Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit?: Verfassungstheoretische und demokratietheoretische Anforderungen an die verfassungsändernde Gewalt auf Grundlage eines dualistischen Rechtsverständnisses zwischen Sein und Sollen [1 ed.] 9783428552191, 9783428152193

Die Arbeit geht der Frage nach, wie und durch wen das Grundgesetz und Verfassungsrecht im Allgemeinen geändert werden kö

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Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit?: Verfassungstheoretische und demokratietheoretische Anforderungen an die verfassungsändernde Gewalt auf Grundlage eines dualistischen Rechtsverständnisses zwischen Sein und Sollen [1 ed.]
 9783428552191, 9783428152193

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1354

Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit? Verfassungstheoretische und demokratietheoretische Anforderungen an die verfassungsändernde Gewalt auf Grundlage eines dualistischen Rechtsverständnisses zwischen Sein und Sollen

Von

Johannes Natus

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANNES NATUS

Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit?

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1354

Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit? Verfassungstheoretische und demokratietheoretische Anforderungen an die verfassungsändernde Gewalt auf Grundlage eines dualistischen Rechtsverständnisses zwischen Sein und Sollen

Von

Johannes Natus

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15219-3 (Print) ISBN 978-3-428-55219-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85219-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren 2013 bis 2015 während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier. Sie wurde im Februar 2016 vom Fachbereich Rechtswissenschaft als Dissertation angenommen. Die Idee zur Promotion kam auf während des Studiums und verfestigte sich in der Zeit der Vorbereitung auf das erste Staatsexamen – einer Zeit, in der eine immer größer werdende Masse an juristischem Stoff gelernt und wiederholt werden will, ohne dass man sich einzelnen interessanten Problemen, die einem begegnen, allzu tiefgreifend widmen könnte. Begegnungen dieser Art legten es nahe, sich im Anschluss an das Studium für genau diese Art von tiefergreifender Beschäftigung Zeit zu nehmen. Einige Werke können als besonders wegweisend und inspirierend bei der Themensuche und auch im Hinblick auf das der Arbeit zugrundeliegende Rechtsverständnis bezeichnet werden. Sie prägen die Arbeit unverkennbar und sollen hier besonders hervorgehoben werden. Es handelt sich um „Völkerrecht und Landesrecht“ von Heinrich Triepel (1899), „Verfassungslehre“ und „Legalität und Legitimität“ von Carl Schmitt (1928, 1932), „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen (1934) sowie um „Die Identität der Verfassung“ von Paul Kirchhof (2004). Das Gelingen der Arbeit verdanke ich vielen Menschen. Großer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Alexander Proelß. Durch ihn habe ich eine ideale Betreuung des Projektes erfahren, die sich in jederzeitiger, auch kurzfristiger Ansprechbarkeit, offenen, kritischen Gesprächen und wertwollen Hinweisen geäußert hat. Besonders hervorzuheben ist das große Vertrauen, das seinerseits von Beginn an in meine Arbeit bestand und das mir ein hohes Maß von inhaltlicher Freiheit und Eigenständigkeit erlaubt hat. Professor Dr. Timo Hebeler danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Maßgeblich zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen haben die idealen ­ rbeitsbedingungen, die ich am Institut für Rechtspolitik vorgefunden habe A und die ich hoch zu schätzen weiß. Stellvertretend dafür sowie auch ganz persönlich möchte ich dem geschäftsführenden Direktor des Instituts, Professor Dr. Thomas Raab, für die langjährige gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken, ob als studentische Hilfskraft während des Studiums oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Meinen Kolleginnen und Kollegen

6 Vorwort

und Freunden am Institut Linda Lieber, Hanna Kullmann, Norman Koschmieder und Dominic Poster gilt besonderer Dank. Schließlich danke ich meiner ganzen Familie, auf deren Rückhalt und Unterstützung ich zu jedem Zeitpunkt zählen konnte und kann. Ihnen widme ich diese Arbeit. Trier, im Januar 2017

Johannes Natus

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Kapitel 1 Recht 

24

A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Der Dualismus von Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Die Natur schafft Fakten, der Mensch Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die Absage an das Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Der Zwang als Ausdruck spezifischer Legitimität  . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Zwang und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Zwang inwieweit Teil der Norm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Rechtserzeugung und Geltungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Begründung, Rechtfertigung und Legitimität des Zwangs . . . . . . . . 41 2. Die Bedeutung von Wirksamkeit und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 B. Die von I. II.

innere Betrachtung: Recht als Inhalt von Normen, Normen als Inhalt Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Recht und Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Rechtsnorm und Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

C. Die Person als Bezugspunkt allen Rechts   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 D. Die Koordinationsordnung als primitive Form des Rechts  . . . . . . . . . . . . . 53 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 2

Die Rechtsordnung 

56

A. Die Charakteristika der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 B. Der Stufenbau der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Die Hierarchie der Normgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II. Keine Hierarchie der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Das Fehlerkalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

8 Inhaltsverzeichnis C. Die Einheit der Rechtsordnung und der Charakter der Kollisionsregeln . . .   66 I. Der Normkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 II. Lex superior derogat legi inferiori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 III. Lex posterior derogat legi priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 IV. Lex specialis derogat legi generali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 V. Verbleibender Raum für Normkonflikte und deren Lösung . . . . . . . . . 72 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Kapitel 3

Die Spitze der staatlichen Rechtsordnung: Der Souverän 

77

A. Die Notwendigkeit eines souveränen Willens an der Spitze der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Keine Geltung des Mehrheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Das Volk im Konsens als verfassunggebende Gewalt? . . . . . . . . . . . . . 82 III. Ein Grundkonsens als Begründung des Souverän? . . . . . . . . . . . . . . . . 83 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 B. Die Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 IV. Bewertung der Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 C. Die Identifikationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 I. Die Identifikationstheorie als Gesellschafts-„Vertrag“ der Moderne . . 95 II. Das Wesen der Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 III. Identifikation als Voraussetzung elementarer Staatlichkeit . . . . . . . . . . 101 IV. Das Problem der tatsächlichen Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 V. Identifikation als permanenter Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Das spezifisch Nicht-Normative am Identifikationsmodell . . . . . . . . . . 104 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 D. Der Gemeinwille  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 I. Die Natur des Gemeinwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Der Gemeinwille in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Bedeutung und Tragweite des Konzepts eines Gemeinwillens als Souverän . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 E. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Inhaltsverzeichnis9 Kapitel 4

Verfassung und Verfassungsrecht 

117

A. Keine Determiniertheit von Verfassungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I. Die formelle Abgrenzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Verfassungsdokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Erhöhte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Erhöhte Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Die materielle Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Bestimmte inhaltliche Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Bestimmte konkrete Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 C. Eigener formeller und materieller Verfassungsbegriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Verfassung im materiellen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Verfassung im formellen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 D. Materielles Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 I. Jellinek und die normative Kraft des Faktischen . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 II. Mögliche Geltungsgründe des „Gewohnheitsrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Bloßes Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Positive Einsetzung als rechtsetzender Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Nicht-normative Regeln des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Rechtsetzung durch den Volksgeist – die historische Rechtsschule . 135 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 E. Recht und Sprache – Parallelen zwischen zwei Kulturgütern  . . . . . . . . . . . 137 F. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Kapitel 5

Verfassung und Volk 

141

A. Das Volk vor oder über der Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 B. Das Volk nach oder in der Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 C. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kapitel 6

Verfassung und Staat 

147

A. Der Staat als Völkerrechtssubjekt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Der Staat als Verkörperung des Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

10 Inhaltsverzeichnis II. III. IV. V.

Souveränität nach innen und außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Analogie zum Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Identität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Entstehung und Untergang von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

B. Der Staat im staatsrechtlichen Sinne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 I. Staatlichkeit als das durch die Rechtsordnung Vergemeinschaftete  . . 154 II. Staatlichkeit als Gegensatz zu Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 III. Gemeinwohlverpflichtung alles Staatlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 C. Folgerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Kapitel 7

Recht und Demokratie 

159

A. Demokratie als Herrschaft des Volkes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 I. Demokratie als normatives Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 II. Streit um Begrifflichkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 III. Demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Kopplung allen Rechts an den Willen des Volkes . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Gleichwertigkeit aller Stimmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 IV. Der Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimation . . . . 168 V. Repräsentation und Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 B. Das Majoritätsprinzip  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I. Grundlagen des Mehrheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 II. Die einfache Mehrheit als Wesensmerkmal der Demokratie – „demokratische Legitimität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Bedeutung der relativen Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Legitimitätsmittlung und Legitimitätsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 C. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Kapitel 8

Die internationale Dimension – Die Europäische Union als Rechtsordnung? 

191

A. Der völkerrechtliche Hintergrund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 B. Umriss der Problematik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 C. Legitimation des EU-Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Allgemeines zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht . . . 194 II. Die Legitimation des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Die Legitimation des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 D. Konsequenz für die Frage der Rechtsordnung – die no-demos-These  . . . . 200

Inhaltsverzeichnis11 E. Keine (Bürger-)Verfassung auf völkerrechtlichem Fundament  . . . . . . . . . . 204 F. Probleme der Demokratisierung der EU – Ausdruck des nicht vorhandenen europäischen Volkes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 G. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – Ausdruck der einzelstaatlichen Souveränität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 H. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kapitel 9

Die Änderung der Verfassung (abstrakt) 

211

A. Mögliche Objekte einer Änderung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I. Austausch der verfassunggebenden Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 II. Austausch oder Änderung der Verfassung im materiellen Sinne . . . . . 212 III. Änderung lediglich der Verfassung im formellen Sinne . . . . . . . . . . . . 213 IV. Gegenstand weiterer Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 B. Die Begriffe: Verfassunggebung und Verfassungsänderung  . . . . . . . . . . . . . 214 I. Verfassungsänderung gleich Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 II. Die Möglichkeit der Delegierung einer Änderungskompetenz . . . . . . . 215 1. Normale delegierte Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Deklaratorischer Hinweis auf die eigene Änderungskompetenz . . . 216 3. Konstitutive Reglung der eigenen Kompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4. Echte Änderungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 C. Begriffliche Alternativen für „Verfassunggebung“ und „Verfassungsänderung“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 D. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Kapitel 10

Die Rechtsordnung des Grundgesetzes 

223

A. Das Grundgesetz zwischen Verfassung im materiellen Sinne und Verfassung im formellen Sinne   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 I. Befund einzelner Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6. Sozialstaatsprinzip bzw. Solidaritätsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

12 Inhaltsverzeichnis 7. Föderalismus- / Bundesstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8. Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 9. Verfahren der Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 II. Art. 79 Abs. 3 GG selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 C. Die Setzung des materiellen Verfassungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. Legitimation aus eigener Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Die „verfassungsändernde Gewalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Das Ur-Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 II. Anforderungen des materiellen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Ablehnung des Art. 79 Abs. 1, 2 GG als konstitutive Bestimmung . 239 2. Das Demokratieprinzip als konstitutive Bestimmung . . . . . . . . . . . . 240 III. Anwendung auf die Genese des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Ausarbeitung und Annahme durch den Parlamentarischen Rat  . . . 246 2. Annahme durch die westdeutschen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3. Ausfertigung durch den Parlamentarischen Rat und Inkrafttreten . . 250 4. Nachträgliche Legitimation durch Bundestagswahl und Verfassungskonsens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 IV. Anwendung auf die „verfassungsändernde Gewalt“ . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Das Problem der Zweidrittelmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Subjektiver Tatbestand des Organs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 V. Ergebnis zur rechtlichen Legitimation des formellen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 E. Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 I. Die Legitimation des einfachen Rechts aus der Verfassung im formellen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 II. Die zwei gesetzgebenden Funktionen des Bundestages . . . . . . . . . . . . 258 F. Das einfache Parlamentsrecht und die Rechtsverordnung  . . . . . . . . . . . . . . 260 Kapitel 11

Der Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimität in der Rechtsordnung des Grundgesetzes 

261

A. Die demokratische Legitimität des Verfassungsrechts im materiellen Sinne   262 B. Das Verfassungsrecht im formellen Sinne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Das Ur-Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 II. Art. 79-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 C. Das einfache Parlamentsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 D. Die Rechtsverordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Inhaltsverzeichnis13 E. Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 I. Geltungsvorrang bei gleicher demokratischer Legitimität . . . . . . . . . . . 266 II. Tatsächlicher und vermeintlicher Zusammenhang von Legitimation, erhöhter Geltungskraft und erhöhter Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . 267 F. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Fazit und Ausblick 

274

A. Der Charakter des formellen Verfassungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 B. Grenzen der Änderung des Verfassungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 C. Optionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 I. Volksentscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 II. Volksversammlung (als zur Verfassungsänderung gewähltes Organ) . . 277 III. Doppelte Parlamentsmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Einleitung Der Erschaffer eines jeden Werkes sieht sich mit zwei Sphären konfrontiert: zum einen mit seinem Werk, dessen Gestaltung als Produkt seines Schaffens er selbst – im Rahmen des ihm Möglichen – in den Händen hält, zum anderen mit dem „Rahmen des Möglichen“, der Sphäre, in der die Bedingungen, die Regeln, nach denen sich sein Schaffen richten muss, liegen. Genauso wenig, wie der Erschaffer auf diese zweite Sphäre Einfluss hat, genau so klar behält er immer die Kontrolle über sein Werk. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Werk der verfassunggebenden Gewalt, scheint in zweifacher Weise davon abzuweichen. Erstens legt der Erschaffer darin selbst diese Regeln fest, nach denen das Grundgesetz geändert werden soll, zweitens scheint er die Macht über sein Werk damit aus der Hand zu geben. Das Grundgesetz regelt in Artikel 79, wie seine Vorgänger-Verfassungen1 das bereits taten, die Kompetenz zur Änderung der Verfassung im Rahmen der Verfassung selbst: Durch Parlamentsgesetz mit Zweidrittelmehrheit unter Mitwirkung des Bundesrates kann der Text des Grundgesetzes und damit die Verfassung geändert werden. Artikel 146 GG bestimmt darüber hinaus, wie die gesamte Verfassung abgelöst werden kann. Diese Vorschriften bieten sowohl von rein theoretischer Seite als auch in der angewandten Praxis Anknüpfungspunkte für interessante Fragen. Worum geht es? Drei Fragen markieren den Ausgangspunkt dieser Untersuchung: 1. Wer bestimmt die Art und Weise, wie die Verfassung geändert wird? Ist das die Verfassung selbst? Kann sie das überhaupt sein? 2. Kann auf diese Art und Weise – nach den Regeln der Verfassungsänderung – jeder beliebige Inhalt zum Verfassungsrecht erhoben werden oder gibt es Grenzen? 3. Was unterscheidet das „verfassungsändernde Gesetz“ vom „einfachen“ Gesetz? Was verleiht ihm möglicherweise eine höhere Legitimität? 1  Vgl. Art. 78 der Reichsverfassung vom 16. April 1871 und Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919.

16 Einleitung

Zusammengefasst ist das Augenmerk in der vorliegenden Abhandlung also gerichtet auf den Charakter dieser Änderungskompetenz und des von ihr geschaffenen Rechts. Sie untersucht, wie sich diese Kompetenz legitimieren kann und ob ihr verfassungstheoretische Grenzen gesetzt sind. Dabei ist in zwei Richtungen zu blicken: Denkbar erscheint eine Grenze „nach oben“, wobei nach einem Kern oder Geist der Verfassung zu fragen ist, der, im Unterschied zum übrigen Teil der Verfassung, sich einer derartigen Änderung entzieht. Es ist aber auch eine Grenze „nach unten“ denkbar, nach der nicht jeder beliebige banale Inhalt, der Gegenstand eines einfachen Gesetzes werden kann, auf Verfassungsrang erhoben werden dürfte und dadurch der Änderung durch den demokratischen „einfachen“ Gesetzgeber entzogen wäre. Diesen Grenzen der Verfassungsänderungskompetenz soll sich in rechts- und verfassungstheoretischer, aber auch in demokratietheoretischer Weise genähert werden. Der Titel vorliegender Untersuchung: „Verfassungsmissbrauch durch Zweidrittelmehrheit? – Verfassungstheoretische und demokratietheoretische Anforderungen an die verfassungsändernde Gewalt auf Grundlage eines dualistischen Rechtsverständnisses zwischen Sein und Sollen“ besteht aus zwei Teilen. Der zweite Teil beschreibt das Thema der Arbeit, er benennt den Hauptuntersuchungsgegenstand. Der erste Teil bezieht sich direkt auf den einen Pol einer denkbaren Grenze, auf die Grenze „nach unten“. Er soll die Aufmerksamkeit auf einen zentralen Gedanken der Arbeit lenken: die Frage, ob es nicht missbräuchlich ist, eine große politische Mehrheit zu nutzen, um einen beliebigen, tagespolitischen Gesetzgebungsgegenstand auf Verfassungsrang zu erheben und seine Abänderung dadurch zu erschweren.2 Die Vorgehensweise und der gedankliche Hintergrund Die Herangehensweise erfolgt grundlegend, was hier heißen soll: Am Anfang steht die Frage, was Recht ist und warum es gilt. So soll eine bestimmte Vorstellung von Recht das Fundament für eine Vorstellung, für eine hier verwendete Definition von „Verfassung“ bilden. Diese Vorgehensweise hat mehrere Gründe. Zum einen ist sie der Überzeugung geschuldet, dass den im Laufe der Arbeit gefundenen Antworten und Vorstellungen immer ein ganz bestimmtes Verständnis und eine bestimmte Definition von Begriffen zugrunde liegt – Begriffe, die in hohem Maße auslegungsfähig und -bedürftig sind und ein mannigfaltiges Bedeutungsspektrum abdecken können. Es seien als Beispiel nur Begriffe wie der des Rechts selbst oder eben „Verfassung“ sowie auch „Staat“ genannt. Diese Begriffe können vieles 2  Für eine Übersicht über die bislang erfolgten Änderungen des Grundgesetzes siehe Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Einleitung Rn. 3.

Einleitung17

bedeuten, zum einen je nach dem, in welchem Zusammenhang sie benutzt werden, zum anderen abhängig von der subjektiven Vorstellung desjenigen, der sie verwendet. Jeder Begriff kann insoweit immer nur die Abstraktion einer bestimmten Vorstellung seines Verwenders sein, und je abstrakter man diese Begriffe verwendet, je weniger man also die dahinter liegenden konkreten Vorstellungen benennt, desto höher ist das Potential für Fehldeutungen.3 Der Satz „Jeder Mensch ist gleich“ ist ebenso selbstverständlich richtig wie der Satz „Jeder Mensch ist unterschiedlich.“ Es sind keine unterschiedlichen Auffassungen, wenn der eine den einen Satz sagt und der andere den anderen, obwohl die Sätze sich zu widersprechen scheinen. Der Scheinwiderspruch löst sich auf, wenn man berücksichtigt, dass die Gegensätze „gleich“ und „unterschiedlich“ in ihrem jeweiligen Zusammenhang den Menschen unter unterschiedlichen Aspekten betrachten. Alle Menschen haben einen gewissen Grad an Gleichheit. Das ist alles das, was sie als Mensch aus einem biologischen Blickwinkel qualifiziert. Ebenso ist kein Mensch wie jeder andere, jeder unterscheidet sich von allen anderen: Hier betrachtet man den Menschen als Individuum, hat man die Persönlichkeit im Blick. Im genannten Beispiel ist die unterschiedliche Verwendung offensichtlich. Das ist aber nicht immer so. Diese Erkenntnis als Argument für eine grundlegende Herangehensweise ist keine Besonderheit des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes. Insofern bedarf es einer gewissen Rechtfertigung, warum es gerade für die Frage nach den Anforderungen an und Grenzen einer Verfassungsänderungskompetenz dieser grundlegenden Herangehensweise bedarf und warum diese dann nicht in jeder wissenschaftlichen Untersuchung herangezogen werden müsste. Die Überzeugung, dass eine fundamentale Darlegung des Rechtsverständnisses des Autors – in begrenztem Umfang selbstverständlich – geeignet ist, ein viel besseres Verständnis und eine viel bessere Einordnung der letztlich gefundenen Thesen und Antworten zu ermöglichen, soll aber zumindest in dieser Dissertation als Begründung dienen. Die Überzeugung davon ist der Erfahrung geschuldet, dass viele scheinbar grundlegend divergierende Überzeugungen und Verständnisse in der Sache gar nicht so weit von einander entfernt liegen, dass viele Widersprüche in Wahrheit nur Scheinwidersprüche sind. Man muss nur einmal zwei vordergründig entgegengesetzte Auffassungen zweier Autoren im Hinblick auf die Wertung eines Begriffs genauer untersuchen, und diesen Begriff, der ja nur eine Abstraktion eines individuellen Verständnisses des jeweiligen Autors ist, durch das beim jeweiligen Autor tatsächlich dahinterliegende Substrat, seine Vorstellung, ersetzen. Man wird nicht selten feststellen, dass letztlich 3  Für ein Beispiel dieses ganz allgemeinen Problems vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 18 f.

18 Einleitung

gar keine unterschiedliche Bewertung dieses Begriffs vorliegt. Vielmehr werden zwei jeweils unterschiedliche Sachverhalte bewertet, dann aber mit demselben Begriff versehen, während beide Autoren aber ein und denselben Sachverhalt, auch wenn sie ihn anders nennen würden, gleich bewerten würden. Gerade im Umgang mit Begriffen, die in vielen unterschiedlichen Bedeutungen genutzt werden – Recht, Staat, Verfassung etc. – gilt diese Vermischungsgefahr.4 Georg Jellinek beschrieb dieses Problem vor über hundert Jahren in Bezug auf den Staat als Untersuchungsgegenstand wie folgt: „Die Verkennung und Verwischung des hier dargelegten Unterschiedes ist Ursache der verhängnisvollsten Irrtümer bis auf die Gegenwart he­rab geworden. Die juristische Natur des Staates und seiner Institutionen wird fortwährend mit seiner sozialen Realität vermischt. Ja, daß es mehrere Erkenntnisweisen des Staates gebe, ist überhaupt noch nicht zu klarem Bewußtsein durchgedrungen.“5 Ins Bewusstsein durchgedrungen ist dieses Problem heute sicherlich, aber eben jenes Bewusstsein sollte Grund genug sein, mithilfe einer konsequenten Herleitung des Verständnisses von Verfassung und Rechtsordnung ein höheres Maß an Eindeutigkeit herzustellen und Missverständnissen vorzubeugen. Vor allem aber baut diese Arbeit konsequent auf den grundlegenden Begriffen auf: Das zunächst dargestellte Rechtsverständnis dient als Grundlage für eine bestimmte Definition von Verfassung, und diese Definition wiederum ist die erforderliche Grundlage für die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt und letztlich der Frage, wie die Verfassung geändert werden kann und wer dazu befugt ist. Zudem wird die Frage nach Grenzen der verfassungsändernden Gewalt aus der Perspektive des Nicht-Normativen gestellt, also als Frage nach Grenzen, die sich „aus der Natur der Sache“ ergeben. Diese Frage kann aber schlicht nicht beantwortet werden, ohne sich eingehend mit der „Natur der Sache“, und dazu gehört auch die Beschäftigung mit Recht an sich, zu befassen. Damit erscheint die grundlegende Herangehensweise nicht nur als rechtfertigungsbedürftig, sondern vielmehr sogar als unentbehrlich. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Weiteres der Klarstellung bedürftig. Indem diese Untersuchung großen Wert legt auf Klarheit über die hinter bestimmten Begriffen stehende Vorstellung, kommt es an vielen Stellen zu terminologischen Zuordnungen. Begriffe wie der der Rechtsordnung oder der der Demokratie werden in einer bestimmten, individuell hergeleiteten Bedeutung genutzt. Dabei soll diese Definition aber gerade keine allgemeingültige oder gar exklusive Geltung beanspruchen, sondern sich auf den Anwendungsbereich dieser Untersuchung beschränken. Daraus ergibt sich 4  Zu diesem Problem, selbst innerhalb von Gesetzestexten, vgl. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 43 ff. 5  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 139.

Einleitung19

aber zugleich, dass diese Zuordnungen von bestimmten Begriffen zu bestimmten Vorstellungen nicht den Charakter einer These haben. Als These müssten sie umfassend begründet und gerechtfertigt werden. Hier dürfte es hingegen genügen, dass diese Begriffe nicht in einer vom Wortsinn abweichenden Weise verwendet werden, und im Übrigen bedarf einer kritischen Hinterfragung nicht die Verwendung dieser Begriffe als vielmehr die behaupteten Zusammenhänge der jeweiligen dahinterstehenden Sachverhalte. Die Untersuchung soll eine verfassungstheoretische sein. Damit ist gemeint, dass sie von einem Blickwinkel ausgeht, der weniger auf das Normierte gerichtet ist, sondern – darüber oder davor – vom Standpunkt der Frage ausgeht, was überhaupt normiert werden kann.6 Die aufgeworfenen Fragen sollen nicht durch einen Blick in das Normierte, beispielsweise in das Grundgesetz, beantwortet werden, sondern es soll vielmehr erarbeitet werden, welche theoretisch denkbaren Antworten auf diese Fragen überhaupt existieren, wobei alles Normierbare sich logischerweise erst daraus ergeben kann. Ein Beispiel: Man kann die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht zu staatlichem Recht einmal beantworten, indem man einen Blick in das Grundgesetz wirft und mit Verweis auf die Artikel 25 und 59 Abs. 2 GG feststellt, dass in Deutschland die Theorie des gemäßigten Dualismus „herrscht“. Man kann aber auch an diese Frage herangehen, indem man grundsätzlich nach dem Verhältnis einer staatlichen Rechtsordnung zum Völkerrecht fragt und dabei die gefundene Antwort als Grenze oder als Rahmen des verfassungsrechtlich Normierbaren ansieht. Man kann fragen, ob diese Entscheidung, wenn sie denn überhaupt normierbar ist, dem Verfassunggeber zur Disposition steht, ob die Verfassung, die ja selbst Teil einer nationalen Rechtsordnung ist, dieses Verhältnis überhaupt regeln kann oder bestimmten Bedingungen schlicht ausgesetzt ist. Diesem Ansatz liegt die Denkweise zugrunde, dass gewisse rechtliche Fragestellungen ihre Antwort nicht in beliebiger Normierung finden können, sondern in Rechtstheorie, nicht in den Regeln des Rechts, sondern in den Regeln über das Recht, also in Nicht-Normativem. Bestimmte rechtstheoretische Fragen finden ihre Antwort in der Natur des Rechts, nicht in seinem Inhalt. Auf das genannte Beispiel bezogen: Kann die Verfassung überhaupt konstitutiv regeln, wie das Verhältnis der durch sie verfassten Rechtsordnung zum Völkerrecht aussieht, oder existiert nicht vielmehr zwingend ein bestimmtes Verhältnis, dem auch die Verfassung schlicht ausgesetzt ist? Eine entsprechende Normierung in der Verfassung könnte dann allenfalls deklaratorischen Charakter haben oder aber den Autor der Verfassung in einem akademischen Streit 6  Zu den Bedeutungen des Begriffs der Verfassungstheorie vgl. insgesamt Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt.

20 Einleitung

über diese Frage in einem bestimmten Lager positionieren. In dieser Untersuchung geht es somit nicht um die Frage, welche Grenzen der Kompetenz zur Verfassungsänderung im Grundgesetz normiert sind. Diese Frage müsste sich hauptsächlich mit der Auslegung des Art. 79 GG beschäftigen. Es geht um die Frage, ob eine solche Kompetenz von vornherein zwingenden verfassungstheoretischen, nicht-normativen Grenzen unterliegt, welche überhaupt nicht zur Disposition der Verfassung stehen. Es geht um Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht aus dem Inhalt von Recht ergeben, sondern diesem vorausgehen. Dass solche Gesetzmäßigkeiten irgendwie existieren müssen, darauf weist auch der sooft bemühte Hinweis auf die sogenannten „Denkgesetze“ hin, die bei der juristischen Arbeit oftmals eine Rolle spielen. Dem liegt ein Dualismus zugrunde, der die gesamte Arbeit wie ein roter Faden durchzieht und das gesamte ihr zugrunde liegende Rechtsverständnis prägt. Es ist der Dualismus zwischen dem, was rechtlich normierbar ist und deshalb gilt, weil es rechtlich normiert ist, weil es Recht ist, weil es so sein soll, und dem, was quasi „naturwissenschaftlich“ gilt, ohne dass der Mensch Einfluss darauf hat, also dem, was gilt, weil es den sogenannten Denkgesetzen entspricht, weil es der Natur der Dinge entspricht, weil es schlicht so ist. Es ist der Dualismus zwischen Sein und Sollen7. Recht kann unter beiden Aspekten betrachtet werden, also einmal aus der Sicht: Was gilt, weil es rechtlich normiert ist?, und zum anderen: Was ist Recht, weil es den nicht-normativen Voraussetzungen von Recht entspricht, und wie lauten diese (naturgesetzlichen, nicht-normativen, rechtslogischen, „metajuristi­ schen“8) Voraussetzungen? Das ist die grundlegendste Frage des Rechts überhaupt, bei der dieser Dualismus eine Rolle spielt: Die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts. Und selbstverständlich gibt es darauf keine ­normative Antwort, sondern eine „naturwissenschaftliche“, jedenfalls eine nicht-­ normative. „Der ‚Rechtsgrund‘ der Geltung des Rechts ist kein rechtlicher.“9 Auf diese zweite, „naturwissenschaftliche“ Art und Weise soll sich der Frage, wie die Verfassung geändert werden kann, genähert werden. Es geht aber auch darum zu zeigen, dass die Methode der Trennung zwischen Nicht-Normativem und Normativem, zwischen Sein und Sollen, mehr liefert als nur die Ablehnung von Naturrecht zugunsten des Positivismus. Sie liefert ein umfassendes, insgesamt schlüssiges Modell einer Rechtsordnung. Die wissenschaftliche Methode der Untersuchung ist eine Kombination aus Induktion und Deduktion. Es wird zunächst aus gewissen Grundannahmen in Bezug auf den Menschen auf ein größeres, allgemeineres Ganzes Kelsen, Reine Rechtslehre, 6 ff. Völkerrecht und Landesrecht, 82. 9  Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 82. 7  Vgl.

8  Triepel,

Einleitung21

induziert, nämlich auf die Natur des Rechts und den Aufbau der Rechtsordnung. Aus der Natur des Ganzen werden dann mit Blick auf einzelne Fragen – insbesondere die nach der Änderung der Verfassung – deduktiv Rückschlüsse gezogen. Der Gang der Untersuchung Zwei Untersuchungsbereiche, die oben bereits konkreter beschrieben worden sind, markieren den Ausgangspunkt: Zum einen die Frage nach dem Charakter des gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG erlassenen Rechts. Zum anderen die Frage, wer die verfassungsändernde Gewalt innehat und welchen genaueren Umfang diese Gewalt(en) unfasst / umfassen. Kapitel 1 widmet sich auf ganz grundlegende Weise dem Phänomen Recht. Da die gesamte Arbeit auf bestimmten Grundannahmen beruht, die jeder haben muss, der sich mit einem rechtlichen Thema befasst, wird es dem Verständnis und der Schlüssigkeit der Arbeit dienen, wenn diese Grundannahmen zu Beginn auch benannt werden. Zu diesen Grundannahmen zählen vor allem zwei Dinge: Die Souveränität des Menschen sowie der Dualismus von Sein und Sollen. Beides führt zu einer positivistischen und normativistischen Auffassung vom Recht. Auf diesem Fundament wird in Kapitel 2 der Begriff einer Rechtsordnung definiert, um sich damit den komplexen rechtlichen Strukturen, wie sie in der Praxis (insbesondere in Staaten) auftreten, zu nähern. Geprägt ist dieser Begriff der Rechtsordnung durch seinen hierarchischen Aufbau und durch seine Abgeschlossenheit nach außen. Das zweite Kapitel wird zeigen, dass das Konzept der Rechtsordnung auf einen Souverän an seiner Spitze angewiesen ist, der als letztes Legitimationsund Integrationsmoment die Rechtsordnung identifiziert. So widmet sich Kapitel 3 ganz der Herleitung und Begründung des Souverän und speist dabei einerseits aus den Anforderungen an diese Instanz, die sich aus dem zweiten Kapitel ergeben, sowie aus den Grundannahmen, die im ersten Kapitel erläutert wurden. Dieser Weg führt zum Prinzip der Volkssouveränität. Kapitel 4 verbindet die in den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse über die Natur des Rechts, den Aufbau der Rechtsordnung und den Souverän an der Spitze der Rechtsordnung und gewinnt daraus einen materiellen sowie einen formellen Verfassungsbegriff. Diese beiden Verfassungsbegriffe werden im weiteren Verlauf der Arbeit ausschließlich zugrunde gelegt. Die Kapitel 5 und 6 stellen die Begriffe Volk und Staat jeweils in den Kontext des zuvor gewonnenen (vor allem materiellen) Verfassungsbegriffs

22 Einleitung

und dienen damit insbesondere der Abrundung eines somit insgesamt überzeugenderen Konzepts einer Rechtsordnung, in der die Begriffe Verfassung, Staat und Volk gewissermaßen als Grundpfeiler funktionieren. Als ein gemeinsames Ziel der Kapitel 1 bis 6 kann die Gewinnung und möglichst nahe Beschreibung eines Verfassungsbegriffs bezeichnet werden, der die Grundlage für das darstellt, was im Zuge der „Verfassungsänderung“ geändert werden soll. Kapitel 7 stellt das normative Demokratieprinzip ins Verhältnis zur normativ neutralen Konzeption der Rechtsordnung und stellt die Einflüsse dieses Prinzips auf die Rechtsetzung im Allgemeinen sowie die Konsequenzen für den Stufenbau der Rechtsordnung im Besonderen dar. Als Ergebnis dieses Einflusses wird ein Dualismus von demokratischer und rechtlicher Legitimation festgestellt: der Grundsatz, dass die höhere Rechtsebene in der Rechtsordnung über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität verfügen muss. In diesem Zusammenhang steht auch eine Behandlung des Mehrheitsprinzips, insbesondere eine kritische Betrachtung der „qualifizierten“ Zweidrittelmehrheit. Kapitel 8 ist ein Exkurs. Er geht der Frage nach, welche Konsequenzen sich für die Gestalt und Rechtsnatur der Europäischen Union und ihres Rechts ergeben, wenn man die bisher entwickelte Konzeption einer Rechtsordnung auf die europarechtliche Dimension anwendet. Aufschlussreich sind die Ergebnisse auch im Hinblick auf die gegenseitigen Berührungsoder Anknüpfungspunkte des nationalen und des europäischen Rechts. Dieser Exkurs dient der Abrundung des Konzepts der Rechtsordnung, führt also – als Exkurs – nicht direkt auf die Frage der Verfassungsänderung. Dem Begriff der Verfassungsänderung und der Rechtsänderung im Allgemeinen ist Kapitel 9 gewidmet. Dabei wird insbesondere an die in Kapitel 2 gewonnenen Erkenntnisse über die Rechtsordnung angeknüpft und festgestellt, welche Möglichkeiten zur Änderung bestehenden Rechts denkbar sind und welche Folgen diese Möglichkeiten jeweils für die Natur des geänderten Rechts haben. Die Anwendung des bis hierher gewonnen Modells einer Rechtsordnung mit den spezifischen Verknüpfungen ihrer verschiedenen Ebenen sowie den beiden in Kapitel 4 gewonnenen Verfassungsbegriffen auf die Rechtsordnung des Grundgesetzes erfolgt nun in Kapitel 10. Hier werden die Ebenen der deutschen Rechtsordnung identifiziert, entsprechendes Recht jeweils zugeordnet und relevante grundgesetzliche Bestimmungen – insbesondere natürlich Art. 79 GG – eingeordnet. Besonders wichtig sind hier die im Grundgesetz angelegten delegierten Rechtsetzungs- oder -änderungskompetenzen.

Einleitung23

Kapitel 11 führt nun alles zusammen: Hier werden die in Kapitel 8 abstrakt gewonnenen Anforderungen des Demokratieprinzips auf die in Kapitel 10 beschriebene grundgesetzliche Rechtsordnung mit ihren Rechtsetzungsund -änderungskompetenzen angewandt. Die sich daraus ergebenden Charakteristika des per Zweidrittelmehrheit gesetzten Rechts und der Erkenntnisgewinn über die Befugnis zur Verfassungsänderung stellen das Endergebnis der Arbeit dar und werden im anschließenden Fazit noch einmal hervorgehoben. Bei alledem ist die vorliegende Arbeit nicht der Versuch, zu sammeln und zusammenzutragen sowie auszuwerten, was die Rechtswissenschaft heute und in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten zur Beantwortung der Fragen nach Verfassung, verfassunggebender Gewalt, Änderung der Verfassung und zum Charakter von Recht überhaupt anzubieten hatte und hat. Dieser Versuch würde Bände füllen. Es wird vielmehr der Versuch gewagt, auf eine Fragestellung, die sich dem Verfasser während der Beschäftigung mit Verfassungsrecht gestellt hat, eine Antwort zu finden, die sich unter dem Eindruck der ausgewerteten Wissenschaft um Überzeugungskraft bemüht. Diese individuelle Antwort beansprucht nicht mehr als jene Überzeugungskraft, keineswegs aber Alleingültigkeit.

Kapitel 1

Recht Unzweifelhaft existiert „Recht“ als Phänomen. Es existiert, überall, schon immer, schon alleine deshalb, weil die Rede von ihm ist und weil es in zahlreichen Bereichen menschlichen Lebens faktisch relevant ist. Man kann aber schwerlich diese bloße irgendwie geartete Existenz von etwas, das „Recht“ genannt wird, einer ganzen Untersuchung als notwendige Voraussetzung zugrunde legen, ohne sich diesem Phänomen „Recht“ etwas genauer zu widmen, es genauer zu untersuchen, zu identifizieren, ohne es für den weiteren Gang der Untersuchung zu definieren. Um diesen „Komplex“ Recht zu verwenden, genügt nicht die Erkenntnis seiner Existenz, sondern bedarf es einer genaueren Definition. Und es erscheint kein Einstieg geeigneter in eine verfassungstheoretische Fragestellung als der über das Wesen des Rechts, da alles andere – etwa die Festlegung eines bestimmten Verfassungsbegriffs oder die Notwendigkeit einer Verfassung in einem Staatswesen als Ausgangspunkt – immer bereits zu viele Begriffe voraussetzt. Der Begriff des Rechts bildet die Basis, auf der Rechtsordnung, Verfassung und Staat beruhen, und so muss sinnvollerweise auch die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Rechts am Anfang einer Untersuchung stehen, in deren Mittelpunkt diese Begriffe stehen. „ ‚Recht‘ ist nichts Gegenständliches, Seiendes. Es ist eine Idee, eine menschliche Vorstellung.“1 Es ist „Teil der menschlichen Vorstellungen, es existiert in unseren Köpfen […]“2 Man kann sich selbstverständlich diesem geistigen Gebilde, dem Begriff „Recht“, auf zahlreiche Arten und Weisen nähern, je nach dem dabei verfolgten Zweck. Hier erscheint eine grobe Differenzierung zweckmäßig, die Recht auf eine Weise erklärt, die es in zwei Dimensionen unterteilt: die normative und die nicht-normative, die innere und die äußere Dimension. Die innere Dimension bezieht sich auf den Inhalt von Recht, auf das rechtlich Normierte. Der Inhalt der Rechtsnormen und das von ihnen aufgestellte Normensystem werden in dieser inneren Untersuchung behandelt. Die äußere Dimension betrachtet Recht als Kategorie. Recht als Kategorie, Recht als Erscheinungsform bestimmter normativer Inhalte soll zunächst betrachtet werden.3 1  Schöbener, 2  Jellinek,

Allgemeine Staatslehre, § 3 Rn. 3. Allgemeine Staatslehre, 332.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie25

A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie Bei dieser nicht-normativen Betrachtung von Recht als Kategorie, Recht als bestimmt geartetem Träger bestimmter Inhalte, soll es gerade nicht um Wertungen gehen. Es wird der äußere Charakter von Recht untersucht, nicht sein Inhalt. Es geht um die Merkmale, die jedem Recht anhaften, weil es Recht ist beziehungsweise weil diese Merkmale das Recht ausmachen, weil sie konstitutiv für diese spezifische Form von Existenz sind – um die Dinge also, die dem Recht anhaften, ohne selbst rechtlich geregelt werden zu müssen oder auch zu können. So ist beispielsweise eine Rechtsnorm, die ihre Verbindlichkeit anordnet, offensichtlich sinnlos und undenkbar.4 Die Fragen von Geltung, Verbindlichkeit und Wirksamkeit stehen vielmehr über oder außerhalb der Frage des Inhalts von Recht, und diese überrechtlichen Fragen, was Recht überhaupt ist und warum es verbindlich ist, können nur in der äußeren Untersuchung von „Recht als Kategorie“ behandelt werden. Im Rahmen dieser Untersuchung kann Recht tatsächlich als Gegenstand einer eigenen Wissenschaft betrachtet werden, die ihren eigenen, einzigartigen Gegenstand untersucht: Recht als bestimmte Form, bestimmte Kategorie von Normen. Und diese Untersuchung ist in der Tat eine wissenschaftliche, wertfreie, und vor allem, wie Kelsen richtig postuliert: (weitgehend) ideologiefreie.5 Sie folgt der „Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes“6, sie ist keine normative Wissenschaft. Die inhaltliche Seite von Recht, das Materielle also, was in Form von Recht geregelt ist, ist im Gegensatz dazu zu 100 % wertgeprägt und damit normativ, denn es geht um Normen, und diese beruhen immer auf bestimmten Werten. In dieser inhaltlichen Hinsicht kann es denklogisch kein wertfreies Recht geben, da eine Norm immer normativ, das heißt aber wertgeprägt und einen Wert ausdrückend ist.7 Ebenso ist Recht, wenn man es als Kategorie begreift, als Erscheinungsform bestimmter wertgeprägter Inhalte, aber zwingend wertfrei. Es können eben beide Seiten mit dem Begriff „Recht“ bezeichnet werden, was sicherlich für viele Scheinwidersprüche und Missverständnisse sorgt. Daher müssen hier die beiden Betrachtungsweisen, die beide auf den Begriff „Recht“ gerichtet sind, deutlich differenziert werden. Recht ist immer normativ als Inhalt von Rechtsnormen, aber nie normativ als Kategorie, als Medium, als Träger von Rechtsnormen zu verstehen. Diese zweite Betrachtungsweise soll zunächst 3  Diese Unterscheidung führt auch Kelsen durch, vgl. Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 25. 4  Vgl. Binder / Trauner, Öffentliches Recht, Rn. 316. 5  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, III (Vorwort zur ersten Auflage). 6  Kelsen, Reine Rechtslehre, III (Vorwort zur ersten Auflage). 7  Vgl. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 45.

26

Kap. 1: Recht

vorgenommen werden, sodass feststeht, was (die Natur von) Recht ist, bevor auf den Inhalt von Recht geschaut wird. Diese zwei Dimensionen soll ein Vergleich zu einem ganz anderen (als dem rechtlichen) Bereich unterstreichen. Der Vergleich erscheint sicherlich unkonventionell, ist aber dennoch geeignet, die nach innerer und äußerer Betrachtung von Recht differenzierte Untersuchung zu verdeutlichen: Man kann Recht als die Form, das Medium, als den Träger von Normen ansehen, so wie eine CD der Träger von digitalen Daten ist. So, wie Daten neben einer CD sich auch auf anderen Datenträgern befinden können, zum Beispiel einer Festplatte oder einem USB-Stick, so kann es auch andere Formen als das Recht geben, in denen Normen auftreten – die Moral zum Beispiel. Normen können beliebigen Inhalt haben – ebenso wie die Daten auf einer CD Bilder, Text, Musik etc. in jeder Qualität, jeder Quantität und nach jedem Geschmack darstellen können. Aber ebenso wie man die CD, das Medium, unabhängig von dem Typ Datei und unabhängig von dessen jeweiligem Inhalt beschreiben kann – im Hinblick auf Gemeinsamkeiten aller CDs, auf Funktionsweise, Entstehung, äußere Beschreibung etc. –, jeweils ohne wertend oder sonst irgendwie auf den jeweiligen Inhalt einzugehen, so ist es auch möglich, das Medium, die Kategorie „Recht“ unabhängig von ihrem Inhalt zu beschreiben. Das ist die äußere Betrachtung und Untersuchung von Recht, das ist es, was Kelsen in der Reinen Rechtslehre tut, das ist die Betrachtung von Recht als Kategorie, während die innere Betrachtungsweise von Recht den Inhalt der Normen, das innere System des Rechts, also die von den Normen in Form von Recht aufgestellte Systematik zum Gegenstand hat. Die äußere Theorie von Recht soll folglich nicht selbst normative Geltung beanspruchen, sondern der bloßen Erkenntnis der Funktions- und Wirkungsweise von Rechtsnormen dienen.8 Ihre Geltung ist keine Frage von Sollen, sondern eine von Sein. Im Bild bleibend: Es wird die CD, nicht die Musik beschrieben. Im Rahmen dieser äußeren rechtstheoretischen Untersuchung wird zunächst (statisch) beleuchtet, was Recht in diesem Sinne ist, um dann im Anschluss der (dynamischen) Frage nachzugehen, wie es entsteht oder warum es Geltung beziehungsweise Wirksamkeit beanspruchen kann. Erst wenn die kategorialen Strukturen offengelegt worden sind, also die Merkmale von Recht, wie es in der Realität existiert (ohne dabei schon auf seinen Inhalt zu achten), kann nach den Anforderungen an die Entstehung dieser Strukturen gefragt werden. Es wird somit zunächst Recht definiert, dabei typischerweise Hypothesen aufgestellt, die infrage gestellt werden können, aber nicht gerechtfertigt 8  Vgl.

Kelsen, Reine Rechtslehre, 90.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie27

werden müssen: Diese Definition von Recht beansprucht nicht mehr, als die dem Autor geeignet erscheinende Zuordnung einer bestimmten Vorstellung zum Begriff des Rechts zu sein, und sollte dabei möglichst das, was man im Sprachgebrauch gemeinhin unter Recht versteht, umfassen. Zu rechtfertigen ist vielmehr die Erklärung, warum das als Recht Definierte gelten oder wirksam sein soll. Recht ist ein System von Normen, also Sollenssätzen, die den Zweck haben, das Verhalten der Adressaten zu regeln.9 Es unterscheidet sich von anderen Normensystemen, zum Beispiel der Moral, dadurch, dass die zwanghafte, das heißt nötigenfalls auch gewaltsame Durchsetzung dieser Normen als legitim anerkannt wird.10 Zwei Komponenten machen den Begriff der Rechtsnorm also aus, Norm und Zwang. Beide gilt es nun, näher zu betrachten.

