzip von Ordnung (das sind die der Materie innewohnenden Gesetze), sondern deren Metaprinzip.« 63 Trotz der geäußerten Skepsis, den Begriff der Freiheit als eines geschaffenes Vermögens theoretisch zu fassen, hält Kant überraschenderweise an einer anderen Stelle der Religionsschrift eine Lösung parat, die in der von der zweiten Kritik vorgezeichneten Richtung verläuft (RGV B 58 f.): »Der Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem notwendigen Wesen, zu vereinigen hat gar keine Schwierigkeit; weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determiniert sei), d. i. nicht im Indeterminism (daß Gutes oder Böses zu tun Gott gleich möglich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminism Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin
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lösung der Problematik der Vereinbarkeit eines freien Wesens als eines Geschöpfs mit einer göttlichen schöpferischen Ursächlichkeit »kurz und einleuchtend« nennt, folgt sogleich die Relativierung dieser optimistischen Einschätzung. Kant sieht, dass seine vorgetragene Auflösung doch »viel Schweres in sich« hat und einer »hellen Darstellung kaum empfänglich« ist.64 Folgendes bleibt festzuhalten: Gott kann als Schöpfer der Freiheit alleine auf der Ebene des Intelligiblen angesehen werden. Die Freiheit als Noumenon kann zwar als geschaffen vorgestellt werden, als absolut spontane Kausalität jedoch, die eine Kausalreihe (die dann der Naturkausalität unterworfen ist) selber in Gang bringen kann, ist sie für die Handlungen in der Sinnenwelt selber verantwortlich. In der später erschienenen Metaphysik der Sitten versucht sich Kant erneut an einer Antwort, indem er vom Begriff der Kausalität ausgeht. Im Rahmen der Rechtslehre (MSRL B 112) sagt Kant, dass man sich auch von der natürlichen Zeugung einer Person keinen Begriff machen kann, außer in praktischer Hinsicht. Ähnlich müssen wir uns laut Kant auch die Schöpfung eines freien Wesens begreiflich machen. Zwischen der Vorstellung der Schöpfung und der Vorstellung des Menschen als eines freien Wesens besteht nur dem Anschein nach ein Widerspruch. Der springende Punkt bildet die Kategorie der Kausalität. Die Kategorie der Kausalität darf im Bereich des Übersinnlichen, zu dem die Freiheit als Noumenon gehört, nicht wie in der Sinnewelt notwendig mit »Zeitbedingung« verknüpft werden. Nach Kant verschwinde also der Widerspruch im Begriff der Schöpfung freier Wesen, »wenn, in moralisch-praktischer, mithin nicht-sinnlicher Absicht, die reine Kategorie (ohne ein ihr untergelegtes Schema) im Schöpfungsbegriffe gebraucht wird« (MSRL B 114).
1.2 Die Unbedingtheit des Sollens In seiner praktischen Philosophie geht Kant – oft auch unausgesprochen – von der phänomenologischen Beobachtung des Lebens aus, die er mit seinem transzendentalen Fragen kombiniert. Ebenso verfährt er in seiner moralphilosophischen Konzeption, in der er sich an vielen Stellen und immer wieder auf sittliche Urteile eines jeden Menschen beruft. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entfaltet Kant seine Analysen zur »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« im Ausgang von der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis«.65 Kant zeigt sich überzeugt, dass die »gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurteilung« mit der Bestimmung des höchsten moralischen Prinzips durch die so, daß jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt; da dann, weil in Gott keine Zeitfolge zu denken ist, dieses Schwierigkeit wegfällt.« 64 Vgl. KpV A 184. 65 Vgl. GMS BA XV.
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Philosophie übereinstimmt. Die Philosophen können auch nicht ein neues Moralprinzip (er)finden, denn die Moral ist von Beginn des Menschengeschlechts Sache eines jeden. Es bedürfe keiner Wissenschaft und keiner Philosophie, »um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar, um weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich auch wohl schon im voraus vermuten, daß die Kenntnis dessen, was zu tun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen Sache sein werde« (GMS BA 21).66 So gelangt die »moralische Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft« zu demselben Prinzip der Moralität wie die Philosophie, nur denkt sie sich dieses Prinzip nicht in solch allgemeiner Form, hat es aber »doch jederzeit wirklich vor Augen« und gebraucht es »zum Richtmaße ihrer Beurteilung« (vgl. GMS BA 20). Mit der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft meint Kant nicht die kontingenten, kulturell bedingten Moralvorstellungen, denen jeder Mensch verhaftet ist und bleibt. Kant zielt auf ein »elementares Handlungswissen«,67 das jedem Menschen qua Vernunftwesen eigen ist und das er unwillkürlich in seinen Handlungen einsetzt und das ihm ermöglicht, über seine soziokulturelle Konditionierung hinaus autonom zu entscheiden und zu handeln. Dennoch benötigt nach Kants Meinung die »gemeine Menschenvernunft« der philosophischen Durchdringung, da sie sich allzu leicht in eine Dialektik verstrickt, indem sie sich von den Bedürfnissen und Neigungen verführen lässt, die dem Moralgesetz widerstreiten. Die einfache Menschenvernunft braucht die philosophische Wissenschaft, »nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen« (GMS BA 22 f.).
1.2.1 Die Faktizität des unbedingt geltenden Moralgesetzes Kant teilt mit Rousseau die Überzeugung, jeder Mensch besitze ein moralisches Bewusstsein. Die faktische Erfahrung des moralischen Bewusstseins – das Bewusstsein eines moralischen Gesetzes – stellt das fundamentum inconcussum der kritischen Praktischen Philosophie und somit auch der ganzen Philosophie Kants dar.68 Das Bewusstsein eines unbedingt gebietenden Sollens nennt Kant in der Kritik 66 Vgl. ebenso RGV B 280: »Nun gibt es aber ein praktisches Erkenntnis, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht, und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ab es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität.« 67 Vgl. dazu D. Schönecker/A. W. Wood: Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 19 f.: »Kant will darauf hinaus, daß – von pathologischen Fällen abgesehen – jeder Mensch als moralisch handelndes Subjekt, unabhängig von seiner Bildung oder gar seinem philosophischen Wissen, in der Lage ist, moralische Prinzipien zu verstehen und nach ihnen zu handeln.« 68 Vgl. M. Forschner: Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft, 155.
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der praktischen Vernunft das »einzige Faktum der reinen Vernunft«, das sich als »ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt« (KpV A 56). Dieses Faktum ist kein empirisches, es lässt sich »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft herausvernünfteln«, es drängt sich uns für sich selbst auf, es ist »unleugbar« und »ursprünglich gesetzgebend« (KpV 56 f.). Mit dem Faktum des moralischen Bewusstseins tritt etwas Neuartiges, etwas »ganz Widersinnisches« auf: das moralische Gesetz zeigt sich nämlich als ein schlechterdings »unerklärliches Faktum«, das weder »aus allen Datis der Sinnenwelt« noch aus »dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs« abgeleitet werden kann (vgl. KpV A 74 und A 82). Das moralische Gesetz als ein Faktum der reinen Vernunft steht »für sich selbst fest«, kann also nicht mittels einer Deduktion (»d. i. der Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit und der Einsicht der Möglichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori« KpV A 80) wie im Bereich der theoretischen Vernunft gefunden werden. Die praktische Vernunft sieht sich im Hinblick auf ihre Prinzipien auf »äußere Wirklichkeit« angewiesen, erlegt sich jedoch das Sittengesetz selbstgesetzgebend auf.69 Die Erfahrung des moralischen Bewusstseins wird von Kant anhand von »moralisch relevanten Situationen«70 aufgezeigt. In § 6 der Kritik der praktischen Vernunft, quasi als eine Hinführung zum »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«, geht Kant der Frage nach, womit die Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe. Den Anfang bildet die Erfahrung eines moralischen Bewusstseins, eines gebietenden Sollens. Kant schildert aufgrund von zwei Beispielen,71 dass wir uns in bestimmten »moralisch relevanten Situationen« des moralischen Gesetzes un69 Vgl. dazu N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 159: »Das Unbedingte, das sich in Gestalt eines nötigenden Anspruchs offenbart und keinem Entwurf der Vernunft entspringen kann, tritt ihr insofern als von außen kommende, als äußere Wirklichkeit entgegen. Da die Vernunft diesen Anspruch indessen ohne äußeren Zwang in sich selbst vernimmt und ihn gleichsam selbst auf sich ausübt, muß das Unbedingte, ohne einer Rechtfertigung zu bedürfen, auch als innere Wirklichkeit gedacht werden«. 70 Solche Situationen, durch deren Schilderung Kant die Entstehung des Bewusstseins eines unbedingt geltenden moralischen Gesetzes zu erläutern versucht, bezeichnet Norbert Fischer als »moralisch relevante Situationen«. Vgl. N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 151, 155, 176, 223. Zur Nähe zum Denkens von E. Levinas vergleiche Totalité et Infini, 24 und Ethique et Infini, 83 f. Über eine »moralisch-praktisch relevante Situation« spricht ebenfalls Bernd Dörflinger: Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants, 218. 71 Welche Rolle Beispiele generell in der Kantischen Philosophie spielen und welchen systematischen Ort sie einnehmen, ist in der Forschung umstritten. Man kann nicht alle Beispiele auf einen einzigen Nenner bringen. Für unseren Kontext ist das Beachten der Charaktere der Beispiele entscheidend. Dasjenige, was für die Beispiele in der Grundlegung gilt, kann ebenso auf diejenigen in der zweiten Kritik angewandt werden: es handelt sich um konstruierte Beispiele, die mit Absicht Menschen in extremen Lebenslagen zeigen, die sie zu einer grundsätzlichen moralischen Entscheidung drängen. Kant analysiert in diesen Bei-
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mittelbar bewusst werden. In dem bekannten Beispiel einer »moralisch relevanten Situation« wird ein Mensch von einem Fürst genötigt, unter Androhung der Todesstrafe ein falsches Zeugnis gegen einen schuldosen Mann abzulegen, den der Fürst vernichten will. Ob der Betroffene dem Druck des Fürsten widersteht, bleibt unausgemacht, er müsse jedoch einräumen, dass es ihm möglich ist, da er sich zugleich bewusst wird, dass er einen freien Willen besitzt.72 Indem ich etwas in einer konkreten Situation tun soll, wird mir zugleich bewusst, dass ich es kann. Das Bewusstsein eines Sollensanspruches, d. h. eines Moralgesetzes, führt zur Erfahrung der eigenen Freiheit. Mit der Annahme des Moralgesetzes als eines gegeben »Faktums der reinen Vernunft« gibt Kant zugleich zu, dass sein Bemühen um eine Deduktion des Sittengesetzes gescheitert ist. In einem analogen Verfahren zur Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft wollte Kant eine Deduktion der Grundsätze erreichen, mit denen die Kritik einer praktischen Vernunft anfangen muss, da sie sich nicht auf eine Erkenntnis der Gegenstände bezieht, sondern auf die Bestimmungsgründe des Willens: »Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelanget sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen […] werden. Daher kann uns im theoretischen Gebrauche der Vernunft nur Erfahrung dazu berechtigen, sie anzunehmen. Dieses Surrogat, statt einer Deduktion, aus Erkenntnisquellen a priori, empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens auch benommen. Denn, was den Beweisgrund seiner Wirklichkeit von der Erfahrung herzuholen bedarf, muß den Gründen seiner Möglichkeit nach von Erfahrungsprinzipien abhängig sein, für dergleichen aber reine und doch praktische Vernunft schon ihres Begriffs wegen unmöglich gehalten werden kann.« (KpV A 81) Dieses Scheitern der Deduktion mag man bedauern. Gerold Prauss hält sogar das Faktum der reinen Vernunft, die Faktizität des moralischen Bewusstseins als Ausgangspunkt und Basis für die Kantische praktische Philosophie sogar für eine »Verzweiflungstat Kants« und eine »Art Notlösung«.73 spielen »moralische Motivationen«, um aus ihnen den kategorischen Imperativ abzuleiten. Vgl. dazu D. Schönecker/A. W. Wood: Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 66 f. 72 Vgl. KpV A 54. Vgl. auch Anth BA 38, wo es heißt, dass was der Mensch »auf den Geheiß seiner moralisch-gebietenden Vernunft will, das soll er, folglich kann er es auch tun (denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten)«. 73 Vgl. G. Prauss: Kant über Freiheit, 67 f.: »Dieses fundamentale Scheitern aber vermochte ihn am Ende zu einem Schritt, der letztlich nur noch als Verzweiflungstat von Kant zu werten ist, nämlich sich selbst zu überreden, es sei zwar nicht ein allgemeines, wohl aber ein besonderes Gesetz der Freiheit aufzuweisen, eben ihr Moralgesetz, ›dessen wir uns unmittelbar bewußt werden‹. […] Obwohl mit seinem Namen unlösbar verbunden, steht gerade diese Formel [›Du kannst, denn du sollst‹] keineswegs für eine Konzeption der Praktischen Philosophie, die Kant etwa von vornherein anstrebt und demgemäß auch sozusagen aus freien Stücken vollendet. Vielmehr entschließt er sich zu dieser Konzeption erst ganz zuletzt und notgedrungen, nachdem ihm sämtliche Versuche, einen Weg zu jener Deduktion zu
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Für Kant stellt sich das Faktum der reinen Vernunft indes nicht als eine Notlösung dar, sondern als die Lösung schlechthin, auch wenn es für die Vernunft ein »befremdliches« Faktum bleibt. Die Befremdlichkeit74 hat aber vielleicht mehr mit der Unbedingtheit und Unbegreiflichkeit des moralischen Anspruchs zu tun als mit einem Hinweis auf die Verzweiflung Kants. In der Tat stellt indessen die Rede vom »Faktum der reinen Vernunft« innerhalb der Kantischen Konzeption auf den ersten Blick eine Überraschung dar. Reine Vernunft heißt nämlich a priori unabhängig von Erfahrung und nun wird von Kant behauptet, der Vernunft werde doch etwas als Faktum von außen vorgegeben. Dies ist zuerst bemerkenswert, wenn nicht tatsächlich befremdlich. Dass das seit der Kritik der praktischen Vernunft gefundene »Faktum« gegen die ursprüngliche Intention Kants verstößt, mag außer Frage stehen. Es ist jedoch vorstellbar, dass Kant mit dem »Faktum der reinen Vernunft« eine echte Entdeckung gemacht hat, indem er gesehen hat, dass die Vernunft in der Suche nach Deduktion der praktischen Grundsätze nicht so fortschreiten kann, wie sie will. Die Vernunft bleibt auch nach dieser ›Entdeckung‹ autonom, sieht sich jedoch auf etwas ›Äußeres‹ angewiesen. Die Entdeckung Kants könnte darin bestehen, dass der ethische Anspruch des Sollens durch die anderen Menschen herausgefordert wird. Das Faktum der reinen Vernunft würde so gesehen auf das empirische Faktum der Anwesenheit der Anderen verweisen. Auch die praktische Vernunft wäre in einem solche Fall, wie es schon bei der theoretischen der Fall war, aus Spontaneität und Rezeptivität zusammengesetzt. Die Charakterisierung des faktisch auftretenden Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft bekommt eine größere Plausibilität, wenn man sie mit den Ausführungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in Verbindung bringt. Dort fragt Kant nämlich entgegen seiner eigenen Bestimmung nach dem »Grund« eines möglichen kategorischen Imperativs, wie Norbert Fische richtigerweise bemerkt.75 Obwohl ein kategorischer Imperativ unbedingt gelten soll und folglich finden, fehlgeschlagen sind. Es kann sich dabei denn auch höchstens um eine Art Notlösung handeln, von welcher zudem noch zweifelhaft bleibt, ob sie überhaupt als Lösung anzusehen ist nicht vielmehr als Ausdruck bloßer Not.« Die Problematik des moralisch Bösen, die in der Tat ein gewaltiges Problem darstellt, nötigt Kant nach Prauss zu einer weiteren »Verzweiflungstat« in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Vgl. ebd., 111. Trotz der kritischen Vorbehalte, die gegen die Thesen von Prauss gemacht werden müssen, legen seine Ausführungen sehr präzise die wunden Punkte der Kantischen Konzeption offen. 74 Befremdlich bleibt nach Kant ebenfalls, wie eine »bloße Idee einer Gesetzmäßigkeit überhaupt eine mächtigere Triebfeder für dieselbe [für die Willkür] sein könne, als alle nur erdenkliche, die von Vorteilen hergenommen werden«. Die Willensbestimmung durch das unbedingt praktische Gesetz kann weder durch die Vernunft eingesehen werden noch durch Beispiele in der Erfahrung bewiesen werden, weil, »was das erste betrifft, das Gesetz unbedingt gebietet, und das zweite anlangend, wenn es auch nie einen Menschen gegeben hätte, die objektive Notwendigkeit, ein solcher zu sein, doch unvermindert und für sich selbst einleuchtet« (RGV B 77). 75 Vgl. dazu N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 172 f.
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auf keine Bedingungen angewiesen ist, erwägt Kant die Möglichkeit, dass es einen solchen Grund geben könnte. Er dürfte allerdings nur in einem »Dasein an sich selbst« gefunden werden, das als »Zweck an sich selbst« da ist. Bekannterweise wird der Grund des obersten praktischen Prinzips im Menschen als einem Zwecke an sich selbst gefunden: »Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst.« (GMS BA 66). Der Mensch hat aufgrund dieses Zweckes an sich selbst einen absoluten Wert. Insofern kann der Mensch »Person« genannt werden, deren »Natur [Hervorh. von Verf.] sie schon als Zweck[e] an sich selbst […] auszeichnet« (GMS BA 65). Kant erklärt nicht näher, was er in diesem Zusammenhang unter der Natur76 der Person versteht, es leuchtet jedoch ein, dass damit die moralische Natur des Menschen gemeint ist. Als ein Vernunftwesen, das den Grund der Güte in sich und aus sich heraus hat, ist der Mensch als Zweck an sich selbst anzusehen. So bin ich und jeder andere Mensch ein Zweck an sich selbst und dementsprechend zu behandeln. Es gilt: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (GMS BA 66 f.)77 Alle Menschen sind sich gleich und alle besitzen einen absoluten Wert und die gleiche Würde. Wenn wir erneut der Frage nachgehen »Wie das Sittengesetz ins Denken kommt«, erfährt diese gemeinsame Ebene der Gleichheit eine interessante, nicht minder wichtige Modifikation. In ei76 Der Begriff der »Natur« im Bezug auf den Menschen ist bei Kant mehrdeutig und findet sich im Werk Kants unter verschiedenen Namen wieder (wie etwa Natur des Menschen, Natur der Vernunft etc.). Daher muss der jeweilige Sinn aus dem Kontext heraus interpretiert werden. 77 Die andere Formulierung des kategorischen Imperativs »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (GMS BA 52) als auch die des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV A 54) bergen in sich die Gefahr, in der Verallgemeinerbarkeit der Maximen den Grund des kategorischen Imperativs zu sehen. Aus der Universalisierungsformel in der Grundlegung lassen sich jedoch keine Pflichten gegenüber den Anderen ableiten. Aus der bloßen Verallgemeinerbarkeit wird nämlich nicht einsichtig, »warum man nach Maximen handeln soll, von denen man wollen kann, daß sie allgemeines Gesetz werden«. Vgl. N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 163 und D. Schönecker/A. W. Wood: Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 127 ff. In diesem Sinne warnt auch Reinhard Brandt vor der »Universalisierungsfalle«, in die man schnell hineintappen kann: »Wäre die Moralität nicht in der identischen reinen praktischen Vernunft eines jeden begründet, sondern entspräche der Verallgemeinerung meiner inhaltlichen Maximen (›was alle wollen können‹), würde ich dem inhaltlichen Willen aller unterworfen und damit jeder Autonomie beraubt.« Vgl. R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen, 356 f. Wenn es in der Grundlegung heißt (GMS BA 57) – »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.« – so ist Fischer zuzustimmen, dass Kant »in der Verallgemeinerbarkeit der Maximen nicht den Grund, sondern nur ein Kennzeichen moralisch gebotener Maximen gesehen« hat. Vgl. N. Fischer: Autonomie und Heteronomie im Denken von Kant und Levinas, 317.
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ner moralisch relevanten Situation, die schon oben erwähnt worden ist, scheinen die beiden Protagonisten Zwecke an sich selbst in einem jeweils anderen Sinn zu fungieren. Ich als derjenige, an den sich das kategorische Sollen in der konkreten Situation richtet (und ethischer Anspruch richtet sich immer an mich, nicht an das »Ich«), bin Zweck an sich selbst als »Subjekt der Moralität«. Der Andere ist Zweck an sich selbst in dem Sinne, dass er Respekt und Achtung als Person fordert, die meine Freiheit herausfordert, also als »Objekt der Moralität«. Obwohl Kant stets von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, gerät diese gemeinsame Ebene in einer konkreten ethischen Situation in eine ›moralische‹ Asymmetrie, oder besser gesagt: aus der allen gemeinsamen Bestimmung als Zweck an sich selbst folgen in einer moralisch relevanten Situation für die Protagonisten unterschiedliche Konsequenzen. Ich als der Empfänger des ethischen Sollens stehe unter dem Anspruch des Anderen, der Achtung fordert. Der andere Mensch als objektiver Zweck stellt die »oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke«, die »oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen« dar.78 In einem solchen Moment steht es mir nicht zu, nachzudenken, wie er oder ein anderer Mensch mich als Zweck an sich selbst achtet, sondern ich soll den Anderen achten. Durch mein moralisches Verhalten dem Anderen gegenüber bin ich mir jedoch eben als Zweck an sich selbst gerecht geworden, dass ich aufgrund meiner Autonomie den Grund meiner Güte (dem Anderen gegenüber) in mir selbst habe. Ein weiteres Motiv der Philosophie Kants, das auf die anderen Menschen als Zwecke an sich selbst im Sinne der oben beschriebenen Interpretation hinweist, bildet das moralische Gefühl der Achtung. Ein Wille wird objektiv vom Sittengesetz bestimmt, subjektiv vom moralischen Gefühl der Achtung für dieses Gesetz. Das Gefühl ist die Brücke, die dem objektiven Moralgesetz Einfluss auf den Willen eines sinnlichen Vernunftwesen sichert. Das Gefühl der Achtung ist ein »durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl« (GMS BA 16). Die Achtung für das Sittengesetz ist auf das Engste mit der Achtung gegenüber anderen Menschen (und der Achtung vor der Menschheit in der eigenen Person) verbunden: »Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen« (KpV A 135). Mit dem Motiv der Achtung ist ein merkwürdiges Phänomen verbunden: ich erlege mir selbst als moralisches Subjekt das moralische Gesetz auf und trotzdem tritt es mir als eine fremde Macht entgegen, der ich gehorchen soll. Dieter Henrich formuliert diesen Sachverhalt treffend, wenn er schreibt: »Zugleich aber unterscheidet der, der aus Achtung anerkennt, sich selbst von der anerkannten Macht. Sie ist ihm nicht fremd, aber dennoch tritt sie auf und fordert Achtung. […] So können wir auch von der Achtung für Personen sagen, daß wir in ihnen achten, was uns als die vollendete Forderung des eigenen Wesens gegenübertritt.«79 Wie schon oben ausgeführt, bleibt diese Interpretation nur auf dem halben Wege stehen. Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. 78 Vgl.
GMS BA 69 f. Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, 371. 79 D.
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Mit Zuhilfenahme des Denkens von Emmanuel Levinas lässt sich die Situation der Achtung gegenüber Personen folgendermaßen formulieren: Im faktischen Auftreten eines anderen Menschen ›erwacht‹ in mir das moralische Bewusstsein und die Vernunft legt mir die Forderung der Achtung des Anderen als Zweck an sich selbst auf. In einer gegenüber der Interpretation von Henrich stärkeren Formulierung lässt sich sagen, dass ich in Achtung für Personen nicht nur dasjenige achte, was mir als Forderung des eigenen Wesens gegenübertritt, sondern ich achte die Personen als mir gegenübertretende Personen. Denn die faktische Gegebenheit der Personen steht schon am Anfang meines sittlichen Bewusstseins, sie lässt das moralische Bewusstsein erst entstehen. Das Motiv der Achtung bei Kant lässt sich somit meiner Meinung nach nur dann konsistent interpretieren, wenn die Achtung vor dem Moralgesetz die Achtung gegenüber den anderen Menschen als Personen impliziert.80 Diese Interpretation wird ebenso durch eine Stelle aus der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten gestützt, die einen folgenden Wortlaut hat (MSTL A 183): »Alle moralischen Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche ein Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des anderen enthalten, lassen sich auf Liebe und Achtung zurückführen, und, so fern dies Prinzip praktisch ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das Recht des anderen.« Das moralische Verhältnis von mir zum Anderen besteht darin, dass mein Wille in Hinsicht auf meine Person vom Zweck der Liebe gegenüber dem Anderen bestimmt ist und in Hinsicht auf den Anderen von Achtung, die sich als sein Recht geltend macht, indem er als Zweck an sich selbst auftritt. Ich bin selbstverständlich ebenso Zweck an sich selbst, nur äußert sich dies in einem moralischen Verhältnis zum anderen Menschen darin, dass ich als moralisches Subjekt zur Liebe verpflichtet bin. Darin liegt in einer moralisch relevanten Situation die Achtung gegenüber mir selbst, dass ich mich als Person verstehe, die der Moralität fähig und zur Moralität bestimmt ist. 80 Vgl. dazu in N. Fischer: Die Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, insbesondere das Kapitel Die Asymmetrie zwischen den ›Pflichten gegen uns selbst‹ und gegen ›Andere‹, 178–196. Diese Interpretation wird auch von Levinas vertreten, der in einem Gespräch bekannte, dass die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs für ihn schon die Anwesenheit der Anderen implizit beinhaltet und nicht nur auf die Universalität abzielt. In Entretiens avec Le Monde. Philosophies, 146 sagt Levinas: »J’aime la seconde formule de l’impératif catégorique, celle qui dit de ›respecter l’homme en moi et en autrui‹. Dans cette formule, nous ne sommes pas dans la pure universalité, mais déjà dans la présence d’autrui.« Auch Paul Ricœur bringt Achtung und Person in ein enges Verhältnis und meint, damit die »Kantische Philosophie der Person freizulegen«, wie sie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgezeichnet ist. Sieht sich mit seiner These jedoch jenseits der »Kantischen Orthodoxie«, da Kant in der zweiten Kritik die Richtung der Grundlegung ändert und in der Achtung der Person nur ein Beispiel für die Achtung fürs Gesetz sieht. Vgl. dazu Fehlbarkeit des Menschen, 101, Anm. 10. Auch wenn es im Werk Kants diese Tendenz gibt und etliche Undeutlichkeiten das Verständnis des richtigen Sinnes erschweren, lässt sich meiner Meinung nach die Achtung der Person genuin aus dem Kantischen Werk heraus entfalten.
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Die Rolle des anderen Menschen, dessen Auftreten eine moralisch relevante Situation entstehen lässt, wird von Kant selber in einem anderen Zusammenhang indirekt verdeutlicht. In der Religionsschrift zeigt er auf, dass der Mensch erst durch das Leben in einer Gesellschaft in seiner Freiheit moralisch herausgefordert wird. Der Weg der Tugend bleibt immer bedroht und auch der tugendhafteste Mensch steht in Gefahr, seine eigentliche sittliche Bestimmung zu verfehlen. Dieser ›gefahrvoller Zustand‹ wird von der konkreten Präsenz der anderen Menschen verursacht. Den Menschen bestürmen Leidenschaften und Laster, »seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken […] vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind [Hervorh. von Verf.], daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben« (RGV B 128). Diesem verhängnisvollen Einfluss wird das »ethische gemeine Wesen« entgegengesetzt, eine »Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen« (RGV B 129 f.). Sowohl die Ansichten über den Einfluss des sozialen Lebens auf die Herausbildung des Bösen als auch die Entfaltung der Idee eines ethischen gemeinen Wesens, macht überaus deutlich, dass erst die Anwesenheit der Anderen die moralische Relevanz meiner Freiheit zum Vorschein bringt. Erst der Andere fordert meine Freiheit im moralischen Sinne heraus und lässt erst das moralische Bewusstsein entstehen.81
1.2.2 Kant und Levinas: moralisches Bewusstsein aus moralischer Erfahrung Die fundamentale Bedeutung der konkreten moralischen Erfahrung des Bewusstseins eines Sollensanspruches bringt das Denken Kants in die Nähe der ethischen Philosophie von Emmanuel Levinas, der die Ethik als die erste Philosophie zu 81 Die Herausforderung meiner Freiheit durch die faktische Anwesenheit der anderen Menschen hat ebenfalls Jean-Paul Sartre gesehen, kommt jedoch in seinen Untersuchungen zu anderen Konsequenzen als Kant oder Levinas. In seinem Opus magnum L’être et le néant analysiert er die Situation einer Begegnung mit einem Anderen anhand des Phänomens des Blickes. Durch den Blick des Anderen werde ich zum Objekt und in meiner Freiheit entfremdet. Das Ich stellt fest, dass es nicht mehr Zentrum seiner Welt ist. Diese Entfremdung meiner Möglichkeiten durch den Anderen führt zum ›Krieg‹ mit dem Anderen, in dem ich versuche, die Lähmung meiner Freiheit wieder abzuschütteln. Die Begegnung mit dem Anderen wird somit rein negativ gesehen. In seinen späteren Schriften und Äußerungen revidiert Sartre seine rein negative Sicht auf die Beziehung zwischen mir und dem Anderen. Aus den erst posthum veröffentlichten Cahiers pour une morale wird deutlich, dass Sartre den Versuch einer positiven Deutung der Begegnung mit dem Anderen unternimmt, in der es um eine wechselseitige Anerkennung meiner und der Freiheit des Anderen geht. Am Ende seines Lebens spricht er sogar über die Dimension der Verpflichtung, die vom Anderen ausgeht. Vgl. dazu J. Sirovátka: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas, 136–141 und Ders.: Ethik als Anspruch der Heiligkeit. Zu Leben, Werk und Wirkung von Emmanuel Levinas, 18–23.
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erweisen sucht.82 Die Charakterisierung der Begegnung mit einem anderen Menschen (vor allem im Antlitz) bei Levinas könnte eine Ergänzung der Position Kants darstellen. Bei Levinas wird allem voran die Rolle des Anderen beim Zustandekommen des moralischen Bewusstseins in ein helles Licht getaucht. Dagegen bleibt die Anwesenheit des Anderen bei Kant unterbelichtet. Die alles entscheidende Rolle des Anderen für das Zustandekommen des moralischen Bewusstseins bei Levinas finden wir im Denken Kants nicht. Die Beispiele der moralisch relevanten Situationen, die Kant in seinem kritischen Werk verwendet, deuten jedoch daraufhin, dass sich die autonome Vernunft zwar das sittliche Gesetz selber aufgibt, aber immer angesichts der anderen Menschen. So gesehen könnte die Philosophie des Anderen von Levinas ein neues Licht auf die Position Kants werfen. Levinas rekurriert ähnlich wie Kant auf eine konkrete, zunächst vielleicht »banale« moralische Erfahrung – die sich als die ursprüngliche Quelle der Moralität überhaupt zeigt – in der ich mir bewusst werde, dass der Andere an mich einen ethischen Anspruch stellt. In dieser moralischen Erfahrung wird mir bewusst: »Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden.«83 Für Levinas ist jede zwischenmenschliche Beziehung eine zutiefst moralisch relevante Beziehung. Erst die Beziehung zu einem anderen Menschen lässt in mir das moralische Bewusstsein entstehen, das Levinas »das Bewußtsein der moralischen Unwürdigkeit« oder auch »das primäre Bewußtsein meiner Immoralität« nennt.84 In der Begegnung mit dem Anderen wird meine spontane Freiheit in Frage gestellt. Das bis daher natürliche und unschuldige Streben, die Sorge um sich selbst, in der sich die eigene Identität – die Egoität – herausbildet, wird nun von der Gegenwart des Anderen in dem Sinne herausgefordert, dass sich dieses vormoralische Streben in ein moralisches verwandelt und sich somit verfehlen kann.85 Die berechtigte Egoität des Subjekts kann sich in einen unberechtigten Egoismus verwandeln. Wenn Levinas über ein Bewusstsein 82 Vgl. TI, 281: »La morale n’est pas une branche de la philosophie, mais la philosophie première«. Trotz einiger kritischer Stellungnahmen zu Kant gibt Levinas zu, dass er sich der praktischen Philosophie Kants besonders nahe fühlt. Vgl. E. Levinas: Entre nous, 22: »Ce que nous en entrevoyons nous semble cependant suggéré par la philosophie pratique de Kant dont nous nous sentons particulièrement près.« Ein dezidiertes ›Bekenntnis‹ zum Primat der praktischenVernunft Kants ist zu finden in Levinas: Le primat de la raison pure pratique pratique/Das Primat der praktischen Vernunft, 179–204. 83 Vgl. TU, 67. 84 Vgl. TU, 115. Vgl. auch TU, 51: »Die Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik.« 85 Meine bloße Existenz nimmt schon einen Raum ein, der nicht von einem anderen belegt werden kann. In diesem Beharren auf meinem »Platz an der Sonne«, das dem anderen Menschen um keinen Preis nicht weichen will, sieht Blaise Pascal den Ursprung allen Streites in der Welt: »Mien, tien. ›Ce chien est à moi‹, disaient ces pauvres enfants. ›C’est là ma place au soleil.‹ Voilà le commencement et l’image de l’usurpation de toute la terre.« B. Pascal: Pensées, 60 (Brunschvicg 295, Lafuma 64).
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der Unwürdigkeit oder Immoralität spricht, beschreibt er keinen (ethischen) Masochismus. Er verdeutlich nur die konkrete moralische Erfahrung in einer Situation, in der ich herausgefordert bin, dem Anderen mit Respekt und Güte zu begegnen. In einer moralisch relevanten Situation habe ich nicht zu fragen, was der Andere für mich tun würde oder ähnliches, sondern ich bin aufgerufen, für den Anderen Verantwortung zu übernehmen, wobei nicht gesagt wird, was auch immer dies in der jeweiligen Situation bedeuten mag. Dass ich mir meiner moralischen Unwürdigkeit bewusst werde, bedeutet nicht, dass der Andere moralisch höher steht als ich (es kann sich sogar um einen offensichtlichen Verbrecher handeln). Ich werde mir lediglich bewusst, aufgrund meines natürlichen Strebens kann ich mich dem Anderen gegenüber ungerecht verhalten, indem ich versuchen kann, ihn – statt als einen Anderen zu achten – für meine Zwecke zu vereinnahmen: »Der Umstand, daß ich in der Existenz für den Anderen anders existiere als in der Existenz für mich – macht die eigentliche Moralität aus.«86 Das moralische Bewusstsein, in dem ich spüre, ich soll für den Anderen ohne Rücksicht auf meine Zwecke etwas tun, äußert sich nach Levinas eine metaphysische und ethische Asymmetrie in der Beziehung zum Anderen. Das Ich und der Andere stehen ethisch nicht »auf einer Ebene«. Zwischen mir und dem Anderen besteht eine »dissymétrie de l’espace intersubjectif«, eine ethische Ungleichheit (»inégalité éthique«),87 in der der Andere dem Selben schwächer und gleichzeitig höher erscheint: schwächer, indem er Hilfe von mir fordert und höher, indem er einen unbedingten ethischen Anspruch an mich stellt. Einen Anspruch, ihn mit Güte zu begegnen und Verantwortung für ihn zu übernehmen. Die Beziehung zum Anderen hat für Levinas den Charakter der ethischen Nicht-In-Differenz (non-in-différence). Dass der Andere mit einem ethischen Anspruch auftritt, dass der Andere »Gott näher ist« als ich, diese moralische Tatsache nennt Levinas die erste Gegebenheit des moralischen Bewusstseins (SpA, 200): »Der Andere muß Gott näher sein als Ich. Was gewiß nicht eine philosophische Erfindung ist, sondern die erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins [la première donnée de la conscience morale], das man bestimmen könnte als das Bewußtsein des Vorranges des Anderen vor mir.« Die Erfahrung des moralischen Bewusstseins darf man nach Levinas nicht als eine Erfahrung wie eine jede andere beliebige Erfahrung verstehen. Es handelt sich um eine besondere Erfahrung. Um die Besonderheit dieser Erfahrung hervorzuheben, nennt sie Levinas auch eine absolute Erfahrung (expérience absolue)88 oder auch »Erfahrung ohne Begriffe« (expérience sans concept).89 Diese Charakterisierung soll verdeutlichen, dass die Bewegung in der moralisch relevanten Situation nicht vom Subjekt, sondern vom Anderen ausgeht. Es ist die Anwesenheit des Anderen, die einen ethischen Anspruch und folglich auch das moralische Bewusstsein 86 TU,
382. E. Levinas: Hors sujet, 61 f. 88 Vgl. TI, 37 oder SpA, 206. 89 TI, 74. 87 Vgl.
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entstehen lässt. Levinas versucht zu zeigen, dass die konkrete, wirkliche Anwesenheit eines Anderen vis-à-vis eine neue Dimension ins Spiel bringt. Das moralische Bewusstsein stellt nämlich keine Modalität des eigenen Bewusstseins dar, sondern zeigt sich vielmehr als die Bedingung des Bewusstsein überhaupt.90 Auch wenn selbstverständlich ich als Subjekt die Erfahrung des moralischen Bewusstseins machen muss, ist sie dennoch nicht etwas, was unter meiner Macht steht, sondern sich wie eine »Heimsuchung«91 ereignet.
1.2.3 Autonomie des Willens In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant grundsätzlich zwischen Wünschen und Wollen. Im Zusammenhang der Beschreibung des guten Willens unterstreicht er, dass der Wille »freilich nicht etwa ein bloßer Wunsch« sei, sondern »als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind« verstanden werden müsse.92 Zum Begriff des Wollens gehört also nicht nur die Absicht, eine Handlung vollziehen zu ›wollen‹ (dies entspräche dem bloßen Wünschen), sondern auch das Einsetzen meines gesamten Kräftevermögens zur Realisierung der gewollten Handlung mit allen intendierten Folgen, soweit sie in meiner Macht stehen. Für Kant ist klar: »Wer den Zweck will, will […] auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objektes, als meiner Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnde Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht […]« (GMS BA 45). Bekannterweise hat diese Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen Max Scheler aufgegriffen, um sie in ein prägnantes Bild zu veranschaulichen: »Fällt jemand ins Wasser, und schaut ein Gelähmter diesem Vorgange zu, so ist, sofern er nur den Willen hat, den Ertrinkenden zu retten, der hierin gegebene sittliche Tatbestand genau derselbe wie im Falle, dass ein Nichtgelähmter dasselbe will und ihn wirklich herauszieht. Nun ist es ganz zweifellos, daß die sich in beiden Fällen bekundende Gesinnung dieselbe sein kann und dann den gleichen sittlichen Wert besitzt.«93 Scheler wehrt sich jedoch gegen die These, in beiden Fällen liege derselbe Willensakt vor, denn der Gelähmte kann aufgrund seines Unvermögens, den Ertrinkenden tatsächlich aus dem Wasser zu ziehen, nur einen wenn auch heftigen Wunsch haben, die Rettung zu vollziehen. Der Gelähmte kann jedoch diese Rettung 90 Vgl.
dazu z. B. TU, 143 f. Anwesenheit des Anderen im Antlitz als einer »Heimsuchung« vgl. SpA, 221 ff. 92 Vgl. GMS BA 3. 93 Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 139. Scheler nennt dieses Beispiel im Rahmen der Erörterung der Frage nach der Gesinnung. Er untersucht, in welcher Beziehung die Gesinnung zur Handlung steht und welchen Stellenwert den Folgen der Handlung beizumessen ist. 91 Zur
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per se nicht wollen, da ein Wollen das Wollen des Tuns impliziert. Er ähnelt laut Scheler einem bei besagten Vorgang Abwesenden, »der dieselbe ›Gesinnung‹ wie er hegt und den Tatbestand, daß Ertrinkende gerettet werden sollen, anerkennt«.94 In der Metaphysik der Sitten trifft Kant eine weitergehende systematische Differenzierung, indem er zwischen dem Wunsch, der Willkür und dem Willen unterscheidet. Alle drei werden dem Begehrungsvermögen95 zugeordnet, einem Vermögen, »nach Belieben zu tun oder zu lassen«, »sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird« (MSRL AB 4 f.). Wenn der Bestimmungsgrund zur Handlung zwar im Vermögen selber liegt, dem handelnden Subjekt jedoch bewusst ist, dass es über kein Vermögen verfügt, die entsprechende Handlung auch zu vollziehen, dann handelt es sich um einen Wunsch. Die Willkür96 besitzt eine Mittelstellung zwischen den anderen zwei Vermögen. Sie ist zwar im Gegensatz zum Wünschen mit dem »Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden«, kann jedoch nochmals vom Willen zu einer Handlung bestimmt werden. Den Willen zeichnet folglich allem voran die Eigenschaft aus, keinen weiteren Bestimmungsgrund außer sich selbst zu haben, oder anders gesagt, er findet diesen inneren Bestimmungrund in der Vernunft. Der Wille ist somit »die praktische Vernunft selbst«, sofern sie als ein praktisch-gesetzgebendes Vermögen »die Willkür bestimmen kann« (MSRL AB 5). Wenn der Wille als ein Vermögen gedacht wird, das sich »der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln« bestimmen kann (GMS BA 63), dann ist er nichts anderes als praktische Vernunft selbst: »Die objektive Realität eines reinen Willens, oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft […]« (KpV A 96).97 Die reine Vernunft ist »für sich allein praktisch« und legt dem Menschen ein allgemeines unbedingt geltendes Gesetz auf, das »Sittengesetz« oder »Moralgesetz« genannt wird.98 Unter Autonomie des Willens (vgl. GMS BA 74) versteht Kant folglich die Fähigkeit des Willens, sich selbst qua praktische Vernunft, ein praktisch-moralisches Gesetz zu geben, das ihn alleine bestimmt. In der moralischen Selbstgesetzgebung, in der den Bestimmungsgrund des Willens alleine das Sittengesetz abgibt, drückt sich die Autonomie des Willens aus. Der Wille, der »als gesetzgebend« vorgestellt wird, ist diesem Gesetz zugleich auch »unterworfen«.99 94 Vgl.
ebd., 139. MSRL AB 1: »Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.« 96 Im Gegensatz zu Tieren, bei denen die Willkür (arbitrium brutum) von sinnlichen Antrieben bestimmt ist, verfügt der Mensch über eine freie Willkür (arbitrium liberum), die auf der einen Seite von sinnlichen Antrieben zwar affiziert, aber dennoch nicht determiniert wird und auf der anderen Seite als ein selbstgesetzgebendes Vermögen der reinen Vernunft selbst praktisch ist. Vgl. dazu MSRL AB 5 f. oder KrV B 830. 97 Vgl. auch GMS BA 36: »Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft.« 98 Vgl. u. a. KpV A 56. 99 Vgl. GMS BA 70 f. 95 Vgl.
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Eben darin besteht die Autonomie des Willens, das er sich nur demjenigen Gesetz zu unterwerfen vermag, das er sich selber gibt: »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein.« (GMS BA 87) Zur Selbstgesetzgebung der reinen Vernunft wird laut Kant erfordert, »daß sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe, weil die Regel nur alsdenn objektiv und allgemein gültig ist«. Eine solch beschaffene Autonomie des Willens ist keineswegs als eine »Anthroponomie«100 im Sinne eines solipsistischen Subjektivismus misszuverstehen. Es handelt sich um keine Hybris der aufgeklärten Vernunft, die den Menschen absolut setzten würde. Kant sagt unmissverständlich, dass es sich um eine Vernunft handelt »ohne zufällige, subjektive Bedingungen […], die ein vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden« (vgl. KpV A 38) würde. Eine Absolutsetzung des eigenen Willens kann gar nicht gegeben sein, da unter einem unbedingt geltenden praktischen Sittengesetz der Wille »nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 258). Und dieser Gehorsam gegenüber dem Moralgesetz führt dazu, dass es meiner Eigenliebe »Abbruch« tut und meinen »Eigendünkel« sogar niederschlägt (vgl. KpV A 129). Es ist anzunehmen, dass eine Absolutsetzung des Menschen inhaltlich anders ausfallen würde, als es das Denken von Kant nahelegt. In welchem Sinne sich der Wille das Sittengesetz selber auferlegt und trotzdem auf das Faktum des moralischen Bewusstseins verwiesen bleibt, wurde bereits besprochen.101 In der Autonomie des Willens sieht Kant die Würde des Menschen begründet: »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« (GMS BA 79). Der Mensch besitzt einen inneren Wert, eine Würde, weil er ein moralisches Wesen ist. Er ist ein Wesen, das aus sich heraus der Urheber der Güte zu sein vermag. Für Kant ist nur deshalb der Mensch ein Zweck an sich selbst, weil er der Moralität fähig ist. In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant, dass, wie auch immer die Welt kunstvoll und bewunderungswürdig zweckmäßig angeordnet sein mag, ohne den Menschen als moralisches Wesen »die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck« (vgl. KU B 410) wäre. Selbstverständlich darf man diese Stelle nicht moralistisch missinterpretieren, als ob der Welt sonst keine Bedeutung zugemessen werden könnte. Der Welt und seiner zweckmäßigen Beschaffenheit gilt unser Staunen und unsere Bewunderung, man denke nur an die Passage im Zusammenhang des physikotheologischen Gottesbeweises in der ersten Kritik.102 Erst auf der Folie dieser überaus großen Wertschätzung der kunstvollen 100 Vgl.
dazu Uwe J. Wenzel: Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie, Berlin
1992. 101 S.
oben das Kapitel Die Faktizität des unbedingt geltenden Moralgesetzes. KrV B 650: »Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in 102 Vgl.
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Anordnung der Welt durch Kant wird das Gewicht und die Schärfe seiner Aussage deutlich, dass die Welt trotz seiner Größe und seiner Majestät doch nichts wäre im Vergleich zu der Möglichkeit der Moralität in ihr. Die Bestimmung dessen, was unter der »Autonomie des Willens« verstanden wird, hat im Denken Kants eine Entwicklung erfahren. Den Abschluss findet diese Entwicklung im ersten Satz der Religionsschrift (RGV BA III): »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder103 als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« Wie noch zu erörtern sein wird, gelangt Kant erst dort zu einem Autonomiebegriff, der ihm ermöglicht, auch das Phänomen des Bösen inhaltlich zu fassen. Im Gegensatz dazu legen einige Formulierungen Kants in der Grundlegung die Auffassung nahe, freiheitliche Autonomie sei nur im Falle der moralisch guten Handlungen anzunehmen. Die problematischste Stelle lautet: »Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe« (GMS BA 104 f.) Auch wenn hier in der Tat eine gewisse inhaltliche Engführung vorliegt, darf sie meiner Meinung nach nicht überinterpretiert werden. Kant selber gibt zu, dass er diese Gleichsetzung für höchst schwierig hält, wenn er schreibt, dass hier ein Zirkel vorliege, aus dem er keinen Ausweg weiß. Ebenso weiß er weder eine Antwort auf die Frage, wie die Idee der Freiheit, die wir ja für das menschliche Wollen voraussetzen, bewiesen werden könnte, noch, »woher das moralische Gesetz verbinde« (vgl. GMS BA 101 ff.). Die Gefahr der Gleichsetzung einer autonomen mit einer guten Handlung ist ebenfalls der Entwicklung des Kantischen Denkens geschuldet, das zunächst die Moralität als solche terminologisch zu fassen versucht. So ist es nur konsequent, wenn die Bedingungen einer guten Tat zuerst in den Blick kommen. Zur systematisch ausgearbeiteten Explikation einer moralisch bösen Handlung sieht sich Kant offenbar erst in der Religionsschrift im Stande. Die Problematik des Verhältnisses von Autonomie und dem moralisch Bösen ist in der Tat kein leicht aufzulösendes Problem. Die Autonomie des Willens ist nach Kant »das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze« (KpV A 58). Im kategorischen Imperativ drückt sich die Autonomie der reinen praktischen Vernunft aus, die als übersinnliche Natur des Menschen von allen empirischen Bedingungen unabhängig ist. In der Autonomie der praktischen Vernunft wird die sinnliche Natur vom Willen »unterworfen«. In der Heteronomie ist es der Wille, der von der der Unendlichkeit des Raumes, oder in der unbegrenzten Theilung desselben verfolgen, daß selbst nach den Kenntnissen, welche unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache über so viele und unabsehlichgroße Wunder ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen, und selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, so daß sich unser Urtheil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß.« 103 Unter »Triebfeder« ist ein »subjektiver Bestimmungsgrund des Willens« zu verstehen. Vgl. KpV A 127.
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sinnlichen Natur der Neigungen unterworfen wird. Die Heteronomie des Willens ist dann gegeben, wenn der Wille statt vom Moralgesetz von einem empirischen materialen Zweck bestimmt wird (vgl. GMS BA 88 f. und KpV A 58 f.). So steht die Heteronomie letztlich unter dem Prinzip der Selbstliebe, die sich in keinen kategorischen, sondern nur in hypothetischen Imperativen äußert. Ich soll etwas, »weil ich etwas anders will« (GMS BA 88). Die Heteronomie des Willens »gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen« (KpV A 58). Der These, dass der heteronom bestimmten Willensmaxime keine Verbindlichkeit zukomme, scheint eine Reflexion Kants zu entsprechen, in der das Böse als »Gesetzlosigkeit« charakterisiert wird (Refl 7196; AA XIX, 270): »Die Freyheit ist ein schöpferisches Vermögen. Das gute aus Freyheit ist daher ursprünglich. Die Gesetzmäßigkeit der freyheit aber ist die höchste Bedingung des Guten und die Gesetzlosigkeit das wahre und absolute Böse«.104 Offenbar wird unter dem Gesetz an dieser Stelle das praktische Moralgesetz verstanden und unter Gesetzlosigkeit nicht eine völlige Regellosigkeit der Freiheit im Verhältnis zur Naturgesetzlichkeit, sondern eine Bestimmung des Willens, die sich nicht am Sittengesetz orientiert. Denn die Heteronomie des Willens wird als »der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit« verstanden. Die höchste Entgegensetzung zum Prinzip der Sittlichkeit ereignet sich, »wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird« (KpV A 61). In der Autonomie dagegen muss als Bestimmungsgrund des Willens alleine das Moralgesetz fungieren und nicht ein (materialer) Gegenstand.105 Kant selbst weiß je-
104 Vgl. auch Refl 7219 (AA XIX, 286): »Die größte Vollkommenheit ist die freye Willkühr, und daraus kan auch das größte Gut entspringen und aus der Regellosigkeit das größte Böse.« 105 In der Frage, »ob und was der Gegenstand des Wollens mit dem moralischen Gesetz zu tun hat«, sieht Giovanni Sala den wunden Punkt der Kantischen Konzeption der Ethik. Vgl. G. B. Sala: Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Ein Kommentar, 80. Ansonsten unterstellt Sala Kant Positionen, die jedoch mit der Philosophie Kants unverträglich sind. In Absetzung von der »Ethik vom guten Leben« (Tugendethik) rechnet er die Kantische Konzeption zur »Ethik der Normen« (Gesetzesethik, Sollensethik). Sala behauptet, dass die Normenethik und auch Kant selbst, »die Subjektivität des Handelnden« ausklammern. In einem pauschalisierenden Urteil wird insinuiert, der »Normenethik« nach bestehe die Moralität »in der Bereitschaft, die geltenden, vor allem sozialen Normen einzuhalten, deren Ziel es ist, nicht so sehr das Glück des einzelnen zu fördern, als vielmehr die negativen Konsequenzen zu mindern, die sich daraus ergeben, dass es im Prinzip jedem Menschen zusteht, von seiner Freiheit nach seinem eigenen Gutdünken Gebrauch zu machen.« (Vgl. ebd., 84) Es liegt auf der Hand, dass Kant seine Moralkonzeption als eine Vernunftkonzeption entwirft, unabhängig von geltenden sozialen Normen und dass die Freiheit eben nicht nach eigenem Gutdünken gebraucht werden kann, sondern an das praktisch-objektive Moralgesetz gebunden ist. Sala verlässt in seinem Kommentar, der an sich eine verdienstvolle Arbeit darstellt, allzu oft die Ebene einer kritischen Darstellung und Kommentierung und überzieht Kants Denken – zum großen Schaden des ganzen Kommentars – mit einer unberechtigten Kritik von einem thomistischen Standpunkt aus.
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doch, dass sich der Willensakt immer auf einen Gegenstand beziehen muss, sollte er überhaupt ausführbar sein. Deshalb entwickelt er auch seine Theorie der Zwecke. Es liegt auf der Hand, dass »alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime« (KpV A 60).106 Der Wille bezieht sich notwendigerweise auf einen Gegenstand, der Bestimmungsgrund des Willens bleibt indessen allein das Sittengesetz. Die Pflicht bleibt »die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen« (RGV BA VII). Wenn die Heteronomie darin besteht, dass sich der Wille durch das Glückseligkeitsprinzip der Selbstliebe bestimmen lässt und das Böse – wie noch zu zeigen sein wird – in der Unterordnung der Triebfeder der Moralität unter die Triebfeder der Selbstliebe besteht, dann scheint eine böse Tat ausschließlich heteronom zu sein. Dieser Schein trügt jedoch. Kant weiß, dass auch die böse Handlung aus der Autonomie des Willens heraus verstanden werden muss, um über eine moralisch relevante Handlung überhaupt sprechen zu können, die dem Menschen zugeschrieben werden kann. Die Autonomie betrifft nämlich auch die Maxime der Selbstliebe. Auch wenn die Triebfeder der Selbstliebe als eine heteronome angesehen wird, muss sie – um den Willen bestimmen zu können – autonom in die Maxime des Willens aufgenommen werden: »die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch in seine Maxime aufgenommen hat« (RGV B 11 f.).107 Obwohl also sowohl das Gute als auch das Böse als aus der Autonomie des Willens heraus hervorgebracht betrachtet werden muss, lässt sich vielleicht in einem gewissen Sinne behaupten, dass in einer guten Handlung die ›höchste Form‹ der Autonomie vorhanden ist. So wie die höchste Form der Freiheit in der Freiheit für das Moralgesetz besteht, so liegt auch im moralisch Guten die höchste Form der Autonomie. Denn nur im Hervorbringen des Guten wird der Mensch seiner höchsten – moralischen – Bestimmung gerecht.
1.2.4 Kant und Rousseau: das Gewissen Gerold Prauss sieht in der ganzen Konzeption der Kantischen Moralphilosophie »nichts als einen Notbehelf«. Nachdem Kant mit seinem ursprünglichen Plan gescheitert ist, bringe er in der Kritik der praktischen Vernunft lediglich eine Notgestalt 106 Vgl.
auch TP A 211 f. Vgl. ebenfalls B. Dörflinger: Kant über das Böse, 94: »Der Akt der Entscheidung für die Überordnung des sinnlichen Motivs […] kann auch verstanden werden als der freie Akt der Bejahung der Fremdbestimmung durch die eigene gegebene Bedürfnisexistenz, der zugleich freier Akt der Negation der moralischen Selbstbestimmung in der Selbstverpflichtung durch das Sittengesetz ist; kurz: er kann verstanden werden als freier Akt der Zustimmung zur Heteronomie und der Abweisung von Autonomie.« 107
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dessen, was er eigentlich vorhatte.108 Da es Kant nicht gelungen ist, die Vernunft als für sich selbst praktisch zu erweisen, »muß er sich schließlich notgedrungen damit behelfen, dieses Gesetz als angebliches ›Faktum der reinen Vernunft‹ einfach anzusetzen, um dadurch wenigstens zur Freiheit als Grundlage für Praktische Philosophie überhaupt einen Zugang zu finden«.109 Wie schon dargestellt worden ist, betont Prauss mehrmals, dass er das »Faktum der reinen Vernunft«, also das moralische Bewusstsein für eine »Verzweiflungstat« Kants hält (ebenso wie auch die These vom radikal Bösen). Diesen Akt der Verzweiflung begehe Kant, nachdem sein Bemühen, das moralische Gesetz zu deduzieren, gescheitert ist. In der Tat versucht Kant das Entstehen des moralischen Bewusstseins nicht mehr abzuleiten, sondern nur ›phänomenologisch‹ als ein für sich selbst evidentes Faktum der Vernunft aufzuweisen. In diesem Zusammenhang hätte Prauss vielleicht mit noch größerer Berechtigung auf Rousseau hinweisen können, als er das an einer anderen Stelle tut. Den Einfluss von Rousseaus Denken auf Kant sieht Prauss nämlich vor allem in der ›Entdeckung‹ des Menschen als einem animal liberum. Kant habe von Rousseau einen wichtigen Anstoß bekommen, den Menschen nicht nur als ein animal rationale zu sehen, sondern auch als animal practicum.110 Wenn man jedoch in Rousseaus Emil die Passagen zum Gewissen liest (allem voran in den Glaubensbekenntnissen des savoyischen Vikars), kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, hier werde diesselbe Sache verhandelt, die Kant nur unter einem anderen Namen anspricht: das Bewusstsein eines moralischen Sollens. Das »einzige Faktum der reinen Vernunft« kann keine Verzweiflungstat sein, denn es liegt in der Intention der Kantischen praktischen Philosophie im Ganzen. Die Moralität als solche ist nicht die Sache von Gelehrten, sondern betrifft jeden Menschen und jeder Mensch hat einen direkten Zugang zur Erfahrung eines moralischen Sollens. Kant sagt selber, dass er weder eine neue Moralität aufstellen will noch kann, er habe lediglich eine neue Formel dafür gefunden: »Ein Rezensent, der etwas zum Tadel dieser Schrift [gemeint ist die Grundlegung] sagen wollte, hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden. Wer sollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre.« (KpV A 15) Es liegt auf der Hand, dass das theoretische, systematische Nachdenken über Moralität als eines Systems immer die Angelegenheit von einer Minderheit war und sein wird. Kant zeigt jedoch überzeugend, dass die Sache der Moralität jedem Menschen bekannt und zugänglich ist, auch wenn viele behaupten, sie wüssten nicht, wovon die Rede ist: »Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren« (MSTL A 38). In dieser Hinsicht zeigt sich Rousseaus Moral108 Vgl.
G. Prauss: Kant über Freiheit, 10. 12. 110 Ebd., 40 ff. oder auch z. B. 125. 109 Ebd.,
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philosophie der Kantischen nicht unähnlich, denn die Ethikkonzeption Rousseaus hat wie Sturma hervorhebt »den methodischen Zuschnitt einer naturalistischen Ethik der Autonomie, in deren Zentrum das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Freiheit und Gewissen steht. In den Geboten und Einsprüchen des Gewissens äußern sich keineswegs Zwang oder Unfreiheit, sondern die Notwendigkeit der Freiheit.«111 Das Gewissen ist laut Kant nichts »Erwerbliches«, »sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich« (MSTL A 37). Ähnlich wie das Bewusstsein eines Sittengesetzes zeigen mir die Richtersprüche des Gewissens, dass ich frei bin, dass ich mich in bestimmten zurückliegenden Situationen anders verhalten konnte, als ich mich tatsächlich verhielt: »Ein Mensch mag künsteln, soviel als er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, […], folglich als etwas, worin er vom Strom der Naturnotwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger in ihm keinesweges zum Verstummen bringen könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, […] im Gebrauche seiner Freiheit war« (KpV A 175 f.). Das Gewissen zeigt sich in diesem Beispiel als ein nachträglich auftretendes moralisches Bewusstsein, das der Betroffene im Moment der Handlung möglicherweise erfolgreich unterdrücken konnte. Eine dem Duktus Kants verwandte Sprache findet auch Rousseau, wenn er das Gewissen als das faktische moralische Bewusstsein charakterisiert. Das Gewissen wird von ihm bestimmt als ein »moralischer Instinkt«, als »angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend«.112 Es stellt ein Vermögen dar, das unsere Handlungen trotz unserer primären natürlichen Sorge um uns selbst im Hinblick auf das moralische Verhalten gegenüber Anderen beurteilt: »Die erste aller Sorgen ist die Sorge um sich selbst:113 wie oft aber sagt uns die innere Stimme, daß wir unrecht tun, wenn wir unser Wohl auf Kosten anderer fördern.«114 Das Gewissen kann uns nur aufgrund der Tatsache Qualen bereiten, dass wir unsere Taten als Handlungen eines freien Willens ansehen. Rousseau hält es sogar für nicht unmöglich, »das unmittelbare Prinzip des Gewissens, sogar unabhängig von der Vernunft, als Folge unserer Natur zu erklären«.115 Wie auch Kant unterscheidet er zwischen einer theoretischen Beschäftigung mit den Fragen der Moral, die den Gelehrten vorbehalten ist und einer praktischen Moralität als solcher, die jeden Menschen angeht. Jeder Mensch
111 Vgl.
D. Sturma: Jean-Jacques Rousseau, 111. J.-J. Rousseau: Emil, 303. 113 Schon im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 118 heißt es: »Le premier sentiment de l’homme fut celui de son existence; son premier soin, celui de sa conversation.« Auch Heidegger charakterisiert den Menschen als ein Dasein, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«. Das Sein des Daseins weist er als Sorge auf. Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, 12 und 191–200. 114 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 300. 115 Vgl. ebd., 305. 112 Vgl.
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besitzt das Gewissen als einen sicheren Führer in Fragen des guten oder schlechten Verhaltens. Rousseau sucht in seinen Erörterungen nach der »Evidenz ethischen Bewußtseins«.116 Er führt das Gewissen als »ein moralisches Evidenzerlebnis« ein, das jedoch einen semantischen Gehalt hat, »der sich als Imperativ äußert. Es gebietet und verbietet und entwickelt motivationale Wirksamkeit. In seinem korrektiven Einfluß auf die Lebensführung hat es die Form praktischen Wissens.«117 Für Kant sind das Gewissen und ein moralisches Gefühl »subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff«. Es gibt keine Pflicht »ein moralisches Gefühl zu haben, oder sich ein solches zu erwerben; denn alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nötigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden: sondern ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu kultivieren« (MSTL A 36). Das moralische Gefühl hat jeder Mensch als Person, das heißt als moralisches Vernunftwesen. Sowohl für Kant als auch für Rousseau ist das Faktum der Moralität für ihre Konzeption der Ethik entscheidend. Unterschiede gibt es etwa in der Frage der Bewertung der menschlichen Natürlichkeit oder der Neigungen.118 Im Gegensatz zu Kant, der die Neigungen als Bestimmungsgrund des Willens bei einer moralisch guten Tat ausschließt und alleine dem Moralgesetz diese Qualität zuschreibt, wendet sich Rousseau in Frage der moralischen Motivation nicht strikt gegen die Neigungen. Die positivere Sicht der Neigungen wird beispielsweise in der Darstellung des Mitleids sichtbar, das in Rousseaus Denken eine große Rolle spielt. Er hält Mitleid für die erste, sogar »einzige natürliche Tugend«, deren Auszeichnung darin besteht, dass sie bei Menschen dem Gebrauch der Reflexion vorangeht und in einem schwächeren Sinne auch den Tieren eignet.119 Ein eklatanter Widerspruch zu Kants Denken ergibt sich indessen, wenn man die folgenden Zeilen bei Rousseau liest: »Mithin steht fest, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die Wirksamkeit der Selbstliebe mäßigt und daher zur gegenseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. Das Mitleid veranlaßt uns, ohne zu überlegen denjenigen Hilfe zu leisten, die wir leiden sehen; es vertritt im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend, mit dem Vorteil, daß niemand versucht ist, seiner süßen Stimme den Gehorsam zu verweigern […] Das Mitleid gibt allen Menschen anstelle jener erhabenen Maxime der durch die Vernunft gestifteten Gerechtigkeit: ›Handele anderen gegenüber so, wie du willst, daß man dir gegenüber handele‹, diese andere Maxime der natürlichen Güte ein, die viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher als die vorangehende ist: ›Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich‹. Mit einem Wort: eher in diesem natürlichen Gefühl als in spitzfindigen Argumenten 116 Vgl.
D. Sturma: Jean-Jacques Rousseau, 94. 110. 118 Vgl. dazu u. a. J.-J. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 64. 119 Vgl. ebd., 61. 117 Ebd.,
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muß man die Ursache für den Widerwillen suchen, den jeder Mensch, sogar unabhängig von den Maximen seiner Erziehung, dagegen empfindet, Übles zu tun.«120 Die Passage wurde absichtlich in extenso zitiert, um deutlich zu machen, inwiefern Rousseau in diesem Punkt anders denkt als Kant. Stellvertretend für die Bewertung des Mitleids bei Kant sei ein Satz aus der Kritik der praktischen Vernunft zitiert, in dem es heißt, dass das »Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung« den wohldenken Menschen selbst lästig ist, es »bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung, und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein« (KpV A 213). Die Kritik am Mitleid ist mitnichten Ausdruck einer Kant oft unterstellten Feindseligkeit gegenüber den sinnlichen Neigungen. Kant unterstreicht lediglich, dass das moralische Verhalten nicht von Neigungen motiviert sein darf, und seien sie noch so altruistisch. Dass sich eine eingeübte moralische Verhaltensweise allmählich zu einem Habitus, zu einer quasi natürlichen Neigung entwickelt, ist erstrebenswert, nur steht in diesem Falle die Neigung als Ergebnis eines Willensprozesses dar und nicht als Bestimmungsgrund des Willens.121 Die Gefühlsneigung des Mitleids kann eine tugendhafte Verhaltensweise fördern und unterstützen, sie birgt jedoch auch Gefahren und kann das Sittengesetz als Triebfeder des Willens nicht ersetzen: »Denn, wenn andre Triebfedern nötig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinkt, dergleichen das Mitleiden ist): so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben.« (RGV B 24) Für eine Rehabilitierung des Mitleids hat sich der Neukantianer Hermann Cohen eingesetzt, der in seiner Ethik gleichsam mit Kant gegen Kant argumentiert. Für ihn ist das Mitleid eine Urkraft, »ein Motor des reinen Willens«.122 Erst die Affektivität des Mitleids, das auf die Armut und Not des anderen Menschen reagiert, lässt aus dem Nebenmenschen einen Mitmenschen entstehen. Im Phänomen des Mitleids gründet gleichsam das Wesen der ethischen, teilnehmenden Intersubjektivität. Das Mitleid erweist sich nach Cohen als »ein Faktor des reinen Willens, als ein Hebel des sittlichen Bewußtseins, als eine Grundkraft des sittlichen Universums, welches der Mitmensch aufschließt.«123 Cohens Charakterisierung des Mitleids könnte vielleicht als eine Art Ergänzung der Konzeption Kants gelesen werden im Sinne einer ›affektive Brücke‹ zwischen dem Mitmenschen und dem durch das Moralgesetz bestimmten Willen. In diesem Sinne hätte das Mitleid eine nicht unähnliche Posi120 Vgl.
ebd., 64. Vgl. u. a. RGV B 219 f.: »Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare, Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes.« 122 Vgl. Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 31995, 164. 123 Ebd. Zur Cohens Ethik vgl. Micha Brumlik: Religion und Intersubjektivität – Hermann Cohens Ethik in: N. Fischer/J. Sirovátka/D. Vopřada (Hg): Kant und die biblische Offenbarungsreligion – Kant a biblické zjevené náboženství, Praha 2013, 123–136. 121
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tion wie das moralische Gefühl der Achtung, indem es dem Phänomen der Intersubjektivität gerecht zu werden versucht, das für die Ethik konstitutiv ist. Für Kant steht jedoch fest: Der Wille muss aber – um vollkommen moralisch gut zu sein – alleine vom Moralgesetz bestimmt werden. Wenn wir Mitleid empfinden, dann impliziert dieses Gefühl etwas ›Attraktives‹, das unser Herz rührt und in uns eben das Gefühl des Mit-leidens auslöst. Das Moralgesetz kann aber unter Umständen von uns etwas verlangen, dass uns keineswegs attraktiv erscheint und in uns kein Mitleid, sondern vielleicht Abscheu hervorruft. Deshalb argumentiert Kant gegen allzu starke Gewichtung von altruistischen Gefühlen im moralischen Verhalten im Hinblick auf die Bestimmung der moralischen Prinzipien.
1.2.5 Die moralische Welt Der Mensch muss laut Kant bekannterweise aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: als Sinnenwesen besitzt er einen empirischen und als vernünftiges Wesen einen intelligiblen Charakter. Aufgrund der Autonomie des Willens, der Fähigkeit also, sich selbst als eben dieses Vernunftwesen allgemeine praktische Gesetze geben zu können, müssen wir uns den Menschen als Mitglied einer intelligiblen Welt vorstellen. Dieser Gedanke führt Kant in der Grundlegung zum Gedanken eines »Reichs der Zwecke«: »Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.« (GMS BA 74) Der Mensch ist in seiner Autonomie des Willens zwar gesetzgebend, denn er kann nur einem Gesetz Folge leisten, das er sich selber gibt, steht jedoch zugleich unter diesem seinem Gesetz, er ist ihm unterworfen. Durch dieses allgemeine und objektive praktische Gesetz entsteht nach Kant eine gemeinschaftliche Verbindung unter allen vernünftigen Wesen: das Reich der Zwecke. Diesem Reich der Zwecke eignet in der Konzeption Kants eine Ambivalenz. Einerseits besteht das Reich der Zwecke schon jetzt. Durch die gesetzgebende Kraft des vernünftigen Willens ist der Mensch als Glied der intelligiblen Welt zugleich ein Mitglied des Reiches der Zwecke. Andererseits sagt Kant, dass das Reich der Zwecke ein Ideal sei, das noch zu verwirklichen ist. Das Reich der Zwecke soll sich nämlich in der Realisierung einer moralischen Welt niederschlagen: »Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zu Stande zu bringen.« (GMS BA 80) So führt das schon vorhandene Reich der Zwecke als eine intelligible Welt verstanden auf ein noch zu erreichendes Reich der Zwecke, das sich in der Sinnenwelt durchsetzen muss, nämlich auf eine moralische Welt. Die moralische Welt ist ein Ideal, in der die subjektiven Grundsätze des Wollens völlig mit dem objektiven Moralgesetz übereinstimmen würden. Über eine »moralische Welt« spricht Kant bereits im Kanonabschnitt der Kritik der reinen Vernunft,
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in dem die moralische Welt in einer fast identischen Weise charakterisiert wird wie das »Reich der Zwecke« der Grundlegung. Die »moralische Welt« wird zwar »bloß als intelligibele Welt« gedacht, ist aber zugleich eine »praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll« (vgl. KrV B 836).124 Die späteren Erörterungen der Kritik der Urteilskraft legen nahe, die moralische Welt eher in Richtung der Verwirklichung der Sittlichkeit in der sinnlichen Welt als Endzweck des menschlichen Handelns auszulegen und das Reich der Zwecke eher der noumenalen Welt zuzuordnen. In der Kritik der Urteilkraft wird der Mensch als moralisches Wesen »Endzweck« der Welt genannt (KU B 398 f.):125 »Von dem Menschen […] als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich […]. […] nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.« Der Mensch als moralisches Wesen ist ein Endzweck des ganzen Universums, daraus folgt aber, dass er auch ein Endzweck hat:126 »Das moralische Gesetz, als formale Vernunftbedingung des Gebrauchs unserer Freiheit, verbindet uns für sich allein, ohne von irgend einem Zweck, als materialer Bedingung, abzuhangen; aber es bestimmt uns doch auch, und zwar a priori, einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt.« (KU B 423) Der Grund der Pflicht bleibt allein das unbedingt gebietende formale praktische Moralgesetz, es setzt uns jedoch als Zweck unseres Handelns die Beförderung des in der Welt möglichen höchsten Guts vor. Der »von uns zu bewirkende höchste Endzweck«, d. h. die Möglichkeit der Bewirkung einer moralischen Welt aus dem Willen heraus, der den Grund seiner Gutheit in sich hat, stellt dasjenige dar, »wodurch wir allein würdig werden können, selbst Endzweck einer Schöpfung zu sein« (vgl. KU B 459). Der Gedanke des Endzwecks – die Bewirkung des höchsten in der Welt möglichen Guts – ist etwas, was über den Begriff der Pflicht hinausgeht. Mit dem Gedanken des Endzwecks wird zum Begriff der Pflicht noch die 124 In diesem Sinne hat die Idee einer moralischen Welt eine praktische »objektive Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligibelen Anschauung ginge […], sondern auf die Sinnenwelt« (KrV B 836). Kant bezeichnet diese Idee ebenfalls als »corpus mysticum« oder »Reich der Gnaden« (KrV B 840). 125 Vgl. ebenfalls RGV B 73: »Das, was allein eine Welt zum Gegenstand des göttlichen Ratschlusses, und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit […] in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon, als oberster Bedingung, die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.« 126 Vgl. K. Düsing: Das Problem des höchsten Guts, 36 f. und 38: »Die Möglichkeit des höchsten Guts bedeutet für Kant keineswegs bloß die Möglichkeit begrenzter sittlicher Zwecke in der Welt, sondern die Möglichkeit der höchsten Vollendung der Welt selbst. Diesen Endzweck als Ziel der Veränderungen der Welt nennt Kant auch den Endzweck der Schöpfung.«
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Die Freiheit des Willens und die Faktizität des Sollens
Folge, die Wirkung in der Welt hinzugedacht.127 Auch wenn für die Bewertung der Moralität einer bestimmten Handlung alleine die moralische Gesinnung entscheidend zeichnet und nicht die erfolgte Wirkung, darf es dem Menschen auch nach Kant nicht gleichgültig sein, welche Folgen seine Taten in der Sinnenwelt hinterlassen. Der Mensch muss sich die Erreichung einer moralischen Welt zum Zweck seines Handeln setzen. So stellt es sich überaus deutlich heraus, dass Kant keine reine Gesinnungsethik entwirft. Kants Ausführungen zur Forderung nach einer moralischen Welt oder einem Reich der Zwecke werfen die Frage auf, aus welchem Grund die Gründung eines solch ethischen Reiches nötig ist. Warum reicht das individuelle Bemühen um Tugend nicht aus? Das Moralgesetz richtet sich doch immer nur auf meine individuelle Freiheit, die diesem praktischen Gesetz entsprechen soll. Die Forderung nach der Realisierung eines gemeinschaftlichen ethischen Ideals scheint im Kants Werk sowohl theoretische als auch praktische Gründe zu haben.128 In theoretischer Hinsicht ist es die »rastlose« Vernunft, die als ihrem Wesen nach »architektonisch« verfasst die systematische Einheit des Ganzen sucht und erst in dieser ganzheitlichen systematischen Vollendung ihre Ruhe findet. Sowohl die theoretischen als auch die praktischen Ideen müssen zu einer Einheit verbunden werden können. So müssen auch die höchsten Zwecke zu einem einzigen Endzweck einer moralischen Welt vereinigt werden, da »die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet« (KrV B 829) ist: »Diese höchste Zwecke werden, nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern.« (KrV B 825 f.) In praktischer Hinsicht fordert die Vereinigung aller Menschen unter Tugendgesetzen zu einem Gemeinwesen implizit das Sittengesetz, das Güte und Respekt gegenüber dem anderen Menschen verlangt. Auch wenn in einer konkreten Situation der jeweils Einzelne gemeint ist, soll ich alle Menschen als Zwecke an sich selbst achten. Das Ideal einer ethischen Gemeinschaft stellt – auf dem Weg über den Begriff des Höchsten Guts – die konsequente Entfaltung der Forderung des Moralgesetzes dar. In der Religionsschrift kommt noch ein weiterer praktischer Aspekt hinzu. Der Mensch lebt auch als moralisches Wesen nicht isoliert, sondern ist in seinem sozialen Leben dem Einfluss der Mitmenschen ausgesetzt und er selber entfaltet wiederum eine bestimmte Wirkung auf die eigene Umgebung. Über das unmittelbare soziale Umfeld hinaus befindet sich der Einzelne als Mitglied einer Gesellschaft in einer umfassenderen Gemeinschaft. Die Präsenz der anderen Menschen fordert meine Freiheit und das daraus resultierende moralisch relevante Handeln heraus.129 127 Vgl.
RGV BA XI. den folgenden Ausführungen vgl. J. Sirovátka: Die moralische ›Endabsicht‹ der Vernunft, 389 f. 129 Rechtlich wird das Zusammenleben der Menschen anders geregelt als in ethischer Hinsicht. In rechtlicher Hinsicht ist »die Freiheit eines jeden auf die Bedingungen einzuschränken, 128 Zu
Die Unbedingtheit des Sollens 65
Kant ist der Ansicht, dass der Mensch durch das soziale Leben in einer Gesellschaft eher zum Bösen verführt als zum Guten animiert wird. Durch die bloße Anwesenheit der anderen Menschen werden die Laster beim Einzelnen wachgerufen und die Menschen verderben sich gegenseitig in ihrer moralischen Anlage. In einem solchen »ethischen Naturzustand«, in dem sich jeder Mensch das Gesetz selber gibt, herrscht »ein Zustand der unaufhörlichen Befehdung durch das Böse,130 welches in ihm und zugleich in jedem andern angetroffen wird« (RGV B 134). Diesem natürlichen Ist-Zustand »der innern Sittenlosigkeit« wird die durch den Vernunft aufgestellte Sollens-Bestimmung »zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts« entgegengesetzt. Da jedoch die Verwirklichung des höchsten Guts, die das unbedingt geltende Moralgesetz fordert, nicht durch die moralische Vollkommenheit von Einzelnen erreicht werden kann, wird eine Vereinigung aller wohlgesinnten Menschen unter der Herrschaft des guten Prinzips erforderlich. Die »Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen« stellt den Eintritt der Menschen aus dem ethischen Naturzustand in einen »ethischbürgelichen Zustand« dar. Für diesen ethischbürgerlichen Zustand verwendet Kant mehrere Bezeichnungen. Das »ethische gemeine Wesen« wird auch »ethischer Staat«, »Reich der Tugend« (RGV B 129 f.) oder »allgemeine Republik nach Tugendgesetzen« (RGV B 136) genannt. Es handelt sich bei diesem ethischen gemeinen Wesen um ein noch zu erreichendes und auf der Erde nie vollkommen erreichbares Ideal, das aber bereits anwesend ist und verwirklicht werden soll. Es ist in einem politischen gemeinen Wesen, also einem konkreten Staat, anwesend, weil es sich um eine unsichtbare Vereinigung aller Menschen handelt, die sich auf dem Weg der Tugend befinden. Alle wohldenkenden Menschen versammeln sich unter der Herrschaft der Tugendgesetze zu einem moralischen Staat, in dem Gott als moralischer Weltherrscher vorzustellen ist. So kann Kant schreiben: »Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Gesetzen, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich« (RGV B 139). Alleine Gott kann die Funktion des moralischen Herrschers ausüben, weil er als Einziger die innere Beschaffenheit des jeweiligen Menschen kennt, auf die alle Tugendgesetze abzielen und die die moralische Qualität des Einzelnen ausmacht. Dieses gemeine ethische Wesen wird also von Kant folgerichtig als »Reich Gottes« bezeichnet, das »nur durch Religion von Menschen unternommen« (RGV B 226) werden kann. Auch wenn Kant das ethische gemeine Wesen unter göttlicher moralischer Gesetzgebung als »unsichtbare Kirche« bezeichnet, braucht es dennoch einer sichtbaren Form der Kirche, in der Gott »der Urheber der Konstitution, Menschen aber doch, als Glieder und freie Bürger dieses Reichs, in allen Fällen die Urheber unter denen sie mit jedes andern Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (RGV B 137). Die Gesamtheit der Menschen ist sich selbst der Gesetzgeber, wogegen in einem ethisch gemeinen Wesen alle unter dem Moralgesetz stehen. 130 In der ersten Ausgabe RGV A 126 heißt die Stelle vielleicht klarer: »Befehdung des guten Prinzips, das in jedem Menschen liegt, durch das böse«.
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Die Freiheit des Willens und die Faktizität des Sollens
der Organisation sind« (RGV B 227). Aus der Sicht der moralpraktischen Vernunft, die für das menschliche Leben entscheidend ist, wird keineswegs ein Wissen über die Absichten oder das Tun Gottes erfordert. Das einzige, was der Mensch wissen muss, ist, was er zu tun hat, um sich als würdiger Bürger des ethischen gemeinen Wesens zu erweisen.131
1.2.6 Der kategorische Imperativ und die Goldene Regel Seit je her wurde das sozial-gesellschaftliche Miteinander durch bestimmte Verhaltensregel konditioniert. Eine der bekanntesten Regeln, die fast in allen Kulturen anzutreffen ist, stellt die sog. »Goldenen Regel« dar, die zuweilen mit dem kategorischen Imperativ verglichen oder gar identifiziert wird. Hier liegt jedoch ein Missverständnis vor. In der Tat kann die allzu starke Betonung der Verallgemeinerbarkeit der Maximen, in der einige das Wesen des kategorischen Imperativs erblicken, dazu verleiten, eben diesen kategorischen Imperativ mit der Regel »was du nicht willst, dass man dir tut, füge auch dem anderen nicht zu« in eins zu setzen. Kant selber hat sich dagegen ausdrücklich verwahrt und auf den Unterschied zwischen der Goldenen Regel und dem kategorischen Imperativ hingewiesen: »Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander […]« (GMS BA 68). Die Goldene Regel mag zwar für das soziale Zusammenleben als eine überaus praktikable Faustregel dienen, zur Begründung der Moralität reicht sie jedoch nicht aus. Nach der Goldenen Regel wäre der von Kant erwähnte Fall erlaubt: wenn ein Mensch nicht will, dass ihm geholfen wird, damit er sich den Anderen gegenüber nicht verpflichtet fühlen muss, ist er nicht verpflichtet, Anderen zu helfen. Der kategorische Imperativ kann aber unter Umständen fordern, dass man dem Anderen helfen soll, auch wenn man es eigentlich aus dem oben genannten Grund nicht will. Weil also aus der Goldenen Regel keine Pflichten gegen Andere und gegen sich selbst abgeleitet werden können, kann sie nicht als Prinzip der Moralität gelten. Eine große Verwandtschaft zwischen der Goldenen Regel und dem kategorischen Imperativ Kants sieht z. B. Paul Ricœur.132 Überraschenderweise findet Ricœur sowohl in der Goldenen Regel als auch im kategorischen Imperativ die Idee der Gegenseitigkeit zugrunde gelegt, die er als eine Grundlage für moralisches Verhalten 131 Vgl.
dazu die Ausführungen in den Kapiteln Moral und Religion und Religion. dazu in P. Ricœur: Soi-même comme un autre das Kapitel La sollicitude et la norme, 254–264. 132 Vgl.
Die Unbedingtheit des Sollens 67
ins Spiel bringen will. Trotz der oben zitierten Ablehnung Kants, die Goldene Regel als Prinzip einer moralischen Gesetzgebung anzusehen, unternimmt Ricœur den Versuch, den kategorischen Imperativ »comme la formalisation de la Règle d’Or« zu lesen.133 Sowohl der kategorische Imperativ, der Achtung vor Personen fordert, als auch die Goldene Regel haben nicht nur »le même terrain d’exercice«, sondern auch »la même visée: établir la réciprocité là où règne le manque de réciprocité«.134 Wie unsere Interpretation schon weiter oben gezeigt hat, irrt Ricœur, wenn er meint, der kategorische Imperativ basiere auf der Idee der Reziprozität. Es bleibt unverständlich, worin eine solche Gegenseitigkeit bestehen soll. Das Moralgesetz fordert Achtung des Anderen als Zweck an sich selbst, ohne Rücksicht auf mein Wohl. In einer ethisch relevanten Situation äußert sich meine Würde als Zweck an sich selbst darin, dass ich als Subjekt der Moralität dem Anderen mit Respekt und Güte begegne. In diesem Zusammenhang markiert Ricœur einen Unterschied zwischen der praktischen Philosophie Kants und der ethischen Philosophie von Levinas, der ebenfalls nicht einleuchtet. Zwar sieht er richtig die große Verwandtschaft zwischen den Moralkonzepten beider, ist jedoch der Ansicht, dass Kant im Gegensatz zu Levinas die Achtung vor dem Gesetz über die Achtung gegenüber den Personen stellen würde.135 Wie aus der Auslegung des unbedingt geltenden Sittengesetzes bereits deutlich wurde, lässt sich nicht nur für das Konzept von Levinas, sondern auch für das von Kant zeigen, dass es asymmetrisch angelegt ist.136 Dass die Moral bei Kant nicht symmetrisch angelegt ist, hat ebenfalls Levinas gesehen.137 Die Achtung vor den Personen muss in der Achtung vor dem Gesetz eingeschlossen sein, denn es ist nicht einzusehen, wie in der bloßen Verallgemeinerbarkeit ein unbedingtes Sollen enthalten sein soll. Dieser Interpretation schließt sich wieder Levinas an, wenn er in einem Gespräch die Überzeugung vertritt, dass die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs (GMS BA 67: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«) für ihn schon die Anwesenheit der Anderen beinhaltet und nicht nur auf Universalität abzielt.138 In der Tat basiert die Goldene Regel auf Gegenseitigkeit, der kategorische Imperativ indessen nicht, da er ohne Rücksicht auf die eigene Glückseligkeit Achtung der Personen fordert. Kants Denken ist folglich näher an der ethischen Philosophie von Levinas als an der Goldenen Regel zu verorten.
133 Vgl.
ebd., 259. Ebd., 261 f. 135 Ebd., 388: »Mais, alors que Kant mettait le respect de la loi au-dessus du respect des personnes, avec Lévinas le visage singularise le commandement: c’est chaque fois que l’Autre, tel l’Autre, me dit: ›Tu ne tueras pas‹.« 136 Vgl. dazu N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 140–230. 137 Vgl. B. Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge, 332, Anm. 14. 138 Vgl. die bereits zitierte Stelle E. Levinas: Entretiens avec Le Monde. Philosophies, 146. 134
Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
2. Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
a) Das Gute und das Böse als Objekte des Willens Die Ethik Kant stellt keine rein formalistische Ethik dar, sondern gleichermaßen auch eine Zweck-Ethik. Kant ist sich der Tatsache bewusst, dass der Wille, um überhaupt in der Welt wirksam werden zu können, sich immer auf ein Objekt bezieht und beziehen muss. Das Wollen muss einen Gegenstand, also eine Materie des Wollens haben. Diese Materie des Willens macht jedoch das Objekt des Willens aus und nicht dessen Bestimmungsgrund. Im Rahmen der praktischen Moralphilosophie bilden die Begriffe des Guten und des Bösen die »alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft« (KpV A 101). Unter dem Begriff des Gegenstandes der praktischen Vernunft versteht Kant »die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit«. Es handelt sich um eine Beziehung des Willens auf eine Handlung, durch die ein bestimmtes »Objekt« hervorgebracht werden soll. In diesem Sinne unterscheidet Kant zwischen einer physischen und einer moralischen (Hervorbringungs)Möglichkeit eines »Gegenstandes«. Bei der physischen Möglichkeit fungiert das angestrebte Objekt als Bestimmungsgrund des Willens. Im Gegensatz dazu ist in der moralischen Möglichkeit der Bestimmungsgrund das Moralgesetz. In diesem Fall müsse zuerst geurteilt werden, ob wir überhaupt diejenige Handlung, die auf das Wirklichwerdenlassen eines möglichen »Objekts« geht, »wollen dürfen«. Die Begriffe des Guten und des Bösen werden von Kant strickt ethisch verstanden: »Das Gute oder Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen,1 so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen.« (KpV A 105)2 Ein Urteil bezüglich Gutheit oder Schlechtigkeit kann also nur über menschliche Handlungen gefällt werden, die in einer Willensmaxime ihren Grund haben. Die Kennzeichnungen des Guten und des Bösen besitzen ihre Rechtfertigung alleine im Zusammenhang mit einer handelnden Person. Kant betont, dass als gut oder böse im strikten Sinne weder eine Sache noch ein Zustand der »Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit« bezeichnet werden kann. Der Zu1 Vgl. auch Thomas von Aquin (De malo q. 1 a. 1): »voluntatis autem obiectum est bonum et malum«. 2 In diesem Sinne ist die Anmerkung Kants zu verstehen, die Begriffe des Guten und des Bösen seien »als Folgen der Willensbestimmung a priori« »Modi einer einzigen Kategorie« – der Kategorie der Kausalität der Freiheit. Vgl. dazu KpV A 114 f.
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
stand des Angenehmen oder Unangenehmen impliziert eine Beziehung unserer Sinnlichkeit zu einem Objekt, das Lust oder Unlust hervorruft. Einem solchen Zustand sind nicht die Begriffe des Guten und des Bösen angemessen, sondern die des »Wohl oder Übel«.3 Das Wohl, das mit Lust verbunden ist und das Übel, das mit Unlust in Verbindung steht, können keine moralischen Bezeichnungen im Sinne Kants abgeben. Denn die Bestimmung des höchsten moralischen Prinzips muss unabhängig von dem jeweiligen Zustand für alle Menschen gelten können, muss also a priori von der Vernunft gefunden werden. Ob bestimmte Gegenstände mit Lust oder Unlust verbunden sind, kann aber nicht a priori, sondern alleine durch die empirische Erfahrung a posteriori ausgemacht werden. Wenn die Begriffe des Wohls oder des Übels moralische Relevanz besäßen, würden die Begriffe des Guten und des Bösen stets nur das Nützliche oder Unnütze bezeichnen. Damit wäre jedoch aus Kants Sicht jede Rede über Moral obsolet und Moral würde nicht dasjenige bezeichnen, was von der Sache her darunter zu verstehen ist: »Was wir gut nennen sollen, muss in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheus; mithin bedarf es, außer dem Sinne, zu dieser Beurteilung noch Vernunft.« (KpV A 106 f.) Zwar wird die Vernunft selbstverständlich ebenso in der Befolgung der Maximen gebraucht, die auf die Glückseligkeit zielen, jedoch nur im Sinne der Suche von Mitteln zur Erreichung des glücklichen Zustandes. In einem solchen Fall ist das Objekt, auf den sich der Wille bezieht, kein moralischer Begriff der Vernunft, sondern »ein empirischer Begriff von einem Gegenstande der Empfindung« und der »Probierstein des Guten oder Bösen« läge alleine in der »Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust«. Die höchste Bestimmung der Vernunft liegt dagegen im Moralischpraktischen, wo die reine Vernunft für sich selbst praktisch ist. Wie wird also das Gute und das Böse bei Kant charakterisiert? Wenn das Sittengesetz den Willen allein und unmittelbar bestimmt, dann ist die ihm gemäße Handlung »an sich selbst gut, ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut, und die oberste Bedingung alles Guten« (KpV A 109). Die Bestimmung des Bösen führt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft überraschenderweise nicht durch. Diese Lücke steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Auffassung der Autonomie, die Kant vorerst offensichtlich nicht anders zu fassen vermag, als eine unerlässliche Bedingung des Guten, aber nicht des Bösen. Nähme man seine Charakterisierung des Guten als Maßstab, dann müsste eine an sich selbst böse Handlung aus einem bösen Willen resultieren, d. h. einem Willen, dessen Maxime dem Moralgesetz jederzeit widerstreitet. Ob der Mensch sich eine solche Maxime bilden könnte und 3 Vgl. KpV A 104: »Die deutsche Sprache hat das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Wort bonum bezeichnen, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe, und auch eben so verschiedene Ausdrücke. Für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel (oder Weh).«
Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz 71
wie sie inhaltlich beschaffen sein müsste, ist aus den Ausführungen der Kritik der praktischen Vernunft nicht erkennbar. Erst die Religionsschrift klärt diesen Sachverhalt, indem sie zeigt, dass das Böse von der Maxime der Selbstliebe verursacht wird, sofern sie zur obersten Bedingung der Befolgung der Maxime der Moralität erhoben wird. Für sich genommen ist die Maxime der Selbstliebe moralisch unproblematisch, da sie aufgrund unserer natürlichen Verfassung gebildet wird und als solche gut ist. Festzuhalten bleibt jedenfalls die Betonung der Vorgängigkeit des Sittengesetzes, aus dem erst die Begriffe des Guten und Bösen zu verstehen sind. Die Begriffe des Guten und des Bösen werden nämlich »nicht vor dem moralischen Gesetze«, sondern alleine »nach demselben und durch dasselbe bestimmt« (KpV A 110). Dies nennt Kant einen »Paradoxon der Methode«. Auch wenn in der Kritik der praktischen Vernunft das Böse zuerst nur als ein begrifflich-negatives Pendant in der abstrakten Unterscheidung zwischen gut und böse vorkommt und auch in anderen Werken das Problem des Bösen nicht explizit (oder nur am Rande) behandelt wird, ist Kant jedoch für dieses Problem keineswegs blind. Der »vielberufene Rigorismus seine Moralphilosophie ist« vielmehr, wie Lichtenberger anmerkt, »von der Tatsächlichkeit des Bösen so tief durchdrungen, dass er geradezu als Reaktion auf die Einsicht gelten kann, dass die schärfste Anfechtung der Möglichkeit von Ethik überhaupt im Faktum des Bösen besteht«.4 In einer Reflexion bringt Kant genau diesen Sachverhalt zum Ausdruck, wenn er schreibt, dass wir uns das Gute nicht anders vorstellen können, »als in der Überwältigung des Bösen; sogar die moralische Vollkommenheit nicht anders, als in der Tugend, d. i. der Überwindung der Versuchungen zum Bösen. So fern das Gute aus uns selbst kommen sollte, so mußte die Triebfeder dazu vorangehen. Die ist nun das Böse« (Refl 1455; AA XV, 636). Es ist somit jedoch nur folgerichtig, dass das Moralgesetz zwar die »Heiligkeit der Sitten« fordert, der Mensch alleine zur Tugend fähig ist, d. h. zu einer »gesetzmäßigen Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz«. Das Bemühen um Tugend impliziert aber das »Bewußtsein eines kontinuierlichen Hanges zur Übertretung [Hervorh. von Verf.]« (KpV A 231). Die Ethik als eine Reflexion auf das menschliche Handeln und auf die praktische Bestimmung des Menschen setzt unausgesprochen die Möglichkeit des Bösen als einer möglichen Verfehlung der menschlichen Bestimmung voraus. Das Nachdenken über Moral entfaltet sich vom Hintergrund des faktisch gegebenen Bösen.
4 H. P. Lichtenberger: Über die Unerforschlichkeit des Bösen bei Kant, 119 und 120: »Das Bild der Kantischen Ethik ist massgeblich davon geprägt, dass in den moralphilosophischen Grundschriften primär nach den Bedingungen der Möglichkeit des Guten gefragt wird. Doch auch dort bereits begleitet das Problem des Bösen die Untersuchung wie ein zunächst nicht wahrgenommener Schatten oder wie eine mühsam verdrängte Anfechtung.«
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b) Glückseligkeit und Sittlichkeit Die gegenseitige Zuordnung von Glückseligkeit und Sittlichkeit entfaltet Kant zunächst von der phänomenologischen Beobachtung aus, dass der Mensch von Natur aus nach Glückseligkeit strebt. So wäre nach Kant das Gebot töricht, »daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, […]; denn man gebietet niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will« (KpV A 65).5 Die Glückseligkeit bilde einen natürlichen Zweck, auf den sich unser Wille richtet. Diese »Absicht auf Glückseligkeit« (GMS BA 42) gehört zum Wesen des Menschen als eine Art Naturnotwendigkeit. Die menschliche Tendenz des Strebens nach Glück hebt schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik hervor: »›Was ist das Ziel der Staatskunst und welches das höchste von allen Gütern, die man durch Handeln erreichen kann?‹ In seiner Benennung stimmen fast alle überrein. ›Das Glück‹ (εὐδαιμονία).« (NE 1095a 18). Laut Aristoteles suchen alle Menschen nach Glück, weil es das höchste, das vollendete Gut ist, das um seiner selbst willen gesucht wird und nicht als Mittel zu einem anderen Zweck. Die εὐδαιμονία ist das letzte Ziel, der Endzweck des menschlichen Handelns (τῶν πρακτῶν οὖσα τέλος; NE 1097b 21). Worin diese letzte Glückseligkeit – auf die die ganze Existenz des Menschen ausgerichtet ist – zu finden ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. In einem ähnlichen Sinne wird von Paul Ricœur darauf verwiesen, dass die Glückseligkeit keineswegs als ein endliches Ziel missverstanden werden darf.6 Die Glückseligkeit sei das unendliche Ziel unserer Gesamtorientierung, sie stelle als Totalität den Horizont unserer Existenz in jeder erdenklichen Hinsicht dar. Kant bestimmt die »Glückseligkeit« als einen Zustand, in dem dem Menschen »alles nach Wunsch und Willen geht« (KpV A 224), als einen Zustand der »Befriedigung aller unserer Neigungen« (KrV B 834). In der Religionsschrift wird in einer nochmaligen Differenzierung zwischen einer moralischen und einer physischen Glückseligkeit unterschieden. Unter der physischen ist ein »immerwährender Besitz der Zufriedenheit mit seinem physischen Zustande« zu verstehen. Dieser Begriff der physischen Glückseligkeit muss aber als Rückfall gegenüber dem bereits erreichten begrifflichen Niveau gewertet werden, weil in ihm nicht die Totalität des Glücks-
5 Vgl. ebenso KpV A 45: »Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil se bedürftig ist.« Oder auch MSTL A 16: »Glückseligkeit, d. i. Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist, sich zu wünschen und zu suchen ist der menschlichen Natur unvermeidlich; eben darum aber auch nicht ein Zweck, der zugleich Pflicht ist.« 6 P. Ricœur: Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, 91.
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verlangens ausgedrückt werden kann.7 Die moralische Glückseligkeit besteht nach Kant in »Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung« (RGV B 86 f.).8 In einer anderen Wendung wird die moralische Glückseligkeit auch als »intellektuelle Selbstzufriedenheit« charakterisiert, die das Bewusstsein der Tugend begleitet (vgl. KpV 212). Dem Begriff der moralischen Glückseligkeit wird nur eine untergeordnete Bedeutung in Kants System zugeteilt werden müssen. Die moralische Selbstzufriedenheit stelle sich nämlich nur in dem Fall ein, wenn der Menschen von der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung überzeugt wäre. Die Möglichkeit dieser Überzeugung ist dem Menschen aber nicht gegeben. Trotz des Zutrauens in die eigene Gesinnung, die für die beharrliche Ausdauer auf dem Weg des Guten als unentbehrlich gelten kann, ist es der eigenen Moralität zuträglicher, angesichts der Qualität seiner Gesinnung eher »Furcht und Zittern« zu empfinden. Alle Handlungen, die das Erreichen der eigenen Glückseligkeit zum Zweck – als Bestimmungsgrund des Willens – haben, subsumiert Kant unter das Prinzip der Selbstliebe: »Alle materiale praktische Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit« (KpV A 40). Solche praktische Prinzipien, die eine Materie des Wollens voraussetzen, können keine moralische Gesetze (d. h. allgemein gültige) abgeben, weil »von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden kann, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden« ist (KpV A 39). So werden auch die Imperative, die sich auf die Anwendung der Mittel zur Erreichung der eigenen Glückseligkeit beziehen, nicht kategorisch, sondern hypothetisch genannt, da sie nur auf die Mittel zu einer anderen Absicht zielen. Dem Prinzip der Selbstliebe ist das Prinzip der Moralität entgegengesetzt. Das oberste Prinzip der Sittlichkeit muss in einem apriorischen und formalen Gesetz liegen, falls es eine für alle Menschen allgemeine Gültigkeit besitzen solle (vgl. KpV A 71). Das unbedingt geltende Sollen, das dem Menschen im Faktum des moralischen Bewusstseins gegeben ist, fordert eine völlige »Angemessenheit des Willens an das Moralgesetz«, d. h. die Heiligkeit des Willens (KpV A 220). Das Sittengesetz soll den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens bilden. Kant unterstreicht mit einer äußersten Deutlichkeit, dass die Moral keine Glückseligkeitslehre darstelle. Er betont, »daß die moralische Gesinnung als Bedingung den Antheil an Glückseligkeit und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache« (KrV B 841 f.) Die Moral stelle nicht eine Lehre dar, »wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen«
7 Dass Kant die Glückseligkeit als ein umfassendes Ziel versteht, geht u. a. aus einer Stelle in der Grundlegung hervor, in der es heißt, dass die »Vorschrift der Glückseligkeit« sogar »einigen Neigungen großen Abbruch« tun kann (vgl. GMS BA 12). 8 Vgl. auch RGV B 100: die moralische Glückseligkeit bestehe »im Bewußtsein seines Fortschrittes [des Menschen] im Guten (der mit der Verlassung des Bösen ein Actus ist)«.
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(KpV A 234).9 Das moralische Gesetz schließt den Einfluss der Selbstliebe auf den Willen aus und tut dem Eigendünkel »unendlichen Abbruch«: »Was nun unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urteil Abbruch tut, das demütigt. Also demütigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht« (KpV A 131 f.) Der »Eigendünkel« wird als Selbstliebe des »Wohlgefallens an sich selbst« (arrogantia) bestimmt10 und zwar im Gegensatz zur »Eigenliebe«, die als Selbstliebe des »Wohlwollens gegen sich selbst« aufgefasst wird (KpV A 129).11 Die für die Sinnennatur des Menschen als negativ empfundene Demütigung ist nach Kant zugleich mit einem positiven Gefühl verbunden, das vom Moralgesetz erweckt wird – mit dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz. Im Zusammenhang mit der scharfen Abgrenzung zwischen dem Prinzip der Moralität und dem Prinzip der Selbstliebe wurde gegen Kant der Vorwurf des Rigorismus12 geltend gemacht. Die gegenseitige Bestimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit wird öfters kritisiert. Einer der stärksten Vorwürfe geht in die Richtung, dass Kant die Neigungen zu negativ bewerte und den moralischen Wert einer Handlung alleine dem Handeln »aus Pflicht« zuspreche. Die wahrscheinlich berühmteste Kritik hat zu Kants Lebzeiten Friedrich Schiller vorgetragen, auf die Kant in seinen Werken reagiert hat.13 Kant wehrt sich gegen Schillers Vorwurf, seine Vorstellung von moralischer Verbindlichkeit geht mit einer »karthäuserartigen Gemütsstimmung« einher (RGV B 11 Anm.). Kant bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde, in der es heißt: »In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen«.14 Seine bekannteste und in eine ähnliche Zielrichtung vorstoßende 9 Vgl. auch die Ansicht Kants (KpV A 234 f.), »daß man die Moral an sich niemals als Glückseligkeitslehre behandeln müsse, d. i. als eine Anweisung, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden; denn sie hat es lediglich mit der Vernunftbedingung (conditio sine qua non) der letzteren, nicht mit einem Erwerbsmittel zu tun«. 10 Vgl. auch KpV A 131: »Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgründen des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Gesetz macht, Eigendünkel heißen kann.« 11 An dieser Stelle heißt es im Gegensatz zu einigen späteren Passagen, dass der Eigenliebe Abbruch getan, der Eigendünkel jedoch sogar niedergeschlagen wird. 12 Kant selber hält den Vorwurf des Rigorismus nicht für einen Tadel, sondern versteht ihn als Lob (vgl. RGV B 9). Diese Selbsteinschätzung Kants gilt jedoch nur in der Frage der Bestimmung des obersten moralischen Prinzips. Unter dem anthropologischen Winkel der Beurteilung des empirischen Verhaltens des Menschen lässt Kant fast stets einen realistischen und milden Blick erkennen. 13 Vgl. RGV B 10 f. 14 F. Schiller: Über Anmut und Würde, 262.
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Kritik trägt Schiller in den Xenien vor: »Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,/Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin./Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,/Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.«15 Kant betont, dass eine »sklavische Gemütsstimmung« selbstverständlich nicht dem angestrebten Ziel der Tugendhaftigkeit entsprechen kann, da sie mit einem Hass auf das Moralgesetz verbunden wäre. Das Zeichen einer echten Tugend ist die »fröhliche Gemütsstimmung« und das »fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht« (vgl. RGV B 12 Anm.). Das Sittengesetz soll gerne getan werden, auch wenn es uns etwas gebietet, das sich gegen unsere natürlichen Neigungen richtet: »das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare, Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes« (RGV B 219 f.). Wenn der Mensch lange genug die Liebe zu den Mitmenschen, die ihn vom Sittengesetz geboten wird, eingeübt hat, ist die Möglichkeit denkbar, dass sich diese moralische Verhaltensweise zum Habitus entwickelt, d. h. zu einer ›erworbenen‹ Natur wird (AA XXVII, 250): »Wenn ich andere aus Verbindlichkeit liebe, so erwerbe ich mich dadurch Geschmack an der Liebe und durch Übung wird die Liebe der Verbindlichkeit zur Neigung.« Im Anschluss an Schiller und Hegel legt auch Dieter Henrich seinen Finger an diesen wunden Punkt. Mit Zustimmung zitiert er die Kritik Hegels – »Sein Vaterland zu verteidigen, die Glückseligkeit eines Anderen ist Pflicht, nicht wegen ihres Inhalts, sondern weil es Pflicht ist«16 – und formuliert den Einwand mit folgenden Worten: »In der Intention meines sittlichen Willens ist der Andere und seine Hilfsbedürftigkeit nur Anwendungsfall eines allgemeinen Prinzips und Anlaß, die vernünftige Allgemeinheit des Willens zu bewähren.«17 Dem sittlichen Bewusstsein müsse es darum gehen, seine Pflicht zu tun und »in einem« dem Anderen zu helfen. Die sittliche Befriedigung würde aus dem »Bewußtsein getaner Pflicht und der Freude über die gelungene Zuwendung oder der Trauer über ihr Mißlingen« resultieren.18 In der Tat gibt es in der Grundlegung eine Stelle, auf die sich die oben genannten Einwände mit Recht beziehen können. Kant sagt dort: »So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Existenz was gelegen wäre (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein Wohlgefallen indirekt durch Vernunft), sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeinen Gesetz begriffen werden kann.« (GMS BA 89) Die von Henrich genannte Gefahr ist bei Kant vorhanden. Berücksichtigt man jedoch Kants Moralphilosophie in seiner ganzen Breite, auch unter Heranziehung von Kants Reaktionen auf Einwände gegen seine vermeintliche rigoristische Auffassung der Moral, sieht man, dass sich Kant dieser Gefahr bewusst war. Auch in der Grundlegung geht es Kant 15 F.
Schiller: Sämtliche Gedichte, 627. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 368. 17 D. Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, 365. 18 Vgl. ebd., 366. 16 G.
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nicht darum, ein altruistisches Handeln aus Sympathie oder Zuneigung als schlecht darzustellen oder zu verwerfen. Er betont lediglich, dass solches Handeln zwar »Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung [Hervorh. von Verf.] verdient« (GMS BA 10). Kant will lediglich darauf hinaus, dass unsere Hochschätzung – unsere höchste moralische Anerkennung – allein eine Handlung »aus Pflicht« verdienen kann: eine Handlung, dessen Bestimmungsgrund allein das moralische Gesetz darstellt.19 Kant verliert bei seinem Bemühen um die Bestimmung der Moral nicht den Sinn und den Blick für die menschliche Realität. In der Bestimmung der obersten moralischen Prinzipien muss nach Kant »Strenge herrschen«. Das Prinzip der Moral muss a priori von der Vernunft aufgestellt werden. Die Moral untersucht im Gegensatz zur Anthropologie nicht, wie sich der Mensch tatsächlich verhält, sondern wie er sich verhalten soll. Die Beurteilung der empirischen Situation des Menschen muss jedoch mit der Anthropologie beginnen und sie fällt in Kants Schriften eher realistisch und milde aus. Kant weiß gut, dass »Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel« große Versuchungen zur Übertretung des Moralgesetzes darstellen, wogegen »Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt« dem moralischen Betragen förderlich sein können. So lässt sich die Sorge um das eigene Wohlbefinden als eine indirekte Pflicht verstehen, denn indem ich zum Beispiel auf die Erhaltung meiner Gesundheit achte, »ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist« (MSTL A 18). Die Prinzipien der Moral und der Glückseligkeit stellen keine Gegenpole dar. Die reine praktische Vernunft verlange nicht, dass der Mensch »die Ansprüche auf Glückseligkeit« aufgibt, sondern nur unter der Maßgabe des Sittengesetzes keine »Rücksicht nimmt«. In gewisser Hinsicht kann sogar als Pflicht angesehen werden, für seine Glückseligkeit zu sorgen, »teils weil sie […] Mittel zur Erfüllung seiner Plicht enthält, teils weil der Mangel derselben […] Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten« (KpV A 166 f.). Der menschliche Wille bezieht sich notwendigerweise auf einen Zweck. Derjenige Zweck, welcher unser Wollen und Streben natürlicherweise am Fundamentalsten beeinflusst, ist die Suche nach eigenem Glück. Als bedürftiges und endliches Wesen ist der Mensch auf die Befriedigung oder wenigstens auf die Aussicht auf Glückseligkeit existentiell angewiesen. Deshalb muss sich jede Frage nach der Moralität im Rahmen der Frage nach der Glückseligkeit bewegen und von ihr ausgehen, weil dem Menschen nicht zugemutet werden kann, »auf das Physische der Glückseligkeit« gänzlich zu verzichten (RGV B 203). In der Beurteilung unserer praktischen Vernunft, sagt Kant, komme es »auf unser Wohl und Weh […] sehr viel, und, was unsere Natur als sinnlicher Wesen betrifft, alles auf unsere Glückseligkeit an […]; aber alles überhaupt kommt darauf doch nicht an« (KpV A 107 f.). Diese zitierte Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft wendet sich ebenso gegen falsch verstandenen Rigorismus. Denn der Ausschluss 19 Vgl.
dazu z. B. A. W. Wood: Kantian Ethics, 27 f.
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der Glückseligkeit als eines möglichen moralischen Bestimmungsgrundes des Willens bedeutet keineswegs, dass einem sich um ein tugendhaftes Leben bemühten Menschen die Glückseligkeit völlig gleichgültig sein müsste und sogar sollte. Auch wenn das Moralgesetz von uns in bestimmten Fällen die Preisgabe der eigenen Glückseligkeit fordern kann, und zwar bis zum Verlust des eigenen Lebens, kommt es doch »auf unser Wohl und Wehe in der Beurteilung unserer praktischen Vernunft [Hervorh. von Verf.] gar sehr viel« an. Im Hinblick auf unsere sinnliche Natur kommt es – und zwar »alles« – auf die eigene Glückseligkeit an, weil die menschliche Sinnennatur auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse angewiesen ist. Der Mensch hat nach Kant zum Beispiel die indirekte Pflicht, für seine Gesundheit Sorge zu tragen: »Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter befriedigten Bedürfnissen, könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden.« (GMS BA 12) Diese Sorge um das eigene Wohlbefinden stellt aber nicht den höchsten Zweck dar, weil »alles überhaupt« doch nicht darauf ankommt, wie Kant sagt. Die Suche nach der eigenen Glückseligkeit steht immer unter der sie einschränkenden Perspektive der höchsten menschlichen Bestimmung – der moralischen Bestimmung. Die Pflicht, sich um sein eigenes Wohl zu sorgen – neben dem natürlichen Streben, in dem wir uns quasi automatisch um die Befriedigung unserer Bedürfnisse kümmern – ist der höheren Pflicht geschuldet, sich moralisch gut zu verhalten. Als ein natürliches Phänomen unserer menschlicher Natur ist die Ausrichtung auf Glück zuerst vormoralisch, also weder gut noch schlecht. Die Situation ändert sich, wenn mein Glücksstreben mit dem der Anderen kollidiert. Die Kollision von disparaten Glücksstreben verschiedener Personen führt unausweichlich auf die Frage nach einem richtigen moralischen Verhalten, in der es nicht mehr um die Frage geht, wie ich mein Glück am besten befördern kann und zwar auch auf Kosten des Anderen, sondern wie ich dem Anderen (und auch mir selbst) als Zweck an sich selbst gerecht werde.20 Da es sich beim Streben nach Glückseligkeit um eine Tendenz unserer sinnlichen Natur mit all ihren Neigungen handelt, ist die Glückseligkeit als Bestimmungsgrund des Willens in der Moral in Kants Augen diskreditiert. Auch wenn die Glückseligkeit als Bestimmungsgrund des Willens in einer moralisch guten Tat ausgeschlossen werden muss, behält sie doch in der ganzen Bestimmung des Menschen eine tragende Rolle. So erhält diejenige Frage an Brisanz, die danach fragt, ob der Mensch ohne die Aussicht, oder besser gesagt, ohne die Hoffnung auf die eigene Glückseligkeit im Stande wäre, das moralische Gesetz zu befolgen. Diese Aussicht auf die eigene Glückseligkeit darf jedoch streng genommen nicht als Triebfeder meines Willens verstanden werden, sondern als eine proportionale Folge der Tugend. Ich habe jedoch weder Anspruch auf sie noch kann ich wissen, ob ich tatsächlich an ihr teil20 Das eigene moralische Verhalten kann sich letzendlich auch gegen die eigenen natürlichen Neigungen richten, sodass es Schmerz und Leiden bedeutet. Vgl. KpV A 128 ff.