I. Die Norm Recht ist eine Summe von Regeln (Normen) für menschliches Handeln.11 Eine Norm ist zunächst ein Sollenssatz, der, gesetzt von jemandem, gerichtet an jemanden, ein gesolltes Verhalten festlegt, festsetzt, normiert.12 Jede Rechtsnorm lässt sich in der Form darstellen: „Wenn tatsächlicher (und objektiv beweisbarer, subsumierbarer) Sachverhalt A vorliegt (Tatbestand), dann soll („muss“ im rechtlichen Sinne) sich Person X gemäß Sachverhalt B (Rechtsfolge) verhalten.“ Dieses Sollen kann man in einem Gebot oder einem Verbot ausdrücken, und es wird auch häufig in diesen Formen in Rechtssätzen formuliert. Die Begriffe „müssen“, „dürfen“, „sollen“ sind dabei lediglich sprachliche Feinheiten, die sich letztlich als Sollenssätze beschreiben lassen.13 Niemand kann rechtlich (allgemein: normativ) etwas mehr „müssen“ als im Sinne von „sollen“. Die Ausgangslage, der Normaloder Ist-Zustand, in den eine Norm hineintritt, ist der der Freiheit des Individuums, die ermöglicht, dass das Individuum grundsätzlich alles ihm Mögliche tun kann, aber dabei durch Normen in bestimmter Weise eingeschränkt wird.14

Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 4. auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 34; vgl. auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333. 11  Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 332. 12  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 4; Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 4. 13  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 4 f. 14  Zum Begriff des Sollens vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 21 f. 9  Vgl. 10  So

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Kap. 1: Recht

1. Der Dualismus von Sein und Sollen Entscheidend für die allgemeine Geltung einer Norm (im Gegensatz zur besonderen, der spezifisch rechtlichen Geltung) ist, dass hinter jeder Norm, hinter jedem Sollen nicht mehr als die Autorität steht, die diese Norm setzt. Der Wille dieser Autorität ist die einzige „Rechtfertigung“ dieser Norm, mehr an Rechtfertigung ist aber auch nicht nötig. Von „Gesetz“ kann im Zusammenhang mit einer Norm nur insoweit die Rede sein, als eine existierende Norm von einer dahinterstehenden Autorität gesetzt worden ist und sie insofern ein Gesetz ist. Eine spezifische Art der Geltung muss also mit einer spezifischen Qualität des dahinterstehenden Willens zusammenhängen. In ganz anderem Zusammenhang ist von Gesetz die Rede bei Naturgesetzen. Diese entstammen einer ganz anderen als der menschlichen Autorität, man mag sie Gott, Natur oder sonst wie nennen. Diese zwei Kategorien sind ganz grundlegend zu unterscheiden: Auf der einen Seite existieren Gesetze wie die der Natur, die eine absolute Wahrheit beinhalten und von einer Alternativlosigkeit geprägt sind. Es sind diese Regeln, zu denen die Naturgesetze gehören, denen auch der Mensch seine eigene Existenz zu verdanken hat. Der Mensch strebt seit jeher nach der Erkenntnis dieser Gesetze, er kann aber nicht mehr, als sich dieser Erkenntnis mehr oder weniger zu nähern – nie kann er diese Regeln irgendwie beeinflussen, ändern. Der Mensch, selbst Produkt, selbst Werk dieser Regeln, kann darüber naturgemäß nicht disponieren. Sie gehören nicht der normativen Sphäre an. Diese Regeln, auch „Gesetze“ genannt, beeinflussen und beantworten alle Fragen des Seins. Alles Seiende ist anhand dieser Regeln zu erklären – was nicht heißt, dass der Mensch das auch immer kann, denn dazu müsste er diese Regeln umfassend kennen. Er befindet sich insoweit aber in einem nie endenden Lernprozess, in dem er immer nur erkennen kann, ableiten kann aus dem Seienden auf das Seiende, nie aber Einfluss auf diese Regeln nehmen kann. Dass sich beispielsweise Materie ausdehnt, wenn sie erhitzt wird, kann der Mensch als ein solches Gesetz erkennen, aber nicht beeinflussen. Die Newtonsche Physik galt lange Zeit als eine Erkenntnis des Seienden, bis Einstein Teile dieser Erkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes relativiert hat. In dieser Kategorie kann man alternativlose, absolut richtige Regeln formulieren nach dem Muster „Wenn A ist, dann ist auch B“, so eben auch die Regel, dass sich Materie ausdehnt, wenn sie erhitzt wird. Die beiden Sachverhalte sind durch Kausalität miteinander verbunden.15 Man kann aber auch einfach absolut wahre oder unabänderliche Thesen erkennen und aufstellen, wie die, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Diese Thesen können objektiv wahr oder falsch sein. Auch diese Tatsachen sind aber eben 15  Vgl.

Kelsen, Reine Rechtslehre, 78 ff.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie29

mittels Kausalität mit davorstehenden Tatsachen sowie daraus folgenden Tatsachen, also Seins-Zuständen, verbunden. Kausalität ist das diese Gesetze prägende Element, und wenn ein Satz, der ein solches Gesetz beschreibt, tatsächlich „gilt“, dann ist er ohne Zweifel und Diskussionsraum „richtig“, andernfalls „falsch“. „Wer uns die Gesetze der Natur entschleiert, offenbart uns Sein und Notwendigkeit.“16 Man kann diese für den Menschen unabänderlichen Regeln, nach denen die Welt funktioniert, immer weiter erfassen und erkennen, jedoch so, wie der Mensch selbst ein Produkt dieser Regeln ist, verbietet es sich selbstverständlich, dass er auf diese Regeln Einfluss nehmen kann. Es gibt diese unüberwindbare Trennung zwischen seinsmäßig Alternativlosem und normativ Willkürlichem. Hier äußert sich ein ganz wichtiges Prinzip der Logik, welches auch an späterer Stelle wieder auftreten wird, bei der Frage nämlich, ob eine Verfassung, die ihre Existenz einer höheren Autorität, der verfassunggebenden Gewalt verdankt, sich aus eigener Kompetenz verändern kann beziehungsweise ob sie die Frage nach der eigenen Geltung aus eigener Kompetenz regeln kann. Der Dualismus zwischen Sein und Sollen prägt auch diese Frage: Ist es eine seinsmäßige Frage des Könnens oder eine normative Frage des Dürfens? Nach der hier vertretenen Auffassung von Recht und Verfassung ist es eine seinsmäßige Frage.17 2. Die Natur schafft Fakten, der Mensch Normen Die Kausalgesetze der Natur kann der Mensch nur erkennen. Selbst setzen kann er Gesetze allerdings nur mit geringerer Autorität, nicht mit demselben Ausmaß an Zwang und Alternativlosigkeit, er kann mit seinem Willen kein Sein, sondern nur ein Sollen beschreiben. Diese Regeln können keine derartige zwingende Kausalität beinhalten – dazu hat der Mensch nicht die Kompetenz, nicht das Können –, nur Normativität. Dem Menschen ist also nur die (begrenzte) Autorität „mitgegeben“, Normen zu setzen, was ihm die Normierung aller dazu offenstehenden Bereiche ermöglicht – und damit auch die Schaffung eines bestimmten Normsystems, der Rechtsordnung. Das Wesentliche einer Norm und Gemeinsame aller Normen ist also, dass sie ein Sollen regeln, ein „Sich-Verhalten-Sollen“, hinter dem nicht mehr Autorität steht als der menschliche Wille. Diese Charakterisierung passt auf alle Arten von Verhaltensnormen, egal, ob sie dem Bereich beispielsweise der Moral oder des Rechts entspringen. Sie passt aber auch auf weitere 16  Engisch, 17  Das

Einführung in das juristische Denken, 9. ist an dieser Stelle noch nicht abschließend begründet.

30

Kap. 1: Recht

Arten von Normen, wie beispielsweise Industrienormen. Ein Blatt Papier, das unter der Bezeichnung der Größe A4 gehandelt wird, soll der Beschreibung der DIN-Norm 476 entsprechen und genau 210 mal 297 mm groß sein. Keine größere Autorität als der Wille dieses Normsetzers kann aber dafür ins Feld geführt werden. Das Blatt Papier kann auch 212 mal 297 mm groß sein und dennoch unter der Bezeichnung A4 gehandelt werden – es handelt sich nur um eine Norm. Von vornherein nicht normierbar sind Verhältnisse, die nicht dem menschlichen Willen unterliegen, also nicht der Normativität, sondern der Kausalität unterliegen. Es ist folglich schon keine Norm, wenn eine Regel aufgestellt wird, die besagt, die Sonne solle sich um die Erde drehen. Nicht nur eine sinnlose Norm ist das, sondern überhaupt keine, ebenso wenig wie die Regel, die Erde solle sich um die Sonne drehen. Es ist dies – unabhängig vom Wahrheitsgehalt – von vornherein keine Frage des Sollens.18 Es handelt sich bei zweitem, um ein passendes Bild Kelsens in etwas anderem Zusammenhange zu verwenden, um den „törichten Versuch einer künst­ lichen Beleuchtung bei hellstem Sonnenlicht“.19 Die Kausalität, die das Verknüpfungselement von Naturgesetzen ausmacht, ist eine Art von Kausalität, die genauer bestimmt werden muss. Um diese Kausalität genauer zu spezifizieren, muss das Naturgesetz in einer bestimmten Form dargestellt werden. Die Darstellungsform von Naturgesetzen, die den Vergleich zur Norm möglich macht, ist die „Wenn …, dann …“-Form. Ein Naturgesetz muss also wie folgt dargestellt werden: „Wenn Materie erhitzt wird, dann dehnt sie sich aus.“ Auf diese Weise lassen sich alle Naturgesetze formulieren. Ein Satz wie „Wasser gefriert unterhalb von 0° Celsius“ ist dann zu lesen wie „Wenn Wasser eine Temperatur von unter 0° Celsius hat, dann gefriert es.“ Im Vergleich zur Norm ist der erste Teil des Gesetzes, der die Bedingung bildet, analog zum Tatbestand der Norm ausgestaltet. Dieser Teil ist im Naturgesetz aber mehr als nur kausal im Sinne einer Bedingung, mehr als nur conditio-sine-qua-non im Sinne der Äquivalenztheorie. Während die Mutter, die den späteren Mörder geboren hat, dadurch eine notwendige Bedingung für den späteren Mord gesetzt hat und somit kausal für diesen wurde, ist die Kausalität der Bedingung im Naturgesetz eine zwingende Kausalität, die Bedingung führt hier zwingend, alternativlos zur Folge, ist also keine nur notwendige, sondern eine hinreichende Bedingung. Diese zwingende Kausalität ist das Verknüpfungselement der beiden Teile eines Naturgesetzes. Diese Gesetze werden zwingend im Sinne einer den Menschen unterwerfenden, ihm keine Alternative lassenden Weise gesetzt. Über diese Kompetenz verfügt kein 18  Vgl.

Kelsen, Reine Rechtslehre, 11. Reine Rechtslehre (1. Aufl.), 15.

19  Kelsen,



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie31

Mensch. Es kann damit auch in der Kategorie des Seins nicht von Normen die Rede sein, denn diese Regeln beschreiben nicht, was sein soll, sondern was ist. Diese Autorität normiert nichts, sondern sie entscheidet definitiv. Man müsste Gott, der Natur, oder welcher seinsmäßigen Autorität auch immer einen Willen zuerkennen, damit in dieser Sphäre – jenseits der Menschen – Normen denkbar wären. Die Welt würde dann diesen Normen nur folgen, seltsamerweise täte sie das aber immer. Entgegen den Seins-Gesetzen der Natur wäre ein solcher Wille in höchsten Maße mystisch, er wäre nicht wissenschaftlich zu erfassen, letztlich nur eine Glaubensfrage und damit weder der Sphäre des Seins noch der des Sollens zuordenbar.20 Auf ganz andere Weise sind die beiden Teile einer Norm, Tatbestand und (Rechts-)Folge, miteinander verknüpft. Ihre Verknüpfung ist ein Sollen, also Normativität21. Zwingende Kausalität hat durch die spezifische Verknüpfungsart zweier Elemente, die sie nun mal ist, hier überhaupt keinen Anknüpfungspunkt. Transferiert man eine Norm, beispielsweise den Satz „Wer (Wenn jemand) einen Menschen tötet, (dann) soll (er) zehn Jahre ins Gefängnis“, in die Form eines Seins-Gesetzes wie „A hat einen Menschen getötet, deshalb geht er zehn Jahre ins Gefängnis“, dann sind Tatbestand und (Rechts-)Folge zwar durch Kausalität miteinander verbunden. Und tatsächlich kann das Töten ja auch die Causa für das anschließende zehnjährige Verweilen hinter Gittern sein. Allerdings handelt es sich nicht um zwingende Kausalität, sondern nur um jene im Sinne der Äquivalenztheorie, und der Satz stellt überdies keine Norm mehr dar. Tatbestand und (Rechts-) Folge der Norm sind immer nur durch ein Sollen, also Normativität22, miteinander verknüpft. Das heißt aber automatisch, dass es immer auch alternative Folgen als die der normierten (Rechts-)Folge gibt, dass aber eben jene (Rechts-)Folge die normierte, also gewünschte Folge ist.23 Damit ist der kategoriale Unterschied herausgestellt zwischen einerseits den unabänderlichen, absolute Geltung beanspruchenden und für den Menschen lediglich erkennbaren Regeln der Kausalität, auch Naturgesetze benennbar, und andererseits dem Charakter einer Norm, die, insbesondere in der Form der Rechtsnorm, ebenfalls die Bezeichnung „Gesetz“ erfährt. Sein und Sollen unterscheiden sich von Grund auf. auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 80. bezeichnet diese normative Verknüpfung als „Zurechnung“, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 79 ff. 22  Die das Recht prägende normative Verknüpfung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge wird auch als „juristische Kausalität“ bezeichnet, jedoch ist der Begriff „Kausalität“ vom Wortsinne her eigentlich hier nicht zu gebrauchen, vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 35 ff. 23  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 10 f. 20  Vgl.

21  Kelsen

32

Kap. 1: Recht

Es ist danach auch nicht naheliegend, einen Einfluss der einen Kategorie auf die andere zu vermuten in der Art, dass das Sein das Sollen beeinflusst, dass sich aus dem Sein das (richtige) Sollen ergibt, dass die Kategorie des Alternativlosen, absolut Wahren (der Natur, Gottes) den Inhalt einer Norm beeinflusst, determiniert, prädestiniert, bewertet. Es ist in der Kategorie des Sollens, die sich an menschlichem Willen orientiert, überhaupt kein Ansatzpunkt für das Kriterium „richtig“ ersichtlich. Eine Norm ist eine Norm und kann weder richtig noch falsch sein, sie ist einer solchen Beurteilung ihrer Natur nach schon gar nicht zugänglich. Etwas kann einer Norm entsprechend sein oder nicht, dann ist es gesollt oder eben nicht gesollt im Hinblick auf diese Norm. Es besteht damit eine klare und notwendige Zäsur zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das heißt nicht, dass Sein und Sollen überhaupt nichts miteinander zu tun hätten.24 Man kann ein und denselben Lebenssachverhalt einerseits unter einem natürlichen Aspekt, andererseits unter einem normativen Aspekt betrachten. Ein bestimmter Seins-Zustand kann sogar ebenso sein wie er ist, gerade weil er so sein sollte.25 Man kann, ja man muss aber eben beides unabhängig voneinander betrachten. Dieses „weil“ ist nicht das zwingend-kausale „weil“ der Naturgesetze.26 Beim Werden des Zustands mag zwar eine Norm eine gewisse motivierende Rolle gespielt haben. Jeder Seins-Zustand ist, seinsmäßig betrachtet, aber Ausdruck einer bestimmten naturwissenschaftlichen Kausalität. Unter dem Aspekt normativer Betrachtung kann derselbe Zustand gesollt oder nicht gesollt sein, wenn er denn von einer Norm erfasst wird. Es handelt sich aber um zwei grundlegend unterschiedliche Betrachtungsweisen, um unterschiedliche Kategorien, und das Recht spielt sich in der zweiten Kategorie ab. Es bleibt dabei: Die beiden Verknüpfungselemente, Kausalität und Normativität, sind nicht austauschbar, es käme sonst zu sinnlosen Seins- oder Sollenssätzen.27 Dieser Dualismus von Sein und Sollen prägt nicht nur das Recht. Er liegt tiefer, trägt als Fundament mehr als nur das Recht, ja sogar mehr als nur die beiden Opponenten Sein und Sollen. In der Natur des Menschen zeigt sich dieser tiefergehende Dualismus in dessen beiden Erscheinungen als Mensch einerseits und als Individuum andererseits. Das Menschsein, das allen MenKelsen, Reine Rechtslehre, 79, 98. wird das vorangegangene Verbrechen regelmäßig die Ursache für das Verbüßen einer Haftstrafe sein. 26  Auf das besagte Verbrechen folgt eben nicht zwingend die vorgesehene Haftstrafe – es liegt die normative Entscheidung eines Menschen dazwischen. 27  Zum Beispiel: „Wer stiehlt, geht fünf Jahre ins Gefängnis“ oder „Jeder Mensch sagt immer die Wahrheit“, „Nur Frauen dürfen Kinder bekommen“ oder „Die Sonne soll im Osten aufgehen.“ 24  Vgl.

25  Bspw.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie33

schen wesentlich Gleiche, das Unterworfensein unter die Natur entspringt der Sphäre der Natur. Hingegen das Individuum Sein, das Ungleiche zwischen den Menschen, die Freiheit des Willens und des eigenen Geistes entspringt der Sphäre der Individualität. In letzterem liegt auch alles Normative. 3. Die Absage an das Naturrecht Damit ist die Geltung einer jeden Norm allein von der sie setzenden Autorität, von diesem dahinterstehenden Willen abhängig.28 Allein ein Wille kann konstitutiv für eine Norm sein.29 Thomas Hobbes formulierte es in einer berühmten Formel: „auctoritas, non veritas facit legem.“30 Es kann keine von Natur aus über dem positiven Recht stehenden Normen geben, keine unabhängig davon existierenden und geltenden Normen, die der Mensch wie ein Naturgesetz erkennen könnte.31 Daher kann auch kein natürlich vorgegebenes Normensystem – „die Vorstellung einer unabhängig von menschlichen Setzungen existierenden, unveränderlichen, für Menschen erkennbaren normativen Ordnung“32 – existieren, an dem irgendeine menschliche Norm zu messen wäre. Weil die Regeln des Seins aufgrund ihrer Seins-Natur mit „Naturrecht“ nicht passend bezeichnet wären, kann es infolge dieses Dualismus kein Naturrecht geben. In der Normqualität des Rechts ist die Unmöglichkeit von Naturrecht begründet.

II. Der Zwang als Ausdruck spezifischer Legitimität Diese beschriebene spezifisch normative Struktur ist eine Gemeinsamkeit aller Normen, derer Arten es viele unterschiedliche gibt. Es gilt nun, die Rechtsnorm von anderen Normarten zu differenzieren. 28  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 22, dort im Zusammenhang mit der Verfassung: „Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt. Jede Art rechtlicher Normierung, auch die verfassungsgesetzliche Normierung, setzt einen solchen Willen als existent voraus.“ (Hervorh. im Original). 29  Vgl. auch Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 28 ff. 30  Nach Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 128; vgl. auch Schmidt, Rechtspositivismus und die Geltung von Recht und Verfassung, 14: „GründungsCredo des Rechtspositivismus“. 31  Wenn Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 19, sagt: „Der Geltungsanspruch eines für die Rechtsgemeinschaft fundamentalen Grundsatzes wird jedoch gesteigert, wenn die Regel nicht vom Menschen erdacht, sondern als in der Natur vorgefunden entdeckt, sie nicht gesetzt, sondern nur festgestellt wird“ (Hervorh. durch Verf.), dann kann dieser Satz nur für Naturgesetze gelten, nie aber sich auf Normen beziehen; vgl. auch Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 127. 32  Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 21 Rn. 3.

34

Kap. 1: Recht

Das Exklusive einer Rechtsnorm kann an der Form der Durchsetzungsmöglichkeit dieser Normen, die in ihrer spezifischen Legitimation begründet liegt, ausgemacht werden. Recht zeichnet sich im Gegensatz zu anderen Normen durch eine gewisse Verbindlichkeit, durch einen gewissen charakteristischen Grad an Wirksamkeit, an Geltung aus. Das dahinter stehende Merkmal soll mit „Zwang“ bezeichnet werden. Kelsen sagt in der Reinen Rechtslehre: „Das Zwangsmoment, das ist der Umstand, daß der von der Ordnung als Folge eines für gesellschaftsschädlich angesehenen Sachverhaltes statuierte Akt auch gegen den Willen des davon betroffenen Menschen und – im Falle des Widerstandes – mit Anwendung physischer Gewalt zu vollstrecken ist, ist das entscheidende Kriterium.“33 Nicht gemeint ist rein faktischer Zwang bei Durchsetzung der Norm. Dies würde auf eine Begründung von Recht durch bloße Macht hinauslaufen. Bloße Macht, das heißt physische Gewalt im äußersten Fall, allein kann nicht die Verbindlichkeit von Recht begründen.34 Es würde sonst eine staatliche, demokratische Rechtsordnung nicht qualitativ etwas anderes sein als die Verhaltensregeln innerhalb einer Räuberbande oder, um einen noch deutlicheren Vergleich zu wählen, die Befehle eines Entführers gegenüber einer entführten, ihm völlig ausgelieferten Person. Tatsächlicher, konkreter Zwang ist nicht einmal notwendiger Bestandteil einer Rechtsnorm. Beispielsweise kann eine Rechtsnorm von demjenigen, den sie adressiert, auch gänzlich ohne Zwang befolgt werden, sei es aus der Erkenntnis heraus, dass es Recht ist, sei es rein zufällig oder aus irgendwelchen anderen, zum Beispiel moralischen Motiven.35 Es handelt sich dann nicht weniger um Recht. Das im System der Rechtsnormen notwendige Zwangsmoment besteht vielmehr in der Überzeugung der an der Setzung der Norm Beteiligten, dass die Einhaltung dieser Normen auch ohne den Willen der adressierten Person durchgesetzt werden darf, notfalls gegen deren Willen mit physischem Zwang.36 Teil des Charakters einer Rechtsnorm ist also die Überzeugung von der Legitimität dieser zwanghaften Durchsetzungsmöglichkeit.37 Diese äußert sich aber in einer statischen Betrachtung des Rechts eben in der faktischen Durchsetzbarkeit mittels Zwangs. Die spezifische Legitimität dieses Zwangs ist dagegen Betrachtungsgegenstand des Geltungsgrundes 33  Kelsen, Reine Rechtslehre, 36, wobei er dabei wohl primär die Strafe im Blick hat; dazu sogleich. 34  So auch Rousseau im Gesellschaftsvertrag, vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 47. 35  Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 335 ff. 36  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 36. 37  Ähnlich auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333: „Die Positivität des Rechts ruht daher in letzter Linie immer auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit.“ (Hervorh. im Original.).



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie35

von Recht, der weiter unten in den Blick gelangen wird. In „primitiven“ Rechtsordnungen steht diese Durchsetzungsmöglichkeit mittels Zwangs jedem Rechtssubjekt zu (vgl. klassisches Völkerrecht), in „zivilisierten“ Rechtsordnungen äußert sich die Wahrnehmung dieser Funktion zentralisiert in einem Gewaltmonopol, dessen Wahrnehmer als „der Staat“ bezeichnet wird.38 Diese Durchsetzungsmöglichkeit mittels Zwangs haftet jeder Rechtsnorm unmittelbar an, sie muss nicht ausdrücklich angeordnet sein. Dass eine Norm damit bewehrt ist, ist Voraussetzung dafür, dass es sich überhaupt um eine Rechtsnorm handelt. Dennoch ist hingegen die Ausführung dieses Zwangs in zivilisierten Rechtsordnungen, in denen er von bestimmten Organen ausgeübt wird, geregelt. In dieser Organisation beziehungsweise Arbeitsteilung bei der Wahrnehmung des Gewaltmonopols, welches in der Ausübung des Zwangs bei der Ausführung einer Rechtsnorm besteht, besteht der zivilisatorische Fortschritt einer Rechtsordnung. Die daraus entstehenden Regelungen führen zur Komplexität staatlicher Rechtsordnungen und unter anderem darin gründet auch die Tatsache, dass nicht alles, was in einer Rechtsordnung an Regelungen („Rechtssätzen“, s. u.) zu finden ist, sich auf diese einfache, oben definierte Form von Verhaltensregeln herunterbrechen lässt. 1. Zwang und Strafe Dieser Zwang, der Ausdruck einer spezifischen Legitimität von Recht ist, darf aber nicht mit jeder Art von Gewalt oder Nachteil als Reaktion auf irgendein rechtlich relevantes Verhalten gleichgesetzt werden. Dies geschieht aber häufig, wenn dieser Zwang mit der gesetzlichen Anordnung von Strafen für ein bestimmtes Verhalten gleichgesetzt wird.39 Die Strafe ist jedoch kein Zwang zur Einhaltung von Rechtsnormen, sondern sie ist selbst Rechtsnorm. Man muss deutlich zwischen Zwang und Strafe differenzieren: Zwang ist das Übel, das mit dem Ziel und dem Zweck, ein Rechtssubjekt zur Einhaltung einer konkreten Norm, zu einem konkreten rechtmäßigen Verhalten zu zwingen, angewandt wird. Aus den meisten Sätzen des materiellen Strafrechts gehen grundsätzlich zwei Rechtsnormen hervor. Die erste ordnet eine Verhaltensregel in Form eines Verbots an, so zum Beispiel in § 212 Abs. 1 StGB das Verbot, einen anderen Menschen zu töten. Diese Norm ist eine Rechtsnorm und entspricht oben stehender Definition. Sie ist eine verbindliche Verhaltensnorm, die notfalls, wenn eine Person sich nicht entsprechend verhalten will, auch mit gewaltsamem Zwang durchgesetzt 38  Zu dieser Funktion als Definition und zentraler Aufgabe des Staates vgl. unten, Kapitel 6 B. I. 39  Vgl. bspw. Kelsen, Reine Rechtslehre, 34 ff., 118.

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Kap. 1: Recht

werden kann. Das bedeutet gewaltsame Hinderung – im äußersten Falle durch den finalen Rettungsschuss – der Person daran, gegen diese Norm verstoßend eine andere Person zu töten. Die zweite aus dem Rechtssatz des § 212 Abs. 1 StGB hervorgehende Rechtsnorm ist eine selbstständige, wenn auch freilich mit ersterer in engem inhaltlichen Zusammenhang stehende: Sie ordnet an, dass der, der einen anderen Menschen tötet, mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft werden soll.40 Und ebenso, wie dies bei jeder anderen Rechtsnorm auch ist, wird diese Strafanordnung, wenn der Täter ihr nicht freiwillig folgt, notfalls mittels Zwangs durchgesetzt.41 Die Rechtsnorm 1 „Tötungsverbot“ verfolgt den Zweck, die von der Rechtsordnung anerkannten Güter, in diesem Fall das Leben einer Person, zu schützen. Rechtsnorm 2 „Strafanordnung“ verfolgt eigene general- und spezialpräventive Zwecke, von denen einige auch das Fernziel des Lebensschutzes verfolgen, da die Strafe natürlich davor abschrecken soll, gegen Rechtsnorm 1 zu verstoßen.42 Sie kann als Motiv zur Einhaltung der Norm fungieren. Die Strafanordnung oder -umsetzung ist aber mitnichten der Zwang, mit dem die den Strafrechtssätzen zugrundeliegenden Verbote durchgesetzt werden sollen. Dass dies unmöglich so sein kann, zeigt sich deutlich daran, dass es völlig sinnlos wäre: Bestraft wird ja immer erst, wenn bereits gegen die Verbotsnorm verstoßen worden ist. Es kann dann aber mit keinem Zwang der Welt mehr die Einhaltung dieser Norm gesichert werden. Der Zwang zur Durchsetzung der ersten Norm ist vielmehr beispielsweise die Festnahme der Person, bevor sie gegen eine Verbotsnorm des Strafrechts verstoßen kann, oder eben deren Tötung durch den finalen Rettungsschuss. Das Notwehrrecht ist ein Überbleibsel dezentraler Zwangsausübung, aber nicht von prä-zivilisatorischer Selbstjustiz im strafenden Sinne.43 Die Strafnorm ist eine mit der Verbotsnorm in Zusammenhang stehende eigene Rechtsnorm. Diese Art von Rechtsnorm (wobei Art sich hier auf einen bestimmten Inhalt und Zweck, nämlich den Strafcharakter der Norm, bezieht) wird genau den Verhaltensnormen zur Seite gestellt, denen eine ganz zen­ trale Bedeutung oder ein besonders hohes Gewicht in der Rechtsordnung beigemessen wird. Diese Normen sind dann strafbewehrt. Die Normen des materiellen Strafrechts sind somit die Reaktion „auf besonders massive 40  Dieser Einordnung der Strafe als Rechtsfolge wird sicherlich kaum widersprochen, vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 21; jedoch soll hier die Differenzierung zum jeder Rechtsnorm anhaftenden Zwang im Vordergrund stehen. 41  Zur Differenzierung der enthaltenen Rechtsnormen in einem sie enthaltenden Rechtssatz siehe unten, B. II. 42  Ein sehr ähnliches Normverständnis, insbesondere im Rahmen der hier beispielhaft gewählten Strafnormen, vertritt Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 1 („Normentheorie“). 43  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 41.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie37

Überschreitungen der Gemeinverträglichkeit“.44 Und diese beiden Arten von Normen, also die Verbotsnormen, denen aufgrund ihrer zentralen Bedeutung aus rechtspolitischer Sicht eine Strafnorm zur Seite gestellt wird, sowie diese Strafnormen selbst (ebenfalls zwangsweise durchsetzbare Verhaltensnormen, wie oben gezeigt), fasst man nach ihrer inhaltlichen Bestimmung zusammen als die Normen des materiellen Strafrechts. Denkbar ist freilich eine Rechtsordnung, die aus rechtspolitischen Gründen faktisch grundsätzlich an jedes rechtswidrige Verhalten eine Norm mit Strafcharakter anhängt, und sei es in Form eines kleinsten Bußgeldes. Dann ist dies aber eine Frage des Inhaltes der Rechtsordnung, nicht aber des Charakters von Recht an sich.45 Genauso ist es denkbar, dass eher wenige Rechtsbrüche mit Strafnormen sanktioniert werden.46 2. Recht und Moral Das Zwangsmoment ist damit das wesentliche Abgrenzungsmerkmal von Rechtsnormen gegenüber anderen Normen, wie zum Beispiel jenen der Moral oder Sitte. Es ist auch Ausdruck eines bestimmten hohen Grades an Verbindlichkeit der Rechtsnorm. Auch die Moral ist ein System von Normen, also Verhaltens-Sollenssätzen.47 Jene begründen sich aber allein in der jeweiligen Überzeugung des Individuums, sodass theoretisch jeder Mensch eine eigene Moral(-ordnung) haben kann.48 Natürlich gibt es hier aber kulturell und sozial bedingte Gemeinsamkeiten, die dazu berechtigen, von größeren, umfassenderen Moralvorstellungen oder -ordnungen zu sprechen. Die Normen der Moral, und das ist ebenso unmittelbarer Bestandteil dieser Normen wie das Zwangselement der Rechtsnormen, sind jedoch nicht verbindlich, beziehungsweise für den Einzelnen nur innerlich, vor seinem Ge44  Starck,

Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 49. auch Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 58: „Unbenommen aber bleibt es stets der Rechtsordnung, an ein konkretes Unrecht oder an ein Unrecht bestimmter Art nur einzelne mögliche Folgen zu knüpfen, also nur Schadensersatz und keine Strafe oder nur Strafe und keinen Schadensersatz eintreten zu lassen usw.“ 46  Im deutschen Recht ist es beispielsweise gemäß § 248b StGB strafbewehrt, das Kraftfahrzeug oder Fahrrad eines Berechtigten gegen dessen Willen zu benutzen. Nicht strafbar ist es hingegen, dasselbe mit der Segelyacht eines anderen zu tun. Nichtsdestotrotz wäre ein solches Handeln rechtswidrig und dem Berechtigten bzw. der öffentlichen Gewalt stünden Zwangsmaßnahmen gegen dieses rechtswidrige Verhalten zur Verfügung. 47  Kelsen fasst unter der Moral alle sozialen Normen, die nicht dem Recht zugehörig sind, zusammen, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 60. 48  Für eine im Wesentlichen hiermit und den folgenden Ausführungen übereinstimmende Definition von Moral vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 21 Rn. 28; vgl. auch Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 24 f. 45  Vgl.

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Kap. 1: Recht

wissen, verbindlich. Ihr Sollen bedeutet lediglich die „Aufforderung zur freien Entscheidung für den Wert“49. Das Individuum weiß, dass es gegenüber anderen zu moralischem Verhalten nicht (rechtlich) verpflichtet ist und dass es zwar auch von anderen moralisches Verhalten erwarten darf, es aber allein diesen anderen überlassen bleibt, sich auch so zu verhalten, dass der eine den anderen also nicht zu diesem Verhalten zwingen darf. Dagegen haben die Normen der Moral ein anderes besonderes Merkmal, welches sie daran hindert, zum bloßen Oberbegriff aller denkbaren Arten von Normen zu werden: nicht die Überzeugung, dass diese Norm notfalls mittels Zwangs durchgesetzt werden darf (wie es beim Recht der Fall ist), sondern die inhaltliche Beschränkung der Überzeugung, dass das laut der Norm gesollte Verhalten inhaltlich nach der tiefsten Überzeugung des Anwenders gut sei.50 Man kann auch moralische Instanzen anerkennen, in ihnen moralische Vorbilder sehen. Entscheidend ist aber auch hier, dass man diese Instanz für sich anerkennt.51 Moral ist „eine innere Pflichtenordnung, die durch Sollensgebote unmittelbar motiviert und das Innere der Menschen ergreift.“52 Eine derartig tiefgreifende inhaltliche Begrenzung kennt Recht nicht. Inhalt von Recht kann alles sein, vorausgesetzt, der rechtsetzende Wille dazu besteht – aus welchen Motiven auch immer. Der Wille, nicht die Überzeugung, die eine qualifizierte Form des Willens ist, ist gefordert. Es kann auch etwas Unmoralisches aus pragmatischen Gründen für adäquat gehalten werden und Recht werden. So kann man beispielsweise die Todesstrafe für moralisch verwerflich halten, sie aber dennoch als Recht ansehen. Es kann, weil man es für das geringere Übel hält, Prostitution, Cannabiskonsum oder eine rechtsradikale Partei erlaubt sein, obwohl man es eigentlich für schlecht hält. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Wenn zum Beispiel eine politisch durchsetzungsfähige Mehrheit konsequent und radikal gegen ein als falsch bewertetes Verhalten vorgehen möchte, kann sie sich des Instruments des Rechts bedienen und damit bewusst über das Ziel hinausschießen. Beispielsweise der Kampf gegen Kinderpornografie kann rechtlich so weit getrieben werden, dass jedes Fotografieren nackter Kinder ausnahmslos unter Strafe gestellt werden soll – um somit möglichst effektiv auch jedem 49  Hartmann,

Ethik, 774. auch Meyer, Juristische Geltung als Verbindlichkeit, 56: „Normativ bildet Moral den Inbegriff der in einer Gemeinschaft vorkommenden Handlungsanleitungen, die den Anspruch auf Richtigkeit erheben“ (Hervorh. im Original). 51  Kelsen nimmt eine Abgrenzung von Moral und Recht allein in der negativen Weise vor, dass die Moral, im Gegensatz zum Recht, nicht über das Zwangsmoment verfüge, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 61 ff. Das allein beschreibt dann nur noch eine Norm an sich, ein bloßen Sollen, enthält aber nichts spezifisch „Moralisches“ mehr. 52  Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 21 Rn. 4, unter Berufung auf Kant. 50  Vgl.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie39

Ansatzpunkt für Missbrauch vorzubeugen. Dabei kann dann ein moralisch völlig einwandfreies Verhalten, das selbst der Normgeber nach seiner Wertvorstellung als moralisch einwandfrei beurteilen würde, nämlich das Fotografieren der eigenen nackt am Strand spielenden Kleinkinder für das Familienalbum, als widerrechtlich normiert werden. Das Recht kann inhaltlich alle denkbaren Wertungen aufnehmen.53 Vom Charakter des Rechts als Zwangsnormen her gesehen hat die Moral also keinen unmittelbaren, keinen zwingenden Einfluss auf den Inhalt von Recht, beides steht unabhängig nebeneinander. Wenn die Moral innerhalb des rechtlich Normierten Einzug findet, wie es beispielsweise in Generalklauseln („die guten Sitten“) vorzufinden ist, dann nur, weil der Normgeber diese Wertung positiv aufgenommen hat.54 Unbeschadet dieser grundsätzlichen Unabhängigkeit besteht faktisch natürlich ein großer gegenseitiger Einfluss von Recht und Moral.55 Ob Recht auch gutes Recht ist, ist eine ganz andere Frage als die, ob etwas Recht ist, und lässt sich am Maßstab der Gerechtigkeit messen, einer Vorstellung von „idealem“ Recht, die mit dem identisch ist, was auch häufig unter Naturrecht verstanden wird, nach oben stehenden Ausführungen aber nichts anderes sein kann als die wertgeprägte Vorstellung eines Individuums. Es besteht auch keine inhaltliche Begrenzung auf das Verhalten, welches der Normgeber in irgendeiner Form für „richtig“ oder „gut“ hält oder für unabdinglich für ein friedliches Zusammenleben. Das zeigt bereits ein Blick auf das Vertragsrecht, muss sich doch der Inhalt von Verträgen – und diese sollen ohne Zweifel von der Definition von Recht mitumfasst sein – grundsätzlich nicht an diesen Kategorien orientieren. Es sind sicherlich weitere Kategorien von Normen denkbar.56 So handelt es sich auch um Normen, die weder dem Recht noch der Moral zugehören, wenn ich einen Mitmenschen mit einem Katalog an Verhaltensregeln konfrontiere, die zu beachten ich von ihm erwarte oder wünsche (unabhängig von deren moralischem Gehalt), weil es mir gefällt oder es mir mein Leben so angenehmer gestalten würde – oder aus irgendeinem anderen Motiv. In demselben Sinne handelt es sich um eine Norm, wenn im Eingangsbereich meines Hauses ein Hinweisschild mit der Bitte, bei Betreten des Hauses die Schuhe auszuziehen, steht. Auch an sich selbst gerichtet sind Normen denkbar, beispielsweise die Regel, dass man bei der Begehung eines Gehweges nicht auf die Fugen zwischen den einzelnen Platten treten darf. Diese Normen sind aber, auf die oberflächlichste Art und Weise, allein mit dem Wil53  Dazu näher unten, B. I., dort auch zur positivistischen Trennungsthese zwischen Recht und Moral. 54  Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 21 Rn. 17, 19. 55  Vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 94 ff. 56  Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 23 Rn. 3.

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Kap. 1: Recht

len desjenigen, der sie formuliert, bereits abschließend begründet und bedürfen keiner weiteren Erörterung. Moral und insbesondere Recht hingegen sind deshalb schwieriger zu begründen, weil sie tiefgreifender sind, nämlich einen gewissen Grad an Allgemeingültigkeit beziehungsweise Verbindlichkeit, nämlich Zwang (Recht), oder ein innewohnendes Maß an „Richtigkeit“, nämlich die innerste Überzeugung davon (Moral), beanspruchen, was eben nicht bloß mit dem Willen desjenigen, der sie formuliert, alleine begründet werden kann. 3. Zwang inwieweit Teil der Norm? Die Legitimität dieses Zwangs ist von vornherein untrennbarer Bestandteil von Recht, selbst aber nicht Teil des Inhaltes der Norm (was ja nach dieser Definition auch gar nicht möglich ist, da es sich um Sollenssätze handelt) und auch nicht in Rechtsnormen geregelt. Sie ist das äußere Gegenstück zur Norm, das ihr einen bestimmten Charakter verleiht, ihrem normativen Gehalt spezifische Geltung verleiht und sie äußerlich von anderen Normen unterscheidet. Der Zwang ist identisch mit der Vorstellung des Normgebers, dass der Inhalt dieser Norm notfalls mittels Zwangs gegen einen entgegenstehenden Willen des Normadressaten durchgesetzt werden soll, was gleichbedeutend ist mit der Vorstellung des Normgebers, dass diese Norm Recht ist. Zwang ist also von vornherein unmittelbarer Bestandteil einer Rechtsnorm, er muss nicht, er kann nicht durch eine Norm selbst angeordnet sein.57 Hingegen ist in zivilisierten Rechtsordnungen die Ausübung des Zwangs geregelt. Diese Ausübung des Zwangs gehört zu den ureigenen und identitätsstiftenden Aufgaben eines Staates. Damit liegt eine statische äußere Betrachtung der Kategorie Recht vor. Ergänzt wird diese nun durch eine Erklärung, wodurch dieser Zwang, der mit einem entsprechend hohen Grad an Verbindlichkeit der Norm einhergeht beziehungsweise mit diesem identisch ist, begründet werden kann, wie er gerechtfertigt, legitimiert werden kann. Wie entsteht die Rechtsnorm? Was verleiht ihr die besondere Legitimität? Woher kommt diese Autorität, die gegenüber freien Individuen zwanghaft durchsetzbare Normen setzen kann?

57  Vgl.

bereits oben, Kapitel 1 A.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie41

III. Rechtserzeugung und Geltungsgrund 1. Begründung, Rechtfertigung und Legitimität des Zwangs Die Durchsetzungsmöglichkeit einer Norm mittels Zwangs ist Voraussetzung ihrer Verbindlichkeit als Rechtsnorm, genau wie diese Verbindlichkeit sich in der Durchsetzungsmöglichkeit mittels Zwangs erschöpft. Woher kommt diese Verbindlichkeit? Was bedeutet Verbindlichkeit? Wie ist diese besondere Legitimität, Rechtsnormen mittels Zwangs durchsetzen zu dürfen, genauer zu verstehen, und worin liegt sie begründet? Die Verbindlichkeit ist nichts Greifbares, Sichtbares, sie ist natürlich reine Vorstellung, aber sie ist insoweit ja existent. Wieweit kann etwas, das, wie oben gezeigt, gerade kein Naturgesetz ist, überhaupt verbindlich sein für Menschen?58 Wie kann es verbindlich sein für Menschen, die ja im Grunde völlig freie Individuen sind, die tun können, was sie wollen, und letztlich nur ihrem eigenen Willen und Gewissen unterworfen sind in den Entscheidungen, die sie treffen? Die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung dieser Verbindlichkeit kann nur in ebenjener Freiheit des Menschen, man kann es nennen: die Souveränität des Individuums – als Ausdruck der Menschenwürde59 – selbst zu finden sein. Was wie ein Widerspruch klingt, ist die These, dass der einzige Ursprung der Verbindlichkeit von Normen nur in der Souveränität des Individuums liegen kann, in der Souveränität, die dem Menschen kraft seines Menschseins anhaftet, die ihm „geistigmoralische Eigenständigkeit und physische Existenz“60 sichert; nur aufgrund dieser Freiheit ist das Individuum in der Lage, sich selbst dieser Verbindlichkeit zu unterwerfen. Und diese Grundannahme muss getätigt werden, um sich überhaupt auf die Existenz von Recht einzulassen. Ansonsten wäre Recht bloße Illusion und Fiktion, nicht einmal das, es wäre sonst logisch überhaupt nicht erklärbar, außer mit bloßer Macht, was aber gerade abzulehnen ist. Die natürliche Freiheit des Menschen, die in seinem Wesen wurzelt und seine Würde ausmacht, die in seiner Natur liegt und die ihn frei macht zu entscheiden, was er will und was nicht, ist Souveränität. Diese Freiheit ist zugleich die Fähigkeit, Recht zu setzen, sich freiwillig Recht zu unterwerfen. Souveränität ist also die Kompetenz der Rechtsfähigkeit. Gleichzeitig ist damit aber Souveränität als höchste rechtliche Kompetenz nicht delegierbar, man kann sich ihrer nicht entledigen, da sie in der SphäKelsen, Reine Rechtslehre, 81. Kant gehöre es zur Würde eines vernünftigen Wesens, dass es keinem Gesetze gehorche, als dem, das es zugleich selbst gibt, und niemand sei obligiert außer durch seine Übereinstimmung, vgl. Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus, 135. 60  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 87. 58  Vgl.

59  Nach

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Kap. 1: Recht

re des Seins begründet liegt, man kann sich nicht seiner natürlichen Freiheit als Mensch, man kann sich nicht seines Menschseins entledigen.61 Was sonst, wenn nicht die innerlich verbindliche, aber freiwillige Unterwerfung des souveränen Individuums seiner selbst, sollte auch in der Lage sein, ein ebensolches Individuum einer irgendwie gearteten normativen Verbindlichkeit zu unterwerfen? Was soll „Müssen“ im Sinne von „Man muss etwas tun, das gesollt ist“, nicht in dem Sinne von etwas, was ohnehin naturgesetzlich alternativlos ist, sonst für eine Bedeutung haben? Macht kann lediglich praktische Verbindlichkeit schaffen, nicht aber rechtliche. Nichts ist ersichtlich, insbesondere bedarf es nicht einer Fiktion, einer „Grundnorm“, wie Kelsen sie annimmt und die nur als ein Platzhalter für die durch Ablehnung aller denkbaren Begründungsansätze von Recht entstehende Lücke erscheint. Die Souveränität des Individuums verleiht diesem die rechtliche Kompetenz, die Fähigkeit, sich Recht zu unterwerfen. Weil das freie, souveräne Individuum sich freiwillig einer Norm unterwirft, sich mit seiner Geltung einverstanden erklärt, ist diese für es verbindlich und die Durchsetzung dieser Norm aus diesem Grunde legitim. In diesem Sinne muss Recht legitim sein, das bedeutet Legitimität von Recht, das ist der Maßstab, an dem sich Recht letztlich legitimieren muss. Eine Norm ist eine Rechtsnorm, wenn ihr genau das Maß an Verbindlichkeit anhaftet, das ihr vermittelt wird durch die in der Souveränität der Rechtssubjekte begründete Legitimität der zwanghaften Durchsetzung. Das wirft die Frage auf, ob nicht alles Recht, wenn man es so definiert, von Grund auf sinnlos sei, da es keiner zwanghaft durchsetzbaren Verhaltensnormen mehr bedürfte, wenn jeder Unterworfene mit dieser Norm ohnehin einverstanden wäre. Dass dem so nicht ist, zeigt das Beispiel des Vertrages als einfacher rechtserzeugender Tatbestand. Die freiwillige Unterwerfung unter eine Norm muss nur zum Zeitpunkt der Normsetzung bestehen, der Wegfall dieser Zustimmung bedeutet aber nicht die Unwirksamkeit der existierenden Norm. Der Wille, von dem die Norm abhängt, ist der vertraglich erzeugte übereinstimmende Wille der Vertragschließenden.62 Dieser besteht aber, einmal erzeugt, unabhängig von einer einseitigen Entfernung von diesem Willen. Die Bereitschaft, sich diesem Willen zu unterKersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 50. erklärt auch Triepel die Entstehung des rechtserzeugenden Willens anlässlich einer „Vereinbarung“, vgl. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 57: „Festzustellen ist jedenfalls, dass das objektive Recht die Vereinbarung als das einzige Mittel gesetzt hat, aus einer Mehrheit individueller Willen einen Gemein- oder Gesamtwillen, d. h. einen solchen Willen zu erzeugen, der als ein von der Vielheit der Willen verschiedener einheitlicher Wille gedacht werden muss.“ Freilich kann sich hier auf Triepel nur unter Hinweis auf dessen Unterscheidung zwischen Vereinbarung und Vertrag berufen werden, vgl. ders., a. a. O., 45 ff. 61  Vgl.

62  Ähnlich



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie43

werfen, ist im Sinn des Vertrages angelegt, sie ist gerade die Grundidee des Vertrages. Zwei Menschen vereinbaren ein gegenseitiges Verhalten „verbindlich“ und haben ja bei der verbindlichen Vereinbarung bereits gerade die Möglichkeit im Blick, dass einer der beiden Vertragspartner sich zu einem späteren Zeitpunkt freiwillig nicht mehr an die Abmachung halten möchte – der einzige Grund, warum sie sich überhaupt gegenseitig verbindlich verpflichten. Sie erklären, dass das Vereinbarte in diesem Fall trotzdem gelten soll, erkennen für diesen Fall Zwang als legitimes Mittel an. Damit ist die Rechtsnorm gesetzt. Spielt sich dieser Vertragsschluss, diese Rechtsetzung, nicht im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung ab, so stellt dies die unmittelbare Setzung von Recht dar, als unmittelbarer Ausfluss der Souveränität des Individuums. Damit ist der Fall denkbar, dass sich zwei fiktive, völlig „primitive“, „unzivilisierte“ Menschen in einem gedachten, völlig „rechtsleeren“ Raum, der „rechtlichen Wüste“, treffen, und mit dem Willen, sich rechtlich zu binden, einen Vertrag schließen, der dann geltendes Recht ist. Insoweit kann man sich vielleicht auch etwas unter einer gewissen Form von „Naturrecht“ vorstellen: dass nämlich diese Fähigkeit, Rechtsnormen zu erzeugen, dem Menschen „von Natur aus“ mitgegeben worden ist, dass er sie automatisch innehat. Es geht hier aber gerade nicht um naturgegebene Rechtsnormen, sondern um die gerade nicht normativ zu begründende Frage nach der Verbindlichkeit von Recht. Es geht um eine Frage des Seins, nicht des Sollens, und dass auf dieser Seite auf naturgegebene Umstände abgestellt werden muss, während das auf der normativen Seite nicht möglich ist, ist ja gerade die These gewesen. Wenn man diese Annahme, These oder Voraussetzung annimmt, dann kann man dies mit einiger Berechtigung als naturwissenschaftliche Voraussetzung oder Grundlage von Recht bezeichnen, die natürliche Gabe des Individuums also, Recht zu erzeugen. Das ist allerdings kein Naturrecht im Sinne von naturgegebenen Rechtsnormen. Eine Art von „Vorrecht“ oder „Naturrecht“ in dem Sinne, dass es bereits vor diesem „primitiven“ Vertragsschluss oder unabhängig von diesem bestimmte natürliche oder vernünftige, jedenfalls aber irgendwie existierende Rechtsregeln gibt, nach denen sich dieser Vertragsschluss richtet oder die bestimmen, dass es sich überhaupt um einen Vertragsschluss handelt, gibt es nicht. Der Grund ist allein in dem Geltungsgrund allen Rechts zu sehen, der in diesem einfachen Beispiel eben sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Es gibt nichts zwischen der Souveränität des Menschen und der rechtlichen Wirksamkeit dieses Vertrags. Unmittelbar aus erster folgt die zweite. Der Vertrag ist Urrecht. Am Beispiel der rechtlichen Wüste zeigt sich also, dass dort das Recht unmittelbar aus dem subjektiven Willen der Vertragsschließenden zur Geltung gelangt. Es bedarf hier keiner dahinterstehenden Rechtsordnung oder -normen mehr, die an bestimmte Tatbestände normativ deren Rechts-

44

Kap. 1: Recht

folge, wie zum Beispiel den Vertragsschluss, anknüpft.63 Hier wird vielmehr, auf der Suche nach dem Geltungsgrund des Rechts, unmittelbar die Brücke in die Sphäre des Seins, in der die Geltung des Rechts begründet liegt, geschlagen. Aber auch die zivilisiertesten, komplexesten und ausdifferenziertesten Rechtssysteme lassen sich, wie das nächste Kapitel (Die Rechtsordnung) zeigen soll, in dieser These über den Grund aller rechtlichen Verbindlichkeit begründen, und zwar nur in dieser These. Die Annahme dieser These ist Voraussetzung dafür, dass etwas wie Recht überhaupt existieren kann. 2. Die Bedeutung von Wirksamkeit und Geltung Wirksamkeit oder Geltung bekommt die Norm nicht durch „im Großen und Ganzen beachtet Werden“ oder „ein Minimum an Befolgung“64, dies kann keine Legitimation begründen. Auch andere Normen als Rechtsnormen können im Großen und Ganzen beachtet werden, auch andere Normen werden befolgt. Andersherum können Rechtsnormen auch in großem Maße missachtet werden, ohne dadurch außer Geltung zu stehen. Die in der Souveränität zum Ausdruck kommende Freiwilligkeit vermag vielmehr die Legitimation zu liefern und zu erklären, was „Geltung“ bedeutet. Eine Rechtsnorm ist nur dann eine Rechtsnorm, wenn sie gilt. Geltung ist also konstitutiver Bestandteil einer Rechtsnorm, ohne allerdings ein drittes Merkmal im dem Sinne darzustellen, dass es neben den genannten Charakteristika der Norm und des Zwangs nun auch noch zusätzlich der Geltung bedürfe. Vielmehr geht die Geltung mit der Existenz einer Rechtsnorm automatisch einher. Es gibt somit keine nicht geltenden Rechtsnormen. Allgemein bedeutet „Geltung“ die Existenzweise einer Norm, also ihre spezifische Existenz als Norm.65 Für die Rechtsnorm bedeutet Geltung damit die spezifische rechtliche Existenz der Norm. Wenn eine Norm in der Weise existiert, dass sie über das oben beschriebene Merkmal des legitimen Zwangs verfügt, dann „gilt“ sie im rechtlichen Sinne und ist somit eine Rechtsnorm, 63  Anders wohl Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 280, der mit Verweis auf Kelsen die Auffassung vertritt, ein Vertrag allein könne keine Ordnung begründen, sondern bedürfe bereits der Rechtsordnung, die Rechtsfolgen eines Vertrages ergäben sich aus dessen ‚objektiven‘ Sinn, dieser ‚objektive‘ Sinn ließe sich aber nicht allein auf das ‚subjektive‘ Wollen der Beteiligten zurückführen; vgl. dazu auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 261 f. 64  Kelsen, Reine Rechtslehre, 10 f.; vgl. auch Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 47 f. 65  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 9: „Mit dem Worte ‚Geltung‘ bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm.“; vgl. auch Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 23 Rn. 5.



A. Die äußere Betrachtung: Recht als Kategorie45

weil sie dann verbindlich in dem beschriebenen spezifisch rechtlichen Sinne ist.66 Es gibt auch keinen Maßstab für einen bestimmten Grad an Geltung, das Spezifikum „Geltung“ ist – das ergibt sich aus der Natur einer Rechtsnorm – einem Maßstab gar nicht zugänglich. Entweder eine Norm gilt rechtlich, oder sie gilt nicht und ist damit keine Rechtsnorm. Insbesondere ein hierarchisches Verhältnis von Normen ist (jedenfalls) nicht aufgrund von mehr oder weniger Geltung der Normen denkbar.67 In Bezug auf eine gesamte Rechtsordnung – diesem Begriff wird sich weiter unten noch eingehend gewidmet – kann allerdings unter dem Grad an Geltung etwas verstanden werden. Eine Rechtsordnung verfügt dann über ein höheres Maß an Geltungskraft, wenn die Legitimität der Rechtsordnung als Ganze höher ist, also der dahinterstehende souveräne Wille stärker, die gemeinsame Identität und Integration des dahinterstehenden Volkes stärker ist.68 Die Frage der Geltung einer Rechtsnorm ist nicht zu verwechseln mit der Frage ihrer Befolgung. Aus ihrer Sicht beansprucht jede Rechtsnorm, befolgt zu werden; ob der Einzelne sie tatsächlich befolgen will, hängt von seiner Überzeugung ab, für die wiederum weitere Faktoren relevant sein können (Moral etc.).69 Wirksamkeit hingegen, um dieses weitere, häufig gebrauchte Attribut von Recht im Sinne einer begrifflichen Konsolidierung zu definieren, ist ein vielmehr der faktisch-sozialen Komponente von Recht zuzuordnendes Merkmal.70 Recht kann, seine Geltung vorausgesetzt, mehr oder weniger wirksam sein. Indizien für den Grad an Wirksamkeit können insbesondere sein der Grad an Befolgung einer Rechtsnorm, der Grad an Verstößen gegen die Norm oder der Grad an Verfolgung der Verstöße gegen die Norm. Man kann die Wirksamkeit einer Norm also mit einer Formel beschreiben als das Verhältnis der ihr vom rechtsetzenden Willen zugedachten Relevanz zu ihrer praktischen, tatsächlichen Relevanz in der Realität des Lebens. Auch wenn die Wirksamkeit keine konstitutive Komponente der Geltung des Rechts ist, so geht von ihr doch zumindest eine indizielle Wirkung für die Effektivität und die Legitimität des Rechts aus.

66  Vgl. auch Winkler, Zeit und Recht, 191 f.: „Die schließliche rechtserhebliche Tatsächlichkeit der Erzeugtheit konstituiert die spezifisch rechtliche Existenz eines Gesetzes als Geltung. Diese ist eine wesentliche Voraussetzung seiner rechtlichen Regelungs- und Ordnungskraft als Verbindlichkeit.“ (Hervorh. im Original). 67  Siehe dazu unten, Kapitel 2 B. 68  Zum Geltungsgrund von Rechtsordnungen unten, Kapitel 3 C. 69  Vgl. unten, B. I. 70  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 10.

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Kap. 1: Recht

B. Die innere Betrachtung: Recht als Inhalt von Normen, Normen als Inhalt von Recht Während oben (A.) das Recht als bestimmte Kategorie normativer Inhalte und die Norm als bestimmte Darstellungsform, als bestimmter Modus71 von Inhalten betrachtet worden ist, richtet sich der Blick nunmehr nach innen, auf den normativen Inhalt von Recht.

I. Recht und Wert Wie oben bereits beschrieben, hat Recht als Inhalt immer Normen, also Sollens-Verhaltens-Vorschriften. Zwingend – anders ist es überhaupt nicht vorstellbar – steht hinter jeder solchen Norm – beziehungsweise vor ihrer Setzung – eine Wertung. Damit ist die Norm einerseits wertgeprägt, andererseits aber auch wertprägend. In sie findet ein Wert Eingang, durch sie findet er wiederum Ausdruck.72 Eine Norm ist immer der Ausdruck einer bestimmten Wertvorstellung, und zwar der Wertvorstellung des Normgebers, der Autorität, die diese Norm setzt, also des souveränen Menschen beim Vertragsschluss oder einer allgemeinverbindlichen staatlichen Rechtsetzungsinstanz.73 Jedes souveräne Wesen – beim Menschen ist das offensichtlich – kann eine individuelle Wertevorstellung haben. Das bedeutet gerade Souveränität. In diesem Sinne sind Werte immer relativ.74 Und in diesem Sinne ist Recht auch inhaltlich offen gegenüber allen Inhalten: Theoretisch kann jede Norm zur Rechtsnorm gemacht werden, da ihr jeder Wert zugrunde gelegt werden kann.75 „Zu weit ist freilich die Formel, daß eine Rechtsordnung an der Idee der Gerechtigkeit ausgerichtet sein müsse. Denn wie bekannt bergen sich in diesem Gewande widersprechende Wertideen.“76 Vor dieser Erkenntnis kann man nicht die Augen verschließen. Wer das leugnet, insbesondere im Interesse einer Menschlichkeit – in diesem Sinne wird häufig gegen „den Rechtspositivismus“ polemisiert, insbesondere nach den Erfahrungen der deutschen Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts77 –, der verlangt vom Recht etwas zu leisten, was zu leisKelsen, Reine Rechtslehre, 6. Kelsen, Reine Rechtslehre, 16 ff. 73  Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 41: „Werte als Grund, auf dem das Recht ruht“; vgl. auch ders., a. a. O., 56. 74  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 68 ff. 75  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 18. 76  Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 35. 77  So noch 1995 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrecht, Rn. 697. Diese „Legende“ von der Schuld des Rechtspositivismus kann eigentlich als widerlegt gelten, dennoch wird sie aufrechterhalten; vgl. Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus, 71  Vgl. 72  Vgl.



B. Die innere Betrachtung: Recht als Inhalt von Normen47

ten es nicht vermag. Der schiebt im Zuge einer Verlegenheitslösung die Verantwortung, die Recht als Kategorie nie tragen kann, da es normativ unvoreingenommen ist und Wertung nur und erst durch den Normgeber erhält, auf „das Recht“ ab. Diese Verantwortung ist aber in Wahrheit die Verantwortung der souveränen Wesen, die das Recht erzeugen, und vor „unmenschlichem“ Recht – auch hier eine Wertung! – kann kein Recht der Welt schützen, kein fiktives perfektes Rechtssystem, kein Naturrecht, da alles dieses nicht denkbar ist – nur die Menschen selbst durch verantwortungsbewusstes Handeln, auch bei Wahrnehmung der Rechtserzeugung78. „Weil sich die Wertungen, die Grundlagen des nationalsozialistischen Regimes waren, letzten Endes für jedermann erkennbar, als menschenverachtend herausgestellt haben, müssen wir nicht zur Fundamentalkritik aller Wertungen als Grundlagen des Rechts schreiten.“79 Das gilt in der bisher beschriebenen primitiven Form von Recht ebenso wie in jeder noch so zivilisierten Rechtsordnung, da Recht immer nach denselben Grund­ prinzipien funktioniert. Die Wertung muss immer vor der Rechtsetzung, die dann die rechtliche Normierung dieses Wertes darstellt, stehen. „Logisches Prius des Rechts als Bestimmungsnorm ist überall das Recht als Bewertungsnorm.“80 Inhaltlich determiniert kann Recht nur durch „höherrangiges“81 Recht sein, aber letztlich nie das Recht a priori durch bestimmte Grundwerte vorbestimmt. Staatlich82 gesetztes positives Gesetzesrecht einer Rechtsordnung kann demnach inhaltlich beschränkt sein durch eine Verfassung, die die gesamte nachfolgende positive Rechtsordnung nach bestimmten Wertvorstellungen prägt. Niemals aber kann die erste beziehungsweise höchste Ebene einer Rechtsordnung, die Verfassung selbst also, inhaltlich beschränkt sein. Entscheidend ist allein die Wertung des Normgebers. Die Setzung und darin enthalten die Wertung des Normgebers ist Voraussetzung für die Existenz und Geltung von Recht. Es ist daher kein Wunder, dass nach den Katastrophen des Nationalsozialismus, 137 ff.; vgl. auch die Kontroverse um die Äußerung des damaligen BGH-Präsidenten Günter Hirsch zu diesem Thema, Hirsch, Zwischenruf – Der Richter wird’s schon richten; dagegen Möllers, Mehr oder weniger virtuos, sowie Rüthers, Zwischenruf aus der methodischen Wüste: „Der Richter wird’s schon richten“ (?). Einen deutlichen symbolischen Beweis dafür, dass es sich bei den Nationalsozialisten mitnichten um Rechtspositivisten handelte, lieferte das Regime selbst mit einer bekannten Fotografie, die das Paragraphenzeichen am Galgen darstellt (1933, Referendarlager Jüterbog). 78  Vgl. Schmidt, Rechtspositivismus und die Geltung von Recht und Verfassung, 10. 79  Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 45. 80  Engisch, Einführung in das juristische Denken, 28. 81  Zu diesem Begriff siehe unten, Kapitel 2 B. 82  Vgl. zum Begriff des „Staatlichen“ unten, Kapitel 6 B. I.

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Kap. 1: Recht

des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust – alles Ereignisse, die das Recht, insbesondere der Positivismus, nicht im Geringsten verschuldete, aber eben auch nicht verhindern konnte – in Deutschland eine Renaissance83 des Naturrechts84 begann. Man könnte sogar von einer „Flucht in das Naturrecht“ sprechen, da man angesichts des Unfassbaren versuchte, Halt im Recht zu finden – und damit die Erwartung an das Recht klar übersteigerte. Man muss sich von dem im Wort „Recht“ immer etwas mitschwingenden positiv-moralischen Urteil lösen, um das Recht positivistisch als das, was es ist, zu begreifen.85 Die Beurteilung, ob Recht gilt, ob es also Recht ist oder nicht, kann nur anhand höherrangigen Rechts und den Voraussetzungen von Recht überhaupt gelingen. Die Beurteilung, ob es gutes oder schlechtes Recht ist, letztlich auch die Frage, ob man ihm gehorchen soll oder nicht, kann immer nur am eigenen Maßstab und anhand der Parameter, die man für sich selbst anerkennt (Moral, Religion etc., allgemein: Werteüberzeugung), gelingen.86 Auch hier, auf der inhaltlichen Seite der Betrachtung des Rechts, setzt sich damit der Positivismus fort: Die Moral oder jede andere bewertende Größe spielt zwar bei der Setzung des Rechts eine wichtige Rolle. Bei der Definition des geltenden Rechts, so, wie es ist, bleibt die Moral aber außen vor.87 Recht, wie es ist, ist das eine, Recht wie es sein soll, das andere.88 Das eine ist die äußere, das andere die innere Betrachtung. Der englische Rechtsphilosoph John Austin89, Wegbereiter des Rechtspositivismus, formulierte es wie folgt: „The existence of law is one thing; its merit or demerit is another. Whether it be or be not is one enquiry; whether it be or be not conformable to an assumed standard, is a different enquiry. A law, which actually exists, is a 83  Vgl.

22.

Schmidt, Rechtspositivismus und die Geltung von Recht und Verfassung,

84  Vgl. insbes. die Schrift von Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 107; vgl. auch Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, 45; sowie Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus, 137 ff. 85  Dafür plädierte (1910) auch Richard Thoma, wenngleich dies dazu nötige, „die schmählichste Verirrung staatlicher Machthaber mit dem hohen Namen des Rechts zu schmücken“, Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, 202 (dort Fn. 13). 86  Vgl. Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus, 137 ff., insbes. 142. 87  Vgl. Schmidt, Rechtspositivismus und die Geltung von Recht und Verfassung, 11. 88  Die Trennung von Recht und Moral ist eine der Kernaussagen der positivistischen Strömungen; vgl. nur Kelsen, Reine Rechtslehre, 68 ff.; Schmidt, Rechtspositivismus und die Geltung von Recht und Verfassung, 17; Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, 57. 89  John Austin, 1790–1859; als sein Hauptwerk gilt The Province of Jurisprudence Determined, erstmals London 1832.



B. Die innere Betrachtung: Recht als Inhalt von Normen49

law, though we happen to dislike it, or though it vary from the text, by which we regulate our approbation and disapprobation.“90 Den Kritikern des Rechtspositivismus, allen voran dem späteren Gustav Radbruch, muss man entgegnen: Erstens ist es selbstverständlich, dass die Frage von Rechtsgeltung getrennt von der des Rechtsgehorsams zu beurteilen ist.91 Der Rechtspositivismus verlangt gar keine Befolgung des geltenden Rechts um jeden Preis. Zweitens ist es nur scheinbar ein Vorteil, wenn der Richter anstelle des Gesetzgebers darüber entscheidet, ob eine positive Rechtsnorm Recht ist, oder ob sie ein so hohes Maß an Ungerechtigkeit erreicht, dass sie als Unrecht anzusehen ist.92 Denn der Maßstab der Gerechtigkeit ist nichts anderes als die subjektive Moral93, und damit stellte sich der Richter genau dieselbe Frage, die sich ja bereits der Gesetzgeber gestellt hat. Und es ist nicht ersichtlich, warum der Richter per se über die bessere Moral als der Gesetzgeber verfügen sollte.94 Es kann also, nachdem ein Naturrecht bereits nicht in der Sphäre des Sein hatte begründet werden können, auch in der Sphäre des Sollens mangels einer absoluten Richtigkeit jede Form von absoluter Rechtsordnung ausgeschlossen werden.95 Selbst wenn man die Vorstellung befürwortet, dass es bestimmte absolute Werte gebe, dass eine wirklich objektive Werteordnung existiere, das heißt Werte, die unabhängig von der Vorstellung desjenigen existieren, der sie verinnerlicht, bedeutet das nicht, dass auch eine überrechtliche, vorrecht­ liche oder naturrechtliche Rechtsordnung existiert. Selbst wenn man Werte wie die (normative Seite der) Freiheit des Menschen nicht in relativer Abhängigkeit von kultureller, sozialer, historischer, politischer Prägung sieht, sondern sie als sich sozusagen naturwissenschaftlich aus der anthropologischen Gegebenheit des Menschen96 ergebend betrachtet, dann betrifft diese absolute Geltung nur den jeweiligen Wert. Daraus eine Rechtsnorm zu machen, ist ein nach oben beschriebener Art ablaufendes soziales Phänomen, welches erst noch stattfinden müsste, damit dieser Wert in einer Norm 90  John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, zitiert nach Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, 596. 91  Vgl. Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus, 144  ff.; bereits Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, 141. 92  Sog. Radbruch’sche Formel, vgl. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 107. 93  So auch Hobbes im Leviathan, vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 3 Rn. 5. 94  In diese Richtung auch Thoma, vgl. Dreier, Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, XLVII. 95  So hat Thoma diese Vorstellung des absoluten Rechts als „Wunschrecht“ bezeichnet, vgl. Dreier, Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, XLIV f. 96  „Werte, die anthropologischen Grundgegebenheiten Rechnung tragen“, Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 55.

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Kap. 1: Recht

der Kategorie Recht Ausdruck finden kann.97 Inhaltlich ist Recht aber eine wertoffene Form von Normen, also zwar immer wertgeprägt und damit natürlich auch immer Werte zum Ausdruck bringend, aber eben offen gegenüber allen denkbaren Werten, nicht vorfestgelegt auf bestimmte Werte. Und damit kann theoretisch alles Inhalt von Rechtnormen sein – vorausgesetzt nur, aber das ist keine Einschränkung98, dass der Normgeber, geprägt von irgendeiner Wertevorstellung, diese Norm als Recht setzen will. Wenn man eine objektiv existierende Werteordnung annimmt, so kann diese als Maßstab für das Recht dienen, das dieser Ordnung dann entsprechen kann oder nicht entsprechen kann. Man könnte das Recht demnach als „gerechtes“ oder „ungerechtes“ Recht bezeichnen, wenn man diese Kategorien dafür verwenden möchte. Das hat aber keinen Einfluss auf die Qualifikation der Norm als Recht und man darf nicht den Fehler begehen, eine mög­ licherweise existierende objektive (Natur-)Werteordnung als (Natur-)Rechtsordnung zu interpretieren.

II. Rechtsnorm und Rechtssatz Nach der vorstehend beschriebenen theoretischen Form einer Rechtsnorm muss nun praxisorientiert auch darauf eingegangen werden, wie Rechtsnormen im wahren Leben, in Gesetzen, Verträgen etc. erscheinen, wie sie sich dem Rechtsanwender präsentieren. Das Recht, wie es sprachlich in allen möglichen Materialien zum Ausdruck kommt, ist nicht eine mehr oder weniger systematisch sortierte Auflistung aller geltenden Rechtsnormen. Nicht jede einzelne Rechtsnorm, also jeder rechtlich verpflichtender Sollens-Verhaltens-Satz, steht in genau dieser Form auch geschrieben im Gesetz. Es besteht zunächst ohnehin nicht einmal ein zwingender Anlass dazu, dass eine Rechtsnorm überhaupt irgendwo geschrieben stehen muss, um ihr Gültigkeit zu verleihen. Jedoch besteht in der Praxis natürlich das Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Aus diesem Grunde ist das in einer Rechtsordnung geltende Recht, und das ist beispielsweise in Deutschland zum bedeutendsten Teil das staatliche, verfassungsgemäß gesetzte, in bestimmter Form niedergeschrieben. Warum dieses staatliche Recht als Recht gelten soll, wird später thematisiert. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass immer das Instrument der Sprache benutzt werden muss, um existierenden Rechtsnormen zum Ausdruck zu verhelfen. Das, was in irgendeiner Form als Recht zum Ausdruck kommt, also alles das, was einem praktisch als Recht begegnet, ist nur die sprachlich zum Ausdruck kommende Seite oder Oberfläche des97  Zu die Rechtsordnung a priori verpflichtenden Werten vgl. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 54. 98  Vgl. unten, Kapitel 4 A.



B. Die innere Betrachtung: Recht als Inhalt von Normen51

sen, was rechtlich gilt. Schon gar nicht ist ein einzelner Paragraf, ein Artikel oder ein Satz eines Gesetzes einer Rechtsnorm im oben definierten Sinne gleichzusetzen. Vielmehr kann es sein, dass in einem Rechts-„Satz“ im sprachlichen Sinne zwei oder mehrere Rechtsnormen enthalten sind, ebenso aber auch, dass dieser eine Satz alleine noch überhaupt keine selbstständige Rechtsnorm ergibt. So sind auch Rechtssätze wie der in § 929 BGB, dass Eigentum durch Einigung und Übergabe übertragen wird, ebenso unselbstständige Bestandteile einer Rechtsnorm wie § 15 StGB, der besagt, dass grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln einen Straftatbestand erfüllt. Hingegen lassen die Rechtssätze des materiellen Strafrechts (die Tatbestandsund Strafanordnungsnormen), wie oben gezeigt, zumindest zwei Normen erkennen. Aber auch diese sind in gewissen Fällen nicht ohne weitere Sätze, wie beispielsweise die über Rechtfertigungsgründe, zu lesen, um zur letztlich geltenden Norm zu gelangen. Zu einer tatsächlich anderen Kategorie gehören die Sätze, die lediglich die staatliche Ausübung des Gewaltmonopols beziehungsweise die Organisation der Rechtsordnung regeln, sich aber nicht als Teile von Rechtsnormen im Sinne von an Rechtssubjekte adressierten Verhaltensnormen verstehen lassen. Derartige Rechtssätze regeln die Organisation des Rechts, seine Setzung, seine Anwendung und die Rechtsprechung. Daneben kommen in Form von Rechtssätzen häufig auch nichtnormative Inhalte zum Ausdruck, beispielsweise in Form einer (bewusst oder unbewusst) deklaratorischen Anerkenntnis eines Gesetzes aus der Sphäre des Seins.99 Es muss folglich differenziert werden zwischen der Rechtsnorm als theo­ retischer Kategorie einerseits, und andererseits dem Rechtssatz als sprach­ lichem Ausdruck einer Norm.100 Es ist der Unterschied zwischen Sprache und Recht, zwischen Medium und Inhalt.101 Die Rechtsnormen ergeben sich erst aus der Gesamtheit, aus einem systematischen Zusammenspiel aller Rechtssätze.102 Die gesamte geschriebene Rechtsordnung beschreibt sprachlich, ausgedrückt durch Rechtssätze, das dahinterstehende Rechtsnormensystem. Da die Norm immer etwas rechtlich Gesolltes und damit im Ursprung immer etwas (seitens des Rechtsetzers) Gewolltes ist, ist sie etwas Inneres und auf die Deutung ihres (sprachlichen) Ausdruckes – des Rechtssatzes – angewiesen. 99  Zum Beispiel Art. 6 WVK: „Jeder Staat besitzt die Fähigkeit, Verträge zu schließen.“ Das ist keine Soll-Vorschrift, sondern ergibt sich zwingend aus der Souveränität des Staates; vgl. dazu unten, Kapitel 6 A. II. 100  Vgl. auch Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 23 Rn. 1, der zwischen „Norm“ und „Normsatz“ unterscheidet. 101  Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 25 Rn. 1. 102  Vgl. dazu auch Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 26 ff.

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Kap. 1: Recht

Dieser Unterschied zwischen Rechtssatz und Rechtsnorm ist allgemein anerkannt. Dennoch sollte er hier benannt werden, da die Arbeit sich der Änderung von Recht widmet. Diese betrifft praktisch die Änderung von Rechtssätzen, wird aber theoretisch maßgeblich von der Natur der dahinterstehenden Rechtsnormen beeinflusst. Es muss differenziert werden zwischen dem Rechtssatz, wie er im juristischen Sprachgebrauch und in den Rechtsmaterialien existiert, und der Rechtsnorm, die sich aus einem oder mehreren Rechtssätzen ergibt und die das rechtlich wirklich Relevante hinter jedem Rechtssatz ist. Die Rechtsnorm ist das wissenschaftlich Interessante, auf das sich jeder Rechtssatz herunterbrechen lässt; für den juristischen Gebrauch in der sozialen Wirklichkeit genügt es aber, sich an den Rechtssätzen zu orientieren. Die wahre Rechtsnorm dahinter ist nur interessant, wenn man, wie hier, das ganze System „Recht“ versucht, wissenschaftlich zu begreifen.103 Zur Verdeutlichung dient wieder ein unkonventionell anmutender Vergleich, der aber eine Parallele aus einem anderen Gebiet aufzeigt: Alles, was sich mithilfe von Computern darstellen lässt, lässt sich letztlich mittels eines Systems von Nullen und Einsen, des sogenannten Dualsystems, ausdrücken. Niemand, der auf einen Monitor eines PCs oder das Display eines Smartphones schaut, sieht dort Nullen und Einsen. Und kaum jemanden, der mit dem PC arbeitet, interessiert auch dieses duale System – ihn interessiert alleine die Benutzeroberfläche. Dennoch ist dieses Dualsystem das hinter jeder digitalen Darstellung stehende System. Alleine der Informatiker, der die Funktionsweise des Systems begreifen muss, widmet sich dem dahinterstehenden System. Und ebenso lässt sich jeder Inhalt von Rechtssätzen, also jeder Gesetzestext, soweit er denn wirklich Recht ist, in Form von Rechtsnormen formulieren.

C. Die Person als Bezugspunkt allen Rechts Recht richtet sich immer an Rechtsadressaten; der Begriff des Rechtssubjekts bietet sich an. Aus dem hergeleiteten grundlegenden Charakter des Rechts als Selbstverpflichtung ergibt sich der Grundsatz der Identität von Rechtserzeugern und Rechtsadressaten. Es handelt sich bei diesen Rechtssubjekten um die „Personen“ einer Rechtsordnung. Das sind die Menschen 103  Vgl. zu all diesem auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 22 f.: „[Normen sind] natürlich nicht […] die einzelnen grammatischen Sätze in einem Gesetzbuch. Diese Sätze sind nämlich aus ‚gesetzestechnischen‘ Gründen meist unselbständig. Sie ergeben nur durch wechselseitige Zusammenfügung einen vollständigen Sinn. Daß in dieser Zusammenfügung ein gut Teil der juristischen Kunst steckt, werden wir später noch sehen.“



D. Die Koordinationsordnung als primitive Form des Rechts53

in der Rechtsordnung einer Gesellschaft beziehungsweise eines Staates. Das können Staaten in einer möglicherweise unter diesen existierenden Rechtsordnung, dem Völkerrecht, sein. Dieser Grundcharakter des Rechts als Selbstverpflichtung ist Konsequenz aus dem hergeleiteten einzig denkbaren Geltungsgrund von Recht. Daraus ergibt sich die Identität von Rechtserzeugern und Rechtsadressaten. Recht als spezifische Form von Normen kann nicht im luftleeren Raum existieren. Es wird geschaffen von Menschen für Menschen. Mit der Existenz von Rechtsnormen korrespondiert zwingend immer auch die Existenz von Personen, an die es sich richtet. „Person“ soll in diesem rechtlichen Zusammenhang auch nichts anderes bedeuten als diese Rechtssubjektivität, also die Fähigkeit, Adressat von Rechtsnormen zu sein. Person im rechtlichen Sinne sein bedeutet Rechtssubjekt sein, mithin die Fähigkeit zu besitzen, Träger von Rechten und (rechtlichen) Pflichten sein zu können. Die so definierte Personeneigenschaft ist beim Menschen aufgrund seiner Souveränität ohne Weiteres gegeben. Der Mensch verfügt über Souveränität und damit von Natur aus über Rechtssubjektivität. Er kann daher als natürliche Person bezeichnet werden, er ist geborene Person. Ebenso ist der Staat als Verkörperung des Souverän eine Person. Ebenso wie der Mensch ist er – wie noch gezeigt werden wird104 – eine geborene Person, aber im Gegensatz zum Menschen vielleicht besser als ideelle Person statt als natürliche Person zu bezeichnen, da (offensichtlich) gewisse Unterschiede bestehen. Eine Rechtsordnung kann aber auch andere Konstrukte mit Personenqualität ausstatten. Diese gekorenen Personen verfügen nicht über Souveränität, ihnen wird die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, normativ zugewiesen. Der Begriff der juristischen Person bietet sich hier an.

D. Die Koordinationsordnung als primitive Form des Rechts Vor jeder Form von Staatlichkeit, vor jeder Form von Rechtsordnung und sogar Gesellschaftsordnung ist Recht möglich. Die „rechtliche Wüste“, der Natur- oder Urzustand, das Minimum, was man sich an Gesellschaft vorstellen kann – die bloße Existenz von Menschen –, ist ein Zustand, in dem die Menschen als Personen, als Rechtssubjekte aufgrund ihrer souveränen Freiheit als Mensch die Möglichkeit haben, Recht zu setzen, indem sie Verträge schließen. In dieser Koordinationsordnung stehen alle Rechtssubjekte – das sind zunächst ausschließlich Menschen – mit gleichen rechtlichen Fähigkeiten nebeneinander. Es gibt keine a priori über- oder unterge104  Vgl.

unten, Kapitel 6 A. III.

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Kap. 1: Recht

ordneten Subjekte. Eine solche Über- oder Unterordnung kann nur vertraglich zustande kommen und dann auch nur relativ im Verhältnis der Vertragspartner. Seiner Souveränität kann sich allerdings kein Rechtssubjekt entledigen, auch nicht vertraglich. Sie ist etwas Angeborenes, von Natur aus dem Menschen Anhaftendes. Der Mensch würde aufhören, Mensch zu sein, wenn er die Souveränität aufgäbe – beides ist gleichermaßen unmöglich.105 Der Inhalt des geltenden Rechts ist naturgemäß geprägt von dem Interesse der Rechtsetzenden, also ausschließlich von Individualinteressen. Größere rechtliche Zusammenschlüsse mehrerer Individuen haben ebenfalls ihren Grund in den jeweiligen individuellen Interessen, mögen hier auch Kompromisse geschlossen worden sein oder teilweise gleiche Interessen vorliegen. Jedoch ist es auch in dieser Koordinationsordnung bereits möglich, zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, zu unterscheiden. Diese Differenzierung richtet sich aber nicht an einer übergeordneten Rechtsordnung, an einer Werteordnung, die über allen steht, aus. Sie richtet sich allein daran aus, ob etwas als Recht vereinbart worden ist, ob eine Gewaltausübung als legitime Durchsetzung von geltendem (Vertrags-)Recht zu klassifizieren ist. Etwas ähnliches – aber eben nur ähnliches – wie allgemeinverbindliches Recht kann nur in der Form geschlossen werden, dass eine Gruppe Menschen sich einstimmig einem Willen (einem natürlichen Willen eines Menschen oder einem irgendwie zustande kommenden derivativen Willen) unterordnet. Diese Gruppe oder dieser Miniatur-„Staat“ basiert aber dann auf der Funktionsweise der Koordinationsordnung und weist wesent­ liche Unterschiede beziehungsweise Defizite gegenüber der (staatlichen) Rechtsordnung, wie sie im nächsten Kapitel definiert wird, auf. Die Rechtssubjekte dieser Koordinationsordnung sind durch nichts ausgezeichnet worden als durch ihre souveräne Freiheit, also eine Eigenschaft, die jedem Menschen anhaftet. Damit kann jeder Mensch an dieser Koordinationsordnung teilnehmen, eine Abgrenzung nach außen oder ein integrierendes Merkmal nach innen ist nicht ersichtlich. Der Staat und seine Rechtsordnung, insbesondere die Verfassung als oberstes Recht, können so nicht erklärt werden.

E. Zwischenergebnis Der Dualismus zwischen Sein und Sollen, konkret auf das Recht angewandt, bedeutet, dass zwischen Form und Inhalt von Recht unterschieden werden muss.106 Die Natur bestimmt das Sein. Da der Inhalt von Normen Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 65. Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 25, in Bezug auf Kelsen, der „zwischen Form und Inhalt unterscheidet, indem er der Form des Rechts strenge 105  Vgl.

106  Vgl.



E. Zwischenergebnis55

allein der Sphäre des Sollens zugehört, ist kein Naturrecht denkbar. Die spezifische Form der Rechtsnorm findet ihre letzte Begründung, die Legitimation ihrer Geltung, nicht in irgendeiner Norm (sei es eine sogenannte Grundnorm oder das Naturrecht), sondern in der Sphäre des Seins, in der Souveränität des Normgebers und -unterworfenen nämlich. Die Souveränität des Individuums ist die natürliche und vor allem nicht-normative Grundvoraussetzung dafür, dass Rechtsnormen entstehen können. Eine wesentliche Erkenntnis ist damit, dass die Fähigkeit zur Normsetzung zwingend Souveränität voraussetzt. Nur aufgrund der Souveränität der Rechtssubjekte sind diese in der Lage, selbst die dem Recht anhaftende normative Verbindlichkeit zu erzeugen, die ja mit der Verbindlichkeit im naturgesetzlichen Sinne nichts gemein hat. Souveränität in diesem Sinne ist von Natur aus vermittelte Rechtsfähigkeit. Weiterhin besteht zwingend immer Identität von Rechtserzeugern und Rechtsadressaten, so dass man mit dem Begriff „Rechtssubjekt“ beide Seiten zugleich benennen kann. Diese Identität ist prägend für das Rechtsverständnis und eine wichtige Erkenntnis auch in Bezug auf das allgemeinverbindliche Recht, das in der Praxis eine entscheidende Rolle spielt, in der Begründung aber sicherlich komplexer ist als der soeben geschilderte „primitive“ Vertragsschluss. Dort liegt gerade keine unmittelbare individuelle Zustimmung zur Norm vor.

Gesetzmäßigkeit zuerkennt, seinen Inhalt aber der unberechenbaren Willkür entspringen läßt.“

Kapitel 2

Die Rechtsordnung Die im vorherigen Kapitel dargebotene Beschreibung der Natur, der Grundzüge von Recht an sich, bleibt noch in einem Stadium ziemlicher Abstraktion. Sie ist noch relativ weit von der Erklärung dessen, was wir in unseren komplexen Rechtsordnungen als Recht erleben, entfernt und beantwortet lange nicht alle Fragen der Geltung dieses praktisch existierenden Rechts und schon gar nicht die Fragen nach der Identität der Verfassung, der Verfassunggebung sowie der Verfassungsänderung – Phänomene, die erst im Rahmen der komplexeren Rechtsordnung auftauchen. Schließlich sind die wenigsten als geltend anerkannten Rechtsnormen oder Rechtssätze unmittelbar auf den souveränen Willen desjenigen individuellen Rechtssubjektes, für das dieses Recht gilt, zurückführbar. Zu diesen Fragen wird in diesem Kapitel übergeleitet. Auf den dargestellten Grundlagen des Rechts werden nun die Entstehung und der Charakter einer Rechtsordnung mit einer Verfassung hergeleitet. Dabei widmet sich dieses Kapitel der Betrachtung und deskriptiven Beschreibung einer Rechtsordnung, während im da­ rauffolgenden Kapitel die konstruktive Begründung, also Legitimation der Rechtsordnung, im Mittelpunkt steht.

A. Die Charakteristika der Rechtsordnung Die oben behandelte Koordinationsordnung erfasst nicht die Komplexität der rechtlichen Verhältnisse, in denen wir leben. Insbesondere in Staaten tritt Recht in einer Form auf, die mit den bisher genannten Methoden der Rechtserzeugung unmittelbar durch die Rechtssubjekte selbst nicht erklärt werden kann. Gegenüber der Koordinationsordnung soll diese komplexere Art von rechtlichen Strukturen mit dem Begriff der „Rechtsordnung“ bezeichnet und näher untersucht werden. Was kennzeichnet solche Rechtsordnungen? Wodurch unterscheiden sie sich von der „primitiven“ Koordina­ tionsordnung? Nach oben (Kapitel 1) Gesagtem ergibt sich die einzige Rechtfertigung des Zwangs bei der Durchsetzung einer Rechtsnorm – und damit die Legitimation und Geltung von Recht überhaupt – daraus, dass der, an den sie adressiert ist, sich ihr freiwillig – kraft seiner Souveränität – bei der Setzung



A. Die Charakteristika der Rechtsordnung57

dieser Norm unterworfen hat. So wurde der Prototyp einer einfachen, „primitiven“ Rechtslandschaft, der – hier so genannten – Koordinationsordnung, definiert. Sind sich mehrere Menschen einig bezüglich einer Verhaltensnorm, so können sie diese gemeinsam verbindlich beschließen und schaffen damit eine für alle Beteiligten verbindliche Rechtsnorm. Auch das hat noch den Charakter eines Vertrages mit Zustimmung aller Beteiligten. Recht beruht auch hier letztlich auf dem Konsens- oder Einstimmigkeitsprinzip. Die primitivste Form einer Rechtsordnung wäre damit die Koordinationsordnung, in der jeder seine Rechtsverhältnisse mit jedem selbst regelt. Von einer Rechtsordnung kann dann aber eigentlich noch nicht gesprochen werden, es fehlt an dem alle umfassenden und andere ausschließenden Rahmen, dem einheits- und identitätsstiftenden Element. Der Begriff der Rechtsordnung soll hier nun eingeführt und sich von dem der Koordina­ tionsordnung durch genau diese Merkmale unterscheiden. Der offensichtlichste Unterschied der Rechtsordnung – und so wird der hier eingeführte Begriff der Rechtsordnung im Folgenden verwendet – zur Koordinationsordnung ist die Existenz allgemeinverbindlichen Rechts. Dieses allgemeinverbindliche Recht zeichnet sich dadurch aus, dass es erstens zentral erzeugt wird und zweitens für alle Rechtssubjekte gleichermaßen Geltung beansprucht, und zwar unabhängig von deren Zustimmung im Einzelfall. Zur Geltung der Normen ist nicht mehr die einstimmige Zustimmung eines jeden Adressaten notwendig. Nun wäre dieses Phänomen selbst in der Koordinationsordnung noch dadurch zu erklären, dass diese zentrale Rechtsetzungsautorität von allen ihr (im Nachhinein) unterworfenen Rechtssubjekten die entsprechende Kompetenz delegiert bekommen hätte.1 Dieser Beliebigkeit widerspricht aber ein zweiter wesentlicher Unterschied, nämlich der der abgrenzbaren Einheit der Rechtsordnung.2 Zwischen beiden Merkmalen, zentraler Setzung allgemeinverbindlichen Rechts und abgrenzbarer Einheit, besteht ein Zusammenhang. Ein Einheitspunkt3 muss existieren, der einerseits aus einer Gruppe von Rechtssubjekten eine abgrenzbare Einheit bildet, sie zur Rechtsordnung formt, und andererseits innerhalb dieser Einheit auch für die einheitliche Rechtsetzung verantwortlich ist. Das allgemeinverbindliche Recht in der Rechtsordnung muss also letztlich auf eine einheitliche Rechtsquelle zurückzuführen sein und diese einheitliche Rechtsquelle muss die Rechtsordnung nach innen 1  So im Wesentlichen die kontraktualistischen Modelle der Gesellschaftsverträge, siehe unten, Kapitel 3 B. 2  Vgl. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 26 f. 3  Vgl. Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 10: „Von Ordnung kann nur gesprochen werden, wenn das Mannigfaltige über einen Einheitspunkt, einen Zweck, einen Wert verfügt.“

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

zusammenhalten und nach außen abgrenzen4 sowie auch von vornherein vorgeben, welche Rechtssubjekte ihr unterstehen und welche nicht. Die Rechtsordnung als Einheit, das bedeutet daher: Rechtsnormen und Rechtssubjekte bilden eine Einheit, aber da sie nicht dasselbe sind, muss es ein Einheitsmoment geben, das identitätsstiftend auf alle Bestandteile der Rechtsordnung ausstrahlt. Dieses Einheitsmoment gilt es, zu identifizieren und anhand seiner die Identität einer Rechtsordnung festzumachen sowie die Geltung des allgemeinverbindlichen Rechts zu legitimieren. Bei letzterem ist die Herausforderung, den Grundcharakter von Recht als freiwillige Selbstverpflichtung (Identität von Rechtsetzern und Rechtsadressaten) zu wahren, aber gleichzeitig nicht mehr das Konsens- oder Einstimmigkeitsprinzip als Legitima­ tion heranziehen zu müssen. Dieser Aufgabe widmet sich vor allem das nächste Kapitel. In diesem Kapitel wird nun – vorerst den letzten Legitimationsgrund der Rechtsordnung noch vorausgesetzt – die Funktionsweise und Struktur des Rechts innerhalb einer Rechtsordnung genauer betrachtet.