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haben werde.21 Wie es mit meiner möglichen jenseitigen Glückseligkeit steht, kann ich auch aus dem Grund nicht wissen, da ich nicht im Stande bin, meine moralische Qualität, meine Tugendhaftigkeit (d. h. meinen intelligiblen Charakter) abschließend zu beurteilen (vgl. KrV B 579). Weil der Mensch seine eigene Moralität nicht vollständig zu beurteilen vermag, sieht er sich laut Kant genötigt, auf einen »Herzenskündiger« zu hoffen, der das Innerste der Gesinnungen zu durchschauen vermag.22 Einen solchen »Rechtfertigungsgrund des Hoffens« erwägt Thomas Höwing in seiner Interpretation des Kanonstücks der Kritik der reinen Vernunft: für den Menschen sei es aufgrund der Verfassung seiner endlichen Natur unmöglich, sich dem moralischen Gesetz ohne Ausnahme zu unterwerfen, wenn er nicht auf eine Glückseligkeit nach diesem Leben hoffen könnte.23 Jedoch auch mit der theoretisch begründeten (im Ausgang vom praktischen unbedingt geltenden Gesetz her)24 Hoffnung auf eine der Tugend proportional zugeteilten Glückseligkeit erlaubt sich der Mensch doch Ausnahmen vom moralischen Gesetz. Der Mensch »ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen« (RGV B 26 f.). Nach Kant darf, wie bereits dargelegt, die Eudaimonie nicht zum Grundsatz der Moral gemacht werden, denn das würde zur »Euthanasie (de[m] sanfte[n] Tod) aller Moral« (MSTL A IX) führen. Es bleibt allerdings zu fragen – und diese Frage bleibt meiner Ansicht nach in der gesamten Philosophie Kants virulent – ob der Glückseligkeit auf der Ebene der Triebfeder25 doch stärkeres Gewicht eingeräumt wird, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar sagt Kant im ersten Satz der Vorrede zur Religionsschrift mit ausdrücklicher Klarheit (RGV B III): »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eine andern Wesens über ihm, um seine Pflichten zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst [Hervorh. von Verf.], um sie zu beobachten.« Andere Stellen erwecken dagegen den Anschein, Kant ge21 Vgl. KpV A 231: »Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit.« 22 Vgl. RGV B 139. 23 Vgl. Th. Höwing: Kants Lehre vom höchsten Gut unter besonderer Berücksichtigung des Kanons der reinen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft, 54: »Der Schlüssel unserer Rechtfertigung des Hoffens wird darin bestehen, daß ein Mensch, der nicht auf eine Verknüpfung von Moralität und Glückseligkeit hofft, auch nicht mehr in der Lage ist, ausnahmslos moralisch zu handeln.« 24 Was in der Kritik der reinen Vernunft noch als »Leitfaden« des Praktischen für das Theoretische genannt wird, nennt später in der Kritik der praktischen Vernunft Kant das Postulat der reinen praktischen Vernunft (KpV A 220): »worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt.« 25 Unter »Triebfeder« versteht Kant einen »subjektiven Grund des Begehrens«. Vgl. dazu GMS BA 63.
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nüge nicht seinen eigenen inhaltlichen Vorgaben in der Frage der Bestimmung des Prinzips der Moral. Kant scheint bis zuletzt mit der Frage gerungen zu haben, ob die Glückseligkeit – und zwar im Rahmen der Religion – als Triebfeder zugelassen werden kann oder nicht. Dass als der alleinige Bestimmungsgrund des Willens das Moralgesetz fungieren darf, steht als Kants Position eindeutig fest. Aber die Triebfederproblematik lässt keine eindeutige Festlegung erkennen. Am Anfang der Entwicklung seiner praktischen Philosophie steht ein klares Bekenntnis zur Funktion der Religion als Triebfeder. Obwohl die Triebfeder für das Ausführen einer guten Handlung im moralischen Gefühl gesehen wird,26 meint Kant offenbar, auf die zusätzliche theologische Motivation nicht verzichten zu können. In der Ethik-Menzer etwa schreibt Kant: »zwar kann die Theologie nicht ohne Moral und diese wieder nicht ohne jene bestehen; allein es ist hier nicht die Rede, daß die Theologie eine Triebfeder der Moral sei, das ist sie freilich […]. In der Exekution muß zwar freilich ein drittes Wesen sein, das da nötigt, dasjenige zu tun, was moralisch gut ist. Allein zur Beurteilung der Moralität brauchen wir kein drittes Wesen; alle moralischen Gesetze können richtig sein, ohne ein drittes Wesen, aber in der Ausübung wären sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nötigen möchte; man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effekt wären«.27 Kant vertritt die These, wie noch darzustellen sein wird, dass die Moral unausweichlich zur Religion führt. So lassen sich die Forderungen des Sittengesetzes als göttliche Gebote betrachten. Im Gegensatz zur grundsätzliche Festlegung in der Religionsschrift – dass die Moral weder »der Idee eines andern Wesens über ihm« bedarf, »um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten« (RGV BA III) – legt eine Passage aus der Metaphysik der Sitten eine andere Deutung nahe. Kant zeigt sich überzeugt, dass wir uns die Forderungen des Sittengesetzes als Gebote Gottes aus dem Grund vorstellen, weil wir uns »nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemeine gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken. – – Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht objektive die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen anderen, sondern nur subjektive zur Stärkung der moralischen Triebfeder [Hervorh. von Verf.] in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft« (MSTL A 181). Die inhaltlichen Differenzen lassen sich meiner Ansicht 26 »Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urteil affiziert zu werden.« Ethik-Menzer, 54. Vgl. auch ebd., 97: »Die Sittlichkeit hat notwendige Beziehung auf die Glückseligkeit, denn das moralische Gesetz führt natürliche Verheißung mit sich; habe ich mich so verhalten, daß ich der Glückseligkeit würdig bin, so kann ich auch hoffen, dieselbe zu genießen, und das sind die Triebfedern der Sittlichkeit. […] Die Glückseligkeit ist kein Grund, kein Principium der Moralität, aber ein notwendiges Corollarium derselben.« 27 Vgl. ebd., 48.
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nach alleine unter der Betonung des »Anschaulichmachens« lösen. Kants Position muss in der Weise verstanden werden, dass wir uns die Forderung in der Art der Gottes Gebote denken müssen, jedoch nicht als Bestimmungsgrund des Willens. Dieser liegt alleine im Moralgesetz, das sich die praktische Vernunft selber gibt. Warum brauchen wir die Idee eines höchsten Gesetzgebers, um uns die Pflichten anschaulich zu machen? Kommt sowohl die Glückseligkeit als auch die Religion über den Begriff des höchsten Guts doch noch als Triebfeder des Willens in Betracht? In seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie sagt Kant deutlich, dass das Moralgesetz zwar durch den kategorischen Imperativ mit »Wahrheit und Autorität« ausgestattet ist – insofern bedarf es keiner Religion zur Befolgung des Sittengesetzes –, es jedoch zugleich einen Zweck gebietet, der für menschliche Kräfte unausführbar ist, der Mensch also zur Annahme eines allmächtigen Weltherrschers bewogen wird. Dieser die menschlichen Kräfte übersteigende Zweck stellt die »ideale« moralische Welt dar, in der die dem Tugendhaften gebührende Glückseligkeit garantiert wird. Diese Herbeiführung der Glückseligkeit liegt jedoch alleine in der Hand eines allmächtiger Weltherrschers. Kants Resultat lautet: »Es ist also in dem kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welcher zum Menschen sagt: ich will, dass deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge zusammenstimmen, schon die Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens, der alle Gewalt enthält (des göttlichen), zugleich gedacht, und bedarf es nicht, besonders aufgedrungen zu werden.« (VT A 406 f.) Bekannterweise wird die Kantische Ethik meistens als eine Gesinnungsethik bezeichnet. Sie ist in der Tat Gesinnungsethik, zugleich jedoch auch eine Zweckethik. Denn obwohl Kant immer wieder betont, dass der moralische Bestimmungsgrund des Willens stets das formale Sittengesetz ohne eine materiale Zwecksetzung sein muss, ist ihm zugleich bewusst, »ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann« (RGV BA VI). Als Zwecke des moralisch guten Handelns gelten »eigene Vollkommenheit, fremde [nicht die eigene] Glückseligkeit« (MSTL A 13).28 Auch wenn der Zweck der eigenen Glückseligkeit in der moralischen Bestimmung des Willens keinen Grund abgeben darf, richtet sich doch die Hoffnung auf die eigene Glückseligkeit. Der Mensch hofft, trotz des moralischen Handelns, das dem eigenen Lebensglück großen Abbruch tun kann, der Glückseligkeit nicht völlig entbehren zu müssen. Das heißt nicht, dass die eigene Glückseligkeit innerhalb eines tugendhaften Lebens irrelevant wäre (vgl. z. B. KpV A 211 oder A 213 f.). Ich soll 28 Der Zweck der Bewirkung der fremden Glückseligkeit steht unter der einschränkenden Bedingung der Tugendhaftigkeit. Ich darf die Glückseligkeit nur unter der Bedingung zu befördern suchen, sofern es dem Gebot des Sittengesetzes nicht widerspricht. Vgl. RGV BA V Anm.: »Denn eine Handlung muß zuvor an sich selbst nach dem moralischen Gesetze abgewogen werden, ehe sie auf die Glückseligkeit anderer gerichtet wird. Dieser ihre Beförderung ist als nur bedingter Weise Pflicht, und kann nicht zum obersten Prinzip moralischer Maximen dienen.«
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mich auch um meine Glückseligkeit sorgen, jedoch immer unter der Perspektive der fremden Glückseligkeit. Die »glückliche Übereinstimmung« mit mir selbst ist die Voraussetzung für eine moralisch gute Haltung gegenüber dem anderen Menschen. Ebenso kann ich unter der Perspektive eines tugendhaften Handelns auf eine »ewige« Glückseligkeit hoffen.29 Aus der Moral heraus ergeben sich konsequenterweise Zwecke für den Willen, denn obwohl für die Beurteilung der moralischen Qualität einer Handlung alleine die Gesinnung maßgebend ist, kann »der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme« (RGV BA VII). Der autonome Wille darf nicht von äußerer Zwecksetzung bestimmt werden (das wäre Heteronomie), der Wille hat und muss sogar eine Beziehung auf Zwecke haben, wenn er in der Welt wirken und keine bloße theoretische Chimäre bleiben soll. Einen Zweck definiert Kant als einen »Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird« (MSTL A 11). In der Kritik der Urteilskraft wird die Konstitution des Begriffs der Glückseligkeit in der Weise beschrieben, dass ihn der Mensch nicht durch Abstraktion von seiner Anlage zur Tierheit gewonnen habe. Laut Kant stellt sie »eine bloße Idee eines Zustandes [dar], welcher er den letzteren unter bloß empirischen Bedingungen (welches unmöglich ist) adäquat machen will« (KU B 388). Diese Idee eines glückseligen Zustandes, das in der Tat ein letzter Naturzweck darstellt, kann vom Menschen »nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden«. Die Glückseligkeitssuche des Menschen stellt als letzter Naturzweck keinen endgültigen letzten Zweck, keinen Endzweck dar. Da jeder Mensch sein Glück, das ihn die Natur gewähren soll, in etwas anderem sucht, kann keine Einigkeit über einen so beschaffenen Endzweck erzielt werden. Unter Glückseligkeit in und durch die Welt wird »der Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke desselben« verstanden; »das ist die Materie alle seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen« (KU B 391). Der Endzweck als ein »Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf« (KU B 396) kann nur im Zusammenhang mit einem formalen praktischen Gesetz gefunden werden, das dem Mensch seine letzte Bestimmung, nämlich die sittliche, vor Augen führt und ins Bewusstsein hebt.30 Sich jedoch den Endzweck der ethischen Welt zu setzen, bedeutet keine zusätzliche Pflicht. Sich zur Pflicht den Endzweck des höchsten Guts zu denken, stellt nach Kant lediglich ein moralisch gewirktes Bedürfnis dar. Als Fazit lässt sich festhalten, dass weder der Begriff eines Gottes noch der Begriff 29 Vgl. auch Refl 7049 (AA XIX, 235): »Die Würdigkeit, Glüklich zu seyn, ist die Möglichkeit, nach allgemeinem Gesetze der glükseeligkeit theilhaftig zu werden.« 30 Nur im Menschen als ein Subjekt der Moralität ist »die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist« (KU B 399).
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einer der Tugendhaftigkeit entsprechenden Glückseligkeit in der kritischen Philosophie als Triebfeder angesehen werden kann. Dieses Resultat soll zum Abschluss im der folgenden Passage aus der kleinen Schrift Was heißt sich im Denken orientieren? (WDO A 316) dargestellt werden: »Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchstes Gut, und zum Behuf desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut, anzunehmen: zwar nicht, um davon das verbindende Ansehen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung, abzuleiten (denn sie würden keinen moralischen Wert haben, wenn ihr Bewegungsgrund von etwas anderem, als von dem Gesetz allein, das für sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde); sondern nur, um dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität zu geben, d. i. zu verhindern, daß es zusamt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existiere, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet.«
2.1 Das Gute 2.1.1 Die Anlagen zum Guten – der gute Wille In seiner Theorie des radikal Bösen geht Kant davon aus, dass der Mensch mit natürlichen Anlagen ausgestattet ist, die als Anlagen zum Guten charakterisiert werden. Wie der Begriff der Anlage bereits nahelegt, wird die naturhafte Ausstattung des Menschen nicht als ein starres Vermögen verstanden, sondern als eine Fähigkeit, die zwar im Menschen vorhanden ist, aber noch entfaltet werden muss. Die Entfaltung von diesen natürlichen Anlagen hat unter der moralischen Perspektive zu geschehen. Da das Streben nach Heiligkeit des Willens – unter der Maßgabe der Forderung des Sittengesetzes – das einzige ist, »was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht« (KpV A 58), müssen die Anlagen auf diesen Zweck hin entfaltet werden. In der Religionsschrift werden drei Arten der Anlagen unterschieden: die Anlage zur Tierheit, zur Menschheit und zur Persönlichkeit. Die erste charakterisiert den Menschen in seiner naturverhafteten Beschaffenheit, die zweite weist auf seine Ausstattung mit der Vernunft hin und die dritte hebt seine letzte Bestimmung hervor – seine Moralitätsfähigkeit. Unter die »Anlage für die Tierheit« subsumiert Kant alle schuldlosen naturhaften Kräfte »der physischen und bloß mechanischen Selbstliebe« (RGV B 15).31 Zu diesen Kräften zählen der Selbsterhaltungstrieb, der Fortpflanzungstrieb und der sozialen Trieb zur Bildung von Gemeinschaften. Beim Missbrauch der Anlagen entstehen Laster; auf der Ebene der Anlage zur Tierheit sind es nach Kant z. B. die Völlerei oder Wollust. In der »Anlage für die Menschheit« 31 Im Hintergrund steht der »amour de soi« von Jean-Jacques Rousseau. Die Selbstliebe im Sinne eines »amour de soi« stellt die »Urleidenschaft« des Menschen dar und geht allen anderen Lebensvollzügen voraus. Sie ist angeboren, gut und entspricht der natürlichen Ordnung, indem sie auf die Selbsterhaltung ausgerichtet ist. Vgl. J.-J. Rousseau: Émile, 275 f.
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kommt die mit der Tätigkeit der Vernunft verbundene »vergleichende Selbstliebe« (RGV B 17)32 zum Tragen, die das Maß der Liebe zu sich selbst vom Vergleich mit anderen Menschen abhängig macht. Da diese Anlage zur Hervorbringung von Kultur dienen soll, werden dementsprechend die Laster als »Laster der Kultur« bezeichnet (Neid, Undankbarkeit oder Schadenfreude). Im höchsten Grade ihrer Bösartigkeit, der die menschliche Bosheit übersteigt, werden sie »teuflische Laster« genannt (RGV B 18). Eine nähere Erklärung der teuflischen Laster, die Kant in der Religionsschrift schuldig bleibt, gibt er in seinen früheren Ethik-Vorlesungen (EthikMenzer), in der er sie von den viehischen Lastern absetzt. Den teuflischen Lastern – erneut wird die Trias Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude genannt – wird ein Grad an Bosheit zugesprochen, »die weit über die Bosheit der Menschen geht«.33 Kant schreibt: »Teuflisch nennen wir das, wenn das Böse bei Menschen so weit getrieben wird, daß es den Grad der menschlichen Natur überschreitet, so wie wir das Gute, was über die Natur des Menschen getrieben wird, eng[e]lisch nennen.«34 Allerdings wird der Leser bei dieser Charakterisierung eher ratlos zurückgelassen aufgrund der Widersprüchlichkeit der Aussage: einerseits wird betont, dass die teuflischen Laster »den Grad der menschlichen Natur« übersteigen und eine »direkte Neigung zum Bösen« implizieren. Andererseits wird behauptet, der Mensch besitze nur eine »indirekte Neigung« zum Bösen und insofern kann er dieser Laster nicht beschuldigt werden. Dass der Mensch jedoch frei von Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude wäre, lässt sich nur schwer mit der Eigen- und Fremderfahrung in Einklang bringen. Die Lösung dieser Widersprüchlichkeit liefert eine Stelle aus der Religionsschrift, in der es heißt, dass nur diejenigen Laster teuflisch genannt werden, die den »höchsten Grad« der Boshaftigkeit erreichen (RGV B 18). Der Mensch ist wohl des Neides oder der Undankbarkeit fähig, der ›reinen Form‹ dieser Laster jedoch nicht. Offensichtlich wird an dieser Stelle unausgesprochen der unzerstörbare Keim des Guten in Anschlag gebracht, der sich in jedem Menschen befindet und auch dem bösesten Menschen noch die Möglichkeit bietet, sich für den Weg des moralisch Guten zu entscheiden. Die dritte Anlage schließlich, die Anlage »für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür« (RGV B 18). Im Zusammenhang mit dieser dritten Anlage nimmt Kant eine feine Unterscheidung vor. Mit der Anlage zur Persönlichkeit wird nicht der intelligible Charakter des Menschen im
32 Erneut liefert Rousseau unausgesprochen die Vorlage zu dieser Charakteristik. Im Unterschied zu der natürlichen Selbstliebe ist sich die Eigenliebe im Sinne eines »amour-propre« nicht selbst genug, sondern verlangt nach Bevorzugung gegenüber den anderen Menschen. Vgl. J.-J. Rousseau: Émile, 276 f.: »L’amour de soi, qui ne regarde qu’à nous, est content quand nos vrais besoins sont satisfaits; mais l’amour-propre, qui se compare, n’est jamais content et ne saurait l’être, parce que ce sentiment, en nous préférant aux autres, exige aussi que les autres nous préfèrent à eux; ce qui est impossible.« 33 Vgl. Ethik-Menzer, 200. 34 Ebd., 278.
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Sinne einer »intellektuellen Idee der Menschheit«35 bezeichnet. Das moralische Gefühl der Achtung für das Moralgesetz stellt noch keine Anlage dar. Mit der »Anlage für die Persönlichkeit« ist die Fähigkeit gemeint, die für das Moralgesetz empfundene Achtung als Triebfeder in die eigene Maxime aufzunehmen. Diese Anlage ermöglicht den guten Charakter und unterscheidet sich von den anderen Anlagen dadurch, dass auf sie »nichts Böses gepfropft werden kann« (vgl. RGV B 18 f.). Alle drei Anlagen sind Anlagen zum Guten, weil sie von ihrer Intention her, die Befolgung des Sittengesetzes befördern sollen. Sie sind teleologisch ausgerichtet und zwar auf die höchste, die moralische Bestimmung des Menschen. In dieser Hinsicht lässt sich mit Wimmer sagen, dass die »Anlage für die Persönlichkeit die Anlagen für die Sinnlichkeit und die Vernünftigkeit in sich befaßt«.36 Die Anlagen sind ursprünglich, weil sie zur Möglichkeit der menschlichen Natur notwendig gehören, zugleich aber zufällig, da der Mensch auch ohne sie denkbar wäre. Das letzte Ziel, der letzte Zweck der Anlagen zum Guten ist folglich in der Hervorbringung des guten Charakters zu sehen. Dieser guter Charakter setzt wiederum einen guten Willen voraus, d. h. eine Fähigkeit des menschlichen Willens, den Grund seiner Gutheit in sich zu haben. Bereits im ersten Satz der ersten Schrift, die der praktischen Philosophie explizit gewidmet ist, hält Kant fest: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden, als allein ein guter Wille.« (GMS BA 1). Der gute Wille ist nach Kant nicht durch dasjenige gut, was er »ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut« (GMS BA 3).37 Eine ähnliche Charakterisierung des guten Willens wird bereits von Augustinus in seiner frühen Schrift De libero arbitrio vorgetragen. Augutinus weist den guten Willen als dasjenige Gut aus, was am meisten in unserer Macht steht und somit besser ist, als alle anderen Güter.38 Der Mensch besitze im Leben nichts Besseres (nihil melius) als die bona voluntas, da sie ihm nicht gegen den eigenen Willen verloren gehen kann und sie aus sich heraus, aus eigener Kraft gut sein vermag.39 Das Vermögen, durch den Willen den Grund seiner Güte in sich zu haben, verleiht dem Menschen »einen absoluten Wert« und macht ihn zum Endzweck der Welt. Kant geht von der festen Überzeugung aus,
35 Kant verwendet an dieser Stelle die Bezeichnung »die Persönlichkeit selbst« (vgl. RGV B 19). 36 R. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 112. Vgl. ebd.: »Der Mensch besitzt Naturanlagen zum Guten; die Anlage für die Persönlichkeit, die in der Empfänglichkeit des Menschen für die Achtung vor dem Moralgesetz besteht, hat diesen Zweck unmittelbar, die übrigen Anlagen haben ihn durch sie vermittelt.« 37 Vgl. auch KpV A 109: »Das Gesetz bestimmt alsdenn unmittelbar den Willen, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut, ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut, und die oberste Bedingung alles Guten.« 38 Vgl. lib. arb. III, 7: »Quapropter nihil tam in nostra potestate quam ipsa voluntas est.« 39 Vgl. lib. arb. I, 26 f.
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dass sich diese von ihm vorgetragene Einsicht – »daß der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könnte« – mit dem »gemeinsten Urteil der gesunden Menschenvernunft« in vollkommener Übereinstimmung befindet (KU B 412). Die Ausführungen Kants zum absoluten Wert des guten Willens dürfen indessen nicht in dem Sinne verstanden werden, dass Handlungen, die einem nicht rein guten Willen entspringen, per se schlecht oder böse sein müssen. Kant hebt lediglich hervor, dass allein der gute Willen einen unbedingten inneren Wert besitzt und damit unsere Hochschätzung verdient.
2.1.2 Der Begriff des höchsten Guts Es wurde bereits festgestellt, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die Begriffe des Guten und des Bösen als ein Begriffspaar einführt, um sich anschließend alleine der Bestimmung des Guten zu widmen. Da die Vernunft zum Bedingten stets das Unbedingte sucht und auf die Totalität der Bestimmung eines Gegenstandes aus ist, wird auch das Gute, das (neben dem Bösen) als das »alleinige Objekt einer praktischen Vernunft« eingeführt worden ist, von der praktischen Vernunft in seiner unbedingten Totalität bestimmt und zwar im Begriff des »höchsten Guts« (vgl. KpV A 194). Das höchste Gut wird nochmals unterschieden in ein »oberstes« und ein »vollendetes«. Das oberste höchste Gut stellt die Tugend dar, die als »die Würdigkeit glücklich zu sein« definiert wird. Sie ist auch die oberste Bedingung »aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit« (vgl. KpV A 198). An dieser Stelle hätte Kant eigentlich mit der Bestimmung des Bösen ansetzen können. Denn der Umkehrschluss seiner These müsste lauten: die Un-Tugend – die Bösartigkeit – bestehe darin, wenn die Glückseligkeit zur obersten Bedingung aller unserer Bewerbung um Moralität erhoben wird. Damit kämen wir der Charakterisierung der Religionsschrift nahe, in der die Selbstliebe »als Prinzip aller unserer Maximen« als »die Quelle alles Bösen« bezeichnet wird (vgl. RGV B 50 f.). Zum vollendeten höchsten Gut reicht die Tugend alleine nicht aus, sie muss mit der Glückseligkeit verbunden werden, die »ganz genau in Proportion der Sittlichkeit« steht. Die Glückseligkeit bildet einen unentbehrlichen Teil des vollendeten höchsten Guts, sie steht indessen stets unter der Maßgabe des moralisch gesetzmäßigen Verhaltens, denn sie ist zwar »angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut« (vgl. KpV A 199).40 Die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit wird laut Kant im Begriff des höchsten Guts als praktisch-notwendig gedacht, will die moralische Reflexion sowohl der menschlichen Wirklichkeit als auch dem Wesen der Moral gerecht werden. Die Charakterisierung des höchsten Guts beinhaltet eine grundsätzliche Schwierigkeit, eine 40 In einer weiterführenden Unterscheidung bezeichnet Kant das höchste in der Welt mögliche Gut als ein »höchstes abgeleitetes« Gut im Gegensatz zur Existenz Gottes, die als ein »höchstes ursprüngliches« Gut angesehen wird. Vgl. dazu KpV A 226.
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Antinomie, wie sich Kant ausdrückt. Die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit kann nämlich in dieser Welt nicht in der ihr zukommenden Proportionalität erreicht werden, da sich die kausale Verbindung von Ursache und Wirkung nicht nach der moralischen Gesinnung des Einzelnen richtet, sondern nach den in der Welt herrschenden Naturgesetzen. Ein Dilemma tut sich auf: Auf der einen Seite kann die Glückseligkeit nicht als eine notwendige Folge der Tugendhaftigkeit in der Welt angesehen werden, auf der anderen Seite wird vom Moralgesetz unbedingt gefordert, das möglichst höchste Gut bereits in dieser Welt zu verwirklichen. Eine praktische Unmöglichkeit des höchsten Gutes würde fatale Folgen nach sich ziehen: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (KpV A 205) Zur Disposition steht das fundamentum inconcussum der ganzen Kantischen Konzeption der Moral: würde sich das Moralgesetz letztendlich als ein Phantasma erweisen, d. h. würde sich zeigen, dass die übersinnliche Kausalität der Freiheit unter moralischen Gesetzen keinen Einfluss auf die sinnliche Welt nehmen kann, dann verliert die Rede über Moralität jedweden Sinn. Da sich uns indessen das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als ein unerschütterliches und unableitbares, von uns nicht angestrebtes Faktum aufdrängt, wird die Lösung der Antinomie auf eine andere Art und Weise aufgelöst werden müssen. Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Art der notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, die sich wenigstens als »möglich denken lassen« muss. Die Glückseligkeit ist zwar als eine »notwendige Folge« der Tugendhaftigkeit vorzustellen, jedoch nur als eine »moralisch-bedingte«; sie ist keine empirisch notwendige Folge (vgl. KpV A 214). Wenn die »Bewirkung des höchsten Guts in der Welt« als eines »notwendigen Objekts eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens« als möglich gedacht werden soll, müssen zwei Bedingungen postuliert werden. Um die Tugendhaftigkeit (die oberste Bedingung des höchsten Guts) als Heiligkeit, d. h. als »völlige Angemessenheit der Gesinnungen […] zum moralischen Gesetze«, denken zu können, müsse die Unsterblichkeit der Seele als »eine ins Unendliche fortdauernde Existenz und Persönlichkeit« in praktischer Hinsicht angenommen werden. Um die der Tugendhaftigkeit entsprechende Glückseligkeit als möglich denken zu können, ist (erneut in einem praktischen Vernunftglauben) das Dasein Gottes anzunehmen, eines Gottes, der jedem Einzelnen seine ihm zustehende Glückseligkeit garantiert. Mit der Existenz Gottes wird das Dasein »einer obersten Ursache der Natur« gedacht, die den Grund der »Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit« enthält und folglich eine »der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat« (vgl. KpV A 225). Die Bestimmung der unbedingten Totalität des Guten als eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft führt in der zweiten Kritik zu der theoretischen Annahme des Daseins Gottes, jedoch nur in praktischer Hinsicht. Die bekannte These Kants, dass die Moral zur Religion führt, wird bereits in den ersten zwei Kritiken grundgelegt und sowohl in der Kritik der Urteilskraft als auch in der Religionsschrift fortgeführt.
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2.2 Das »radikal« Böse In einer knappen Formulierung heißt es bei Kant trocken und fast lapidar: »Der Mensch ist von Natur böse« (Refl 1425; AA XV, 622). Dass der Mensch des Bösen fähig ist, scheint uns tagtäglich die Erfahrung oder der Blick in die Menschheitsgeschichte zu lehren. Die äußerlich sichtbaren bösen Handlungen berechtigen aber noch nicht zu dem Urteilsschluss, dass derjenige Mensch, der sie begeht, auch böse ist. Zur Beurteilung der Bösartigkeit einer Handlung ist die böse Maxime (die Gesinnung also) heranzuziehen, in der die jeweilige Handlung gründe. Die Maximen entziehen sich indessen als subjektive Grundsätze einem Zugriff seitens der Erfahrung. Von einer konkreten bösen Maxime einer konkreten bösen Tat lässt sich nach Kant auf »einen in dem Subjekt allgemeinen liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen [Hervorh. von Verf.]« (RGV BA 6) schließen. Im Menschen ist also ein subjektiver allgemeiner »Grund« zu finden, der nicht nur alle anderen konkreten bösen Maximen bedingt, sondern alle Maximen. Diesen letzten subjektiven »Grund des Gebrauchs der Freiheit überhaupt« bezeichnet Kant als »Hang zum Bösen«, der wiederum als ein »Akt der Freiheit« aufzufassen ist.41 Die Besonderheit von diesem subjektiven Grund des Gebrauchs der Freiheit liegt darin, dass er als eine Tat vorgestellt werden müsse, die »vor aller in die Sinne fallende Tat vorhergeht«. Weil der Hang zum Bösen allen konkreten Handlungen in der Zeit voraus liegt, kann Kant die Behauptung aufstellen, dass er die »Natur des Menschen« ausmache.42 Für die Interpretation der Theorie des Bösen in der Religionsschrift ist es entscheidend, dass man die menschliche Natur an dieser Stelle nicht als Gegensatz zur Freiheit des Menschen interpretiert, wie es dem üblichen Sprachgebrauch in anderen Werken Kants entspricht. Fundamental für das Verständnis der Thesen über das radikale Böse und den Hang zum Bösen ist deren formaler Charakter. Die entscheidende Definition des Hanges zum Bösen, die viele Missverständnisse beseitigen und ein wenig Licht in die verwirrende Argumentation bringen kann, wird in der folgenden Formulierung vorgetragen: der Hang zum Bösen bilde den »formale[n] Grund aller gesetzwidrigen Tat« (RGV B 25). Wollen wir dem Phänomen des Bösen in einer systematischen Moralkonzeption gerecht werden, sehen wir uns nach Kant gezwungen, den Hang zum Bösen als eine apriorische Voraussetzung für die konkreten bösen Taten zu denken. Mit dieser These wird kein übersinnliches metaphysisches Wissen in dem Sinne vorgetäuscht, dass Kant sich ein Wissen über eine »vor der Zeit« geschehene Tat anmaßt. Es handelt sich vielmehr um eine Denknotwendigkeit, um eine Konsequenz, die wir im Denken ziehen müssen. So wie Kant im Begriff des höchsten Guts die »unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« des Guten zu bestimmen suchte, lassen sich seine Thesen zum Bösen derselben Lesart unterziehen. 41 Diesen ersten subjektiven Grund der Annahme von Maximen nennt Kant auch »Gesinnung« (vgl. RGV B 14). 42 Vgl. dazu RGV BA 6 f.
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Das radikal Böse in der menschlichen Natur samt seinem Hang zum Bösen lassen sich als Kants Versuch lesen, das faktisch gegebene Böse ebenfalls in der absoluten Totalität der Bedingungen zu fassen. Die These vom »radikal Bösen« wird strikt im Sinne der Verwurzelung (radix = Wurzel) verstanden. Der Hang zum Bösen zeigt sich in der menschlichen Natur verwurzelt. Das »radikal Böse« bezeichnet also nicht nur und nicht primär das schrecklichste Böse, dessen der Mensch fähig ist und das er in der Geschichte der Menschheit angerichtet hat. Das konkrete böse Handeln setzt schon den Hang zum Bösen voraus, der sich in jedem Menschen vorfindet. Es kann nicht häufig genug unterstrichen werden, dass die These Kants vom radikal Bösen den Hang zum Bösen auch in dem besten und tugendhaftesten Menschen voraussetzt. Der Hang zum Bösen ist folglich nicht nur bei allen Massenmördern der Menschheitsgeschichte vorzufinden, sondern in jedem Menschen. Wenn das radikal Böse in dem oben genannten Sinn der Einwurzelung in der menschlichen Natur begriffen wird, dann kann es eben auch »banal« sein, verliert dabei jedoch nichts an seiner Grausamkeit oder Abgründigkeit. Das radikal Böse im Menschen schließt eben auch dasjenige Böse ein, für das Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Prozess mit Adolf Eichmann die Bezeichnung von der »Banalität des Bösen« geprägt hat.43 Auch wenn man inzwischen weiß, dass Eichmann doch nicht nur ein gedankenloser und pflichtbewusster Technokrat der Macht gewesen ist, wie er sich vor Gericht dargestellt hat, lassen sich die Ausführungen von Arendt als Darstellung eines möglichen Typus von Bösem lesen, das eben nicht als offensichtlich-monströses Böse auftritt. Dem Verbrechen Eichmanns, das aus vermeintlicher »schierer Gedankenlosigkeit« entstanden ist, kann man nach Arendt »beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen«. Es wird eben als »banal« bezeichnet.44 Die Banalität betrifft hier jedoch nicht so sehr die Harmlosigkeit der Entscheidung, die mörderische Konsequenzen für andere Menschen nach sich zieht, sondern eher die Unmöglichkeit, diese Entscheidungen auf eine eindeutig benennbare Ursache beim Täter zu beziehen. Ob es sich dabei um eine Unfähigkeit oder Unwillen des Täters handelt, die Bösartigkeit des eigenen Tun einzusehen, mag dahingestellt sein, da man die letzten inneren Motive beim Anderen nie vollständig durchschauen kann.45 Es gibt
43 Zur Tatsache, dass Hannah Arendt in späteren Werken die eigene These von der Banalität des Bösen als Gegenentwurf zu Kants Theorie des radikal Bösen versteht, vgl. B. Stangneth: Kultur der Aufrichtigkeit, 79. 44 Vgl. H. Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 57: »Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.« 45 Vgl. H. Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, 150: »Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ›skandala‹, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen
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in der Tat die furchtbare »Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert«.46 Diese Ansicht muss jedoch letztendlich für jedes Böse gelten, da es seinen Grund in der Freiheit hat, die der theoretischen Vernunft zum Abgrund wird. Auch wenn man nachvollziehbare Motive für eine böse Handlung finden kann, nimmt letztlich einzig das nicht beantwortete und unbeantwortbare »warum?« den Menschen als moralisches Subjekt, als Freiheitswesen radikal ernst. Würde man das konkrete Böse in der Geschichte (etwa die Verbrechen des Nationalsozialismus) alleine durch die historische Erklärung beleuchten wollen, besteht die Gefahr, »ihm die Absolution zu erteilen «, wie Paul Ricœur treffend bemerkt.47 Wie wertvoll und auch unersetzlich die Arbeit der Historiker ist, könnte der Eindruck entstehen, dass alles so kommen musste, wie es eben kam, dass es sich um eine geschichtliche Notwendigkeit handelt. Trotz der historischen Erklärung darf nicht außer acht gelassen werden, dass in der Geschichte Akteure mit Freiheit agieren, die auch anders handeln konnten, auch wenn der Handlungsspielraum der einzelnen Menschen sicherlich unterschiedlich ausfällt. Die Philosophie unterscheidet in diesem Zusammenhang bekannterweise zwischen einer quaestio facti – also der Frage, wie etwas geworden ist, welche Faktoren und Einflüsse zu einem bestimmten Phänomen geführt haben – und einer quaestio iuris, d. h. wie das entstandene Phänomen zu beurteilen ist, wie es auf der Sachebene einzuschätzen ist. Auf die Problematik des Bösen übertragen, entspricht der Ebene der quaestio facti der »Zugang durch die historische Erklärung« und der quaestio iuris der »Zugang durch das absolut Böse«.48 Der Zugang »durch das absolut Böse« stellt die Frage, was das Böse von der Sache her überhaut ist, wie der Mensch einem anderen Böses antun kann und warum. Wie kann so etwas wie Böses gedacht und beschrieben werden? Ricœur spricht vom »Charakter des plötzlichen Ausbruchs« des Bösen und von der Unmöglichkeit, die verschiedenen Formen des Bösen zu vergleichen:49 »Es ist unmöglich, die Formen des Bösen zu vergleichen, sie zusammenzuaddieren, und zwar genau deshalb, weil das Böse seiner Natur nach un-ähnlich ist, teuflisch, d. h. Zersplitterung, Spaltung. Es gibt kein System des Bösen, das Böse ist jedes Mal das auf einzigartige Weise Einmalige.«50 Die Philosophie darf auf die Frage nach dem Bösen im Hinblick auf ihre Sachhaltigkeit nicht verzichten, denn nur so wird das Phänomen des Bösen als in der menschlichen Freiheit verankert ernst genommen.
kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wird. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.« 46 Vgl. H. Arendt: Eichmann, 371. 47 Vgl. P. Ricœur: Kritik und Glaube, 152. 48 Ebd., 150. 49 Vgl. ebd., 249. 50 Ebd., 153.
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2.2.1 Der Hang zum Bösen Bei der Entfaltung seiner These vom Hang zum Bösen und der Verwurzelung des Bösen in der menschlichen Natur kombiniert Kant die transzendentale Methode mit der phänomenologischen Beobachtung. Die transzendentale Methode sucht die Bedingungen der Möglichkeit einer konkreten bösen Tat zu benennen und zu denken. Die phänomenologische geht von den konkreten erfahrbaren Phänomenen der menschlichen Handlungen aus und reflektiert auf sie.51 Kant sagt, dass er bei seiner Untersuchung des Ursprungs des Bösen nicht vom Hang zum Bösen ausgeht, sondern zuerst »das wirkliche Böse gegebener Handlungen, nach seiner innern Möglichkeit, und dem, was zur Ausübung derselben in der Willkür zusammenkommen muß« in Betracht zieht (RGV B 42). Am Anfang der Untersuchung steht die Erfahrung einer konkreten bösen Tat. Von der äußeren Handlung alleine lässt sich jedoch nichts über die Bösartigkeit oder Gutartigkeit des betroffenen Menschen ausmachen. Stets ist die Gesinnung das entscheidende Maßstab bei der Beurteilung der moralischen Qualität einer Handlung. Diese Gesinnung ist uns aber nicht zugänglich – weder bei den anderen Menschen noch bei uns selber (wenigstens nicht völlig), denn »man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt« (RGV B 87). Auch wenn wir die Gesinnung nicht erkennen können, müssen wir das Zustandekommen einer moralisch bösen Handlung in der Weise denken, dass ihr Grund in einer Regel, in einer Maxime liegen muss. Nur in diesem Falle kann sie uns nämlich zugerechnet werden. Die ersten Ansätze zur Formulierung der These über den Hang zum Bösen sind schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu finden. Kant spricht dort zwar über die selbst erteilte Erlaubnis, sich Ausnahmen vom Sittengesetz zu gewähren, die wir in unsere Maxime aufgenommen haben, allerdings ohne dies explizit als Hang zum Bösen zu qualifizieren: »nur nehmen wir uns die Freiheit (auch nur für dieses Mal) zum Vorteil unserer Neigung, davon eine Ausnahme zu machen. Folglich, wenn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte, nämlich der Vernunft, erwögen, so würden wir einen Widerspruch in unserm eigenen Willen antreffen, nämlich, daß ein gewisses Prinzip objektiv als allgemeines Gesetz notwendig sei und doch subjektiv nicht allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.« (GMS BA 58). An einer anderen Stellen jedoch, im Zusammenhang der Erörterung des Falles, ob ein von vornherein falsches Versprechen (d. h. dass man bereits bei der Abgabe des Versprechens weiß, man wird sein Versprechen nicht halten können) abgegeben werden kann, nennt Kant die Abweichung vom 51 Entgegen der Einschätzung von Margot Fleischer halte ich die Berufung auf die menschliche Erfahrung für eine entscheidende Stärke des Kantischen Ansatzes. Vgl. M. Fleischer: Mensch und Unbedingtes im Denken Kants, 295: »Zur Begründung des Bösen in seiner bezeichneten Allgemeinheit, Notwendigkeit, Unbedingtheit kommt Kant nicht ohne Erfahrung aus. Das mag als solches schon bedenklich sein. Bedenklicher noch wird es, wenn die in Anspruch genommene Erfahrung Brüche zeigt.«
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Prinzip der Pflicht »ganz gewiß böse« (vgl. GMS BA 19). Die Religionsschrift vorwegnehmend stellt Kant aber in einer schärferen Formulierung heraus, dass das »Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich ist« und zwar nicht deshalb, weil es falsch ist oder zur Begründung der Sittlichkeit nicht tauglich ist, sondern aufgrund einer im Hinblick auf die Sittlichkeit tückischen Eigenschaft: »weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen.« (GMS BA 91 f.) Die besondere Tücke, die in der Umkehrung der sittlichen Ordnung – dem »faulen Fleck unserer Gattung« – liegt, besteht darin, dass die äußeren Taten dem Anschein nach dem Moralgesetz entsprechen können, auch wenn es die Gesinnung nicht tut. Kant sieht in diesem Phänomen ein besonderes Hindernis für die Entfaltung einer echten moralischen Gesinnung, da sich der Mensch selber über die eigene Motivation belügt. Die Selbstliebe als oberstes Prinzip unseres Verhaltens ist nicht nur in dem Punkt verwerflich, weil sie gegen das Moralgesetz agiert, sondern weil sie noch eine zusätzliche raffinierte Täuschung bewirkt. Der Mensch versucht offenbar seine dem Sittengesetz entgegenstehende Motivation zu verbergen und seine Taten so aussehen zu lassen, damit sie wenigstens äußerlich-empirisch dem Moralgesetz gemäß erscheinen. Diese Täuschung wirkt nicht nur auf die anderen Menschen, sondern vielleicht noch in gesteigertem Maße auf den handelnden Menschen selber, indem er sich – von der äußeren Gestalt seiner Taten ausgehend – im Besitz einer moralischen Gesinnung wähnt, anstatt die Gesinnung selbst einer schonungslosen Analyse zu unterziehen und zwar ohne Rücksicht auf das tatsächliche Erscheinungsbild der äußeren Handlung. Der äußere Schein von vermeintlich moralisch guten Taten überträgt sich auf die eigene Gesinnung. Und der Mensch ist allzusehr bereit, über seine innere Moralität bessere Meinung zu hegen als sie in Wirklichkeit ist. Kant weist unermüdlich darauf hin, dass der Mensch nie vollständig seine eigene Motivation durchschauen kann52 und er eines inneren Richters in der Gestalt Gottes53 bedarf, der alleine die eigene Gesinnung wahrhaft offenbar machen kann. Auch der beste Mensch kann keinen Stolz auf seine »gute« Gesinnung entwickeln, da er sie nie vollständig zu durchschauen vermag und somit auch nie zu der festen
52 Vgl. KrV B 579: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« 53 Unter dem Begriff »Gott« versteht Kant einen »moralischen Weltherrscher«, der als oberster Gesetzgeber und als Herzenskündiger vorgestellt werden muss, »um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen, und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen« (RGV B 139).
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
Überzeugung gelangen kann, ein vollkommen guter Mensch zu sein. Eine absolute Gewissensruhe angesichts der eigenen Moralität ist mit einer echten moralischen Gesinnung nicht vereinbar. Sachlich gesehen beginnt Kant seine Untersuchung im Ausgang von der in der Erfahrung erlebbaren faktischen Gegebenheit, dass die Menschen Taten vollbringen, die als böse bezeichnet werden können. Für dieses Phänomen werden diejenigen Bedingungen gesucht, unter denen eine Rede über moralisch Böse überhaupt sinnvoll erscheint. Die erste Bedingung findet Kant in den »Anlage[n] zum Guten«. Die Anlagen zum Guten sind aber nur Anlagen, die entfaltet werden müssen. Der Mensch wird durch sie alleine weder gut noch böse. Der Grund der Gutheit oder Bösartigkeit muss im Menschen selber liegen, in seinem freien Willen.54 Ansonsten könnten ihm seine Taten nicht zugerechnet werden. Der Mensch wird erst dadurch gut oder böse, dass er die Triebfedern, die die Anlagen enthalten, »in seine Maxime aufnimmt, oder nicht« (RGV B 48). Der entscheidende Punkt, an dem sich der ganze moralische Charakter eines Menschen entscheidet, ist der Moment der Aufnahme der unterschiedlichen Triebfedern in unsere Maximen (und die daraus entstehende Konkurrenz unter ihnen in unserem Willen). Auf diesem Weg kommt Kant zu seiner zweiten Bedingung der konkreten bösen Einzeltat: dem »Hang55 zum Bösen«. Er bedient sich zunächst der phänomenologischen Methode, in der die menschliche Erfahrung zum Ausgangpunkt der Reflexion genommen wird. Dass der Mensch von Natur aus böse ist, steht für Kant als eine phänomenale Tatsache fest. Der Mensch kann »nach dem, wie man ihm durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden« (RGV B 27) und »daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen« (RGV B 28). Aufgrund der erdrückenden Last des phänomenalen Tatbestandes56 und aufgrund der transzendentalen Überlegung kommt Kant zu dem Schluss, dass wir einen Hang zum Bösen annehmen 54 Kant unterstreicht, dass was »der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen« (RGV B 48). Diese Feststellung erweitert im 20. Jahrhundert Jean-Paul Sartre auf die gesamte menschliche Existenz in seinem berühmten Wort: »der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht«. Auch wenn Sartre den Akzent auf das »nichts anderes« legt, also nicht ausschließlich die moralische Beschaffenheit anvisiert, bleibt für beide Denker die Betonung der Selbstursächlichkeit entscheidend. Vgl. J.-P. Sartre: L’existentialisme est un humanisme, 30: »l’homme n’est rien d’autre que ce qui’il se fait. Tel est le premier principe de l’existentialisme.« 55 Unter »Hang« versteht Kant in diesem Zusammenhang »den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung« oder vielleicht klarer die »Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt« (RGV B 21). 56 Als Beispiel für Erfahrung, die auf ein radikal Böses schließen lässt, kann das Phänomen der »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen« genannt werden, das uns daran hindert, eine echte moralische Gesinnung zu entwickeln. Vgl. RGV B 38.
Das »radikal« Böse 93
müssen. Wenn wir diesen Hang zum Bösen aufgrund der Erfahrung mit dem Menschen annehmen, so haben wir damit jedoch noch nicht verstanden, worin dieser Hang besteht und wie er beschaffen ist.57 Um das moralisch Böse beim Menschen adäquat fassen zu können, müssen wir einen Hang »vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit […] zum Grunde« legen (RGV BA 8). Aus diesem Grund wird der Hang zum Bösen als »der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat« (RGV B 25) bezeichnet. Kant wendet an dieser Stelle eine ähnliche Argumentationsfigur wie bei dem berühmten »Ding an sich« an. Wir können den Hang zum Bösen weder beweisen noch objektiv erkennen, wir müssen ihn jedoch voraussetzen. Wir sehen uns gezwungen, einen solchen Hang zu denken. Aus dieser Einsicht heraus spricht Kant über den Hang zum Bösen als einen formalen Grund. Für eine böse Handlung lässt sich keine weitere Ursache in der Zeit angeben. Denn jede Handlung entspringt dem spontanen Vermögen der Willensfreiheit, die keine natürliche Ursache (im Sinne der Naturkausalität) darstellt. Der Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur wird »bloß in der Vernunftvorstellung [Hervorh. von Verf.] verbunden gedacht« (RGV B 40). Die zwei grundsätzlichen Bedingung für das Denken der bösen Tat bilden somit neben der schon vorausgesetzten Freiheit des Willens die Anlagen zum Guten und der Hang zum Bösen. Wie wird dieser Hang von Kant näher bestimmt? Es wurde schon erwähnt, dass es sich um einen formalen Grund aller gesetzwidrigen Taten handelt. Der Hang zum Bösen besteht im »subjektiven Grund der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze« (RGV B 21). Der Mensch ist sich des Moralgesetzes bewusst und hat trotzdem die Möglichkeit der Abweichung vom Moralgesetz in seine Maxime aufgenommen:58 »Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maximen ein allgemeines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns, oder (auch nur für dieses mal) zum Vorteil unserer Neigungen, davon eine Ausnahme zu machen. Folglich, wenn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte, nämlich der Vernunft, erwögen, so würden wir einen Widerspruch in unserm eigenen Willen antreffen, nämlich, daß ein gewisses Prinzip objektiv als allgemeines Gesetz notwendig sei und doch subjektiv nicht allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.« GMS BA 57 f.59
57 Vgl.
RGV B 32. RGV B 26 f. 59 Vgl. auch GMS BA 23: »Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt. […] Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln, und ihre Gültigkeit, wenigstens 58 Vgl.
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
Der Hang zum Bösen, den wir allen bösen Maximen – aus denen konkrete böse Taten resultieren – unterlegen müssen, gründet in einem »im Subjekt allgemein liegenden Grund« aller Maximen (RGV BA 6). Dieser erster »Grund der Annehmung« von Maximen gründet wiederum in einer ersten Ur-Maxime. Bei dieser »ersten« UrMaxime kann es sich jedoch um keine Maxime im herkömmlichen Sinne handeln, da sie vor der Zeit geschieht. Ausgehend von der grundsätzlichen Definition der Maxime als eines subjektiven Grundsatzes (vgl. KrV B 840) handelt es sich bei der ersten Ur-Maxime zwar um eine Maxime, aber in einem speziellen Sinne. Sie wird erstens allen Maximen in der Zeit zugrundegelegt als ihre apriorische Voraussetzung. Zweitens haben wir es bei der Ur-Maxime mit einer Maxime zu tun, mit der nicht eine konkrete Einzeltat bestimmt wird, sondern der gesamte Gebrauch der Freiheit. Diese ursprüngliche »Tat« muß als Tat verstanden werden, jedoch als eine Tat, die jeder anderen empirischen in der Zeit gegebenen Tat vorhergeht. Für diese besondere Beschaffenheit von solcher Ursprungs-Tat wählt Kant die Bezeichnung »intelligibele Tat«, die alleine »durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar« ist (RGV B 26).60 In seinem kritischen Werk betont Kant, dass wenn nach einer Handlung aus Freiheit gefragt wird, diese Handlung der Vernunft nach und nicht der Zeit nach beurteilt werden muss. Der Mensch ist grundsätzlich nach zwei Seiten hin zu charakterisieren – als Freiheitswesen besitzt er einen intelligiblen Charakter und als Naturwesen einen sensiblen. Aufgrund dieser zweiten Dimension unterliegen zwar alle menschlichen Handlungen qua Erscheinungen den kausalen Abläufen in der Natur. Der Mensch erhebt sich aber auch durch die Spontaneität seines Freiheitsvermögens über die Naturkausalität hinaus, indem er eine Kausalreihe von selbst anfangen kann. Unter der bloßen Zeitperspektive kann somit keine ›freie‹ Handlung angetroffen werden, da eine zeitliche Handlung immer eine bedingte Handlung darstellt, bei der immer ein ihr vorhergehender und sie bedingender Grund angegeben werden kann. In der Zeit wird die Handlung lediglich als Erscheinung betrachtet; der Freiheitscharakter einer Handlung wird auf diesem Wege nicht gefunden: »wir können uns die Möglichkeit der Handlungen als Begebenheiten in der Sinnenwelt aus der moralischen Beschaffenheit des Menschen, als ihnen imputabel, nicht erklären, eben darum, weil es freie Handlungen sind, die Erklärungsgründe aber aller Begebenheiten aus der Sinnenwelt hergenommen werden müssen« (RGV B 260 Anm.). Wenn die Religionsschrift nach dem Ursprung der bösen Handlung fragt, dann rekurriert sie auf diese Unterscheidung. Bei einer bösen Handlung (und dies gilt selbstverständlich auch für eine gute Handlung) müssen wir, um sie richtig verstehen und fassen zu können, nach dem Vernunftursprung fragen und nicht nach dem Zeitursprung. Beim Phänomen des Bösen bewegt sich die Frage in einer dopihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen, und sie, wo möglich, unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen.« 60 In Anspielung auf den theologischen Sprachgebrauch wird der Hang zum Bösen als »peccatum originarium« bezeichnet (vgl. RGV B 25).
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pelten Richtung: sowohl die konkrete böse Tat als auch der Hang zum Bösen müssen der Vernunft nach beurteilt werden.61 In der Frage nach dem Ursprung62 einer bösen Tat in der Zeit wird diese Tat als eine »Begebenheit in der Welt« betrachtet, die auf ihre Naturursache, auf einen vorhergehenden Zustand bezogen wird. In einem solchen Fall wird die entsprechende Handlung unter dem empirischen Gesichtspunkt betrachtet und steht als Erscheinung selbstverständlich innerhalb einer Kausalreihe. Wenn jedoch dieselbe Handlung im Hinblick auf ihre Ursache auf einen freien Willen bezogen wird, dann geschieht diese Verknüpfung allein in der Vernunftvorstellung. Die Freiheit als Ursprung einer als Wirkung in der Welt erfahrbaren Handlung ist alleine durch Vernunft einsehbar.63 Eine aus der Freiheit heraus hervorgebrachte Handlung muss folglich unter dem Aspekt der praktischen Vernunft betrachtet werden, sodass kein weiterer Grund anzugeben ist als die praktischvernünftige Verfassung des freien Willens. Denn »freie Akte können nicht aus der Zeitreihe resultieren, sondern müssen Akte sein, die etwas – das Gute oder Böse – in die Zeit hinein setzen«,64 wie Dörflinger richtig anmerkt. Eine freie Handlung kann aus systematischen Gründen auf keine weitere Ursache bezogen werden, denn sie gründet in der Spontaneität des freiheitlichen praktischen Willensvermögens: »Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stand der Unschuld in sie geraten wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sein: so ist eine Handlung doch frei, und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden.« (RGV B 41) Ebenso muß der Hang zum Bösen als eine »intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung« (RGV B 26) verstanden werden. Auch wenn wir im Ausgang von der Erfahrung auf den Hang zum Bösen als formaler Voraussetzung einer bösen Tat schließen, nehmen wir diese Verbindung erneut ausschließlich mittels der Vernunft vor. Der erste subjektive Bestimmungsgrund der Willkür ist nach Kant, wie ausgeführt, als verdorben vorzustellen. Davon unabhängig ist Kant überzeugt, dass sich der Mensch zwei fundamentale Maximen – Grundmaximen – für das eigene Leben bildet: eine Grundmaxime der Moralität und eine Grundmaxime der Selbstliebe (worunter Kant alle Maximen subsumiert, die die Glückseligkeit zum Zweck haben). Bereits in den Ausführungen im Zusammenhang der Zuordnung von Mo61 Vgl. RGV B 43: »Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser Tat [der bösen Tat] fragen, um darnach den Hang, d. i. den subjektiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen, und wo möglich zu erklären.« 62 Unter Ursprung wird eine erste Ursache verstanden, die nicht durch eine weitere Ursache bewirkt wird. Vgl. RGV B 39. 63 Vgl. RGV B 40. 64 Vgl. B. Dörflinger: Kant über das Böse, 99.