B. Der Stufenbau der Rechtsordnung Nach oben hergeleiteter Geltungsbegründung von Recht an sich lässt sich verallgemeinert sagen, dass Recht die ihm anhaftende rechtliche Verbindlichkeit dadurch bekommt, dass der dahinterstehende normsetzende Wille die Kompetenz dazu hat, also die – selbst nicht normative, sondern natürlich begründete – Fähigkeit. Diese Kompetenz ist, wie oben grundsätzlich hergeleitet, Souveränität, das bedeutet: die Fähigkeit der rechtlichen Selbstverpflichtung. Eine von einem souveränen Willen gesetzte Rechtsnorm ist rechtlich verbindlich. Nun liegt es auf der Hand, dass die wenigsten Rechtsnormen in der staatlichen Rechtsordnung unmittelbar von einem souveränen Willen gesetzt worden sind. Vielmehr werden sie von Ministern, von Parlamenten (deren Souveränität nicht – jedenfalls nicht ohne Weiteres, ohne Begründungsaufwand – vorausgesetzt werden kann!5) etc. gesetzt, also zwar von (souveränen) Menschen, aber eben nicht in ihrer Funktion als souveräne Rechtsetzer für den eigenen Bereich, sondern als Gesetzgeber allgemeinverbindlichen Rechts. Bei allen allgemeinverbindlichen Normen, deren Geltung sich gerade nicht durch dahinterstehende Einstimmigkeit ­aller Betroffenen ergibt, stellt sich somit die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit, mit anderen Worten: die Frage der Legitimität. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 27. Parlament ist verfasste Gewalt, vgl. auch Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 65. 4  Vgl. 5  Das



B. Der Stufenbau der Rechtsordnung59

I. Die Hierarchie der Normgeber Setzt man jedoch einen souveränen Rechtsetzungswillen voraus, so kann man, von diesem an der Spitze ausgehend, das Bild einer hierarchisch aufgebauten Rechtsordnung zeichnen, wie es durch Merkl6 geschehen und dann durch Kelsen in der Reinen Rechtslehre7 adaptiert worden ist. Den Souverän vorausgesetzt kann man ohne Weiteres annehmen, dass dieser Wille – genau so, wie er Rechtsnormen setzen könnte – auch anderen Organen – sagen wir: einem Minister – diese Kompetenz delegieren kann. Es handelt sich dabei um eine normative Ermächtigung, Kompetenzübertragung oder -delegierung. Normativ bedeutet: Nicht die naturgegebene Souveränität, also die Möglichkeit, aus eigener Kompetenz Recht zu setzen, kann übertragen werden, denn über diese ihm kraft seiner Natur anhaftende Fähigkeit kann der Souverän ja naturbedingt nicht verfügen, genau so wie der Mensch nicht über seine Souveränität verfügen kann – sie entstammt ja der Sphäre des Seins.8 Aber die bloße Kompetenz zur Rechtsetzung, die sich aus der Souveränität ergibt, kann übertragen werden, sodass der Minister zwar nicht aus sich heraus Rechtsetzungskompetenz innehat – er wird nicht zum Souverän –, sondern über eine normativ abgeleitete Kompetenz verfügt. Diese Kompetenz ist sodann vom souveränen Willen miterfasst und somit kann eine aufgrund delegierter Rechtsetzungskompetenz (beispielsweise dem Minister) gesetzte Norm durch Regress9 auf den Souverän legitimiert und somit ihre Verbindlichkeit und Geltung begründet werden. Einer von irgendeinem subjektiven Willen gesetzten Norm wird so rechtliche Verbindlichkeit verliehen und sie somit zur Rechtsnorm gemacht. Durch derartige Delegierung entsteht eine Hierarchie, wobei die Hierarchie unter den Normgebern mit dem Souverän an der Spitze besteht – nicht unter den Normen. Ungeachtet der Begründung der souveränen Rechtsetzungsgewalt an der Spitze – dem widmet sich das folgende Kapitel – entsteht auf diese Weise eine komplexe, in sich geschlossene und von einem einzigen letzten Geltungsgrund ausgehende Rechtsordnung. In dem Bild der Hierarchie der Normgeber bedarf lediglich das vom Souverän gesetzte Recht der Begründung seiner Geltung, mit anderen Worten: Es muss die Existenz des Souverän begründet werden. Alle folgenden Normsetzungsautoritäten sowie das von ihnen gesetzte Recht lassen ihre Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus. Reine Rechtslehre, 228 ff. 8  Vgl. bereits oben, Fn. 105; vgl. auch unten, Kapitel 3. 9  Der Begriff „Regress“ („Regressus“) wird in diesem Sinne auch bei Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 12 (dort Fn. 1) verwendet, ebenso bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 228. 6  Wesentlich: 7  Kelsen,

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

Normsetzungskompetenz beziehungsweise ihre Geltung durch normative Anordnung / Ermächtigung / Delegierung begründen, wenn diese Legitima­ tionskette denn lückenlos besteht. Alle Normen außer jenen der „ersten Ebene“ (die unmittelbar dem Willen des Souverän entspringen) können ihre Geltung nicht aus sich selbst beziehungsweise aus einer naturgegebenen Kompetenz ihres Gebers heraus beziehen, sondern bedürfen einer „höheren“ Norm, die diese Kompetenz zuteilt. Dieser Regress muss allerding irgendwann enden; es muss irgendwo die oberste Ebene liegen, die ihre Geltung nicht mehr durch eine höhere Norm (die ja nicht mehr existiert) vermittelt bekommt, sondern auf einem souveränen Willen beruht, der von Natur aus die Kompetenz zur Rechtsetzung innehat. Das wurde ja gerade zu Beginn vorausgesetzt. Mit dieser Art von „höchstrangigem“, dem Souverän entspringendem Recht identifiziert man gewöhnlich die Verfassung.10 Dieser Begriff von Verfassung im Sinne der höchsten Ebene des Rechts, das sich aus der Souveränität ihres Normsetzers hinreichend beschreiben und legitimieren lässt, soll vorgemerkt werden; er wird im Folgenden noch von hoher Relevanz sein.11

II. Keine Hierarchie der Normen Es besteht also keine eigentliche Hierarchie der Normen, es besteht kein Über- / Unterordnungsverhältnis unter den Normen.12 Es gibt nur eine Kategorie von Normen, und das sind schlicht alle geltenden Normen. Sie alle erhalten Geltung mittels Legitimitätsregresses auf den einen souveränen Willen, der an der Spitze der Rechtsordnung steht. Wenn dieser Souverän einen bestimmten Rechtssatz anordnet, dann gilt dieser. Wenn er anordnet, 10  Vgl. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 743: „Was aber qualifiziert abgesehen von einer solchen Selbsteinstufung […] die Verfassung zu einer ‚höheren Gattung von Normen‘? Die Antwort auf diese im Grunde auf das ewige Rätsel staatlicher Normativitätsstiftung zielende Frage lautet: Der besondere Kreationsprozeß, der sich vor allem in der besonderen Urheberschaft, nämlich der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt, vom einfachen Gesetz unterscheidet.“ (Hervorh. im Original). 11  Diese zwei Merkmale machen Verfassungsrecht also aus: Höchstrangigkeit sowie Erzeugung durch den Souverän, wobei es an dieser Stelle zumindest verfrüht wäre zu sagen, dass diese beiden Kriterien Verfassungsrecht hinreichend definieren (im Hinblick auf ein mögliches materielles Element); wohl aber sollen sie als notwendig vorgemerkt sein; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, § 4 I 2, 3. 12  Dass es sich nicht um eine Hierarchie der Normen, sondern um eine Hierarchie der Normgeber handelt, sagt ganz ausdrücklich auch Schmitt, Legalität und Legitimität, 53: „[…] und es gibt auch – wenn man sich nicht in Metaphern oder Allegorien ergehen will – keine Hierarchie der Normen, sondern nur eine Hierarchie konkreter Menschen und Instanzen.“



B. Der Stufenbau der Rechtsordnung61

dass eine Versammlung, ein Parlament, mit Mehrheit eine Rechtsnorm beschließen kann, ohne dem weitere materielle oder formelle Einschränkungen zu geben, dann gilt das von dieser Versammlung oder Mehrheit Beschlossene ebenso wie ein unmittelbar vom Souverän gesetzter Rechtssatz. Es besteht zwischen beiden geltenden Normen kein Rangverhältnis. Der Begriff des Ranges läuft sogar vollkommen ins Leere: Es gibt überhaupt keinen Ansatz- oder Angriffspunkt für den Begriff des Ranges in Bezug auf die Norm. Ein Konflikt, dessen Lösung der einzige Sinn einer vermeintlichen Hierarchie der Normen sein kann, kann überhaupt nicht bestehen. Eine Rechtsnorm ist eine Norm, die kraft ihrer rechtlichen Legitimität über eine spezifische – nämlich rechtliche – Form der Geltung verfügt. Diese Legitimität ist vorhanden oder nicht vorhanden, je nachdem, ob der Regress zum Souverän gelingt oder nicht. Der Begriff der „Geltung“ ist einer Quantifizierung aber nicht zugänglich.13 Jede von einem höheren Normgeber ermächtigte, also mit derivativer Rechtsetzungskompetenz ausgestattete Autorität ist nur insoweit mit dieser Kompetenz ausgestattet, wie der höhere, sie ausstattende Wille es eben will und sie nicht durch weitere normative Willensäußerungen einschränkt.14 Ein Beispiel: Ein mit Rechtsetzungskompetenz ausgestatteter (das sei vorausgesetzt) Wille normiert, dass es keine Todesstrafe geben darf. Außerdem normiert beziehungsweise delegiert dieser Wille eine (im Übrigen) umfassende Rechtsetzungskompetenz an einen einzelnen Menschen. Dieser Mensch hat nun die (normative) Kompetenz, Rechtsnormen verbindlich zu setzen. Er kann nun normieren, dass auf Mord lebenslange Freiheitsstrafe folgen soll. Diese Norm gilt, da sie sich materiell innerhalb seiner Kompetenz befindet. Normiert er, dass auf Mord die Todesstrafe folgt, so ist dies nicht etwa eine Rechtsnorm niedrigeren Ranges als das Verbot der Todesstrafe und deshalb eine ungültige oder rechtswidrige (weil gegen höheres Recht verstoßende) Rechtsnorm, sondern es ist dies überhaupt keine Rechtsnorm. Der Normsetzer war nicht kompetent dazu, hatte überhaupt nicht die Rechtsetzungsmöglichkeit, nicht das Können, diese Norm rechtlich verbindlich zu setzen. Er war von einem Rechtsetzungswillen höheren Ranges durch dessen Willen betraut worden. Dieser Wille würde sich aber selbst 13  Das Gegenteil scheint weitgehend anerkannt zu sein, jedenfalls lassen entsprechende Formulierungen das vermuten, vgl. nur Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, Rn. 5: „Es gehört zu den Grundeinsichten der Rechtswissenschaften, dass sich eine moderne Rechtsordnung aus Rechtsvorschriften unterschiedlichen Rangs und unterschiedlicher Geltungskraft zusammensetzt.“; siehe auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 228 ff. 14  Vgl. die im Wesentlichen inhaltsgleichen Ausführungen bei Kelsen, Das Problem der Souveränität, 113 f.; vgl. auch Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 61 ff.; vgl. näher dazu sogleich, III.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

widersprechen, wenn man annähme, dass die umfassende Delegierung der Rechtsetzungskompetenz nicht mit der Einschränkung verbunden wäre, dass die Todesstrafe nicht normiert werden kann.15 Vielmehr ist die Delegierung zwingend mit allem materiell von diesem Willen rechtlich Geregelten im Einklang stehend zu verstehen. Es kann gerade nicht der Wille einer umfassenden, unbeschränkten Delegierung angenommen werden, wenn eindeutig auf selber Ebene der Wille geäußert ist, die Todesstrafe sei verboten. Anders ausgedrückt: Wenn zwei sich vermeintlich widersprechende Normen demselben Rechtsetzungsorgan entspringen, dann entspringen sie auch einem einzigen Willen. Dieser Wille kann aber nicht gleichzeitig Unvereinbares wollen, sodass die eine Norm nicht mehr gelten kann. Dieser Gedanke spricht zunächst einmal ganz grundsätzlich gegen die Existenz sich widersprechender Normen innerhalb einer Rechtsordnung. Insofern existiert nur eine einzige Ebene von geltenden Normen, die zwar zum größten Teil nicht von Autoritäten beziehungsweise Willen gesetzt worden sind, die unmittelbar aus ihrer Natur heraus mit Rechtsetzungskompetenz ausgestattet sind, die aber alle Geltungskraft verliehen bekommen durch den Legitimationsregress auf den letztlich souveränen (bisher noch vorausgesetzten) Willen, beziehungsweise durch Delegation von diesem. Es kann folglich, jedenfalls nach dieser vereinfachten Darstellung der Rechtsordnung und rein theoretisch, in einer Rechtsordnung keine sich widersprechenden Rechtsnormen geben, da sich jede Norm letztlich auf den einen Willen des Souverän rekurrieren lässt beziehungsweise lassen muss.16 Zumindest im Grundsatz ist also eine Norm, die gegen eine Norm eines übergeordneten Normgebers verstößt, ultra vires und von Anfang an nichtig, sie ist zu keinem Zeitpunkt Rechtsnorm gewesen.17 „[E]ine Rechtsnorm, von der behauptet werden könnte, daß sie der ihre Erzeugung bestimmenden Norm nicht entspricht, könnte nicht als gültige Rechtsnorm angesehen werden, sie wäre nichtig, und das heißt überhaupt keine Rechtsnorm.“18 Die Möglichkeit und das Verhältnis einander widersprechender Rechtsnormen beziehungsweise -sätze innerhalb einer Rechtsordnung bedürfen aber noch genauerer Untersuchung.19

15  Zur Möglichkeit von Ausnahmen, nämlich „mitdelegierten“ Änderungskompetenzen, siehe unten, Kapitel 9 B. II. 16  So jedenfalls im Grundsatz, vgl. auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 271 ff.; Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 13 ff.; zu den ungleich komplexeren Möglichkeiten innerhalb der Rechtsordnung siehe sogleich, III. 17  So auch Stern, Staatsrecht I, § 4 I 3 a). 18  Kelsen, Reine Rechtslehre, 271. 19  Dazu sogleich, C.



B. Der Stufenbau der Rechtsordnung63

Daraus ergeben sich Grenzen der verschiedenen Rechtsetzungskompetenzen, und zwar solche, die die Kompetenz, also das Können, von vornherein begrenzen. Eine zur Rechtsetzung berechtigte, weil dazu ermächtigte, Autorität ist dabei an den gesamten sie ermächtigenden (höheren) Willen gebunden, muss sich somit auch bei ihrer normativen Tätigkeit zwingend in diesem vorgegebenen Rahmen halten beziehungsweise kann diesen gar nicht rechtsetzend überschreiten. Diese Autorität kann natürlich alles wollen, aber nicht jede normative Äußerung ist auch mit der Sanktion der Rechtsgeltung versehen. Sie ist ja nicht kompetent zur Rechtsetzung aus eigener Kraft, womit ihr rechtliches Können unbegrenzt wäre und lediglich ihr rechtliches Dürfen von einer etwaigen höheren Autorität begrenzt wäre. Rechtliches Können und rechtliches Dürfen decken sich somit grundsätzlich, weil erstes durch zweites bedingt ist. Lediglich der Souverän, also die Spitze der Rechtsetzungshierarchie, die ihre Kompetenz nicht mehr normativ ableiten kann oder muss, sondern von Natur aus mit dieser Kompetenz ausgestattet ist,20 ist inhaltlich völlig ungebunden und unbegrenzt und verfügt damit über ein unbegrenztes rechtliches Können. Was dieser Souverän normativ anordnet, ist unmittelbar dem Souverän entspringendes Recht. Es ist sozusagen, um sich des eigentlich ja falschen Bildes der Normenhierarchie zu bedienen, Recht des höchsten Ranges oder der obersten Ebene. Diese Rechtsnormen determinieren alles weitere Recht der Rechtsordnung, jede an weitere Rechtsetzungsorgane delegierte Kompetenz. Dieser normative Bereich ist soeben bereits mit einem ersten Verfassungsbegriff bezeichnet worden. Verfassung soll hier verstanden werden als das Recht des höchsten Ranges.21 Der Souverän soll somit die verfassunggebende Gewalt sein. Jede zur Rechtsetzung durch Delegierung ermächtigte Instanz ist damit bereits verfasste Gewalt, allein der Souverän ist ausschließlich verfassende Gewalt. Verfassungsrecht kann demnach theoretisch alles sein, was rechtlicher Regelung zugänglich ist, es ist aber ebenso möglich, dass neben einer geringen Regelungsdichte auf dieser Ebene eine umfangreiche Delegierung der Rechtsetzungskompetenz stattfindet und den Großteil der Rechtsetzung den verfassten Gewalten überlässt. Im Interesse gewohnter Sprachregelung wird sich im Folgenden dennoch das ein oder andere Mal des hergebrachten Bildes der Normenhierarchie bedient, inklusive der Begriffe nieder- und höherrangiger Normen. Was damit gemeint ist, wurde klargestellt: Wenn von dem „Rang“ oder der Ebene einer Rechtsnorm (gegenüber einer anderen höher- oder niederrangig) die Rede ist, kann nur gemeint sein: Ihr Normsetzer war anderen Normsetzern 20  Vgl. Nettesheim, Wo „endet“ das Grundgesetz?, 354, der „universelle Legitimitätskriterien“ anstelle von rechtlichen Maßstäben annimmt. 21  Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 3 III 2 c).

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über- oder untergeordnet. Für den „Rang“, genauer die Geltungsvoraussetzungen einer Norm kann nur eines bestimmend beziehungsweise konstitutiv sein: der Rang ihres Gebers in der Hierarchie der Normsetzer. Diese Konsequenz aus der Hierarchie der Rechtsordnung spielt eine ganz wesentliche Rolle in der später behandelten Problematik der Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt.

III. Das Fehlerkalkül Aus dem soeben gezeichneten Bild der Hierarchie der Normgeber und der daraus fließenden Bedeutung für Geltung und Geltungsbeschränkungen von Normen ergab sich der Grundsatz, dass Können und Dürfen einer Rechtsetzungskompetenz zusammenfallen. Die Fähigkeit, Recht zu setzen, ergibt sich für jede Kompetenz (außer der des Souverän) aus einer formellen und materiellen Ermächtigung seitens einer anderen, damit also höheren In­ stanz.22 Aus der Praxis verschiedener Rechtsordnungen ist nun aber bekannt, dass unter Umständen rechtlich motivierte Akte über Wirksamkeit und wohl auch Geltung verfügen können, selbst wenn sie mit den formellen und / oder materiellen der übergeordneten Instanzen nicht vereinbar sind.23 Ein verfassungswidriges Gesetz kann solange von der Rechtsordnung als geltend angesehen werden, bis eine dazu bestimmte Instanz es als verfassungswidrig deklariert. Ein rechtswidriges (gemeint: gegen einschlägiges Recht verstoßendes) Urteil kann gleichzeitig Recht sein, wenn es über Rechtskraft verfügt.24 Viele Rechtsordnungen berücksichtigen, jedenfalls praktisch, ein Fehlerkalkül.25 Geschuldet sein dürfte das dem Interesse der Rechtssicherheit. Man kann die Bedeutung dieses Phänomens für den theoretischen Stufenbau der Rechtsordnung mit dem Argument beiseite wischen, dass es sich dabei doch um ein rein praktisches Problem handele, das die genannten Grundsätze doch nicht berühre. Der Satz: „Ein rechtswidriger Rechtsakt gilt als geltend, bis das Gegenteil verbindlich festgestellt ist“, macht sehr deutlich, dass dieses Phänomen sich auf einer anderen Ebene abspielt.26 Die Begriffspaare „rechtswidriger Rechtsakt“ sowie „als geltend gelten“ bringen klar zum Ausdruck, dass die beiden Begriffe jeweils in einer anderen Be22  Zu der hiermit eng im Zusammenhang stehenden lex-superior-Regel siehe sogleich, C. II. 23  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 271 ff. 24  Vgl. zu diesen Fällen und dem Stufenbau der Rechtsordnung auch Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 13 ff. 25  Vgl. dazu grundlegend Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 293 ff., siehe auch Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, Rn. 21. 26  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 275.



B. Der Stufenbau der Rechtsordnung65

deutung oder jeweils eine andere Sphäre betreffend angewandt werden, um den Satz nicht zum sinnlosen Oxymoron verkommen zu lassen.27 Man kann aber auch, wenn man sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben will, weiter gehen und das Fehlerkalkül in den Stufenbau der Rechtsordnung mit aufnehmen. Dieser wird dadurch etwas komplexer. Die Lösung ist aber nicht darin zu erblicken, dass die Rechtsordnung bestimmte Stellen (insbesondere Gerichte) mit der Aufgabe betraut, die rechtsverbindliche Entscheidung über „Rechtmäßigkeit“ oder „Rechtswidrigkeit“ von zweifelhaften Rechtsakten zu treffen und erst dadurch die Rechtslage definitiv zu gestalten.28 Diese Entscheidung spielte sich wieder auf einer anderen Ebene ab, was daran zu erkennen ist, dass diese Stellen ja ihrerseits bereits auf Grundlage einer vorausgesetzten bestehenden Rechtslage entscheiden müssten. Eben diese dahinterstehende Rechtslage ist aber gerade die gesuchte und hier zu betrachtende. Die Lösung ist vielmehr immanent in der Delegierung von Kompetenzen zu finden: Die jeweils obere Rechtsetzungsin­ stanz delegiert die Kompetenz an eine dadurch untergeordnete Stelle, gibt also formell das Verfahren vor, und gleichzeitig materiell, durch eigene Rechtsetzung, die Grenzen. Sie kann aber dabei auch, um das praktische Interesse nach Rechtssicherheit wohl wissend, den Willen besitzen, dass unbemerkte materielle (oder formelle) Verstöße gegen die eigenen Vorgaben durch die delegierte Kompetenz trotzdem geltendes Recht hervorzubringen vermögen, gegebenenfalls bis zur förmlichen Aufhebung durch eine vorgesehene Instanz. Für diese eigentlich normwidrigen Normen würde dann gelten: „Alle Sätze niederer Ordnung, die Normen höherer Ordnung widerstreiten, sind nur von Gnaden der letzteren gültig (wenn sie es sind).“29 Sie wären dann aber streng genommen eben nicht mehr rechtswidrig, wenn man den Begriff des Rechts und der Rechtswidrigkeit einheitlich verwenden möchte. Die Geltung dieser Rechtssätze ergibt sich somit aber eben nicht aus den Grundsätzen des Stufenbaus, sondern vielmehr aus positiver, nor27  Man müsste also trennen zwischen theoretischer Geltung und praktischer Geltung, zwischen dem theoretischen Recht und dem praktischen Recht, zwischen dem, was in der Praxis als Recht anerkannt ist, und dem, was dahinter steht und theoretisch gilt. Wenn man so differenzieren will, so will sich hier aber von vornherein nur der theoretischen Seite gewidmet werden. Mit anderen Worten: Als Recht wird in dieser Arbeit das behandelt, was theoretisch das Recht ist, und nicht das, was ein Richter im Prozess als solches feststellt und es den Menschen so als Recht begegnet. 28  So aber Kelsen, Reine Rechtslehre, 275 ff. 29  Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 15 (Hervorh. im Original), dort auch: „Die Einheit der Rechtsordnung nach der Stufentheorie wird also nicht dadurch gestört, daß von oben her die Gültigkeitsvoraussetzungen für die Normen niederer Ordnung nach freiem Belieben weniger umfassend festgesetzt sind als sie es sein könnten, insbesondere nicht vollständig zusammenfallen mit den ‚Zulässigkeitsvo­ raussetzungen‘ im weitesten Sinne […]“.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

mativer Anordnung seitens der höhergeordneten Instanz.30 Der Begriff „Fehler“-Kalkül dürfte dann passend sein, wenn die nachgeordnete Instanz nicht in Kenntnis der Normwidrigkeit handelt. Geschieht der Vorgang hingegen bewusst und soll die Norm trotzdem gelten, so ist an eine untergeordnete, mitdelegierte Änderungskompetenz zu denken. Diese Möglichkeit wird noch von großer Relevanz sein, wenn es um die Frage der Änderung der Verfassung durch eine verfasste Gewalt geht.31

C. Die Einheit der Rechtsordnung und der Charakter der Kollisionsregeln Vor dem Hintergrund des gerade skizzierten Modells einer Rechtsordnung und mit dem in Kapitel 1 beschriebenen Instrumentarium von einerseits natürlich vorgegebenen und andererseits normativen Gesetzen kann auch der Charakter der sogenannten Kollisionsregeln oder Konfliktlösungsregeln, die das Verhältnis zweier sich widersprechender Normen regeln sollen, charakterisiert werden. Es soll hier nun unter anderem geklärt werden, ob diese Regeln als normative Rechtsregeln aus der Sphäre des Sollens der Positivierung bedürfen oder ob sie als nicht-normative, automatisch bestehende Regeln aus der Sphäre des Seins, als „Naturgesetze“, der Rechtsordnung automatisch inhärent sind. Zweck dieser Einordnung ist es auch, das dualistische Rechtsverständnis auf diesem Wege weiter zu prüfen, zu festigen, und so eine solidere Grundlage für das darauf beruhende Verständnis einer Rechtsordnung zu schaffen.

30  Vgl. insbesondere Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 293: „Fehlerkalkül ist jene positivrechtliche Bestimmung, die es juristisch ermöglicht, dem Staat solche Akte zuzurechnen, die nicht die Summe der anderweitig positivrechtlich aufgestellten Voraussetzungen ihrer Entstehung und damit ihrer Geltung erfüllen, die es erlaubt, solche Akte trotz jenes Mangels als Recht zu erkennen.“ (Hervorh. im Original); vgl. auch Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 62 ff., der hier (insbes. 63) konstitutive Folgerungen für das Schicksal „rechtswidrigen Rechts“ aus der Tatsache zieht, dass dessen Aufhebbarkeit rechtlich geregelt ist. Dabei vertauscht er Ursache und Wirkung; die Regelung der Aufhebbarkeit solcher Rechtsnormen ist kein Argument dafür, dass diese – entgegen dem hier geäußerten Grundsatz – wirksam sein müssen. Es kann sich dabei schließlich auch um sinnlose Regelungen handeln. Exemplarisch: „Ebenso wie bei fehlerhaften individuellen Normen ergeben sich bei verfassungswidrigen Gesetzen aus dem Aufhebungsverfahren Folgerungen auf ihre Gültigkeit.“ Ersetzt man „Folgerungen“ jedoch durch das gegenteilige „Rückschlüsse“, so ist dem zuzustimmen, da in einer solchen Situation der Rückschluss auf einen positiv angeordneten Anwendungsbefehl dieses kompetenzwidrigen Rechts naheliegt. 31  Siehe unten, Kapitel 9 B. II. 4.



C. Die Einheit der Rechtsordnung67

Differenziert wird dabei zwischen verschiedenen Konfliktlösungsregeln, auf deren bekannteste, die lex-superior-, die lex-posterior- und die lex-specialis-Regel, sich hier beschränkt wird. Zunächst aber ist zu untersuchen, welche Fälle als mögliche Normwidersprüche oder -kollisionen in einer Rechtsordnung in Frage kommen und wie sie zustande kommen können. Anschließend wird zu überlegen sein, ob es „automatisch“ eingreifende, also nicht-normative Regeln gibt, die solche Konflikte regeln oder bereits von vornherein verhindern, oder ob es auf die normative Positivierung solcher Regeln ankommt, die auf der normativen Seite der Rechtsordnung diese Konflikte lösen. Jedenfalls aber bedarf es einer Erklärung, einer Zuordnung zu einer der beiden Sphären, wenn man behaupten will, dass Regeln wie die genannten gelten. Ihre Geltung muss sich entweder aus den Regeln über die und über der Rechtsordnung, also den Regeln des Seins, ergeben, oder aber sie bedürfen als normative Regeln der positiven Anordnung in der Rechtsordnung (oder einer sonstigen Herleitung). Auch hier ist es nicht der Zweck der Darstellung, den umfangreichen rechtstheoretischen Forschungsstand zum Komplex der Kollisionsregeln wiederzugeben. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Meinungen über die Natur beziehungsweise gar über die Existenz dieser Regeln.32 Es kann vorab bestätigt werden, dass es nicht möglich ist, diesen Regeln jeweils eine eindeutige Struktur oder Natur beizumessen. Es ist insofern auch heute noch Engisch (1935) in der Richtung zuzustimmen, der über diese Regeln sagt: „Es ist aber zu beachten, daß alle diese Regeln nur bedingte Geltung besitzen, ihrem Sinn nach nicht hinreichend aufgeklärt, in der Anwendung kompliziert sind, daß sie außerdem miteinander in Kollision geraten können und schließlich – was das wichtigste ist – doch nur eine lückenhafte Lösung des Problems bieten.“33 Hier wird erarbeitet, welche Konsequenzen sich für die Natur dieser Regeln aus einem konsequenten Weiterdenken der Natur der Rechtsnorm zwischen Sein und Sollen und dem darauf aufbauenden Verständnis einer Rechtsordnung ergeben. Dabei wird das „Grundmodell“ der Rechtsordnung zugrunde gelegt, wie es gerade beschrieben worden ist und in dem die Geltung einer Norm von der vollen formellen sowie materiellen Übereinstimmung mit der über ihr stehenden Normenebene abhängt.

I. Der Normkonflikt Unter Normkonflikt soll hier die Situation verstanden werden, dass innerhalb einer Rechtsordnung zwei (oder mehrere) Normen in Geltung stehen, 32  Vgl. nur die Übersicht bei Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior, 392 ff. 33  Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 47.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

die an einen identischen oder sich zumindest sachlich überschneidenden Tatbestand zwei unterschiedliche, miteinander unvereinbare Rechtsfolgen knüpfen.34 Ein solcher Normkonflikt läge beispielsweise vor, wenn im Rahmen einer Rechtsordnung eine geltende Norm 1 existierte, die für Diebstahl eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorsähe, und eine ebenfalls geltende Norm 2 den Diebstahl mit einer Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestrafte. Entscheidend ist, dass die beiden Rechtsfolgen sich nicht nur unterscheiden, sondern miteinander unvereinbar sind. Wird einer der konfligierenden Normen entsprochen, ergibt sich daraus zwingend eine Verletzung der anderen Norm.35 Inwieweit ist die Existenz solcher kollidierenden oder sich widersprechenden Normen überhaupt denkbar? Verhindern bestimmte Automatismen der inneren Logik der Rechtordnung solche Konflikte von vornherein, oder müssen sie, wenn sie auftreten, gelöst werden? Zur Eingrenzung der möglichen Fälle solcher Normkonflikte geht der Blick auf die sogenannten Konfliktlösungsregeln. Analog zu der Unterscheidung, ob solche Konflikte von vornherein vermieden werden oder nachträglich gelöst werden müssen, kann man unterscheiden zwischen dem Normkonflikt im engeren Sinne und dem Normkonflikt im weiteren Sinne. Im weiteren Sinne erfasst er den Widerspruch des bloßen normativen Inhalts zweier Normen, im engeren Sinne beschränkt er sich auf die Fälle, dass diese beiden Normen auch tatsächlich als Rechtsnormen in einer Rechtsordnung aktuell in Geltung stehen.36

II. Lex superior derogat legi inferiori Die lex-superior-Regel besagt, dass in einem Normkonflikt die höherrangige Norm sich der anderen gegenüber durchsetzt. Nach den Ausführungen zur Hierarchie der Normgeber, nach denen es keine Hierarchie der Normen gibt, kann dieser Regel eigentlich kein Anwendungsraum offen stehen. Unter Berücksichtigung der üblichen Sprachregelung von der Hierarchie der Normen, übersetzt auf die hier eingenommene Sichtweise, kann diese lex34  So auch Potacs, Zur Logik im Recht, 648, mit Bezug auf Kelsen. Hier soll sich der Begriff der Normkollision auf diesen eng definierten Fall beschränken. Andere Fälle, die man ebenso bezeichnen könnte – zum Beispiel zwei unterschiedliche, sich aber nicht gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen für ein und denselben Tatbestand – sind in den hier relevanten Folgen anders zu behandeln. 35  Vgl. auch Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 41 ff. 36  So, im engeren Sinne, definiert auch Engisch den „echten“ Widerspruch zweier Normen: „zwei gültige, einander widersprechende Normen, von denen keine nach den angezogenen Grundsätzen der anderen vorgeht“, Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 49.



C. Die Einheit der Rechtsordnung69

superior-Regel aber sprachlich modifiziert wie folgt verstanden werden: Eine Norm, die von einem höherrangigen Rechtsetzungsorgan gesetzt worden ist, derogiert einer widersprechenden Norm, die von einem Rechtsetzungsorgan niederen Ranges gesetzt worden ist. Aus den Ausführungen zur Hierarchie der Normgeber ergibt sich aber, dass eine etwaige widersprechende Norm „niederen Ranges“ aufgrund der beschränkten delegierten Kompetenz ihres Normgebers ultra vires gesetzt worden ist und damit gar nicht erst zur Geltung kommt. „[E]ine Rechtsnorm, von der behauptet werden könnte, daß sie der ihre Erzeugung bestimmenden Norm nicht entspricht, könnte nicht als gültige Rechtsnorm angesehen werden, sie wäre nichtig, und das heißt überhaupt keine Rechtsnorm.“37 Es ergibt sich die so verstandene lex-superior-Regel damit als automatische, der Rechtsordnung inhärente Regel, als Regel aus der Sphäre des Seins. Sie ist damit zudem auch keine eigentliche Konfliktlösungsregel, da es ja zu einem Normkonflikt im engeren Sinne, wie er oben definiert worden ist, erst gar nicht kommt. Wann immer Normen von Normgebern gesetzt worden sind, die in einem direkten vertikalen hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, also innerhalb eines Kompetenzarms stehen, kann es aufgrund der aus der Natur der Sache heraus geltenden lex-superior-Regel keinen Normkonflikt geben. Die lex-superior-Regel ist somit keine normative Konflikt­ lösungsregel, sondern eine jeder Rechtsordnung inhärente Regel aus der Sphäre des Seins, die bereits die Frage des rechtlichen Inkrafttretens einer Norm betrifft. Darüber hinaus ergibt sich hieraus, dass innerhalb eines Kompetenzarms, also innerhalb einer Gruppe von Normen, die allesamt von Rechtsetzungsorganen gesetzt worden sind, die in direkter vertikaler Kompetenzlinie auf den Souverän zurückführbar sind, es zu keinem Normkonflikt zwischen Normen verschiedener Rechtsetzer kommen kann.38 Diese Regel gilt unabhängig vom Zeitpunkt der Setzung der Normen: Soll die niederrangige Norm nach der widersprechenden höherrangigen gesetzt werden, dann fehlt die dazu nötige Kompetenz von vornherein. Wird eine höherrangige Norm nach der bis dahin geltenden widersprechenden niederrangigen gesetzt, dann wird in dem Moment die niederrangige Norm ultra vires „befördert“, das heißt sie tritt automatisch außer Kraft. Da sie in dem Moment außer Kraft tritt und nicht auch nur eine logische Sekunde in Kraft bleibt, besteht zu keinem Zeitpunkt ein Normkonflikt im engeren Sinne.

37  Kelsen,

Reine Rechtslehre, 271. sei denn, ein solcher Konflikt besteht zwischen Normen, die unmittelbar derselben Rechtsetzungsquelle entspringen. Für diesen Fall sagt die lex-superiorRegel nichts aus, vgl. dazu aber sogleich die Ausführungen zur lex-posterior-Regel. 38  Es

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

III. Lex posterior derogat legi priori Die lex-posterior-Regel besagt, dass eine neuere Norm einer älteren derogiert. Diese Regel gilt offensichtlich als nicht-normative Regel automatisch, wenn es sich um Normen ein und derselben Rechtsetzungskompetenz handelt.39 Eine neuere Norm ist eine aktuelle Willensäußerung und impliziert zugleich, dass ein entgegengesetzter Wille, der zu einem früheren Zeitpunkt geäußert worden ist, nicht mehr gilt.40 Der älteren Norm wird also automatisch derogiert, indem in der neuen Norm neben dem darin unmittelbar geäußerten positiven Willen eben auch implizit der negative Wille enthalten ist, dass dann die alte Norm nicht mehr gelten soll.41 Dabei muss die Ermächtigung zur (negativen) Zurücknahme von Rechtsnormen als der (positiven) Rechtsetzungsermächtigung innewohnend angesehen werden, was aber selbstverständlich ist.42 Dieser Automatismus aufgrund dieser Willenseinheit kann allerdings auch nur bei Normen, die unmittelbar aus derselben Rechtsetzungsquelle stammen, bestehen. Entsprechend der Seins-Natur dieser nicht-normativen Form der lex-posterior-Regel handelt es sich hierbei auch nicht um einen Normkonflikt im oben definierten engeren Sinne: Im Moment der Setzung der neueren Norm tritt die ältere jeweils automatisch außer Kraft. In vielen Fällen ergibt sich diese Erkenntnis sicherlich auch aus der Tatsache, dass die ältere Norm auch ausdrücklich außer Kraft gesetzt wird, was die (negative) Kehrseite der positiven Setzung der neueren, widersprechenden Norm darstellt. Aber selbst wenn die ältere Norm formell bestehen bleibt, tritt sie automatisch außer Kraft, nicht im Zuge der Lösung eines Normkonflikts, sondern qua Inkrafttretens der neueren Norm. Bei Normen, die von unterschiedlichen Normsetzern gesetzt werden, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, kommt es zur Lösung der Konflikte auf den Zeitpunkt der Setzung nicht mehr an, wie oben, 2), gezeigt worden ist.

IV. Lex specialis derogat legi generali Zwei sich widersprechende Normen können in der Weise nebeneinander existieren, dass der Tatbestand der ersten Norm weiter gefasst ist als der der 39  Nicht für einen logischen Automatismus sondern nur als Konsequenz der positiven normativen Setzung sieht Kelsen die Geltung der lex-posterior-Regel, vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 102 f.; vgl. auch Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior, 395, m. w. N. 40  Vgl. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 48. 41  Vgl. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 48. 42  So auch Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior, 397.



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zweiten Norm, diesen aber voll mit umfasst. Wenn die jeweiligen Rechtsfolgen unvereinbar sind, liegt ein Normkonflikt vor. Die lex-specialis-Regel besagt, dass die zweite Norm, deren Tatbestand enger gefasst ist und die damit spezieller sei, der generelleren ersten Norm derogiere.43 Die Qualität dieser Regel ist eine andere als die Seins-Gesetze der lexsuperior- und lex-posterior-Regel, die die Frage der Geltung, des Inkrafttretens einer Rechtsnorm betreffen. Die lex-specialis-Regel ist demgegenüber eine reine Auslegungsregel in dem Sinne, dass sie tatsächlich das Verhältnis zweier in Geltung stehender Rechtssätze erklärt. Das Normierte selbst ergibt sich erst aus der Auslegung und damit aus dem systematischen Zusammenspiel dieser beiden Sätze. Das durch die beiden Sätze Gewollte ergibt sich erst durch diese Auslegung. Wenn in einem solchen Normkonflikt der Wille des Normgebers ermittelt werden soll, dann kann in der lex-specialisSituation – in der Vermutung, dass der Normgeber nichts Sinnloses normieren wollte – nur die Normierung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses erkannt werden. Die beiden vermeintlich konfligierenden Rechtssätze sind also so zu verstehen, dass die generelle Norm gilt, außer im Falle des ­engeren, spezielleren Tatbestandes, in dem die Rechtsfolge der speziellen Norm gelten soll. Bei der Ermittlung des normsetzenden Willens im Wege der Auslegung ist der Tatbestand der engeren Norm aus dem der weiteren Norm herauszutrennen.44 Der wahre Inhalt der beiden Normen ergibt sich folglich erst aus einer Auslegung der beiden Rechtssätze. Auch hier hat demnach zu keinem Zeitpunkt ein echter Normkonflikt bestanden. Die lexspecialis-Regel ist damit als eine bloße Regel aus dem Bereich der Sprache zu verstehen. Als Regel, die die Geltung der Normen betrifft, ist die lex-superior-Regel einer Auslegungsregel insoweit vorrangig. Gleiches gilt für die lex-posteriorRegel. Vorrangig bedeutet in dem Fall, dass diese Regeln eine logische Sekunde vor der lex-specialis-Auslegungsregel greifen. Für die lex-specialisRegel bleibt also insbesondere dann Raum, wenn beide Normen zur selben Zeit von derselben Rechtsetzungskompetenz gesetzt worden sind. Sie spielt damit naturgemäß in Kodifikationen wie beispielsweise dem Bürgerlichen Gesetzbuch eine große Rolle. Die lex-specialis-Regel kann aber auch Anwendung finden, wenn die Normen nicht gleichzeitig gesetzt worden sind, vorausgesetzt, dass der Wille des Normgebers im Sinne dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu verstehen ist. Das ist dann der Fall, wenn die speziellere Norm erst nach der generellen gesetzt wird. Für die Frage der Geltung der nachträglich gesetz43  Um beim oben genannten Beispiel des Diebstahls zu bleiben: Norm 1 erfasst jeden Diebstahl, Norm 2 erfasst nur besonders schwere Fälle des Diebstahls. 44  So auch Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung 43.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

ten spezielleren Norm, die aus der generellen einen Teil des Regelungsbereiches „herausschneidet“, wird dann die lex-posterior-Regel herangezogen. Einmal in Kraft getreten, dient die lex-specialis-Regel nun zur Auslegung des Verhältnisses beider Rechtssätze.45 Es gibt also zwischen der lex-specialis-Regel einerseits und der lex-superior- und lex-posterior-Regel andererseits kein simples, immer gleich geartetes Rangverhältnis, vielmehr hat jede Regel ihren eigenen, unabhängigen Anwendungsbereich, vielmehr bestimmt sich das jeweilige Verhältnis im Einzelfall aus der Natur dieser Regeln im Zusammenspiel mit der Natur des Kollisionsfalls. Ebenso kann ein Spezialitätsverhältnis zwischen zwei Rechtssätzen zweier in einem Über- / Unterordnungsverhältnis stehenden Rechtsetzungsgewalten bestehen. Wenn der speziellere Rechtssatz von der übergeordneten Gewalt gesetzt wird, gelangt er bereits durch die lex-superior-Regel zur Geltung. Anders herum muss, damit der spezielle Rechtssatz durch eine untergeordnete Rechtsetzungsinstanz zur Geltung gelangen kann, eine delegierte, normative Änderungsbefugnis angenommen werden.46

V. Verbleibender Raum für Normkonflikte und deren Lösung Durch die drei untersuchten Regeln ist der Raum für tatsächliche, echte Normkonflikte im oben definierten engeren Sinne erheblich eingegrenzt worden. Die beiden Regeln aus der Sphäre des Seins47, die lex-superiorund die lex-posterior-Regel, die beide die Frage der Geltung einer Norm betreffen, vermeiden etwaige Konflikte im Voraus, lassen diese also eigentlich gar nicht erst auftreten. Sie sind damit eigentlich keine Konflikt­ lösungsregeln, sondern vielmehr Konfliktvermeidungsregeln. Die lex-specia45  Im Wesentlichen genau so unterscheidet Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 42 f., die verschiedenen Situationen: Er unterteilt in „scheinbaren“ Widerspruch, wenn die Auslegung den Widerspruch auflöst (lex specialis), also in Wirklichkeit nichts Widersprüchliches normiert ist (43), und „echten“ Widerspruch, wenn der Grundsatz der lex posterior (ebenso: lex superior) den Konflikt löst (42). Auch erwähnt er, dass im letzteren Falle ebenfalls mit einiger Berechtigung der Konflikt geleugnet werden kann (wie es auch hier geschieht, kein Normkonflikt im engeren Sinne), da die Konfliktlösungsregeln ihn ja von vornherein vermeiden. 46  Dazu auch oben, B. III., sowie unten, Kapitel 9 B. II. 4. („amending power“). 47  So auch bzgl. der beiden Regeln (aber auch bzgl. der lex-sepcialis-Regel) Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior, 397 f: „Nimmt man diesen Standpunkt an, so erscheinen die Sätze vom Vorrang der lex superior, lex posterior, bzw. lex specialis als in der Tat bloße, aber notwendige Schlussfolgerungen, die sich aus der Struktur der Rechtsordnung ergeben. […] Somit müssen die Sätze vom Vorrang der lex superior bzw. der lex posterior bzw. der lex specialis nicht positiviert sein, wie Kelsen und zahlreiche ihm folgende Autoren gemeint haben.“ (Hervorh. im Original).



C. Die Einheit der Rechtsordnung73

lis-Regel ist eine Auslegungsregel, die helfen kann, den Willen des Normgebers dahin gehend zu interpretieren, dass ebenfalls gar kein Konflikt besteht. Sie ist damit kein automatisch geltendes, nicht-normatives Gesetz aus der Sphäre des Seins, sie ist aber auch keine normative Regel aus der Sphäre des Sollens, die zu ihrer Geltung der Positivierung bedürfte. Sie ist eine grammatikalisch-teleologische Regel zur Erschließung des Sinns von Sprache, die in die juristische Auslegung dadurch Einzug erhält, dass Normierung auf den Ausdruck durch Sprache angewiesen ist. Normkonflikte können somit noch in folgenden Fällen auftreten: Zum einen kann ein Widerspruch zwischen zwei Normen bestehen, die unmittelbar von derselben Rechtsetzungsautorität gleichzeitig gesetzt werden (dadurch ist die Anwendung der lex-superior- und der lex-posterior-Regel ausgeschlossen) und die nicht in einem Spezialitätsverhältnis zueinander stehen (dadurch Ausschluss der lex-specialis-Regel). Ein solcher Konflikt lässt auf keinen sinnvollen Willen des Normgebers schließen und ergibt mangels Sinn schlicht überhaupt keine Regelung.48 Der letzte Bereich, in dem tatsächlich innerhalb einer Rechtsordnung sich widersprechende, aber geltende Regelungen möglich erscheinen, ist der folgende: Die lex-superior-Regel kann nur greifen zwischen Normsetzungskompetenzen, die in direkter vertikaler Linie in einem Über- / Unterordnungsverhältnis stehen, also innerhalb eines Kompetenzarms stehen. Eine Rechtsordnung ermöglicht es aber, dass mehrere Kompetenzarme nebeneinander stehen.49 Die lex-posterior-Regel bedarf zweier Normen, die unmittelbar von derselben Autorität gesetzt worden sind, um „zum Einsatz“ zu kommen. Zudem bedarf es dazu einer zeitlichen Abfolge der Setzung. Zwischen Normen, die in unterschiedlichen Kompetenzarmen erlassen worden sind, können diese beiden Regeln demnach nicht greifen. Man stelle sich eine Verfassung vor, nach der verschiedene Gesetzgebungsorgane nebeneinander existieren, ohne dass die Kompetenzen gegenseitig klar voneinander unterschieden werden.50 Es bestünde dann im Verhältnis der beiden Gesetzgebungsorgane eine Kompetenzüberschneidung. Zwei kollidierende Normen der jeweiligen Gesetzgebungsorgane können somit gleichzeitig in Geltung stehen, ohne dass eine der Kollisionsregeln greift. Auch die Auslegung kann unter Umständen nicht weiterhelfen, wenn beide Normsetzungsauch Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 54 f. auch Potacs, Zur Logik im Recht, 651. 50  Der Bundesstaat, wie Potacs, Zur Logik im Recht, 651, ihn als Beispiel dafür anführt und auf das Verhältnis von Bundesgesetzgebung und Ländergesetzgebung abstellt, eignet sich wohl nicht als ideales Beispiel, da die Länder – nach teilweise vertretener Ansicht – eine gewisse „Teilsouveränität“ besitzen, sodass die Gesetzgebungsgewalt der Länder nicht ohne Weiteres im Souverän des Bundes begründet ist. 48  Vgl. 49  Vgl.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

willen sich ausdrücklich widersprechen. Ein solcher Widerspruch kann in einer Rechtsordnung vom Souverän nicht gewollt sein. Es ist daher die Aufgabe des Organs, das diesen beiden Gesetzgebungsorganen Rechtsetzungsgewalt delegiert, gleichzeitig eine normative Konfliktlösungsregel aufzustellen. Und an dieser Stelle ist Raum für eine normative Setzung der lex-superior-Regel oder der lex-posterior-Regel. Sie haben aber hier eine andere Bedeutung als in der oben festgestellten, nicht-normativen Dimension. Weil hier das hierarchische Verhältnis der beiden Rechtsetzungsorgane nicht aufgrund von Delegierung innerhalb eines Kompetenzarms bereits feststeht, kann dieses Verhältnis normativ angeordnet werden. Weil die lexposterior-Regel sich nicht bereits daraus ergibt, dass die Normen sich aus einem Willen unmittelbar herleiten und dieser sich selbst nicht wiedersprechen kann, bleibt Raum für die normative Anordnung dieser Regel. Genauso könnte diese normative Regel allerdings auch lauten: „Lex prior derogat legi posteriori.“ Dann hieße der Grundsatz „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“: Wenn einer der beiden Normsetzer einen bestimmten Tatbestand bereits geregelt hat, entzieht sich dieser der Kompetenz des jeweils anderen. Ein Beispiel einer normativen Anordnung der lex-superior-Regel ist der Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“, der nichts anderes besagt, als dass der Bundesgesetzgeber sich im Konfliktfall gegenüber dem Landesgesetzgeber durchsetzt.51 Besteht in einem solchen Normkonflikt eine solche Anordnung nicht, dann bleibt er ungelöst. Existiert sie, so ist der Normkonflikt wiederum von vornherein vermieden, da die Kompetenzen von vornherein voneinander abgegrenzt sind. Damit käme es auch hier gar nicht zu einem Konflikt im engeren Sinne, vielmehr stellten diese normativen Konfliktlösungsregeln auch Konfliktvermeidungsregeln dar. Jedoch lässt sich hier doch mit Berechtigung von Konfliktlösungsregeln sprechen, da die normative Anordnung der Regel ja auf die Anwendung auf einem Kollisionsfall ausgelegt und angewiesen ist, also hier eine logische Sekunde nach dem Inkrafttreten der konfligierenden Rechtssätze greift, mithin den Konflikt doch löst. Damit Bundesrecht Landesrecht „brechen“ kann, muss beides zunächst einmal nebeneinander in Geltung stehen. Außerdem gilt ein solcher Satz des Landesrechts unstrittig so lange, bis der konfligierende Satz des Bundesrechts in Kraft tritt. Es wäre nun ein Glasperlenspiel, über die Frage zu streiten, ob aufgrund dieser logischen Sekunde hier ein echter Normkonflikt im engeren Sinne besteht, der gelöst wird, oder – da es sich ja nur um eine logische Sekunde handelt – auch hier kein echter Normkonflikt besteht. Hier werden sie nun den Konflikten im engeren Sinne zugeordnet. Echte, praktisch relevante 51  Der Satz soll beispielhaft, also unabhängig von der im Verfassungssystem des Grundgesetzes durchaus komplexen Normierung in Art. 31 GG, verstanden werden.



C. Die Einheit der Rechtsordnung75

Normkonflikte treten jedenfalls nur dann auf, wenn die Rechtsordnung in dem letztgenannten Beispiel keine normativen Konfliktlösungsregeln aufstellt. Diese echten Normkonflikte bleiben dann aber definitionsgemäß notwendig ungelöst. Bei Konflikten im engeren Sinne bleibt Raum für die positive Normierung der lex-posterior- und lex-superior-Regel. Das ist aber kein Widerspruch zu der These von der Trennung von Sein und Sollen, nach der eine Regel aus der Sphäre des Seins keine geltende Regel aus der Sphäre des Sollens sein kann und umgekehrt. Es handelt sich hier um Regeln jeweils unterschiedlichen Inhaltes, die aufgrund bestimmter Ähnlichkeiten bloß dieselbe Bezeichnung erhalten, obwohl sie Unterschiedliches darstellen. Die bloße Tatsache, dass die in diesem Fall oftmals wenig differenzierende Terminologie sowohl einen Seinssatz als auch einen Sollenssatz mit dem gleichen Namen versieht, führt noch nicht dazu, dass beide Sätze sich auf denselben Sachverhalt beziehen, einmal mit dem seinsmäßigen, zwingenden Verbindungselement, im anderen Fall mit dem normativen Verbindungselement. Es bleibt dabei: In den Fällen, in denen die Seins-Variante der lexsuperior-Regel gilt, würde sie als normative Version keinen Sinn machen. Das Über- / Unterordnungsverhältnis besteht dort zwingend, und deswegen wird die lex-superior-Regel dort herausgelesen. In den Fällen, in denen die normative Variante des Satzes zur Anwendung kommt, besteht vorher kein Rangverhältnis zwischen beiden Rechtsetzern, und erst die Anordnung durch die normative Variante schafft dieses Verhältnis. Das Verhältnis wird also – genau umgekehrt – aus der Anordnung dieses Satzes herausgelesen. Es ist hier aber kein Platz für die Seins-Variante des Satzes. Eine Rechtsordnung kann sich mit einer gewissen Beliebigkeit der verschiedenen Arten der Konfliktlösungsregeln bedienen. Sie kann die Funk­ tionsweise der seinsmäßigen Regeln nutzen, oder, wenn Raum dazu besteht, die normativen Varianten anordnen. Angelehnt an die Rechtsordnung des Grundgesetzes könnte sich beispielsweise die Hierarchie Verfassung – Gesetz – Rechtsverordnung einmal daraus ergeben, dass – nicht normativ angeordnet – sich das Gesetz aus der Verfassung legitimiert und die Verordnung nur aus dem Gesetz. Sie könnte sich aber auch daraus ergeben, dass sich sowohl Gesetz als auch Verordnung direkt aus der Verfassung legitimieren und dort auch das Rangverhältnis beider zueinander – normativ – angeordnet wird. Die grundgesetzliche Rechtsordnung weist wohl beide Elemente auf.

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Kap. 2: Die Rechtsordnung

D. Zwischenergebnis Der Stufenbau der Rechtsordnung ist der bildliche Ausdruck der Einheit der Rechtsordnung. An ihm wird deutlich, dass alles Recht in einer Rechtsordnung letztlich aus einem einheitlichen Willen an der Spitze der Rechtsordnung fließt. Aus dem Stufenmodell ergibt sich eine Hierarchie der Normgeber, in der die jeweils untergeordnete Stufe ihre Kompetenz in formeller und materieller Abhängigkeit von der jeweils höheren ableitet. So entstehen verschiedene Kompetenzstufen, die jeweils Rechtsnormen in Kraft setzen können. Von einer Hierarchie unter diesen in Geltung stehenden Normen kann keine Rede sein. Unmittelbar aus der Natur des Stufenbaus ergeben sich automatisch (also nicht normativ angeordnet) bestimmte Kollisionsregeln, die das Verhältnis von inhaltlich kollidierenden Normen regeln. In anderen Situationen, wenn sich diese Regeln nicht automatisch und zwingend ergeben, bleibt gegebenenfalls Raum für eine normative Anordnung solcher Regeln, die bestehende und nicht automatisch gelöste Konflikte lösen. Es ist auch denkbar, dass Normen trotz Verstoßes gegen „höherrangiges“ Recht diesem derogieren können und somit in Kraft treten können, da zum einen ein Fehlerkalkül vorgesehen sein kann, zum anderen eine „mitdelegierte“ Änderungsbefugnis in Frage kommen kann.

Kapitel 3

Die Spitze der staatlichen Rechtsordnung: Der Souverän Dieses Kapitel widmet sich der Begründung der Geltung des Rechts in der Rechtsordnung, also des allgemeinverbindlichen Rechts im Gegensatz zum „primitiven“ Vertragsrecht. Analog zu oben folgt auf die statische Beschreibung der Existenz des Rechts in der Rechtsordnung nun die nichtnormative, seinsmäßige Begründung der Verbindlichkeit des vom Souverän gegebenen Rechts beziehungsweise der Rechtsetzungsfähigkeit des Souverän. Die Frage nach dem Geltungsgrund allgemeinverbindlichen Rechts ist die Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung, somit die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt, die Frage nach der Souveränität des Souverän. Von der „höchsten Ebene“ des Rechts her, von der Verfassung her, legitimiert sich die darauf begründete Rechtsordnung. Daher muss die Brücke geschlagen werden von der Verfassung als höchster Ebene der Rechtsordnung hinein in die Sphäre des Seins, in der ihre Geltung begründet liegt. Anders betrachtet: Die Brücke muss geschlagen werden von dem souveränen Individuum, das ohne freiwillige Unterwerfung rechtlich nicht gebunden werden kann, hin zum Souverän an der Spitze des Staates, dessen Wille alle Rechtssubjekte der Rechtsordnung bindet. Ausgang muss dabei aber wegen des Grundsatzes der Identität von Rechtsetzer und Rechtsadressat immer das souveräne Individuum sein, das Rechtssubjekt in der Rechtsordnung ist.1 Es muss also der Schritt getätigt werden von der oben beschriebenen „rechtlichen Wüste“, in der jeder unmittelbar als souveränes Wesen frei ist, seine Rechtsverhältnisse mit jedem frei zu gestalten, zu einer abgrenzbaren Rechtsordnung, in der Recht existieren kann, das alle dazugehörigen Subjekte bindet. Begründet werden muss die originäre und sich aus der Natur der Sache ergebende (so wie die individuelle Souveränität), mithin nicht normativ abgeleitete Rechtsetzungsbefugnis des Souverän an der Spitze der 1  Vgl. auch Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 11: „[…] das ungebundene, rational seine Zwecke verfolgende Individuum, dessen souveräner rationaler und vernünftiger Wille alleinige Geltungsgrundlage staatlicher Herrschaft und politischer Ordnung ist.“

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Kap. 3: Der Souverän

Rechtsordnung. Diese Frage ist aber keine normative.2 Die Antwort ist in der Sphäre des Seins zu suchen.3 Auf welche nicht normierte Weise bildet sich der höchste Wille der Rechtordnung und wer ist dessen Träger? Es ist die Frage nach der Legitimation von höchster Herrschaftsgewalt, höchster Rechtsetzungsautorität, deren Antwort der Kelsensche Positivismus in Form der hypothetischen Grundnorm voraussetzt, sie aber selbst nicht liefert. Es ist also die Frage nach der Legitimität einer Rechtsordnung, die Kelsen außen vor lässt und sich auf die Beschreibung einer formalen Legalität, die im Regress in der Verfassung beziehungsweise beim Souverän endet, beschränkt. Hier wird einen Schritt früher losgegangen. Es muss, besagter Brückenschlag, die nicht mehr legalisierbare höchste Ebene der Rechtsordnung, die Verfassung, legitimiert werden. Dazu bedarf es, ebenso wie das beim souveränen Menschen möglich war, eines Übergangs in die Sphäre des Seins, um die Geltung der gesamten Rechtsordnung durch Begründung in dieser Sphäre zu legitimieren. Die Verfassung hat mithin eine Grenzfunktion: Sie ist das einzige Normative, das sich nicht mehr normativ, sondern nur noch seinsmäßig ableiten lässt, also nicht legal, sondern nur noch legitim sein kann. Vor ihr, über ihr ist nur Sein, nach ihr, unter ihr kommt nur Sollen. Das Augenmerk ist somit gerichtet auf den Übergang von der Koordinationsordnung hin zur Rechtsordnung, insbesondere zur Spitze der Rechtsordnung, dem Souverän. Diese Frage ist eng verbunden mit der etwas weiter gefassten, dieses Problem jedoch mitbehandelnden Frage des Übergangs vom individuellen Naturzustand des Menschen hin zu der Person als Teil einer Gesellschaft, die dann auch die Rechtsordnung beinhaltet. Der Bogen wird nun gespannt und beschrieben von dem souveränen und freien Individuum in der Koordinationsordnung zum sicherlich immer noch souveränen, aber einem allgemeinverbindlichen rechtsetzenden Willen unterworfenen Rechtssubjekt in der Rechtsordnung. Hier „wird der Fluchtpunkt des sozialen Lebens vom Ganzen des Gemeinwesens zu den Individuen verlegt, die dieses Gemeinwesen als ein Ergebnis reflexiver Akte bilden“.4 2  Vgl. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, 42: „Ein Regreß innerhalb des positiven Rechts führt auf die Verfassung, […] über der die durch das positive Verfassungsrecht nicht mehr erfaßbare verfassunggebende Gewalt steht.“ 3  Dieser Ansatz ist also das genaue Gegenteil vom normativen Ansatz, der nach der hier vertretenen Konzeption der Rechtsordnung nicht in Betracht kommen kann; vgl. aber bspw. Murswiek, 21: „Die rechtliche Befugnis der verfassunggebenden Gewalt zur Revision des Grundgesetzes zu untersuchen […ist möglich] nur auf Grund einer Analyse der Auffassung des Grundgesetzes von der verfassunggebenden Gewalt […, da] der Erkenntnisgegenstand normativ ist“. 4  Dellavalle, Das Recht als positiv-formalisierte Sprache, 104 f.

A. Notwendigkeit eines souveränen Willens an der Spitze der Rechtsordnung79

Der Mensch als untergeordnetes Rechtssubjekt innerhalb einer Rechtsordnung, der bei Aristoteles den Naturzustand verkörperte, das zoon politikon in der polis, die „Verwandlung der natürlichen Menschen in Gemeinschafts­ wesen“5, ist hier, ausgehend vom souveränen Individuum in der Koordinationsordnung, erst der zweite Schritt.6 Dabei muss auch im zweiten Schritt das, was den Menschen ausmacht, was in seiner Natur liegt und nicht ablegbar ist und was ihn überhaupt zum Recht fähig macht – die natürliche Freiheit des Menschen, seine Souveränität –, stets gewahrt werden.7 Es wird mithin „nichts Geringeres verlangt als einen absoluten, von allen norma­ tiven Einschränkungen freigestellten allgemein gesetzgebenden Willen zu konstituieren, ohne das unveräußerliche, wesentliche Selbstherrschaftsrecht der Individuen zu demontieren.“8 Im Folgenden wird zunächst noch einmal das Bedürfnis verdeutlicht, warum im Hinblick auf die Rechtsordnung dieser Naturzustand, die Koordinationsordnung, überwunden werden muss, warum es eines echten Souverän bedarf. Im zweiten Teil wird der Blick auf die politische Staatsphilosophie der Moderne gerichtet sein und diese im Hinblick auf die gestellte Frage bewertet werden, um sie im dritten Teil um einen eigenen Gedankengang zu ergänzen. Aus all dem hervorgehen soll dann das Konzept des Gemeinwillens als Souverän in der Rechtsordnung, mit dessen Natur und Inhalt sich das nächste Kapitel auseinandersetzen wird und dessen Rolle als verfassunggebende Gewalt bereits vorbestimmt ist.9

A. Die Notwendigkeit eines souveränen Willens an der Spitze der Rechtsordnung Um die Rechtsordnung zu begründen, muss ein souveräner Wille an der Spitze hergeleitet werden. Dieser eine souveräne Wille ist das Moment, das die Einheit und Identität der jeweiligen Rechtsordnung liefert. Ohne ihn ist die Rechtsordnung nicht denkbar, ohne ihn gibt es keine höchste Rechtsetzungsgewalt, die als verfassunggebende Gewalt in Frage kommt. Dieser Wille muss absolut, originär, er muss souverän sein. Er darf sich nicht normativ herleiten lassen. Er darf nicht materiell oder formell eingeschränkt 5  Kersting,

Die Vertragsidee des Contrat social, 61. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 32; ders., Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, 10. 7  Besonderen Wert auf diese Freiheit im Rahmen der Legitimation von Herrschaftsgewalt hat Rousseau gelegt, vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 48 f. 8  Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 51. 9  Vgl. oben, Kapitel 2 B. II. 6  Vgl.

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Kap. 3: Der Souverän

sein. Er muss analog zum souveränen Willen eines Menschen geartet sein, er muss der Wille einer Person, der Person des Souverän sein. Bisher ist er lediglich vorausgesetzt worden. Wäre die Kompetenz dieses Willens derivativ, also von irgendeiner Stelle delegiert, so wäre sie nicht an der Spitze der Hierarchie. Sie wäre vielleicht an der Spitze der Rechtsordnung, diese wäre aber eben keine souveräne Rechtsordnung, die in sich geschlossen ist. Würde sie sich von irgendeiner Norm ableiten lassen (müssen), so müsste diese Norm ja vorausgesetzt werden, was an der Spitze der souveränen Rechtsordnung gerade nicht mehr der Fall sein darf. Der Souverän darf nicht abhängig vom Willen irgendeiner über ihm stehenden Macht sein, denn sonst wäre diese Macht souverän, jedenfalls aber nicht die erstgenannte. Er muss, mit anderen Worten, seinen Ursprung – wie die Souveränität des menschlichen Individuums – in der Sphäre des Seins haben. Der Souverän muss letztlich Produkt menschlicher Natur, nicht menschlicher Kultur sein, der Sphäre des Seins, nicht der des Sollens entspringen. Ohne den Souverän an der Spitze der Rechtsordnung ist keine Rechtsordnung denkbar. Gleichartige Rechtssubjekte können eine Koordinationsordnung bilden, sie können auch normative Hierarchien bilden, nicht aber eine in sich abgeschlossene Rechtsordnung.10

I. Keine Geltung des Mehrheitsprinzips Als eine simple Möglichkeit, wie der Wille an der Spitze der Rechtsordnung geartet sein könnte, erscheint es, die schlichte Mehrheit des Volkes, also aller Rechtssubjekte, anzunehmen. Die verfassunggebende, die höchste rechtsetzende Gewalt, der Souverän, wäre dann das Volk, das seinen Willen nach dem Mehrheitsprinzip herstellt. Jedoch kann auf der Ebene der Koordinationsordnung – also im Ausgangsstadium – einer Mehrheit keine Bedeutung zukommen. Etwas vom Einstimmigkeitsprinzip Abweichendes kann nicht ohne Weiteres als geltend angenommen werden.11 Ein vom Einstim10  Vgl. Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 8: „Die einfachste Lösung ist darum auch hier, einen einheitlichen, obersten und deshalb souveränen Willen anzunehmen, dessen Sinn sich in den Urteilen, Gesetzen und Vollstreckungsakten ausdrückt. Der oberste Wille begründet die Sollensordnung […]. Und wiederum stellt sich die Frage, […] wo der Betrachter diesen höchsten Willen findet.“ 11  Die Vorstellung, dass ein vom Einstimmigkeitsprinzip abweichendes Verfahren zur Rechtsetzung nur dann gelten kann, wenn dieses Verfahren seinerseits einstimmig beschlossen wurde, ist weit verbreitet; vgl. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 87: „Wenn es richtig ist, dass an und für sich ein Völkerrechtssatz nur durch einhelligen ‚Beschluss‘ der Staaten entstehen kann, weil es keinen höheren Rechtssatz giebt, der einen Majoritätsbeschluss als Vereinbarung der Gesamtheit zu

A. Notwendigkeit eines souveränen Willens an der Spitze der Rechtsordnung81

migkeitsprinzip abweichendes Prinzip erklärt sich nicht von selbst.12 Wenn nichts ersichtlich ist, was im „Naturzustand“ der individuellen Freiheit und Gleichheit der Menschen auch der unfreiwilligen Minderheit den Willen der Mehrheit rechtmäßig aufdrängen kann (und es ist nichts ersichtlich), dann muss man wohl sagen, dass Mehrheitsbeschlüsse in diesem Stadium rechtlich nicht verbindlich sind, dass sie noch keine besondere Bedeutung haben. Recht bindet nur die, die dafür stimmen.13 Jede Mehrheitsentscheidung, sei sie auch unter der Gesamtheit einer zu betrachtenden Gruppe, zum Beispiel aller Deutschen (Volksentscheid), ist nicht unmittelbares Recht, sondern setzt eine bereits für alle geltende Grundnorm14 voraus, die regelt, dass die betrachten heischt, so muss die Entstehung von Völkerrecht durch Majoritätsbeschluss innerhalb einer Staatengruppe dann möglich sein, wenn ein echter Völkerrechtssatz vorhanden ist, demzufolge die Vereinbarungen einer Mehrheit als Vereinbarungen der Gesamtheit aufgefasst werden sollen. Hier erhält dann genau so wie im Landesrecht der Mehrheitsbeschluss eine Kraft, die er ohne objektivrechtliche Gewährung nicht haben könnte.“ (Hervorh. im Original); vgl. auch Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, zitiert nach Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 129: „In der Tat, wenn es keine vorausgehende Übereinkunft gäbe, woher käme, sofern die Wahl nicht einstimmig ist, die Verpflichtung der Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen? Und woher haben hundert, die einen Herrn haben wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit ist selbst nur durch Übereinkunft entstanden und setzt voraus, dass wenigstens einmal Einstimmigkeit geherrscht habe.“ 12  Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 145; vgl. auch Locke, Two Treatises of Government, II, Chapter XI § 134: „[…] which is absolutely necessary to its being a law, the consent of the society, over whom no body can have a power to make laws, but by their own consent, and by authority received from them“. 13  Das folgert bzw. setzt im Weiteren voraus auch Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 83 ff.: „Es ist einmal ausgeschlossen, dass ein durch Vereinbarung geschaffener Rechtssatz des Völkerrechts für solche Staaten gilt, die an seiner Vereinbarung nicht theilgenommen haben.“ Was Triepel für das Völkerrecht feststellt, gilt ebenso für nationales Recht bzw. kann auf jedes Recht verallgemeinert werden, da seine These nicht völkerrechtsspezifisch gemeint ist und auch Triepel diese Feststellung verallgemeinert, vgl. ders., a. a. O., 87. 14  Der Begriff „Grundnorm“ wird hier frei verwendet und ohne einer festen Definition zu folgen, er könnte durch sinnwahrende Synonyme wie „Basisnorm“ oder „Grundkonsens“ ersetzt werden. Es wird diese Grundnorm als notwendige normative Bedingung angesehen, dass sowohl das Mehrheitsprinzip als auch allgemeinverbindliches Recht überhaupt existieren kann. Dieses dogmatische Erfordernis findet sich bspw. auch bei Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 106: „Voraussetzung für die Geltung des Mehrheitsprinzips […sei…] ein alle Glieder der jeweiligen Gemeinschaft umschließendes rechtliches Band, ein Grundkonsens über die Akzeptierung dieser Abstimmungsregel mit der zukunftsgerichteten Bereitschaft, sich dem Willen der Majorität zu unterwerfen.“ (Hervorh. durch Verfasser). Auch bei Hobbes soll das Mehrheitsprinzip zur Einsetzung des Souverän einstimmig beschlossen werden, vgl. Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, 224.

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Kap. 3: Der Souverän

einfache Mehrheit entscheidet.15 Dasselbe gilt für jede Rechtsnorm, die nicht unter Wahrung des Einstimmigkeitsprinzips geschaffen worden ist. Wenn aber eine normative Anordnung des Mehrheitsprinzips erforderlich ist, dann ist erstens der Mehrheitswille nicht mehr souverän, und zweitens stellt sich die Frage nach der anordnenden Gewalt. Eine einstimmige Annahme der Mehrheitsregel erscheint jedenfalls als unglaubwürdige Fiktion.16

II. Das Volk im Konsens als verfassunggebende Gewalt? Weiter ist die theoretische Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das Volk, also das Kollektiv aller an einer Rechtsgemeinschaft Beteiligten, einstimmig im Konsens die höchste „Ebene“ der Rechtsordnung, die Verfassung nämlich, beschlösse. Alles Normative, was Verfassung sein soll, also seine rechtliche Geltung selbst nicht mehr normativ durch Delegation herleiten kann, müsste einstimmig vom Volk beschlossen worden sein. Verfassunggebende Gewalt wäre damit nichts anderes als das gesamte Volk, die Summe aller Rechtssubjekte, im Konsens. Der Souverän wäre damit nicht eine Person, nicht ein einziger Wille, sondern der übereinstimmende Einzelwille aller, die Summe aller übereinstimmenden Individualwillen. Somit wäre direkt die Brücke vom Einstimmigkeitsprinzip zur Verfassung, der höchsten Ebene der Rechtsordnung, geschlagen, ohne eigentliche Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips. Der Charakter des Rechts als Selbstverpflichtung wäre gewahrt. Auch gegen diese Konstruktion bestehen Bedenken. An erster Stelle ist es äußerst unglaubhaft und erscheint allzu fingiert, in einer großen Gruppe von Individuen, wie sie in Staaten beziehungsweise in Völkern existieren, einen tatsächlichen Konsens anzunehmen, der auf derart komplexe normative Gebilde wie eine Verfassung gerichtet ist.17 Allein an dieser normativen Überladung scheitert dieser Ansatz bereits. Hinzu tritt noch, dass bei diesem Modell – dem Volk im Konsens als verfassunggebende Gewalt – nicht ein souveräner Wille im Sinne eines Willens einer Person geschaffen würde. Damit existiert kein Kontinuitätsmoment bei einer Verfassungsänderung. Jede Verfassungsänderung oder -neugebung bedeutete zugleich eine grundlegend neue Rechtsordnung, und auch die am Konsens Beteiligten, die Rechtssubjekte einer Rechtsordnung, befinden sich naturgemäß in ständiger Fluktuation. Wenn sowohl das Normierte, auf das sich der Konsens richtet, als auch die konsentierenden auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 145. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 82 f. 17  Auch hierzu siehe Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 82 f. 15  Vgl. 16  Vgl.

A. Notwendigkeit eines souveränen Willens an der Spitze der Rechtsordnung83

Rechtssubjekte einmal komplett ausgetauscht wäre, wo wäre dann noch das alles umklammernde Element, das Identitätsmoment? Gesucht wird außerdem gerade noch keine normative Übereinkunft, sondern lediglich der eine souveräne Wille, der über originäre Normsetzungsbefugnis verfügt. Das normativ von diesem Willen Gewollte soll ja gerade veränderlich sein, der darüber stehende Wille jedoch, der Souverän, muss eine gewisse Kontinuität aufweisen. Der Souverän muss also ein Wille sein, der selbst als Person gleich bleibt, auch wenn sich seine normative Ausrichtung ändert und sich sein personelles Substrat verändert. Ein solcher kontinuierlicher Wille einer Person ist nicht ersichtlich, wenn das Volk im Konsens als verfassunggebende Gewalt aufträte. Ohne den Souverän als konstantes und identitätsstiftendes Abgrenzungsmoment gegenüber anderen Rechtsordnungen kann keine Rechtsordnung konstruiert werden.

III. Ein Grundkonsens als Begründung des Souverän? Als weitere Möglichkeit, das Einstimmigkeitsprinzip zu überwinden, erscheint auch eine Art Grundkonsens. Schlicht die Mehrheit des Volkes als souveränen Willen anzusehen, verbietet sich aus oben genannten Gründen: Die Mehrheit kann nur sich selbst binden, nicht aber die Minderheit. Eine bestimmte Gruppe Menschen könnte allerdings einstimmig, also im Konsens, beschließen, dass (insgesamt oder für bestimmte Bereiche) unter ihnen „von nun an“ das Mehrheitsprinzip zur rechtlichen Willensfindung dienen soll. Diese Möglichkeit ergibt sich ohne Weiteres aus obigen Ausführungen zur Hierarchie der Normgeber. Der Wille der Mehrheit kann als der Wille einer ideellen Person angesehen werden, die ihren Willen eben auf diese Weise, nämlich durch die einfache Mehrheit, findet. Diese Konstruktion entspricht der Delegierung von Rechtsetzungsbefugnis. Sie kombiniert die beiden vorgenannten, für sich jeweils ungeeigneten Ansätze. Der „Wille der Mehrheit“ als der einer ideellen Person erhält die Rechtsetzungskompetenz allen Teilnehmern des Grundkonsenses gegenüber durch Delegierung seitens derselben. Die Identität von Normgeber und Normadressaten ist damit auch im Wesen dieser Konstruktion enthalten, da es die Normadressaten sind, die den Konsens schließen. Anstelle des Mehrheitsprinzips käme, wenn auch nicht unbedingt so naheliegend, jede andere denkbare Modalität zur kollektiven Willensfindung in Betracht. Erforderlich wäre demnach nur ein einziger Grundkonsens, in dem man sich einstimmig auf die Modalität der Verfassunggebung – vorzugsweise das Mehrheitsprinzip – festlegte. Dieser Konsens litte dadurch nicht (wie oben, das Volk im Konsens als verfassunggebende Gewalt) an der normativen Überladung, sondern hätte nur eine einzige Norm, eine Delegierung der Rechtsetzungskompetenz, zum Inhalt.

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Kap. 3: Der Souverän

Dennoch erscheint diese Konstruktion eines Grundkonsenses aus verschiedenen Gründen ungeeignet zur Begründung eines souveränen, originären Rechtsetzungswillens an der Spitze der Rechtsordnung: a) Es ist immer noch schwer vorstellbar, dass ein solcher Grundkonsens, welchen konkreten Inhalts auch immer, zwischen allen Rechtssubjekten einer Rechtsordnung vorliegen soll, also zum Beispiel unter 80 Millionen Deutschen. Selbst die einstimmige Annahme einer einzigen Norm als notwendige Voraussetzung einer Rechtsordnung erscheint allzu unglaubwürdig und fingiert, als dass sie unterstellt werden könnte und als Fundament eine ganze Rechtsordnung trüge. b) Es ist nicht ersichtlich, warum der Grundkonsens, also ein einstimmiger, normativer Beschluss, einen Souverän schaffen soll, warum aus diesem ein souveräner Wille hervorgehen soll. Der Wille ist ein derivativer Wille, der sich nach einem vertraglich vereinbarten Verfahren bildet. Nichts würde ihm eine besondere Souveränität verleihen. Zudem fehlte es auch hier am Kontinuitätsmoment, an der kontinuierlichen Identität dieses Willens, anhand derer die Rechtsordnung identifiziert und abgegrenzt werden kann. c) Ein einstimmig beschlossenes Verfahren zur kollektiven Willensfindung würde diesen Willen wiederum normativ herleiten. Dieser würde dann wiederum nicht die Spitze der Rechtsordnung darstellen können, da mit dem einstimmigen Grundkonsens ja bereits eine höhere beziehungsweise vorausgehende Norm existierte, von der sich der kollektive Wille normativ ableiten müsste. Der Wille der Mehrheit hätte seine rechtliche Bedeutung nicht aus eigener Kraft. Der Grundkonsens ist damit gerade nicht dazu geeignet, einen souveränen Willen hervorzubringen. Diese Norm bezüglich der Willensfindung wäre eine „Verfassung über der Verfassung“. d) Letztlich würde der hier beschriebene Grundkonsens keinen souveränen Willen und damit keine neue, unabhängige Rechtsordnung schaffen, sondern vielmehr die Existenz und Kompetenz der so geschaffenen Rechtsetzungsautorität aus der bereits existierenden und das Zustandekommen des Grundkonsenses regelnden Rechtsordnung ableiten – aus der Koordinationsordnung.18

IV. Zwischenergebnis Auf dem Fundament der Koordinationsordnung, mit den normativen Instrumenten der souveränen Individuen, ist kein Staat, kein Souverän, keine Rechtsordnung denkbar. Selbst wenn sich alle Subjekte in einer Gruppe 18  So beruht auch die EU als nicht-souveräne „Rechtsordnung“ auf dem Fundament des Völkerrechts, siehe dazu unten, Kapitel 8.



B. Die Vertragstheorie85

einstimmig auf eine Gewalt oder einen Modus zur Willensfindung festlegten – eine wirklich souveräne Macht würde damit nicht begründet werden können. Auf diese Weise kann nur ein Verein gegründet werden, der, wenn er auch umfassend ermächtigt werden kann, so doch seine Legitimationsgrundlage in den Regeln der Koordinationsordnung fände und über nichts genuin Souveränes, Staatliches verfügte.

B. Die Vertragstheorie Die prominenteste und wohl das heutige Staatsverständnis am nachhaltigsten prägende Theorie, die diesen Schritt von der Koordinationsordnung zur Rechtsordnung, vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand, erklären soll, ist die Vertragstheorie. Hier ist jedenfalls eines der ausgearbeiteten Grundprinzipien, nämlich die grundsätzliche Identität von Rechtsetzern und -adressaten, in gewisser Form gewahrt. Zudem wird in der neuzeitlichen politischen Philosophie genau das hier behandelte Problem erkannt und zu lösen versucht: Die Gemeinschaft, der Staat, die Rechtsordnung ist nicht etwas von Natur aus Vorgegebenes, sondern etwas Sekundäres, dessen Existenz einer Begründung bedarf. Der Staat ergibt sich nicht bereits aus der Natur des Menschen heraus. Das Staatsbild beruht hier auf einer individualistischen Fundierung, Ausgangspunkt ist der souveräne Einzelne.19 Außerdem stellt die neuzeitliche politische Philosophie erstmals die Frage, die auch hier gestellt worden ist: die nach der Legitimation des Staates mit souveräner Macht über die Rechtssubjekte, nach der Legitimation von allgemeinverbindlichem Recht. Der Staat ist plötzlich legitimationsbedürftig.20 Zu diesem Zweck wird der kontraktualistische Gedanke herangezogen.21 Der Vertrag ist das zentrale legitimatorische Instrument der neuzeitlichen politischen Philosophie. Die Grundstruktur der Argumentation kann in den drei Schritten: Naturzustand – Vertrag – Staat dargestellt werden.22 Der Vertrag wird dabei in erster Linie nicht als ein historischer Vorgang gedeutet, sondern als ein theoretisches Modell zur Ermöglichung von Herrschaftsgewalt überhaupt, er wird also jeder denkbaren Verfassung als oberste Ebene jeder denkbaren Rechtsordnung theoretisch vorausgesetzt, damit deren Geltung begründet werden kann.23

Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 33. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 15 f. 21  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 35. 22  Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 33, 104. 23  Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 212; Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 147; Sturma, Jean-Jacques Rousseau, 54. 19  Vgl. 20  Vgl.

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Kap. 3: Der Souverän

Im Folgenden werden die wichtigsten Vertreter und deren jeweiliges Verständnis des Übergangs vom Urzustand hin zum Staat dargestellt.

I. Thomas Hobbes Thomas Hobbes24 gilt als Neubegründer der politischen Philosophie in der Neuzeit und damit als einer der prägendsten Akteure auf dem Gebiet der Staatsphilosophie, als Erfinder des kontraktualistischen Dreischritts.25 In seinem abschließenden Hauptwerk, dem Leviathan von 1651, sieht er den Urzustand der Menschen pessimistischer als in der hier geschilderten Koordina­ tionsordnung. Im Naturzustand sei der Mensch ein freies, souveränes Wesen. Mangels einer über den Menschen stehenden Macht ist aber jeder für die Durchsetzung seiner eigenen Interessen allein verantwortlich und den Interessen des jeweils anderen schutzlos ausgeliefert, kann keinem vertrauen und befindet sich in einem von allseitigem Misstrauen26 geprägten Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden.27 Diese absolute Freiheit ist für Hobbes Anarchie.28 Hobbes fundiert dieses Bild vom Naturzustand in seinem Bild von der individualistischen Natur des Menschen.29 Der Mensch sei von Natur aus egoistisch, asozial und vom Interesse um die eigene Selbsterhaltung, das höchste Gut überhaupt, getrieben. Aus diesem Interesse heraus folge eine natürliche Konkurrenz um knappe Güter und um Macht. Verfeindung, Misstrauen, Gewalt, wenn auch nur rein präventiv, seien die Folge.30 Dieser Kausalitätszusammenhang beruht bei Hobbes auf der Vernunft des Menschen. Es sei also im Interesse der Selbsterhaltung vernünftig, sich so zu verhalten. Wesentlich ist das Menschenbild auch von einer natürlichen Gleichheit der Menschen geprägt.31 Die von Natur aus im Wesentlichen gleiche Beschaffenheit aller Menschen verhindert im Naturzustand jede dauerhafte Über- und Unter24  Hobbes’ (1588–1679) staatsphilosophisches Hauptwerk ist Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, erstmals London 1651. 25  Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 8, 105; ders., Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, 21. 26  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 108. 27  Dazu ausführlich Nida-Rümelin, Bellum omnium contra omnes; Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 109, 118; ders. Vertrag, Souveränität, Repräsentation, 214. 28  Vgl. Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, 213; ders., Thomas Hobbes zur Einführung, 106. 29  Vgl. zum Menschenbild bei Hobbes Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 109 ff.; ders., Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, 16. 30  Vgl. Nida-Rümelin, Bellum omnium contra omnes, 112. 31  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 115 ff.



B. Die Vertragstheorie87

ordnung, die eine Befriedung des Zustandes garantieren könnte. Gleichzeitig ermöglicht diese Gleichheit überhaupt erst den Vertragsschluss zur Übertragung der souveränen Macht auf den Staat.32 Im Naturzustand verfügt jeder über das „natürliche Recht“, seine Selbsterhaltung mit allen Mitteln gegen jeden anderen zu betreiben. Jeder hat im Naturzustand das natürliche Recht auf alles, das ius in omnia et omnes, da jedes Individuum souverän sei. Im Moment des Vertragsschlusses verzichtet jeder auf dieses Recht und der einzige „letzte Wolf“33, zugunsten dessen alle verzichten und der selbst nicht verzichtet, kann seine Souveränität ungehindert über alle ausüben.34 Staatswissenschaft ist für Hobbes Friedenswissenschaft.35 Der Zweck des Zusammenschlusses der Menschen zu einem Staat ist die Schaffung und Erhaltung von Frieden.36 Der unbefriedigende und in sich unbefriedbare Naturzustand muss aus der Einsicht aller Menschen und aus dem Motiv der Selbsterhaltung überwunden werden. Aus diesem Grund stimmen alle dem Vertrag zu, der die Herrschaftsgewalt an den übergeordneten Souverän, den Leviathan, überträgt.37 Durch Vertrag eines jeden mit jedem legitimiert letztlich jeder Einzelne über seiner souveränen Freiheit den Souverän, unterwirft sich dessen Willen. Wegen dieser einstimmigen Zustimmung erkennt Hobbes in dem Leviathan „eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person.“38 Dadurch seien dann die Individuen zwar nicht mehr frei, sondern diesem einen Willen unterworfen, sie sind dies aber freiwillig und aus der Erkenntnis heraus, dass nur so jeder Einzelne ohne Angst vor den anderen sich selbst frei – im Rahmen der allgemeinverbindlichen Gesetze – entwickeln könne. Das wesentliche Staatliche, nämlich die souveräne, über den im Grundsatz freien und souveränen Individuen stehende Macht, beruht also auf Zustimmung und damit auf der freiwilligen Selbsteinschränkung der Rechtssubjekte.39 Im Vertragsschluss sind damit prinzipiell zwei Schritte zu unterscheiden: Erstens der allumfassende Rechtsverzicht eines jeden gegenüber einem jeden und zweitens die Autorisierung eines Einzelnen oder einer Personenmehrheit durch Übertragung aller Rechte, also die Bestimmung der Person des Souverän.40 Durch diesen Vertrag wird aus der crowd, Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 115 ff. Thomas Hobbes zur Einführung, 154. 34  Vgl. Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, 219. 35  Vgl. Kersting, Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, 20; ders., Thomas Hobbes zur Einführung, 44. 36  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 47. 37  Vgl. Kersting, Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, 25; ders., Thomas Hobbes zur Einführung, 148 ff. 38  Hobbes, Leviathan, 134 f. 39  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 106. 40  Vgl. Hobbes, Leviathan, 134 f. 32  Vgl.

33  Kersting,

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Kap. 3: Der Souverän

der Vielheit der einzelnen Individuen, die Einheit namens people, das Volk.41 „A people is a single entity, with a single will.“42 Entscheidend ist bei Hobbes, dass nach seinem Menschenbild und seiner Auffassung vom Naturzustand der Mensch zwingend zu dieser freiwilligen Zustimmung zum Vertrag gelangen muss.43 Der Vertrag wird nicht geschlossen zwischen den Individuen einerseits und dem Leviathan andererseits – letzterer steht ja zum Vertragsschluss noch gar nicht zur Verfügung –, sondern zwischen jedem einzelnen Individuum mit jedem jeweils anderen. Der Leviathan ist dabei das Produkt dieses Vertrages.44 Er entsteht in derselben logischen Sekunde, in der der Vertrag geschlossen wird. Vergesellschaftung und Herrschaftsetablierung – also Staatsgründung, Gewaltmonopol, Souverän – gehen miteinander einher.45 Die Souveränitätsbegründung des Leviathan ist bei Hobbes vertraglicher Natur, sie ist normativ, derivativ.46

II. John Locke Auch bei John Locke47 besteht der Naturzustand auf der Grundlage freier und gleicher Individuen und eine a priori bestehende Über- oder Unterordnung ist nicht denkbar.48 Das Defizit einer über allen stehenden Macht mache einen dauerhaften Frieden aber unmöglich.49 Aus dieser den Naturzustand prägenden und gottgewollten Gleichheit aller resultiert bei Locke die Freiheit aller im Naturzustand.50 Neben der Freiheit bestehen im Naturzustand weitere Rechte, die in der Natur des Menschen wurzeln – bei Locke unter Berufung auf biblische Lehren.51 Freiheit, Eigentum und Leben Saar, „Multitude“ oder Volk?, 90. On the Citizen, 137. 43  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 108. 44  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 150. 45  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 150. 46  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 153  ff., insbes. 156: „Der Vertrag besitzt die Funktion einer originären Ermächtigungsnorm“; der Vertrag mag originär und in der Souveränität der Individuen begründet sein, die Macht des Leviathan ist damit aber bereits derivativ. 47  Lockes (1632–1704) staatsphilosophisches Hauptwerk ist Two Treatises of Government, erstmals London 1689. 48  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 205; Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 3 Rn. 26. 49  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 202 f. 50  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 206. 51  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 202, 207. 41  Vgl.

42  Hobbes,



B. Die Vertragstheorie89

sind diese drei Grundrechte, die auch im Gesellschaftszustand nicht verloren gehen können.52 Während bei Hobbes der Leviathan ein absolutistischer Herrscher ist, wird bei Locke durch den Gesellschaftsvertrag zwar ebenfalls ein den Frieden garantierender Souverän hervorgebracht, dieser ist aber von vornherein an die allen Menschen von Natur aus zustehenden Rechte gebunden. Hier entsteht also die Idee einer konstitutionellen Einschränkung der Macht des Staates, die Idee einer Verfassung, wie sie später Eingang in die amerikanischen und französischen Verfassungsdokumente fand. Zum einen sei der Souverän durch den Zweck seiner Erschaffung – der Schutz der natürlichen Rechte (Leben, Freiheit, Eigentum)53 sowie das öffentliche Wohl54 – gebunden.55 Zum anderen gehe aus dem Zweck des Staates hervor, dass alles staatliche Recht mit dem „Gesetz der Natur“ – damit meint er alles, was der Friedenserhaltung, der Selbsterhaltung des Einzelnen sowie der Menschheit insgesamt dient – vereinbar sein müsse, da es nur in ihm seine Begründung finden könne.56 Außerdem schließt der Vertrag bei Locke auch die Geltung des Mehrheitsprinzips zur staatlichen Entscheidungsfindung mit ein.57 Bezogen auf das Zustandekommen einer allgemeinverbindlichen, staat­ lichen, souveränen Macht an der Spitze der Rechtordnung gleicht dieser Vertrag im Wesentlichen dem Hobbesschen Gesellschaftsvertrag. Der Naturzustand wird von den Individuen ebenfalls freiwillig und aus vernünftigen Motiven, nämlich zur Überwindung der mit ihm verbundenen Nachteile und Gefahren – Kriegsbedrohung, Selbstjustiz – und zur Absicherung der Selbsterhaltung, überwunden.58 Anders als Hobbes sieht Locke die Menschen aber auch aus naturrechtlicher Verpflichtung dazu motiviert, in den Gesellschaftszustand überzugehen.59 Die begründete Herrschaftsgewalt ist aber ebenfalls normativ zustande gekommen und derivativen Charakters. Relativiert wird die Bedeutung des Lockeschen Gesellschaftsvertrages aber signifikant dadurch, dass er bereits vorher geltendes Naturrecht annimmt, das auch in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin gilt und dem positiven staatlichen Recht übergeordnet ist, und vor allem dadurch, dass der GesellSpecht, John Locke, 176. Sprute, Die Legitimität politischer 54  Vgl. Specht, John Locke, 182. 55  Vgl. Specht, John Locke, 181; Sprute, bei Locke, 213. 56  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer 57  Vgl. Specht, John Locke, 181. 58  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer 59  Vgl. Sprute, Die Legitimität politischer 52  Vgl. 53  Vgl.

Herrschaft bei Locke, 212. Die Legitimität politischer Herrschaft Herrschaft bei Locke, 213 f. Herrschaft bei Locke, 211. Herrschaft bei Locke, 216 f.

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Kap. 3: Der Souverän

schaftsvertrag selbst auch auf diesem Naturrecht beruht.60 Der Souverän an der Spitze der Rechtsordnung ist hier also weniger eine originäre, unabhängige, eben souveräne Macht, die den Anfangspunkt allen staatlichen Rechts markiert, sondern vielmehr nur ein wichtiger Schritt auf dem (bereits vorher beginnenden) Weg in die staatliche Rechtsordnung und in die bürgerliche Gesellschaft.61

III. Jean-Jacques Rousseau Der Gesellschaftsvertrag bei Rousseau62 ist genau wie der des Leviathan ein Entäußerungsvertrag. Genau wie jener ist der Vertrag bei Rousseau „die vollständige Überäußerung (aliénation totale) eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft.“63 Diese Gemeinschaft, der Souverän, entsteht erst als Produkt dieses Vertrages. Bei Rousseau wird aber der Platz des Souverän uno actu von den Vertragschließenden selbst als eine Einheit eingenommen und kann auch nur von ihnen eingenommen werden.64 Hier ist der kontraktualistische Gedanke zu Ende gedacht. Souverän wird in dem Moment seiner Entstehung, nämlich im Moment des Vertragsschlusses, die dadurch entstandene „personenanaloge Einheit“65 des Volkes. Bei Hobbes wird durch den Entäußerungsvertrag die Position des Souverän geschaffen und verfügbar und kann sodann, in ihrer Absolutheit – in einem Herrschaftsvertrag –, besetzt werden durch verschiedene die Souveränität wahrnehmende und ausübende Kräfte. Hobbes steht dabei den Modellen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie offen und prinzipiell neutral gegenüber.66 Bei Rousseau wird jetzt erkannt, dass der einzige denkbare und über absolute Macht verfügende Souverän nur das im Moment des Zusammenschlusses entstehende Volk als eine Person, als „gemeinsames Ich“67, sein kann. Der Souverän repräsentiert nicht das Volk, er ist das Volk in vollkommener Identität. Seine Entscheidung wird nicht die des Volkes kraft Zustimmung, volenti non fit iniuria, sondern die Entscheidung ist die des Volkes, weil es entscheidet. Im Gegensatz zu Hobbes Sprute, Die Legitimität politischer Herrschaft bei Locke, 221. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 42. 62  Rousseaus (1712–1778) Hauptwerk zur Staatsphilosophie ist Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, erstmals Amsterdam 1762. 63  Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 73; vgl. auch Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 58. 64  Vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 52. 65  Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 54. 66  Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 162 f. 67  Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 56. 60  Vgl. 61  Vgl.