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ralität und Glückseligkeit in der Frage nach dem obersten Prinzip in der Moral wurden diese zwei Grundmaximen angetroffen. Das Böse liegt, wie noch später zu erörtern sein wird, in der Umkehrung der sittlichen Ordnung der Maximen, indem der Mensch die Befolgung des Moralgesetzes, die er in seine Maxime aufgenommen hat, der Maxime der Selbstliebe unterordnet. Dieses konkrete Böse ist als eine Wirkung des Hanges zum Bösen zu verstehen, der dieser Umkehrung als eine transzendentale, formale Voraussetzung zu Grunde liegt. Der Mensch hat ursprüngliche Anlagen zum Guten, die nicht vollständig verdorben werden können. Die Möglichkeit der Verderbtheit eröffnet sich erst in dem Moment, wenn der Mensch »die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt« (RGV B 48). Die Freiheit der Willkür ist nämlich »von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will)« (RGV B 11 f.). Die subjektive Regel für den Gebrauch der Freiheit ist zwar verdorben, aber nur in der Weise, dass man die sittliche Ordnung der Maximen umkehrt. Der Hang zum Bösen kann die menschliche Willkür nicht vollständig verderben: eine solche absolute Verderbtheit wäre teuflisch, der der Mensch jedoch nicht fähig ist.65 In welchem Sinn zeigt sich also das praktische Willensvermögen des Menschen als »verdorben«? Offensichtlich nicht in der Art, dass sich der Mensch nur noch böse Maximen bilden könnte (das entspräche einem teuflischen Wesen). Der Mensch macht sich weiterhin gute und böse Maximen. Die »Verderbnis« der Freiheit liegt darin begründet, dass man die »Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze« in seine Maxime aufnimmt. Es ist laut Kant davon auszugehen, dass dieser Hang zum Bösen bei jedem Menschen, auch dem moralisch besten, anzutreffen ist und nicht durch menschliche Kräfte beseitigt werden kann. Er ist dem Menschen in seiner Gattung inhärent. Auch wenn der Hang zum Bösen nicht zu vertilgen ist (vgl. RGV B 35), bleiben doch im Menschen »Keime des Guten« erhalten, die unzerstörbar und uns mit den ursprünglichen Anlagen zum Guten gegeben sind.66 Es ist vorauszusetzen, dass »ein Keim des Guten, in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte« (RGV B 50). Weil dem so ist, besteht die Wiederherstellung der Anlage zum Guten nicht in der »Erwerbung einer verlornen Triebfeder zum Guten«, da der Mensch die Triebfeder zum Guten nicht verlieren
65 Aufgrund der unzerstörbaren Anlagen zum Guten tut der Mensch »auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise […] Verzicht« (RGV B 33). Der Mensch vermag es nicht, sich zum teuflischen Wesen zu machen, das »das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime« aufzunehmen imstande wäre. Weil der Mensch das Böse nicht rein um des Bösen willen tun kann, ist die menschliche Bösartigkeit im strengen Sinne des Wortes nicht als Bosheit, sondern als Verkehrtheit des Herzens zu bezeichnen. Vgl. dazu RGV B 35 f. 66 Vgl. auch Refl 1426 (AA XV, 622 f.): »Der Mensch ist von Natur böse; würde er aber nicht den Keim des Guten in sich haben (einen allgemeinen guten Willen), so würde man nicht von ihm Besserung hoffen dürfen. Keime des Verstandes und guten Herzens […]«.
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kann. Die Wiedergewinnung der Anlage zum Guten liegt vielmehr in der Erneuerung ihrer Reinigkeit: »Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht; wodurch der Mensch, der diese Reinigkeit in seine Maxime aufnimmt, ob zwar darum noch nicht selbst heilig […], dennoch auf dem Wege dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern.« (RGV B 52 f.) Die Behauptung der Unzerstörbarkeit der Anlagen zum Guten ist dem Faktum des Sittengesetzes geschuldet. Von der Gegebenheit des unbedingt geltenden Moralgesetzes als dem archimedischen Punkt der Kantischen Konzeption wird die Annahme der letztlich unzerstörbaren Keimen des Guten zwingend. In dem faktisch gegebenen moralischen Bewusstsein »erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden«, »folglich müssen wir es auch können« (RGV B 50). Der Mensch tut also zwar Böses, ist aber nicht in der Lage, das Böse als Böses zu wollen. Zu einem solchen Willen ist der Mensch nicht fähig, denn er »billigt das Böse in sich nie und so gibt es eigentlich keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Verlassung derselben«.67 Wenn der Mensch eine böse Handlung begeht, intendiert er stets ein Gut. Im Anschluss an die Tradition zeigt sich Kant ebenfalls überzeugt, dass der Mensch das Böse alleine unter der Perspektive des Guten wollen kann. Bei Thomas von Aquin heißt es etwa: »Das Übel als solches kann nicht beabsichtigt sein, noch auf irgendeine Weise gewollt oder ersehnt. Denn das Sein des Erstrebenswerten hat die Natur des Guten […] daß keiner etwas Schlechtes tut, außer er erstrebt etwas, das ihm [Hervorh. von Verf.] als Gut erscheint.«68 Dem von Menschen verursachten Bösen eignet somit eine innere Dialektik – der Mensch tut Böses, obwohl er das Böse an sich nicht wollen kann. Auch wenn wir eine Handlung vollziehen, die als böse zu qualifizieren wäre, zielen wir durch die Handlung hindurch auf ein ›Gut‹ für uns. Und sei es noch so pervertiertes Gut, wie z. B. die Lust desjenigen, der einen anderen Menschen quält und ihm zugleich nicht sterben lässt, damit er die Qual fortsetzen kann.69 Auch wenn es sich um ein offensichtlich böses Verhalten handelt, sucht der Quälende durch sein furchbares Tun hindurch die pervertierte Lust oder Freude am Quälen. Die Lust ist jedoch – für sich betrachtet – als ein Gut anzusehen. Das bedeutet selbstverständlich keine Minderung der Schuld oder den Versuch einer Entlastung des Täters. Es ist lediglich festzuhalten, dass der Mensch nicht in der Lage ist, sich einen vollständig bösen Willen zu geben. Beim habituellen Nachgeben des Hanges zum Bösen entsteht der böse Charakter, oder wie es in der Religionsschrift genannt wird, das sog. »böse Herz«. Das böse Herz ist somit immer als Wirkung des Hanges zum Bösen zu verstehen, wie Bettina 67 Vgl.
Anth B 267. von Aquin: Vom Übel, 31/De malo q. 1 a. 3: »Malum autem, in quantum huiusmodi, non potest esse intentum, nec aliquo modo volitum vel desideratum; quia omne appetibile habet rationem boni […] quod nullus facit aliquod malum nisi intendens aliquod bonum, ut sibi videtur«. 69 Zur literarischen Darstellung dieses furchtbaren Phänomens vgl. z. B. das Buch von A. Tišma: Die Schule der Gottlosigkeit, München/Wien 1993. 68 Thomas
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Stangneth unermüdlich unterstreicht.70 Kant unterscheidet drei Stufen der Wirkung des Hanges zum Bösen: die Gebrechlichkeit, die Unlauterkeit und die Verderbtheit der menschlichen Natur. Die Gebrechlichkeit oder auch Schwäche ist dann gegeben, wenn der Mensch zwar das Gute in seine Maxime aufnimmt, jedoch keine Kraft aufbringt, dieser Maxime zu folgen. Die Unlauterkeit besteht darin, dass man zwar das Moralgesetz in seine Maxime aufnimmt, es jedoch nicht als alleinige Triebfeder ausreicht. Die subjektive Befolgung des Moralgesetzes erfolgt aus einer nicht ganz reinen moralischen Motivation. Die Bösartigkeit oder Verderbtheit der menschlichen Natur liegt in Umkehrung der sittlichen Ordnung der Triebfeder. Der Mensch nimmt das Moralgesetz in seine Maxime auf, ordnet jedoch mit Absicht die Befolgung dieser Maxime anderen nichtmoralischen Triebfedern unter.71 Der Hang zum Bösen wird von Kant noch auf eine andere Weise verdeutlicht. Der Hang zum Bösen wird erläutert als ein Hang, »sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum Nachteil desselben selbst zu belügen [Hervorh. von Verf.]« (RGV B 45). Dieser Charakterisierung entspreche folgerichtig die biblische Vorstellung vom Urheber des Bösen, der als ein »Lügner von Anfang« genannt wird. Die Lüge als innere Falschheit erscheint somit als der »Hauptgrund des Bösen«.72 In der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie wird unter Bezugnahme auf die biblische Rede vom »Vater der Lügen«, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist, die Lüge als der »eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur« bezeichnet.73 Dieser starken Betonung der Negativität der Lüge entspricht in der Kantischen Konzeption die fundamentale Bedeutung der »aufrichtigen Gesinnung« auf dem Weg des Guten. In einer Reflexion mit der Überschrift Vom radicalen Bösen in der menschlichen Natur wird die Falschheit, die Lüge gegenüber uns selbst (nicht gegenüber den Anderen) als das radikale Böse bezeichnet: »Also ist die Falschheit in der Beurtheilung unser Selbst das radicale Böse« (Refl 8096; AA XIX, 640). In Ethik-Menzer scheint Kant von der Tatsache auszugehen, dass der Mensch eine mittelbare Neigung zum Bösen hat, die er als genuin »menschlich und natürlich« charakterisiert. Wie später in der Religionsschrift, in der die Unmöglichkeit des teuflischen Willens74 behauptet wird, kommt Kant auch in seiner Ethikvorlesung 70 Vgl.
B. Stangneth: Kultur der Aufrichtigkeit, 52. zu den drei Stufen RGV B 21 ff. 72 Vielleicht liegt hier ein tieferer Grund für das strenge Verbot des Lügens als derjenige, den Kant in der Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen präsentiert. Kant deutet in einer Anmerkung an, dass er in Über ein vermeintes Recht über eine »Rechtspflicht« spricht und nicht über Ethik. Vgl. VRML A 304. 73 Vgl. VNAEF A 504. 74 Vgl. RGV B 35 f.: »Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjektives Prinzip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch); sondern vielmehr Verkehrtheit des Herzens«. In der Ethik-Menzer wird ebenfalls angenommen, dass die drei »teuflischen Laster« Neid, Undankbarkeit und Schaden71 Vgl.
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abschließend zu der nicht weiter begründeten Einsicht: »Es ist aber zu glauben, daß in der Natur der menschlichen Seele eine unmittelbare Neigung zum Bösen nicht stattfinde, sondern daß solches nur indirekt böse sei.«75 Kants Charakterisierung der »Neigung zum Bösen« zeigt in ihrer Widersprüchlichkeit, dass Kant in der inhaltlichen Bestimmung des Phänomens des Bösen vor dem Verfassen der Religionsschrift noch kein befriedigendes Ergebnis erzielen konnte. Einerseits spricht Kant über die teuflischen Laster, die aus einer unmittelbaren Neigung zum Bösen herrühren, die bei Menschen indes nicht vorhanden sein könne. Andererseits hält Kant daran fest, dass die Laster als das wahre Böse ihren Ursprung in der Freiheit haben. Der Mensch müsste die Laster grundsätzlich entwickeln können. Kants abschließende Ansicht lautet: einer unmittelbaren Neigung zum Bösen sei der Mensch nicht fähig. Auch wenn diese Ansicht zutreffend sein mag, wird man die Laster des Neids oder der Undankbarkeit etwa nicht beseitigen können. Der Text der Ethikvorlesung wirft die Frage auf, ob sich die »Neigung zum Bösen« ansatzweise im Sinne des späteren »Hanges zum Bösen« lesen lässt. Kant spricht zwar über die Neigung zum Bösen, die dem Menschen natürlich ist und die durch die Tugend überwinden werden muss. Im selben Atemzug kommt er aber auf die »bösen Neigungen« zu sprechen, die als Hindernisse auf dem Weg der Tugendhaftigkeit anzusehen sind.76 Eine eindeutige Bestimmung der »Neigung zum Bösen« bleibt Kant schuldig. Es bleibt unklar, wie sie aufzufassen sei. Ist sie alleine in der Freiheit anzusiedeln oder mehr den sinnlichen Neigungen zuzuschreiben? Wie soll die Natürlichkeit der mittelbaren Neigung zum Bösen verstanden werden? Die »Neigung zum Bösen«, wie sie in Ethik-Menzer charakterisiert wird, mag als ein Vorläufer des »Hanges zum Bösen« der Religionsschrift betrachtet werden, seine inhaltliche Bestimmung fällt jedoch zu undeutlich aus, als dass es als eine inhaltliche Parallele zum Hang zum Bösen gelten könnte. Das Fragen nach dem letzten Ursprung des Bösen findet in der Annahme des Hanges zum Bösen sein Ende. Warum oder wie es dazu kommt, dass ein solcher Hang im Menschen vorhanden ist, hält Kant für unerklärlich. Kant formuliert die Unerforschlichkeit des letzten Grundes mit einer entwaffnenden Klarheit: »Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür […], d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet muß, folglich jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen Maxime erfordern würde. Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen […] entspringen könfreude einen Grad der Bosheit enthalten, »die weit über die Bosheit der Menschen geht« und die einer »unmittelbaren Neigung zum Bösen« entstammen müssen (vgl. Ethik-Menzer, 200). 75 Vgl. Ethik-Menzer, 278. Obwohl sich Kant keine Illusionen über die faktische Verfassung des Menschen macht, hält er trotzdem daran fest, dass es in jedem Menschen einen unzerstörbaren Keim des Guten gibt. Auch der größte Bösewicht trage in sich noch »ein[en] Kern des guten Willens« (ebd., 249); jeder Lasterhafte besitze noch Verstand, »das Böse einzusehen« und habe moralisches Gefühl (ebd., 311). 76 Vgl. ebd., 308.
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nen; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könnte.« (RGV B 46 f.)77 Warum der Mensch im Wissen um das moralische Gesetz doch dieses übertritt und in diesem Hang der Neigung den Vortritt gibt, bleibt unbegreiflich. Diese Unbegreiflichkeit darf jedoch nicht in dem Sinne verstanden werden, dass wir noch nicht tief genug geforscht haben, dass wir zwar actualiter keine genaue Ursache angeben können, grundsätzlich jedoch das Einsehen dieser Ursache möglich wäre. Es gilt das Diktum ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen.78 Wir können die Ursache für unsere Entscheidung gegen das Moralgesetz, und zwar im Wissen um den Anspruch diese Gesetzes, aus einem prinzipiell Grund nicht wissen: »weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden« (MSTL A 3). Der Erklärungsgrund für gute wie auch für böse Taten bleibt in theoretischer Hinsicht »ewig in Dunkel gehüllt«, weil die menschlichen Handlungen ihre letzte Ursache in der Spontaneität der Freiheit haben.79 Gegen die Theorie vom Hang zum Bösen hat Christoph Horn80 Bedenken angemeldet. Ohne die Schwächen und Probleme der Kantischen Theorie beiseite schieben zu wollen, scheinen Horns kritische Überlegungen nicht stichhaltig. Bedenkt 77 Vgl. ebenso RGV B 26: »warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene Tat ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört«. Ricœur reinterpretiert die Unergründbarkeit, über die Kant spricht, in folgender Weise: »daß das Böse, das stets von der Freiheit begonnen wird, immer schon vor ihr vorhanden ist; es ist Akt und Gewohnheit, unvermittelter Anfang und Antezedenz.« Vgl. P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 187. 78 Dieses Diktum geht auf einen Vortrag des Physiologen Emil du Bois-Reymond zurück, der am 14. August 1872 auf der 45.Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig gehalten wurde. Obwohl das Wort ignorabimus der grundsätzlichen Unerklärbarkeit von Phänomenen wie Materie oder Kraft gilt, lässt es sich ebenso auf das Gebiet der praktischen Philosophie übertragen. Vgl. E. du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel, 51: »Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ›Ignoramus‹ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen ›Ignorabimus‹.« 79 Vgl. z. B. RGV B 71: »Nun ist aber das Vermögen der Vernunft, durch die bloße Idee eines Gesetzes über alle entgegenstrebende Triebfedern Meister zu werden, schlechterdings unerklärlich; also ist es auch unbegreiflich, wie die der Sinnlichkeit, über eine mit solchem Ansehen gebietende Vernunft, Meister werden können.« 80 Vgl. Ch. Horn: Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen, 43–69.
Das »radikal« Böse 101
man, dass Kant von den Phänomenen des menschlichen Verhaltens ausgeht und zu ihnen die entsprechenden Ermöglichungsbedingungen mittels der transzendentalen Methode zu finden sucht, lösen sich etliche Bedenken auf. Darüber hinaus wird meiner Meinung nach die Kantische Konzeption des radikal Bösen der Wirklichkeit des Bösen gerecht, wie sie uns in der Erfahrung gegeben ist. Mit seiner Frage – »Doch selbst wenn wir alle notwendig nach Glück streben sollten. Müssen wir die Glücksperspektive auch zwangsläufig der konsequenten Moralitätsperspektive vorziehen?«81 – verfehlt Horn die Intention der These vom Hang zum Bösen. Wenn Kant sagt, dass der Hang zum Bösen darin besteht, dass wir die Möglichkeit der Abweichung vom Moralgesetz in unsere Maxime aufnehmen, wenn es uns allzu verlockend erscheint, dann impliziert diese These doch ebenfalls die Möglichkeit, dass wir uns auch für die Moralität entscheiden können. Kant wollte doch nicht sagen, dass der Mensch immer und in jeder Gelegenheit mit einer mechanisch unerbittlichen Präzision die Selbstliebe der Moralität vorzieht. Ähnlich ist es mit der »Notwendigkeit« der Glückssuche bestellt. Die ganze Tradition angefangen bei Aristoteles versteht die Suche nach Glückserfüllung doch nicht als einen inneren und unerbittlich funktionierenden Mechanismus, der sich ohne Rücksicht auf das jeweilige Individuum vollzieht. Sowohl die These von der Glückssuche als auch die These vom Hang zum Bösen gehen von der phänomenalen Beobachtung der menschlichen Existenz aus und versuchen diese theoretisch zu fassen, indem sie das menschliche Verhalten auf bestimmte der Natur des Menschen innewohnenden Merkmale durchleuchten. Kant charakterisiert den Hang zum Bösen einerseits als den »formalen Grund der bösen Tat«, wobei die Formalität in derselben Weise verstanden werden muss wie das Ding an sich, das wir zwar denkerisch anzunehmen genötigt sind, ohne es zu Erkennen oder Auskunft geben zu können, was es an sich ist. Diese formale Seite des Problems ist jedoch andererseits von erfahrungsgesättigter Beobachtung der Menschen unterfüttert, verbunden mit moralpraktischen Überlegungen in Hinsicht auf die Möglichkeit eines tugendhaften Lebens. So ist Maximilian Forschner zuzustimmen, der betont: »Die Rede vom ›Hang zum Bösen‹, der allen Menschen eigne, ist nicht nur eine theoretische Aussage von empirischer Allgemeinheit, sondern auch ein wohlbegründetes anthropologisches Interpretament in praktisch-pragmatischer Hinsicht.«82 Horn legt zwar den Finger an die in der Tat schwierigsten Wundstellen der Thesen Kants, wenn er drei Hauptschwierigkeiten im Text des ›ersten Stücks‹ der Religionsschrift ausmacht: das »Paradox einer Schuld ohne Schuldfähigkeit«, das »Paradox einer atemporalen Handlung« und die »Verwechslung von Universalität und Generalisierung« (im Hinblick auf das Böse als ein menschliches Gattungsmerkmal).83 Horn sieht die ganze Theorie des Hanges zum Bösen als »philosophisch mißglückt« an und meint, nähme man diese Theorie vollständig ernst, hätte es ernste Konsequenzen für Kants eigene Moralphiloso81 Vgl.
ebd., 52. M. Forschner: Über die verschiedenen Bedeutungen des »Hanges zum Bösen«, 72. 83 Vgl. Ch. Horn: Die menschliche Gattungsnatur, 65 ff. 82 Vgl.
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
phie. Nähme man sie ernst, müsste man laut Horn z. B. annehmen, Kant vertrete folgende These: »Denn wenn nur die letzte böse Maxime zählt, ist es moralisch indifferent, ob jemand einen Mord begeht oder ein Stück Schokolade stiehlt.«84 Kant behauptet mitnichten, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen einem Mord und dem Stehlen eines Stücks Schokolade gebe. Kant legt lediglich dar, eine böse Handlung gründet in einer konkreten Willensmaxime, die sich wiederum auf eine ihr zugrundeliegende Maxime beziehen lässt. Kants Theorie impliziert keinen moralischen Indifferentismus. Der Schlüssel zum richtigen Verständnis von Kants These über das radikale Böse und des Hanges zum Böse liegt meiner Meinung nach in der Beachtung des jeweiligen Kontextes, in dem Kant spricht, wobei die zentrale hermeneutische Rolle der Unterscheidung des intelligiblen und empirischen Charakters des Menschen zukommt. Forschner unterstreicht richtig, dass Kant nämlich aus unterschiedlichen Perspektiven über den Hang zum Bösen spricht und dass die »Schwierigkeiten einer konsistenten Interpretation« in der »Nichtbeachtung der jeweiligen Perspektive und des Wechsels der Perspektiven« liegen.85
2.2.2 Die Natürlichkeit des Bösen Kants These vom radikalen Bösen lokalisiert das Böse in der menschlichen Natur. Er spricht in diesem Zusammenhang über einen natürlichen Hang zum Bösen und darüber, dass der Mensch von Natur böse ist. Gleich am Anfang des ersten Buches der Religionsschrift wird darauf hingewiesen, dass ein anderer Naturbegriff verwendet wird, als es in den anderen Schriften in der Regel der Fall ist. Es handelt sich nicht um denjenigen Begriff der Naturkausalität, der als Gegenpol zum Begriff der Freiheitskausalität ins Feld geführt wird. Unter »Natur des Menschen« versteht die Religionsschrift den »subjektiven Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht« (RGV BA 6). Kant führt mit dieser Charakterisierung einen Zwischenbegriff ein, der sich weder vollständig der Natur noch vollständig der Freiheit zuordnen lässt, wollte man die sonst übliche Unterscheidung Kants heranziehen. Einerseits betrifft ein solcher Begriff der menschlichen Natur das praktische Vermögen, das unser konkretes Verhalten zeitigt. Als »subjektiver Grund« des Gebrauchs der Freiheit stellt er eine Regel dar, die sich der Mensch für den Gebrauch seiner Freiheit selber macht. Dieser subjektiver Grund muss wiederum als »Actus der Freiheit« (RGV BA 6) vorgestellt werden, sollte das Böse zurechenbar bleiben. Auf der anderen Seite ist dieser erste Grund »vor die Zeit« zu setzen, noch bevor der Mensch seine Freiheit realiter benutzt. Im ersten konkreten Gebrauch der Freiheit kommt der besagte erste subjektive Grund, der dem Subjekt ebenfalls zuzuschreiben ist, zum Tragen. Diesen ersten subjektiven Grund der Annahme der Maximen nennt 84 Vgl. 85
ebd., 67. Vgl. M. Forschner: Über die verschiedenen Bedeutungen des »Hanges zum Bösen«, 78 f.
Das »radikal« Böse 103
Kant auch Gesinnung, die mit einer paradox anmutenden Charakterisierung näher bestimmt wird. Die Gesinnung kennzeichnet eine Beschaffenheit der Willkür, die dem Menschen »angeboren« ist und ihm von Natur aus zukommt. Da sie jedoch in der Freiheit gründet, also dem Menschen zugerechnet wird, muss man sagen können, dass sie zugleich als »erworben« gelten muss. Sie ist aber nicht »in der Zeit erworben«, lässt sich nicht »von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür« ableiten (vgl. RGV B 14). Wenn es heißt, der Mensch ist von Natur aus gut oder böse, so enthält er »einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt« (RGV BA 7 f.). Der Hang zum Bösen stellt keine Naturanlage (im Gegensatz zu den Anlagen zum Guten) dar, weil sowohl der Hang zum Bösen als auch die böse Handlung dem Menschen zugerechnet werden können muss. Der Hang ist zwar angeboren, zugleich muss er aber als »(wenn er gut ist) erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen« gedacht werden. In diesem Zusammenhang bedient sich Kant einer paradoxen Sprechweise: er sagt, dass der Hang zwar »angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf« (RGV B 21). Der Hang darf nicht als angeboren im Sinne der Anlage verstanden werden als ob ihn die Natur verursacht hätte. Das Angeborensein des Hanges muss als eine Gattungsbezeichnung verstanden werden und zwar mit der merkwürdigen Besonderheit, die den Hang im Freiheitsvermögen der Willkür wurzelt lässt. Der Hang zum Bösen gehört nach Kant allgemein zum Menschen, er ist mit der menschlichen Natur »verwebt« und ist in ihr »gewurzelt« (RGV B 27).86 Im etymologischen Sinne des lateinischen Wortes radix ist er wurzelhaft, radikal. Der Hang zum Bösen ist dem Menschen als Gattungswesen eigen. Jedoch nicht in der Weise, dass er aus dem Begriff der Gattung analytisch abgeleitet werden könnte. Aus dem Gattungsbegriff folgt nicht notwendig ein Hang zum Bösen. Der Hang zum Bösen ist laut Kant subjektiv und zufällig, weil er in der menschlichen Freiheit gründet, jedoch auch allgemein, weil dieser erste Grund aller Maximen »in der Menschheit« als Gattung betrachtet vorhanden ist. Die Angeborenheit des Hanges zum Bösen muss folglich auf folgende Art vorgestellt werden:87 Wenn der Hang als angeboren
86 Leibniz spricht in diesem Zusammenhang über eine »nécessité de pécher«, über eine Notwendigkeit des Sündigens, oder vielleicht besser, über die Notwendigkeit, nicht nicht sündigen zu können. Der Mensch tut Böses nämlich nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Freiheit heraus. Diese natürliche »Notwendigkeit des Sündigens« verstanden als eine Inklination zum Bösen scheine aus der »Urverderbtheit des Menschengeschlechts« (corruption originelle du genre humain) zu folgen. G. W. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 1, Préface/ Vorwort, 30/31 und 1. Teil § 4, 210/211. 87 Zwischen der Behauptung des Angeborenseins der Naturanlage zum Guten und der des Angeborenseins des Hanges zum Bösen besteht kein Widerspruch (Anth B 318): »Dieses ist nun schon selbst der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt und in so fern ist der
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
bezeichnet wird, dann ist damit nicht gemeint, dass »die Geburt eben die Ursache davon sei«, sondern dass der Hang lediglich »mit der Geburt« im Menschen vorzufinden ist (vgl. RGV BA 8). Wir müssen also nach Kant einen allgemeinen im Menschen vorhandenen Hang zum Bösen annehmen, der beim konkreten Gebrauch der Freiheit zum Tragen kommt. Dieser Hang gründet in der menschlichen Freiheit, ist also nicht der Natur (als Gegenbegriff zu Freiheit gemeint) anzulasten. Der Hang betrifft die allgemeine Verfassung der Freiheit als solcher. Der Notwendigkeit des Nachweises, dass dieser Hang zum Bösen dem Menschen allgemein als ein Charakteristikum der Gattung anhängt, sieht sich Kant aufgrund der empirisch-anthropologischen Erfahrung mit dem Menschen enthoben. Aufgrund der Erfahrung kann der Mensch nicht anders beurteilt werden und »bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen« (RGV B 27 f.). Aus der paradoxen Bestimmung des Hanges zum Bösen resultiert die paradoxe Rede über eine »angeborene Schuld«. Die Schuld muss in der Freiheit des Willens gründen, wenn über das moralisch Böse die Rede ist, dennoch lässt sie sich als angeboren bezeichnen, da »sie sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt«. Auf der ersten und zweite Stufe der verdorbenen menschlichen Natur – der Gebrechlichkeit und der Unlauterkeit – handelt sich um eine unvorsätzliche, bei der dritten Stufe der Verderbtheit jedoch um eine vorsätzliche Schuld.88 Diese Einschätzung widerspricht keineswegs der Rede Kants von der Vorstellung der bösen Tat, als ob sie aus dem Stand der Unschuld geschehe. Der »Stand der Unschuld« wird lediglich in dem Sinne verstanden, dass die böse Tat auf keinen anderen ihn vorhergehenden Naturzustand bezogen werden kann, der als Ursache für die Tat dienen könnte. Die Feststellung der angeborenen Schuld ist eine Vernunftvorstellung, die im Moment der Realisierung der Freiheit in einer bösen Handlung dieser Handlung unterlegt wird. Es handelt sich nicht um ein vorgängiges metaphysisches Wissen über die Beschaffenheit des menschlichen Willens, sondern um eine notwendige Verknüpfung im Denken, die in der nachträglichen Reflexion über das Wesen des Bösen vorgenommen wird.
Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zu tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch, seinem sensibelen Charakter nach, auch als (von Natur) böse zu beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung die Rede ist«. 88 Vgl. dazu RGV B 36 f.
Das »radikal« Böse 105
2.2.3 Das Böse als Verkehrung der Maximen Wir bilden uns für unser Verhalten subjektive Grundsätze, Maximen, nach denen wir handeln. Kant vertritt die Auffassung, dass sich alle Maximen auf zwei einzelne Grundmaximen beziehen lassen: einerseits auf die Maxime der Moralität und andererseits auf die Maxime der Selbstliebe. Das gesamte Wollen also – bevor ich dies oder jenes Konkrete will – ist ein Wollen dessen, wie ich mich selbst grundsätzlich verstehen will. Ob ich mich moralisch verstehen will oder nicht. Ernst Tugendhat hält diese These Kants für eine der tiefsten Einsichten der Kantischen Moralphilosophie.89 Beide Grundmaximen haben einen gemeinsamen letzten subjektiven Grund, der wiederum in einer Ur-tat gründet. Dieser erste subjektive Grund der Annahme aller Maximen ist verdorben und mit dem Namen »Hang zum Bösen« versehen. Alle bösen Maximen lassen diesen Hang zum Bösen zum Vorschein treten und durch diese bösen Maximen wird er gleichsam in der Zeit vollzogen. Das Ergebnis des realisierten Hanges zum Bösen ist das sogenannte »böse Herz«. Dass die bösen Maximen im Hang zum Bösen gründen, beantwortet aber noch nicht die Frage, worin nun das Böse liegt und unter welchen Bedingung die Rede von einem bösen Menschen berechtigt erscheint. In der Religionsschrift schreibt Kant mit einer kaum überbietbaren Klarheit, weder die Sinnlichkeit noch der Verstand kommen als Ursache der bösen Tat in Frage. Das Böse liegt allein in der Umkehrung der Triebfedern der Moralität und der Selbstliebe. Die Sinnlichkeit kann gar nicht als Grund des Bösen fungieren, da sie »keine gerade Beziehung aufs Böse« hat (RGV B 31).90 Die natürlichen Neigungen sind »an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen« (RGV B 69). Nur in der Verbindung mit dem praktischen Willensvermögen können sie eine Rolle im Zusammenhang mit dem moralisch Bösen spielen. Die Neigungen mögen zwar bestimmten praktisch-moralischen Grundsätzen widerstreiten, das Böse entstehe jedoch alleine aus dem Grund, »daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung anreizen, nicht widerstehen will« (RGV B 69 Anm.). Die Zustimmung des Willens zu den Neigungen ist also entscheidend. Entgegen seinem Ruf als ethischer Rigorist und Bekämpfer der Neigungen schreibt Kant in der Anthropologie eine Apologie der Sinnlichkeit. Er verteidigt die Sinnlichkeit gegen drei allgemein erhobenen Anklagen: dass die Sinne verwirren, dass sie statt dem Verstand zu dienen ihn beherrschen und dass sie betrügen.91 Die erste Anklage entkräftet Kant mit 89 Vgl. E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, 125. Im Unterschied zu anderen Moraltheorien eignet sich nach Tugendhat der inhaltliche Konzept der Kantischen Theorie am besten dazu, eine plausible universalistische Moral zu entwerfen. Im Anschluss an Kant unternimmt Tugendhat den Versuch, eine solche Moraltheorie der universellen Achtung selbst zu entwickeln. 90 Vgl. dazu auch B. Dörflinger: Kant über das Böse, 92 f. 91 Vgl. Anth BA 30.
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dem Hinweis, dass die Sinne dem Verstande lediglich einen zwar reichhaltigen aber noch (durch Begriffe) ungeordneten Stoff an Sinneneindrücken anbieten, ihm also gar nicht verwirren könnten. Die zweite Anklage wird mit dem Einwand begegnet, die Sinne gebieten nicht, sie bieten sich dem Verstand lediglich an. Sie unterwerfen sich dem Verstand, wollen aber gehört werden, wie Kant sagt.92 Dritte Anklage wird ebenfalls zurückgewiesen, da die Sinne gar nicht im Stande sind zu betrügen, weil sie »gar nicht urteilen«. Ein falsches oder unzutreffendes Urteil ist keine Angelegenheit der Sinne, sondern immer nur des Verstandes, dessen alleiniger Kompetenz es obliegt, ein Urteil zu fällen. Aber auch die Vernunft kann nicht als Grund des Bösen ins Feld geführt werden. Eine Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft, die dem Menschen das Zuwiderhandeln gegen das Sittengesetz als Triebfeder des Willens auferlegen würde, wäre eine contradictio in adiecto. Eine solche Vernunft würde das Böse um des Bösen willen befehlen, sprich teuflisch werden, wie Kant sagt. Die Vernunft, die sich das objektive Moralgesetz selber auferlegt, kann unmöglich das genaue Gegenteil davon fordern, ohne selbst schizophren zu werden. Als Grund für das moralisch Böse enthält folglich die Sinnlichkeit zu wenig und eine boshafte Vernunft zu viel (vgl. RGV B 32).93 Der Grund für das Böse muss in der menschlichen Willensfreiheit liegen und zwar in der »Umkehrung der Triebfedern«. Die zwei grundsätzlichen Triebfeder, die Triebfeder der Selbstliebe und die der Moralität, können nicht gleichwertig nebeneinander in die Maxime aufgenommen werden, sodass die Frage entsteht, »welche von beiden« der Mensch »zur Bedingung der andern macht«. Der Mensch – auch der tugendhafteste – wird also »dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt« (RGV B 34). Der Mensch wird dann böse, wenn er die Befriedigung der Triebfeder der Selbstliebe zur obersten Bedingung der Befolgung des Moralgesetzes macht.94 Interessanterweise findet sich eine ähnliche, jedoch keine eindeutige und systematisch entfaltete Überlegung bereits in den Nachschrift der Vorlesungen der Ethik-Menzer.95 In EthikMenzer nimmt Kant eine grundsätzliche anthropologische Unterscheidung vor. Er unterscheidet zwischen der »Schwäche der menschlichen Natur«, »sofern ihr der Grad der moralischen Bonität fehlt, der nötig ist, die Handlung dem moralischen Gesetz adäquat zu machen« und der »Gebrechlichkeit der menschlichen Natur«, »sofern in ihr nicht nur ein Mangel an der moralischen Bonität ist, sondern sogar
92 Vgl.
Anth BA 33. RGV B 31 f. 94 Durch diese klare Abtrennung des Bösen von der Sinnlichkeit und durch den moralischen Formalismus sieht Ricœur mit der Kants Theorie »den äußersten Punkt der Klarheit erreicht, zu dem uns die moralische Anschauung vom Bösen hinführen kann«. Vgl. P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 182. 95 Vgl. zu den folgenden Überlegungen J. Sirovátka: Das Sollen und das Böse als Themen der Philosophie Kants, 248–267. 93 Vgl.
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große Principia und Triebfedern zu bösen Handlungen«.96 Diese doppelte Charakteristik wird in der Religionsschrift wieder aufgenommen, jedoch unter veränderten inhaltlichen Vorzeichen. Kant unterscheidet dort – wie bereits dargelegt – drei Stufen der Beschaffenheit des menschlichen Willens (vgl. RGV B 21 ff.): die erste Stufe stellt die Gebrechlichkeit, die zweite die Unlauterkeit dar. Die dritte und letzte Stufe wird von Kant als Bösartigkeit, Verderbtheit und Verkehrtheit des menschlichen Herzens charakterisiert. Der Mensch nimmt das Moralgesetz in seine Maxime auf, ist auch fähig es zu befolgen, ordnet jedoch mit Absicht die Befolgung der sittlichen Maximen der nichtmoralischen Maximen unter. Alle drei Stufen der Beschaffenheit des Willens ergeben sich aus dem Hang zum Bösen, der mit der menschlichen Natur »verwebt« ist (vgl. RGV B 23). Das Böse wird also in der Religionsschrift als Verkehrung der Maximen der Moralität und der Selbstliebe verstanden. In der Ethik-Menzer wird im Hinblick auf die Bestimmung einer bösen Handlung zunächst grundsätzlich festgehalten, dass sie ihren Grund alleine im Willen und nicht in der sinnlichen Natur haben kann: »Allein alles moralische Böse entspringt doch aus Freiheit, denn sonst wäre es nicht moralisch Böse. So sehr als auch die Natur Hang dazu hat, so entspringen doch die bösen Handlungen aus Freiheit«.97 Der Begriff »Hang« wird hier anders als in der Religionsschrift der Natur zugeschrieben, die an dieser Stelle als Gegenbegriff zu Freiheit zu verstehen ist. Kant sieht bereits hier ein, dass es sich bei einer bösen Handlung um ein Triebfederproblem des Willens handelt. Die Triebfedern des Verstandes und der Sinnlichkeit stehen sich im Willen gegenüber und konkurrieren miteinander: »allein die Pravität oder Bösartigkeit der Handlung besteht nicht in der Dijudikation, liegt also nicht im Verstande, sondern besteht in der Triebfeder des Willens. […] Die Unsittlichkeit der Handlung besteht also nicht in dem Mangel des Verstandes, sondern in der Pravität des Willens oder des Herzens. Die Pravität ist aber, wenn die bewegende Kraft des Verstandes überwogen wird von der Sinnlichkeit.«98 Diese Einsicht behält ihre Richtigkeit bis zur Religionsschrift, auch wenn an dieser Stelle noch kein Wort über eine »Umkehrung der Triebfeder« der Moral und der Selbstliebe fällt. Der Mensch wird nach der Ethik-Menzer nicht dadurch böse, dass er »die sittliche Ordnung der Triebfedern« umkehrt und die Befolgung des moralischen Gesetzes nur unter der Bedingung der Befriedigung der Maxime der Selbstliebe erfolgt.99 Der menschliche Wille wird von Kant in der Art vorgestellt, dass er von zwei verschiedenen Vorstellungen affiziert wird. Wenn die Kraft des Verstandes überwiegt, fällt die Handlung gut aus, wenn sich gegenüber dem Verstand die Sinnlichkeit durchsetzen kann, zieht sie eine böse Handlung nach sich. Kant hält es für möglich, dass jeder Mensch mit dem Verstand einsehen kann, dass eine Handlung verabscheuungswürdig ist. Um aber eine solche unsittliche 96 Vgl.
ebd., 78. Ethik-Menzer, 80. 98 Ebd., 54 f. 99 Vgl. RGV B 34. 97 Vgl.
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Tat nicht zu vollbringen, muss der Mensch diese Abscheu fühlen und zwar mittels des moralischen Gefühls. Hier liegt jedoch die crux der bösen Tat, der »Stein des Weisen«: den Menschen zur Einsicht der Abscheulichkeit zu bringen, hält Kant für möglich, den Menschen jedoch »dahin zu bringen, daß er die Abscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich«.100 Neben Sinnlichkeit und Verstand wird ebenfalls die grundsätzliche endliche Verfassung des Menschen als Grund für das moralisch Böse von Kant zurückgewiesen. Die These von der Endlichkeit des Menschen als der Ursache des moralisch Bösen geht auf Leibniz zurück. Leibniz bezeichnet die »ursprüngliche Unvollkommenheit der Geschöpfe« (l’imperfection originale des créatures) – verstanden als mal metaphysique – als die »erste und entfernteste Ursache« des moralisch Bösen, obwohl die primäre Ursache im freien Willen liegt. Konsequenterweise wird diese ursprüngliche Unvollkommenheit der Geschöpfe als die »wahre Wurzel« (vera radix) des Sündenfalls charakterisiert.101 Dass sich die These von der Endlichkeit des Menschen als Ursprung des Bösen als im Werk Kants vorhanden deuten lassen könnte, legt die Interpretation Martin Heideggers nahe. In seiner Schrift Kant und das Problem der Metaphysik legt Heidegger die Kritik der reinen Vernunft als ein Versuch der Grundlegung der Metaphysik aus. Unter Anlehnung an die Logik-Stelle (Log A 25),102 in der die drei Fragen »Was kann ich erkennen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« auf die vierte »Was ist der Mensch?« bezogen werden, sieht Heidegger die Metaphysik Kants in der Anthropologie wurzeln. Den Grund für diesen notwendigen Rückgang auf die Anthropologie sieht Heidegger in der Endlichkeit. In allen drei Fragen, die Kant stellt, geht es dem endlichen Fragesteller um sein endliches Sein. Laut Heidegger »drängt« in dem Kantischen Versuch der Grundlegung der Metaphysik immer mehr »die Fraglichkeit des Fragens nach dem Menschen« ans Licht.103 Alle drei Fragen nach dem Können, Sollen und Dürfen des Menschen bekunden eine Fraglichkeit des Menschen, die in seiner Endlichkeit ihren Grund hat. Wer fragt »was kann ich?«, gestehe implizierterweise sein Nicht-Können ein, d. h. seine Endlichkeit, die das Wesen des Menschen ausmache. Das »innerste Interesse« der Vernunft geht laut Heidegger auf die Endlichkeit selbst. Die menschliche Vernunft ist nicht nur deshalb als eine endliche zu charakterisieren, weil sie diese 100 Vgl. 101 Vgl.
ebd., 55. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 2, 3. Teil § 288, 74/75 und »Causa Dei« § 79,
350/351. 102 Der vollständige Text lautet (Log A 25 f.): »1) Was kann ich wissen? – 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könne man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muß also bestimmen können 1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich 3) Die Grenzen der Vernunft. – Das letztere ist das Nötigste, aber auch das Schwerste […]«. 103 Vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 194.
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drei Fragen stellt, sondern sie stellt nach Heidegger diese Fragen, weil sie endlich ist. Der Vernunft gehe es nicht um die Beseitigung ihrer Endlichkeit, sondern »dieser Endlichkeit gerade gewiß zu werden, um in ihr sich zu halten«. Die Endlichkeit der Vernunft sei »Verendlichung, d. h. ›Sorge‹ um das Endlich-sein-können«.104 Der Vernunft gehe es in ihrem Vernunftsein um diese Endlichkeit selbst. Auch wenn sich in der Frage nach dem Sollen die Endlichkeit des Menschen ausdrücken mag und sie in der Triebproblematik ihr Recht behaupten kann, kann sie als Grund für das moralisch Böse für Kant nicht angesehen werden. Der Grund für das Böse liegt nicht in der endlichen Beschaffenheit des Menschen, sondern alleine im freiheitlichen Willen, der von praktischen Prinzipien bestimmt und geleitet wird. Wenn das Böse ihre Ursache in den »Schranken der Natur der Menschen, als endlicher Wesen« hätte, müsste man nach Kant aufhören, die Schuld der Menschen »ein moralisches Böse zu nennen« (MpVT A 202). Mit seiner These bestimmt Kant den menschlichen freien Willen in radikaler Weise und dennoch konsequent. Wenn wir nämlich die endliche Verfassung des Menschen als (wenn auch nur einen entfernten) Grund der bösen Tat annehmen würden, sähen wir den Willen aus der Zeitperspektive, in der immer nur Ursachen der bösen Tat gefunden werden können, jedoch kein freiheitlicher Grund einer Tat.
2.2.4 Das Problem der egoistischen Selbstliebe Die Selbstliebe wird als »Prinzip aller unserer Maximen« von Kant als die »Quelle alles Bösen« bezeichnet. Wenn sie zum obersten Prinzip der Willensbestimmung erhoben wird, ist sie die »Quelle eines unabsehlich großen Widerstreits gegen die Sittlichkeit« (RGV B 50 f.). Wie im Kapitel über die Anlagen zum Guten deutlich gemacht worden ist, geht Kant zunächst von einer natürlichen Liebe eines jeden Menschen zu sich selbst aus. Diese unschuldige, vormoralische Liebe zu sich selbst, die von Rousseau als amour de soi bezeichnet wird, kann sich jedoch in eine egoistische Selbstliebe verwandeln. Die Bedingung der Möglichkeit von einem solchen amour-propre liegt in der Anwesenheit der anderen Menschen. Sowohl Kant als auch Rousseau bezeichnen diese egoistische Selbstliebe als eine »vergleichende Liebe«. Beide Denker gehen ebenfalls davon aus, dass der Mensch durch das soziale Leben, d. h. durch den Umgang mit Anderen verdorben wird: »Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine [menschliche] an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist« (RGV B 128).105 Auch Paul Ricœur, dessen Konzept 104 Ebd.,
196. z. B. J.-J. Rousseau: Emil, 241: »daß der Mensch von Natur aus gut ist, daß er es selbst fühlt und seinen Nächsten nach sich beurteilt; daß er aber sieht, wie die Gesellschaft den Menschen verdirbt und widernatürlich macht; daß er in ihren Vorurteilen aller ihrer Fehler entdeckt; daß er lieber den einzelnen achtet, während er die Masse verachtet«. 105 Vgl.
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
der »Fehlbarkeit« des Menschen weiter unten vorgestellt wird, bestimmt die egoistische Selbstliebe im Ausgang von einer vor-moralischen Eigenliebe, die zuerst meine Identität in der Differenz zu allem anderen in der Welt konstituiert. Diese Identität wird von meiner Leiblichkeit gebildet. Der Leib ist der Nullpunkt meiner Perspektive gegenüber der Welt und er befindet sich nach Ricœur in dieser seiner Stellung zugleich in einer »affektiven Verschlossenheit«. Das leibliche Ich entdecke sich in seiner innerlichen Vereinzelung als unvertretbar, es entdeckt das »Gefühl der Urdifferenz (sentiment de la differénce originelle) zwischen mir und jedem anderen«: »Hier hat der Egoismus als Laster seine Gelegenheit: aus der Differenz macht er eine Präferenz«. Die ursprüngliche und für die Herausbildung der eigenen Egoität notwendige differénce schlägt in eine sich selbst bevorzugende préférence um.106 Laut Ricœur muss davon ausgegangen werden, dass jeder unserer Neigung, jedem Begehren offenbar eine Bevorzugung seiner selbst innewohnt. Der Mensch kann seine Identität nicht anders herausbilden, als alles auf sich zu beziehen und sich in einer Abgeschlossenheit gegenüber der Welt zu halten.107 Der Mensch habe offensichtlich einen »angeborenen Hang, sich selbst wohlzuwollen«. So verdichtet sich nach Ricœur der »Subjekt-Pol aller Wahrnehmungen« zur Eigenliebe: »der Mittelpunkt, für den alle Dinge sind und wo alle Dinge erblickt werden, ist nicht mehr bloß Nullpunkt des Ausblicks, sondern die Verklammerung mit sich selbst«.108 Jeder Menschen besitzt eine ursprüngliche und positive Beziehung zum eigenen Leben, zu sich selbst. Auch derjenige, der sich selbst das Leben nimmt, sucht für sich etwas Besseres – und sei es nur Ruhe – als das, was er gerade erlebt und nicht aushalten zu können glaubt. Ricœur versucht in seinen Erörterungen denjenigen wunden Punkt in der menschlichen Verfassung zu verdeutlichen, der das Umschlagen der vor-moralischen Liebe zu sich selbst in eine egoistische Selbstliebe ermöglicht. Den anthropologischen Ort der Möglichkeit von Bösen findet Ricœur in der Struktur der Fehlbarkeit.109 Trotz der Verdeutlichung der anthropologischen Struktur der Fehlbarkeit, in der sich Wandlung von der Unschuld zur Schuld vollzieht, bleibt jedoch immer noch die Frage unbeantwortet, aus welchem Grund es 106 Vgl.
P. Ricœur: Fehlbarkeit, 79/L’homme faillible, 72. einer ähnlichen Diktion spricht Levinas über die Bildung der Identität – die er als »Selbstheit« bezeichnet – in einer grundsätzlichen Annehmlichkeit der Welt, im Genuss. Die Innerlichkeit des Subjekts bildet sich nur in einem Sich-sammeln, in einer Abgeschlossenheit gegenüber der Welt, aus der das Subjekt jedoch wiederum in dieser Welt leben kann. Das Subjekt ist in der Welt als ihr Teil anwesend. Zugleich befindet es sich außerhalb der Welt in der Position der »Exterritorialität«, von der aus es auf die Welt zugehen kann. Vgl. dazu das Kapitel Innerlichkeit und Ökonomie in TU, 150–266. 108 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 80. Ricœur kennzeichnet dieses Phänomen auch als eine »in sich selbst verliebte Differenz«. 109 Ricœurs Versuch zielt auf die Erfassung der »Differenz des Selbst (différence du soi) diesseits der Selbstbevorzugung, die es feindselig und boshaft macht […]; die Selbstbevorzugung (préférence de soi), welche die Schuld oder ein Aspekt der Schuld ist, erlangt gerade in dieser Konstitution der Differenz die Struktur der Fehlbarkeit«. Vgl. ebd., 142. 107 In
Das »radikal« Böse 111
zu dieser Wendung kommt. Ricœur spricht lediglich von einer »Verblendung«, die »anderswoher« komme.110 Trotz der Hervorhebung der passiven Dimension des Willens, die im Ricœurs Konzept bei der Hervorbringung des Bösen eine entscheide Rolle zukommt, verankert Ricœur letztlich das Böse doch im Willen.111 Sowohl die Erörterungen Kants als auch die von Ricœur vermögen nicht die Frage zu beantworten, warum es zu der egoistischen Selbstbevorzugung kommt. Woher kommt die Verblendung, über die Ricœur spricht? Was ist der Grund dafür, dass ich mir die Maxime der Selbstliebe zum obersten Prinzip aller Maximen mache? Die Frage, warum die an sich unschuldige Liebe zu sich selbst in eine schuldige, sich selbst ungerechterweise bevorzugende Selbstliebe umschlägt, ist meiner Ansicht nach nicht ohne die faktische Anwesenheit der anderen Menschen zu beantworten. Die faktische Präsenz des Anderen nötigt mich zur Entscheidung: ob ich in meinem affektiven Sollipsismus bleibe und ihn verteidige oder ob ich mich öffne und durch den Verzicht auf Verteidigung meiner höchsten – der moralischen – Bestimmung gerecht werde. Denn nach Kant ist meine ganze Existenz eigentlich »nur aufs Moralische gestellet« (KrV B 829). Wenn sich die Menschen in einem ethischen Naturzustand gegenseitig verderben, dann scheint die Anwesenheit der Anderen die entscheidende Herausforderung für die egoistische Selbstliebe darzustellen. Indem Kant den letzten Grund für das Böse in den Willen legt und nicht etwa in die Sinnlichkeit – auch wenn die Ausrichtung auf Glückseligkeit nicht aufgehoben werden kann und sie somit den Menschen in einer entscheidenden Weise bestimmt –, bleibt eine theoretische Antwort auf die Frage nach dem Grund der egoistischen Selbstbevorzugung aus. Das Moment des Umschlags einer unschuldigen Eigenliebe zu sich selbst in eine sich selbst bevorzugende Selbstliebe entzieht sich jeder theoretischen Erhellung. Diesem negativen Ergebnis der Unbegreiflichkeit des letzten Grundes der Selbstsucht entspricht eine positive Seite. Durch die Tatsache, dass kein weiterer theoretischer Grund angegeben werden kann als der Wille selbst, wird der Mensch in seiner Freiheit ernst genommen. Die Unbegreiflichkeit des letzten Grundes des Bösen im Menschen ist die notwendige Bedingung für das Führen eines Lebens in Freiheit.
2.2.5 Kant und Ricœur: die empirische Verankerung des Hangs zum Bösen Einen der produktivsten und originellsten Beiträge zur Kantischen Theorie des Bösen hat der französische Philosoph Paul Ricœur vorgelegt, dem von der KantForschung viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.112 Ricœur lässt sich von Kants Denken inspirieren und unternimmt einen neuartigen Versuch, der dem Phänomen 110 Ebd.,
164. dazu das Kapitel Der unfreie Wille. 112 Eine Ausnahme bildet die sehr anregende Untersuchung von Hans-Jörg Ehni: Das moralisch Böse. Überlegungen nach Kant und Ricœur. Freiburg/München 2006. 111 Vgl.
112
Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
des Bösen auf die Spur kommen soll. Ricœurs Entwurf soll hier vorgestellt und mit dem Kantischen Konzept konfrontiert werden. In seinem Projekt Philosophie des Willens, das auf deutsch zum größten Teil unter dem Titel Phänomenologie der Schuld erschienen ist, untersucht Ricœur die anthropologischen Bedingungen, die das tatsächliche und konkrete Böse ermöglichen. Die Erörterung geht im Ausgang von Kants Theorie des radikal Bösen einen Schritt zurück, indem sie vom Akt der Verfehlung auf die ihm ermöglichende Fehlbarkeit rekurriert. Ricœurs Untersuchungen versuchen den »menschlichen ›Ort‹ des Bösen, seine Einbruchstelle in die menschliche Realität« zu bestimmen.113 Dieser Versuch lässt sich als eine anthropologisch-empirische Verankerung der Theorie Kants vom radikal Bösen in der menschlichen Natur lesen, indem Ricœur die Verfassung der menschlichen Natur als »Erscheinungsraum des Bösen«114 auffasst und aufzeigt, dass das moralisch Böse ihre Ermöglichungsquelle in der prinzipiellen Beschaffenheit des Menschen besitzt. Die moralische Verfehlung geht auf eine Fehlbarkeit des Menschen zurück, die in der Disproportion seiner Natur besteht und jedem Menschen anhaftet. Ricœurs anthropologische Beschreibungen des Bösen bleiben jedoch »diesseits des Bösen« (soweit es überhaupt möglich ist) im Gegensatz zu einer ethischen Reflexion, die schon von dem faktischen Bösen ausgeht, das sie vorfindet. Die Ethik reflektiert das menschliche Verhalten bereits vom Standpunkt des Dualismus’ von Gut und Böse. Ricœur versucht demgegenüber »die Struktur der Fehlbarkeit zu entdecken, die diesen Dualismus ermöglicht hat«.115 Die Intention seiner Suche geht von der »ethischen Dualität« zur »praktischen Disproportion« hin, die noch keine Verderbtheit der menschlichen Natur voraussetzt. Die »anthropologische Wurzel jedes ›ethischen‹ Dualismus« wird von Ricœur in der praktischen Polarität zwischen der Endlichkeit des Charakters und der Unendlichkeit des Glücks ausgemacht.116 Diese Disproportion liege der praktischen Zerbrechlichkeit des Menschen zu Grunde. Sie ist mit einer affektiven Zerbrechlichkeit verbunden, die sich im Gemüt zeige, an demjenigen Ort also, an dem nach Kant die moralische Triebfeder auf den Willen zu wirken vermag. Das entscheidende denkerische Problem liegt nach Ricœur im Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Bösen, der sich als ein »Sprung« darstellt. Aber genau dieser Sprung bleibt rätselhaft und paradox.117 Die von Kant attestierte Unerklärbarkeit des moralisch bösen Aktes schlägt sich in den Untersuchungen von Ricœur erneut nieder. Ricœurs Analysen beleuchten näher als es bei Kant der Fall ist, die empirischen Bedingungen der menschlichen Natur, die eine konkrete böse 113 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, 8. Einige Passagen lesen sich fast wie ein fortlaufender Kommentar zu Kants Werken, vor allem zu denen, die den Problemen der praktischen Philosophie gewidmet sind. 114 Vgl. ebd., 12. 115 Vgl. ebd., 106. 116 Vgl. ebd., 109. 117 Vgl. ebd., 183 ff.
Das »radikal« Böse 113
Handlung überhaupt möglich machen. Schon Kant hat die böse Tat im Hang zum Bösen als ihrer Bedingung verankert, indem er ihn als den »formalen Grund der bösen Tat« bezeichnet. Ricœur geht über die anthropologischen Charakterisierungen, die sich bereits bei Kant finden, hinaus und verankert nun seinerseits diesen Hang zum Bösen in der empirischen Verfassung des Willens und im Ganzen der empirischen menschlichen Natur.
a) Die Fehlbarkeit als Einbruchstelle des Bösen Dass die Menschen des Bösen fähig sind, ist ein erfahrbares Faktum, das sich tagtäglich am eigenen und fremden Leben belegen lässt. Ricœur stellt sich in transzendentalphilosophischer Art Kantischen Zuschnitts die Frage, welche anthropologische Bedingungen bei Menschen gegeben sein müssen, die böse Handlungen überhaupt erst ermöglichen. Auf der einen Seite entwickelt Ricœur eine Theorie der Empirie des Willens, in der vor allem die Struktur der Fehlbarkeit analysiert wird. Auf der anderen Seite unternimmt er den Versuch, den Übergang vom Zustand der Unschuld zur Schuld (als Übergang von Fehlbarkeit zur Verfehlung ) zu verdeutlichen und zwar anhand einer konkreten Mythik, einer Symbolik des Bösen. Bei diesem Versuch muss jedoch stets mitbedacht werden, dass es sich um einen konstruierten, imaginären Versuch handelt. Denn wir haben keinen Zugang zum Stand der menschlichen Unschuld. Einen un-schuldigen Zustand des Menschen zu denken, bedeutet, eine transzendentale Rekonstruktion zu vollziehen. Ricœur ist der Ansicht, einen Zugang zum Moment der Verfehlung alleine auf dem Weg der rationalen Auslegung der mythischen Erzählungen zu gewinnen, da sich der Moment des Schuldigwerdens einer empirischen Beschreibung entzieht. Der zentrale Begriff der Fehlbarkeit (faillibilité)118 bezeichnet eine das Böse ermöglichende »konstitutionelle Schwäche« des Menschen. Diese Schwäche besteht in der Disproportion des Menschen, der in das Spannungsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem (und der Vermittlung der beiden Pole) gestellt ist. Nach Ricœur haftet diese Fehlbarkeit, die in einer Nicht-Koinzidenz mit sich selbst besteht, dem Gesamtwesen des Menschen an. Diese grundsätzliche Disproportion des Menschen, der zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit eingespannt ist, verortet Ricœur in drei fundamentalen Vermögen des Menschen: im Erkennen, Handeln und Fühlen.119
118 Vgl.
P. Ricœur: Finitude et Culpabilité. L’homme faillible, 21. In seiner späteren kleinen Schrift Le mal (2004) unterstreicht Ricœur erneut, dass das Problem des Bösen kein rein spekulatives Problem darstellt, sondern im Dreiklang von Denken, Handeln und Fühlen anzugehen ist. Trotz eines aporetischen Ergebnisses in der Frage der theoretischen Erklärung des Bösen müsse für das Handeln und Fühlen eine praktische Antwort auf das Problem des Bösen gefunden werden, die die Aporie im Handeln produktiv zu machen vermag. Es gehe nicht um eine Lösung des Problems des Bösen, sondern um eine 119
114
Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
Die Analysen der Disproportion im Handeln und im Fühlen werden hier extensiver behandelt, da sie für die Thematik des Bösen bedeutsam sind. Die erste Disproportion eröffnet sich laut Ricœur zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen der »Endlichkeit des Empfangens« und der »Unendlichkeit des Bestimmens«. Die Endlichkeit des Empfangens drückt sich in der endlichen Perspektive (perspective finie) des Leibes aus: durch den Leib bin ich zwar der Welt zugewandt, jedoch immer schon und immer nur vom Standpunkt, von der Perspektive meines leiblichen Ich her. Die originäre Endlichkeit, die in der Perspektive liegt, stellt ein »Prinzip der Einengung, eine Verschlossenheit in der Öffnung« dar. Die endliche Öffnung der Welt gegenüber besteht nach Ricœur »in der Rolle eines Ausgangspunktes Null des Leibes, im Ursprungs-Hier, von dem aus es Plätze in der Welt gibt«.120 Dieser endlichen Perspektive wird das unendliche Bestimmen, das Benennen der Welt gegenübergestellt – das »unendliche Verb« (verbe infini). Die Vermittlung zwischen der endlichen Perspektive und dem unendlichen Verb übernehme die transzendentale Einbildungskraft (imagination pure). Die zweite – praktische – Disproportion tut sich zwischen der Endlichkeit des Charakters (caractère) und der Unendlichkeit des Glücks (bonheur) auf.121 Die Vermittlung zwischen beiden vollziehe sich in der Konstitution der Person in der Achtung (respect). Ricœur ist der Ansicht, alle Züge der praktischen Endlichkeit im Begriff des Charakters sammeln zu können. Was wird mit diesem Begriff intendiert? Unter »Charakter« versteht Ricœur nicht etwas vom Menschen selber Angenommenes, keinen angeeigneten Habitus. Im Gegensatz zur üblichen Bestimmung wird der Charakter als »die endliche Offenheit meines Daseins als Ganzes genommen« vorgestellt. Als solcher umfasst er verschiedene Erscheinungsweisen der Endlichkeit, wie affektive Perspektive, eine ursprüngliche Selbstliebe, Trägheit und Beharren.122 Der Charakter zeigt sich nach Ricœur als die »Ur-Enge meiner Offenheit«. Zunächst bin ich der Welt und allen Menschen gegenüber uneingeschränkt offen. Diese grundsätzliche und prinzipielle Möglichkeit des Offenseins werde vom Charakter als dem »Urpunkt Null meines totalen Motivationsfeldes« eingeengt, von einem Charakter, der nicht gewählt und somit als unabänderlich aufgefasst wird.123 Der so beschaffenen Endlichkeit des Charakters stehe in der Natur des Menschen die Unendlichkeit des Glücks gegenüber, worunter nicht »eine Sonderform menschlicher Überschreitung oder Transzendenz, sondern die Totalabsicht aller Züge der Überschreitung [Hervorh. von Verf.]« verstanden wird.124 Eine erste ›naive‹ Vorstellung von Glück, die das Glück als eine Befriedigung von unterschiedlichen Begierpraktische Antwort angesichts der Wirklichkeit des Bösen. Vgl. dazu das Kapitel Penser, agir, sentir in Le mal, 56–64. 120 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 42 f. 121 Diese zweite Disproportion wird als die »extremste« charakterisiert. Vgl. ebd., 95. 122 Vgl. ebd., 83. 123 Vgl. ebd., 88 f. 124 Vgl. ebd., 91.
Das »radikal« Böse 115
den oder als eine Summe der Lust versteht, sei nicht zureichend, um das Phänomen der Glückseligkeit zu fassen. Eine solche Vorstellung verbleibt nach Ricœur noch in der »unbegrenzt endlichen Perspektive der Selbstliebe« und wird von Kant zu Recht aus der Bestimmung des höchsten moralischen Prinzips ausgeschlossen. Die Glückseligkeit stelle den »Horizont in jedem Betracht« dar und müsse in der Weise ihrer Intention auf ein Ganzes vorgestellt werden. Diesen Horizont bilde indes nicht die Welt. Das Begehren der Glückseligkeit geht in ihrer Unendlichkeit und Totalität über diese Welt hinaus. In der Charakterisierung dieses überschreitenden Bezugs rekurriert Ricœur auf das Ganze des menschlichen Handelns und Strebens (nicht auf das Begehrungsvermögen):125 der ganze »Existentialentwurf des Menschen in seiner Unteilbarkeit« ziele auf die Glückseligkeit als einer »Schicksalsvollendung« und nicht als einer »Vollendung von Einzelwünschen«.126 Ricœur nimmt erneut das Denken von Kant auf, indem er dem Verlangen der Vernunft nach Totalität, das sich im Begriff des höchsten Guts äußert, diejenige Tendenz auf Glückseligkeit entnimmt, die er für entscheidend hält. Auch wenn Kant die Forderung nach der Verwirklichung des höchsten Guts nicht explizit mit der totalen Ausrichtung nach Glückseligkeit verbindet, legt ihn Ricœur in dieser Weise aus. Das Verlangen der Vernunft nach Totalität bringt laut Ricœur den Menschen »darauf, die Glückseligkeit als höchstes Gut von der Glückseligkeit als Zugabe befriedigter Wünsche zu unterscheiden. Denn die von der ›Vernunft‹ ›verlangte‹ Totalität ist auch die vom menschlichen Schaffen ›gesuchte‹«.127 Dem ganzen Menschen wohnt ein Verlangen nach Ganzheit inne – so wie die Vernunft nach der Totalität der Bestimmung verlangt, so strebt das menschliche Wollen offensichtlich nach einer Ganzheit, die sich im Begehren nach Glückseligkeit niederschlägt. In seiner Ganzheit ist jedoch diese Glückseligkeit nie in einer Erfahrung gegeben, wie Ricœur anmerkt. Sie »wird nur in einem Richtungsbewußtsein angezeigt« und stellt »das unendliche Ziel« der Orientierung meiner ganzen Handelnsmotivation dar: »kein Akt verschafft das Glück; aber die Begegnungen in unserm Leben, die wahrhaft ›Ereignisse‹ heißen dürfen, geben die Richtung an, wo das Glück liegt. […] das Übermaß an Sinn, das Zuviel, das Unermeßliche, das ist das Zeichen, dass wir ›hingelenkt‹ sind zur Glückseligkeit«.128 Die Interpretation des Begriffs des höchsten Guts im Hinblick auf die Glückseligkeit durch Ricœur fällt auf den ersten Blick überraschend aus. Bestimmt Kant doch den Begriff des höchsten Guts im Rahmen der Frage nach der Moralität des Menschen. Im Gegensatz dazu nimmt Ricœur in seinen Erörterungen eine anthro125 Ricœur bezieht sich auf das τὸ ἒργον τοῦ ἀνθρώπου bei Aristoteles Vgl. dazu NE 1097b 24. Es handelt sich selbstredend nicht um das Glück im Sinne von glücklichen Umständen, sondern um einen ›glücklichen Zustand‹, der aus dem eigenen Handeln resultiert. Die erste Art des Glücks nannten die Griechen εὐτυχία (fortuna), die zweite εὐδαιμονία (felicitas). 126 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 93. 127 Vgl. ebd., 94. 128 Vgl. ebd., 96.
116
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pologische Untersuchung vor, die nicht nach dem Sollen, sondern nach dem Sein des Menschen fragt. Dennoch stellt sich Ricœurs Auffassung der Glückseligkeit bei Kant als richtig heraus. Zwar schließt Kant die Glückseligkeit als einen moralischen Bestimmungsgrund des Willens kategorisch aus. In diesem Sinne ist nicht Glückseligkeit, sondern die Tugendhaftigkeit das oberste Gut. Die Glückseligkeit gehört nach Kant jedoch notwendigerweise zum vollendeten höchsten Gut. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft hält Kant fest: »Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit« (KrV B 833). Die Glückseligkeit müsse als ein integraler Bestandteil des höchsten Guts gedacht werden. Der Mensch ist auf Grund seiner totalen seinsmäßigen Ausrichtung auf Glückseligkeit keines völligen Verzichts auf sie fähig. Angesichts der moralischen Bestimmung des Menschen kann der Mensch auf Glückseligkeit lediglich hoffen, da sie nur in Proportionalität zur eigenen Tugendhaftigkeit gedacht wird. Indem Kant die Glückseligkeit in den Begriff des höchsten Guts integriert, trägt er der unentbehrlichen Ausrichtung des Menschen auf Glück Rechnung. Die Synthese zwischen der Endlichkeit des Charakters und der Unendlichkeit der Glückseligkeit werde von der Person im Phänomen der Achtung gewährleistet. Unter »Person« versteht Ricœur das Ideal eines »Je-Selbst« im Sinne einer entworfenen Synthesis.129 Das Selbst wird somit als eher »angezielt als gelebt« gedacht. So gesehen kann es keine Erfahrung der Person an sich geben. Unter dem Begriff der Person ist nach Ricœur zuallererst ein Entwurf zu verstehen, ein Entwurf der Humanität. Der Personenbegriff bezeichne dasjenige, was den Menschen zum wahren Menschen macht, indem in ihm eine »umfassende Bedeutung des Menschlichen« intendiert wird. Unter erneutem Anschluss an Kant führt Ricœur aus, in Form der Person »lege ich mir eine Synthesis ganz neuer Art vor: die von einem Zweck meines Handelns, der gleichzeitig eine Existenz wäre. […] ein Zweck an sich selbst«.130 Und diese Synthesis der Person – als eines ethischen Objekts – konstituiere sich im moralischen Gefühl der Achtung.131 Der Begriff des moralischen Gefühls der Achtung führt zum Phänomen des Gemüts,132 in dem Ricœur eine weitere, eine affektive Zerbrechlichkeit ausmacht, die zusammen mit der praktischen die ursprüngliche Zerbrechlichkeit des Menschen bilde. Das Gemüt (le cœur) sei »das Zerbrechlichste von allem; das unruhige
129 Vgl.
ebd., 97. ebd., 99 f. 131 Unter Achtung versteht Kant ein moralisches Gefühl oder auch ein »intellektuell gewirktes Gefühl«. Vermittelst dieses Gefühls vermag das moralische Gesetz unmittelbar den Willen zu bestimmen. Wie bereits dargelegt wurde, ist in der Achtung für das moralische Gesetz stets die Achtung gegenüber Personen vorausgesetzt. Vgl. dazu KpV A 126–138. 132 Im französischen Original verwendet Ricœur keine einheitliche Terminologie. Er benutzt als Bezeichnung für das Fühlvermögen sowohl das deutsche Wort »Gemüt« als auch die Metapher des Herzens »cœur«. Damit wird auch sprachlich sichtbar, welche zwei Denker Ricœurs Weg in unserem Zusammenhang am Nachhaltigsten beeinflusst haben: Kant und Augustinus. 130 Vgl.
Das »radikal« Böse 117
Herz [cœur inquiet]:133 in ihm würden sich alle Disproportionen, die wir in der Disproportion von Glück und Charakter gipfeln sahen, verinnerlichen.«134 Das »Herz«, die affektive Mitte des Menschen, wird von Ricœur deshalb als das »Zerbrechlichste« charakterisiert, weil es die anderen Disproportionen verinnerlicht und personalisiert, indem sie in der Konkretheit der subjektiven Leiblichkeit gefühlt werden. Unter der Metapher des Herzens will Ricœur die Dimensionen des »zwischenpersonalen Mitseins«, des »überpersonalen Fürseins« als auch des »Inseins« in der Welt subsumiert wissen.135 Waren die vorangegangenen Missverhältnisse in der menschlichen Natur dem Vermögen des Erkennens und Handelns zuzuordnen, wendet nun Ricœur seine Aufmerksamkeit dem Fühlen zu. Im Gefühl (sentiment) werde ein vor-reflexiver und vor-objektiver Bezug zur Welt sichtbar. Im Gefühl drückt sich laut Ricœur unsere tiefe und unaufhörliche Zugehörigkeit zur Welt aus.136 Das Gefühl bilde eine Einheit von zwei unterschiedlichen Tendenzen: der »Intention zur Welt« und der »Affektion meiner selbst«.137 Auch im Gemüt macht Ricœur ein Missverhältnis aus, nämlich das zwischen der Endlichkeit der Lust (plaisir) und der Unendlichkeit der Glückseligkeit (bonheur), zwischen der endlichen Vollkommenheit der Lust und der unendlichen Vollkommenheit der Glückseligkeit. Die Lust versteht Ricœur unter Rekurs auf Aristoteles nicht als etwas Negatives (im Sinne der Bösartigkeit der Lust), sondern fasst sie in ihrer Vollendung und Vollkommenheit auf. Die Lust vollende jedoch nur einen einzelnen Akt oder einen partiellen Prozess, sodass sie zwar als eine Vollkommenheit anzusehen sei, aber immer nur als eine endliche Vollkommenheit. Die Lust stelle zwar zunächst eine vollkommene, jedoch nur momenthafte Vollendung dar, in der der Mensch an das Leben in der Welt gefesselt wird.138 Mit ihr sei kein dauerhaftes Glück verbunden, sondern nur das »Glück im Jetzt«, das nach Ricœur die »Dynamik des Handelns in der Feier des Lebens aufzuhalten« droht. Die endliche Vollkommenheit des Glücks beinhalte die Gefahr einer 133 Ricœur bezieht sich auf einen zentralen Begriff von Augustins Confessiones. Der Mensch wird in seiner Gesamtverfassung als ein »cor inquietum« charakterisiert (conf. 1,1): »tu excitas ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te«. Erst in Gott finde der Mensch seine Ruhe (»tua quies tu ipse es« conf. 13,53). 134 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 111 und 164: »Zerbrechlichkeit ist in der Ordnung der Gefühle der Name für die ›Disproportionen‹, deren Auslegung wir durch das Erkennen, Handeln und Fühlen hindurch betreiben.« 135 Vgl. ebd., 137. 136 So hat auch Martin Heidegger in »Befindlichkeit« (neben »Verstehen« und »Rede«) ein Hauptcharakteristikum der menschlichen Existenz (unter dem Namen »Existential«) gesehen. In den unterschiedlichen Stimmungen drückt sich die Tatsache aus, dass das menschliche Da-sein wesentlich immer ein geworfenes In-der-Welt-sein ist. Vgl. dazu M. Heidegger: Sein und Zeit, 134–142. 137 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 119. 138 Das lustvolle Erleben des eigenen Lebens, als der »Existenzbedingung« aller anderen Lebensvollzüge, unterstreicht erneut die Vorgängigkeit einer grundlegend positiven Beziehung zum eigenen Leben.
118
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»Verschließung, einer Versperrung des affektiven Horizonts«.139 Im Unterschied zur Lust fasst Ricœur die Glückseligkeit als die Vollendung des gesamten existentiellen Entwurfs des Menschen auf. In diesem Sinne handelt sich bei der Glückseligkeit um eine unendliche Vollkommenheit. Im Unterschied zur »leeren Idee« der Glückseligkeit, die der Endlichkeit des Charakters entgegengesetzt worden ist, ist hier mit dem Glückseligkeitsbegriff die inhaltliche Füllung gemeint, die »Fülle des Glücks oder die Seligkeit«.140 Da die momenthafte Erfüllung der Lust zwar in puncto ihrer Totalität der Glückseligkeit strukturell ähnlich ist, wird das Erreichen der Ganzheit der Glückseligkeit doch mit einer Einschränkung der Lust verbunden werden müssen. Denn die lustvolle Vollkommenheit des Moments behindere letztendlich die Bewegung der auf die Fülle zielenden Glückseligkeit. So kann die Lust laut Ricœur nur vom Standpunkt der Glückseligkeit kritisiert werden, die als eine höhere oder besser gesagt als die allerhöchste Lust aufgefasst wird.141 Nach dem oben beschriebenen Durchgang macht Ricœur deutlich, wo der Ort der Fehlbarkeit auszumachen ist: im neuralgischen Punkt des Aufeinandertreffens der »unruhevollen Hingabe« der Leidenschaften und der originären, schuldlosen Affektion.142 Wenn auch alle gefundenen Disproportionen einen Moment der Unruhe und der Unbestimmtheit beinhalten, schlagen sich diese nach Ricœur besonders im Gemüt nieder, da sie im Gemüt personalisiert und lebensmäßig konkretisiert werden. Alle disproportionalen Unsicherheiten verdichten sich im Gemüt und werden zu einem einzigen affektiven Knoten aufgeladen. Somit steht das Gemüt für die Ganzheit des Inneren eines Menschen. Wenn Ricœur betont, das Gemüt143 »est essentiellement ce qui en moi est inquiet«,144 dann stellt er die gesamte Subjektivität unter das Augustinische Kennzeichen der Unruhe und Unsicherheit.145 In diesem Sinne kann er schreiben: »Alles menschliche Handeln trägt das Mal dieses Unbestimmten [indéfini].«146 Die Unruhe des Gemüts ermögliche die Entstehung der Leidenschaft. In der »passion« verbinde sich die Unruhe des Gemüts und das unendliche Glücksbegehren, das vom geistigen Willen ausgeht. Die Leidenschaft bezeichnet also ein zutiefst menschliches Phänomen, das wie Ricœur richtig betont, nicht mit dem Vitalen erschöpfend erklärt werden kann. Durch die negati139 Vgl.
P. Ricœur: Fehlbarkeit, 126. ebd., 124. 141 Vgl. ebd., 129 f. 142 Vgl. ebd., 171. 143 In Ricœurs Terminologie auch »cœur« oder θυμός. 144 Vgl. P. Ricœur: Finitude et Culpabilité. L’homme faillible, 142. 145 Ricœur beschreibt die menschliche Subjektivität als eine »gefährdete« Subjektivität. Diese Charakteristik weist auf die Inspiration durch Augustinus hin. Vgl. dazu J. Sirovátka: Die gefährdete Subjektivität. Das Verhältnis Paul Ricœurs zum Denken Augustins, 281–292 und I.Bochet: Augustin dans la pensée de Paul Ricoeur. Paris 2004. Zur Bestimmung der unsicheren Existenz des Menschen durch Augustinus vgl. N. Fischer: Unsicherheit und Zweideutigkeit, 340–367. 146 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 165. 140 Vgl.
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ven Bestimmungen der Leidenschaften bei Kant hindurch, der die klassische Trias »Habsucht, Herrschsucht, Ehrsucht« untersucht, sucht Ricœur zu einem Verständnis der Leidenschaft durchzustoßen, das die »primordiale«, unschuldige Schicht sichtbar macht, die die Rede von der Negativität der Leidenschaften immer schon unausgesprochen voraussetzt:147 »die Sklaverei der Leidenschaften ist nur die entartete Modalität des leidenschaftlichen Lebens«.148 Am Beispiel der Leidenschaften zeigt Ricœur die schmale Grenze zwischen einem unschuldigen leidenschaftlichen Leben, das die zutiefst menschliche Existenz ausmacht, und den Leidenschaften auf, die den Menschen gefangen nehmen und sich sowohl gegen die Mitmenschen wenden als auch gegen die eigene humane Entfaltung. Die drei Leidenschaften der Hab-, Herrsch- und Ehrsucht bilden für Ricœur keine zufällige Aufzählung – sie werden auf drei wesentliche Vollzüge des menschlichen Lebens bezogen, die den Menschen in seiner sozialen, zwischenmenschlichen und kulturellen Dimension zeigen. Um die Schwachstelle freizulegen, durch die das moralisch Böse real werden kann, geht Ricœur von den Leidenschaften auf eine ursprünglichere »primordiale« Ebene zurück: durch die »passion« hindurch auf das ursprüngliche »passionnelle«,149 von der »Sucht« zum ihr zugrundeliegenden »Suchen«. Auch wenn wir empirisch nur die Leidenschaften kennen, müssen wir nach Ricœur auf die ursprünglichere (nur imaginierte) Ebene zurückgehen, um den Ort des Bösen im Menschen überhaupt bestimmen zu können. Erst auf der Negativfolie der Leidenschaften werden die »urgegebenen Modalitäten des menschlichen Begehrens« sichtbar, die »die Menschlichkeit des Menschen ausmachen«.150 Das Sichtbarmachen dieser ursprünglichen Ebene besteht in der rein gedanklichen Rekonstruktion eines positiven und vollkommenen Ideals, auf den sich der Mensch unausgesprochen im Urteilen bezieht. In diesem Sinne handelt es sich um ein Sichtbarmachen der eigentlichen menschlichen Bestimmung, die dem Menschen eine Richtung angibt, in der er sein tiefstes eigenes Menschsein verwirklichen kann. So enthüllt sich etwa unter dem Laster der Habsucht das ursprüngliche, zutiefst menschliche Verlangen des Habens, durch das das Ich sich überhaupt in seiner Identität konstituieren kann, indem es etwas sein ›eigen‹ nennt. Die Herrschsucht bezieht sich als eine Verkehrung auf das Phänomen der Selbstbehauptung, das sich in Machtbeziehun-
147 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 147: »das Verständnis einer Leidenschaft als schlecht erfordert dieses Verständnis des Primordialen durch die Imagination einer andern empirischen Modalität, durch Exemplifizierung in einem Reich der Unschuld«. 148 Vgl. ebd., 169. 149 Vgl. P. Ricœur: Finitude et Culpabilité. L’homme faillible, 127. 150 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 147. Vgl. auch 187: »indem diese ›Leidenschaften‹ das ›Trachten‹, darin sie wurzeln, kundtun, empfangen sie von ihm wiederum das, was man ihren Verfallindex nennen könnte; so verweist das Böse der Verfehlung intentional auf das Originäre; umgekehrt aber konstituiert diese Verweisung auf das Originäre das Böse als Verfehlung. […] die Fehlbarkeit sei die Bedingung des Bösen, wenngleich das Böse die Fehlbarkeit enthüllt.«
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gen unter den Menschen äußert. Und das dritte Laster der Ehrsucht offenbart ein ursprünglicheres Verlangen des Menschen nach Anerkennung, Ansehen und zwar durch Andere. Dieses Verlangen nach Anerkennung wird von Ricœur nicht negativ als Ausdruck einer vitalen Selbstbehauptung gesehen, sondern als eine gegenseitige Anerkennung unseres Menschseins, unserer Existenz als Zweck an sich selbst: »Was ich vom andern erwarte, ist, daß er mir das Bild meines Menschseins zuerkenne, daß er mich schätze, indem er mich in meinem Menschsein bestätigt.«151 In einer nicht unähnlichen anthropologischen Charakterisierung setzt Kant seinerseits die Leidenschaften wie z. B. die Rach- oder Herrschsucht vom Affekt ab. Leidenschaften werden nicht wie die Affekte als momentane unglückliche Gemütsstimmungen charakterisiert, sondern als eine Sucht: »Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn.« (Anth B 227 f.) Die Leidenschaften behindern sowohl die Freiheit als auch die Vernunft so stark, dass der Mensch seiner moralischen Bestimmung nicht nachgehen kann. Deshalb klassifiziert Kant die Leidenschaften als böse und bezeichnet sie als »Krebsschäden für die reine praktische Vernunft«.152 Die schlimmsten Leidenschaften sind die sog. Kulturleidenschaften, bei denen der Anteil eines naturhaften Affekts fehlt und die mit einer Zwecksetzung verbunden sind: Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Reinhard Brandt unterstreicht den Einheitsmoment der drei Leidenschaften, der im Vermögen liegt, auf andere Menschen Einfluss zu nehmen:153 »Dieses Vermögen enthält eine dreifache Macht in sich: Ehre, Gewalt und Geld; durch die, wenn man im Besitz derselben ist, man jedem Menschen, wenn nicht durch einen dieser Einflüsse, doch durch den andern beikommen und ihn zu seinen Absichten brauchen kann.« (Anth B 235) Ricœur macht zwar die eigentliche Einbruchstelle des Bösen in den Leidenschaften fest, vermag jedoch das Umschlagen der wesenhaft zum Menschen gehörenden Lebensvollzüge in die Sklaverei der Leidenschaften nicht zu erklären. Er beschreibt den Ort des Umschlags der Unschuld in die Schuld, ohne den »Mechanismus« der Verkehrung benennen zu können. Diesen Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Bösen bewirke der Mensch in seiner Verblendung (aveuglement), die nach Ricœur von »anderswoher« komme.154 Nur woher sie tatsächlich kommt, wird nicht beantwortet. Auch wenn Ricœur einen veränderten Weg unternommen hat, um auf die Spur des Böses zu kommen, enden seine Untersuchungen mit einem Resultat, das an das Eingeständnis Augustins und Kants erinnert. Mögen wir mehr 151 Vgl.
ebd., 161. Anth B 226. 153 Vgl. R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, 198 f. Brandt verweist ebenfalls auf die Tatsache, dass Kant an dieser Stelle einen klassischen Lasterkatalog übernimmt. Die oben genannte Trias der Leidenschaften sei z. B. in den Schriften von Platon, Hobbes oder Giambattista Vico zu finden. 154 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 164. 152 Vgl.
Das »radikal« Böse 121
über den empirischen Ort erfahren haben, wo das moralisch Böse im Menschen Platz greifen kann, bleibt wiederum die Frage unbeantwortet, warum der Mensch letztlich das Böse tut. Der letzte Grund des Bösen ist ungeklärt und er bleibt unerklärbar, weil dieser letzte Grund in der menschlichen Freiheit verankert ist, die sich weder mit kausalanalytischen Methoden »erklären läßt« noch einer erschöpfenden anthropologischen Beschreibung zugänglich ist. Die Freiheit samt dem moralisch Bösen selbst bleibt ein Abgrund, der die menschliche Vernunft zum Schwindel bringt. Die phänomenologischen Beschreibungen von Ricœur lassen nicht ganz eindeutig zu erkennen geben, worin nun das Zerbrechlichste überhaupt – die Fehlbarkeit – zu verorten sei, auch wenn Ricœur das Problem in mehreren Anläufen und aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert. Vielleicht ist es berechtigt, in der Leidenschaft das fundamentale Phänomen zu sehen, das den Übergang von Fehlbarkeit zur Fehltat markiert: »Nirgends begreift man besser als im Verhältnis des Passionierten zum Passionellen, daß die Strukturen der Fehlbarkeit der vorgegebene Wurzelboden der Verfehlung sind.«155 Am Phänomen der Leidenschaft verdeutlicht Ricœur die fundamentale Dualität des Menschen, der zwischen die Pole Vernunft und Sinnlichkeit hinein gespannt ist. Nur der Mensch »verkörpert« im wörtlichen Sinne im eigenen Ich den Konflikt zwischen den »zweien affektiven Grundabsichten«: der des »organischen Lebens« mit der »augenblicklichen Vollkommenheit der Lust« und der des »geistigen Lebens« mit dem Streben nach »Ganzheit, Vollkommenheit des Glücks«.156 An den Phänomenen des Habens, Herrschens und Geltens wird laut Ricœur ein Typus des Begehrens sichtbar, das nur dem Menschen eigen ist: eine »Begierde nach Begierde«, eine Begierde ohne ein bestimmtes Ziel.157 So werden von Ricœur die Leidenschaften nicht dem Lebensdrang zugeordnet, sondern vielmehr dem Glücksbegehren, das mit einer unbegrenzten und unbestimmten Begierde verbunden sei: »die Begierde nach der Begierde […] biete dem ungegenständlichen Streben nach Glück seine Bezugsobjekte an als Bild, als vorweisliche Figuration. Hier ist die Quelle, hier die Gelegenheit zu jeglichem Fehlgriff, jeglicher Illusion.«158 Nur der menschliche Geist wolle alles, der vitale Lebensdrang suche lediglich nach einer momenthaften Befriedigung. So zeigen sich die Leidenschaften, überhaupt die ganze Verkehrung unter dem Stichwort des moralisch Bösen, als typisch menschliche Phänomene: »Nur ein Wesen, das das Ganze will und es in den Gegenständen des menschlichen Begehrens schematisiert, kann sich vergreifen, d. h. seine Zielsetzung für das Absolute nehmen, den Symbolcharakter der Verknüpfung des Glückes mit einem Ziel des Begehrens vergessen.«159
155 Vgl.
ebd., 171. ebd., 172. 157 Vgl. ebd., 166. 158 Vgl. ebd., 170. 159 Vgl. ebd., 171. 156 Vgl.
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
Durch die von Ricœur vorgetragenen und in der Regel phänomenologisch-hermeneutisch abgeleiteten Analysen der Fehlbarkeit haben in überzeugender Weise gezeigt, dass »die Möglichkeit des moralischen Bösen in die Verfassung des Menschen eingezeichnet ist«.160 Nach Ricœur reicht es nicht aus, die Endlichkeit des Menschen als eine spezifische Beschränkung ins Feld zu führen, um an das Problem der möglichen Verfehlung heranzuführen. Vielmehr müsse die spezifische menschliche Einschränkung berücksicht werden, die darin besteht, »nicht mit sich selbst zusammenzufallen«.161 Wie bereits deutlich wurde, besteht diese spezifisch menschliche Einschränkung, die den Menschen für das Böse anfällig macht, in den verschiedenen Formen der Disproportionen, die sich zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auftun. Ricœur kommt in seinen Analysen der Fehlbarkeit zu einem analogen Ergebnis wie Kant in seiner Theorie des radikal Bösen: »Dieses Hinübergleiten der Unschuld in die Schuld, das gerade in der Setzung des Bösen entdeckt wird, gibt dem Begriff der Fehlbarkeit seine doppelsinnige Tiefe; die Zerbrechlichkeit ist nicht nur der ›Ort‹, der Einsatzpunkt des Bösen, auch nicht nur der ›Urstand‹, von dem aus der Mensch fällt; sie ist die ›Fähigkeit‹ zum Bösen. Zu sagen, der Mensch ist fehlbar, besagt in eins, dass die Einschränkung eines Wesens, das nicht mit sich selbst zusammenfällt die Urschwäche ist, aus der das Böse hervorgeht. Und dennoch, hervorgehen kann das Böse aus dieser Schwäche nur, weil es gesetzt wird.«162 Der Übergang von einem (nur imaginierten) Zustand der Unschuld in den tatsächlichen und uns bekannten Stand der Schuld kann nur in der Weise des Paradoxen zur Sprache gebracht werden. Dieser Zustandwechsel müsse als ein paradoxaler »Sprung« – als eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος163 – vorgestellt werden, der eine aktive und passive Seite beinhaltet, ohne dass beide Seiten in ein eindeutig begreifbares Verhältnis gebracht werden könnten. Dieses Fazit Ricœurs konveniert mit den Ergebnissen der Untersuchungen Kants. Das Böse kann von Menschen nur deshalb hervorgebracht werden, weil es gesetzt wird. Diese Setzung des Bösen setzt schon wiederum Bedingungen im Menschen voraus, die ihn zum Bösen überhaupt befähigen. So wie in der Konzeption Kants die konkrete böse Handlung einen Hang zum Bösen voraussetzt, der sich in dieser Handlung ›verwirklicht‹ und ihr immer schon vorausgeht, so findet sich ebenso in Ricœurs Theorie eine der bösen Handlung vorangehende Voraussetzung. Sowohl in der menschlichen Zerbrechlichkeit als auch im menschlichen Willen wird ein passiver Moment ausgemacht, der sich mit dem aktiven, bewussten Setzen eines Handlungsaktes verbindet, sodass sich der die 160 Vgl.
ebd., 173. ebd. Ricœur wendet sich an dieser Stelle wie Kant korrigierend gegen die These von Leibniz, die in der endlichen Verfassung des Menschen eine erste Gelegenheit zum moralischen Bösen sieht. Vgl. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 2, 3. Teil § 288, 74/75 und »Causa Dei« § 79, 350/351. 162 Vgl. P. Ricœur: Fehlbarkeit, 189. 163 Aristoteles: De caelo I, 1, 268b. 161 Vgl.
Das »radikal« Böse 123
böse Tat setzende Wille immer schon als ein verführter und gebundener Wille erfährt. Ricœurs Charakterisierung des freien, aber gebundenen Willens besitzt eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der Kantischen Bestimmung des Hanges zum Bösen. Im Willen wird ein Kern des Unwillentlichen angenommen, wodurch er sich folglich als gebunden erfährt. Diese dem Willen innewohnende Unfreiheit wird aber letztendlich als eine Selbstbindung beschrieben. Konsequenterweise muss also diese selbst zugezogene Unfreiwilligkeit genauso wie der Hang zum Bösen erneut dem Willen zugerechnet werden. Der entscheidende Unterschied zwischen den Untersuchungen von Kant und Ricœur liegt darin, dass beide die Problematik des Bösen unter verschiedenen Blickwinkeln untersuchen und in ihren Analysen von unterschiedlichen Intentionen geleitet sind. Kant entwickelt seine Theorie des radikal Bösen im Rahmen einer systematischen Reflexion der Ethik. Die höchste Bestimmung des Menschen wird in der Moralität gesehen. So wird verständlich, dass der Aspekt der Willentlichkeit, d. h. der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit im Vordergrund steht. Das Phänomen des moralisch Bösen wird also stets unter dem Aspekt gesehen, wie sich der Mensch verhalten soll. Ricœur dagegen entfaltet seine Theorie der Fehlbarkeit nicht im Rahmen einer Ethik, sondern als eine anthropologische Reflexion auf das Böse. Seine Untersuchungen werden vor allem unter der Perspektive entfaltet, wie der Mensch ist und wie das Böse von ihm erfahren wird. Beide Denker kombinieren jedoch in ihren Konzeptionen im Wesentlichen die transzendentale mit der phänomenologischen Methode.
b) Der unfreie Wille Die Untersuchungen Ricœurs zum Erscheinungsort des Bösen im Menschen haben gezeigt, dass die Möglichkeit zum Bösen – die Fehlbarkeit – in die Wesensverfassung der menschlichen Natur eingeschrieben ist. Eine der wichtigsten Einsichten, in denen Ricœur über Kant hinausgeht, liegt in der Hervorhebung der ›passiven‹ Seite des Bösen. Auch wenn Ricœur die »äußerste Klarheit« und die vollständige philosophische Durchdringung der moralischen Auffassung des Bösen in der Kantischen Theorie des radikal Bösen rühmt, vertritt er die Meinung, dass diese Klarheit mit einem Verlust erkauft wird. Die moralische Auffassung des Bösen klammere nämlich die »dunkle Erfahrung des Bösen« aus, die jedoch gerade das »Tragische« des Bösen ausmacht.164 Gegenüber Kant unterstreicht Ricœur eine andere Dimension des Bösen als die willentliche Setzung: die »Dimension des Bösen als einer Macht, die den Menschen bindet«. Eine solche Dimension ist dem Menschen in der Erfahrung erschlossen, in der er sich zwar als Täter seiner Taten wahrnimmt, zugleich jedoch als ein bereits Verführter. Jeder Mensch findet das Böse bereits vor. Diese alltägliche menschliche Erfahrung wird zum Beispiel in der Gestalt von 164 Vgl.
P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 182.
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Adam symbolisiert, die »die Vorgängigkeit des Bösen selbst gegenüber jedem einzelnen Menschenleben« repräsentiert. Und Adam wiederum hat sein Vorgängiges in der Gestalt der Schlange. Ricœur interpretiert die biblische Erzählung – die er als »Adamsmythos« bezeichnet – als eine Reflexion der menschlichen Erfahrung. Indem sie mehrere »Schichten« der Vorgängigkeit konzipiert, scheine sie die letztliche Unerklärlichkeit des Bösen anzudeuten. Die Auslegung der biblischen Fallgeschichte ist Thema des dritten großen Abschnitts der vorliegenden Untersuchung, der die religionsphilosophischen Implikationen der Frage nach Bösen behandelt. Die Stoßrichtung der Analysen von Ricœur stimmt mit der Intention von Augustinus und Kant überein, die sie beide in ihren Werken verfolgen. Ricœur schreibt: »Was wir zu denken versuchen, ist etwas wie eine Natur des Bösen, die aber keine dingliche Natur wäre, sondern eine originäre Natur des Menschen, eine Natur in der Freiheit, m. a. W. ein zugezogener habitus, eine gewordene Seinsweise der Freiheit.«165 Die fundamentale Crux der Frage nach Bösen wird in diesem Zitat stringent formuliert. Um die Bestimmung einer solchen »freiheitlichen Natur des Bösen« ging es ebenfalls Augustinus mit seiner Theorie der Erbsünde und Kant mit seinem angeborenen, aber dennoch zugezogenen Hang zum Bösen. Ricœurs Kernthese über den »unfreien Willen«166 besteht in der Behauptung: dem freien Willen des Menschen wohnt ein Kern des Unwillentlichen inne. Der menschlichen Erfahrung scheint in der Tat oft die Beobachtung zu entsprechen, dass das moralisch Böse zwei Seiten besitze. Einerseits sieht man ein, dass man das Böse selbst durch den eigenen Willen setzt, andererseits fühlt man auch eine unbestimmte »Sogkraft«, die den Willen in einem gewissen Sinne gefangennimmt und der man sich nur schwer zu entziehen vermag. Nach Ricœur ist der Mensch zwar als ein schuldiger Urheber des Bösen vorzustellen, zugleich jedoch auch als ein Opfer des Bösen. Dieses Paradox eines verantwortlichen und zugleich gefangenen, eines »für sein Gefangensein verantwortlichen Menschen« wird von Ricœur im Begriff des unfreien Willens (serf-arbitre) verdeutlicht.167 Neben dem Ereignis der Setzung des Bösen werden vor allem die ›passiven‹ Elemente des Bösen hervorgehoben: die jeder Bewusstwerdung vorgängige Realität des Bösen, die soziale Dimension des Bösen und die »Ohnmacht des Willens, von der jede aktuelle Fehl165 Ebd.,
183. Hintergrund des Begriffs des unfreien Willens stehen zwei geschichtliche Auseinandersetzungen. Zum Einen handelt es sich um die Auseinandersetzung um den freien Willen zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam und zum Anderen um den Streit zwischen Augustinus und Pelagius. Luther verfasste bekannterweise die polemische Schrift De servo arbitrio, die sich mit seiner These des (vollkommen) unfreien Willens gegen das Buch von Erasmus De libero arbitrio διατριβή sive collatio richtet, das wiederum die Möglichkeit eines freien Willen gegen anderslautende Auffassung Luthers verteidigt. Vgl. zu diesem Streit K. Zickendraht: Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit, Leipzig 1909. 167 Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 118/Finitude et Culpabilité. La symbolique de mal, 100. 166 Im
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tat umhüllt wird«.168 In der Hervorhebung dieses letzten Aspektes – der Ohnmacht des Willens – ist der fundamentale Beitrag von Ricœurs Untersuchungen für die anthropologische Charakteristik des Menschen im Hinblick auf die Problematik des Bösen zu sehen. Seine Hauptthese formuliert Ricœur folgendermaßen: »Der Wille selbst umfaßt eine Quasi-Natur; das Böse bildet eine Art Unwillentliches im Kern des Willentlichen selbst, nicht mehr diesem gegenüber, sondern unmittelbar in ihm, und gerade hierin erkennen wir den unfreien Willen [Hervorh. von Verf.].«169 Der Begriff des »unfreien Willens« wird von Ricœur durch ein dreimaliges Schema strukturiert: durch das Schema der Positivität, der Äußerlichkeit und der Ansteckung. Die »Positivität« besagt, dass das Böse nicht nur als ein Mangel am Sein aufzufassen ist, sondern auch als eine konkret erfahrbare »Macht der Finsternis«. In der »Äußerlichkeit« des unfreien Willens wird laut Ricœur sichtbar, dass die Freiheit immer ein eigenes Außen besitze. Das Böse ist immer schon bereits anwesend und zieht die Freiheit an. Im Schema der »Ansteckung« wird schließlich gezeigt, dass »die Verführung durch das Draußen letztlich eine Selbstantastung ist, eine Selbstansteckung, wodurch der Akt des Sichbindens in den Zustand des Gebundenwerdens überwechselt«.170 Der Begriff des unfreien Willens – eines servum arbitrium – ist, wie Ricœur betont, nicht mit dem Begriff der Fehlbarkeit ins eins zu setzen. Der Begriff des unfreien Willen steht erst am Ende der Untersuchungen zur Fehlbarkeit des Menschen als eine Art Fazit, eine Art »Verdichtung« der Analysen. In diesem Sinne unterstreicht Ricœur, dass es sich um einen »indirekten Begriff«171 handelt, weil in ihm eine denkerische Paradoxie zum Ausdruck kommt. Der Begriff bezeichnet einen Willen, der sich selbst bindet und knechtet, wie es an der Gestalt der Schlange im Adamsmythos im nächsten Kapitel sichtbar wird. Auch wenn sich der Wille von außen ansteckt, handelt sich immer um eine Ansteckung, die sich der Wille selber zuzieht: »eine ›Hingabe‹ meiner selbst, die gleichzeitig eine ›Herrschaft‹ über mich selbst ist, das eben ist das Rätsel des servum arbitrium, des Willens, der sich unfrei macht«.172 Die Charakterisierung des unfreien Willens durch Ricœur impliziert die Konsequenz, dass die Phänomene der Gefangenschaft, der Ansteckung des Willens als Dimensionen der Freiheit verstanden werden müssen. Ricœur hebt in seinen Untersuchungen allem voran die passive Seite des Bösen hervor und entwickelt eine komplementäre, eher anthropologische Theorie zur Ethik, in der das Böse nicht nur in ihrem willentlichen Moment bestimmt wird, sondern auch in seiner Vorgängigkeit und Vorfindlichkeit. Obwohl Ricœur im Begriff des »serf-arbitre«, eines unfreien Willens auf das Moment des Unwillentlichen im Willentlichen hinweist, das jedem Willen innewohnt, kommt er nicht umhin, 168 Vgl.
dazu P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 159. 161. 170 Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 180. 171 Vgl. ebd., 175. 172 Ebd., 178. Vgl. auch ebd., 11: Das Rätsel des unfreien Willens bestehe in einem freien Entscheidungsvermögen, »das sich bindet und sich immer schon gebunden findet«. 169 Ebd.,
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auch diesen Kern des Unwillentlichen erneut auf das Willentliche zurück zu beziehen. Trotz der Tatsache, dass Ricœur einen Aspekt des Bösen offenlegt, der bei Kant weitgehend fehlt, gibt er Kant jedoch schließlich recht – und das gerade durch den zentralen Begriff des unfreien Willens hindurch –, indem der Grund für das Böse letztlich in den menschlichen Willen gelegt wird. Auch wenn Ricœur die Struktur der Fehlbarkeit zu verdeutlichen versucht, die das konkrete böse Verhalten ermöglicht, bleibt trotz aller Unfreiheit, in die sich der Wille verstrickt, die Freiheit als Grund der Handlungen bestehen. Und trotz allen anthropologisch-hermeneutischen Analysen zeigt sich die Freiheit letztlich als ein Abgrund für die theoretische Vernunft. Die Ausführungen Ricœurs bilden eine Ergänzung zur These Kants vom radikal Bösen, indem sie zeigen, welche empirische Begebenheiten den Einfall des moralisch Bösen ermöglichen und begünstigen. Solche Überlegungen stellt Kant nicht an, oder nur ansatzweise. Auch in der Betonung der passiven Seite des Willens, auch in der Hervorhebung eines im Wollen vorhandenen Kerns des Unwillentlichen, bleibt die grundsätzliche Möglichkeit eines freien Willens bestehen. Und genau über diesen in einer bestimmten Weise ›idealen‹ freien Willen denkt Kant nach. Insofern stellen Ricœurs Ausführungen nicht im Widerspruch zu Kants Thesen, sondern bilden eine wichtige Ergänzung zu ihnen. Man könnte also mit Ricœur gegen Ricœur argumentieren und sagen, der im Willentlichen ausgemachte Kern des Unwillentlichen ist wiederum vom Willentlichen umfangen. Die entscheidende Frage wäre dann, ob man die Selbstbindung, die Selbstansteckung wiederum willentlich vermeiden kann oder nicht.
2.2.6 Die Überwindung des Bösen Dank der ursprünglichen Anlagen zum Guten, mit denen uns die »weislich versorgende Natur« ausgestattet hat, besitzt der Mensch einen unzerstörbaren Keim des Guten, den er nicht verlieren kann. Seine Unzerstörbarkeit zeigt sich durch das Faktum des moralischen Bewusstseins: das unbedingt gebietende Sollen in seiner faktischen Gegebenheit mündet zwingend in der Annahme ein, dass der Mensch des Guten auch fähig sein müsse. Dieser Keim des Guten entwickelt sich jedoch nicht von sich aus, sondern muss vom menschlichen Willen entfaltet werden und zwar im Kampf mit dem Hang zum Bösen. Die Wiederherstellung der Anlage zum Guten besteht, wie wir bereits gesehen haben, nicht in der Erwerbung einer verlorenen Triebfeder zum Guten, sondern in der Wiederherstellung der Reinigkeit derselben.173 Die Reinigung der Triebfeder zum Guten reicht aber nicht aus, um ein moralisch guter Mensch zu werden. Zu einem solchen Ziel bedarf es einer aktiven Bekämpfung der sich »in uns befindlichen entgegenwirkenden Ursache des Bösen«. Mit einem Seitenhieb auf den Intellektualismus in der Ethik erklärt Kant, dass es nicht ausreicht, gegen die sich von den Neigungen täuschen lassenden Torheit 173 Vgl.
RGV B 52.
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anzugehen. Vielmehr handelt es sich bei moralisch Bösem um eine in der menschlichen Natur verwurzelten Bosheit (gleichwohl um keine teuflische Bosheit), zu deren Bekämpfung eine Revolution in der Gesinnung und eine Evolution im Verhalten (»allmähliche Reform des Verhaltens«) nötig sind (RGV B 54 f.). Die Revolution in der Gesinnung besteht in der »Änderung des Herzens« und betrifft den intelligiblen Charakter; dagegen betrifft die Evolution im Verhalten den empirischen Charakter und besteht in einer beständigen und beharrlichen Änderung der Sitten. In diesem Zusammenhang wendet sich Christoph Horn gegen diejenige Interpretation, die die Revolution in der Gesinnung als einen anfänglichen Entschluss deute, der die Entwicklung eines Menschen auf dem Weg zum Guten einleitet: »Wie könnte es gemeint sein, daß erst eine grundlegende Revolution der Gesinnung stattfindet und danach die schrittweise Revolution der moralischen Einzelhandlungen oder der einzelnen Einstellungen? Das schiene geradezu absurd. […] Eine Art von Revolution, die im Sinn einer Initialzündung den moralischen Weg einer schrittweisen Selbstoptimierung einleiten würde, wäre eine Art hysteron proteron: eine absurde Vertauschung von Ursache und Folge.«174 Bei Horns These leuchtet jedoch nicht ein, worin die Absurdität der Vorstellung liegen soll, wenn die Revolution in der Gesinnung als Initialzündung eines der Tugend verpflichteten Weges verstanden wird. Überprüft man die besagte Vorstellung am eigenen oder fremden Verhalten, dann entspricht sie ziemlich genau der phänomenalen Selbst- und Fremdbeobachtung. Wenn ich mein Verhalten in einer radikaleren Weise ändern will, dann muss doch am Anfang ein innerer, geistiger Entschluss – in der Diktion Kants »in der Gesinnung« – stehen, der mich auf den Weg des Guten und der Tugend bringt. Und erst nach und nach kann ich versuchen, diesem Entschluss Taten folgen zu lassen und ihn in den eigenen Handlungen umzusetzen. Dies impliziert selbstverständlich Rückschläge, da die Umsetzung eines geistigen Entschlusses in das empirische Verhalten nicht wie eine mathematische Rechnung funktioniert. Und genau diese Änderung des empirischen Charakters hat Kant im Sinn, wenn er über die »allmähliche Reform des Verhaltens« spricht. Die Revolution in der Gesinnung – der »Übergang zur Maxime der Heiligkeit« – beinhaltet nach Kant folgendes: »wenn er [der Mensch] den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt […] so ist er so fern, dem Prinzip und der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch« (RGV B 54 f.) Die allmähliche Änderung des empirischen Verhaltens resultiert aus einem grundsätzlichen geistigen Entschluss, der als eine Revolution in der Gesinnung charakterisiert wird. Auch in der Beurteilung einer reinen guten Gesinnung, die sich nach einer Revolution der Denkungsart einstellt, muss nach Kant zwischen einer empirischen und übersinnlichen Sicht unterschieden werden: »Auch die reinste moralische Gesinnung bringt am Menschen, als Weltwesen, doch nichts mehr, als ein kontinuier174 Vgl. Ch. Horn: Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen, 59 f.
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liches Werden eines Gott wohlgefälligen Subjekts der Tat nach (die in der Sinnenwelt angetroffen wird) hervor. Der Qualität nach (da sie, als übersinnlich gegründet, gedacht werden muß) soll und kann sie zwar heilig und der seines Urbildes gemäß sein; dem Grade nach […] bleibt sie immer mangelhaft«. Ungeachtet dessen stellt aber die Gesinnung »als intellektuelle Einheit des Ganzen, die Stelle der Tat in ihrer Vollendung« (RGV B 99 f.) dar. Wie ist die Umkehrung des obersten Grundes der Maximen, der verderbt ist, durch eine einzige unwandelbare Entschließung zu verstehen? Eine konsistente Interpretation der Thesen Kants wird durch die Tatsache erschwert, dass Kant grundsätzlich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven spricht, die auf den ersten Blick einander zu widersprechen scheinen. Einerseits behandelt er die Problematik aus einer empirischen Perspektive – d. h. im Ausgang von konkreten bösen Handlungen, wobei den Analysen der empirische Charakter zugrundegelegt wird. Andererseits bedient er sich einer apriorischen Perspektive, in der der intelligible Charakter im Zentrum steht. Zunächst bleibt also festzuhalten, dass eine Umkehrung des obersten Grundes aller Maximen keine völlige Vertilgung des Hanges zum Bösen bedeuten kann, da dieser Hang von Kant als so stark in der menschlichen Natur verwurzelt bestimmt wird, dass er als unvertilgbar angesehen werden muss. Die Änderung der gattungsmäßigen Beschaffenheit der menschlichen Willkür bleibt nach der vorherigen Charakterisierung ausgeschlossen. Auch wenn der Mensch eine Revolution in seiner Gesinnung vornimmt und auf dem Weg des Guten ausharrt, bleibt die Tatsache bestehen, dass er immer schon bei einem Hang zum Bösen anfängt. Diese erste »Verschuldung« als eine »allerpersönlichste« ist unauslöschbar: »diese ursprüngliche, oder überhaupt vor jedem Guten, was er immer tun mag, vorhergehende Schuld« (RGV B 94) ist nicht zu vertilgen.175 Wenn ich »den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschaue« (RGV B 55) und eine Revolution in der Gesinnung vollziehe, bedeutet das, dass der Hang zwar weiterhin in der Beschaffenheit der Willkür vorhanden ist, aber außer Kraft gesetzt wird? Agiert der Mensch nach der Umkehrung des ersten Grundes der Maximen in der Weise, dass der Hang zum Bösen zwar weiterhin in seiner Verfassung vorhanden ist, sich jedoch nicht realisieren kann? Die Revolution in der Gesinnung muss in der Art aufgefasst werden, dass in ihr die Wiederherstellung der sittlichen Ordnung der Triebfedern geschieht, in der die Achtung für das Moralgesetz die höchste Bedingung aller Maximen darstellt. Der Mensch bleibt auch weiterhin dem Hang zum Bösen ausgesetzt, die Selbstliebe verliert jedoch ihre Stellung als oberstes Prinzip des Verhaltens. Obwohl der Hang zum Bösen im Menschen unwiederbringlich verwurzelt bleibt, wird eine Revolution in der Gesinnung und eine Evolution im Verhalten von Kant aus der menschlichen Kraft heraus für möglich 175 Kant betont in religionshistorischer Hinsicht, dass diese Schuld auch nicht von einem Anderen vertilgt werden kann. Die moralische Schuld, die immer als eine persönliche verstanden werden muss, ist nicht übertragbar. Zur Auseinandersetzung Kants mit der Person des Sohnes Gottes als eines Erlösers und Rechtfertigers vgl. RGV B 100 ff.