B. Die Vertragstheorie91

„weicht bei Rousseau diese interpretationsgestiftete Als-ob-Identität einer realen Identität“.68 Der Wille des Souverän gilt bei Hobbes als der des Volkes kraft Zurechnung in Form von Zustimmung, bei Rousseau hingegen ist der Wille des Souverän genau das, das alle einheitlich wollen – ohne einen Zwischenschritt.69 Bei Rousseau geht alles in der Gesellschaft auf, es werden keine individuellen Rechtspositionen – wie bei Locke gewisse Freiheitsrechte – zurückbehalten.70 Durch die rückhaltlose Selbstentäußerung und Entäußerung aller individueller Rechte und Freiheiten eines jeden gegenüber einem jeden ist die Selbstbestimmung des Menschen gewahrt, denn ein jeder tut ihm gleich, und so unterwirft man sich im Vertrag nicht jemandem und es herrscht nicht jemand über einen, sondern jeder ist ab diesem Moment gleichberechtigter Teil des damit entstehenden Ganzen, das herrscht.71 Der Wille des Souverän ist auch nicht an Zwecke gebunden, die sich aus dem Naturzustand oder den Motiven des Zusammenschlusses ergeben. Nicht bestimmte Zwecke geben also den Willen vor oder grenzen ihn normativ ein, sondern umgekehrt: Der Allgemeinwille bestimmt den Zweck, er gibt vor, was gut ist. In diesem Sinne verfolgt der Souverän durchaus das Gemeinwohl, aber nicht, indem er ihm verpflichtet wäre, sondern indem er es selbst bestimmt.72 Was der Allgemeinheit dient, ist das, was der Gemeinwille will.73 So kann das von Rousseau konzipierte Souveränitätskonzept zutreffend mit den vier Begriffen: Unveräußerlichkeit, Unvertretbarkeit, Unteilbarkeit, Unfehlbarkeit beschrieben werden.74 Damit kommt dieser Begriff der Souveränität dann auch dem analog ausgestalteten Vergleichsobjekt, der Souveränität des Menschen als freies, souveränes Individuum in der Koordina­ tionsordnung, am nächsten.75 68  Kersting,

Die Vertragsidee des Contrat social, 57. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 41; ders., Thomas Hobbes zur Einführung, 161. 70  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 59; ders., Die Vertragsidee des Contrat social, 59. 71  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 79 f. 72  Vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 64. 73  Vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 67. 74  Vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 63. 75  Vgl. Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social, 65: „Die Unveräußerlichkeit der Souveränität ist die politische Entsprechung der individuellen Autonomie. Sowenig der Mensch Mensch bleibt, wenn er auf seinen Willen, auf Selbstbestimmung seiner Handlungen und seines Lebens verzichtet, sowenig bleibt ein Volk ein Volk, wenn es sich einen fremden Herrn gibt und darauf verzichtet, seine Kräfte zur Beförderung seines Wohls durch den eigenen Willen zu lenken.“ 69  Vgl.

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Kap. 3: Der Souverän

IV. Bewertung der Vertragstheorien Der Naturzustand wird in den Vertragstheorien – insbesondere noch bei Hobbes – pessimistisch beschrieben. Nach dem hier vertretenen Konzept einer natürlichen Koordinationsordnung – dem rechtlichen Minimum, der „rechtlichen Wüste“ – kann man diesen Zustand durchaus positiver betrachten. Insbesondere kann auch in Form einer Koordinationsordnung – verwiesen sei insbesondere auf das Völkerrecht76 – Recht effektiv, also wirksam, existieren. Dem Hobbesschen allgegenwärtigen Misstrauen gegenüber steht ein allgegenwärtiges, ebenso in der Natur des Menschen angelegtes Vertrauen.77 Recht kann auch verlässlich und wirksam sein aus dem Vertrauen darauf, dass der Vertragspartner ebenso auf dieses Vertrauen angewiesen ist.78 Gemeinsam ist den Theorien die Kreation des Gemeinwesens, des Souverän, durch die Menschen in Form des Vertrages. Wie auch immer die Geburt des Souverän aussehen mag – seine Gestalt ist anhand der Bedürfnisse der Rechtsordnung bereits im Wesentlichen umrissen worden. Die vier Attribute des Rousseauschen Souverän beschreiben diese Gestalt recht treffend: die Souveränität ist unveräußerlich, da sie dem Souverän, dem Volk, persönlich anhaftet kraft seiner Natur. Sie ist ein Attribut aus der Sphäre des Seins und steht als solches naturgemäß nicht zur Disposition irgendeiner Person. Sie ist unvertretbar, und zwar aus genau demselben Grund. Ein Mensch kann sich schließlich auch zwar in Bezug auf einzelne normative Äußerungen durch einen anderen Willen vertreten lassen, er kann aber nicht seine Souveränität vertreten lassen. Die Souveränität ist unteilbar, da sie eine persönliche Eigenschaft ist, nicht ein Gut, 76  Man könnte nun natürlich entgegengesetzt argumentieren, dass eine Entwicklung des Völkerrechts von der bloßen Koordinationsordnung hin zu einer irgendwie vergesellschafteten Kooperationsordnung oder gar Rechtsordnung die Gefahr und Gegenwärtigkeit von Kriegen – zumindest in Teilen der Welt – deutlich verringert habe. 77  In diese Richtung auch Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, § 3 Rn. 8. 78  Dank dieses Vertrauens kann die Kooperationsordnung m. E. auch gegen das Gefangenen-Dilemma, das Hobbes heranzieht, um die Möglichkeit einer funktionierenden Kooperationsordnung zu verneinen, bestehen. Da zumindest alle Vernünftigen erkennen, dass jedenfalls auf lange Sicht die Kooperationsordnung die gewinnbringendere Alternative gegenüber dem Krieg aller gegen alle ist, wird man den Zwang, der einem als Rechtsbrecher entgegengebracht wird, eher fürchten, als den Zwang des Egoisten bei dessen rechtswidriger Durchsetzung seiner egoistischen Interessen. Denn der erstgenannte Zwang ist legitim und hat im Zweifel die Masse der Gesellschaft, zumindest aller Vernünftiger, hinter sich. Man kann den Naturzustand also auch positiver bewerten.



B. Die Vertragstheorie93

über das man verfügen könnte. Und sie ist letztlich unfehlbar, da es über dem eigenen souveränen Willen keinen absoluten Maßstab dafür gibt, was gut ist und was nicht, was richtig ist und was falsch. Rousseaus Souveränitätskonzept ist somit zunächst in wesentlichen Punkten zuzustimmen. Insbesondere in seiner Absolutheit, die die des Hobbesschen Leviathan noch übersteigt79, ist Rousseaus Souveränitätskonzept zuzustimmen. Allerdings ist damit keineswegs die Grundlage des absolutistischen Herrschers gegeben, sondern vielmehr die Grundlage des absolutistischen Volkes, der Volkssouveränität. Das vereinte Volk soll schließlich „nur“ als Souverän fungieren, das heißt als Ausgangspunkt der Rechtsordnung, als verfassunggebende Gewalt.80 Der Souverän ist höchste, nicht alleinige Rechtsgewalt. Alles Weitere ist eine Frage der verfassungsrechtlich normierten Herrschaftsform, also von Delegierungen. Damit ist aber auch Rousseau bei der Volkssouveränität als zwingender und einzig denkbarer Grundlage einer Rechtsordnung. Monokratische und oligarchische Herrschaftsformen sind damit aber nicht zugunsten der Demokratie ausgeschlossen.81 Vor allem aber bleibt fraglich, ob das Konzept der Vertragstheorie, von dem die Stufe des Rousseauschen Gesellschaftsvertrages sicherlich die überzeugendste und ausgereifteste darstellt, diesen vier genannten Kriterien in ihrer hier geforderten Funktion auch wirklich entsprechen. Fraglich ist, ob ein derart gestalteter Souverän auf diese Weise tatsächlich kreiert werden kann. Bei Hobbes wird dieser Vertrag tatsächlich zugunsten eines Dritten, einer natürlichen Person, geschlossen, die dann als eine Person, als Einheit, alle vertritt.82 Nicht mehr als das ist bei Hobbes die Einheit des Volkes. Der gesuchte Souverän sollte aber die Einheit aller sein, nicht eine natürliche Person, sondern eine ideelle Person, die tatsächlich identisch mit allen ist. Es soll nicht – und kann nicht – durch einen Zusammenschluss die Souveränität auf eine Person übertragen werden, sondern durch Zusammenschluss muss ein „Alle“ entstehen, das Souverän ist. Der Souverän soll also gewissermaßen noch näher an den Menschen, am Volk, dran sein, es soll tatsächlich Identität bestehen. Bloße Zustimmung reicht dazu nicht aus. Es ist nicht weniger beansprucht, als dass der Leviathan tatsächlich seinen Körper aus allen Menschen bildet, dass dieses Bild zu Hobbes’ Leviathan aber eigentlich nicht so richtig passt. Passender erschiene, dass die Masse des Volkes auf dem Titelbild des Leviathan diesen auf ihren Händen trüge. Kersting, Kersting, 81  Vgl. Kersting, 82  Vgl. Kersting, 79  Vgl. 80  Vgl.

Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 59. Die Vertragsidee des Contrat social, 65 f. Die Vertragsidee des Contrat social, 65 f. Vertrag, Souveränität, Repräsentation, 222.

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Kap. 3: Der Souverän

In diese Richtung geht auch der Vorwurf Rousseaus an Hobbes, dass dieser nämlich nicht erklären könne, warum das Volk beziehungsweise die dieses bildenden Individuen durch den Hobbesschen Vertrag zu einer Einheit, zu einem Volk würden.83 Aus der bloßen und unstreitig gegebenen Vernunftfähigkeit des Menschen auf diese freiwillige Zustimmung zu schließen, wie Hobbes es tut, erscheint zudem keineswegs zwingend.84 Aber auch der von Rousseaus Gesellschaftsvertrag hervorgebrachte Souverän trifft nicht ganz die Vorstellung der Person, derer die hier entworfene Rechtsordnung an ihrer Spitze bedarf. Rousseaus Vertragskonzept kommt dem oben85 geschilderten und verworfenen Modell des Grundkonsenses noch sehr nahe. Problematisch ist jedoch der normative Charakter, die normative Zustimmung als Grundlage des Souverän. Er schränkt ihn in seiner Absolutheit und Originarität ein. Der Übergang von der Koordinationsordnung in die Rechtsordnung sollte keinen vertraglichen Charakter haben, denn er ist nicht normativ. Ein Konsens, ein Vertrag mit allen, erscheint nicht geeignet. Der Staat wäre – zumindest theoretisch, und zwar genauso theoretisch wie die gesamte Vertragstheorie – von der Zustimmung der Menschen abhängig, die – ebenso theoretisch – willkürlich entzogen werden könnte. Das passt nicht zu der absoluten und originären Auffassung von Souveränität. Auch bei Rousseau ist deutlich erkennbar, dass das rein rechtliche Vertragsmodell nicht ausreicht, nicht das alleinige Instrument sein kann, um die Metamorphose des Individuums im Naturzustand hin zum Bürger als inte­ gralem Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, des souveränen Volkes und somit die Entstehung der Person des Volkes, zu erklären.86 Auch das Rousseausche Souveränitätskonzept ist in diesem Sinne noch zu wenig „freitragend“87.

C. Die Identifikationstheorie Der weiterführende Ansatz kann nun nur noch das Ziel verfolgen, das Rousseausche Konzept des durch Gesellschaftsvertrag geschaffenen Souverän dahingehend zu modifizieren, dass am Ende eine souveräne Person an Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 47. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 151 f. 85  Vgl. oben, A. III. 86  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 65 ff., 69 ff. 87  Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 19: „Der durch den Vertrag gegründete Staat ist bei Rousseau eine freitragende normative Konstruktion, eine absolute Norm, ein ausschließlich aus der normativen Freiheitsprämisse herausgesponnenes absolutes politisches Ideal ohne jeden empirischen Außenhalt.“ 83  Vgl. 84  Vgl.



C. Die Identifikationstheorie95

der Spitze der Rechtsordnung steht, die keiner normativen Herleitung mehr bedarf, die also tatsächlich souverän, das heißt deren Wille tatsächlich unveräußerlich, unvertretbar, unteilbar und unfehlbar, ist. Der Satz soll stimmen: „Die verfassunggebende Gewalt ist nicht rechtlich ableitbar.“88 Das bedeutet hier: Die Entstehung, die Geburt dieser Person muss unmittelbar in der Sphäre des Seins stattfinden, ohne sich irgendeiner normativen Konstruktion bedienen zu müssen. Das kann gelingen, wenn das entscheidende Moment dafür die gemeinsame Identifikation einer Menschenmenge als ein Volk ist.

I. Die Identifikationstheorie als Gesellschafts-„Vertrag“ der Moderne Die gemeinsame Identifikation einer Menschenmenge als ein Volk als entscheidendes Moment für die Entstehung des Souverän anzusehen kann mit gewisser Berechtigung als der „Gesellschafts-‚Vertrag‘ der Moderne“ bezeichnet werden. Gegenüber der zuvor behandelten neuzeitlichen Staatsphilosophie findet dieses im Folgenden dargestellte Konzept nämlich deutlichen Anklang in der Staatstheorie der Moderne, womit insbesondere die die deutsche Entwicklung des letzten Jahrhunderts begleitende Wissenschaft gemeint sein soll.89 Freilich ist das Vertragliche am Gesellschaftsvertrag dabei gerade das, was es zu überwinden gilt. Von vornherein steht fest, dass dieser Souverän in irgendeiner Weise das Volk verkörpern muss, da im Wesentlichen die Identität von Rechtsetzer und Rechtssubjekten gewahrt sein muss. In Betracht kommt im Ergebnis nur das Volk als Souverän, und zwar das Volk als irgendwie zu einer Person zusammengeschlossener Verbund aller Rechtssubjekte, also nicht bloß die Summe aller Rechtssubjekte. Das Volk muss als eine ideelle Person gedacht werden. Es muss, da der Wille des Souverän gesucht ist, das Volk „als politische Einheit vorhanden sein und vorausgesetzt werden, wenn es Subjekt einer verfassunggebenden Gewalt sein soll“.90 Dieser Schritt kann nur in der gemeinsamen Identifikation aller Rechtssubjekte als ein Volk, als eine Rechtsgemeinschaft gefunden werden. Diese Identifikation aller Rechtssubjekte als ein Volk ist das Wesen eines Volkes, sie ist notwendige und zugleich hinreichende Existenzbedingung des Volkes als eine Person mit einem Willen, somit des Souverän, und ermöglicht damit eine Rechtsordnung. Sobald sich eine Menschenmenge als zusammengehörig, als ein Volk, gemeinsam identifiziert, entsteht dieses Volk als eine Person und als Verkör88  Stern,

Staatsrecht I, § 5 I 2 a). dazu sogleich unter II. 90  Schmitt, Verfassungslehre, 61; vgl. auch ders., a. a. O., 79. 89  Vgl.

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Kap. 3: Der Souverän

perung des Souverän. Als eine Person ist es Träger eines Willens, des souveränen Willens des Volkes, des Gemeinwillens. Dieser Wille ist nicht normativ ableitbar, sondern entsteht originär und kraft Natur des Zusammenschlusses zu einem Volk mittels gemeinsamer Identifikation. Er ist in der Rechtsordnung die oberste Rechtsetzungsautorität, auf die alles Recht zurückführbar sein muss, um rechtlich verbindlich zu sein. Bei der Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips, das unmittelbar aus der Souveränität des menschlichen Individuums folgt, muss eine gewisse freiwillige Bereitschaft des Individuums eine Rolle spielen, sich allgemeinverpflichtendem Recht ohne individuelle Zustimmung im Einzelfall grundsätzlich unter gewissen Bedingungen zu unterwerfen. Diese Bereitschaft und zugleich diese Bedingungen liegen in der empfundenen Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Gemeinschaft, die auch mithilfe von allgemeinverbindlichen Rechtsnormen organisiert sein soll. Die Identifikation der Individuen mit einem Volk (oder, dasselbe betreffend: einer Gemeinschaft) und damit die Identifikation eines gesamten Volkes als eine Gemeinschaft ist der Zusammenschluss, der die Rechtsordnung ermöglicht; in ihm liegt die Generalvollmacht des Individuums zugunsten des Willens des Volkes, dem er sich zugehörig fühlt. Die geforderte Identifikation des Individuums darf man sich durchaus als eine gewisse Zustimmung vorstellen, aber eben nicht in dem oben (Grundkonsens) geschilderten normativen Sinne. Was genau bedeutet nun die „gemeinsame Identifikation als ein Volk“, aus der die Person des Volkes mit souveränem Willen hervorgehen soll? Das Volk, die Nation, die Menschen also, die die Rechtsgemeinschaft ausmachen, ist eine in gewisser Weise homogene Menschenmenge. Homogenität in diesem Sinne soll heißen, dass man sich anhand bestimmter Merkmale als zusammengehörig identifiziert. Mit zunehmendem Maß an Zusammengehörigkeitsgefühl, zunehmendem Maß an gemeinsamer Identifikation anhand gemeinsamer Merkmale, und damit mit zunehmendem Maß an Integration der Menschen bildet sich eine Einheit, die Einheit des Volkes, heraus. Das ist aber kein normativer Schritt, sondern eine sich miteinander identifizierende Menschenmenge bildet vielmehr automatisch diese Einheit eines Volkes ab. In dem Moment, in dem diese souveräne Einheit, dieses Volk, entsteht, entsteht aber auch der souveräne Wille dieser Person, der Gemeinwille. Hier findet keine Übertragung von Souveränität statt – dass eine solche nicht möglich ist, liegt schon in der Natur von Souveränität. Auch Kompetenzübertragung liegt nicht vor. Vielmehr kann der Vorgang bezeichnet werden als Projektion der individuellen Souveränitäten auf die Person des Volkes. Da die Menschen über Souveränität verfügen, ist das Volk, das ja



C. Die Identifikationstheorie97

die sie vereinende Einheit und mit ihnen identisch ist, ebenfalls eine souveräne Person. Es handelt sich um einen nicht-normativen Akt in der Sphäre des Seins, um ein automatisches Entstehen eines souveränen Volkswillens in dem Moment, in dem die souveränen Rechtssubjekte sich zu einem Volk zusammenschließen, in der Bereitschaft, sich allgemeinverbindlichen Regeln dieser Gemeinschaft, mit der sie sich identifizieren, unterzuordnen.

II. Das Wesen der Identifikation Welche sind also die geforderten gemeinsamen Merkmale, anhand derer sich die Individuen gemeinsam identifizieren müssen, um der geforderten Homogenität zu entsprechen? Es ist in hohem Maße von der sozialen Prägung einer Gesellschaft abhängig, anhand welcher Merkmale ein derartiges Maß an gemeinsamer Identifikation erreicht werden kann, um von einem Volk und einem Volkswillen sprechen zu können. Eine solche Definition von Volk „ist ein Konzept, das eine subjektive – sozialpsychologische – Komponente besitzt, die in objektiven, organischen Bedingungen wurzelt.“91 Es ist entscheidend, dass ein ausreichendes Maß an Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen kann. Jedenfalls besteht keine Beschränkung auf gemeinsame äußere Merkmale wie Sprache, Rasse, Abstammung etc., vielmehr kann jede empfundene Zusammengehörigkeit geeignet sein, um diesen zu einem Gemeinwillen fähigen Zusammenschluss hervorzubringen. Die genannten äußeren Merkmale können diese Identität zweifelsohne stiften, es besteht aber keine Beschränkung darauf. Ganz im Gegenteil haben derartige (rassenbegründete) Gesellschaftsmodelle in der Geschichte zu den verheerendsten und katastrophalsten Folgen für die Menschheit geführt und tun dies noch heute, sodass andere identitätsstiftende Momente in den Vordergrund rücken. Zu denken ist vor allem an gemeinsame Geschichte, Traditionen, Kultur. Entscheidend für die gemeinsame Identität ist demnach nicht unbedingt eine gemeinsame Rasse oder eine gemeinsame Sprache, sondern entscheidend ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, also die subjektive Komponente.92 Schmitt fasst diese Voraussetzungen als ein „politisches Sonderbewußtsein“ zusammen, welches aus einem Volk eine Nation mache: „Nation bedeutet gegenüber dem allgemeinen Begriff Volk ein durch politisches Sonderbewußtsein individualisiertes Volk. Zur Einheit der Nation und zum Bewusstsein dieser Einheit können verschiedene Elemente beitragen: gemeinsame Sprache, gemeinsame geschichtliche Schicksale, Traditionen und Erinnerungen, gemein91  So die Definition des der „no-demos-These“ zugrundeliegenden Volksbegriffs wie dargestellt bei Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 97, der dem hier verwendeten im Wesentlichen entspricht. 92  Vgl. auch Stern, Staatsrecht II, § 25 I 2.

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Kap. 3: Der Souverän

same politische Ziele und Hoffnungen. Die Sprache ist dabei ein sehr wichtiger Faktor, aber nicht für sich allein ausschlaggebend. Maßgebend sind die Gemeinsamkeit des geschichtlichen Lebens, bewußter Wille zu dieser Gemeinsamkeit, große Ereignisse und Ziele. Echte Revolutionen und siegreiche Kriege können die sprachlichen Gegensätze überwinden und das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit begründen, auch wenn nicht die gleiche Sprache gesprochen wird.“93 Nach Rolf Grawert handelt es sich beim Volk „um ein Kollektiv von Menschen, das sich durch überpersonale Konsistenz, historische Dauerhaftigkeit, reale Wirksamkeit und komplexe Gemeinsamkeiten auszeichnet. Völker sind keine kurzfristigen, zufälligen, ungeordneten Erscheinungen, sondern abgrenzbare und verbundene Lebensgemeinschaften.“94 Er versteht unter „Volk“ „eine selbstbestimmungsfähige, aus Individuen zusammengesetzte Körperschaft […], die ihre Mitglieder integriert und deren Eigenheiten sich nicht auf die einzelnen Angehörigen radizieren lassen. Der Körperschaft werden ein selbständiges, komplexes Sein und ein eigenes, transpersonales Wesen zuerkannt. Ihre Identität wird durch Ein- und Ausgrenzungen aufgrund von Vergleichskriterien bestimmt, die ein Volk vom anderen unterscheiden sollen.“95 Es geht nach Weiler um ein „Gefühl sozialer Kohäsion“96, einer „kollektiven Identität“97, die in gegenseitiger Loyalität98 (nach innen gekehrt) und Solidarität (nach außen gekehrt)99 der Menschen zum Ausdruck kommt.100 Das kann durch die erstgenannten Elemente gestiftet werden, ist aber theoretisch offen gegenüber allen potentiell identitätsstiftenden Merkmalen.101 So identifiziert Kirchhof „die Deutschen“ über „ge93  Schmitt,

Verfassungslehre, 231, vgl. auch ders., a. a. O., 227. Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 2. 95  Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 12. 96  Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 97. 97  Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 97. 98  Vgl. Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 97. 99  Zu Loyalität und Solidarität als Merkmale des Zusammengehörigkeitsgefühls im Volk siehe auch Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 177. 100  Vgl. auch Lübbe-Wolff, Homogenes Volk, 123: „Die Rede von dem Wir-Gefühl, dem sozialpsychologischen Zustand, der Homogenität, die Voraussetzung gelingender Demokratie sein soll, unterstellt, dass gelingender politischer Einheit notwendigerweise etwas vorausgeht, was sie möglich macht, und zwar nicht bloß irgendwelche Ursachen, die man nach dem Satz vom zureichenden Grunde voraussetzen muss, sondern etwas, was selbst bereits eine fassbare Einheit darstellt, und zwar eine Einheit des Gefühls.“ (Hervorh. im Original). 101  So kann man davon ausgehen, dass in den USA – im Gegensatz zu den europäischen Nationalstaaten – die Identifikationsgrundlage des Volkes eine gleiche ethnische Herkunft eine eher untergeordnete Rolle spielt, hingegen aber das gemeinsame Schicksal einer Einwanderergesellschaft von Menschen, die gemeinsam sozusagen bei Null angefangen haben, eine weitaus größere Rolle spielt. 94  Grawert,



C. Die Identifikationstheorie99

meinsame Kulturtraditionen, übereinstimmende wirtschaftliche, politische und recht­liche Gegenwartsbedürfnisse“102, und erkennt so eine „Einigungsgrundlage, die das Grundgesetz als Verfassung des wiedervereinigten Deutschland legitimieren und den Weg vom ‚Verfassungspatriotismus‘ zur Gemeinsamkeit des Staatsvolkes und zur Zusammengehörigkeit der Staatsbürger in einem Staat ebnen konnte.“103 An anderer Stelle ist die Rede vom „sich seiner Zusammengehörigkeit bewußt gewordene[n], zum Recht fähige[n] Staatsvolk“ als „unabänderlicher, rechtlich zu gewährleistender Ausgangsbefund des Staatsgrundgesetzes“.104 Stern spricht von einer „Gemeinschaft von Menschen, die durch gemeinsame Abstammung, gemeinsames kulturelles Erbe, das insbesondere in der Gleichheit der Sprache sowie in der Gemeinsamkeit gewisser religiöser Überzeugungen und geschichtlichen Erlebens fundiert ist, sowie durch geistig-seelische Übereinstimmung zu einer unterscheidbaren Einheit zusammengewachsen sind und als solche ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln.“105 Bei Heller klingt es so: „[Es sind] namentlich alle die natürlich-gemeinsamen Motivationen, wie Boden, Blut, massenpsychische Ansteckung, Nachahmung, ferner die gemeinsam erlebte Geschichte und Kultur, welche […] den nicht normierten Unterbau der Staatsverfassung ausmachen.“106 Heller bezeichnete mit „sozialer Homogenität“ einen „sozial-psychologische[n] Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wir-Bewußtsein und -Gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen.“107 Es kommt an allen diesen Stellen eben jenes Bewusstsein zum Ausdruck, dass Grundlage einer staatlichen (ohne diesen Begriff hier genauer definieren zu müssen), allgemein verpflichtenden Rechtsordnung immer nur der Zusammenschluss vieler Individuen zu einem Volk, einer Nation, einer Rechtsgemeinschaft sein kann, da diese allein die notwendigen Voraussetzungen schafft. Es ist die „bewußte Identität mit sich selbst“, die nach Schmitt „das Volk als politische handlungsfähige Einheit“ hervorbringt.108 Kein normiertes Verfahren, kein Vertrag, sondern die bewusste Identität mit sich selbst erschafft das Volk als eine Einheit, als eine Person mit einem Willen, dem Gemeinwillen.

102  Kirchhof,

Die Identität der Verfassung, Rn. 4. Die Identität der Verfassung, Rn. 4 (Hervorh. durch Verfasser). 104  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 84. 105  Stern, Staatsrecht II, § 25 I 2 a). 106  Heller, Staatslehre, 284; ich möchte erweitern: nicht nur den „nichtnormierten“, sondern sogar – als der Sphäre des Seins zugehörig – nicht normierbaren Unterbau der Staatsverfassung und allen allgemeinverbindlichen Rechts überhaupt. 107  Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, 429. 108  Schmitt, Verfassungslehre, 63 (Hervorh. im Original). 103  Kirchhof,

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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen immer wieder diese Auffassung von der Identifikation als ein Volk als Grundlage eines Staates, damit einer Rechtsordnung, zum Ausdruck gebracht. Im Maastricht-Urteil109 wird die Identität mit dem Begriff der „Homogenität“110 bezeichnet und damit Bezug auf die beiden „Väter“111 dieses Begriffs, Carl Schmitt112 und Hermann Heller113, aber auch auf Hans Kelsen114, genommen.115 Im LissabonUrteil116 spricht das Gericht davon, „dass die öffentliche Wahrnehmung von Sachthemen und politischem Führungspersonal in erheblichem Umfang an nationalstaatliche, sprachliche, historische und kulturelle Identifikationsmuster angeschlossen bleibt.“117 Es geht dabei um genau die Frage, nämlich ob ein „Unionsvolk“ existiere, das zur eigenen rechtlichen „Selbstbestimmung“ in der Lage sei – was bekanntlich verneint wird.118 Der Begriff der Homogenität wird hier vermieden, aber dasselbe ist gemeint und sogar – noch näher am hier dargelegten Konzept – als „Identifikation“ bezeichnet. Während die Identität der Bundesrepublik also einmal speziell als Grenze der europäischen Integration ins Feld geführt wird (Maastricht, Lissabon), wird sich an anderer Stelle allgemeiner auf die Verfassungsidentität als Grenze der Abänderbarkeit des Grundgesetzes berufen (ebenfalls Lissa­ bon).119 Durch die in Art. 79 Abs. 3 GG verankerte „Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen.“120 „Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“121 Unter der Freigabe wird hier der Identitätswechsel des Staates bezeichnet, unter der Berechtigung die Selbstaufgabe der verfassunggebenden Gewalt und ihr Aufgehen in einer europäischen und damit die Aufgabe 109  BVerfGE

89, 155 ff. 89, 155 (186). 111  Lübbe-Wolff, Homogenes Volk, 121. 112  Vgl. exemplarisch Schmitt, Verfassungslehre, 231. 113  Vgl. exemplarisch Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, 427. 114  Vgl. exemplarisch Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 324; ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, 66. 115  Vgl. dazu auch kritisch Proelß, Nationalsozialistische Baupläne für das europäische Haus?, Rn. 8; ebenfalls kritisch Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 95. 116  BVerfGE 123, 267 ff. 117  BVerfGE 123, 267 (359). 118  BVerfGE 123, 267 (404). 119  Vgl. Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik, 6 ff. 120  BVerfGE 123, 267 (343). 121  BVerfGE 123, 267 (331). 110  BVerfGE



C. Die Identifikationstheorie101

der eigenen Identität. Auch für das Bundesverfassungsgericht ist folglich die Identität des Volkes die Grundlage für den Inhalt der Verfassung (des „unantastbare[n] Kerngehalt[es] der Verfassungsidentität“122) und auch für die Identität des Staates. So viele verschiedene Aspekte je nach Gesellschaftsmodell dieses Identitätsgefühl eines Volkes stiften können, so muss doch in jeder Gesellschaft, wenn sie Rechtsgemeinschaft in diesem Sinne sein will, ein bestimmtes Mindestmaß an Identität erreicht sein. Es muss jenes Maß erreicht sein, dass die Mitglieder der Gesellschaft die Existenz von allgemeinverbindlichem Recht akzeptieren. Es muss die Existenz eines Gemeinwillen neben den individuellen Partikularinteressen anerkannt sein, damit ein solcher Gemeinwille entstehen kann. Folglich muss die Existenz eines über den Individualinteressen stehenden gemeinsamen Interesses anerkannt werden. Nur wenn dieses Maß erreicht ist, kann man von einer Rechtsordnung sprechen, deren entscheidendes Merkmal es ist, vergemeinschaftet allgemeinverbindliches Recht setzen zu können.123 Das ist aber keine freiwillige, normative Entscheidung der Menschen. Diese Akzeptanz, diese Anerkennung eines souveränen Gemeinwillens ist unmittelbare Folge der vorhandenen Identifika­ tion, des Kohäsionsbewusstseins im Volk.

III. Identifikation als Voraussetzung elementarer Staatlichkeit Es ist damit die Identifikation einer Menschenmenge ihrer selbst als ein Volk Ursprung und Keimzelle jeder Rechtsordnung, die wiederum notwendige Voraussetzung für die Existenz eines Staates124 ist. Der Gemeinwille besteht zwingend und automatisch, sobald mittels gemeinsamer Identifika­ tion der Zusammenschluss als Rechtsgemeinschaft vonstattengeht. Diese Bewusstwerdung einer Gruppe Menschen als ein Volk ist zugleich die Entstehung des Staates im Sinne einer politischen Existenz. Sobald bei einer Menschenmenge diese Identifikation vorliegt, dieser Zusammenschluss gegeben ist, sind die „infrastrukturellen“ Voraussetzungen einer Rechtsordnung (und eines Staates) gegeben. Kirchhof nennt diesen Zusammenschluss be122  BVerfGE

123, 267 (354). Begriff „Vergemeinschaftung“ bringt die Parallele zu der Gemeinschaftsmethode in der EU zum Ausdruck, die dort den Gegensatz zur intergouvernementalen Zusammenarbeit bildet – was hier das Vertragsrecht nach dem Einstimmigkeitsprinzip darstellt. Zum Europarecht, insbesondere auch zu dessen Unterschieden zur staatlichen Rechtsordnung, siehe unten, Kapitel 8. Man könnte genauso gut von „Vergesellschaftung“ sprechen, so etwa Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 111. 124  Zum Begriff des Staates siehe näher unten, Kapitel 6. 123  Der

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Kap. 3: Der Souverän

reits „Staat“ oder „elementare Staatlichkeit“125. Diese „zum Recht fähige Gemeinschaft“, die Voraussetzung für das Hervorbringen einer Verfassung sei, sei ein „zumindest schon im Entstehen begriffene[r] Staat.“126 Dieser vor der Verfassung bestehende und im Entstehen begriffene Staat sei „die sich selbst bewußt gewordene, politisch handelnde, zum Recht fähige Gemeinschaft eines Volkes.“127 Das ist identisch mit der hier vertretenen Vorstellung, dass der Zusammenschluss zum Volk den einen Willen des Volkes, den souveränen Gemeinwillen, hervorbringt, der letztlich allgemeinverbindliches Recht – auch die Verfassung, wie unten präzisiert werden wird – setzt. Ob man diese Gewalt „Staat“ nennt oder diesen Begriff anders definiert, ist dafür letztlich nicht maßgeblich. Auch Schmitt führt bereits in diesem Stadium des Zusammenschlusses als Volk, der Selbsterkenntnis der Menschen als eine politische Einheit, den Begriff des Staates für diese politische Einheit ein.128

IV. Das Problem der tatsächlichen Identifikation Gefordert wird eine gemeinsame Identifikation aller Volksangehörigen anhand bestimmter Merkmale, anhand derer sie sich als ein Volk definieren. Als Beispiel soll Deutschland dienen, also alle Menschen, die der Bundesrepublik angehören, mit anderen Worten: alle Rechtsgenossen der deutschen staatlichen Rechtsordnung. Es müsste theoretisch bei allen Deutschen diese Identifikation mit der deutschen Gesellschaft vorhanden sein, jeder muss sich als Deutscher, als Teil dieser Gesellschaft fühlen, die ihn gleichzeitig von anderen Nationen unterscheidet. Dieses Gefühl ist zweifelsohne bei der großen Mehrheit ohne Weiteres zu finden. Man spricht insbesondere die gleiche Sprache, unterscheidet sich rein optisch von großen Teilen der Weltbevölkerung, hat kulturelle Gemeinsamkeiten, ist verbunden durch gemeinsame Traditionen und Geschichte – alles Merkmale, die mehr oder weniger vorhanden sind und die den Einzelnen mehr oder weniger mit dem Rest der Gesellschaft verbinden und ihn gleichzeitig von anderen Gesellschaften abgrenzen. Ein bestimmtes und auch ausreichendes Maß an gemeinsamer Identifikation ist bei der großen Mehrheit gewiss vorhanden. So empfindet sicherlich die ganz überwiegende Mehrheit der Deutschen die deutsche Bundeskanzlerin als ihre Bundeskanzlerin, unabhängig davon, ob sie sie gewählt haben oder nicht, und empfindet den französischen Staatspräsidenten nicht als ihr Staatsoberhaupt. Nun gibt es aber ebenso ohne Zweifel 125  Kirchhof,

Die Identität der Verfassung, Rn. 69. Die Identität der Verfassung, Rn. 25. 127  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 26. 128  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 21. 126  Kirchhof,



C. Die Identifikationstheorie103

auch Individuen innerhalb unserer Rechtsordnung, die sich unserer Gesellschaft ganz klar nicht zugehörig fühlen, die sich bewusst abwenden, die aus ihrer Sicht allenfalls rein legalistisch als Deutsche gelten, dem aber keine weitere Bedeutung zumessen und auch nichts derartiges empfinden. Auch für diese Menschen soll natürlich dennoch deutsches Recht gelten, auch sie sollen Teil der Rechtsgemeinschaft, des Volkes sein. Mit anderen Worten: Die gemeinsame Identifikation wirklich restlos aller Deutschen ist eine Fiktion, eine Idealvorstellung.129 Darüber hinweg hilft eine idealisierte Betrachtungsweise: Das Mindestmaß an Zusammengehörigkeit, damit wir eine Rechtsgemeinschaft mit allgemeinverpflichtenden Regeln sind, ist bei „so gut wie allen“, idealisiert: „allen“ Individuen vorhanden. Nun ist die tatsächlich vorliegende Diskrepanz zwischen „alle“ und „so gut wie alle“ die Schwäche der aus dieser Identifikation, aus diesem Zusammenschluss hervorgehenden Rechtsordnung, die Legitimationsschwäche dieser Rechtsordnung. In der Theorie muss angenommen werden, dass die Identifikation als ein Volk bei allen Individuen, die faktisch unter einer effektiven Rechtsordnung leben, gegeben ist. Dass in der Praxis eine solche flächendeckende Zustimmung nie ganz erreicht wird, ist die Schwäche jeder Rechtsordnung. Die Vermutung oder Fiktion, dass die Bejahung der Zugehörigkeit aller vorliegt bei tatsächlichem Vorliegen einer bloß annähernd geschlossenen oder sehr großen inneren Zustimmung, rechtfertigt sich aus der Erwägung, dass alle das Bedürfnis sehen dürften, dass überhaupt eine allgemeinverbindliche Rechtsordnung geschaffen wird. Die Einsicht, dass eine Gesellschaft nur mit solchen Regeln, die ausnahmslos für alle gelten, funktionieren kann (oder zumindest besser funktioniert), ist jedem vernunftbegabten Menschen möglich. Theoretisch kann so das missachtete Interesse der (im Idealfall nicht vorhandenen, im guten Fall vernachlässigbar geringen) Minderheit, die sich nicht mit dem Rest identifiziert, durch ein anderes, vielleicht stärkeres Interesse, ausgeglichen werden, nämlich das Interesse der Gesamtheit an einer funktionierenden allgemeinverbindlichen Rechtsordnung. Dieses kann aber allenfalls einen Ausgleich bewerkstelligen, nicht eine Beseitigung dieser Missachtung. Es ist nicht legitim, diese Minderheit der Rechtsordnung zu unterwerfen, aber im Interesse einer funktionierenden Rechtsordnung allenfalls hinzunehmen. Diese Schwäche ist bei jeder Rechtsordnung zu berücksichtigen und die Legitimation einer jeden Rechtsordnung kann und muss sich immer daran messen lassen, wie groß die Identifikation mit der ihr zugrundeliegenden Gesellschaft insgesamt ist. 129  Diese eigentlich notwendige Identifikation eines jeden Einzelnen ist das nichtnormative Äquivalent zu der Einstimmigkeit, die in der Koordinationsordnung notwendig wäre, um an einer normativen Konstruktion aller teilzuhaben.

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Kap. 3: Der Souverän

V. Identifikation als permanenter Prozess Der Zusammenschluss zum Volk, die Bewusstwerdung als solches über die gemeinsame Identifikation ist nun idealisiert als ein Vorgang dargestellt worden, der in der Realität natürlich nie so organisiert und vor allem nicht von heute auf morgen stattfinden kann. Die Identifikation und die damit einhergehende „Gründung“ eines Volkes, somit auch eines Souverän, einer Rechtsordnung und eines Staates ist kein historischer Vorgang. Es handelt sich vielmehr um einen theoretisch notwendigen Prozess, ebenso wie es sich bei den Gesellschaftsverträgen um theoretische Erklärungsmodelle handelt.130 Die praktische Kehrseite ist ein permanenter, immer andauernder Prozess, der ständig stattfindet und andauern muss, damit diese Grundlage der Rechtsordnung, namentlich das Volk, vorhanden bleibt. Es handelt sich um eine permanente Zustimmung zu diesem Volk und zur Rechtsgemeinschaft. Man kann also sagen, dass jede Rechtsordnung nur so stark, so legitim ist, wie die Gemeinschaft, der gesellschaftliche Zusammenhalt, aus der sie hervorgehen soll, aktuell ist. Je größer und flächendeckender die Identifikation der Einzelnen mit der Gesellschaft, desto größer ist ihre Bereitschaft, sich dem Recht dieser Gesellschaft zu unterwerfen, und diese Voraussetzung ist ja die Wurzel jeder Rechtsordnung. Zu jedem Zeitpunkt kann folglich in einer Art Bestandsaufnahme zumindest theoretisch geprüft werden, wie es um die Legitimität der Rechtsordnung bestellt ist. Aufgrund dieses permanenten Prozesses der Identifikation ist der Begriff des Volkes als verfassungsbegleitender Gewalt131 als Synonym zur verfassunggebenden Gewalt der eigentlich passendere Ausdruck. Der Grundsatz, eine Generation könne nicht durch ihre Gesetze künftige Generationen unterwerfen, wie er in der Französischen Verfassung von 1793 festgehalten worden ist,132 ist zutreffend. Die Legitimität einer jeden Rechtsordnung ist von der aktuellen Identifikation des ihr zugrunde liegenden Volkes abhängig.

VI. Das spezifisch Nicht-Normative am Identifikationsmodell Warum genau aber ist dieser Ansatz des Identifikationsmodells ein nichtnormativer? Was unterscheidet die Identifikation so wesentlich von einer 130  Siehe

bereits oben, B. Die Identität der Verfassung, Rn. 14; vgl. auch Voigt, Den Staat denken, 76; Krüger, Verfassungsauslegung aus dem Willen des Verfassunggebers, 685 f. 132  Art. 28 der Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793: „Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die zukünftigen Generationen unterwerfen.“ 131  Kirchhof,



C. Die Identifikationstheorie105

Zustimmung, wie sie den Vertragstheorien zugrunde liegt? Auf den ersten Blick gar nicht so viel. Die Identifikation, die an sich ja selbst durchaus etwas Normatives hat, jedenfalls eher als etwas Faktisches, führt nicht direkt beziehungsweise nicht final zur Entstehung des Volkes. Vielmehr ist dieser Schritt ein Reflex der Identifikation, und zwar anknüpfend an die Tatsache ihres Vorliegens. Das Volk als eine Person entsteht demnach zwar schon, weil diese Identifikation vorliegt. Es ist aber nicht Folge des voluntativen, normativen Elementes dieser Identifikation, sondern Folge ihres faktischen Vorliegens. Der Vorgang ist vergleichbar mit einer chemischen Reaktion. Diese ist auch nicht die Konsequenz dessen, dass jemand zwei miteinander reagierende Stoffe miteinander reagieren lassen will oder auch nur zusammenbringen will. Sie ist Folge dessen, dass er – völlig egal, aus welchem Grund und zu welchem Zweck er es tut – sie zusammen bringt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum Vertragsmodell, in dem – wie bei jedem Vertrag – die rechtliche Folge herbeigeführt wird, weil sie gewollt ist. Damit ist im Vertrag das voluntative beziehungsweise normative Element auch das entscheidende. Das ist beim Identifikationsmodell nicht der Fall, hier ist die „chemische Reaktion“, das Nicht-Normative, das Entscheidende. Dem widerspricht nicht, dass die „faktische Kraft des Normativen“ bei dieser Reaktion, bei dieser Identifikation, eine gewisse Rolle spielen kann. Selbstverständlich kann auch eine formelle Staatsgründung oder eine formelle Verfassunggebung ganz wesentlich dabei unterstützen, in der Bevölkerung ein Wir-Gefühl, eine gemeinsame Identität, hervorzurufen. Faktisches und Normatives beeinflussen sich stets gegenseitig. Der ideale zeitliche Ablauf: zuerst Identifikation, dann Rechtsordnung, ist, wie in aller Theorie, nicht streng historisch zu verstehen, sondern stellt nur eine theoretische, ideale Chronologie dar. Als zweites kommt hinzu, dass die Identifikation, wenn sie auch durchaus ein normatives Element enthält, vielschichtiger ist als eine bloße Zustimmung. Die Zustimmung ist rein normativ, das heißt, der Mensch hat es zu hundert Prozent in seiner Hand beziehungsweise zu seiner normativen Disposition, ob er zu etwas zustimmen möchte oder nicht. Die Identifikation geht tiefer. Man kann nicht nach bloßer Lust und Laune oder Opportunität oder aus welchem Motiv auch immer völlig frei entscheiden, ob man sich mit etwas identifiziert. Vielmehr muss man sich selbst fragen, ob diese Identifikation denn besteht oder ob sie eben nicht vorliegt. Das steht aber nicht (jedenfalls nicht gänzlich) zur Disposition des freien Willens, sondern ist auch eine seins-begründete Tatsache, die vorliegt oder nicht vorliegt. Und somit liegt die Souveränität auch in der Sphäre des Seins begründet. Sie ist damit wahrhaft originär. Auch entspricht diese Souveränität dann den vier von Rousseau geforderten Attributen: Sie ist unveräußerlich, da der Souverän sich ihrer ebenso wenig begeben kann, wie ein Mensch sich die-

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Kap. 3: Der Souverän

ser Eigenschaft begeben kann.133 Aus demselben Grund ist sie unvertretbar.134 Sie ist als persönliche Eigenschaft, als der subjektive Wille einer Person, auch unteilbar.135 Auch die Unfehlbarkeit des Souverän ist gesichert. Er ist eine „freitragende Konstruktion“, die sich an keinem normativen Maßstab messen lässt. Sein Wille ist mit dem Gemeinwohl identisch, beides definiert sich gegenseitig.136

VII. Zusammenfassung Es geht also mit dem Zusammenschluss zu einem Volk, zu einer Rechtsgemeinschaft, auch gleichzeitig die Erschaffung eines souveränen Willens einher, dessen Träger diese Rechtsgemeinschaft als eine ideelle Person ist – der Inhaber des Gemeinwillens, das Volk, der Souverän. Als Träger eines Willens ist das Volk Person, und ebenso wie Menschen als Träger eines freien, originären Willens souveräne Personen sind, ist das Volk ebenfalls eine souveräne Person. Wenn man den Begriff der natürlichen Person dem Menschen vorbehalten möchte, dann kann das Volk als ideelle Person bezeichnet werden. Da beide Personen, der Mensch sowie das Volk, ihren Willen frei von Vorgaben, Verfahren und jeglichen Formen bilden, sind sie souverän. Personen, die ihren Willen nicht frei, sondern derivativ bilden, kann man im Gegensatz dazu als juristische Personen bezeichnen. Mit diesem Souveränitätskonzept, dem Volk als eine ideelle Person, ist auch eine Konstante geschaffen, die über eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der konkreten Verfassung und dem personellen Substrat des Volkes aufweist. Es existiert somit ein souveräner Wille an der Spitze der Rechtsordnung, der über wirkliche originäre Rechtsetzungsgewalt verfügt, da er seine Souveränität nicht normativ ableitet. Abgesehen davon, dass Souveränität ohnehin nie normativ abgeleitet werden kann (im Gegensatz zu einzel133  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 83, vgl. auch ders., a. a. O., 96 f.: Dass ein Volk sich, wie dort thematisiert, seiner Freiheit begeben kann, widerspricht dem nicht. Es bleibt aber, auch wenn es sich einem fremden Herrscher unterwirft, immer souverän, kann sich also seine Freiheit jederzeit wieder zurücknehmen. 134  Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 158: „Die Souveränität kann aus dem gleichen Grund nicht vertreten werden, wie sie nicht veräußert werden kann. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Gemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten: Entweder ist er er selbst oder er ist es nicht. Dazwischen gibt es nichts.“ 135  Es geht hier gerade nicht um Gewaltenteilung. Die Souveränität als höchster Geltungsgrund allen Rechts und aller Gewalt im Staat ist nicht teilbar. Selbstverständlich können aber die von ihr verfassten Gewalten im Staat geteilt werden. Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 77. 136  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 90 f.