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gehalten. Theoretische Einsicht in die Möglichkeit einer solchen moralischen Umänderung bleibt dem Menschen jedoch verwehrt. Sie ist auch für seine höchste Bestimmung nicht letztlich entscheidend. In praktischer Hinsicht ist eine moralische Umkehr möglich, sie muss sogar als möglich gelten. Erneut schlägt an dieser Stelle die fundamentale Bedeutung des Moralgesetzes durch: weil der Mensch moralisch gut handeln soll, muss er es auch können. Der ethische Imperativ des Sollens, der uns in unseren alltäglichen konkreten Situationen trifft, offenbart einerseits die Freiheit unseres Willens und andererseits das Vermögen, diesem Imperativ im eigenen Verhalten entsprechen zu können. Die Forderung des unbedingt gebietenden Moralgesetzes ist das unerschütterliche Fundament, auf dem die Kantische Moralkonzeption steht. Aufgrund des faktischen Gegebenseins des moralischen Bewusstseins, das uns die Letz-Bestimmung unserer Existenz vor Augen führt, muss an der grundsätzlichen Möglichkeit der »Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen in der Veränderung des obersten inneren Grundes der Annehmung aller seiner Maximen« festgehalten werden und zwar trotz des in uns eingewurzelten Hanges zum Bösen, der auch nach einer »Gesinnungsumwandlung« weiterhin seine Wirksamkeit entfaltet könnte. Einerseits bleibt der Hang zum Bösen in der menschlichen Natur unausrottbar bestehen, da er dem Menschen als Gattungswesen eigen ist, andererseits kann seine Wirksamkeit durch das dem Sittengesetz gemäßes Handeln »aufgehoben« werden. Wäre die Revolution in der Gesinnung als der Anfang eines moralisch guten Lebens aufgrund der Übermacht des radikalen Bösen unmöglich, bliebe die Moral lediglich eine Chimäre. Die Über windung, nicht die Beseitigung, des Hanges zum Bösen durch die Gesinnungsrevolution und anschließende allmähliche Änderung des empirischen Verhaltens impliziert allerdings eine Schwierigkeit. Kant merkt in einem Nebensatz an, dass dies nur gälte, »so fern dieser neue Grund (das neue Herz) nun selbst unveränderlich ist«. Das Wissen um die Unveränderlichkeit unserer Gesinnung ist dem Menschen jedoch nicht gegeben, »weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist« (vgl. RGV B 61). Diese Unsicherheit bezüglich der Unveränderlichkeit der eigenen Gesinnung besitzt aber einen sehr guten Sinn: sie verhindert die Einbildung des Menschen, schon genug getan zu haben auf dem Weg der Tugend. Die menschliche Existenz, soweit sie als eine sich zu bewährende Herausforderung in Freiheit geführt werden soll, schließt die Unkenntnis über den endgültigen Zustand der eigenen Gesinnung notwendigerweise ein. Somit weist Kant das stoische Ideal des Stolzes aufgrund seiner Tugendstärke in seiner entwickelten kritischen Position zurück. Die völlige Angemessenheit an das Moralgesetz bleibt dem Menschen aufgrund seiner Verfassung unerreichbar. Diese Unerreichbarkeit des Ideals, das uns nichtsdestoweniger fordert, führt, wie bereits deutlich gemacht worden ist, zu den Postulaten der reinen praktischen Vernunft – zur Annahme des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Wie an anderen Stellen, so wird auch hier das Primat der praktischen Vernunft in der Philosophie Kants sichtbar. Die theoretische Vernunft wird erneut in die Schranken verwiesen, oder besser gesagt, es wird ihr Unvermögen
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Der Hang zum Bösen als Ursprung von Handlungen gegen das Moralgesetz
eingestanden, bestimmte Phänomene fassen zu können. Auch wenn die Vernunft in theoretischer Hinsicht letztlich ratlos zurückbleibt, ist es die Vernunft in praktischer Hinsicht, die den Menschen in ausreichendem Maße auf seine moralische Bestimmung hinleitet. Kant vertritt die Ansicht, dass es sich beim Hang zum Bösen um eine selbst verschuldete Verderbtheit handelt, »welche in allen Menschen liegt, und durch nichts überwältigt werden kann, als durch die Idee des Sittlichguten in seiner ganzen Reinigkeit, mit dem Bewußtsein, daß sie wirklich zu unserer ursprüngliche Anlage gehöre, und man nur beflissen sein müsse, sie von aller umlauteren Beimischung frei zu erhalten, und sie tief in unsere Gesinnung aufzunehmen, um durch die Wirkung, die sie allmählich aufs Gemüt tut, überzeugt zu werden« (RGV B 115). Die zitierte Stelle legt eine folgende grundsätzliche Interpretation nahe: der Mensch hat zwar ursprüngliche Anlagen zum Guten, die jedoch durch den selbst zugezogenen Hang zum Bösen verdorben worden sind, wenn auch nicht völlig zerstört. Die Entfaltung von diesen guten Anlagen und die Rückkehr zu ihnen kann aufgrund des in der menschlichen Natur verwurzelten Hanges zum Bösen nicht in einer allmählichen Änderung des empirischen Verhaltens erreicht werden, da ein solches Verhalten nur die Symptome bekämpfen würde, keineswegs jedoch die letzte Ursache des Bösen. Alleine eine Revolution in der Gesinnung vermag diesem Hang Einhalt zu gebieten. Sie muss sich allerdings in einem beständigen Ringen im empirischen Verhalten konkretisieren. Damit ist der Hang nicht beseitigt – als Gattungsmerkmal des Menschen – sondern besitzt lediglich keine durchschlagende Auswirkung auf die Gesinnung. So ist die Möglichkeit denkbar, dass der Hang zum Bösen zwar in der Gesinnung alle Kraft als Triebfeder verloren hat, im empirischen Verhalten dennoch böse Handlungen anzutreffen sind. In einem abschließenden Zitat soll nochmals Kants Position zusammenfassend zur Sprache gebracht werden. Bei der Wiederherstellung der Anlagen zum Guten dürfen wir laut Kant nicht von einer natürlichen Unschuld ausgehen, sondern »müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben, und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben. Da dieses nun bloß auf eine ins Unendliche hinausgehende Fortschreitung vom Schlechten zum Bessern führt, so folgt: daß die Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen in der Veränderung des obersten inneren Grundes der Annehmung aller seiner Maximen dem sittlichen Gesetze gemäß zu setzen sei, so fern dieser neue Grund (das neue Herz) nun selbst unveränderlich ist. Zur Überzeugung aber hiervon kann nun zwar der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein, noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist« RGV B 60 f.
3. Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen Das Phänomen des Bösen ist als Problem und Herausforderung immer schon ein Gegenstand des Nachdenkens sowohl der Philosophie als auch der Religion gewesen. So überrascht es also nicht, dass die Behandlung der Problematik des Bösen bei Kant religionsphilosophische Implikationen beinhaltet und dass sich seine Untersuchungen innerhalb eines metaphysischen Rahmens bewegen. Durch die Auslegung der biblischen Erzählung über den Fall der ersten Menschen in Genesis 2,15–3,24 (RGV B 43–48) oder etwa in der Bezeichnung des Hanges zum Bösen als peccatum originarium (RGV B 25) legt sich die Ansicht nahe, die Theorie des radikal Bösen in der Religionsschrift als eine säkulare Interpretation der christlichen Sündenlehre zu lesen. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, ist es jedoch notwendig festzuhalten, dass Kant keine Theologie (auch keine säkulare) betreibt und betreiben will.1 Er nimmt die Religion – in vorliegendem Fall die biblische Schrift – als Philosophierender denkerisch ernst, indem er sie als Quelle des Nachdenkens verwendet. Wie die Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift deutlich macht, zeigt sich Kant überzeugt, dass »zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei« (RGV B XXIII). Wobei das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft im Bild von zwei konzentrischen Kreisen bestimmt wird: die Vernunft bildet einen engeren Kreis, der von der Offenbarung als einem weiteren Kreis umschlossen wird (RGV XXII).
3.1 Exemplarische Interpretationen der ›Fallgeschichte‹ a) Augustinus Im Hintergrund der Kantischen Interpretation der biblischen Vorstellung des Sündenfalls steht unausgesprochen das geschichtlich überaus wirksame Denken Augustins. Aus diesem Grund soll die Augustinische Interpretation des Sündenfalls im Hinblick auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen dargestellt werden. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen bei Menschen wird in einer exemplarischen Weise in Augustins Spätwerk De civitate Dei behandelt. Die Untersuchung des Falles des 1 Zu Kants Zuordnung von Philosophie und Theologie vgl. SF A 26: »Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt)«.
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
ersten Menschen wird im Buch XIV entfaltet und fällt überaus knapp aus. Der Grund für die knappe Analyse des menschlichen Sündenfalls ist darin zu sehen, dass bereits im zwölften Buch der Fall der Engel ausführlich behandelt wird. Da Augustinus sowohl bei den Engeln als auch bei den ersten Menschen einen strukturell identisch verfassten Willen annimmt, ist seine Willensanalyse im Rahmen der Untersuchung des Engelfalls ebenso auf den Menschen zu übertragen. Der sachliche Anfang der Frage nach dem Ursprung des Bösen muss bei einem Willen gemacht werden, der als geschaffen gut ist. Weil Gott gut ist, müsse ebenfalls die geschaffene Natur als gut angesehen werden (vgl. ciu. XII, 1). Der Mensch wurde in seiner Natur als gut geschaffen, er ist mit einem wandelbaren Wesen und mit einem freien Wille ausgestattet. Da ein guter und heiliger Gott als Ursache von Bösem ausgeschlossen werden kann und der Wille in der Macht des Menschen steht, muss folglich der Ursprung des Sündenfalls im menschlichen Willen gesucht werden.2 Wodurch wird aber der Wille böse? Der Fall besteht für Augustinus in einer doppelten Bewegung: in der Abkehr von Gott (aversio a Deo) und der Hinwendung (conversio) zu sich selbst. Das Böse liegt in der Art der Hinwendung selber. Die Hinwendung ist nicht deshalb böse, weil sie sich einem endlichen Wesen zuwendet, sondern weil sie die seinsmäßige Ordnung nicht respektiert. Indem sich der Wille von Gott als dem Höheren abwendet und dem Menschen als dem Niederen zuwendet, wird er hochmütig. Der Ursprung von allem Bösen ist folglich in einer pervertierten Selbstbeziehung des Menschen zu verorten, der sich selbst absolut setzt. Die »superbia« ist das »initium omnis peccati« (ciu. XII, 6). Wenn der Anfang des bösen Willens in einem willentlichen Abfall vom Höchsten zum Niederen besteht, stellt sich die Frage nach der Ursache, die diesen Abfall im Willen verursacht. Als Grund für das Böse wird die Natur ausgeschlossen. Der Mensch ist als Naturwesen erschaffen und daher gut. Und Gutes kann kein Böses bewirken. Laut Augustinus muss sich der Mensch eingestehen, dass es sich seiner Einsicht entzieht, wie aus einer als gut geschaffenen Natur Böses entstehen konnte. Auf Grund dieser Unmöglichkeit, eine das Böse bewirkende Ursache ausfinden machen zu können, betont Augustinus, dass es nur eine versagende Ursache – »causa deficiens« – (aber keine bewirkende »causa efficiens«) des bösen Willens geben könne (ciu. XII, 7). Da es keinen einsehbaren Grund für das Böse gibt, findet Augustinus die Bedingung der Möglichkeit des bösen Willens in der Erschaffung aus dem Nichts. Weil der Mensch »de nihilo« geschaffen ist, vermag er überhaupt zum bösen Handeln fähig zu sein (vgl. ciu. XII, 6 und XIV, 13). Die »Nichthaftigkeit selbst« ist es, die den bösen Willen ermöglicht: »der ›böse Wille‹ ist aus nichts und von nichts und daher ist er – durch nichts. Nämlich durch nichts als durch seine eigene Fehl-haftigkeit und Defizienz«.3 Allein im Nichtwissen kann die Ursache des Bösen gewusst werden.4 2 Vgl. lib. arb. III, 7. Die menschliche voluntas stellt somit eine »prima causa peccandi« (lib. arb. III, 49) dar. 3 Vgl. G. Kohler: Selbstbezug, Selbsttranszendenz und die Nichtigkeit der Freiheit, 72 f. 4 Vgl. ciu. XII, 7: »quodam modo nesciendo sciuntur, ut sciendo nesciantur«.
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Mit seiner Feststellung eines prinzipiellen Nichtwissens einer allerletzten bewirkenden Ursache des bösen Willens nimmt Augustinus sowohl die These Kants als auch die Ricœurs von der letztlichen Unbegreiflichkeit des Ursprungs des Bösen vorweg. Als Fazit der Untersuchung Augustins über den Fall der ersten Menschen lässt sich festhalten, dass der Sündenfall in einer hochmütigen Hinwendung zu sich selbst besteht (obwohl keine bewirkende Ursache für die Hinwendung angegeben werden kann). In diesem Hochmut äußert sich eine pervertierte und eine sich selbst überschätzende Beziehung des Menschen zu sich selbst. Der Mensch verkehrt die natürliche Ordnung zwischen Schöpfer und Geschöpf und setzt sich selber in die absolute Position ein, die nicht ihm, sondern Gott zusteht. Eine Verquickung der beiden Perspektiven – der Beziehung zu Gott und der Beziehung zu sich selbst – verbunden mit dem Problem der Selbstliebe finden wir auch bei Nikolaus von Kues in seinem Werk De visione Dei. Im Zentrum dieses 1453 entstandenen Werks steht die Meditation über liebende Beziehung Gottes zu den Menschen, die mit Hilfe eines Bildes mit einem sog. »Allsehenden« entfaltet wird. Beim Betrachten des Bildes eines »Allsehenden« hat jeder der Betrachter das Gefühl, dass die Augen der abgebildeten Person nur ihm alleine gelten und ihn alleine betrachten. Der Betrachter erfährt sich – in seinem Betrachten – zugleich als ein immer schon von dem Blick des Anderen Betrachteter. Auch beim Bewegen des Betrachters folgt der Blick des Allsehenden dieser Bewegung, sodass der Blick den Betrachter nie verlässt. Cusanus greift dieses Phänomen der Kunst auf, um die Vorstellung eines liebenden Gottes auch sinnlich erfahrbar zu präsentieren. Wie der Blick des Allsehenden beim Betrachten des Bildes den Betrachter nie verlässt, so sei auch die Beziehung Gottes zu den Menschen zu verstehen. Gott blickt jeden Einzelnen in der Weise an, dass der Angeblickte das Gefühl besitze, ihm alleine gehöre die Sorge Gottes. Bei jedem entstehe durch diesen Blick Gottes das Gefühl, dass Gott ausschließlich um ihn persönlich Sorge trägt. Diesen Überlegungen über das Betrachten des Bildes lässt Cusanus folgende Sätze folgen: »Und darum gibt es kein Ding, das nicht sein Sein allem übrigen und seine Seinsweise allen anderen Seinsweisen vorzöge. Und so sehr blickt es auf sein Sein, daß es lieber zuläßt, daß das Sein aller anderen zugrunde geht als sein eigenes. […] Du läßt mich in keiner Weise begreifen, Herr, daß du etwas außer mir mehr als mich liebst, da mich Dein Blick nicht verläßt.«5 Nikolaus von Kues lässt sogar Gott in unserem Herzen das kühne Wort sprechen: »sis tu tuus, et ego ero tuus« (De visione dei VII, 25).6 Wenn der Mensch sein eigenes Selbst entfaltet, dann wird Gott sich ihm zuwenden: »Sei 5 Nikolaus von Kues: Vom Sehen Gottes, 20 f.; »Et hoc euenit quod nulla res est que esse suum non preferat cunctis, et modum essendi suum omnibus aliorum essendi modis, et ita esse suum tuetur, quod omnium aliorum esse potius sinat in perditionem ire quam suum. […] nequaquam domine me concipere sinis quacunque imaginatione quod tu domine aliud a me plus me diligas, cum me solum visus tuus non deserat.« De visione dei IV, 9 f. In: Nikolaus von Kues: Werke. Band I., 296. 6 Vgl. ebd., 302.
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
du dein und ich werde dein sein«. Die zitierte Passage verdeutlicht in knapper Form das Moment des Übergangs von Differenz zur Präferenz (um mit der Wortwahl Ricœurs zu sprechen) der eigenen Person. Durch das Gefühl des Gesehenwerdens vom liebenden Blick Gottes erfährt sich das Selbst in seiner Differenz zu den Anderen. Die Präferenz wird jedoch nicht vom Blick Gottes verursacht, sondern vom eigenen Blick: das Selbst blickt nicht mehr zu Gott hin, sondern auf das eigene Sein und sieht sich in Konkurrenz mit den Anderen. Diese selbstverliebte Hinwendung zu sich selbst nennt Augustinus »superbia« und wird als der Anfang alles Schuldigwerdens bezeichnet. Der entscheidende Unterschied besteht somit in der Differenz zwischen einer absoluten Setzung im Sinne einer ›Egolatrie‹ und dem absoluten Wert des eigenen Selbst. Die Absolutsetzung des Menschen durch sich selbst steht im genauen Gegensatz zu seinem »absolute[n] Wert« (KU B 412), den der Mensch als moralisches Wesen besitzt. Augustinus verbindet bekannterweise seine Interpretation des Sündenfalls aus dem Buch Genesis mit der Auslegung des Paulinischen Römerbriefes. Die Schwierigkeiten einer konsistenten Erklärung einiger Passagen (samt dogmatisch-kirchlichen Polemiken) führen ihn schließlich zur Entwicklung einer Theorie der Vererbung der Sünde von Adam als dem ersten Menschen her. Aus der Ur-sünde (peccatum originale) wurde eine Erbsünde (peccatum hereditarium).7 Zwei Stellen aus dem Römerbrief spielen hier die entscheidende Rolle: Römer 5, 12 und Römer 9, 10–29. Die bekannte irreführende Übersetzung der griechischen Stelle ἐϕ ᾧ πάντες ἥμαρτον ins Lateinische in quo omnes peccaverunt wird von Augustinus so gedeutet, dass alle Menschen »in Adam« (statt »wodurch« oder »weil«) gesündigt haben, also in einer einzigen Person. Das Problem der Übertragung von dieser ersten Schuld wird dann mit der Vorstellung der Vererbung verknüpft. Die Lehre von der Erbsünde lässt sich bei Augustinus ab seiner Schrift De diversis quaestionibus ad Simplicianum datieren.8 Im Rahmen der Frage nach einem gerechten Gott, die Paulus anhand des Beispiel der Erwählung Jakobs und der Verstoßung Isaaks untersucht, wird von Augustinus auch Adam erwähnt. Durch die Tat Adams wurde die ganze Menschheit zu einer »massa peccati« (Simpl. I, 2, 16) verwandelt. In den späteren anti-pelagianischen Schriften bekräftigt Augustinus seine Theorie von der Erbsünde gegen anderslautende Überzeugungen. Die Sünde Adams (peccatum Adae) hat den ganzen »genus humanum« verletzt und diese erste Sünde wird durch die Fortpflanzung (traduce peccati) auf alle nachkommende Generationen übertragen (vgl. gr. et pecc. or. II 2, 2 f.). Die ganze Menschheit wird durch den einen Menschen Adam zu einer »massa perditionis« (gr. et pecc. or. II 29, 34). Die Vorstellung der Übertragung der Schuld durch Vererbung wird in den Sündenfall-Interpretationen von Kant und Ricœur einer überaus scharfen Kritik unterzogen.
7 Vgl.
retr. I, 13, 5. dieser Schrift spricht Augustinus lediglich über Erbübel oder über den Erbtod. Vgl. dazu W. Simonis: Heilsnotwendigkeit der Kirche und Erbsünde bei Augustinus, 320. 8 Vor
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b) Kant In einer kleineren Schrift aus dem Jahre 1786 Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte unternimmt Kant, wie auch später in der Religionsschrift unter einem anderen Blickwinkel, einen Versuch, der biblischen Geschichte des Sündenfalls aus dem Buch Genesis 3, 1–24 einen moralphilosophischen Kern abzugewinnen. Der Titel der Schrift zeigt bereits deutlich an, dass es Kant nicht um eine Interpretation der Fallgeschichte im genuinen theologischen Sinne geht. Er zeigt, dass die biblische Geschichte eine Wahrheit über die moralische Beschaffenheit des Menschen erzählt, die mit seiner philosophischen Konzeption des moralisch Bösen konveniert. Im Gegensatz zur Religionsschrift entwickelt Kant hier seine Thesen unter einem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt, indem er das Verhältnis von Individuum und Gattung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Laut Kant müssen wir uns die Vertreibung aus dem Paradies als den Ausgang der Menschen »aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« vorstellen, als ein »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwesen des Instinkts zur Leitung der Vernunft« (MAM A 12 f.). Der Mensch fand sich »am Anfang« eingebunden in die Natur, geleitet durch den Instinkt, der die Stimme Gottes darstellt. Erst nachdem sich die Vernunft zu regen begann, fängt die Herauslösung aus der Natur an und somit eine Befreiung zur Freiheit. Der Mensch wurde sich seines Vernunftvermögens mehr und mehr bewusst, das ihm eine Entlassung aus dem Schoße der Natur ermöglicht hat. Zugleich ist diese Entlassung eine Entlassung in die Freiheit, die sich verfehlen und zum Abgrund werden kann. In diesem Sinne interpretiert Kant diesen ersten Schritt des Menschen von Natur zur Freiheit aus sittlicher Sicht als einen »Fall«.9 Unter dem Blickwinkel der Sittlichkeit begibt sich der Mensch aus dem Stand der Unschuld in den Stand der Schuld. Denn in der Natur gab es vor dem Gebrauch der Vernunft keine Gebote oder Verbote, da es keine Möglichkeit zur freien Wahl gegeben hat. Die Entwicklungsgeschichte des Individuums läuft allerdings der der Gattung entgegengesetzt: Das Individuum erleidet durch die Verfehlungsmöglichkeiten und der daraus resultierenden tatsächlichen Verfehlungen Verlust; im Gegensatz zu ihm gewinnt aber die Gattung, die sich nun vom Schlechteren nur noch zum Besseren fortentwickeln kann.10 Kant fasst seine These folgendermaßen zusammen: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.« (MAM A 13) Diese Aufteilung schlägt sich parallel in der Charakterisierung des Menschen in der Religionsschrift nieder: der Mensch hat 9 Vgl.
MAM A 13. Vgl. auch Refl 1463 (AA XV, 643). Zu Kants These, dass nur die Gattung des Menschen und nicht das einzelne Individuum ihre sittliche Bestimmung völlig erreichen kann, vergleiche J. Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants, 208 ff. Auch im Mutmaßlichen Anfang äußert Kant das Vertrauen, dass die Menschheitsgeschichte unter der Leitung der Vorsehung einen Verlauf vom Schlechteren zum Besseren nehmen wird. 10
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eine ursprüngliche »Anlage zum Guten«, aber einen selbstzugezogenen »Hang zum Bösen«. Die Schuld für das Böse ist weder der Vorsehung Gottes noch der Vererbung durch die Geschichte der Menschheit hindurch anzulasten, sondern alleine dem Menschen mit seinem freien Willen. Jeder ist für seine Taten selbst verantwortlich. Kant schärft dem Menschen ein, »daß er der Vorsehung, wegen der Übel, die ihn drücken, keine Schuld geben müsse; daß er seine eigene Vergehung auch nicht einem ursprünglichen Verbrechen seiner Stammeltern zuzuschreiben berechtigt sei, wodurch etwa ein Hang zu ähnlichen Übertretungen in der Nachkommenschaft erblich geworden wäre […] sondern daß er das von jenen Geschehene mit vollem Recht als von ihm selbst getan anerkennen, und sich also von allen Übeln, die aus dem Mißbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beizumessen habe« (MAM A 26 f.). Nur derjenige Mensch, der eigene Schuld fühlt und sich somit als Täter seiner Taten wahrnimmt, nimmt sich selbst als Subjekt ernst. Ebenso lehnt Kant in der Religionsschrift dezidiert die Vorstellung der »Anerbung von den ersten Eltern« als die »unschicklichste« von allen Vorstellungsarten ab und übergießt eine solche Vorstellung mit einem beißenden Spott, indem er die Erklärung der Vererbung gemäß der Aufgaben der drei oberen Fakultäten aufteilt. Wenn die These von der Vererbung der Schuld zuträfe, müsste sich die medizinische Fakultät mit der Vererbung als einer Erbkrankheit (die Erbkrankheit müsste als ein Bandwurm vorgestellt werden) beschäftigen, die juristische Fakultät mit der Erbschuld im Sinne der Erbschaft, die vom ersten Menschen auf alle Menschen übergeht und die theologische Fakultät würde schließlich die Erbschuld behandeln müssen.11 Die Vorstellung der Übertragung der Schuld durch Vererbung lehnt in Kants Spuren ebenfalls Paul Ricœur entschieden ab. Deshalb spricht Ricœur nicht von Erbsünde (péché héréditaire), sondern von der Ursünde (péché originel). Der Begriff der Ursünde enthalte nach Ricœur ein falsches Wissen: »ein quasi-juridisches Wissen von der Schuld der Neugeborenen« und »ein quasi-biologisches Wissen von der Übertragung einer erblichen Last«.12 Die richtige Interpretation der biblischen Geschichte vom Fall des ersten Menschen stimmt dagegen mit der konkreten menschlichen Situation überein und Kant sieht seine Theorie des Hanges zum Bösen im Einklang mit der biblischen Geschichte. Die Geschichte des Sündenfalls im Buch Genesis 2,15 – 3,24 stellt nämlich dasjenige, was »der Sache nach (ohne auf Zeitbedingung Rücksicht zu nehmen) als das Erste gedacht werden muß, als ein solches der Zeit nach« (RGV B 44) dar. So wie das Nachdenken über das Böse beim Menschen immer mit dem bereits vorhandenen Hang zum Bösen anfangen muss, so fängt auch die biblische Erzählung 11 Vgl. RGV B 41: »Die theologische Fakultät würde dieses Böse als persönliche Teilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufführers ansehen; entweder daß wir (ob zwar jetzt dessen unbewußt), damals selbst mitgewirkt haben; oder nur jetzt, unter seiner (als Fürsten dieser Welt) Herrschaft geboren, uns die Güter derselben mehr, als den Oberbefehl des himmlischen Gebieters gefallen lassen […].« 12 Vgl. P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 141.
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richtigerweise mit der Sünde an, nur dass sie die Dimensionen der Schuld und Unschuld, die beim Menschen gleichzeitig vorhanden sind, in einer zeitlich auseinandergezogenen Geschichte darstellt. Den Grund des Bösen – der eigentlich der Vernunft nach vorgestellt werden muss – bildet die Fallgeschichte nur der Zeit nach ab. Das philosophische Konzept des radikal Bösen und die biblisch-theologische Fallgeschichte bilden zwei parallele Vorstellungen mit dem Unterschied, dass die Bibel dasjenige, was für das konkrete Individuum gilt, in die Geschichte der ganzen Menschheit projiziert. In der Sache jedoch macht Kant keinen Unterschied aus. Beide Konzepte fangen also mit dem Bösen an: Das philosophische mit dem Hang zum Bösen und das biblische mit der Sünde. Wie jedoch jede konkrete böse Tat in der Weise betrachtet werden muss, »als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre« (RGV B 42) – nur in dieser Vorstellungsweise wird die Handlung nicht auf Naturursachen zurückgeführt, sondern auf das ursprüngliche Vermögen des Willens – so schaltet auch die biblische Erzählung dem Sündenfall die Schilderung des Zustands der Unschuld vor. Und so wie bei den Neigungen ausgesetzten Menschen das moralische Gesetz als ein Ge- und Verbot erscheint, so finden wir auch ein Verbot (vom Baum der Erkenntnis zu essen) in der Bibel (Gen 2, 16). An dieser Stelle weicht Kant von seiner Darstellung des Sündenfalls in Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte ab, indem er dort den Fall als einen Übergang von der Natur, derzufolge es keine Verbote geben kann, zur Freiheit interpretiert. In der Religionsschrift wird nun bereits der paradiesische Zustand der Unschuld so ausgelegt, dass darin ein Verbot vorkommen kann. Ein Verbot macht aber nur dann einen Sinn, wenn die Möglichkeit der Übertretung, d. h. Freiheit vorausgesetzt wird. In einer weiteren Interpretation sagt Kant, dass sich der Mensch statt dem moralischen Gesetz als einer alleinigen Triebfeder zu folgen, nach »andern Triebfedern« umgesehen habe (vgl. RGV B 44).13 Der Mensch fängt unter dem Einfluss der anderen Triebfedern allmählich an, die »Strenge des Gebots« des Moralgesetzes zu bezweifeln, bis die anderen Triebfedern, die zum Prinzip die Selbstliebe haben, überwiegen und der Mensch das Moralgesetzt letztlich bloß zu einem Mittel »herab vernünftelt«. Die höchste und pervertierteste Form der inneren Falschheit sieht Kant dann gegeben, wenn dem Moralgesetz nur eine geheuchelte Ehrerbietung zuteil wird, ohne ihn als die alleinige Triebfeder in die eigene Maxime aufzunehmen. Die raffinierteste Form des radikal Bösen wäre also diejenige, die das Böse unter dem Gewand des Guten präsentiert. Es handelt sich um eine innere Falschheit, eine innere Lüge, die dem Menschen den Weg der Besserung zum Guten versperrt. Deshalb nimmt Kant auch Bezug auf den biblischen Verführer, der als »Vater der Lügen« bezeichnet wird.14
13 Kant rekurriert hier auf die Stelle in Genesis 3,6, wo Eva sich von der versprechenden Schönheit des Baumes und seiner Früchte angezogen fühlt und in ihr dadurch das Begehren nach der Erkenntnis wachgerufen wird. 14 Vgl. auch Refl 8096 (AA XIX, 641): »Die Lüge (deren Anfänger Teufel genannt wird […]
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Die Konvergenz der biblischen Geschichte mit seiner eigenen Theorie zeigt Kant zum Schluss seiner Interpretation an zwei Beispielen. Der Fallbericht bezieht den Ursprung des Bösen auf eine Urtat, indem er sich – der Zeit nach – durch die Geschichte hindurch auf einen ersten Menschen bezieht. Die Schilderung der Tat des ersten Menschen stellt einen Versuch dar, die vorgefundene Korruption der menschlichen Natur zu ›erklären‹. So könnte man sich nach Kant – der Zeit nach – auch die natürliche Verderbtheit der menschlichen Natur mit seinem Hang zum Bösen vorstellen, indem man auf die Geburt zurückgeht und diesen Hang eben als angeboren ansieht (vgl. RGV B 45 f.). Das zweite Beispiel der Parallelität betrifft die Unerforschlichkeit des Ursprungs des Hanges zum Bösen: (RGV B 46 f.) »Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen […] entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage […] eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralisch Böse in uns zuerst gekommen sein könne.« Diese Unbegreiflichkeit des alleresten Ursprungs des Bösen bilde die biblische Erzählung in der Weise ab, indem sie das Urböse in einen bösen »Geist« (in der Gestalt der Schlange) hineinlegt. Dieser Geist ist von einer »ursprünglich erhabene[n] Bestimmung«, sodass unerklärlich bleibt, »woher bei jenem Geiste das Böse?«. Der Mensch wurde von ebendiesem Geist zum Bösen verführt. Damit deute die Geschichte an, dass der Mensch »nicht von Grund aus« böse ist (RGV B 48). Eine solche Vorstellung stimmt wiederum mit der Kants überein, der im Menschen eine unzerstörbare Anlage zum Guten annimmt, die verhindert, dass sich der Mensch einen »teuflischen«, also absolut bösen Willen zulegen kann. Die Interpretation der biblischen Fallgeschichte wird von Kant unter dem Aspekt des Moralisch-Praktischen durchgeführt. Man könnte Kant vorwerfen, dass er bestimmte Fragen nicht stellt, die jedoch für das Verständnis des Ursprungs des Bösen relevant wären. Welchen Sinn hat die Rede von einem Verbot im Zustand der Unschuld? Wieso kann sich der Mensch in einem solchen Zustand nach weiteren Triebfedern umsehen? Kant selber beantwortet das Fehlen von solchen Fragen, wenn er zugibt, keine Schriftauslegung zu betreiben. Er macht sich »einen historischen Vortrag moralisch zu Nutze«, ohne »darüber zu entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei« (RGV B 47 Anm.). Kant gewinnt der biblischen Geschichte einen moralisch-philosophischen Sinn in der Weise ab, dass er sie als eine Reflexion auf den wirklichen Zustand eines jeden konkreten Menschen liest und interpretiert. Diese Lesart ist auch bei Paul Ricœur zu finden.
ist ein formales Böse, welches in keinem Verhaltnise gut seyn kan. Dazu kan keine Anlage in der menschlichen Natur und keine Triebfeder anerschaffen seyn.«
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c) Ricœur Als dritte exemplarische Auslegung der biblischen Fallerzählung wird diejenige von Paul Ricœur vorgestellt, die sich explizit sowohl auf die Erbsündentheorie Augustins als auch auf die Interpretation Kants in der Religionsschrift bezieht. Das Ergebnis der Untersuchungen Kants und Ricœurs zum Phänomen des Bösen hat deutlich werden lassen, dass der Übergang von der Unschuld zur Schuld rätselhaft bleibt und offensichtlich weder einer theoretischen Erklärung noch einer empirischen Untersuchung zugänglich ist. Ricœur verdeutlicht diesen Übergang anhand der Erzählung des Sündenfalls, die er als einen Mythos im Sinne eines rationalen Symbols versteht. Auf der einen Seite bedient sich Ricœur der imaginativen Kraft der Adamitischen Fallgeschichte (als eines anthropologischen Urmythos), weil das Böse nach ihm alleine auf dem Hintergrund eines unschuldigen, ursprünglichen Zustandes zu verstehen ist. Diesen Zustand finden wir aber nicht vor, sondern müssen ihn durch den schon verdorbenen Zustand des Menschen hindurch imaginieren. Auf der anderen Seite drückt der Mythos vom Fall des Menschen ein Bekenntnis des Bösen aus, das als »Bedingung des Freiheitsbewußtseins« angesehen wird: »in diesem Bekenntnis verrät sich die feine Verfugung der Vergangenheit und Zukunft, des Ich und der Akte, des Nichtseins und des reinen Wirkens im Herzen der Freiheit«.15 Der Mythos vom Sündenfall verdeutlicht zwei konstitutionelle Seiten des Phänomens des Bösen: »einerseits kommt das Böse in die Welt, insofern der Mensch es setzt, aber der Mensch setzt es nur, weil er der Umgarnung des Feindes nachgibt«.16 Ricœur spricht in seiner Auslegung der ›Fallgeschichte‹ absichtlich nicht von der Erzählung eines »Falls« (chute), sondern vom »Adamsmythos« (le mythe adamique). Mythos wird von Ricœur – ähnlich der Funktion, die Mythen in der Philosophie Platons besitzen – als eine Erzählung aufgefasst, die ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen und ein bestimmtes Verständnis der Welt zur Sprache bringt und zwar in einer ihr genuinen Ausdrucksweise. Der Mythos bildet laut Ricœur »nicht nur eine Pseudo-Geschichte, er hat auch eine offenbarende Funktion«. 17 Die mythischen Erzählungen werden als »rationales Symbol« verstanden, das zu denken gibt: »das Symbol gibt; aber was es gibt, das ist: zu denken, etwas zu denken«.18 In dieser Kraft, das (philosophische) Denken anzuregen durch eine (vorphilosophische) Erzählung, sieht Ricœur den Überschuss an Sinn, der dem Mythos
15 Vgl.
P. Ricœur: Fehlbarkeit, 15. 15. 17 Vgl. P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 160. Unter »Mythos« will Ricœur also keine »falsche Erklärung mittels Bildern und Fabeln« verstanden wissen, sondern »einen überlieferten Bericht, bezogen auf Ereignisse, die sich am Ursprung der Zeiten zugetragen haben, und dazu bestimmt, das rituelle Tun der jetzt von ihm angesprochenen Menschen zu untergründen und überhaupt alle Formen des Tuns und Denkens zu regeln, durch welche der Mensch sich selbst in seiner Welt versteht«. Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 11. 18 Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 396. 16 Ebd.,
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im Unterschied zu einer bloßen Geschichte eignet. Da der Mythos eine Auslegung der menschlichen Situation ausdrückt und damit zugleich zum Verständnis der eigenen Existenz des jeweiligen Lesers beiträgt, ist es für ein Mythos fundamental, dass in ihm die menschliche Verfassung so abgebildet wird, wie sie tatsächlich ist.19 Aus diesem Grund wird die biblische Erzählung von der Ursünde Adams im Buch Genesis von Ricœur nicht als eine Geschichte des »Falls« des Menschen verstanden. Die Vorstellung eines Falls impliziere nämlich die Annahme eines übernatürlichen, eines übermenschlichen Ur-Zustandes Adams, der unserem Menschsein fremd ist. Ricœur hält diese Erzählschicht über die übernatürliche Vollkommenheit Adams für einen späteren Zusatz, der in der ursprünglichen Erzählung nichts zu suchen hat.20 Deshalb wird die biblische Adamserzählung nicht als ein Mythos von einem Fall angesehen, sondern als ein Adamsmythos. Der Mythos gibt deswegen dem heutigen Menschen zu denken, weil er den Ur-Menschen Adam in derselben menschlichen Verfassung vorstellt, in der sich der Mensch selber vorfindet. Hier bedient sich Ricœur derselben Argumentationsfigur wie Kant bei der Vorstellung des Ideals einer Gott wohlgefälligen Menschheit als eines Sohnes Gottes. Der Sohn Gottes darf nicht in einer übernatürlichen Verfassung vorgestellt werden, weil er dann mit dem von der Vernunft entworfenen Ideal einer wohlgefälligen Menschheit nicht übereinstimmen würde und so jede Motivationskraft eines Ideals für den Menschen verlöre (vgl. dazu RGV B 79 f.). Der Adamsmythos stellt für Ricœur den anthropologischen Mythos schlechthin dar und zwar aufgrund der Schilderung der zutiefst menschlichen Verfassung des Adams, also des Menschen überhaupt. An drei Charakterzügen wird das Anthropologische des Adamsmythos festgemacht: erstens führt der Mythos den Ursprung des Bösen auf einen menschlichen Vorfahren zurück, »dessen Verfassung der unseren gleich ist«. Zweitens unterscheidet der Adamsmythos radikal zwischen dem Ursprung des Bösen beim Menschen und dem ursprünglichen Gut-sein der Schöpfung, die von Gott kommt. Der Mythos bildet die Geschichte »eines zum Guten bestimmten und zum Bösen geneigten Menschen« ab.21 In einem dritten Charakterzug wird das Anthropologische schlechthin dadurch sichtbar, dass die Erzählung es nicht vermag, den Ursprung des Bösen alleine in den Urmenschen zu legen, son19 Die biblische Erzählung darf nicht als ein zeitlich-historischer Bericht verstanden werden, der sich in einer Urgeschichte der Menschheit abgespielt hat. In diesem Zusammenhang übt Ricœur eine überaus heftige Kritik an Augustinus (den er sonst sehr schätzt), der als der Hautschuldige ausgemacht wird, der die historische Interpretation der Adamsgeschichte inthronisiert und noch mit der Vorstellung der durch die leibliche Begehrlichkeit übertragenen Erbsünde verbunden hat. Vgl. ebd., 272. Ebenso lehnt Kant die Vorstellung einer ErbÜbertragung. Vgl. RGV B 41. 20 Vgl. dazu P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 265 f. 21 Vgl. ebd., 267. Ricœur unterstreicht darüber hinaus, dass die Fehlbarkeit keine Sündenbereitschaft bedeute: »Fehlbarkeit bezeichnet […] die zum Abbiegen ins Böse fähige Struktur des Menschen; die Sündenbereitschaft beschreibt die Verfassung einer bereits zum Bösen geneigten Menschheit«.
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dern benötigt dazu noch andere Gestalten, die allerdings der Hauptfigur des Adam untergeordnet werden. Innerhalb des Mythos selber unterscheidet Ricœur zwischen dem »Ereignis« des Sündenfalls und dem »Ablauf« der Versuchung, in deren Dialektik sich die Erzählung abspielt.22 Der Mythos muss immer in einer doppelten Lesart gelesen werden: »Der Mythos ist in eins der Mythos der Zäsur und der Mythos des Übergangs, der Mythos des Aktes und der Mythos der Motivation, der Mythos der bösen Entscheidung und der der Versuchung, der Mythos des Augenblicks und der der Zeitspanne.«23 Entscheidend für das erste Moment – für das Ereignis des Sündenfalls – ist die Einbettung des Fallmythos in einen Schöpfungsmythos. Nur durch diese Verbindung kann der Sündenfall überhaupt als ein Fall auftreten, d. h. als Verlust einer ursprünglichen Unschuld, die sich schlagartig in die selbstverursachte Schuld verwandelt. Der Fall wird als ein radikaler und fast blitzartiger Bruch dargestellt. In einem einzigen Menschen, in einer einzigen Handlung wird der wohlgeordnete und vollkommene Zustand der Unschuld verloren. Im Sinne Kants, der den letzten Grund des Bösen für unerklärbar hält, sieht Ricœur ebenso ein, dass sich dieses einmalige Ereignis der rationalen Erklärung entzieht und bezeichnet es als »ein irrationales Ereignis«.24 Adam tritt hier selbstverständlich als ein »Symbol des konkreten Universellen«, als eine »korporative Persönlichkeit« auf. In seiner Gestalt ist die »vielfältige Einheit des Menschen« komprimiert.25 Die Unschuld verliert der erste Mensch durch das Übertreten des göttlichen Verbotes, indem nicht etwas Konkretes verboten wurde, sondern »eine Qualität von Autonomie, die den Menschen zum Schöpfer der Unterscheidung des Guten und Bösen machen würde«, wie es Ricœur ausdrückt.26 Die verlorene Unschuld betrifft alle Schichten, die zum Menschen gehören. Das eigentümlich Anthropologische und für das Verständnis des Menschen entscheidende sieht Ricœur in der Gleichzeitigkeit der Schuld und Unschuld: »Der Mythos setzt auseinander, was gleichzeitig ist und nicht anders sein kann«.27 Der Zustand der Unschuld ist zwar nur ein imaginierter Zustand, den der Mensch nicht kennt, der aber als Positivfolie zum Stand der Schuld entworfen werden kann und muss, um zum rechten Verständnis des Lebens und Lebensinhalts zu gelangen.28 22 Vgl.
ebd., 278. 288. 24 Vgl. P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 171. 25 Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 279. 26 Vgl. ebd., 285. Im Hinblick auf die Frage, warum Gott überhaupt dem Menschen ein Verbot erteilt hat, wenn beide eigentlich in einer harmonischen Gemeinschaft gelegt haben, stellt Ricœur die Überlegung an, dass es sich um ein Verbot handeln könnte, das nicht als eine repressive Grenze aufgefasst wird, sondern als eine schöpferische Grenze, die »Richtung weist und die Freiheit behütet«. Zu einer solch strukturierten Verbotsgrenze hat der Mensch in seiner konkreten Verfassung freilich keinen Zugang. 27 Ebd., 287. 28 So gesehen ist die Unschuld ein »Ding an sich« im Sinne Kants: »man denkt sie hinreichend, um sie setzen zu können, aber man kennt sie nicht«. Vgl. ebd., 286. 23 Ebd.,
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
Der Mythos zeigt den Menschen im Ereignis des Falles in seiner wirklichen Verfassung. Er ist von Natur aus zum Guten bestimmt, er hat die Anlagen zum Guten und zugleich die Neigung, den Hang zum Bösen. In diesem Punkt stimmt Kant mit Ricœur überein. Die beiden Zustände der Unschuld und der Schuld müssen nach Ricœur überblendet gelesen werden: »die Sünde folgt nicht auf die Unschuld, sondern verliert sie je und je«.29 In fast identischen Worten betont Kant, dass man die böse Tat nicht dem Zeitursprung nach interpretieren darf, sondern dem Vernunftursprung nach, als ob man bei jeder bösen Handlung jedesmal neu vom Stand der Unschuld in den Zustand der Schuld fallen würde (vgl. RGV B 42). Das zweite Moment des Adamsmythos – der zeitliche Ablauf der Versuchung – erzählt eine andere Variante des Falls als das Ereignis. Der Fall wird nunmehr nicht in eine einzige Tat hineingelegt, sondern in ein Geschehen »eines unmerklichen Gleitens« eingespannt, das von mehreren Akteuren getragen wird. Neben der Hauptfigur des Adam treten die Gestalten der Eva und der verführenden Schlange auf. Es ist die Schlange, die durch eine (fast unschuldig anmutende) Frage quasi von außen her das Geschehen in Gang bringt, das eine Folge von katastrophalen Ereignissen zeitigen wird. Auch wenn es vielleicht nicht deutlich genug sichtbar ist, scheint Ricœur dieser ersten Frage der Schlange – »was hat Gott verboten?« – eine fundementale Bedeutung zuzumessen. Denn diese Frage öffnet zum ersten Mal den Menschen, hier durch Eva symbolisiert, vermeintlich die Augen und lässt in ihr ein Begehren entspringen, das sie in die Irre gehen lässt: das Begehren nach (schlechter) Unendlichkeit, die Unendlichkeit der Begierde. Plötzlich erscheint Gott nicht als Schöpfer und Förderer des Menschen, sondern als Konkurrenz: »sobald die Grenze aufhört, schöpferisch zu sein, und Gott den Weg des Menschen durch seine Verbote zu versperren scheint, sucht der Mensch seine Freiheit in der Entgrenzung des Existenzprinzips und hegt den Wunsch, sich als Schöpfer seiner selbst durch sich selbst ins Sein zu setzen.«30 Genau diese Begierde nach der schlechten Unendlichkeit ist dasjenige Anthropologicum, das den Menschen wesenhaft in die Unruhe versetzt, das ihm in ein Missverhältnis zu sich selbst bringt, wie schon in den Ausführungen über die Fehlbarkeit gezeigt worden ist. Die Figur der Eva symbolisiert die endliche Zerbrechlichkeit des Menschen, sie versinnbildlicht »den Punkt des geringsten Widerstandes der endlichen Freiheit ge-
29 Vgl.
ebd., 287. 289. In einer überraschenden Übereinstimmung sehen sowohl Martin Luther als auch Friedrich Nietzsche den Menschen in einem Konkurrenzverhältnis zu Gott stehend. Luther meint, dass der Mensch natürlicherweise nicht wollen kann, dass Gott Gott sei, vielmehr will der Mensch selbst Gott sein. Vgl. Disputatio contra scholasticam Theologiam, These 17/18, 22: »non potest homo naturaliter velle deum esse deum. Immo vellet se esse deum et deum non esse deum.« In einer fast identischen Diktion ruft Nietzsche im Also sprach Zarathustra aus: »Es gibt keinen Gott, denn gäbe es Gott, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein!« (KSA 4, 110). 30 Ebd.,
Exemplarische Interpretationen der ›Fallgeschichte‹ 143
gen den Lockruf des Pseudo, der ›schlechten Unendlichkeit‹«.31 Ricœur wenden sich gegen diejenige Interpretation, die die Schuld für den Fall dem menschlichen Libido zuschreiben möchte. Der Fall wird alleine durch die Struktur der endlichen Freiheit des Menschen möglich gemacht. In der Gestalt der Schlange komme die passive Seite des Bösen zum Ausdruck und zwar in doppelter Hinsicht: Der eine Anteil der Passivität befindet sich im Menschen und der andere wird in der Welt vorgefunden. Auf der einen Seite präsentiert sich das Böse immer auch als eine Verführung, eine Verführung von draußen, der der Mensch nachgibt. Die Schlange wäre nach Ricœur »ein Teil unser selbst, den wir nicht kennen; sie wäre die Verführung unser selbst durch uns selbst, projiziert auf ein Objekt, das die Verführung ausübt«.32 Es handelt sich also um eine Art Selbstverführung – eine Verführung, die vom Menschen ausgeht und durch die sich der Mensch selbst bindet, indem er sie auf ein Objekt projiziert, das er beschuldigen kann, um sich selbst zu entlasten. Auf der anderen Seite steht die Schlange für die Erfahrung der Vorfindlichkeit des Bösen. Der Mensch findet sich bereits im Geschehen des Bösen vor und zwar sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch innerhalb der innerweltlichen Strukturen. Somit erscheint das Böse nicht nur als ein Ereignis, sondern zugleich als eine »Tradition«, in die sich das Ereignis immer schon eingebunden vorfindet.33 Es wurde bereits erwähnt, Ricœur versteht den Mythos als ein »rationales Symbol«, als ein Symbol, das zu denken gibt. Das Symbol spricht »letztlich zu uns als Index der Situation des Menschen im Sein, darin er sich bewegt, darin er existierend und wollend ist«.34 Was sagt nun der Adamsmythos über die Situation des Menschen im Zusammenhang des Bösen aus? Die wichtigste Einsicht, die sich aus Ricœurs Analysen ergibt, liegt darin, dass er auf die passive Seite des Bösen hinweist. Das Böse ist und bleibt eine Setzung eines zurechnungsfähigen Subjekts. Ricœur geht aber über Kant hinaus, wenn er ebenso eindringlich auf die andere Seite des Phänomens des Bösen hinweist: dass sich der Mensch immer schon in einem verführerischen »Zusammenhang« des Bösen vorfindet und er nicht nur das Böse setzt, sondern ihm zugleich ausgesetzt bleibt. Diese Einsicht führt vielleicht zu einem tieferen Verständnis der anthropologischen Situation des Menschen in der Welt angesichts des Bösen, verringert jedoch in keiner Weise die Verantwortung für seine Taten. Es war u. a. Paul Ricœur, der die Augustinische Interpretation der Fallgeschichte hart kritisiert hat, obwohl er sich von Augustinus selbst hat inspirieren lassen und ihm sogar unter den Kirchenvätern einen gewissen Vorrang einräumt. Unter der Devise, Augustinus von der Philosophie her zu lesen,35 hält Ricœur vor allem den 31 Vgl.
P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 291. 292. 33 Vgl. dazu ebd., 294 f. Vgl. auch P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 172: »Die Schlange ist das Andere des menschlichen Bösen.« 34 Vgl. P. Ricœur: Symbolik des Bösen, 405. 35 Vgl. P. Ricœur, La critique et la conviction. Entretiens avec François Azouvi et Marc 32 Ebd.,
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
Begriff der Erbsünde für denkerisch aufschlussreich in der Überzeugung, dass »kein Symbol, das eine Wahrheit des Menschen einschließt und aufdeckt, der philosophischen Reflexion fernsteht«.36 Zuerst wird aber unmissverständlich festgestellt, dass die Vorstellung der Übertragung der Schuld durch eine geschichtlich-biologische Vererbung abzulehnen ist: »Man wird nie ganz ermessen können, welchen Schaden die buchstäbliche, man müßte sagen, die ›historische‹ Interpretation des Adamsmythos der Christenheit zugefügt hat; sie verstrickt sie in das Bekenntnis einer absurden Geschichte und in pseudo-rationale Spekulationen über die quasi-biologische Übermittlung einer quasi-juridischen Schuld der Fehltat eines andern Menschen, den sie in die Nacht der Zeiten, irgendwo zwischen den Pithekanthropus und den Neanderthaler, zurückversetzte.«37 Somit folgt Ricœur der Linie Kants. Trotz dieser Kritik am Versuch der begrifflichen Fassung der Ursünde sieht Ricœur Augustinus von einer richtigen Intention getragen und attestiert ihm eine bleibende metaphysische Einsicht in das Wesen des Bösen, indem er das Böse sowohl als einen Willensakt als auch als eine Verstrickung zu fassen versucht. Der Begriff der Erbsünde hat »die unersetzliche Funktion, das Schema der Vererbung in das der Kontingenz zu integrieren. Vom Standpunkt der begrifflichen Vorstellung aus handelt es sich hier um ein verzweifeltes Bemühen, in der metaphysischen Sicht jedoch um etwas Unumgängliches«.38 Ricœur macht bei Augustinus einen entscheidenden Unterschied in der Bestimmung des moralisch Bösen in den anti-manichäischen und den anti-pelagianischen Schriften aus. Im Kampf gegen die Gnosis der Manichäer entwickele Augustinus einen rein ethischen Begriff des Bösen, indem er der gnostischen bösen Natur den »bösen Willen« entgegensetzt. Das Abfallen zum Bösen wird als eine Bewegung zum Nichts gedeutet, wobei das Nichts nicht als ein Gegenpol zum Sein angesehen wird, sondern in einer existentiellen Richtung als eine »aversio a Deo«, das sich zugleich als eine »conversio ad creaturam« vollzieht.39 Unter dem Druck der Kontroverse mit dem Pelagianismus komme Augustinus zu seiner These von der Vererbung der Schuld. Die Ursünde als Begriff sei anti-gnostisch und quasi-gnostisch zugleich. Der Begriff versuche – in der Form, die ihm Augustinus gibt – die gnostische Vorstellung zurückzuweisen, der nach das Böse eine Natur hat. Unter diesem Druck unterliegt er laut Ricœur jedoch selbst der Gefahr und der Begriff wird selbst
de Launay, 212: »Augustinus a toujours joui, à mes yeux, d’une sorte de préférence. Cela n’exclut pas qu’il y a ait des échanges entre ces deux corpus de textes, au sens topologique même, et qu’on puisse aussi bien mettre Augustin du côté philosophique […].« 36 P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 184. 37 P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 159. 38 Vgl. P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 186. Vgl. ebenfalls fast wortgleich Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 160 f. 39 Vgl. P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 147. Ricœur bezieht sich auf lib. arb. I, 35: »omnia peccata« implizieren die Abwendung vom Göttlichen und zugleich die Zuwendung zu den »mutabilia atque incerta«.
Theodizee 145
quasi-gnostisch formuliert. Auch wenn Ricœur an der Theorie Augustins ihre Begrifflichkeit kritisiert, sieht er die richtige Intention des von Augustinus Gemeinten und versucht in seiner eigenen Theorie, den in der biblischen Adamsgeschichte intendierten Sinn zu entfalten. Ricœurs Analysen der Theorie Augustins lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen: auch wenn Augustinus »nicht über den Begriffsapparat, der seiner Einsicht voll und ganz Rechnung tragen könnte« (erst Kant entwickelt nach Ricœur den entsprechenden Begriffsrahmen) verfügt,40 vermittelt er durch seine »dogmatische Mythologie hindurch doch etwas Wesentliches« und so behalte Augustinus »durch diese Adamsmythologie hindurch und ihr zum Trotz immer recht«.41 Durch die Destruktion der rationalen und weitgehend von Augustinus entwickelten Begrifflichkeit sucht Ricœur den auch von Augustinus intendierten Sinn erneut zur Geltung zu bringen, indem er den Adamsmythos mit seinem Sinnüberschuss als »rationales Symbol« interpretiert, um auf diesem Weg zwei aus seiner Sicht fundamentale Aspekte des moralisch Bösen freizulegen: den aktiven Aspekt des Willentlichen, der den Grund für das Böse im Willen des Menschen sieht, und den passiven Aspekt des Unwillentlichen.42 So zeigt sich das Phänomen des Bösen als etwas, was gesetzt wird und zugleich als etwas, dem der Wille schon immer nachgibt. Diese Interpretation von Ricœur ist bereits oben vorgestellt worden.
3.2 Theodizee Unter einer Theodizee versteht Kant »die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt« (MpVT A 194). Die menschlichen natürlichen Anlagen sind teleologisch auf den Zweck der moralischen Vollkommenheit ausgerichtet. Da sie aus diesem Grund als Anlagen zum Guten bestimmt sind, muss das Böse unter Zweckwidriges gezählt werden. Durch das Tun des Bösen werden die Anlagen zum Guten ihrem höchsten Zweck entfremdet. In seiner Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee unterscheidet Kant drei Arten einer gelungenen »Rechtfertigung« Gottes vor dem Gerichtshof der Vernunft: erstens dass die Zweckwidrigkeiten in der Welt nur scheinbare Zweckwidrigkeiten seien, zweitens dass falls sich diese Zweckwidrigkeiten als Tatsachen erweisen, sie nur Folgen der natürlichen Beschaffenheit der Dinge seien und schließlich dass das Zweckwidrige »wenigstens nicht als Faktum des höchsten Urhebers aller Dinge« 40 Vgl.
P. Ricœur: Hermeneutik der Symbole, 180. P. Ricœur: Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, 155. 42 Vgl. ebd., 160: »Ich erkenne die essentielle Funktion des Begriffs – oder Pseudo-Begriffs – der Ursünde in einem zwiefachen Bemühen: das Erworbene der ersten Begriffsfassung zu bewahren, nämlich daß die Sünde nicht Natur ist, sondern Wille, und zugleich diesem Willen eine Quasi-Natur des Bösen einzugliedern.« 41 Vgl.
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
angesehen werde, »sondern bloß der Weltwesen, denen etwas zugerechnet werden kann, d. i. der Menschen« (MpVT A 195). Die Frage nach dem moralisch Bösen fällt unter die dritte Art der Theodizee und besteht in dem ›Nachweis‹, dass sich der Mensch das Böse selbst zugezogen hat. Indem das Phänomen des moralisch Bösen in Hinblick auf seine Ursache in Beziehung zu Gott gesetzt wird, entsteht der Bedarf einer Rechtfertigung: der Rechtfertigung der Vorstellung eines gütigen und heiligen Gottes, der nicht als Grund für das moralisch Böse verantwortlich gemacht werden kann. Inhaltlich wurde diese Problematik bereits indirekt im Rahmen der Erörterung der Frage nach der Möglichkeit eines freien Willens als eines von Gott geschaffenen Willens berührt. In der Religionsschrift, in der die Theodizeeproblematik im Hinblick auf das Böse ihre sachliche Berechtigung hätte, kommt sie ebenfalls lediglich beiläufig zur Sprache. Im Zusammenhang mit der Frage der Verwirklichung des »Ideals der Gott wohlgefälligen Menschheit« wird danach gefragt, wie ein schuldig gewordener Mensch mit seinem unvertilgbaren Hang zum Bösen vor der Heiligkeit des Richter-Gottes gerechtfertigt werden kann.43 Das Fehlen der Theodizeefrage in der Religionsschrift lässt sich wahrscheinlich aus der einfachen Tatsache erklären, dass die Abhandlung Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee der Erstveröffentlichung der Thesen über das radikale Böse in der menschlichen Natur (des späteren ersten ›Stücks‹ der Religionsschrift) in der Berlinischen Monatsschrift unmittelbar voranging.44 Kant unterscheidet grundsätzlich drei Arten von Zweckwidrigkeiten: das moralisch Böse als das schlechthin Zweckwidrige, das »weder als Zweck, noch als Mittel« von Gott gebilligt werden kann. Ferner das Übel als das bedingt Zweckwidrige, das »zwar nie als Zweck, aber doch als Mittel« mit der Vorstellung Gottes in Einklang zu bringen wäre. Und schließlich das Zweckwidrige des Missverhältnisses von Verbrechen und Strafen in der Welt (vgl. MpVT A 198). Alle drei Zweckwidrigkeiten widerstreiten dem moralischen Begriff Gottes als eines heiligen Gesetzgebers (Schöpfers), eines gütigen Regierers und eines gerechten Richters. Im Hinblick auf das moralisch Böse, das hier zu untersuchen ist, werden von Kant drei vermeintliche Rechtfertigungen erwogen. Die erste besteht in der These, die praktischen Gesetze der Vernunft seien als Gesetze einer bloß menschlichen Weisheit anzusehen, die nichts mit den Geboten eines göttlichen Gesetzgebers gemeinsam haben. Da Kant davon überzeugt ist, dass das unbedingte Sittengesetz, das sich die praktische Vernunft selber auferlegt, als »Gebot Gottes« angesehen werden kann und die Moral unausweichlich zur Religion führt, wird die oben genannte »Rechtfertigung« der Verabscheuung preisgegeben (vgl. MpVT A 201). Eine weitere Rechtfer43
Vgl. dazu das weiter unten stehende Kapitel Das Ideal der Gott wohlgefälligen Mensch-
heit. 44 Die Abhandlung Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee erschien in der Berlinische[n] Monatsschrift im September 1791, die Untersuchung Über das radikale Böse in der menschlichen Natur im April 1792. Vgl. dazu M. Kühn: Kant. Eine Biographie, 496.
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tigung könnte darin gesehen werden, dass die Möglichkeit des Bösen in der Welt zwar eingeräumt, jedoch als eine zwingende Folge der endlichen Verfassung der menschlichen Natur verstanden werde. Diese Vorstellung wird ebenso zurückgewiesen, weil das Böse nicht mehr moralisch verstanden werden könnte. Es wäre nicht mehr als Schuld zurechenbar. Eine dritte und letzte mögliche Rechtfertigung könnte die Ansicht vertreten, die Schuld für das Böse liege zwar bei den Menschen, Gott hätte jedoch diese böse Tat »zugelassen, keineswegs aber für sich gebilligt und gewollt oder veranstaltet« (MpVT A 202). Da diese Vorstellung für Kant mit einer Ohnmächtigkeit Gottes einhergehen würde, weist er sie wie die zweite zurück. Das Fazit fällt somit negativ aus: Die Theodizee vermag in spekulativ-theoretischer Hinsicht nach Kant nicht dasjenige leisten zu können, was sie sich vornimmt, nämlich eine Rechtfertigung Gottes angesichts der Zweckwidrigkeiten in der Welt durch die Vernunft und vor der Vernunft. Kant kommt zu dem Schluss, »daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei.« (MpVT A 210) So wie die Vernunft nicht theoretisch einsehen kann, wie sich Zweckwidriges in der Welt mit dem guten Urheber in Einklang bringen ließe, kann sie genausowenig einen einsichtigen Grund für das Böse beim Menschen ausfindig machen: »Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen […] entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könnte.« (RGV B 46 f.) In diesem Sinne misslingt in der Tat der philosophische Versuch, das Böse zu erklären, wenn Gott als Urheber des Bösen nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Eine Theodizee als Rechtfertigung Gottes angesichts des Zweckwidrigen in der Welt ist und bleibt durch die theoretische Vernunft und vor ihr unmöglich. Kant hält jedoch in einer überraschenden Wendung eine besondere Art von Theodizee doch für gerechtfertigt. Zuerst wird der Begriff der Theodizee neu bestimmt: »Alle Theodizee soll eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kund macht.« (MpVT A 211) In diesem beschriebenen Sinne ist nämlich nach Kant eine »authentische« Theodizee vorstellbar. Eine Theodizee, verstanden als Auslegung einer »machthabenden praktischen Vernunft«, die durch das unbedingte Gebieten des Sittengesetzes als »die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn gibt« (MpVT A 213). Es wird nicht mehr die Rechtfertigung vor der menschlichen Vernunft gesucht. Der Sinn der Welt erschließt sich allein in der Forderung der praktischen Vernunft, die als Ausdruck der göttlichen Vernunft angesehen wird.45 Die »Rechtfertigung« des Zweckwidrigen in der Welt wird dem unbedingten Moralgesetz entnommen, das durch die praktische Vernunft gegeben 45 MpVT A 212: »Gott [wird] durch unsere Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens«.
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
wird. Die einzige Antwort angesichts des schlechthin Zweckwidrigen – des Bösen – besteht im Hinweis auf den Endzweck der Schöpfung. Die Welt als Schöpfung kann vom Menschen nämlich »als eine göttliche Bekanntmachung der Absichten seines Willens betrachtet werden« (MpVT A 212). Diese Absicht besteht in der Forderung einer reinen Gesinnung und in der Errichtung einer moralischen Welt. Indem die Vernunft einsieht, dass allein der Mensch als moralisches Wesen der Endzweck der Schöpfung bildet und folglich auch einen Endzweck hat, wird durch diese Einsicht Gott in praktischer Rücksicht »gerechtfertigt«, da sich in der moralisch-praktischen Forderung sein Wille äußert. In der Forderung des unbedingt geltenden Moralgesetzes tut Gott – durch die Vernunft hindurch – dem Menschen den Zweck der ganzen Welt und der menschlichen Existenz kund. So kommt es in der Frage der Theodizee laut Kant nicht so sehr »aufs Vernünfteln« an, sondern »auf Aufrichtigkeit in Bemerkung des Unvermögens unserer Vernunft, und auf die Redlichkeit, seine Gedanken nicht in der Aussage zu verfälschen« (MpVT A 217). Kant hebt als Vorbild in diesem Zusammenhang die biblische Gestalt des Hiob46 hervor, vor allem seine Aufrichtigkeit des Herzens. Die Aufrichtigkeit der Gesinnung wird zum »Haupterfordernis in Glaubenssachen« erhoben und die Falschheit zum Hauptgegner dieser Forderung. Diese Falschheit, »sich selbst blauen Dunst vorzumachen« prangert Kant in der Religionsschrift als den »faulen Fleck unserer Gattung« (RGV B 38) an.47 Die Betonung der Aufrichtigkeit zielt erneut auf eine der Kernforderungen der Kantischen Konzeption der Moral: die Bemühung um eine absolute Reinheit der moralischen Gesinnung. Die Willensbestimmung soll alleine durch das Sittengesetz bestimmt werden. Damit ist die prinzipielle Undurchsichtigkeit der eigenen Motivation verbunden und somit auch der eigenen moralischen Qualität. Selbstverständlich muss der Mensch ein 46 Kant identifiziert sich selbst mit Hiob, indem er die Intention, die Aufrichtigkeit des Herzens zu suchen anstatt Gott zu schmeicheln, auch für sich beansprucht. In seiner bekannten brieflichen Antwort vom 28. April 1775 auf die Frage nach seinem Urteil über Lavaters »Abhandlung vom Glauben und dem Gebethe« schreibt Kant an den Autor: »Wissen sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit HIOB vor ein Verbrechen hält Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu thun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüth nicht in freyem Glauben zusammenstimmt« Vgl. Briefe von und an Kant, Bd. 9, 139. 47 Vgl. Refl 8103 (AA XIX, 646): »Die Unredlichkeit des Menschen als das radicale Böse.« In RGV B 295 f. gibt es eine emphatische Anmerkung zur Aufrichtigkeit, in der erneut darauf verwiesen wird, dass die Aufrichtigkeit als Tugend früher als alle anderen kultiviert werden muss, »weil der entgegengesetzte Hang, wenn man ihn hat einwurzeln lassen, am schwersten auszurotten ist«. Ohne die wahrhaftige Einschätzung und Erkenntnis seiner selbst kann der Mensch keinen echten dauerhaften tugendhaften Lebenswandel führen. Vgl. auch R. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 138: »Die Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber ist für Kant die Wurzel des moralischen Lebens überhaupt; ohne sie ist Moralität undenkbar: ›Sie ist nicht Tugend sondern subjective Bedingung aller Tugenden‹.«
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Urteil über seine Handlungen fällen können, das auch eine Einschätzung der moralischen Qualität der eigenen Handlungen einschließt. Das Entscheidende jedoch ist das Wissen des Tugendhaften, dass er nie genug tugendhaft zu sein vermag, dass die Heiligkeit des eigenen Willens in dieser Welt nie vollständig zu erreichen sein wird. Dieses Wissen führt im Unterschied zum Stoizismus zur Demut und verhindert eine unangemessene Meinung über die Qualität der eigenen Tugendhaftigkeit, sodass wir nie sicher sein können, ob wir aus einer guten Motivation heraus gehandelt haben. Denn »man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt« (RGV B 87).
3.3 Moral und Religion Für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Moral und Religion48 gilt grundsätzlich die Festlegung aus dem ersten Satz der Vorrede zur ersten Auflage der Religion innerhalb der bloßen Vernunft: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« (RGV BA III) Die Moral bedarf alleine der reinen praktischen Vernunft, die sich in ihrer Autonomie das praktische Gesetz selbst zu geben vermag. Diese klare und eindeutige Position des kritischen Kant ist das Ergebnis eines längeren Suchprozesses und auch im Rahmen des kritischen Werks sind Stellen zu finden, die die Klarheit dieser Lösung problematisieren könnten. Die Moral hat keine Religion nötig und zwar aus einem einfachen Grund. Eine Handlung ist nur in dem Fall als gut zu betrachten, wenn sie aus einer reinen, guten Gesinnung geschieht und alleine wegen ihrer Gutheit getan wird. Sie darf nicht aus Furcht oder Schrecken – und das ist der springende Punkt – vor der Gewalt eines höchsten Wesens geschehen. Würden wir eine Handlung nur aus dem Grund vollbringen, weil Gott sie befohlen hat, würden wir alleine aus Angst vor Sanktionen bei Nichtbefolgung das Befohlene tun. Diese Festlegung hat
48 Wenn Kant über die Religion spricht, dann ist meistens die christliche Religion gemeint. Das Christentum stellt nach Kants Überzeugung diejenige Religion dar, die am besten das wahre Wesen aller Religionen verkörpert: ihren moralischen Kern. Die verschiedenen Ausprägungen der Religionen müssen sich danach messen lassen, wie rein sie das Fundament aller Religiosität vorstellen. Dieses Fundament bildet nach Kant immer die Moral. Vgl. z. B. RGV B 62: »Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) […].« Eine moralische Religion gründet sich nicht auf »Satzungen und Observanzen«, sondern stets nur auf die Gesinnung des Herzens, alle moralischen Pflichten zu tun, die zugleich als Gebote Gottes angesehen werden können. In diesem Sinne gibt es »nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben« (RGV B 154).
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
Kant bereits in seinen frühen Ethik-Vorlesungen getroffen und auch im kritischen Werk beibehalten. Gott darf aber nach Kant nicht als ein Willkürherrscher vorgestellt werden. Die göttliche subjektive Moralität stimmt nämlich »überein mit der objektiven Moralität, und wenn wir der objektiven Moralität gemäß handeln, so handeln wir auch dem göttlichen Willen gemäß.« Eine Handlung darf nicht deshalb geschehen, »weil sie Gott will, sondern weil sie an sich selbst rechtschaffen oder gut ist; und weil sie so ist, so will sie Gott und verlangt sie von uns«.49 So ist der Mensch berechtigt, sich die moralischen Gebote, die sich die reine praktische Vernunft aufgrund ihres eigenes Vermögens selber gibt, als Gebote Gottes anzusehen.50 Wir müssen nach Kant eine Übereinstimmung zwischen dem Charakter unserer Moralität und der Moralität Gottes, d. h. seiner Heiligkeit, annehmen. Denn Gott kann nur etwas gebieten, »weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt«.51 Die Einsicht, dass wir keines religiösen Glaubens an Gott bedürfen, um moralisch handeln zu können, gewinnt Kant sehr früh und sie zieht sich wie ein roter Faden bis zur Religionsschrift durch das gesamte Werk hindurch. In der Frage der Triebfeder stellt sich allerdings die Lage komplizierter dar, als es der erste Satz der Religionsschrift vermuten lassen würde. Wie schon deutlich wurde, kann der Wille nicht ohne eine Zweckbeziehung auskommen, wenn er seine Wirksamkeit in der Welt entfalten soll. Das Sittengesetz gebietet, das in der Welt höchst mögliche Gut zu verwirklichen. Diese Idee des höchsten Guts erweitert sich um die Annahme eines allmächtigen und heiligen Wesens, das die notwendige Verbindung zwischen Tugend und ihr angemessenen Glückseligkeit garantiert. Diese Idee stellt zwar keine Grundlage der Moral dar, sie geht jedoch für Kant aus der Bestimmung der Moral hervor. Eine solche Idee von einem höchsten Wesen ist aus dem Grund wichtig, weil sie der »Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur« objektive praktische Realität verschafft, »weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken, abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde« (RGV BA VII f.). Das unbedingt geltende Moralgesetz bestimmt alleine den Willen und gibt den Menschen zugleich einen Endzweck vor – eine moralische Welt zu verwirklichen. Für die empirische Umsetzung des moralischen Verhaltens braucht der Mensch jedoch eine zusätzliche Hilfe. Das moralische Verhalten muss gelernt und ein Leben lang eingeübt werden. Aufgrund seiner anthropologischen Verfassung als endliches und bedürftiges Wesen bezieht sich der Mensch notwen49 Vgl.
Ethik-Menzer, 28 f. in wörtlicher Übereinstimmung sagt auch Leibniz: »Indem man nämlich seine Pflicht tut, indem man der vernünftigen Einsicht [›raison‹] gehorcht, erfüllt man die Befehle der höchsten Vernunft [suprême-raison].« Vgl. G. W. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 1, Préface/Vorwort, 8/9. 51 Vgl. Ethik-Menzer, 48. 50 Fast
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digweise auf Glückseligkeit. Diesen Bezug auf Glückseligkeit vermag der Mensch offenbar nicht abzustreifen. Als moralischer Realist ist sich Kant darüber im Klaren, dass auch wenn der Mensch bei einer reinen moralisch guten Handlung keine Rückssicht auf das eigene Glück nimmt, völlig verzichten kann er auf eigene Glückseligkeit nicht.52 Vor der Gefahr der Hoffnungslosigkeit im Sinne einer absoluten Unerreichbarkeit der Glückseligkeit beim moralischen Verhalten, hilft uns die Idee Gottes, die wir aus praktischen Gründen anzunehmen genötigt sind. Das Postulat des Daseins Gottes garantiert die Glückseligkeit, die im Begriff des höchsten Guts als notwendig mit der Tugend verbunden gedacht wird. Und diese praktisch notwendige Annahme eines Gottes schlägt wiederum auf unser wirkliches konkretes Verhalten durch, indem sie das »Hindernis der moralischen Entschließung« beseitigt. Ein erhellendes Licht auf das komplizierte Komplex der Zuordnung der Moral und Religion im Zusammenhang der Vorstellung der Pflichten als göttlicher Gebote wirft eine Stelle aus der Metaphysik der Sitten. Im Rahmen der Tugendlehre wird die Frage behandelt, ob die Religionslehre ein Teil der Ethik sei. Verneint wird die Frage, wenn die Religion als »Inbegriff der Pflichten gegen Gott« verstanden wird. Denn Pflichten gegen Gott, die in einem »ihm zu leistenden Dienst« bestehen, können nicht auf eine allgemein-gesetzgebende Vernunft bezogen werden, sondern werden einer geschichtlichen Offenbarung entnommen (vgl. MSTL A 181 f.). Aus Sicht der philosophischen Ethik kann es keine Pflichten gegenüber Gott geben. Der wahre »Gottesdienst« besteht nach Kant in der Erfüllung der Liebespflichten gegenüber den anderen Menschen. Somit gelangen wir zu einem Punkt, von dem aus die Religion doch als ein Teil der Ethik angesehen werden kann. In einem solchen Fall wird Religion als »Inbegriff aller Pflichten als göttlicher Gebote« verstanden. Kant äußert die Überzeugung, dass wir uns eine moralische Verpflichtung nicht anders »anschaulich machen [Hervorh. von Verf.]« können, »ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken« (MSTL A 181). Es handelt sich somit nicht um Pflichten gegen Gott, um »Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen anderen«, sondern um Pflichten »in Ansehung Gottes«, die subjektiv »zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft« nötig sind. Mit dieser Bestimmung wird jedoch die grundsätzliche Festlegung nicht außer Kraft gesetzt, dass die Moral »weder der Idee eines andern Wesens« über den Menschen bedarf, »um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten« (RGV BA III). Das Sittengesetz bleibt alleiniger Bestimmungsgrund und Triebfeder des Willens. Der realistische Blick auf die menschliche Wirklichkeit und die konkrete Verfassung der menschlichen Natur nötigt Kant aber offensichtlich einen kleinen Tribut ab. Mit dem unscheinbaren Zusatz »zur Stärkung« der moralischen Triebfeder erweist sich Kant als ein ethischer 52 Diese Einsicht entspricht der dritten der Grundfragen, an denen die Vernunft das höchste Interesse nimmt: »Was darf ich hoffen?«, wobei die Hoffnung auf das Erreichen der Glückseligkeit gerichtet ist. Vgl. KrV B 833.
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Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
Realist, was die konkrete Befolgung des unbedingt Gebotenen angeht. Ebenso wie die oben dargelegte praktische Annahme Gottes als Hilfe bei der Beseitigung der Hindernisse der moralischen Entschließung, stellt hier die Idee Gottes als Stärkung der moralischen Triebfeder einen Tribut an die endliche und bedürftige Verfassung des Menschen dar. An der Bestimmung des obersten Prinzips der Moral wird nicht gerüttelt, da sie streng nach den a priorischen Regeln der Vernunft vonstatten gehen muss. In der Frage der praktisch-pragmatischen Durchführung des vom Moralgesetz Gebotenen ist ein unerbittlicher Rigorismus indessen fehl am Platz, da die menschliche Realität nicht genug Berücksichtigung finden würde. In der Frage der Dijudikation legt sich Kant bereits vor dem Erscheinen der ersten Kritik eindeutig fest: der Mensch muss unabhängig von der Gottesvorstellung wissen können, wie er sich moralisch verhalten soll. In der Frage der Exekution durchläuft Kants Denken eine Entwicklung mit einem nicht ganz eindeutigen Abschluss. In seinen frühen Ethik-Vorlesungen etwa nimmt er als selbstverständlich an, dass wir eine zusätzliche subjektive Motivation für die Befolgung des erkannten und anerkannten Sittengesetzes seitens der Theologie benötigen, da das moralische Gesetz keine ausreichende und dauerhafte motivische Kraft für den Willen zu entfalten vermag. Die Nachschrift der Vorlesung lautet: »zwar kann die Theologie nicht ohne Moral und diese wieder nicht ohne jene bestehen; allein es ist hier nicht die Rede, daß die Theologie eine Triebfeder der Moral sei, das ist sie freilich.«53 Für das Prinzip der Dijudikation der Moral brauchen wir keine Theologie und keinen Gott, für die Exekution, die subjektive Motivation – die Triebfeder des Willens – gleichwohl: »In der Exekution muß zwar freilich ein drittes Wesen sein, das da nötigt, dasjenige zu tun, was moralisch gut ist […] alle moralischen Gesetze können richtig sein, ohne ein drittes Wesen, aber in der Ausübung wären sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nötigen möchte; man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effekt wären.«54 Auch in der Kritik der reinen Vernunft hält es Kant noch für unmöglich, die alleinige Triebfeder des Willens im Moralgesetz zu sehen. Der Mensch bedarf bei der Umsetzung der sittlichen Forderung einer zusätzlichen Hilfe seitens der Religion (KrV B 841): »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.«55 Dagegen unterstreicht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft 53 Ethik-Menzer,
48 ebd. 55 Vgl. auch KrV B 839: »Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten«. In EthikMenzer wird zwar bereits die These vertreten, Moral führe zur Religion, die Religion jedoch 54 Vgl.
Moral und Religion 153
A 232, dass das christliche Prinzip der Moral ebenso aus der Autonomie heraus gedacht wird, weil es die »eigentliche Triebfeder« der Befolgung des Moralgesetzes nicht »in den gewünschten Folgen«, sondern »in der Vorstellung der Pflicht allein« setzt. Kant sieht die christliche – als Inbegriff einer religiösen – Bestimmung der Moral in Übereinstimmung mit seiner kritischen Auffassung. Die christliche Moral basiert nicht auf Heteronomie, sondern auf Autonomie der reinen praktischen Vernunft, »weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Gelangung zum höchsten Gute« lege (KpV A 232). Vielleicht lässt sich die reife Position des kritischen Kant folgendermaßen formulieren: sowohl für die Bestimmung des Moralprinzips als auch für die Befolgung des Moralgesetzes braucht der Mensch keine Religion. Er braucht sie jedoch im Hinblick auf den aus dem Sittengesetz resultierenden Endzweck (Refl 8097; AA XIX, 641): »Ob die Moral ohne Theologie möglich sey? Ja, aber nur in Ansehung der Pflichten und Rechte der Menschen, nicht in Ansehung des Endzweks.« Der Begriff des Endzwecks und das Ideal des höchsten Guts bilden im Kantischen System die Funktion des Bindeglieds oder des Übergangs von der Moral zur Religion. In ihnen wird deutlich, dass obwohl die Moral keine Religion voraussetzt, sie zu ihr doch zwingend führt. Im Kapitel über den Begriff des höchsten Guts wurde bereits angedeutet, in welcher Weise die vom Moralgesetz geforderte Beförderung des höchsten Guts in der Welt zum Postulat des Daseins Gottes führt. Um die moralisch unbedingte Forderung der Bewirkung des höchsten Guts, das uns das faktisch auftretende Moralgesetz auferlegt, konsistent denken zu können, wird neben der Annahme der Unsterblichkeit der Seele die der Existenz Gottes vorausgesetzt. Gott alleine ist imstande, die als notwendig gedachte Verbindung von Tugend und der ihr entsprechenden Glückseligkeit herbeizuführen, weil er als die oberste Ursache der gesamten Natur vorgestellt wird. Folglich verbinden sich in ihm die sinnliche wie die übersinnliche Kausalität. Aus der Bestimmung des höchsten Guts ergibt sich die zwingende Konsequenz, dass es »moralisch notwendig« sei, »das Dasein Gottes anzunehmen«: »Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.« (KpV A 226) Es handelt sich um eine moralische Notwendigkeit, die in einen moralisch-praktischen Vernunftglauben mündet. Dies bedeutet keineswegs die Aufhebung der kritischen Beschränkung der objektiven Erkenntnis auf den sinnlich-erfahrbaren Wirklichkeitsbereich. Die objektive Erkenntnis des Übersinnlichen, also auch Gottes, bleibt
in dem Sinne aufgefasst wird, dass sie »der Moralität Nachdruck, Schönheit und Realität« verleihe: »die Moralität an sich ist etwas Ideales. […] Ich soll der Idee der Moralität folgen, ohne irgend eine Hoffnung glücklich zu sein, und dieses ist nicht möglich; also wäre die Moral ein Ideal, wenn kein Wesen ist, was die Idee exekutiert, daher muß ein Wesen sein, welches den moralischen Gesetzen Nachdruck und Realität gibt. […] Die Religion ist das, was der Sittlichkeit Gewicht gibt, es soll die Triebfeder der Moral sein.« Ethik-Menzer, 101 f.
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kategorisch ausgeschlossen.56 Das »notwendige« Einmünden der Moral in die Religion wird lediglich moralisch-praktisch grundgelegt. Wollen wir nach Kant die Moral in ihrer Ganzheit konsequent systematisch zu Ende denken, sehen wir uns genötigt, das Dasein Gottes in praktischer Hinsicht auch theoretisch anzunehmen. Die Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft wird im moralischen Gottesbeweis in der Kritik der Urteilskraft weitergeführt, der eine weitere Art des Übergang von Moral zur Religion aufzeigt. Kant knüpft zwar an die Bestimmung des höchsten Guts an, entfaltet seinen Gedankengang indessen grundsätzlich von der Teleologie her, insbesondere vom Begriff des Menschen als eines Endzwecks. Als Endzweck, also ein Zweck, »der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf« (KU B 396), kann nur der Mensch als moralisches Wesen gelten: das menschliche »Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich« (KU B 398). Was den Menschen dazu befähigt, als der alleinige Endzweck in der Welt angesehen zu werden, ist die Tatsache, dass in ihm die »unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen« ist, dass er das »Subjekt der Moralität« ist (vgl. KU B 399). Nicht als ein Wesen, das sich in seiner sinnlichen Natur entsprechende Zwecke setzen kann, ist der Mensch Endzweck. Alleine seine übersinnliche Natur, seine Moralitätsfähigkeit, macht ihm zum alleinigen Endzweck des Ganzen. Auf den Gedanken des Endzwecks wird Kant durch sein transzendentales Fragen geführt, das er auf das Phänomen der Zweckmäßigkeit richtet. Der ganze Kosmos, die ganze Natur, die lebendigen Organismen inklusive des Menschen scheinen außerordentlich zweckmäßig geordnet zu sein. Die »rastlose« und architektonisch-systematisch verfahrende Vernunft sucht die mannigfaltigen Zwecke unter eine Einheit zu bringen. Folglich sieht die Vernunft unter dem Begriff der Zweckmäßigkeit die Natur in der Weise an, als ob ein (höherer) Verstand die Einheit der mannigfaltigen empirischen Gesetze in die Natur hineingelegt hätte, um dem menschlichen Erkenntnisvermögen »ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen« zu ermöglichen (vgl. KU B XXVII).57 Der Mensch hat die Möglichkeit, entweder von den Zwecken der Natur oder von den moralischen Zwecken her auf eine oberste Ursache zu schließen. Den ersten Versuch der Beantwortung der Suche nach der ersten Ursache und nach der Bestimmung ihrer Eigenschaften, ordnet Kant der Physikotheologie, den zweiten der Ethikotheologie (Moraltheologie; vgl. KU B 400) zu. Die Physikotheologie vermag jedoch nicht das Ziel zu erreichen, das sie zu errei-
56 Vgl. WDO A 320 f.: »Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmungen völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung, zum Grunde gelegt werden muß.« 57 Das Zusammenstimmen der Natur und des Erkenntnisvermögens wird von der Vernunft a priori vorausgesetzt. Obwohl diese Übereinstimmung als eine zufällige angesehen wird, ist sie dennoch unentbehrlich und somit zweckmäßig. Vgl. dazu KU B XXXVIII.
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chen verspricht. Sie kann zwar zum Begriff einer »verständigen Weltursache«, sogar eines »Kunstverstandes« gelangen, aber nicht zum Begriff einer höchsten Weisheit, nicht zu einem Zweckbegriff, der erklären würde, wozu »die Natur selbst existiert«. Allein der Mensch als moralisches Wesen kann als der Endzweck der ganzen Natur, oder wie Kant sagt, der ganzen Schöpfung angesehen werden. Der höchste Zweck des Menschen und der Welt liegt weder in der Erkenntnis noch im Glücksgenuss, sondern alleine in einem Wert, das sich der Mensch selbst geben kann, indem er als Freiheitswesen handelt. Nur »ein guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein einen absoluten Wert und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann« (KU B 412).58 Wenn der Endzweck nur ein moralischer sein kann, dann sieht sich die Vernunft zu der Annahme berechtigt, dass die Natur zu der Kausalität der Freiheit zusammenstimme und dass moralisch-freiheitliche Kausalität in der Sinnenwelt wirksam werden könne. Eine solche aus praktischen Gründen zwingende Annahme der Übereinstimmung der beiden Kausalitäten mündet im Gedanken einer Weltursache, oder besser im Begriff eines »Urwesens«, das nicht nur als »gesetzgebend für die Natur« angesehen wird, sondern ebenso zugleich als »gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reich der Zwecke« gedacht werden muss (vgl. KU B 413 f.).59 Nachdem Kant den Begriff des Endzwecks akzentuiert hat, nimmt er für seinen moralischen Beweis des Daseins Gottes (KU B 418–428) einen Rekurs auf den Begriff des höchsten Guts. In diesem Begriff wird die Beziehung der »zwei Erfordernisse« – der Tugendhaftigkeit und der ihr entsprechenden Glückseligkeit – in eine systematische Einheit gebracht. Diese Einheit kann jedoch nur in der Annahme Gottes als einer »moralischen Weltursache« erreicht werden. Kant ist überzeugt, dass auch »der gemeinste Verstand« einsieht, dass alleine der zur Moralität fähige Mensch den Endzweck der Welt abgeben kann. So haben wir es hier mit einem doppelten Schluss zu tun: Im Ausgang vom unbedingt geltenden Moralgesetz schließen wir auf einen (moralischen) Endzweck der Schöpfung (erster Schluss) und von diesem Endzweck aus schließen wir auf ein »moralisches Wesen als Urgrund der Schöpfung« (zweiter Schluss) (vgl. KU B 433 f.). Dieses »moralische Argument« stellt selbstredend keine Erweiterung der objektiven Erkenntnis in den Bereich des Übersinnlichen dar. Es handelt sich um eine moralisch-praktische Annahme, keine theoretisch-objektiv gültige. Wer moralisch konsequent denken will, der sieht sich gezwungen, die Annahme des Daseins Gottes »unter die Maximen
58 Bereits im Kapitel Die moralische Welt ist deutlich gemacht worden, dass der Mensch einen Endzweck darstellt, weil er imstande ist, sich einen moralischen Endzweck vom Sittengesetz vorsetzen zu lassen: die Bewirkung des höchsten Gutes in der Welt. Der Mensch ist als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung und er hat einen Endzweck. 59 Damit die »Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen« samt dem höchsten in der Welt möglichen Gut systematisch gedacht werden kann, muss das göttliche Urwesen als mit den Eigenschaften der Allwissenheit, Allmächtigkeit, Allgütigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit ausgestattet vorgestellt werden. Vgl. dazu KU B 414.
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seiner praktischen Vernunft« aufzunehmen (vgl. KU B 425 Anm.).60 Auch in der Religionsschrift wird die Verknüpfung zwischen Moral und Religion in der Weise aufgegriffen, die schon die Kritiken vorgeprägt haben. Im Rahmen der Überlegungen über einen echten Dienst Gottes in einer Kirche unterscheidet Kant zwischen der Gottseligkeitslehre und der Tugendlehre. Mit Aufnahme seiner grundsätzlichen Bestimmung der Zuordnung von Moral und Religion wird erneut eingeschärft, die Tugendlehre »besteht durch sich selbst« ohne eine Gottesvorstellung. Demgegenüber enthält die Gottseligkeitslehre den Begriff von einem Gegenstande, den wir uns lediglich »als ergänzende Ursache unseres Unvermögens in Ansehung des moralischen Endzwecks vorstellen«: »Die Gottseligkeitslehre kann also nicht für sich den Endzweck der sittlichen Bestrebung ausmachen, sondern nur zum Mittel dienen, das, was an sich einen besseren Menschen ausmacht, die Tugendgesinnung, zu stärken; dadurch, daß sie ihr […] die Erwartung des Endzwecks, dazu jene unvermögend ist, verheißt und sichert.« (RGV B 283) Führt man sich Kants kritische Philosophie in toto im Hinblick auf Moral und Religion vor Augen, leuchtet Höffes These unmittelbar ein, der alle drei Kritiken in einer moralisch-praktischen Theologie gipfeln und sich in ihr vollenden.61 Bereits in der transzendentalen Methodenlehre, vor allem im Kanon-Stück der Kritik der reinen Vernunft ist in nuce sowohl der Begriff des höchsten Guts als auch der des Endzwecks enthalten. In der Kritik der praktischen Vernunft wird die Überzeugung geäußert, gezeigt zu haben, auf welche Weise »das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion« führt; zur Religion als der »Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d. i. willkürliche für sich selbst zufällige Verordnungen, eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen« (KpV A 233). Ebenso macht die Kritik der Urteilskraft in einem ähnlichen Wortlaut deutlich, dass die moralische Teleologie »unmittelbar zur Religion« führt, zur »Erkenntnis unserer Pflichten, als göttlicher Gebote; weil die Erkenntnis unserer Pflicht, und des darin uns durch Vernunft auferlegten Endzwecks, den Begriff von Gott zuerst bestimmt hervorbringen konnte« (KU B 477).62 60 Durch die »moralische Anlage in uns« wird die Vernunft auf den moralisch bestimmten Begriff eines Gottes geführt. Neben der Vernunft sind es aber auch Gemütsstimmungen, die mit der moralischen Gesinnung und somit zugleich mit dem Moralgesetz zusammenhängen, die ebenfalls auf die Annahme einer »moralischen Weltursache« hinweisen könnten. Kant nennt in diesem Zusammenhang neben den öfters erwähnten Gefühlen der »moralischen Unwürdigkeit« in der Form von Gewissensbissen etwa auch das »Bedürfnis, irgend jemand […] dankbar zu sein«, wenn man sich in einer glücklichen Übereinstimmung mit seiner Umwelt und seinem Dasein befindet. Vgl. dazu KU B 416 f. 61 Vgl. O. Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft, 23 oder 258; Einführung in Kants Religionsschrift, 6 f. 62 Die Religionsschrift schließt an diese Charakterisierung fast nahtlos an, wenn es in ihr heißt: »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines
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3.4 Religion63 Im Zusammenhang der Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Religion unterscheidet Kant zwischen einer Offenbarungs- und einer Vernunftreligion, die im Bild von zwei »konzentrischen Kreisen« aufeinander bezogen werden. Die Religion »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« ist der engere Kreis der Religion, der von einem weiteren – der Offenbarung – umschlungen ist, wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift sagt: »Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere, als eine engere, in sich beschließt (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als konzentrische Kreise) betrachten können« (RGV B XXI f.)64 Die Philosophie erhebt keinen Anspruch, der Theologie das Wort zu reden, sondern versucht lediglich zu eruieren, was sich in den Religionen an »reiner Vernunftlehre« findet. Ob sie bei dieser ihrer Untersuchung allen genuinen religiösen Phänomenen gerecht wird, steht hier nicht zur Diskussion. Die Philosomachthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« (RGV BA IX f.). Vgl. auch RGV BA XIII Anm. oder RGV B 280: »Nun gibt es aber ein praktisches Erkenntnis, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht, und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz […] welches in jedermanns Bewußtsein unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, diese Erkenntnis führt entweder schon für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem reinen Religionsglauben.« In einer abgewandelten Form spricht Kant darüber, dass die Freiheit »allein dasjenige« ist, »was, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft, die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks angewandt wird, uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt« (RGV B 209). 63 Auch wenn Kant verschiedene Religionen in seinen Texten erwähnt und über »Religion« allgemein spricht, muss darauf geachtet werden, in welchem Sinne dieser Begriff verwendet wird. Kants Begriff der Religion wird den empirischen Phänomenen der verschiedenen Religionen – etwa in der Vielfältigkeit der unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen – nicht gerecht, will es aber auch nicht. Kant betreibt keine empirische Religionswissenschaft, sondern eine philosophische Reflexion über Religion, besser gesagt über eine Idealgestalt einer Religion, wobei der »Sitz im Leben« der Reflexion in seiner praktischen Philosophie liegt. 64 Im späteren Streit der Fakultäten (1798) deutet Kant den Titel seiner Religionsschrift nochmals, um Missverständnissen vorzubeugen (SF A VIII): »Diese Betitelung [Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft] war absichtlich so gestellt; damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten. Denn das wäre zu viel Anmaßung gewesen; weil es doch sein konnte, daß die Lehren derselben von übernatürlich inspirierten Männern herrührten: sondern daß ich nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte.«
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phie wählt einen ihr gemäßen Zugang zur Religion, indem sie sich der Vernunft bedient und sucht in ihr nach Vorstellungen, die sich vernünftig entfalten lassen. Für Kant ist es die Moral, die den vernünftig-praktischen Kern der Religion darstellt. In diesem beschriebenen Sinne lässt sich die Behauptung aufstellen, dass »zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei« (RGV B XXIII).65 Die Offenbarung geht zwar über die Vernunftreligion hinaus, sie stimmen demungeachtet im Wesentlichen – in der Vorstellung der Moralität – überein. Die Offenbarungsreligion muss in ihrer Beschaffenheit so strukturiert sein, dass sie der Einsicht der Vernunft grundsätzlich zugänglich ist. Sie muss sich an ihrer Tauglichkeit zum praktisch-moralischen Gebrauch messen lassen. Was über diese Hilfe für die Besserung der Herzensgesinnung hinausgeht, kann zwar unserer empirischen Natur hilfreich sein, ist aber letztendlich für den Menschen nach Kant nicht entscheidend. Kant unterscheidet zwischen einer natürlichen und einer geoffenbarten Religion. Im Ausgang von seinem Verständnis der Religion, dass das Fundament jedweder Religion die moralische Forderung einer guten Gesinnung und eines tugendhaften Lebenswandels sei, versteht Kant unter der natürlichen Religion diejenige Religion, in der der Mensch zuerst seine Pflicht erkennt und erst nachträglich sie als ein göttliches Gebot wahrnimmt. In der geoffenbarten Religion wird die Reihenfolge umgedreht: das Wissen um das Gebot Gottes steht am Anfang und erst danach wird es als eigene Pflicht anerkannt.66 Kants These, die Moral führe unausweichlich zur Religion, beinhaltet bestimmte Konsequenzen für das Verständnis der Religion. Religion stellt für Kant nicht primär ein theoretisches Gebäude von Aussagen über Übersinnliches dar, sondern allem voran ein praktisches Tun, eine moralische Praxis. Auch die sogenannten Offenbarungsreligionen besitzen keinen entscheidenden Vorteil im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen. Da die höchste Bestimmung des Menschen in seiner Sittlichkeit liegt, muss auch die Religion unter dieser Rücksicht betrachtet werden: »Da alle Religion darin besteht: daß wir Gott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen, so kommt es bei der Bestimmung der Religion in Absicht auf unser ihr gemäßes Verhalten darauf an, zu wissen: wie Gott verehrt (und gehorcht) sein wolle.« (RGV B 147) Und wie Gott verehrt werden 65 Es ist auch der Fall denkbar, dass eine Religion sowohl natürlich, d. h. durch die Vernunft erkannt werden kann, als auch geoffenbart ist. Eine solche Religion muss so beschaffen sein, »daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können, und sollen, ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden, mithin eine Offenbarung derselben, zu einer gewissen Zeit, und an einem gewissen Ort, weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte« (RGV B 233). 66 Vgl. RGV B 229 ff. In einer weiteren Ausdifferenzierung unterscheidet Kant unter dem Aspekt der Art und Weise der »äußeren Mitteilung« zwischen einer natürlichen, »von der (wenn sie einmal da ist) jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann« und einer gelehrten Religion, »von der man andere nur vermittelst der Gelehrsamkeit […] überzeugen kann« (RGV B 232 f.).
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will, ist erneut aus der sittlichen Bestimmung des Menschen offensichtlich: »Der wahre (moralische) Dienst, den Gläubige, als zu seinem Reich gehörige Untertanen, nicht minder aber auch (unter Freiheitsgesetzen) als Bürger desselben zu leisten haben, ist zwar, so wie dieses selbst, unsichtbar, d. i. ein Dienst der Herzen« (RGV B 298 f.).67 Im Verhältnis Gottes zu den Menschen ist von entscheidender Bedeutung, dass die höchste Weisheit mit den Menschen »nach dem Prinzip ihrer Freiheit« verfährt, sodass alles Gute und Böse dem Menschen selber zugeschrieben werden muss.68 Auch in der Beziehung zu Gott bleibt die menschliche Autonomie des Willens vollständig erhalten. Ebenso das Heilige (die heiligen Geheimnisse), das sich in allen Religionen findet, kann zwar für den theoretischen Gebrauch ein Geheimnis bleiben, es muss jedoch »ein moralischer, mithin ein Gegenstand der Vernunft sein, und innerlich für den praktischen Gebrauch hinreichend erkannt werden können« (RGV B 208). In Beziehung zu Gott hat den Menschen nicht so sehr zu interessieren, was Gott seinem Wesen nach an sich ist, sondern lediglich was er für uns als moralische Wesen bedeutet. Alleine durch Vernunft, Herz und Gewissen erkennt der Mensch alles, was er für seine höchste, nämlich die sittliche Bestimmung bedarf. Falls jemand auch über diesen praktischen Gebrauch hinaus über die höchsten Gegenstände der Vernunft theoretische Erkenntnisse fordert, unterliegt er einer unberechtigten Anmaßung der theoretischen Vernunft, die dem Menschen nicht zusteht. Das Bedürfnis der praktischen Vernunft, die einsieht, dass uns zwar die Realisierung der Idee des höchsten Guts in der Welt geboten ist, wir jedoch nicht im Stande sind, sie vollständig realisieren zu können, lässt einen Gottesbegriff hervortreten, in dem Gott als ein heiliger Gesetzgeber (in seiner Funktion als Schöpfer), als ein gütiger Regierer und ein gerechter Richter vorgestellt wird.69 Die Vorstellung Gottes als eines moralischen Weltherrschers hat nichts mit theoretischen Spekulationen über das Wesen Gottes zu tun. Die praktische Vernunft interessiert sich lediglich für die Frage, welche Bedeutung Gott für uns als moralische Wesen besitzt. Dieses praktische Interesse führt jedoch laut Kant zu einem Vernunftglauben, der wiederum bestimmte theoretische Positionen einschließt, freilich alleine in praktischer Hinsicht. Der Vernunftglaube drückt somit die moralische Beziehung der Menschen untereinander und im Hinblick auf Gott aus. Kant ist überzeugt, dass die wahre und einzig richtige Beziehung zu Gott sich alleine durch das richtige ethische Verhalten gegenüber den Menschen ereignet: »wenn sie [die Menschen] ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihren Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher 67 Vgl. ebenso RGV B 229: »Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.« 68 Vgl. RGV B 107. 69 Vgl. RGV B 211.
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zu dienen« (RGV B 146). Damit stimmt er mit seinem Kritizismus überein, indem er die Bestimmung vom ethischen Leben als dem allein richtigen Dienst Gottes aus der Kritik der praktischen Vernunft aufgreift (KpV A 236): »Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt.« Mit dieser Ansicht befindet er sich erneut in der Nähe der Philosophie von Emmanuel Levinas, der ebenfalls unermüdlich unterstreicht, dass eine Beziehung zu Gott nur über die ethische Beziehung zum Anderen möglich ist: »Eine ›Erkenntnis‹ Gottes, die getrennt wäre von der Beziehung mit den Menschen, kann es nicht geben. Der Andere ist der eigentliche Ort der metaphysischen Wahrheit und für meine Beziehung zu Gott unerläßlich.«70 Für Levinas stellt die Annäherung der Güte gegenüber dem Anderen die einzig richtige Beziehung zum Unendlichen dar. Der Weg zu Gott führt alleine über den anderen Menschen. So ist die Beziehung zu Gott nicht in einer visio oder in einem inneren Erlebnis zu suchen, sie ist nach Levinas auch nicht in dem Satz »ich glaube an Gott« enthalten. Mit seiner Behauptung, die Beziehung zu Gott ereigne sich einzig und allein in der reinen Güte des Ich gegenüber dem Anderen, folgt Levinas den Spuren Kants: »Gott bezeugen heißt gerade nicht dieses außerordentliche Wort aussprechen, als könnte die Herrlichkeit einziehen in ein Thema und sich als These darstellen oder Geschehen des Seins werden. Das ›hier, sieh mich‹ […] bedeutet mir im Namen Gottes den Dienst an den Menschen, die mich angehen […].«71
a) Religion des guten Lebenswandels – moralische Vernunftreligion In der empirischen Welt sind viele unterschiedliche Formen der Religionen oder Kirchengemeinschaften anzutreffen. Durch diese Formenvielfalt hindurch sieht Kant zwei grundsätzliche Modelle einer Religion vorliegen, die allen Ausformungen zugrunde liegen. Neben der Differenzierung einer natürlichen und geoffenbarten Religion wird nämlich zwischen einer moralischen Vernunftreligion, einem reinen Religionsglauben und einer statutarischen Kultreligion unterschieden.72 Jeder Religion eignet eine historische Ausprägung mit geschichtlich gebildeten Formen. Der geschichtliche und anthropologisch notwendige Charakter der Religion – dasjenige,
70 TU, 108. Vgl. auch E. Levinas: Schwierige Freiheit, 29: »Die moralische Beziehung vereint also zugleich das Selbstbewußtsein und das Bewußtsein von Gott. Die Ethik ist nicht die Folge von Gottesschau, sie ist diese Schau selbst. Die Ethik ist eine Optik, so daß alles, was ich von Gott weiß, und alles, was ich von Seinem Wort hören und Ihm vernünftigerweise sagen kann, einen ethischen Ausdruck finden muß.« Oder ebd., 32: »Daß die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt, eben dies ist der Geist der jüdischen Bibel.« 71 JS, 327. 72 Vgl. RGV B 61 f.
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was Kant die »sichtbare Kirche« nennt – darf jedoch nicht für das Entscheidende gehalten werden. Denn der fundamentale Sinn der Religion besteht in der von der Vernunft gegebenen Idee einer moralischen Lebensführung, die sich aus der Forderung eines unbedingt geltenden Moralgesetzes ergibt. Diese Beschaffenheit der Religion wird als die »unsichtbare Kirche« bezeichnet, wie schon in der Erörterung zur Idee einer moralischen Welt ausgeführt worden ist. Die statutarische Religion, die eine Offenbarung voraussetzt, birgt in sich nicht nur die Gefahr, dass man die Mittel (den Kult) mit dem Zweck (die moralische Lebensführung) verwechselt oder für den eigentlichen Zweck hält, sondern sie hat auch einen entscheidenden Nachteil. Als eine historische Religion ist sie zufällig und muss nicht zu allen Menschen vordringen können. Sie kann folglich nicht als für alle Menschen verbindlich angesehen werden.73 Die Religion muss jedoch als für alle verbindlich vorgestellt werden, da sie auf die moralische Vollkommenheit des Willens eines jeden abzielt. Diesem Anspruch auf die »Heiligkeit des Willens« kann sich kein Mensch entziehen. So kann Kant sagen: »Es gibt nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.« (RGV B 154)74 Auch wenn ein bestimmter Mensch mit keiner historischen Religion in Berührung kommt, gilt für ihn die Forderung der moralischen Vernunftreligion, nämlich die Befolgung des Moralgesetzes, das als göttliches Gebot verstanden werden kann, das einem jeden Menschen ins Herz geschrieben ist. Die moralische Religion besteht in der »Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten, als göttlicher Gebote« (RGV B 116). Der Mensch müsse all das tun, was in seinen Kräften steht, um den Weg der Tugend zu gehen. Erst wenn sich der Mensch um ein moralisch gutes Leben bemüht und nur dann, kann er hoffen, dass dasjenige, was nicht in seinem Vermögen steht, durch »höhere Mitwirkung ergänzt« wird.75 Die Ausrichtung auf Gott dient in der Religion dem guten moralischen Leben, sodass »die wahre Religion nicht im Wissen oder Bekennen dessen« besteht, »was Gott zu unserer Seligwerdung tue, sondern in dem, was wir tun müs-
73 Vgl.
RGV B 148. Überzeugung teilt Kant mit Rousseau, der ebenfalls betont, dass es zwar eine »diversité des cultes« gibt, jedoch nur eine einzige Religion, die keiner Offenbarung bedarf, sondern jedem Menschen von Gott ins Herz geschrieben ist. Vgl. J.-J. Rousseau: Émile, 385: »Si l’on n’eût écouté que ce que Dieu dit au cœur de l’homme, il n’y aurait jamais eu qu’une religion sur la terre.« 75 Vgl. RGV B 62. Im traditionellen theologischen Sprachgebrauch wird diese höhere, göttliche Mitwirkung als »Gnade« bezeichnet. Die göttliche Gabe der Gnade darf nicht missverstanden werden als eine Art Ersatz für die eigene Mühe. Kein Mensch – auch der tugendhafteste unter ihnen – hat nämlich Anspruch auf sie; er kann lediglich hoffen, ihrer würdig zu werden. Der Mensch »muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühungen die Vollendung werden angedeihen lassen« (RGV B 141). Unter der Perspektive der praktischen Vernunft stellt »der gute Lebenwandel« die oberste Bedingung der Gnade dar. 74 Diese
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sen, um dessen würdig zu werden« (RGV B 199 f.).76 So bildet die reine moralische Gesetzgebung nicht nur eine unumgängliche Bedingung jedweder wahren Religion, sondern sie macht diese aus. Die Vernunftreligion wird »als öffentlicher Religionsglaube« von Kant als »nur die bloße Idee von einer Kirche« (RGV B 227) charakterisiert. Unter dieser Bestimmung ist eine unsichtbare Kirche zu verstehen, die eine durch die Vernunft bestimmte Idee der Beschaffenheit einer Religion überhaupt darstellt. Zu den Mitgliedern der reinen Vernunftreligion zählen »alle wohldenkenden Menschen«. Wenn gilt, dass die unbedingt geltende Forderung des Sittengesetzes als Gebot Gottes angesehen werden kann,77 so befinden sich die Menschen durch das tugendhafte Verhalten ununterbrochen im Dienste Gottes. Im Unterschied zu einer statutarisch verfassten Kirche empfängt jedes Mitglied der Vernunftreligion die Gebote »unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber«.78 Aus der empirischen Erfahrung mit den Menschen heraus wird deutlich, die Idee der Vernunftreligion braucht zu ihrer dauerhaften Realisierung die Gestalt einer sichtbaren Kirche. Diese sichtbare auf Statuten errichtete Kirche muss in sich die Vernunftreligion enthalten. Durch die sichtbare Gestalt der Kirche soll die unsichtbare immer stärker durchscheinen. Die sichtbare Kirche muss versuchen, sich der unsichtbaren Kirche in einer ständigen Annäherung anzugleichen, bis sie völlig entbehrlich wird. Im Gegensatz zur unsichtbaren Kirche, die als eine idealtypische, von der Vernunft als Urbild entworfene Idee »von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung« zu verstehen ist, bildet die sichtbare Kirche eine »wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt« (RGV B 142). Im konkreten Leben bestehen beide Arten der Kirche nebeneinander, manchmal stehen sie sich in Opposition gegenüber, manchmal stimmen sie miteinander überein. Die Geschichte der Menschheit lässt sich also mit Kant als ein ununterbrochenes Ringen, als ein beständiger »Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben« (RGV B 184) betrachten.79 Die 76 Kant befindet sich hier in Übereinstimmung mit Leibniz. Auch für Leibniz besteht die wahre Frömmigkeit in der »Gesinnung« (sentiments) und »im praktischen Handeln« (dans la pratique). Ebenso wie Kant verweist er auf die Gefahr des »Afterdienstes«, indem sich die zeremoniellen Handlungen verselbstständigen und nicht mehr auf die Tugend hinführen. Vgl. G. W. Leibniz: Théodicée/Theodizee, Bd. 1, Préface/Vorwort, 2/3. 77 Deutlich wurde bereits, dass Gott dasjenige will, was das Moralgesetz fordert. Denn nicht dasjenige ist gut, was Gott will, sondern Gott will es, weil es gut ist. Zwischen der durch die Vernunft erkannten Forderung des Sittengesetzes und den Geboten Gottes besteht also eine vollständige Kongruenz. 78 Vgl. RGV B 228. 79 In einer nicht unähnlichen Diktion spricht Augustinus über eine in der Welt unsichtbare Gemeinschaft der »spiritales«, der geistigen Menschen im Gegensatz zu den »carnales«, den fleischlichen Menschen (vgl. conf. 13,33). Die Gemeinschaft der »spiritales« hat zu ihrem Ziel die Errichtung einer »civitas dei«, die in gegenseitiger Liebe besteht und als ein ewiger Sabbat (civ. 22,30: »vere maximum sabbatum non habens vesperam«) vorgestellt wird. In
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Bildung einer »unsichtbare Kirche« wird für den Kampf gegen das Böse von Kant aus unausweichlich dargestellt. Da der Mensch durch das soziale Leben in seiner moralischen Anlage verdorben wird, müsse er sich zur Überwindung des Bösen zu einer moralischen Gemeinschaft zusammenschließen.
b) Religion der Gunstbewerbung – Kultreligion des Afterdienstes Die Religion der Gunstbewerbung insinuiert dem Menschen, er müsse lediglich bestimmte kultische Handlungen vollziehen, ohne sich um eine moralische Lebensführung zu bemühen, um in den Augen des göttlichen Richters Gnade zu finden. Die äußeren Handlungen, mit denen man sich Gunst bei Gott zu erwerben hofft, werden als Ersatz für das Bemühen um ein Leben unter Tugendgesetzen angesehen. Die kultischen Handlungen der Religion sind nicht an sich schlecht, sie sollen aber eine ganz bestimmte praktische Ausrichtung haben: den Menschen auf dem Weg des Guten zu unterstützen und sollen helfen, die Entscheidung für das tugendhafte Leben immer neu zu fällen, um es beharrlich verfolgen zu können. Die Gefahr der Kultreligion liegt auf der Hand und ist nicht zu unterschätzen. Der Mensch neigt in seiner endlichen und bedürftigen Verfassung nämlich dazu, dem mühevollen Weg der Besserung des eigenen Verhaltens den bequemeren Weg des äußeren Vollzugs des Kultes vorzuziehen. In diesem Sinne ist die folgende Anmerkung (RGV B 241) zu verstehen: »Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und ihren Satzungen liege, daß Menschen verloren werden, sondern daß das Gehen in dieselbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Zelebrierung ihrer Gebräuche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient werden will.« In einer scharfen Formulierung stellt Kant fest, dass »alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden« ein »bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes« sei (RGV B 260 f.).80 Um diesem sog. Religionswahn vorzubeugen, stellt Kant an den Kirchenglauben den Anspruch, neben der notwendigen statutarischen Verfassung vor allem das Prinzip der guten Lebensführung als das eigentliche Ziel und Bestimmung des menschlichen Lebens zu verfolgen: »so ist doch die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist, nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, der Welt lässt sich die Zugehörigkeit der Menschen zu der jeweiligen Gemeinschaft nicht festlegen. 80 Eine ähnliche inhaltliche Kritik trägt bereits Platon vor. Im Spätwerk Nomoi 888c werden im Rahmen einer Rede an die Gottesleugner zwei Vorstellungen als untreffend zurückgewiesen: zum einem, dass es zwar Götter gebe, die sich aber nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmerten und zum anderen, dass sich die Götter zwar um den Menschen kümmern, leicht jedoch durch Opfer und Gebet umzustimmen seien.