D. Der Gemeinwille107

nen Kompetenzen), entsteht dieser souveräne Willensträger originär durch rein faktische Vorgänge in der Sphäre des Seins – namentlich durch den Zusammenschluss zu einem Volk. Dieser Souverän kann seinen normativen Willen – also die Verfassung, das Objekt seines Willens – jederzeit ändern, ohne dass sich dabei die Identität des Volkes, ohne dass sich das Subjekt dieses Willens, ändert. Ebenso kann sich das personale Substrat des Volkes ändern – was es naturgemäß permanent tut, sei es durch neugeborenes Leben oder durch den Tod, sei es durch Gebietsgewinne oder -verluste einhergehend mit entsprechender „personeller“ Veränderung, sei es durch Zu- oder durch Abwanderung –, ohne dass die Identität des Volkes sich verändert, solange die Identifikation im Volk immer dieselbe bleibt.137 So ist es schließlich auch möglich und zu erklären, dass durch Änderung der normativen Ausrichtung des souveränen Willens ein und dasselbe Volk seine Verfassung ändert und dennoch seine Identität behält – wie das die Deutschen nach 1871 auch 1919 und 1949 getan haben. Mit dieser Identifikation als einheitsstiftendem, souveränem, und identitätsstiftendem Ausgangs- und Fluchtpunkt der gesamten Rechtsordnung ist ein Ersatz für die Kelsensche Grundnorm gefunden. Die Grundnorm durch dieses Modell ersetzt, ist man dann auch im Übrigen auch wieder bei Kelsen, wenn er sagt, die Konstituierung der einzelstaatlichen Rechtsordnung, die Begründung ihrer Einheit bestehe in der als „Verfassung in einem rechtlogischen Sinne“ bezeichneten Grundnorm und in dieser Grundnorm ruhe die Identität des Staates.138

D. Der Gemeinwille Als Souverän ist das Volk bestimmt worden, sein Wille ist souveräner Gemeinwille. Der Gemeinwille ist der höchste Wille in der Rechtsordnung. Zwei Fragen betreffen nun diesen Gemeinwillen: erstens die Frage, was den Gemeinwillen über die Person des Volkes als seinen Träger mit allen damit einhergehenden Eigenschaften hinaus inhaltlich kennzeichnet (1). Zweitens bleibt die ganz praktische Frage zu beantworten, wie dieser Wille in der staatlichen und politischen Realität greifbar, handhabbar, nutzbar gemacht werden kann (2). Schließlich reicht es kaum aus, einen rein theoretisch begründeten Gemeinwillen, oder gar eine bloße Fiktion, zum Souverän und damit zur verfassunggebenden Gewalt zu erklären. Wenn der Frage nach der Verfassungsänderung nachgegangen wird, dann muss der dafür relevante Wille auch greifbar sein. Auf ihm als Fundament gründet die gesamte Rechtsordnung; die Frage der Verfassungsänderung kann nicht ohne ihn beantwortet werden. 137  In

diese Richtung auch Schmitt, Verfassungslehre, 21. Allgemeine Staatslehre, 249.

138  Kelsen,

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Kap. 3: Der Souverän

I. Die Natur des Gemeinwillens Der Gemeinwille ist der persönliche Wille des Volkes. Entsprechend der Analogie zwischen Volk und Mensch kann der Wille des Volkes sich nur an dessen Interesse ausrichten. Das Interesse des Volkes ist aber das Gemeinwohl. Er steht damit bereits im Ausgangspunkt in einem Gegensatz zu jedem Individualwillen. Der Individualwille eines Menschen ist immer an dessen individuellen Interessen ausgerichtet. Selbst wenn das Individuum das Gemeinwohl anstrebt, es zu seinem eigenen Interesse macht, und sein Wille sich so mit dem Gemeinwillen deckt, so ist das doch letztlich individueller Willkür zu verdanken und dient letztlich dem Individualwohl, das solange mit dem Gemeinwohl identisch ist, wie das Individuum das will und wie es ihm dienlich erscheint. Der Gemeinwille kann sich daher nicht in irgendeinem Verfahren aus den Individualwillen konstituieren.139 Der Gemeinwille ist ein einziger Wille, der Wille einer Person, der Person des Volkes. Er ist die von der volonté de tous zu unterscheidende volonté générale. Die volonté de tous, der Wille aller als Summe aller Einzelwillen, hat sich als nicht geeignet erwiesen, den souveränen Gemeinwillen zu erklären. Weder als einstimmiger Konsens aller, noch als Wille der Mehrheit, der ohne Anordnung seitens höherer Ebene keine rechtliche Bedeutung hat, kann er einen allgemeinverbindlichen Gemeinwillen konstitutiv begründen. Er ist nicht die Rousseausche volonté générale, die aus dem besteht, was die Bürger einmütig und inhaltsgleich wollen.140 Er ist auch nicht das, was die gemeinwohlorientierte Mehrheit will, und wenn doch, so doch nur zufällig.141 Aber der Gemeinwille hat durchaus etwas mit den Einzelwillen zu tun, ebenso wie sein Träger, die Person des Volkes, etwas mit den dahinter stehenden Individuen, dem personalen Substrat, zu tun hat. Er ist mehr als die Summe aller Einzelwillen, aber er ist nicht schlicht etwas anderes, nicht ein Aliud. Er ist ein Plus. Der Gemeinwille beinhaltet auch die Einzelwillen im Volk, aber eben nicht nur diese, sondern diese in ihren spezifischen Verhältnissen zueinander und mit dem sich daraus ergebenden Gesamtbild eines Volkes. Man kann sich die volonté générale metaphorisch vorstellen wie ein digital dargestelltes Bild, das für den Betrachter ein eindeutiges Motiv darbietet. Dieses Bild aber besteht aus 8.000 mal 10.000 Bildpunkten, also aus insgesamt 80 Millionen einzelnen Bildpunkten. Jeder einzelne Bildpunkt kann einzeln und isoliert dargestellt und betrachtet werden. Die Summe aller dieser Punkte könnte auch ganz anders kombiniert werden und es ergäbe sich so ein völlig anderes Bild. Es handelte sich Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 122 f. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 103, 105. 141  Vgl. Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 130 ff. 139  Vgl. 140  Vgl.



D. Der Gemeinwille109

bei diesem anderen Bild dennoch um dieselbe Summe derselben Bildpunkte. Das Bild ist aber eben mehr als die Summe seiner Teile, es kommt vielmehr auf die spezifische Anordnung der Teile beziehungsweise Punkte an. Nur unter Berücksichtigung dieser Anordnung ergibt sich ein bestimmtes Bild. Das Bild des Volkswillens ist ungleich komplexer, aber das Verhältnis des Gemeinwillens zu allen Einzelwillen kann prinzipiell durch dieses Bild beschrieben werden. Die Relevanz des Bildes als ein einziges Ganzes, über die Bedeutung als Summe zahlreicher einzelner Punkte hinaus, ergibt sich nur daraus, dass man dem Ganzen einen Sinn gibt, das Ganze als eine Sinneinheit begreift.142 Eine bestimmte Anordnung der Bildpunkte, die im Ganzen das Bild eines konkreten Motives ergibt, unterscheidet sich von einer zufälligen anderen, als sinnlos empfundenen Anordnung derselben Punkte allein dadurch, dass man dem Ergebnis dieser bestimmten Anordnung einen Sinn gibt, in ihr einen Sinn erkennt. Ohne einen Sinn würde aus dem Ganzen keine Einheit entstehen. „Aus dem Sinn eines Ordnungsgefüges ergibt sich, was zu seiner Einheit dazugehört und was ihr fremd ist, was dem Ganzen zuzurechnen ist und was keinen Anteil an ihm nimmt.“143 Die Elemente, die den Gemeinwillen ausmachen, stehen aber nicht in zufälliger Weise zueinander. Sie ergeben Sinn, da alles Menschliche, vor allem alles Normative auf die bewusste Entscheidung souveräner, freier Individuen zurückgeht. Aus diesem Grund kann der Gemeinwille auch als eine Einheit, als der Wille des Volkes, verstanden werden, und die ideelle Person des Volkes steht als höchster Wille an der Spitze der Rechtsordnung bereit, Träger dieses Willens zu sein. Noch ein Weiteres unterscheidet das Gesamtbild, den Gemeinwillen, von der Summe der Einzelwillen. Um die Einzelwillen zu summieren, wie es zur demokratischen Willensfindung erforderlich ist, müssen alle Willen als gleichwertig anerkannt werden, um eine Mehrheit als überwiegend ansehen zu können.144 Dieses Verfahren wird in der Demokratie normiert und gilt somit. Der Gemeinwille hingegen ist das tatsächliche, seinsmäßige Gesamtkonstrukt aller vorhandenen Einzelwillen in ihrem Verhältnis zueinander, in dem diese jeweils mit ihrem tatsächlichen Gewicht wirken. Tatsächlich ist aber nicht jeder Wille gleich gewichtig.145 Zwar sind alle Menschen fähig zur Entwicklung eines gleich starken Willens. Es gibt aber Menschen, denen ist alles Politische relativ egal, wohingegen andere Geister sich stark mit politischem Denken auseinandersetzen und sehr starke Willen bilden. Diese Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 275. Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 11. 144  Dazu näher unten, Kapitel 7 A. I. 145  Zu unterschiedlich intensiv ausgeprägten Interessen vgl. auch Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 39 f. 142  Vgl.

143  Haase,

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Kap. 3: Der Souverän

faktisch stärkeren, intensiver ausgeprägten Willen fallen im Gemeinwillen entsprechend stärker ins Gewicht, sie prägen ihn stärker als kaum herausgebildete Willen. Der Wille eines sechsjährigen Kindes prägt den Gemeinwillen eines Volkes im Zweifel weniger als jener eines Bundespräsidenten.146 Unter dem Aspekt der demokratischen Willensbildung hingegen wiegt jeder Wille jedes Stimmberechtigten gleich viel. Diese demokratische Fiktion beziehungsweise Vereinfachung ist ohne Weiteres zu rechtfertigen: Ein normiertes Verfahren kann es unmöglich leisten, die Stimmen unterschiedlich zu gewichten und dabei Gerechtigkeit zu gewährleisten. Wer sollte neutral entscheiden, welche Stimme wieviel Gewicht hat? Der Kompromiss des Demokratieprinzips wiegt daher jede Stimme gleich. Für den Gemeinwillen genügt jedoch die Annahme, dass verschiedene Willen unterschiedliches Gewicht haben. Er ist etwas faktisch Existierendes, etwas Reales in der Sphäre des Seins, in das die unterschiedlichen Willen mit ­ ihrem jeweiligen tatsächlichen Gewicht unmittelbar einfließen. Der Gemeinwille stellt sich mithin dar als ein immer latent vorhandener Wille des Volkes, der sich allein am Interesse des Volkes, also am Gemeinwohl, orientiert. Die hier vertretene Vorstellung des Gemeinwillens ähnelt weniger dem Gemeinwillen Rousseaus als vielmehr einem Volksgeist im hegelianischen Sinne.

II. Der Gemeinwille in der Praxis Die Identifikation als ein Volk ermöglicht die Entstehung eines Gemeinwillens beziehungsweise bringt diesen hervor. Aber wie entsteht er? Wie bildet sich dieser Wille des gesamten Volkes? Warum folgt aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl der souveränen Individuen ein souveräner Wille? Und was ist sein Inhalt? Der Gemeinwille bildet sich so wie jeder persönliche Wille sich bildet – er ist schließlich ein solcher. Wie aber bildet sich der Wille eines Menschen? Er besteht schlicht. Warum der Mensch einen Willen hat und wie dieser entsteht, muss an dieser Stelle nicht hinterfragt werden. Ebenso wenig wird hier hinterfragt, warum die Person des Volkes einen Willen hat und wie sie ihn bildet. Die Person des Volkes ist zwar nur ideell, aber man muss, ebenso wie beim Menschen, schlicht akzeptieren, dass sie einen Willen hat.147 Beim Menschen jedoch ist dieser Wille für jeden, den er betrifft, feststellbar, denn man ist entweder selbst Träger die146  Die Autorität, die einem Willen zuerkannt wird, fällt ja als das Verhältnis der verschiedenen Willen betreffend ebenfalls ins Gewicht. 147  Vgl. auch Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 9: „Dem organischen Wesen des Volkes wird ein arteigener ‚Volksgeist‘ oder kollektives ‚Volksbewusstsein‘ nachgesagt“.



D. Der Gemeinwille111

ses Willens, oder der Träger kommuniziert diesen Willen. Der Gemeinwille aber richtet sich am Interesse des Volkes aus. Woher kann man nun aber wissen, was der Inhalt dieses Willens ist – ihm kommt ja immerhin in dieser Konzeption enormes Gewicht zu? Der konstitutive Prozess der Willensbildung einer ideellen Person ist – wie bei jeder natürlichen Person auch – nicht durchschaubar oder einsehbar. Sein Ergebnis ist aber eben auch nicht so einfach abrufbar, wie das bei einer natürlichen Person der Fall ist. Aber man kann sich ihm nähern. Wenn viele intelligente, seriöse, intellektuelle, gebildete und moralisch integre Menschen glauben, dass etwas nicht (nur) in ihrem individuellen, sondern im Interesse des ganzen Volkes ist, dann wird das wohl so sein.148 Was im Interesse des Volkes ist, wird (nicht konstitutiv) im Diskurs erarbeitet. Was der Gemeinwille ist, wird deklaratorisch im Diskurs sichtbar. Anders kann er nicht erfasst werden, visualisiert werden. Aber um ihn als einen Willen zu etablieren, der auch noch souverän sein soll und somit über allen Willen stehen soll, muss man ihn der ideellen Person des Volkes zuordnen. In der Person des Volkes entsteht er konstitutiv. Das Volk dient als der Träger dieses Willens. So sind beide Seiten des Souverän hergeleitet worden: Der persönliche Träger dieses Willens, das Volk, und sein Inhalt, der Gemeinwille. Hier wird also ein Mittelweg zwischen Rousseau und der Diskursethik beschritten: Der Gemeinwille, das Gemeinwohl, bedarf keines konstitutiven Verfahrens, es besteht im Sein des Volkes.149 Aber um ihn sichtbar zu machen, um ihn abzurufen, bedarf es des Diskurses. Der Diskurs ist aber eben kein konstitutives Erzeugungsverfahren, sondern ein deklaratorisches Erkenntnisverfahren. Bei Rousseau ergibt sich der Gemeinwille durch die aktive Mitwirkung aller Bürger. Bei seiner Willenssetzung müssen alle anwesend sein. Hier hingegen bedarf es keiner aktiven Mitwirkung der Bürger, sondern nur der alleinigen aktiven Wirkung des Volkes, die sozusagen ein Reflex des Verhaltens der Bürger ist. Der Diskurs kann diese Willenssetzung nur sichtbar machen. Diskurs bedeutet nicht ein bestimmtes Verfahren zur Willensfindung, er bedeutet nicht das Mehrheitsprinzip. Bei Rousseau wird der Gemeinwille als Wille der Mehrheit aus der „Wir-Perspektive“ festgelegt, also als der Mehrheitswille, wenn alle nach ihrer Vorstellung vom Gemeinwohl entscheiden und nicht ihr persönliches Individualinteresse der Entscheidung zugrunde liegt.150 Aber warum soll gerade eine 50 %-ige 148  Man kann vielleicht Kants Kategorischen Imperativ als Formel heranziehen, die geeignet ist, eine Handlung auf ihre Gemeinwohlverträglichkeit hin zu überprüfen. Man kann vielleicht auch die Perspektive durch John Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ verdecken, um die Individualinteressen auszublenden und den Blick auf das Gemeinwohl freizugeben. 149  Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 114. 150  Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, 130 ff.

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Mehrheit garantieren, dass sie richtig liegt? Genauso gut kann sich die Mehrheit täuschen. Es kann ja hier nur entweder darum gehen, einen Gemeinwillen, dessen Träger nicht sprechen kann, sichtbar zu machen, oder darum, ihn konstitutiv zu formulieren. Beim ersten kann sich auch die Mehrheit täuschen, beim zweiten fragt sich, warum gerade die (bloße) Mehrheit diese Kompetenz haben soll. Der Diskurs kann nicht mehr liefern, als dass im gesellschaftlichen Diskurs ein mehr oder weniger überzeugendes Bild vom Gemeinwillen gezeichnet werden kann. Näher kann man dem Gemeinwillen aber praktisch nicht kommen.

III. Bedeutung und Tragweite des Konzepts eines Gemeinwillens als Souverän Die Entscheidung für einen Gemeinwillen als einem nicht nach irgendeinem Verfahren zu konstruierenden Willen, sondern einem vorab feststehenden Willen, der allenfalls erkannt werden kann, hat weitreichende Bedeutung für grundlegende Fragen der verfassunggebenden Gewalt. Nicht das Volk in einer Abstimmung, nicht ein das Volk repräsentierendes Organ, nicht irgendetwas auf Grundlage einzelner individueller Willen kann den Gemeinwillen darstellen, verkörpern, fingieren, sich ihm annähern oder ihn vermuten. Allein dies ist ein fundamentaler Unterschied zu einer Vielzahl (wenn nicht heute sogar den meisten) von Ansichten, insbesondere den positivistischen, die den höchsten Willen in der Rechtsordnung in irgendeiner Mehrheitsentscheidung erkennen zu können glauben. Dieser Gemeinwille kann auch nicht durch irgendein Repräsentationsorgan geschaffen oder zum Vorschein gebracht werden. Er ist immer latent vorhanden und bildet sich originär, nicht derivativ, kann dementsprechend von den einzelnen Menschen nur erkannt, nie aber konstitutiv erzeugt werden. Die Erforderlichkeit eines einheitlichen und vor allem originären souveränen Willens als Gemeinwillen ist aber zwingend, wenn man einerseits die Existenz überpositiven naturgegebenen Rechts ablehnt und andererseits der Verfassung, dem höchsten Recht in der Rechtsordnung, wirklich den Rang und die Autorität einräumen will, die sie haben muss. Wer nicht akzeptieren will, dass Werte wie die Menschenwürde durch ein mehrheitliches Verfahren – sei es die einfache Mehrheit oder eine irgendwie qualifizierte, sei es im Rahmen eines Parlamentes oder eines Plebiszites – schlicht abgeschafft werden können, wer fordert, dass manchen Werten eine über jedem Verfahren stehende Legitimität zukommt, der kommt nicht darum, über jedem normierten oder normierbaren Verfahren einen originären, souveränen einheitlichen Willen anzuerkennen. Das ist der Segen und zugleich der Fluch des Konzepts. Es ist die einzige Möglichkeit, bestimmten Werten besondere



E. Zwischenergebnis113

Legitimität zuzumessen, birgt aber natürlich auch die Gefahr, dass das die „falschen“ Werte werden können. Aber letztlich ist jede Rechtsordnung eben nur so stark wie ihr Rückhalt in der Gesellschaft. Auch die freiheitlichdemokratische Grundordnung lebt bekanntlich von Bedingungen, die sie selbst normativ nicht garantieren kann.151

E. Zwischenergebnis Damit ist die primitivste Form einer Rechtsordnung im engeren Sinne begründet; eine Zentralisierung aller staatlichen Gewalt besteht bereits in der Person des Souverän. Dabei wird noch nicht differenziert zwischen verschiedenen Arten der Gewalt – egal ob Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung oder verbindliche Rechtsprechung, alle Gewalt ist in der Person des Souverän vereint. Durch den Souverän ist man nicht mehr auf das Einstimmigkeitsprinzip angewiesen und das wesentliche Identitätsmoment eines Staates liegt vor.152 Zur Beschreibung und Erklärung des Phänomens Recht ist es zunächst zufriedenstellend, dass mittels dieser Herleitung des Gemeinwillens eine schlüssige Erklärung für die Existenz allgemeinverbindlichen Rechts gefunden worden ist. Und damit ist auch die zweite Form von Recht (neben der oben beschriebenen und relativ einfach zu erklärenden Form des „primitiven Vertragsrechts“), nämlich das allgemeinverbindliche Recht in einer Rechtsordnung, legitimiert und begründet. Mit diesem Erklärungsmodell für allgemeinverbindliches Recht in einer Rechtsordnung sind auch die oben herausgearbeiteten Grundlagen allen Rechts gewahrt: Ausgangspunkt für Recht ist die Identität von Rechtserzeugern und Rechtsadressaten, hier der souveränen Menschen, die sich mittels Identifikation als souveränes Volk zusammenschließen. An der Spitze steht eine souveräne Autorität, der Souverän, das Volk. Souveränität wird dadurch „vermittelt“, dass sich dieses „Organ“ zusammensetzt aus souveränen Individuen, dass es mit diesen als unitäres Kollektiv identisch ist. Aus diesem Ansatz heraus, der Souveränität des Individuums als letztlich einzigem Grund für verbindliches Recht, gelangt man zwingend zum Grundsatz der Volkssouveränität als einzig möglicher Grundlage für jede Form von Rechts151  So das berühmte Böckenförde-Diktum, vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Hervorh. im Original). 152  Zum Begriff des Staates siehe unten, Kapitel 6: Verfassung und Staat. Diese ersten Anzeichen eines Gemeinwesens kann man, je nach Definition, als Staat bezeichnen, so auch Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 25, 69.

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Kap. 3: Der Souverän

ordnung.153 Es war nicht nach einer Norm oder einer Autorität zu suchen, die diese Souveränität beim Volk verortet. Mithin kann die Erklärung auch nicht im Naturrecht zu finden sein. Eine solche Norm kann es nicht über der höchsten Rechtsnorm überhaupt geben.154 Die Volkssouveränität als Grundlage jeder Verfassung gehört zu den unverfügbaren Vorgaben155 einer Rechtsordnung. Die Volkssouveränität als letzte Begründung der Verbindlichkeit von Recht in einer Rechtsordnung, das Volk als höchste Rechtsetzungsautorität, bildet also die Brücke von der Sphäre des Seins in die Sphäre des Sollens. „Als pouvoir constituant, der der rechtlichen Voraussetzung vorausliegt, ist die Verfassung gebende Gewalt des Volkes nicht durch die Verfassung selbst rechtlich normierbar und in ihren Äußerungsformen festlegbar“.156 Um mit Carl Schmitt zu sprechen: „Der verfassunggebende Wille des Volkes ist ein unmittelbarer Wille. Er steht vor und über jedem verfassungsgesetzlichen Verfahren. Kein Verfassungsgesetz, und auch keine Verfassung, kann eine verfassunggebende Gewalt verleihen und die Form ihrer Betätigung vorschreiben.“157 Das Prinzip der Volkssouveränität hat somit die Funktion einer Grundnorm im Kelsenschen Sinne beziehungsweise beantwortet die Frage, die bei Kelsens Modell der Grundnorm offenbleibt: Die Frage nach der letzten Legitimation einer Rechtsordnung. Zumindest aus der Sicht dieses hier vertretenen Rechtsmodells kann man damit allen anderen Rechtsbegründungsansätzen, wie der Souveränität eines Monarchen oder eine Berufung auf Gott als Souverän jede Tauglichkeit, Recht zu begründen, absprechen.158 Allein das Volk ist imstande, verfügt über die Kompetenz, das Können – die Souveränität –, sich selbst einer Rechtsord153  Anders Götz, Die Zuständigkeit für normative Entscheidungen, 1022: „Eine a priori bestehende Volkszuständigkeit in bezug auf die Verfassungsgebung kann nicht angenommen werden.“ 154  Der Einwand von Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 83, ist somit verfehlt: Die Frage der Rechtsnorm, die das Volk zur Verfassunggebung beruft, kann sich nie stellen – das wäre ein Widerspruch in sich. 155  Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 44. 156  Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 13 (Hervorh. im Original). 157  Schmitt, Verfassungslehre, 84. 158  Dieses Verständnis beruht, wie bereits gesagt, natürlich letztlich auf der Weltanschauung des Betrachters. Noch im Zusammenhang mit der Reichsverfassung von 1871 ist weitgehend ausdrücklich das Prinzip der Volkssouveränität als Legitimitätsgrundlage abgelehnt worden und sich stattdessen auf ein monarchisches Souveränitätsprinzip berufen worden, vgl. Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, 363: „[H]ier wird nicht geliebäugelt mit Republik und Volkssouveränität, um juristischen Konstruktionen eine Thür zu öffnen; das dürfen wir Bismarck wohl zutrauen. Den amerikanischen Souverän [das Volk] haben wir nicht und können ihn auch nicht haben, auch nicht halb, auch nicht gemischt oder teilweise. Der monarchische Gedanke schliesst ihn aus in seiner ganzen Schroffheit und Ungebrochenheit.“ Dessen



E. Zwischenergebnis115

nung zu unterwerfen. Die Verbindlichkeit von Recht kann nur durch das begründet werden, was man nur im Menschen erkennen kann: die Souveränität des Individuums als Ausfluss der Würde des Menschen. Und dieses Können steht, das ist das Entscheidende, nicht zur Disposition irgendeiner Normsetzungsautorität, nicht einmal der höchsten, des Souverän selbst. Nicht die Verfassung, nicht der Souverän entscheidet über das Prinzip der Volkssouveränität, sie beruhen auf ihm. Es ist dies keine normative Frage, sondern eine seins-wissenschaftliche, die der Mensch hinzunehmen hat.159 Bedingung für die Qualifikation einer Norm als Rechtsnorm ist also immer die Möglichkeit des letztlichen Legitimationsregresses auf den Willen des Souverän, der selbst wiederum in der souveränen Freiheit des Menschen wurzelt. Zugleich ermöglicht der Legitimationsregress auf den Souverän die Abgrenzung der Zugehörigkeit einer Norm zu einer bestimmten Rechtsordnung, nämlich zu eben dieser von jenem Souverän, also jenem Volk geschaffenen. Natürlich ist eine solche dieser Arbeit nun zugrundeliegende Definition von Recht nicht zeitlos oder grenzenlos brauchbar – sie ist eng verknüpft mit einem bestimmten modernen, aufgeklärten Bild vom Menschen.160 Insofern soll hier nicht allem, was historisch unter Recht verstanden wurde oder als solches galt, per se diese Klassifikation abgesprochen werden, nur weil es den hier aufgestellten Bedingungen nicht entsprach. Jene Vorstellungen mögen in ihrer Zeit zweckmäßig gewesen sein und sind heute, zumindest in diesem Rahmen, nicht bewertbar – sie müssen aber keine Geltung für die heutige Zeit beanspruchen.161 Ein ganz wichtiger Grundsatz ist damit festzuhalten: Damit irgendeine Form von Rechtsordnung (im oben definierten Sinne) entstehen kann, in der die Rechtssubjekte auch gegen ihren Willen von einer Norm rechtlich verpflichtet werden können, ist zwingend erforderlich eine höhere, die Rechtssubjekte integrierende, souveräne Autorität als Spitze dieser Rechtsordnung. Das hinter diesem Souverän stehende personale Substrat besteht, abstrakt unbeschadet ließe sich allerdings wohl auch der Staat von 1871 auf der Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität begründen. 159  So verankert auch Kelsen das Prinzip der Volkssouveränität in der Sphäre des Seins, siehe Jestaedt / Lepsius, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen, XIX. 160  Außerdem ist sie zugeschnitten auf den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. 161  Bis in das 20. Jahrhundert hinein war die Vorstellung von der Souveränität des Monarchen als Ausgangspunkt allen Rechts auch in der westlichen Welt noch verbreitet. Man kann allerdings versuchen, das aus dieser Zeit stammende Recht trotzdem anhand des Modells der Volkssouveränität zu begründen und sicherlich in einigen Fällen zu dem Ergebnis kommen, dass es auch diesen Maßstab erfüllt; vgl. bereits oben, Fn. 158.

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Kap. 3: Der Souverän

gesprochen, aus den zusammengeschlossenen Rechtssubjekten, konkret auf den Staat bezogen: den Menschen, konkret auf eine etwaige Völkerrechtsordnung bezogen: den Staaten. Mit dem Prinzip der Volkssouveränität einher geht die Notwendigkeit der Existenz eines Volkes162 als Grundlage jeder Rechtsordnung; es ist „das Volk unentbehrliches Element des Staates als Quelle der Souveränität des Staa­ tes“163, wobei Staat hier gleichbedeutend mit dem Staat als Verkörperung der Rechtsordnung verstanden werden muss.164 Wie die Souveränität des Menschen in der Koordinationsordnung das Bindeglied zwischen Sein und Sollen und damit der letzte Grund des Rechts ist, so ist in der Rechtsordnung die Souveränität des Volkes die Brücke zwischen Sein und Sollen.165 Des Weiteren bleibt das Ergebnis festzuhalten, dass hier von einem automatisch bestehenden, sich selbst formierenden und damit bereits formierten Willen des Volkes, des Souverän, ausgegangen wird. Es wird dieser souveräne Wille nicht erst formiert, sei es durch eine verfassunggebende Versammlung oder gar durch ein Parlament, auch nicht durch eine Abstimmung des gesamten Volkes. Keine wie auch immer zusammengesetzte Gruppe kann diesen Willen in konstitutiver Weise formieren, er ist naturgemäß vorformiert, und ihm kann sich allenfalls genähert werden. Er ist aber in durchaus positivistischem Sinne vorformiert, da vom Volk und damit letztlich vom Menschen geprägt und nicht als ein sich unabhängig von den Menschen des jeweiligen Volkes, der jeweiligen Rechtsgemeinschaft, formierender Wille. Der Verfassung und dem Verfassunggeber kommt somit im klassischen Bild der drei Staatsgewalten eine besondere Rolle zu. Die Verfassunggebung ist nicht nur die höchste Form der Rechtsetzung und der Souverän die höchste Stelle innerhalb der Legislative. Auf der Ebene der Verfassung, in der Person des Souverän, ist vielmehr alle Staatsgewalt noch vereint, noch nicht geteilt.166 Hier wird eine Teilung der konstituierten Gewalten erst vorgenommen, indem die (weitere staatliche) Rechtsetzung der Legislative (zum Teil aber eben auch der insoweit legislativ tätigen Exekutive) delegiert wird, die Regierung und Verwaltung der Exekutive, die Rechtsprechung der Judikative. Alle drei Staatsgewalten sind aber in der Verfassung begründet und sind Ausfluss der souveränen Macht an der Spitze der Rechtsordnung. 162  Also

sich als zusammengehörig identifizierender Rechtssubjekte. Staatsrecht II, § 25 I 2. 164  Vgl. unten, Kapitel 6 A. 165  Vgl. Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 286: „Der Geist ist Ursprung und Ziel, Tatsache und Norm zugleich.“ 166  Zur Unteilbarkeit der Souveränität siehe oben, B. IV. 163  Stern,

Kapitel 4

Verfassung und Verfassungsrecht Der Gemeinwille ist der souveräne Wille des Volkes als einer Person, der Ausfluss aller Hoheitsgewalt. Er ist die über den Rechtssubjekten – in der staatlichen Rechtsordnung den Menschen – stehende Autorität, die das allgemeinverbindliche Recht setzt. Ab dem Moment seiner Entstehung und kraft seiner bloßen Existenz als Souverän kann der Gemeinwille Rechtsnormen setzen. Er hat als ein Wille die Macht, normativ zu agieren und kraft seiner Souveränität auch die Macht beziehungsweise die Legitimation, dies mit rechtlicher Verbindlichkeit zu tun. Er, mit anderen Worten der Wille des Volkes, ist die letzte Quelle allen allgemeinverbindlichen Rechts in der Rechtsordnung (Volkssouveränität). Als Wegweiser der weiteren Untersuchung ist bereits vorausgesetzt worden, dass die Verfassung das Recht sein soll, welches, im Sinne der Hierarchie der Normen beziehungsweise der Normgeber, an oberster Stelle steht, also unmittelbar vom Souverän – der verfassunggebenden Gewalt – gesetzt wird. Konkreter ist Verfassungsrecht noch nicht spezifiziert worden. Fraglich und wegweisend im Hinblick auf die Ausgangsfrage dieser Arbeit ist nun, ob es einen weiteren Unterschied zwischen Verfassungsrecht und sonstigem Recht gibt. Zu untersuchen ist vor allem, ob der rechtsetzende Souverän unterscheiden kann zwischen Verfassunggebung und Rechtsetzung im Übrigen, ob es überhaupt eine Unterscheidung zwischen beidem gibt und wenn ja, welche. Kann der nun konstruierte Gemeinwille, als Ausgangspunkt allen allgemeinverbindlichen Rechts in der Rechtsordnung, nur eine Verfassung erschaffen, die außerdem möglicherweise auf bestimmte Rahmenbedingungen beschränkt ist und notwendigerweise die Setzung des sonstigen positiven Rechts nur regelt und dann irgendwelchen Organen delegiert, also dem Staat überlässt? Oder kann dieser Gemeinwille theoretisch alles Recht auch direkt, unmittelbar und selbst, regeln, womit dieses dann automatisch auf der Ebene der Verfassung stünde? Kann er differenzieren zwischen der Setzung von Verfassungsrecht und der Setzung sonstigen Rechts? Ist das vom Souverän unmittelbar normativ Geregelte, ist die Verfassung materiell auf bestimmte Inhalte begrenzt? Andererseits ist zu fragen, ob es formelle Kriterien gibt, die eine Unterscheidung von Verfassungsrecht und sonstigem Recht innerhalb des vom Souverän gesetzten Rechts ermöglichen. Diese Fragen sollen andeuten, in welcher Richtung in diesem Kapitel Verfassung und Verfassungsrecht charakterisiert werden.

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

Es wird nun, nachdem die Entstehung und Identität dieses Souverän, also der Bereich der Seins-Sphäre, behandelt worden ist, auf der normativen Seite die Kompetenz dieses souveränen Gemeinwillens genauer untersucht: Was kann er normieren? Wie kommt es nun zur Verfassung, und was genau ist diese? Was qualifiziert „Verfassungsrecht“? Eine irgendwie geartete Abgrenzbarkeit verfassungsrechtlicher Normen von sonstigen vom Souverän gesetzten Normen wäre wegweisend im Hinblick auf die Ausgangsfrage der Arbeit – und unerlässlich im Hinblick auf die Charakterisierung der Ver­ fassung. Nach einer Betrachtung der Ausgangslage (I.) erfolgt zunächst eine deskriptive Darstellung hergebrachter Abgrenzungskriterien von Verfassungs­ recht gegenüber sonstigem Recht sowie deren Bewertung (II.). Im Anschluss daran sollen ein eigener Verfassungsbegriff und eine eigene Definition von Verfassungsrecht entwickelt werden, die aus den dargestellten Grundsätzen zu Recht, Rechtsordnung und Souverän hergeleitet werden, am vorliegenden Untersuchungsgegenstand orientiert sind und im Folgenden zugrunde gelegt werden können (III.).

A. Keine Determiniertheit von Verfassungsrecht Der Gemeinwille ist souverän, das heißt: Er ist in seiner Willensbildung völlig frei und normativ von vornherein an keinerlei Grenzen gebunden. Er kann Recht beliebig normieren, Voraussetzung ist lediglich, dass sein Rechtsetzungswille auf die Setzung dieser bestimmten Norm gerichtet ist. Dieses Recht existiert, sobald sich der entsprechende Gemeinwille gebildet hat. Es ist an keine materiellen oder formellen (Vor-)Bedingungen gebunden, schon gar nicht muss es irgendwo aufgeschrieben sein. Letzteres ist ohnehin keine Bedingung für Recht an sich, sondern kann immer nur eine normativ in der Rechtsordnung angeordnete Bedingung sein. Aus der Rechtsetzungsquelle des Souverän ergibt sich zwingend die materielle und formelle Unbedingtheit dieses Rechts. Es ist allein vom Willen des Volkes abhängig. Es gibt keine höherstehende Norm oder Autorität, die irgendwelche Bedingungen (formeller oder materieller Art) stellen könnte. Diese Offenheit wird oftmals mit der Einschränkung formuliert, dass sich Verfassunggebung und Verfassungsrecht inhaltlich an manchen Vorbedingungen oder Gegebenheiten ausrichten müssten, damit sie zumindest durchsetzbar und wirksam seien.1 Dabei werden die im Volk vorherrschenden Werte, Überzeugungen, Traditionen etc. genannt. Diese Auffassungen unterliegen einem systematischen Irrtum: Alle diese Gegebenheiten stehen nicht neben oder vor dem Willen des Verfassunggebers, der diese berücksichtigen 1  Tosch,

Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 81.



B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien119

müsste. Vielmehr sind sie identisch mit ihm. Diese Gegebenheiten sind gerade das, was den Willen der verfassunggebenden Gewalt prägt und ausmacht. Es ist keine Einschränkung meines freien Willens als souveränes Wesen, dass mir bei meiner Willensbildung bestimmte Wertevorstellungen zugrunde liegen. Es ist vielmehr logische Voraussetzung dafür, dass etwas wie „freier Wille“ praktisch überhaupt existieren kann und nicht bloß zu einer leeren Worthülse verkommt. „Frei“ bedeutet nicht „orientierungslos“. Die verfassunggebende Gewalt ist daher tatsächlich und voll umfänglich frei – in formeller wie in materieller Hinsicht.2 Zwar nicht äußerlich gebunden, aber inhaltlich naturgemäß orientiert ist das vom Gemeinwillen gesetzte Recht – und damit im Ausgangspunkt jedes allgemeinverbindliche Recht – am Interesse des Souverän, also des Volkes, am Gemeinwohl.3 Das macht einen wesentlichen Unterschied alles allgemeinverbindlichen Rechts gegenüber jeder Form von Vertragsrecht aus – sei es im Naturzustand oder im Rahmen einer Rechtsordnung. Vertragsrecht ist naturgemäß an Individualinteressen orientiert. Diese Konkretisierungen treffen aber auf alles vom Souverän gesetzte Recht zu, sie führen zu keiner Abgrenzungsmöglichkeit. Im Folgenden sind gängige formelle und materielle Verfassungsbegriffe dahingehend zu untersuchen, ob sie Verfassungsrecht weiter konkretisieren können, ob sie einen Teil des vom Souverän gesetzten Rechts besonders als „Verfassungsrecht“ qualifizieren können.

B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien Nicht alle erdenklichen Verständnisarten der Begriffe „Verfassung“ und „Verfassungsrecht“ sollen hier vorgestellt werden. Es wäre ohnehin ein weitgehend sinnfreies, jedenfalls nicht weiterführendes Unterfangen, alle auffindbaren Definitionen der Materie nebeneinanderzustellen, denn man kann, je nachdem, aus welcher Perspektive man die Frage nach dem Charakter von Verfassung und Verfassungsrecht stellt, zu den unterschiedlichsten Ergebnissen kommen, die sich aber nicht unbedingt widersprechen. Es ist wegweisend für das Ergebnis, ob man den Begriff etwa aus der Perspektive des Geltungsgrundes oder des Zweckes der Verfassung untersucht, oder ob man den Blick auf ihren Inhalt richtet.4 Oftmals werden die verschiede2  Vgl. zur Frage der a priori bestehenden Gebundenheit der verfassunggebenden Gewalt Stern, Staatsrecht I, § 5 I 2 e). 3  Vgl. dazu oben, Kapitel 3 D. I. 4  Zu den zahlreichen Möglichkeiten der Unterscheidung siehe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 9 ff.

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

nen Ergebnisse dann als unterschiedliche Theorien der Verfassung dargestellt. Das ist nicht falsch, darf aber nicht den Eindruck vermitteln, dass diese Theorien konkurrierten oder sich gegenseitig gar ausschlössen.5 Durch die bisherigen Determinanten ist das Blickfeld aber bereits eingeengt worden. Begriffe von der Verfassung als bloßem Gesamtzustand einer Einheit, wie alles und jeder eine Verfassung hat beziehungsweise in einer Verfassung ist, scheiden somit von vornherein aus.6 Verfassung und Verfassungsrecht sind bereits festgelegt worden auf dasjenige Recht, welches unmittelbar vom Souverän gesetzt worden ist. Damit wurde ein normativer Verfassungsbegriff zugrunde gelegt. Es geht um Wertentscheidungen, um Normen. Verfassung und Verfassungsrecht findet inhaltlich, wie jedes Recht, allein auf der Seite des Sollens statt. Seine Geltung erhält es aber unmittelbar aus der Sphäre des Seins, im Gegensatz zu allem sonstigen Recht der Rechtsordnung, das sich normativ, also auf legalem Wege, legitimiert. Die Frage ist nun, ob und wie die Normen des Verfassungsrechts qualitativ von sonstigen Rechtsnormen, sei es formell, sei es materiell, unterschieden werden können.7

I. Die formelle Abgrenzung Als formelle Abgrenzungskriterien des Verfassungsrechts gegenüber sonstigem Recht kommen mehrere Aspekte in Betracht.8 Insbesondere wird abgestellt auf ein besonderes Verfassungsdokument, auf eine erhöhte Bestandskraft, sowie auf eine höhere Geltungskraft. 1. Verfassungsdokument Ein formelles Kriterium knüpft an der Form des Verfassungsdokuments beziehungsweise der Verfassungsurkunde an. Verfassung in diesem formel5  Vgl. statt vieler Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt. Man kann beispielsweise die drei Richtungen Dezisionismus (nach Carl Schmitt), Integrationslehre (nach Rudolf Smend) und Positivismus (nach Hans Kelsen) nebeneinander stellen. Dass man mitunter den Eindruck bekommt, allen drei Richtungen sei zumindest in großen Teilen Richtiges abzugewinnen, liegt meines Erachtens schlicht daran, dass diese Strömungen – richtig verstanden – nicht gegeneinander antreten, sondern bereits im Ausgang unterschiedliche Perspektiven auf die Verfassung einnehmen, sich im Ergebnis also weitgehend komplementär ergänzen. 6  So nach einem „absoluten“ Verfassungsbegriff bei Schmitt, Verfassungslehre, 4; vgl. auch Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 9. 7  Vgl. auch Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 11 ff. 8  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 12.



B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien121

len Sinne ist dann das, was in einem einheitlichen Dokument aufgeschrieben und als solche bezeichnet wird.9 In Deutschland kann das Grundgesetz als Verfassung in diesem Sinne gelten, in den USA die Verfassung von 1787 mit allen erfolgten Amendments, Frankreich hat die Verfassung der V. Republik von 1958, im Vereinigten Königreich gebe es danach keine Verfassung. Von Carl Schmitts Trennung zwischen Verfassung und Verfassungs­ gesetz10 deutlich geprägt ist heute dieser formelle Verfassungsbegriff, bezeichnet als „Verfassungsgesetz“ oder „die Verfassungsgesetze“, sehr verbreitet.11 Praktisch gesehen und im alltäglichen Sprachgebrauch ist es sicherlich angebracht und notwendig, von einem solchen Dokument als „der Verfassung“ sprechen zu dürfen. Aber in der hier eingeschlagenen Richtung eines normativen Verfassungsbegriffs kann die Tatsache der Geschriebenheit in einem „Verfassung“ genannten Dokument das vom Souverän gesetzte Recht nicht weiter qualifizieren. Diese vermeintliche „Qualifikation“ geht ja auf einen nachträglichen willkürlichen Akt zurück, der auf die Geltung des durch den souveränen Setzungsakt bereits in Kraft getretenen Rechts keinen Einfluss mehr haben kann, der vielmehr seinerseits eine irgendwie geartete besondere Qualifikation bereits voraussetzt. Im bisherigen Stadium des vom Gemeinwillen in Geltung gesetzten Rechts ist dieses formelle Kriterium nicht geeignet, einem Teil dieses Rechts eine besondere normative Qualität beizumessen. 2. Erhöhte Geltungskraft Eine dem positivistischen Lager zuzurechnende Strömung erkennt das formelle Abgrenzungsmerkmal von Verfassungsrecht in dem Merkmal der erhöhten Geltungskraft.12 Zum zuvor genannten Merkmal, der erschwerten Abänderbarkeit beziehungsweise erhöhten Bestandskraft, besteht ein enger Zusammenhang, jedoch wurden beide Auffassungen auch getrennt und sogar gegeneinander vertreten,13 teilweise aber auch kombiniert.14 Verfassungsrecht im formellen Sinne sind danach „die über der Stufe der Gesetzgebung ste9  Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 3 III 1; Kelsen, Reine Rechtslehre, 228  f.; Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 12; Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 7; kritisch schon Schmitt, Verfassungslehre, 12 ff. 10  Schmitt, Verfassungslehre, 11 ff. 11  Vgl. statt vieler Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 191. 12  Zum Zusammenhang zwischen diesem Merkmal und dem der höheren Bestandskraft siehe abschließend unten, Kapitel 11 E. II. 13  Vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, 38. 14  So etwa Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, Rn. 3: „Das charakteristische rechtliche Merkmal des Verfassungsgesetzes ist, daß es nur unter erschwerten Bedingungen geändert werden kann

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

henden Normen, die die höchste Stellung in der Rechtshierarchie eines Gemeinwesens einnehmen“.15 Das Bild der erhöhten Geltungskraft im Sinne eines Geltungsvorrangs geht wesentlich auf das dem österreichischen Positivismus entstammende Stufenmodell der Rechtsordnung zurück.16 Es hat seine Wurzeln aber auch in der US-amerikanischen Rechtsprechung17 und geht ebenso wie auch die Vorstellung der erhöhten Bestandskraft auf den soeben zitierten Satz Jellineks18 zurück. Diese erhöhte Geltungskraft beziehungsweise der damit einhergehende Vorrang ist im deutschen staatsrecht­lichen Positivismus vor 1919, der von der genannten österreichischen Strömung zu unterscheiden ist, überwiegend geleugnet worden.19 Dass dem Verfassungsrecht eine erhöhte Gesetzes- oder Geltungskraft zukommen soll, kann nur bedeuten, dass die rechtsetzende Instanz die höchste ist, daher ihrerseits gegenüber allen anderen rechtsetzenden Instanzen über derogierende Kraft verfügt. Da die Verfassung formelle Rechts­ erzeugungsregel für alles andere Recht sei, verfüge sie über derogierende Kraft.20 Das passt zu dem hier gezeichneten Bild der Hierarchie in der Rechtsordnung. Allein es ist bei jedem vom Souverän gesetzten Recht automatisch der Fall, da es alles im selben Rang auf einer, nämlich der höchsten Ebene steht. Daher kann es innerhalb dieser Ebene, auf der wir uns befinden, ebenfalls nicht weiter Verfassungsrecht von sonstigem vom Souverän gesetzten Recht abgrenzen. Verfassungsrecht, so definiert, umfasst alles vom Souverän gesetzte Recht. 3. Erhöhte Bestandskraft Eine ältere, ebenfalls dem staatsrechtlichen Positivismus zuzuordnende Auffassung, die insbesondere zur Zeit des Kaiserreichs und zur Weimarer Zeit vertreten worden ist, definiert die Verfassung allein über das Merkmal der erschwerten Abänderbarkeit beziehungsweise höheren Bestandskraft.21 (Art. 79 GG) und daß es gegenüber allen anderen Rechtssätzen Vorrang hat (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG).“ 15  Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 142. 16  Dazu siehe bereits oben, Kapitel 2 B. I.; siehe auch Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus; Kelsen, Reine Rechtslehre, 228 ff. 17  Vgl. US-Supreme Court in der Entscheidung Marbury vs. Madison, 5 U.S. 137 (1803). 18  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 534. 19  Vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, 38; vgl. auch für weitere Nachweise Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 8 (dort Fn. 33). 20  Vgl. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 315 f. 21  Heute aber meist in Kombination mit anderen Merkmalen, vgl. Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 184.