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sondern sie ist auch das, was diese selbst ausmacht, und wozu die statutarische nur das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung enthalten kann.« (RGV B 148) Aus der Einsicht in die Verfassung des Menschen als eines endlichen und bedürftigen Wesens hält Kant die Realisierung der Idee einer Vernunftreligion in der Gestalt einer sichtbaren und statutarischen Kirche für unerläßlich. Eine solche statutarische Kirche muss aber an der eigenen Abschaffung arbeiten, indem sie den reinen Vernunftglauben und den damit verbundenen moralischen Lebenswandel fördert und zum Vorschein bringt, sodass sie sich selbst damit überflüssig macht.81 Die Rituale einer solchen sichtbaren Kirche sind lediglich als Mittel gedacht, die moralische Gesinnung zu schärfen und die Ausdauer auf dem Weg der moralischen Lebensweise zu unterstützen. Wenn diese Mittel ihren eigenen Mittelcharakter verlieren und zum eigentlichen Zweck als allein seligmachende Veranstaltungen mutieren, dann handelt sich es nach Kant um einen »Afterdienst«.82 Durch den sichtbaren Afterdienst wird die Absicht, Gott zu dienen, ins genaue Gegenteil verkehrt, denn »der wahre (moralische) Dienst Gottes« ist ein unsichtbarer »Dienst der Herzen«, der in der moralischen Gesinnung besteht.83 Die Selbsttäuschung, die in der Meinung liegt, durch äußere Handlungen Milde in den Augen des obersten Richters zu erlangen, ist ein Tribut an die menschliche sinnliche Natur, die in ihrer Suche nach Glück den vermeintlichen bequemeren Weg sucht. Die Ausführungen Kants zu der falsch verstandenen kultischen Verehrung Gottes, die nicht auf eine moralische Lebensführung hinzielt, lesen sich teilweise wie eine wörtliche Übertragung von Gedanken Rousseaus. Rousseau warnt vor der Verwechslung der Riten der Religion mit der Religion selbst. Gott müsse vor allem im Herzen, durch gute Taten gelobt werden: »La culte essentiel est celui du cœur.«84 In diesem Sinne gibt es nur eine einzige Religion – eine natürliche, in ihrer Verfassung moralisch ausgerichtete Religion, die allen Menschen gemeinsam ist und die jedem Mensch kraft seiner Vernunft und seines Gewissens zugänglich ist. Gott verlange einen »Kult des Herzens«, der aber, »wenn er aufrichtig ist, immer einheitlich [ist]. Man muß schon sehr töricht und eitel sein, wenn man sich einbildet, Gott nehme ein so großes Interesse an der Kleidung des Priesters, an der Ordnung der Worte und an allen diesen Kniebeugungen. […] Gott will im Geiste und in der
81 Vgl. dazu RGV B 179: »Es ist eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist, daß diese endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche«. 82 Afterdienst geschieht dadurch, »daß, was nur den Wert eines Mittels hat, um den Willen eines Oberen Genüge zu tun, für dasjenige ausgegeben, und an die Stelle dessen gesetzt wird, was uns ihm unmittelbar wohlgefällig macht« (RGV B 229). 83 Vgl. RGV B 298 f. 84 Vgl. J.-J. Rousseau: Émile, 404.
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Wahrheit angebetet werden: Das ist die Aufgabe aller Religionen, aller Länder und aller Menschen.«85
c) Die christliche Religion als Inbegriff einer Vernunftreligion Wie schon erwähnt, versteht Kant unter dem Begriff »Religion« stillschweigend und zwar oft die christliche Religion. So setzt er sich in seiner Religionsschrift an etlichen Stellen mit den Lehren der christlichen Religion wie z. B. mit der Göttlichkeit Jesu (oder seiner jungfräulichen Geburt) auseinander. Allem voran sei eine Anmerkung angefügt: Kant findet oft Verständnis für etliche theoretisch-theologische Positionen, indem er in einer philosophischen Interpretation versucht zu zeigen, auf welchem denkerischen Weg solche Positionen entstanden sein könnten. Im selben Atemzug äußert er jedoch Zweifel an der theoretischen Wichtigkeit solcher Lehren, wenn sie keine Relevanz für das Praktische haben: »Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns moralisch nicht interessieren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote (was das Wesentliche aller Religion ausmacht) hinwirkt.« (RGV B 158) Der Maßstab der Beurteilung der religionsrelevanten Angelegenheiten bleibt stets ihr Nutzen für das MoralischPraktische,86 da den echten Kern aller Religionen die moralische Forderung einer guten Lebensführung bildet und auch bilden soll. In diesem Zusammenhang könn-
85 Vgl. J.-J. Rousseau: Emil, 312 f. und 332: »[…] bedenke, daß die wahren Pflichten der Religion von menschlichen Einrichtungen unabhängig sind, daß ein rechtschaffenes Herz der wahre Tempel der Gottheit ist […]; daß es keine Religion gibt, die von den Pflichten der Moral entbindet; daß nur diese wirklich wesentlich sind; daß der innere Kult die erste aller Pflichten ist«. 86 Dasjenige, was Kant über die Idee der jungfräulichen Geburt Jesu sagt, gilt auch für alle anderen religiösen Theorien: »Wozu aber alle diese Theorie, dafür oder dawider, wenn es für das Praktische genug ist, jene Idee […] uns zum Muster vorzustellen?« (RGV B 110 Anm.) Von derselben Intention ist die Forderung getragen, die Hl. Schrift stets vom Standpunkt des Moralischen auszulegen. Da »die moralische Besserung des Menschen, den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion ausmacht, so wird diese auch das oberste Prinzip aller Schriftauslegung« (RGV B 161) enthalten müssen. Mit dieser Forderung befindet sich Kant übrigens in Übereinstimmung mit Augustinus, der in einem der ersten Werke der hermeneutischen Literatur überhaupt – De doctrina christiana – erklärt, das doppelte Liebesgebot gegenüber Gott und dem Menschen muss das Ziel der Bibelauslegung bilden und zugleich auch den Maßstab für das eigene Verständnis der Schrift. Vgl. dazu J. Sirovátka: Der Primat des Praktischen. Der Vorrang des sensus moralis in der Schriftauslegung der beiden letzten Bücher der Confessiones, 150 f. Mit den Prinzipien der Schriftauslegung beschäftigt sich Kant ebenfalls im Streit zwischen der philosophischen mit der theologischen Fakultät in seiner Schrift Der Streit der Fakultäten. Vgl. dazu SF A 70: »Auf solche Weise müssen alle Schriftauslegungen, so fern sie die Religion betreffen, nach dem Prinzip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden, und sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten.«
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ten als bezeichnend jene Sätze gelten, die Kant über die Vorstellung von der ewigen Rettung oder der ewigen Verdammnis niedergeschrieben hat: »Vorstellungen die mächtig genug sind, um dem einen Teil zur Beruhigung und Befestigung im Guten, dem andern zur Aufweckung des richtenden Gewissens, um dem Bösen, so viel möglich noch Abbruch zu tun, mithin zu Triebfedern zu dienen, ohne daß es nötig ist, auch objektiv eine Ewigkeit des Guten oder Bösen für das Schicksal des Menschen dogmatisch als Lehrsatz vorauszusetzen« (RGV B 89). So bezeichnet Kant die christliche Vorstellung des Unterschieds von Himmel und Hölle als »bildlich, und als solche empörend, nichtsdestoweniger aber, ihrem Sinn nach, philosophisch richtig«. Die denkerisch richtige Vorstellung müsse nämlich das Gute und Böse als »durch eine unermeßliche Kluft von einander getrennt« begreifen.87 Denn vom Prinzip her (nicht unter dem empirischen Aspekt) gibt es zwischen Gut und Böse keine Stufenfolge, sondern beide sind als gegensätzliche Prinzipien anzusehen. Ebenso ist der Begriff des Satans als eines bösen Geistes nicht abwegig, denn solche und ähnliche religiöse Vorstellungen machen uns einen Begriff für den praktischen Gebrauch anschaulich, der aus der Sicht der theoretischen Vernunft unergründlich ist. Allerdings haben sie nur in diesem Anschaulichmachen des Unbegreiflichen für den praktisch-moralischen Gebrauch nach Kant ihre Rechtfertigung, denn für den praktischen Gebrauch ist es einerlei, »ob wir den Verführer bloß in uns selbst, oder auch außer uns setzen, weil die Schuld uns im letztern Falle um nichts minder trifft, als im ersteren«.88 Die sittliche Bestimmung des Menschen bildet für Kant das Zentrum seiner praktischen Philosophie und auf diesen ethischen Maßstab hin werden die religiös-theologischen Vorstellung überprüft und auf diesen Maßstab hin ausgelegt. In seinem bekannten Brief an Johann Lavater vom 28. April 1775 unterscheidet Kant zwischen der »Lehre Christi« und der »Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben«. Obwohl Kant für die Nachricht von der Lehre Christi, das Neue Testament also, Bewunderung hegt,89 hält er sie gegenüber der Lehre Christi aus drei Gründen für nachgeordnet. Erstens sind die historischen Berichte nach Kant nur als Hilfestellungen für die entscheidende Moral-Lehre gedacht. Zweitens ist das Wissen darüber, was Gott für die Menschen getan hat, für den eigentlichen praktischen Zweck unerheblich, denn dieses Wissen verbessert die moralische Qualität des Einzelnen in keiner Hinsicht. Und drittens ist Kant der Meinung, bereits die Apostel selbst und die Schreiber der Schrift haben schon mehr auf die Verehrung der Person Jesu geachtet statt auf seine moralische Grundlehre. Die »moralische Lehre« ist die »Grundlehre des Evangelii«90 und diese gilt es aus den biblischen Schriften hervorzuheben. 87 Vgl.
RGV B 72. ebd. 89 Vgl. Briefe von und an Kant, Bd. 9, 140: »Ich verehre die Nachrichten der Evangelisten und Apostel und setze mein demütiges Vertrauen auf das Versöhnungsmittel, wovon sie uns historische Nachricht gegeben haben, oder auch auf irgend ein anderes, was Gott in seinen geheimen Rathschlüssen verborgen haben mag«. 90 Vgl. ebd., 139. 88 Vgl.
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Sie besteht im moralisch guten Lebenswandel, in der Reinigkeit der Gesinnung und im moralischen Glauben, dass Gott dasjenige ergänzen möge, was nicht mehr im Vermögen des Menschen steht. Die Gestalt Jesu wird unter verschiedenen Perspektiven gesehen, die immer auf den Aufweis hinzielen, seine Lehre sei allem voran dem ethischen Ideal der Heiligkeit verpflichtet. So wird Jesus als die personifizierte Idee, als das »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit« oder in seiner Rolle als Stifter einer wahren Kirche vorgestellt, in der »nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne« (RGV B 239). Für Kant stellt die christliche Religion diejenige Religion dar, die am besten den sittlichen Charakter der Religionen verkörpert.91 Als schlechthinniges Beispiel einer moralischen Religion wählt Kant ein Buch, »welches mit sittlichen, folglich mit vernunftverwandten Lehren innigst verwebt ist« (RGV B 235): das Neue Testament. Im Neuen Testament sieht Kant die christliche Religion in reinster Form vorgestellt, sodass »Schrift«, »Neues Testament« und »christliche Religion« Synonyme bilden.92 Das Christentum wird von Kant als das Paradebeispiel einer natürlichen und zugleich gelehrten Religion vorgestellt. Als natürliche durch die Vernunft erkennbare Religion, wird sie in ihrem moralischen Charakter vorgestellt, der in theoretischer Hinsicht nur soviel fordert, dass sich jeder von ihr praktisch hinreichend überzeugen kann und jedem die moralische Forderung als Pflicht zugemutet werden kann.93 Eine solche Vernunftreligion als eine unsichtbare Kirche94 fordert aus anthropolo-
91 Vgl. z. B. RGV B 62: »Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) […]«. Vgl. auch M. Forschner: Über das Glück des Menschen, 145: »Ein wesentlicher Gesichtspunkt, der Kants Plädoyer für das christliche Ideal der Heiligkeit gegenüber den Lehren der Alten leitet, ist die Abwehr der Gefahr sowohl theoretischer Selbstüberschätzung als auch moralischer Eigendünkels oder sittlicher Selbstnachsicht, der nach seiner (gut paulinischen) Meinung durch die Philosophie der vorchristlichen Antike vom summum bonum Vorschub geleistet wird.« Ebenso ist Rousseau überzeugt, dass von allen Religionen das Christentum die reinste Moral vertrete (und der Vernunft am besten gerecht werde). J.-J. Rousseau: Émile, 407: »je la crois de toutes les religions qui sont sur la terre celle dont la morale est la plus pure et dont la raison se contente le mieux.« 92 Das Alte Testament ordnet Kant dem »statutarischen Glauben« des Judentums zu. Vgl. z. B. Kants Bemerkung zur »mosaischen Gesetzgebung« in RGV B 246 oder die Ausführungen über das Judentum (RGV B 253 ff.). Die Gestalt des Hiob wird dagegen von Kant hervorgehoben und als Vorbild hingestellt. Dagegen sieht Leibniz Moses und Jesus als Mitwirkende an einer gemeinsamen Tradition einer aufgeklärten Religion. Jesus wird als der göttliche Stifter einer »religion la plus pure et la pure éclairée« und als Vollender dessen angesehen, was Moses bereits begonnen habe. Die Juden des Alten Testaments werden als aufgeklärter (»plus éclairés«) als die ganze damalige Menschheit charakterisiert. Vgl. G. W. Leibniz: Théodicée/ Theodizee, Bd. 1, Préface/Vorwort, 2/3–6/7. 93 Vgl. RGV B 236. 94 Die Mitglieder der unsichtbaren Kirche sind »alle Wohldenkende«, die die moralische
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gischen Gründen jedoch eine sichtbare Kirche, die nur als eine »Vereinigung von Gläubigen […] nach Prinzipien einer reinen Vernunftreligion« (RGV B 237) ihre Berechtigung hat. Die gelehrte Religion geht in ihren Inhalten über dasjenige hinaus, was vermittels der Vernunft erkannt werden kann. Diese Inhalte müssen durch Gelehrsamkeit weiter getragen werden. Eine solche gelehrte Belehrung steht aber erneut im Dienste der Forderung nach einer Heiligkeit des Willens.
d) Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit Aus dem unbedingt geltenden praktischen Sittengesetz folgt die moralische Pflicht, das höchste in der Welt mögliche Gut zu verwirklichen. Jeder Mensch ist aufgefordert, an der Errichtung einer allgemeinen moralischen Welt mitzuwirken, deren vollständige Realisierung jedoch stets zukünftig bleibt. Die Idee einer solchen vollkommen gut geordneten Welt stellt die »Menschheit in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit« dar.95 Dies ist das Ziel, um derentwillen die Welt existiert, es ist der letzte Zweck der Schöpfung. Die Idee der moralisch vollkommenen Gemeinschaft der Menschen wird im »Gott wohlgefälligen Menschen« zum »Ideal der moralischen Vollkommenheit« personifiziert, das uns als Urbild für unsere Gesinnung und für unseren empirischen Lebenswandel dienen soll.96 Von diesem Ideal sagt Kant, dass nicht wir die Urheber von ihm sind, sondern dass die Idee »in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können« (RGV B 74). Wie ist die Zurückweisung der Urheberschaft der Idee durch uns zu verstehen? Stellen wir uns doch diese Idee als ein Vorbild für unsere Gesinnung selber auf. Beim Ideal der moralischen Vollkommenheit handelt es sich nicht um eine beliebige Vorstellung, die sich jeder einzelne Mensch nach eigenem Gutdünken entwerfen könnte. Mit dem Ideal ist eine Idee gemeint, die dem Menschen durch die Vernunft vorgegeben ist. Es handelt sich aber nicht um eine Idee im theoretischen Sinne, wo die Vernunft zu ihr aufsteigen kann, wie sie will. Sie stellt eine praktische Idee dar, die schon »in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft« als eine unbedingte Forderung liegt, der gemäß Gesinnung eines guten Lebenswandels für einen besseren Dienst Gottes ansehen als das Vollziehen von äußeren Handlungen, die die Bemühung um das Führen eines tugendhaften Lebens substituieren sollen. 95 Vgl. RGV B 73. 96 Die Vorstellung des Ideals der Gott wohlgefälligen Menschheit konveniert für Kant mit der Gestalt Jesu als eines Sohnes Gottes, der uns im praktischen Glauben als Vorbild hingestellt wird. Vgl. dazu RGV B 75 f. Die Vorstellung des Ideals der Gott wohlgefälligen Menschheit ist eine Vernunftidee, die dem Menschen als »Richtmaß des Lebenswandels« dient und die jedem Mensch qua eigener Vernunft innewohnt. Und nachträglich wird dieses Vernunftideal in der historischen Gestalt des Gottes Sohnes als verwirklicht angesehen, sodass es sich um »dieselbe praktische Idee« handelt, die nur »in verschiedener Beziehung« vorgestellt wird (vgl. RGV B 175 f.).
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wir handeln sollen.97 Die Vernunft enthält diese Idee in sich, ist gleichwohl keineswegs ihre Meisterin. Die Vernunft bleibt verwiesen auf das Faktum des Moralgesetzes, dessen Ausfaltung und Konsequenz die Idee der moralischen Vollkommenheit darstellt. Aufgrund dieser Gegebenheit in der Vernunft bedarf sie keines Beispiels in der Erfahrung, da sie »ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst« hat.98 Auch wenn kein Beispiel von moralischer Vollkommenheit in der empirischen Welt anzutreffen wäre, behielte sie trotzdem als unbedingte Forderung für den menschlichen Willen ihre Gültigkeit. Jeder Mensch ist aufgefordert, selbst ein Beispiel für diese Idee abzugeben. Kant hält es für unnötig, darüber hinaus das Urbild einer vollkommenen Moralität »in einem besondern Menschen hypostasiert anzunehmen«. Denn an dem Ideal, das sich in unserer Vernunft befindet, ändert es nichts und dieses Ideal ist auch für den praktischen Gebrauch vollkommen ausreichend. Wenn allerdings ein solcher Gott wohlgefälliger Mensch als Beispiel der Nachahmung angenommen werden soll, muss er in der Beschaffenheit eines Menschen gedacht werden: mit denselben Bedürfnissen, Naturneigungen und denselben Versuchung zur Übertretung des Moralgesetzes. Falls er als übermenschlich vorgestellt werden würde, verlöre er jedwede Vorbildfunktion für den Menschen, der sich in ihm nicht wiedererkennen würde. Für den entscheidenden praktischen Gebrauch hätte eine solche Vorstellung von einem »göttlichen« Menschen keine Relevanz. Wäre das Ideal als der menschlichen Natur enthoben vorgestellt, könnte es kein Beispiel für den Menschen abgeben, weil sich der Mensch mit ihm nicht identifizieren könnte: »imgleichen würde die Idee eines Verhaltens nach einer so vollkommenen Regel der Sittlichkeit für uns allerdings auch als Vorschrift zur Befolgung geltend, er selbst aber nicht als Beispiel der Nachahmung, mithin auch nicht als Beweis der Tunlichkeit und Erreichbarkeit eines so reinen und hohen moralischen Guts für uns, uns vorgestellt werden können« (RGV B 81). Der Realisierung der Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit stehen jedoch einige Hindernisse entgegen. In einer parallelen Erörterung zu seinen Ausführungen im Werk Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee99 behandelt Kant drei grundsätzliche theoretische Probleme, die mit der Forderung der Verwirklichung der besagten Idee scheinbar unvereinbar sind. Diese drei Schwierigkeiten werden zwar in Beziehung zur Heiligkeit, Glückseligkeit und Gerechtigkeit Gottes gesetzt, sind aber Hindernisse, die sich dem Menschen in seinem Bemühen um ein Leben der Tugend in den Weg stellen. Die sittliche Bestimmung steht erneut im Fokus der Aufmerksamkeit, allerdings im Blick auf ein Ideal, das nur in Verbindung mit einem heiligen, gütigen und gerechten Gott zu denken ist. Die erste Schwierigkeit, die gegen die Erreichbarkeit der Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit zu sprechen scheint, ist die Forderung die Heiligkeit des Willens, d. h. einer vollständigen Angemessenheit unseres Willens an das Moralgesetz. Eine 97 Vgl.
RGV B 76. ebd. 99 Vgl. MpVT A 198–209 und das Kapitel Theodizee. 98 Vgl.
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solche Heiligkeit ist für den Menschen aufgrund seines angeborenen Hanges zum Bösen unerreichbar, da der Abstand zu dem zu verwirklichenden Guten zu groß bleibt. Die genannte Unerreichbarkeit des Heiligkeitsideals gilt allerdings nur für Taten in der Erscheinung. Unsere Gesinnung dagegen wird »von einem Herzenskündiger in seiner reinen intellektuellen Anschauung als ein vollendetes Ganze« betrachtet (vgl. RGV B 85).100 Die Gesinnung muss nach Kant qua übersinnliches Phänomen als ein zeitloses Ganze angesehen werden. Der Mensch kann folglich der Gesinnung nach als heilig angesehen werden, auch wenn er dem empirischen Charakter nach noch mit Defiziten behaftet ist und keine vollständige Angemessenheit des Willens an das Sittengesetz besitzt und auch nie besitzen wird. Die zweite Schwierigkeit betrifft die »moralische Glückseligkeit«, worunter die »Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung verstanden wird, denn das beständige ›Trachten nach dem Reiche Gottes‹, wenn man nur von der Unveränderlichkeit einer solchen Gesinnung fest versichert wäre, würde eben so viel sein, als sich schon im Besitz dieses Reichs zu wissen, da denn der so gesinnte Mensch schon von selbst vertrauen würde, daß ihm ›das übrige alles (was physische Glückseligkeit betrifft) zufallen werde‹« (RGV B 86 f.). Die Stelle wurde ausführlich zitiert, da ihr Sinn und die darauf folgende Explikation nicht leicht zu entwirren sind. Es wird nicht auf Anhieb deutlich, worin die Schwierigkeit auf dem Weg des zum Guten strebenden Menschen besteht, die mit der moralischen Glückseligkeit zusammenhängt. Josef Bohatec meint in seiner Interpretation einen »Gedankenfortschritt« in der Religionsschrift gegenüber der Bestimmung des Höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft ausfindig machen zu können. Der Gedankenfortschritt besteht nach ihm darin, dass »der Begriff des höchsten Guts eine Verinnerlichung und Vertiefung erfährt, indem der Begriff der Glückseligkeit mit einem sittlichen Vorzeichen versehen wird«. Die in der ersten Kritik rein »physisch« verstandene Glückseligkeit101 wird nun als eine moralische Glückseligkeit verstanden, die in der »Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung« besteht. Da sich diese Gesinnung, so Bohatec, in dem Streben äußert, »in einem guten Lebenswandel Gott wohlgefällig werden zu können, den Gegenstand des moralischen seligmachenden Glaubens ausmacht, eines Glaubens, der mit der ›Hoffnung auf Seligkeit‹ unzertrennlich verbunden ist. […] hier ist es der sittliche Wert, die ewige, moralische Seligkeit, die im erhofften Idealzustand schon ›hier auf 100 Vgl. ebenso RGV B 92 f.: »Denn das moralisch subjektive Prinzip der Gesinnung, wornach sein Leben beurteilt werden muß, ist (als etwas Übersinnliches) nicht von der Art, daß sein Dasein in Zeitabschnitte teilbar, sondern nur als absolute Einheit gedacht werden kann, und da wir auf die Gesinnung nur aus den Handlungen (als Erscheinung derselben) schließen können, so wird das Leben zum Behuf dieser Schätzung nur als Zeiteinheit, d. i. als ein Ganzes, in Betrachtung kommen.« 101 Diese Auffassung der Glückseligkeit behält selbstverständlich auch für die Religionsschrift ihre Gültigkeit.
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Erden‹ erreichbar ist, so daß im Grunde die moralische Gemeinschaft als solche den Gegenstand der Hoffnung bildet. Die physische Glückseligkeit ist erst im Jenseits zu erhoffen«.102 Wenn die zitierte Auslegung von Bohatec zutreffen würde, wäre aber überhaupt nicht einsehbar, warum Kant im betroffenen Abschnitt über eine Schwierigkeit spricht. Die moralische Glückseligkeit müsste doch eher umgekehrt als eine Art positiver Motivationsschub auf dem Weg zur Tugend verstanden werden und nicht als ein Hindernis auf diesem Weg. Zu Bohatec’ Verständnis der Rolle der moralischen Glückseligkeit passen auch die Ausführungen Kants nicht, die sich an die problematische Stelle anschließen und eine thematische Einheit bilden. Die Schlüsselrolle, die zur Auflösung und einer konsistenten Interpretation des von Kant Gemeinten führen könnte, kommt dem Wort über die Unveränderlichkeit der Gesinnung zu. Wenn der Mensch von der »Unveränderlichkeit« seiner guten Gesinnung »fest versichert wäre [Hervorh. von Verf.]«, würde er sich im Besitz des Reiches Gottes wähnen und »von selbst [Hervorh. von Verf.] vertrauen«, dass ihm die physische Glückseligkeit erteilt wird. Genau dieses Wissen über die Unveränderlichkeit seiner Gesinnung ist dem Menschen jedoch nicht gegeben und wie Kant sagt, für sein moralisches Leben sogar abträglich. Kant schreibt, die Gewissheit in Ansehung seiner Gesinnung »ist dem Menschen weder möglich, noch, so viel wir einsehen, moralisch zuträglich. Denn (was wohl zu merken ist) wir können dieses Zutrauen nicht auf ein unmittelbares Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Gesinnungen gründen, weil wir diese nicht durchschauen können« (RGV B 93). In der Zurückweisung der Möglichkeit eines unmittelbaren Wissens über die Gutheit der eigenen Gesinnung und der daraus resultierenden »moralischen Glückseligkeit« wendet sich Kant gegen das stoische Ideal des Bewusstseins der eigenen Tugendstärke. Selbstverständlich muss der Mensch, der sich um moralisch gutes Leben bemüht, irgendein Bewusstsein von seiner guten Gesinnung haben, um beharrlich seinen Weg fortsetzen zu können. Der springende Punkt liegt darin, dass er sich nichts auf seine gute Gesinnung einbilden kann, da er nicht vollständig seine eigene Motivation zu durchschauen vermag. Aufgrund der Tatsache, dass wir unsere Gesinnung nicht vollständig beurteilen können, sind wir gezwungen, auf sie von unserem empirischen Lebenswandel zurückzuschließen. Dieser Rückschluss von unseren Handlungen in der Erscheinung auf die eigene Gesinnung erlaubt jedoch kein eindeutiges Urteil. Diese Unsicherheit im Bezug auf die Gutheit oder Schlechtigkeit der Gesinnung ist sogar für das Führen eines moralischen Lebens notwendig, da wir uns nie als genug tugendhaft fühlen können.103 Aufgrund unseres eingeborenen Hanges zum Bösen bleibt ein unüberwindbarer Rest an Schlechtem in uns. 102 J.
Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants, 629 f. Nichtwissen um die eigene moralische Qualität ist also nur auf den ersten Blick negativ. Positiv ist sie in dem Sinne, dass sie das Leben in Freiheit unter dem sittlichen Anspruch erst ermöglicht. In diesem Sinne ist »die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig […] in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu teil werden ließ« (KpV A 266). 103 Das
172
Religionsphilosophische Implikationen der Frage nach dem Bösen
Was ist also unter der moralischen Glückseligkeit zu verstehen? Ist sie in dieser Welt erreichbar? Verstanden als »Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung« oder als eine, die »im Bewußtsein seines [des Menschen] Fortschritts im Guten (der mit der Verlassung des Bösen ein Actus ist) besteht« (RGV B 100), ist sie sicher in einem erfüllten Zustand nicht erreichbar. Sie ist jedoch in einer partiellen Weise beim Menschen vorhanden und zwar im Sinne der »intellektuellen (Selbst)Zufriedenheit«, wie sie in der zweiten Kritik vorgestellt wird. Auch wenn Kant unterstreicht, dass die intellektuelle Zufriedenheit nur ein »Analogon der Glückseligkeit« darstellt und mit ihr nicht gleichzusetzen sei, da sich zu ihr kein positives Gefühl zugesellt, beschreibt sie der Sache nach dasjenige Phänomen, das in der Religionsschrift unter der Bezeichnung »moralische Glückseligkeit« verhandelt wird. Die intellektuelle Zufriedenheit bedeutet Wohlgefallen an der eigenen Existenz, das »das Bewußtsein der Tugend notwendig« begleitet: »Die Freiheit selbst wird auf solche Weise (nämlich indirekt) eines Genusses fähig«, das zwar nicht als Seligkeit charakterisiert werden kann, ihr andererseits doch nicht unähnlich ist, »so fern nämlich wenigstens seine Willensbestimmung sich von ihrem Einflusse [der Neigungen und Bedürfnisse] frei halten kann, und also, wenigstens seinem Ursprunge nach, der Selbstgenugsamkeit analogisch ist, die man nur dem höchsten Wesen beilegen kann.« (KpV A 213 f.) Mit der Anspielung auf den Hang zum Bösen gelangen wir zur dritten und letzten Schwierigkeit, die den Weg der Tugend in Frage stellen könnte. Sie wird unter Bezug auf die göttliche Gerechtigkeit erörtert und besteht im Problem der Unvertilgbarkeit der ursprünglichen angeborenen Schuld des Hanges zum Bösen. Trotz einer guten Gesinnung und eines in der Welt bestmöglichen Lebenswandels bleibt der Mensch radikal böse. Ihm haftet eine »ursprüngliche, oder überhaupt vor jedem Guten, was er immer tun mag, vorhergehende Schuld« an, die von ihm selbst und auch nicht von einem Anderen vertilgt werden kann, da es sich um eine »allerpersönlichste« Schuld handelt.104 Das Problem, das sich in Bezug auf die absolute Gerechtigkeit Gottes angesichts des im Menschen verwurzelten Bösen stellt, ist folgendes: auch der tugendhafteste Mensch auf der Welt kann nicht vor dem Herzenskündiger als einem gerechten Richter bestehen. Da der »Richterspruch des Herzenskündigers« aus der Bewertung der Gesinnung heraus gefällt wird, wird der Gesinnung eine entscheidende Rolle beigemessen: »Auch die reinste moralische Gesinnung bringt am Menschen, als Weltwesen, doch nichts mehr, als ein kontinuierliches Werden eines Gott wohlgefälligen Subjekts der Tat nach (die in der Sinnenwelt angetroffen wird) hervor. Der Qualität nach (da sie, als übersinnlich gegründet, gedacht werden muß) soll und kann sie zwar heilig und der seines Urbildes gemäß sein; dem Grade nach – wie sie sich in Handlungen offenbart – bleibt sie immer mangelhaft.« (RGV B 99) Den empirischen Taten nach bleibt der Mensch auf dem Weg der Befolgung des Moralgesetzes stets im Werden, sodass er sich der Heiligkeit des Willens nur in einem unendlichen progressus nähern kann. Die Gesin104 Vgl.
RGV B 94 f.
Religion 173
nung wird jedoch als ein übersinnliches, intellektuelles Phänomen anders beurteilt, nämlich als eine Ganzheit, da sich in ihr die Akte nicht in der Zeit vollziehen. Als unzeitliches Phänomen hat sie aber selbstverständlich Einfluss auf die Zeit durch die empirischen Handlungen, die aus ihr resultieren und sich als Erscheinungen in der Welt äußern. Obwohl der Mensch seinem empirischen Charakter nach immer unvollkommen und schuldig bleibt, ist er seiner Gesinnung nach als intelligibles Wesen vor einem göttlichen Richter »moralisch ein anderer«. Die reine Gesinnung vertritt »als intellekturelle Einheit des Ganzen, die Stelle der Tat in ihrer Vollendung« (RGV B 99 f.). Die gute Gesinnung ist schon als intelligibles Phänomen heilig und vertritt vor dem moralischen Gerichtshof die Handlungen, denen noch Heiligkeit mangelt. In diesem Zusammenhang wird die Zurückweisung der christlichen Vorstellung des Sohnes Gottes als eines Erlösers und Stellvertreters abgemildert und im Verlauf des Textes in gewisser Hinsicht zurückgenommen. Denn die gute Gesinnung tritt stellvertretend für die Unvollkommenheit der Taten in der Weise ein, wie in der Vorstellung von einem göttlichen Stellvertreter – als Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit – der Stellvertreter für uns eintritt und bewirkt, dass der Mensch hoffen kann, vor dem göttlichen Richter gerechtfertigt zu werden. Der Sohn Gottes als die personifizierte Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit trägt für den Menschen, »und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld, tut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug« (RGV B 99). Das Entscheidende bleibt jedoch, dass es sich bei einem positiven Urteilsspruch über unsere moralische Qualität immer nur um einen »Urteilsspruch aus Gnade« handeln kann, da wir auf ihn »keinen Rechtsanspruch (nach der empirischen Selbsterkenntnis)« haben, »so weit wir uns selbst kennen« (RGV B 101). Auch wenn der Sohn Gottes als »Stellvertreter« für den Menschen eintritt, lässt sich die Lossprechung »für den mit Schuld belasteten Menschen vor der himmlischen Gerechtigkeit« nur »unter der Voraussetzung der gänzlichen Herzensänderung« denken, denn das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit muss, wie Kant schreibt, »in unsere Gesinnung aufgenommen sein, um an die Stelle der Tat zu gelten« (RGV B 102 f.). Die Idee der Stellvertretung beinhaltet kein sicheres Wissen über unsere Rechtfertigung, es bewirkt alleine die Hoffnung darauf, dass wir vor einem göttlichen Richter gerechtfertigt werden können. Wenn wir das von uns mögliche getan haben, können wir auch hoffen – aber nur hoffen – dass uns dasjenige geschenkt werde, was über unsere Kräfte hinausgeht. Dieses unverdient Dazugegebene wird Gnade genannt. Dem Menschen bleibt weiterhin nur die Wahl, seine »Seligkeit mit Furcht und Zittern« zu besorgen.105
105 Vgl.
RGV B 87.
Schluss
Schluss Das Problem des Bösen hat die Menschen schon immer beschäftigt, die Liste der kulturellen, religiösen und philosophischen Vorstellungen des Bösen in all seinen Facetten ist sehr lang.1 Immanuel Kant reiht sich in diese Tradition ein, indem er das Böse insbesondere unter der praktisch-moralischen Hinsicht thematisiert. Auch wenn er in seinem aufgeklärten Zeitalter auf Unverständnis gestoßen ist, zeugt seine Philosophie vom konsequenten (Durch)Denken der Problematik. Nach einem Zeitraum der Vernachlässigung scheint heutzutage die Thematik des Bösen erneut ins Fokus der Aufmerksameit der wissenschaftlichen Diskurses zu rücken. Nicht anders stellt sich die Situation in der Kant-Forschung dar. Kants These vom radikal Bösen in der menschlichen Natur und seine Theorie des Hanges zum Bösen gehört zu einem der umstrittensten Teilstück seiner Philosophie.2 Einige Interpreten halten Kants Theorie für gescheitert und sprechen ihr jede Plausibilität ab. Die vorliegende Untersuchung bemühte sich trotz allen zugegeben Schwierigkeiten zu zeigen, dass Kants Theorie des Bösen einen plausiblen Kern beinhaltet, der zur sachlichen Beleuchtung der Frage nach dem Bösen in der Welt beiträgt. Zugleich wurden der Rahmen und die Bedingungen gesucht, die die Sprache über das Böse überhaupt erst ermöglichen. So wurde auf der einen Seite zuerst das Gewicht auf die Darstellung der Freiheit und auf der anderen Seite auf die des Moralgesetzes gelegt. Der theoretisch nicht beweisbare freie Wille stellt die erste Bedingung der Rede über das Böse dar. Nach Kant verleiht erst das unbedingt geltende Moralgesetz der Idee der Freiheit ihre Realität. Die Darstellung des Sittengesetzes, das im moralischen Bewusstsein als ein Faktum der Vernunft auftritt, bil1 Zum geschichtlichen Überblick der philosophischen Positionen vgl. z. B. Friedrich Billicsich: Das Problem der Theodizee im philosophischen Denken des Abendlandes. I. Band. Von Platon bis Thomas von Aquin/Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes. II. Band. Von Eckhart bis Hegel; Antonin Gilbert (Dalmace) Sertillanges: Le problème du mal; zu einem breiteren kulturellen Kontext vgl. Myriam Watthee-Delmotte/Paul-Augustin Deproost (Hg.): Imaginaires du mal. 2 Stellvertretend sei auf die folgende Einschätzung von Th. Buchheim verwiesen: »Die einen Interpreten erkennen deshalb in diesem Lehrstück Kants eher die Anpassung an ein nicht weiter begründbares Residuum seiner religiösen Überzeugungen (eben die christliche Erbsündenlehre); andere sehen Kants Denken in einem prinzipiellen Zwiespalt zwischen Aufklärung und christlich europäischer Tradition; wieder andere halten die von Kant unternommenen ›Erfahrungsbeweise‹ für das Dasein eines solchen Hanges (B 32) schlicht für unzureichend, die These im Übrigen für ›rational unerweislich‹ und diagnostizieren deshalb sogar für Kant selbst eine nicht bewältigte Unklarheit, was ihre Beweisbarkeit angeht.« Th. Buchheim: Die Universalität des Bösen nach Kants Religionsschrift, 656 f.
176 Schluss
det die zweite Bedingung. Auch in diesem Kapitel hat die Interpretation versucht, eine sachhaltige und plausible Lesart des Moralgesetzes anzubieten. Freiheit des Willens und Faktizität des Sollens bilden also im Konzept Kants zwei untererlässliche Voraussetzungen für das Ausarbeiten einer Theorie des Bösen. Ein weiterer Schritt führte zur Untersuchung der eigentlichen Theorie des radikal Bösen und der Annahme des Hanges zum Bösen. Ich habe mich für eine moralphilosophische Interpretation entschieden, die jedoch zugleich die religionsphilosophischen Implikationen zur Sprache bringt. Die Theorie des radikal Bösen knüpft an die kritische Philosophie an und führt sie fort. Insbesondere das konsequente Weiterdenken der Freiheitsproblematik am Phänomen des Bösen zeigt, dass die Religionsschrift eindeutig zum »kritischen Projekt« gehört. Kant untersucht das Böse vor allem als ein moralisches Phänomen: »Das Böse ist kein mystisches Prinzip […], es ist eine Beleidigung, die der Mensch dem Menschen antut.« (SF, 33), kommt jedoch ohne einen metaphysischen Rahmen nicht aus. Bei der Suche nach den Bedingungen der bösen Tat wurde sichtbar, dass die ethische Frage nach dem Bösen um eine anthropologische und metaphysische Reflexion ergänzt werden muss.3 Auch aus diesem Grund wurde die Theorie Kants um das Konzept von Paul Ricœur ergänzt. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. die Arbeiten von Hans-Jörg Ehni), wird das Denken von Ricœur im Bezug auf das Böse in der Kantforschung fast nicht beachtet. Die vorliegende Untersuchung möchte zeigen, dass Ricœurs Nachdenken über das Böse vor allem im Rahmen des Projekts der philosophie de la volonté eine wichtige Ergänzung zur Kants Theorie darstellt, vor allem in anthropologischer aber auch in religionsphilosophischer Hinsicht. Ricœur knüpft an kantische Motive an und entfaltet in seinem Entwurf wichtige Aspekte, die bei Kant fehlen oder unterbelichtet sind. Das Denken Ricœurs wurde vor allem unter dem Blickwinkel seines Verhältnisses zur Problematik des Bösen und zusätzlich in Bezug auf die Kantische Theorie herangezogen. Die Konzepte Kants und Ricœurs sollen nicht als konkurrierende Thesen gelesen werden, sondern eher als komplementäre, sich ergänzende »Sichten« eines einzigen Phänomens des menschlichen Handelns, da sich die Problematik der praktischen Philosophie nicht axiomatisch und nicht völlig disjunktiv behandeln lässt wie Mathematik oder Bürokratie.4 Auch wenn Ricœur letzt3 So hält z. B. Helmut Holzhey den Versuch einer rein theoretischen Erklärung des Bösen für gescheitert und plädiert im Anschluss an Ricœur für eine Erweiterung der Theorie um eine kosmische und metaphysische Dimension. Vgl. H. Holzhey: Das Böse. Vom ethischen zum metaphysischen Diskurs, 25: »das Böse wird, wenn überhaupt, als ein Problem der Ethik monopolisiert. Dabei erweisen sich gerade ethische Diskurse, ob sie nun auf Pflichten, Interessen oder Verantwortung für Handlungsfolgen bauen, strukturell als überfordert, wo sie sich diesem Thema stellen. Die ›Macht des Bösen‹ durchkreuzt den guten Willen, das gute Leben, den guten Menschen. […] Die Möglichkeit zum Bösen ist nich ethisch, ja überhaupt nicht rational abzuarbeiten, sie liegt im Rücken unserer Vernunft, indem diese selbst in die Strittigkeit von gut und böse gestellt ist.« 4 Vgl. J. Sokol: Etika a život. Pokus o praktickou filosofii [Ethik und Leben. Versuch über die praktische Philosophie], 22.
Schluss 177
lich das Böse doch im menschlichen Willen verankert – der Wille macht sich selbst gefangen5 – hebt er auch die »tragischen« Elemente hervor, die Kant in seiner eher optimistischen Willensphilosophie nicht wahrnimmt. Gegenüber der Kantischen Willensethik unterstreicht Ricœur auch die passive Seite des Willens und macht Dimensionen der Problematik des Bösen sichtbar, die eine reine Willensphilosophie nicht zu fassen vermag. Er zeigt somit die »Größe und die Grenzen einer ethischen Weltanschauung«6 – und genau darin liegt Ricœurs größter Beitrag zur Kants Theorie des Bösen. Der ethischen Sicht auf das Problem des Bösen stellt Ricœur bewusst die »tragische« an die Seite, indem er betont, dass die ethisch-willentliche böse Tat zugleich die tragischen Elemente, die sie nicht unter ihrer Kontrolle hat, zu ihrem Recht kommen lässt. Der »Sprung« von der Fehlbarkeit zum Bösen, die Setzung des Bösen7 – die der bösen Tat bei Kant entspricht – offenbart zugleich die passive und tragische Seite dieser bösen Tat. Das moralisch Böse ist sicherlich zutiefst eine Willenstat, es beinhaltet jedoch auch unwillentliche Momente, die sich der Macht des Willens entziehen. Die Setzung des Bösen durch den Menschen deckt nach Ricœur eine Kehrseite des Bösen auf, »ein nichtgesetzes Moment, das mit der Setzung des Bösen durch den Menschen verschränkt ist«.8 Dieses Nicht-Gesetzte, Unausweichliche, das mit der Setzung sichtbar wird, stellt das Tragische dar. Das Unabwendbare ist der Freiheit nicht entgegengesetzt, sondern ist ihr bereits eingeschrieben. Die Ausübung der Freiheit legt ihre unausweichliche, schicksalshafte Dimension offen: »das Böse, das ich übernehme, macht einen Ursprung des Bösen kund, den ich nicht mehr übernehmen kann, an dem ich jedoch jedesmal teilnehme, wenn durch mich das Böse in die Welt kommt, als sei es zum erstenmal«.9 Der Gang durch die Moralphilosophie Kants und durch die verschiedenen geschichtlichen Positionen hat eine wesentliche Einsicht zu Tage gefördert. Das Phänomen des Bösen entzieht sich trotz der Beleuchtung von unterschiedlichsten Aspekten und trotz der verschiedenen Untersuchungsmethoden einem völlig rationalobjektivierenden Zugriff. Die theoretische Vernunft scheint nicht die entscheidende Frage zu fassen: woher letztlich das Böse kommt. Das moralisch Böse bleibt somit weiterhin als ein Problem bestehen. Keine Theorie scheint befriedigend und erschöpfend die grundlegenden Paradoxien zu fassen, dass wir das Böse nicht direkt wollen können und es trotzdem tun, dass wir das Böse setzen und trotzdem bereits in der Geschichte des Bösen verstrickt sind, dass wir die Neigung – den Hang zum Bösen – in uns vorfinden. Kants These von der theoretische Unerklärlichkeit der letzten Gründe für böse Handlungen nimmt den menschlichen, freien Willen radikal ernst, indem sie der theoretischen Vernunft einen erklärenden Grund versagt, 5 Vgl. auch O. Reboul: Kant et le problème du mal, 84: »Oui, le mal vient d’ailleurs, mais cet ailleurs a son origine en nous.« 6 Vgl. P. Ricœur: Die Fehlbarkeit des Menschen, 11. 7 Ebd., 185. 8 P. Ricœur: Die Symbolik des Bösen, 373. 9 Ebd., 357.
178 Schluss
denn damit würden wir uns erneut im Bereich der Erscheinungen bewegen und müssten nach einem weiteren verursachenden Grund suchen. Die Behauptung von der letztlichen Unerklärlichkeit des Bösen erfolgt also aus systematischen Gründen: dem radikalen Bösen entspricht der radikal freie Wille.10 Die Unerklärbarkeit bedeutet keine Irrationalität im Verhältnis zum Bösen. Aus rational-sachlichen Gründen sehen wir ein, dass wir keine letzte Ursachen für freie Entscheidungen nennen können. Da das Böse letztlich auf die Willensfreiheit zurückgeführt werden muß – unter Einschluß des von Ricœur betonten Unwillentlichen, das ebenfalls eine willentliche Selbstbindung darstellt – kann es somit aus systematischen Gründen nicht erklärt werden, wie Kant zeigt. Die böse Tat anders als in der Willensfreiheit gründend erklären zu wollen, hieße, sie auf eine in der Zeit vorhergehende Ursache zu beziehen und somit auf eine kausale Naturursache. Durch eine solche kausale Erklärung wird aber die Tat eben nicht in ihrem moralischen Kern gefaßt. Dass Kant den letzten Grund für die intelligible Tat, die den Hang zum Bösen begründet, für unbegreiflich hält, bedeutet keine Willkür der Entscheidung, als ob es sich um eine indifferente Entscheidung handeln würde, die sich sowohl zum Guten als auch zum Bösen wenden könnte. Kants Position führt also nicht zu einem puren Dezisionismus. So behält das von Kant formulierte, jedoch bereits von Platon11 gesehene und in neuerer Zeit von Levinas12 erneut hervorgehobene, Primat der praktischen Vernunft ihr Recht auch angesichts des Bösen. So wird nicht nur der Frage nach dem Wesen des Bösen die Basis für eine erschöpfende theoretische Antwort entzogen, sondern sogar der Frage nach dem woher. Die Frage nach dem Bösen stellt sich letztlich als eine Frage dar, die auf die Praxis des Menschen abzielt. Die entscheidende Frage ist nicht mehr woher das Böse kommt oder welche Ursache das Böse 10 Diese Interpretation vertritt u. a. Richard Bernstein: Radical Evil. A philosophical Interrogation, 45: »Human beings are responsible for the choices they make, but ultimately, we cannot explain why they make the moral choices they do; we cannot explain ›the ultimate subjective ground of the adoption of moral maxims‹ – whether for good or for evil. Not only is this inscrutable; it must be inscrutable, because this is what it means to be a free and responsible person.« 11 Das Primat der praktischen Vernunft äußert sich bei Platon unter anderem an der Bestimmung der höchsten Idee, die in erster Linie nicht als eine Idee des Wahren (die sie selbstverständlich auch ist), sondern als eine Idee des Guten – ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ – bestimmt wird (Politeia 505a). Auch das Ziel des wahrhaft Philosophierenden, das als eine »Anähnlichung an Gott soweit wie möglich« (ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν) vorgestellt wird, ist in der höchst möglichen Gerechtigkeit zu sehen, da Gott »niemals auf keine Weise ungerecht [ist], sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der Gerechteste (ϐικαιότατος) ist« (Theaitetos 176bc). So wird auch die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) nicht als eine Tugend unter den anderen charakterisiert, sondern als diejenige, die alle Tugenden erst in eine vollkommene Harmonie bringt. Vgl. Politeia 443d. 12 Das ganze philosophische Denken von Levinas ist der Erweisung der Ethik als der ersten Philosophie gewidmet. Vgl. u. a. TI, 281: »La morale n’est pas une branche de la philosophie, mais la philosophie première.«
Schluss 179
hat, sondern was ich gegen das Böse tun kann, wie soll ich mich angesichts des Bösen verhalten. Auf den Vorrang der Praxis vor der Theorie angesichts des Phänomens des Bösen deutet schon der Platonische Dialog Phaidon.13 Sokrates zeigt sich in seinem letzten Gespräch im Gefängnis überzeugt, dass der Tod – durch ein ungerechtes Gerichtsurteil herbeigeführt (somit trifft der Tod Sokrates nicht nur als etwas Übles, sondern zugleich als etwas Böses) – ihn zu einer größeren Glückseligkeit und seinen Freunden zum besseren Verständnis eines guten Lebens verhelfen wird.14 Indem es Sokrates gelänge, diese Einsicht in seinem Leben kurz vor dem Tode glaubhaft zu machen, würde sich zeigen, dass die entscheidende Frage angesichts des Bösen nicht diejenige ist, die nach der Ursache des Bösen fragt. Die letztlich entscheidende Frage zielt auf unser Verhalten: Ob und wieweit wir uns angesichts des Bösen Hoffnung bewahren können und in der Lage sind, uns dem Bösen in uns und in der Welt zu stellen. Das Böse bleibt auch weiterhin sowohl für das Denken als auch für das Handeln ein herausforderndes Problem, das jedoch nicht als eine Aporie zu verstehen ist, die den Menschen ratlos zurücklässt. Beim Phänomen des Bösen handelt sich um ein wahrhaftes Problem, das uns in Spannung hält und indem es uns auf uns selber zurückwirft, unserer Existenz Gewicht und Ernst verleiht. Die Tatsache, dass es offensichtlich keine befriedigende Antwort auf die Problematik des Bösen gibt, hält den Menschen in seiner Unsicherheit offen für ein weiteres Suchen. Die Unabgeschlossenheit der Frage nach dem Bösen verweist den Menschen auf seine »metaphysische Naturanlage« im Sinne Kants, die notwendigerweise Fragen stellen muß, auf die sie keine Antworten bekommen kann. So lässt sich mit Kant sagen, dass auch das Phänomen des Bösen in seiner theoretischen und praktischen Unfaßbarkeit den Menschen antreibt, »den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind« (KpV A 193).
13 Die folgende Interpretation vertritt Šte ˇ pán Špinka in seinem Buch Duše a zlo v dialogu Faidón [Die Seele und das Böse im Dialog Phaidon], 95. 14 Vgl. u. a. Phaidon 63e–64a und 67b–69d.
Siglen Kant-Siglen orientieren sich nach den Richtlinien der Kant-Studien. AugustinusSiglen orientieren sich nach den Richtlinien des CAG und des Augustinus Lexikons. AA
Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe (Kant)
Anth
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Kant)
ciu.
De civitate Dei (Augustinus)
conf.
Confessiones (Augustinus)
DEHH
En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger (Levinas)
Ethik-Menzer
Eine Vorlesung Kants über Ethik (Kant)
GMS
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant)
gr. et pecc. or.
De gratia Christi et de peccato originali (Augustinus)
JS
Jenseits des Seins (Levinas)
KpV
Kritik der praktischen Vernunft (Kant)
KrV
Kritik der reinen Vernunft (Kant)
KSA
Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Nietzsche)
KU
Kritik der Urteilskraft (Kant)
lib. arb.
De libero arbitrio (Augustinus)
Log
Logik (Kant)
MAM
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (Kant)
mend.
De mendacio (Augustinus)
Mp
Metaphysik (Aristoteles)
MpVT
Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (Kant)
MSRL
Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Kant)
MSTL
Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Kant)
NE
Nikomachische Ethik (Aristoteles)
NTH
Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (Kant)
Prol
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (Kant)
Refl
Reflexion (Kant)
retr.
Retractationes (Augustinus)
182 Siglen
RGV
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant)
SF
Der Streit der Fakultäten (Kant)
Simpl.
Ad Simplicianum (Augustinus)
SpA
Die Spur des Anderen (Levinas)
spir. et litt.
De spiritu et littera (Augustinus)
S. th.
Summa theologica (Thomas von Aquin)
TI
Totalité et Infinie (Levinas)
TU
Totalität und Unendlichkeit (Levinas)
TP
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (Kant)
VNAEF
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (Kant)
VRML
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (Kant)
VT
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (Kant)
WDO
Was heißt: sich im Denken orientieren? (Kant)
WW
Weischedel-Ausgabe (Kant)
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Besondere Empfehlung des Norddeutschen Rundfunks und der Süddeutschen Zeitung auf der Sachbuchbestenliste:
Chronik der philosophischen Werke Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert Erarbeitet von Arnim Regenbogen XX, 639 Seiten. 978-3-7873-2241-1. Kartoniert.
Diese Chronik verzeichnet und beschreibt die seit der Erfindung des Buchdrucks publizierten Hauptwerke der Philosophie – einschließlich der Erstdrucke der bis dahin nur handschriftlich überlieferten antiken und mittelalterlichen Texte. Sie eröffnet die Möglichkeit, getrennt erschienene aber evtl. in Wechselwirkung stehende Werke miteinander in Verbindung zu setzen. Die Chronik der philosophischen Werke bildet eine kongeniale Ergänzung zum Programm der »Philosophischen Bibliothek«. »Sehr nützliche Chronik ... Zum Glück wird es einem nicht leichter als möglich gemacht.« Süddeutsche Zeitung »Ungemein spannend ... gute Einleitungen«
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