B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien123

Exemplarisch und klassisch definiert Jellinek: „Das wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft.“22 Verfassungsrecht steht oder stand nach dieser Auffassung zur vollkommenen Disposition der Legislative, unterscheidet sich von einfachem Gesetzesrecht allein durch die höhere Bestandskraft infolge erschwerter Abänderbarkeit. Eine irgendwie über diese Bestandskraft hinausgehende besondere Bedeutung gegenüber sonstigem Recht komme der Verfassung danach nicht zu: „Die in der Verfassung enthaltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kömmt ihnen nicht zu.“23 „Der Gedanke einer besonderen, von der gesetzgebenden Gewalt verschiedenen und ihr übergeordneten verfassunggebenden Gewalt ist […] dem deutschen Staatsrecht nach wie vor fremd. Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben, mit der Maßgabe, daß die Legislative gegebenenfalls verpflichtet ist, die für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen besonderen Formen zu wahren.“24 Die Legislative wird in dieser Auffassung als souverän angesehen.25 Auch heute wird erschwerte Abänderbarkeit als typisches Merkmal für „formelles Verfassungsrecht“ anerkannt.26 Das Merkmal der erschwerten Abänderbarkeit von Verfassungsrecht ist ebenfalls nicht geeignet, einen Teil des vom Souverän gesetzten Rechts als spezifisch verfassungsrechtlich zu qualifizieren.27 Es ist nichts ersichtlich, das im bisherigen Stadium für einen Teil des Rechts diese erschwerte Abänderbarkeit begründen könnte. Es ist dies ja nichts, was dem Recht an sich zum jetzigen Stadium bereits anhaften könnte, vielmehr ein Charakteristikum, welches ihm – vielleicht – nachträglich von irgendeiner dazu befähigten Autorität verliehen werden könnte. Es wäre ein offensichtlicher Zirkelschluss, wenn man auf der Suche nach dem, was Verfassungsrecht sein soll und deshalb möglicherweise erschwerten Bedingungen der Abänderbarkeit ausgesetzt sein könnte, diese erschwerte Abänderbarkeit als Abgrenzungskriterium heranzöge.28 Ein formeller Verfassungsbegriff, der sich allein auf die erschwerte Abänderbarkeit beruft, ist zwar ganz allgemein denkbar, an 22  Jellinek,

Allgemeine Staatslehre, 534. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, 38 (Hervorh. im Orignal); vgl. auch Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, 137. 24  Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 76 Anm. 1; so auch Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, 153 ff. 25  Vgl. Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, 140; vgl. dazu auch unten, Kapitel 7 A. V. 26  Vgl. differenziert Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 8. 27  Kritisch auch Stern, Staatsrecht I, § 3 II 2 c). 28  So auch Schmitt Verfassungslehre, 19 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung, 59. 23  Laband,

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

dieser Stelle aber nicht weiterführend oder auch nur greifbar. Das Merkmal der erschwerten Abänderbarkeit wird unten29 – sachgemäß im Zusammenhang mit der Änderung der Verfassung – noch genauer zu untersuchen und zu hinterfragen sein.

II. Die materielle Abgrenzung Die materielle Abgrenzung von Verfassungsrecht gegenüber sonstigem Recht setzt an bestimmten qualifizierten und somit das Recht qualifizierenden Regelungsinhalten an. Diese materiellen Verfassungsgehalte sollen durchaus über das explizit und formell als Verfassung oder Verfassungsgesetz Genannte oder Geschriebene hinausgehen, nicht einmal Schriftform überhaupt sei notwendig. Der materielle Verfassungsbegriff ist rein inhaltlich orientiert. Man kann die materiellen Kriterien wiederum in zwei Arten unterteilen, nämlich die Aufzählung bestimmter verfassungsrechtlicher Kategorien30, oder die Anforderungen an bestimmte konkrete Inhalte (zum Beispiel Gewaltenteilung).31 Beiden Arten der Unterscheidung ist ein Wesensmerkmal gleich: Verfassungsrecht ist geprägt von einer im Einzelnen unterschiedlich zu bewertenden grundsätzlichen, fundamentalen Bedeutung. Die Übergänge zwischen beiden Arten sind fließend, aber hier auch nicht von großer Bedeutung. 1. Bestimmte inhaltliche Kategorien Jellinek definierte, neben seinem bereits zitierten formellen Verfassungsbegriff, ebenso einen materiellen Verfassungsbegriff: „Die Verfassung des Staates umfaßt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt.“32 Schmitt prägte seinen „positiven Verfassungsbegriff“, der die Verfassung, im Gegensatz zu den Verfassungsgesetzen, „als Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit“ definierte.33 Darunter verstand er „grundlegende politische Entscheidungen“34, 29  Siehe 30  Eine

unten, Kapitel 11 E. II. Aufzählung solcher Kategorien findet sich bei Stern, Staatsrecht I, § 3

III 2 d). 31  So unterteilt Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 13 f. 32  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 505. 33  Schmitt, Verfassungslehre, 20 ff. 34  Schmitt, Verfassungslehre, 23.



B. Formelle und materielle Abgrenzungskriterien125

am Beispiel der Weimarer Reichsverfassung: die Entscheidung für Demokratie, Republik, Bundesstaatsprinzip, Parlamentarismus.35 Er sprach diesen Entscheidungen eben wegen deren dezisionistischen Charakters zwar die normative Qualität ab, jedoch lässt sich das Modell durchaus auf einen normativen Verfassungsbegriff übertragen.36 Selbst bei Rechtspositivisten der Wiener Schule findet sich ein solcher materieller Verfassungsbegriff.37 In neuerer Zeit beschreibt etwa Isensee38 einen materiellen Verfassungsbegriff, der sich an der Funktion von Verfassungsrecht orientiert, nämlich der Begrenzung staatlicher Macht, der Organisation staatlicher Herrschaft sowie dem Schutz individueller und gesellschaftlicher Freiheit.39 Er spricht von der Verfassung im materiellen Sinne als der „rechtliche[n] Grundordnung des Staates“, ihre „Gegenstände […] müssen sich über die des einfachen disponiblen Gesetzes durch ihre Bedeutung für die staatliche Einheit herausheben.“40 Neben der Staatsorganisation sei das auch das „Grundverhältnis von Bürger und Staat“.41 Nach Kirchhof beantwortet „Verfassungsrecht die tatsächlichen Anfragen an die Grundordnung des Staates.“42 Winterhoff fasst die materiellen Kategorien zusammen als „herrschaftsbegründende und herrschaftsbeschränkende rechtliche Grundordnung des Staates wie des Gemeinwesens“.43 Die Verfassung müsse also einerseits Ausgangspunkt aller existierenden Staatsgewalt sein – neben und vor ihr dürfe es keine rechtliche Gewalt geben – und andererseits diese Gewalt auch organisieren, beispielsweise nach dem Prinzip der Gewaltenteilung.44 Das Problem dieses materiellen Verfassungsbegriffs ist oft erkannt worden. Er beruht auf einer mehr oder weniger subjektiven Bewertung dessen, was als „fundamental“, „grundlegend“, „von besonders hoher Bedeutung“ 35  Schmitt,

Verfassungslehre, 23 f. hier auch für eben jene Grund-Entscheidungen von normativem Charakter ausgegangen wird. Die Entscheidung für die Demokratie bspw. ist eine normative Entscheidung, die eine Aussage darüber enthält, wie der Staat und die Rechtsordnung organisiert sein soll, wie Herrschaft ausgeübt werden soll; vgl. auch Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, 42; Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 49 f. m. w. N. 37  Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 231. 38  Für weitere in dieser Richtung vgl. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, Rn.  3 ff.; Scheuner, Verfassung, 172 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung, 59 ff., 61; Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 144 ff. 39  Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 185. 40  Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 187. 41  Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 187. 42  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 2. 43  Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 121. 44  Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 114 ff. 36  Zumal

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

gelten kann.45 Eine klare Grenze ist nicht erkennbar, ja sie ist nicht einmal denkbar. Gäbe es zumindest theoretisch ein klares Abgrenzungsmerkmal, anhand dessen man die grundlegende Bedeutung einer Norm ausmachen könnte, und allein das Erkennen dieser Grenze wäre unklar, so könnte man das Problem als rein praktisches für den vorliegenden theoretischen Zweck weitgehend entwerten. Aber ein hartes Kriterium, das einen qualitativen Unterschied anhand der Bedeutung einer Norm rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Man kann zwar bestimmte Themen, die mehr oder weniger klar umrissen werden können, benennen, wie zum Beispiel die Einrichtung der obersten Staatsorgane oder die Form der Regierung. Aber selbst wenn viele Verfassungen diese immer gleichen oder ähnlichen Regelungsgegenstände aufweisen – warum gerade diese Themen einen qualitativ anderen Regelungsbereich bezeichnen sollen als andere Regeln, ist nicht erkennbar. Die Unterscheidung, und das ist das Entscheidende, besteht nicht von vornherein, sondern beruht auf nachträglichem, willkürlichem Bewertungsakt. Kein qualitativer Unterschied, sondern lediglich ein quantitativer, der die Wichtigkeit einer Norm in Betracht nimmt, kann hier vorgenommen werden. Damit könnte jedes Recht Verfassungsrecht sein, wenn man ihm denn diese fundamentale inhaltliche Tragweite zuspricht. Für eine solche Bewertung kann aber in diesem Stadium noch kein Raum sein, da keine andere legitime bewertende Autorität vorhanden ist als der Souverän selbst.46 Insbesondere die Verfassung selbst könnte niemals eine den Verfassung­geber bindende Definition von Verfassungsrecht geben; hier würden offensichtlich Autor und Werk in ihrer gegenseitigen Bedeutung vertauscht.47 Es gibt demzufolge kein dem Inhalt nach materielles Verfassungsrecht. Man kann nicht sagen, dass bestimmte Rechtsmaterien a priori zum Verfassungsrecht gehören. Selbst wenn man überzeugend bestimmte Inhalte definiert, so kann ein derart festgelegter Verfassungsbegriff mangels Qualifikation keinen Mehrwert im Hinblick auf Fragen von Rechtsgeltung und Rechtsänderung bringen.

45  Vgl. Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 51, dort auch Fn. 223; Bryde, Verfassungsentwicklung, 60 f; Polzin, Irrungen und Wirrungen um den Pouvoir Constituant, 76; Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 141; ein Beispiel auch bei Schmitt selbst, Verfassungslehre, 12. 46  In diese Richtung auch Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 144 f. 47  Über eine Legaldefinition des Verfassungsbegriffs durch die Verfassung selbst, also durch den Souverän, vgl. auch Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 53 ff., allerdings kann somit, also generell legal, ja gerade keine a priori feststehende, also allgemeingültige, und damit den Souverän bindende bzw. einschränkende Definition von Verfassungsrecht gewonnen werden.



C. Eigener formeller und materieller Verfassungsbegriff127

2. Bestimmte konkrete Inhalte Ein noch weiter gehender materieller Verfassungsbegriff beschränkt sich nicht nur auf inhaltliche Kategorien des Rechts, sondern knüpft an konkrete Inhalte an, die Verfassung sein sollen. Die Kategorien des ersten materiellen Verfassungsbegriffs werden hier also mit konkreten normativen Inhalten befüllt. Dieser materielle Verfassungsbegriff steht in einer deutlich demokratischen und bürgerlich-freiheitlichen Tradition.48 Prominenterweise wurde er vertreten in Art. 16 der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n’est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée, n’a point de Constitution.“ Hier wurde die Gewaltenteilung nicht nur als typischer Inhalt von Verfassungen, sondern sogar als notwendiges Element bezeichnet. Schmitt behandelt diesen wegen eines bestimmten Inhaltes so genannten Verfassungsbegriff unter dem „Idealbegriff der Verfassung“.49 Heute wird unter diesem Verfassungsbegriff überwiegend die Staatsorganisation auf die freiheitliche demokratische Grundordnung des Staates festgelegt, die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt wird vor allem durch die Grundrechte geprägt.50 Dieser engste materielle Verfassungsbegriff erklärt sich aus konkreten historisch-politischen Entwicklungen mit ihren jeweiligen politischen Forderungen.51 Wenn für bestimmte Rechte, für eine bestimmte Politik, gekämpft worden ist, dann wurde das eigene Ziel schlicht als einzige „richtige“ Verfassung deklariert. Mit anderen Worten: Es wurde die eigene, subjektive Wertung zum konstitutiven Merkmal von Verfassungsrecht gemacht. Dass diesem Begriff an dieser Stelle keine Verfassungsrecht abgrenzende Bedeutung zukommen kann, liegt auf der Hand.

C. Eigener formeller und materieller Verfassungsbegriff Die Untersuchung der verschiedenen formellen und materiellen Verfassungsbegriffe hat ergeben, dass diese allesamt nicht dazu geeignet sind, einen bestimmten Teil des vom Souverän gesetzten Rechtes in irgendeiner Weise zu qualifizieren, ihm eine bestimmte „verfassungsrechtliche“ Qualität im Unterschied zu sonstigem Recht auf dieser Ebene beizumessen. Den spezifischen Rechtscharakter erhält eine Norm abschließend dadurch, dass sie von einer mit bestimmter Kompetenz – in diesem Falle: Souveränität – Schmitt, Verfassungslehre, 37 ff. Schmitt, Verfassungslehre, 36 ff. 50  Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 3 II 3 c); Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 185 ff. 51  Vgl. dazu bereits Schmitt, Verfassungslehre, 36. 48  Vgl. 49  Vgl.

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

ausgestatteten Autorität gesetzt worden ist. Damit ist es in qualitativer Hinsicht abschließend beschrieben. Dennoch ist es auch in dieser Situation opportun, eine Unterscheidung in formeller und in materieller Hinsicht vorzunehmen. Dazu sollen diese Begriffe aber neu zugeordnet werden. Beide Begriffe, Verfassung im formellen Sinne und Verfassung im materiellen Sinne, sollen dann im Folgenden so gebraucht werden und bei der Frage der Abänderbarkeit des Verfassungsrechts jeweils Berücksichtigung finden. Nach der Ablehnung der behandelten formellen und materiellen Verfassungsbegriffe bietet die vorzufindende Situation objektiv zwei zu unterscheidende Regelungsbereiche: einen in praktischer Hinsicht eher relevanten, nämlich das, was gemeinhin „die Verfassung“ genannt wird, das entsprechende Dokument. Der andere Bereich, der hier sehr theoretisch hergeleitet worden ist, wurde als „das vom Souverän gesetzte Recht“ definiert. Da beide Bereiche völlig unabhängig voneinander definiert werden, besteht kein Zwang zur Kongruenz. Es kann schlicht nicht von allem in einem Verfassungsdokument Geregelten ohne Weiteres beansprucht werden, dass dies der Wille des Souverän sei. Im Falle des Grundgesetzes kann zunächst nicht mehr beansprucht werden, als dass es, was nachträglich Aufgenommenes betrifft, der Wille zweier Drittel der Bundestagsabgeordneten sei. Umgekehrt ist es nicht ersichtlich, dass alles, was das doch sehr ideelle Wesen des Souverän regelt, automatisch Eingang in das Verfassungsdokument findet. Diese Inkongruenz ist sehr ähnlich auch für die Verfassung im materiellen und im formellen Sinne, nach konventioneller Definition, anerkannt.52 Beide gerade gegenübergestellten Bereiche sind aber relevant, wenn sich der Frage der Verfassungsänderung gewidmet wird. Beide werden daher berücksichtigt. Bei den folgenden begrifflichen Zuordnungen werden die Ausdrücke „Verfassung“ und „Verfassungsrecht“ synonym benutzt. Das gebietet und erlaubt der verwendete normative Verfassungsbegriff. Beides meint, hier jedenfalls, dasselbe.

I. Verfassung im materiellen Sinne Als „Verfassung oder Verfassungsrecht im materiellen Sinne“ oder „materielles Verfassungsrecht“ wird im Folgenden all dasjenige Recht bezeichnet, das vom Souverän gesetzt worden ist. Das meint nicht eine inhaltliche Bestimmung des Verfassungsrechts anhand seines Regelungsgegenstandes oder Inhaltes; dass ein solches nicht klar abgrenzbar ist, ist soeben gezeigt 52  Stern, Staatsrecht I, § 3 II 2 e); Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 14; Bryde, Verfassungsentwicklung, 59; Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 147; Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 113 f.



C. Eigener formeller und materieller Verfassungsbegriff129

worden. Verfassung im materiellen Sinne meint die Normen in einem Verfassungsdokument oder außerhalb eines solchen, die tatsächlich vom Souverän gesetzt worden sind und damit und deshalb in Geltung stehen. Eine inhaltliche Unterscheidung von Verfassungsnormen im materiellen Sinn und sonstigem Recht dieses Ranges ist nicht denkbar. Man kann nicht sagen, dass bestimmte Rechtsmaterien a priori zum Verfassungsrecht gehören. Es kann, wie gezeigt worden ist, keine Bewertung stattfinden, welche Materien wichtig genug sind, um aus dieser Wichtigkeit heraus Verfassungsrecht zu sein, außer durch den Souverän selbst. Über und vor ihm ist keine Bewertung möglich. Verfassungsrecht im materiellen Sinne ist also umfassend und abschließend dadurch definiert, dass der souveräne Wille sich dafür entscheidet. Allein die Qualifikation, dass eine Regelung dem Anspruch genügt, dem souveränen Willen zu entsprechen, bringt doch eine gewisse Wichtigkeit mit sich. Zu diesem materiellen Verfassungsrecht würde man beispielsweise die Entscheidung für das Demokratieprinzip zählen können und diese Einordnung damit legitimieren können, dass sie vom Souverän, vom ­Gemeinwillen, gewollt ist. Dass in irgendeiner Straße ein Tempolimit von 30 km / h liegt, wird man nicht zum materiellen Verfassungsrecht zählen können, aber eben nicht einfach nur, weil diese Regelung zu unwichtig ist, sondern weil nicht glaubhaft beansprucht werden kann, dass der Gemeinwille derart Unwichtiges im Blick hat. Das ist das Entscheidende. Es besteht demnach kein qualitativer Unterschied aufgrund der Wichtigkeit einer Regelung. Ein qualitativer Unterschied besteht aufgrund der Rechtsetzungsinstanz. Man kann somit sagen: Alles vom Souverän gesetzte Recht, also alles materielle Verfassungsrecht, behandelt wichtige, fundamentale Grundfragen, jedoch nicht, weil der Gemeinwille materiell auf solche Materien festgelegt wäre, sondern weil er der Gemeinwille ist und es in seiner Natur liegt, sich nicht mit Tempolimits etc. zu beschäftigen. Es ist mit anderen Worten davon auszugehen, dass die materielle Wichtigkeit bei allen vom Souverän gesetzten Normen – gewissermaßen als Nebeneffekt – vorliegt, da sie ansonsten nicht vom Souverän geregelt wären.53 Der Begriff des materiellen Verfassungsrechts enthält also kein inhaltliches Präjudiz für dieses Recht oder doch nur ein indirektes. Aus seiner Definition geht aber hervor, dass er im Stufenbau der Rechtsordnung die allerhöchste Ebene des Rechts beschreibt. Man könnte ihn daher auch synonym bezeichnen als „Verfassung im hie­ rarchischen Sinne“. Daraus folgt, dass außerhalb der geschriebenen Verfassung ein mehr oder weniger großer Bereich an materiellem Verfassungsrecht existiert, der aber die gleiche Rechtsnatur, den gleichen Geltungsgrund, den gleichen Rang wie das geschriebene materielle Verfassungsrecht genießt. Dieser nicht ge53  Vgl.

auch Stern, Staatsrecht I, § 3 III 2 c).

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

schriebene, außerhalb des Verfassungsdokumentes befindliche Teil des materiellen Verfassungsrechts soll Verfassungsgewohnheitsrecht heißen; ihm wird sich unten (D.) gewidmet.

II. Verfassung im formellen Sinne „Verfassung im formellen Sinne“ beziehungsweise „formelles Verfassungsrecht“ hingegen meint diejenigen Normen, die von den Menschen in ein „Verfassung“ genanntes Dokument aufgenommen werden, bei denen der direkte Bezug auf den Gemeinwillen aber tatsächlich nicht vorliegt.54 Verfassung im formellen Sinne ist also hier definiert als rein formelle „Restverfassung“, als nur der Teil des Verfassungsdokuments, der nicht beanspruchen kann, durch den unmittelbaren Willen des Souverän legitimiert zu sein. Die Gründe der Aufnahme in das Dokument können vielseitig sein, zum Beispiel weil man sie als der Verfassung im materiellen Sinne zugehörig vermutet oder weil man ihnen eine besonders hohe Relevanz beimisst, oder auch um von einer (noch zu untersuchenden) höheren Bestandskraft zu profitieren. Der spezifische Charakter dieses formellen Verfassungsrechts, das nicht vom Souverän in Geltung gesetzt worden ist, ist damit noch nicht bezeichnet. Aus praktischen Gründen wird aus diesem formellen Verfassungsbegriff der Teil des Verfassungsdokumentes herausgenommen, der bereits unter den materiellen Begriff fällt. So sind beide Bereiche voneinander getrennt; sie bilden später im Hinblick auf Geltungsgrund und Änderungsmöglichkeit auch die voneinander zu unterscheidenden Kategorien. Für dieses formelle Verfassungsrecht darf bereits vermutet werden, dass es derselben Rechtsordnung angehört wie das materielle Verfassungsrecht. Das setzt natürlich voraus, dass es entweder auf derselben Stufe steht (Dazu müsste es aber wohl ebenfalls vom Souverän gesetzt worden sein, was gerade nicht der Fall ist, so die Definition des formellen Verfassungsrechts), oder dass es sich aus diesem heraus legitimieren kann und muss, was später noch zu belegen sein wird.55 Verfassungsrecht im formellen Sinne gehört im Gegensatz zum materiellen Verfassungsrecht dem staatlich56 gesetzten Recht an.

54  Diese begriffliche Zuordnung ist natürlich willkürlich; man könnte auch (wie es üblicher ist) das gesamte Verfassungsdokument, also inklusive des materiellen Verfassungsrechts, als formelles Verfassungsrecht bezeichnen. Hier soll jedoch aus systematischen Gründen ein Exklusivitätsverhältnis hergestellt werden; vgl. auch unten III. 55  Vgl. unten, Kapitel 10 D. II. 56  Vgl. zum Begriff des „Staatlichen“ unten, Kapitel 6 B. I.



D. Materielles Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht131

III. Zusammenfassung Abschließend noch einmal die gewonnenen Begrifflichkeiten: Materielles Verfassungsrecht und das Verfassungsdokument verhalten sich wie zwei sich schneidende Kreise. Die Schnittmenge kann als Verfassungskern bezeichnet werden. Der restliche Teil des Verfassungsdokumentes (jenseits des Verfassungskerns) wird pauschal als formelles Verfassungsrecht bezeichnet. Das materielle Verfassungsrecht kann aber seinerseits ohne Weiteres über das im Verfassungsdokument Geschriebene hinausgehen. Der Teil des materiellen Verfassungsrechts, der keine Aufnahme in die Verfassungsurkunde findet, kann – als Pendant zur Verfassungsurkunde – als Verfassungsgewohnheitsrecht bezeichnet werden. Der Verfassungskern ist aus der Per­ spektive des Verfassungsdokumentes der Teil desselben, der vom Souverän vorgegeben ist, aus der Perspektive des materiellen Verfassungsrechts der Teil desselben, der im Verfassungsdokument geschrieben ist. Die ein Exklusivitätsverhältnis bildenden Gegensatzpaare lauten also je nach Perspektive wie folgt: aus der Perspektive des Geltungsgrundes das materielle Verfassungsrecht und das formelle Verfassungsrecht, wobei der Geltungsgrund des letzteren noch zu untersuchen ist;57 aus der Perspektive der tatsächlichen Erscheinung stehen sich die Verfassungsurkunde und das Verfassungsgewohnheitsrecht gegenüber, das eine geschrieben, das andere nicht. Formelles Verfassungsrecht ist Teil der Verfassungsurkunde, Verfassungsgewohnheitsrecht ein Teil des materiellen Verfassungsrechts. Materielles Verfassungsrecht und das Verfassungsdokument überschneiden sich und bilden den gemeinsamen Verfassungskern, Verfassungsgewohnheitsrecht und formelles Verfassungsrecht schließen sich gegenseitig aus und sparen den Verfassungskern dabei aus. Materielles Verfassungsrecht und formelles Verfassungsrecht zum einen sowie Verfassungsgewohnheitsrecht und das Verfassungsdokument andererseits stellen sich jeweils ergänzende, exklusive Paare dar, die jeweils das gesamte Verfassungsrecht abdecken. Da im Folgenden vor allem die Perspektive des Geltungsgrundes relevant ist, steht das Begriffspaar des materiellen Verfassungsrechts (hier insbesondere des Verfassungskerns) und des formellen Verfassungsrechts im Vordergrund.

D. Materielles Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht Der nicht ins Verfassungsdokument aufgenommene Teil des materiellen Verfassungsrechts ist bereits mit dem Begriff „Verfassungsgewohnheitsrecht“ bezeichnet worden. Diese terminologische Zuordnung bleibt zumindest eine 57  Bisher nur negativ: Geltungsgrund ist jedenfalls nicht der unmittelbare Wille des Souverän.

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

knappe Untersuchung schuldig, inwieweit dieses Recht tatsächlich mit dem üblicherweise als „Gewohnheitsrecht“ Bezeichneten zur Deckung gelangt und inwieweit das hier dargestellte Modell des materiellen Verfassungsrechts in seiner Herleitung mit den Grundlagen des Gewohnheitsrechts übereinstimmt. Es bedarf also nun keiner Erklärung mehr, warum das materielle Verfassungsrecht Geltung beansprucht; das ist bereits erläutert worden. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das gemeinhin als „Gewohnheitsrecht“ bezeichnete Recht dieser Begründung entsprechen kann, ob es sich damit abschließend begründen lässt oder ob es weitere Geltungsansätze gibt, die über das materielle Verfassungsrecht hinaus eine Form von Gewohnheitsrecht begründen können. Verschiedene gängige Modelle, die das Gewohnheitsrecht erklären sollen, werden daher nun knapp dargestellt und mit dem gelieferten Erklärungsmodell des materiellen Verfassungsrechts ins Verhältnis gesetzt. Gewohnheitsrecht wird weitgehend anerkannt als Teil des positiven, also vom Menschen gesetzten Rechts, das allerdings weder schriftlich noch in einem normierten Verfahren gesetzt wird.58 Es kommt zustande durch zwei konstitutive Elemente: Die einheitliche Übung (seines normativen Inhaltes) über einen längeren Zeitraum (consuetudo) sowie der dabei bestehenden Überzeugung, dass eine Rechtspflicht bestehe, sich so zu verhalten (opinio juris).59 Durch diesen rechtsetzenden Tatbestand soll allgemeinverbind­liches Recht zustande kommen. Der Hintergrund, warum diese beiden Elemente über rechtsetzende Wirkung verfügen sollen, wird jedoch unterschiedlich aufgefasst.

I. Jellinek und die normative Kraft des Faktischen Jellinek begründet die Geltung allen Rechts in der sozialen Anerkennung seiner Geltung.60 Diese Anerkennung sei zugleich wichtigste Voraussetzung der Wirksamkeit von Rechtsnormen und diese Anerkennung gründet er wiederum auf eine – nicht auf den rechtlichen Bereich begrenzte – normative Kraft des Faktischen.61 Die normative Kraft des Faktischen wiederum gründet bei Jellinek in der Natur des Menschen; der Mensch sei ein Gewohnheitstier.62 Ausdrücklich sieht er hierin die „Lösung“ des „Problem des 58  „positiv“,

von lat. „positum“, „gesetzt“. BVerfGE 34, 293 (303): „Gewohnheitsrecht entsteht durch längere tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine ist und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird“; Bryde, Verfassungsentwicklung, 448; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 337 ff. 60  Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333 ff. 61  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 337 ff. 62  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 337 ff. 59  Vgl.



D. Materielles Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht133

Gewohnheitsrechtes“: Es entspringe nicht irgendeiner Autorität, dem Volksgeiste oder einer Gesamtüberzeugung, sondern sei, wie alles Recht, ursprünglich nichts als regelmäßige Übung.63 Zweifelsfrei hat Jellinek insoweit Recht, als er eine normative Kraft des Faktischen anerkennt. Dem Menschen erscheint das ihm Gewohnte als „normal“, und schon das Attribut „normal“ legt nahe, dass es zu einer Norm, dass es eben so sein soll, wie man es gewohnt ist, nicht mehr weit ist. Das ist nicht nur im Bereich des Rechtlichen so. Dies aber als hinreichende Erklärung für die allgemeinverbindliche Geltung von Rechtsnormen hinzunehmen, greift zu kurz. Eine allgemeinverbindliche Rechtsnorm, die legitim gegen den Willen des Einzelnen mittels Zwang durchgesetzt werden dürfte, kann nicht allein in der normativen Kraft des Faktischen, die sich in consuetudo und opinio iuris äußert, begründet liegen. Die Anordnung durch eine für alle verbindliche und legitimierte Autorität ist dadurch nicht ersetzbar. Wenn nun der Gemeinwille aber wieder in den Blick genommen wird, so liegt es nahe, dass bei dessen Konstituierung diese normative Kraft des Faktischen durchaus eine große Rolle spielen mag. Daraus aber die Regel herzuleiten, Recht sei durch consuetudo und opinio iuris ausreichend legitimiert, erscheint kaum mit den bisherigen Grundsätzen vereinbar.

II. Mögliche Geltungsgründe des „Gewohnheitsrechts“ Es kommen jedoch weitere Ansätze in Betracht, wie man die Verbindlichkeit dessen oder zumindest eines Teils dessen, was gemeinhin unter Gewohnheitsrecht verstanden wird, erklären kann. Sie werden nun untersucht im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit dem hier vertretenen Geltungsgrund des materiellen Verfassungsrechts. 1. Bloßes Vertragsrecht Man kann, so eine Ansicht, das Gewohnheitsrecht als nichts anderes als konkludentes Vertragsrecht ansehen.64 Gewohnheitsrecht als spezifische Rechtsform wird damit eigentlich geleugnet, weil der Tatbestand der consuetudo und opinio iuris als spezifischer allgemeinverbindlicher rechtsetzender Tatbestand geleugnet wird. Vielmehr wird zumindest einem Teil des darunter gefassten Rechtes ein alternativer Geltungsgrund zugewiesen: Die von Rechtsüberzeugung (und damit, so diese Auffassung: vom Willen) getragene Übung stellt ein konkludentes Verhalten dar, das dem Gegenüber als poten63  Jellinek, 64  So

Allgemeine Staatslehre, 339. auch Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 94 ff., insbes. 98.

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Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

tiellem Vertragspartner als Willenserklärung gelten soll. Zwei Menschen, die in gegenseitigem Verhalten vermeintlich bereits geltendes Gewohnheitsrecht anwenden, schließen dabei konkludent einen Vertrag und schöpfen somit erst dementsprechendes Recht. Das liefert natürlich keine hinreichende Erklärung für alles, was beansprucht, Gewohnheitsrecht zu sein. Hier muss eine vertragsrechtliche Situation vorliegen, das heißt (mindestens) zwei Menschen müssen sich gegenseitig, also aufeinander bezogen und jeweils interessengeleitet, verhalten. Zwar kann auch eine allgemeinverbindliche Norm in einer Vertragssituation den Interessen beider Parteien entsprechen und sie könnten sie vertraglich vereinbaren. Entscheidend ist aber, dass jede solche Norm als Vertragsrecht nur inter partes gilt. Dieses Erklärungsmodell kann sicherlich die Geltung von so manchem vermeintlich gewohnheitsrechtlich Geltendem mittels relativ unstrittiger Instrumente des Vertragsrechts erklären, allein das Entscheidende ist ausgeklammert: die Allgemeinverbindlichkeit dieses Rechts und damit gerade die Geeignetheit dieses Erklärungsansatzes für das materielle Verfassungsrecht. Schlussendlich hätte ein so definiertes Gewohnheitsrecht mit dem hier beschriebenen Verfassungsgewohnheitsrecht nichts gemein. 2. Positive Einsetzung als rechtsetzender Tatbestand Gewohnheitsrecht könnte seine Geltung ohne Weiteres auf die beiden Merkmale consuetudo und opinio iuris stützen, wenn diese beiden Merkmale als Tatbestandsmerkmale positiver Rechtsetzung, also als positive Rechtserzeugungsregel, eingesetzt worden sind.65 Diese Vorstellung ist allerdings schon recht weit von der ursprünglichen Idee des Gewohnheitsrechts entfernt, da sie doch zu dessen Geltung ihr ursprüngliches Gegenteil, nämlich sozusagen die Positivierung dieses Rechts, fordert. Jedenfalls ist damit aber kein Verfassungsgewohnheitsrecht erklärbar, da der Tatbestand ja normativ, also auf übergeordneter Ebene, als rechtsetzend eingesetzt werden müsste. Verfassungsgewohnheitsrecht als Teil des materiellen Verfassungsrechts beansprucht aber selbst den höchsten Rang. Eine neue Kategorie von Recht, Rechtsetzung und Rechtsgeltung wird durch dieses Modell nicht begründet, das materielle Verfassungsrecht kann so nicht legitimiert werden. 3. Nicht-normative Regeln des Seins Vieles, was Geltung als Gewohnheitsrecht beansprucht, ist in Wahrheit ein nicht-normatives und damit überhaupt nicht zur Disposition stehendes Seins-Gesetz. Die Geltung dieser Sätze ist damit selbstverständlich und ihre 65  So

die Auffassung Kelsens, Reine Rechtslehre, 232 ff., insbes. 232.



D. Materielles Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht135

Einordnung als Gewohnheitsrecht falsch und überhaupt nicht notwendig, sondern einer fehlenden Trennung zwischen Sein und Sollen geschuldet. In diese Kategorie fallen insbesondere Sätze des Völkergewohnheitsrechts wie zum Beispiel die souveräne Gleichheit der Staaten oder die pacta-tertiisRegel (auch im innerstaatlichen Recht), die sich beide bereits aus der Grundlage allen Rechts, der Souveränität der Person (Mensch oder Staat), zwingend ergeben. Weitere Beispiele sind die (hier jetzt nur nicht-normativen Varianten der) Konfliktlösungsregeln66, deren gewohnheitsrechtliche Geltung ebenfalls behauptet wird.67 Aufgrund des Seins-Charakters dieser Sätze haben sie aber auch keine Berührungspunkte mit dem (rein normativen) materiellen Verfassungsrecht. Auch hier ergibt sich somit keine neue Kategorie von Recht, die als Gewohnheitsrecht bezeichnet werden könnte. 4. Rechtsetzung durch den Volksgeist – die historische Rechtsschule Einen weiteren Ansatz zur Erklärung des Gewohnheitsrechts (und des Rechts überhaupt) vertrat die historische Rechtsschule. Ins Leben gerufen wurde diese Schule durch Savignys Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814)68, die gegen Thibauts literarischen Vorstoß gerichtet war, ein einheitliches deutsches Zivilgesetzbuch zu erschaffen: „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland“ (1814)69. Nach Savignys Vorstellung schaffe nicht die Gesetzgebung Recht, das sei bloße Willkür70, sondern der Volksgeist – hier taucht der von Hegel bereits verwendete Begriff des Geistes wieder auf –, und der sei durch die Wissenschaft zu studieren.71 Daraus entwickelte sich die historische Rechtsschule. Als Recht gelte demnach, was der allgemeine Volksgeist als Recht adaptiert habe, und das führe zu den germanischen und römischen Wurzeln des Rechts.72 „In dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes lebt das positive Recht“ und es ist „der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt“.73 Recht sei Kulturgut und habe denselben Ursprung wie die Sprache oder sonstige nicht rechtliche Sitten und Gebräuche.74 66  Vgl.

oben, Kapitel 2 C. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 574. 68  Vgl. dazu Gmür / Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 168 f. 69  Vgl. dazu Gmür / Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 167 f. 70  Vgl. Lahusen, Alles Recht geht vom Volksgeist aus, 70. 71  Vgl. Gmür / Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 169. 72  Vgl. Gmür / Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 169. 73  Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, 14. 74  Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, 15 ff. 67  Vgl.

136

Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

Was für den Gang der bisherigen Darstellung zunächst fernliegend klingt und gegen von autorisierten Stellen erlassenes Gesetzesrecht gerichtet ist, trifft doch im Kern – aber nicht insgesamt – genau den hier vertretenen Standpunkt. Entscheidend ist, dass auch hier Recht durch Setzung, wenn auch nicht durch den Gesetzgeber, so doch durch eine Autorität, also positiv, zustande kommt. Entgegen der späteren Lehre Jellinks ist „die Gewohnheit das Kennzeichen des positiven Rechts, nicht dessen Entstehungsgrund.“75 Wenn das Recht letztlich vom Volksgeist ausgehen soll, dann braucht man diesen Volksgeist nur noch Gemeinwillen oder Souverän zu nennen – und es scheint die hinter dem Volksgeist stehende Vorstellung dem hier vertretenen Souveränitätskonzept in großen Teilen zu entsprechen. Auf ziemlich genau dieselbe Weise wie die historische Rechtsschule, nämlich durch den Willen des Souverän, wird die oberste Ebene des Rechts – die Verfassung im materiellen Sinne – legitimiert. Das ist auch keineswegs weit hergeholt, „denn in dem gemeinsamen, die Einzelnen durchdringenden Volksgeist findet sich die Kraft“ zur Rechtsetzung,76 und damit wurzelt das Recht bei Savigny in einer zumindest sehr ähnlichen Idee wie nach dem Identifika­ tionsmodell. Es bestehen aber auch Unterschiede. Dass diese Wurzel des Rechts kein Widerspruch zu staatlicher Gesetzgebung sein muss und es auch nicht ist, ist oben gezeigt worden. Der Volksgeist kann sicherlich nicht jede rechtliche Einzelheit normieren; das würde die „Willkür der Gesetzgebung“, die immerhin demokratisch legitimiert sein kann und in der Regel heute auch ist, zugunsten einer Willkür der Wissenschaftler ablösen. Aber die Beziehung der verfassunggebenden Gewalt auf den Gemeinwillen kommt der Idee der Setzung des Rechts durch den Volksgeist doch im Wesentlichen sehr nahe.

III. Zwischenergebnis Einen Bezug zum materiellen Verfassungsrecht und dem darin enthaltenen Verfassungsgewohnheitsrecht weisen lediglich die Ansätze von Jellinek und Savigny auf. An beiden ist, wie gesehen, viel Wahres (oder bescheidener: Kompatibles), und sie sind in ihren Kernaussagen vielleicht gar nicht so sehr entgegengesetzt, wie man zunächst meinen könnte, und wie diese beiden Lehren jeweils auch selbst (aus Sicht heutiger Vertreter, Savigny kannte Jellinek ja nicht) beanspruchen. Vielmehr legen beide das Haupt­ augenmerk nur jeweils auf eine andere Stelle der Rechtsentstehung: die historische Rechtsschule auf die Autorität der Rechtssetzung, nämlich den Volksgeist, Jellinek hingegen auf die Genese dieses Willens (ohne dessen 75  Savigny, 76  Savigny,

System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, 35. System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, 19.



E. Recht und Sprache – Parallelen zwischen zwei Kulturgütern137

Träger anzuerkennen), bei der die normative Kraft des Faktischen eine wichtige Rolle spielt. Beides hat aber viel gemeinsam mit dem hier dargelegten Souveränitätskonzept. Das gemeinsame „Problem“ beider Lehren scheint nur zu sein: Sie können nicht, wie beansprucht, alles rechtlich Geltende erklären – eine Tempo-30-Zone kann weder abschließend durch die normative Kraft des Faktischen, noch durch den Volksgeist begründet werden. Beide Lehren können nur die allerobersten normativen Wertungen der Rechtsordnung erklären, aber – das ist doch genau das, was hier beansprucht, materielles Verfassungsrecht (inklusive Verfassungsgewohnheitsrecht) zu sein. Materielles Verfassungsrecht (inklusive dem nicht geschriebenen Verfassungsgewohnheitsrecht) ist, dem Geltungsgrund nach, Gewohnheitsrecht und umgekehrt, beides ist identisch. Es kann sich allerdings nur um die grundlegenden normativen Wertungen einer Rechtsordnung handeln. Gewohnheitsrecht entsteht nicht durch gemeinsame Übung einer großen Mehrzahl der Rechtssubjekte bei gleichzeitiger Überzeugung entsprechender Rechtspflicht. Es entsteht durch Willens- und Rechtsetzungsakt des Souverän. Das entsprechende Verhalten der Mehrzahl der Rechtssubjekte ist bloß Konsequenz der gewohnheitsrechtlichen Geltung, nicht ihre konstitutive Bedingung. Diejenigen Rechtssubjekte, die dagegen verstoßen, verhalten sich rechtswidrig. Sie werden nicht gegen ihren Willen von den übrigen Rechtssubjekten zum Einhalten einer Rechtsnorm, die jene geschaffen haben, verpflichtet – eine derartige Rechtsnorm ist, wie oben gezeigt, nicht denkbar; sie wäre ein Vertrag zu Lasten Dritter, dessen rechtliche Wirksamkeit nicht zu begründen ist. Sie sind vielmehr diejenigen, die sich an eine von einer übergeordneten souveränen Autorität gesetzte Norm nicht halten, von der sie aber genauso verpflichtet werden wie jene, die sich an diese Norm halten.

E. Recht und Sprache – Parallelen zwischen zwei Kulturgütern Der Charakter von Verfassungsrecht im materiellen Sinne, dieser spezifischen „Art“ von Recht – einerseits positives, andererseits aber nicht von Menschen in einem bestimmten Verfahren gesetztes Recht –, kann abschließend noch einmal durch eine Parallele zwischen Recht und Sprache veranschaulicht werden. Das gesamte Recht, die Rechtsordnung, verhält sich dabei in gewisser Weise ähnlich einer Sprache. Recht sei ein Kulturgut, das im Volksgeist lebe, so wie die Sprache aus diesem hervorgehe. So sah es die historische Rechtsschule. Die hier vertretene Auffassung von Recht ist dem in großen Teilen entgegengesetzt, ist

138

Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

doch die positive Setzung von Recht praktisch die wichtigste Quelle der Rechtserzeugung in einer Rechtsordnung. Aber auch hier wird die letzte Legitimation der Geltung von Recht im Volkswillen begründet. Einerseits ist jedem von Natur aus (vor-)gegebenen Recht eine kategorische Absage erteilt worden. Andererseits ist aber gesagt worden, dass das Verfassungsrecht, dass die höchste Ebene von Recht überhaupt, vom Volkswillen vorgegeben besteht und nicht einzelnen staatlichen Rechtsetzungskompetenzen zur Disposition steht. Diese insoweit nicht von der Natur, aber vom Volkswillen vorgegebenen Verfassungsrechtsnormen prädestinieren die Rechtsordnung; gegen sie darf nicht, ja es kann gegen sie nicht wirksam Recht gesetzt werden. Auch Wörter haben – in ihrer Ordnung, der Sprache – bis zu einem bestimmten Grad eine Bedeutung aus sich heraus, eine allgemein gültige Definition, die schlicht gilt.77 Das Wort „schön“ kann beispielsweise nicht willkürlich für etwas verwendet werden, das man als abstoßend empfindet, jedenfalls nicht im allgemeingültigen Wortsinne, nicht im Sinne der Sprache.78 Es wäre schlicht eine falsche Verwendung des Wortes, seine feststehende Bedeutung würde verkannt. Im Recht äußert sich diese Bedeutung als „Wortlautgrenze“ im Rahmen der Auslegung von Rechtstexten. Andererseits aber hängt die Bedeutung eines Wortes auch zu einem gewissen, je nach Wort unterschiedlichen Grad (oder ab einem gewissen Grad) von einer willkürlichen Zuordnung ab. Ein Beispiel für einen Begriff, dem zwei unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden können und auch werden, ist der Begriff des „Bundesstaates“. Dieser Begriff hat, aus sich heraus oder aus eigener Kraft, eine bis zu einem gewissen Grad feststehende Bedeutung, die sich aus den Bestandteilen „Staat“ und „Bund“ schöpft. Über diese Sinnesgrenze lässt sich nicht hinweggehen. Diese feststehende Bedeutung lässt aber Raum für unterschied­ liche, den Begriff weiter konkretisierende Zuordnungen. So hat der Gebrauch des Begriffs im deutschen Staatsrecht eine Wandlung erfahren. Während Deutschland schon seit der Reichsgründung als föderaler Staat aufgebaut ist, wurden zu Reichszeiten die einzelnen Gliedstaaten als Bundesstaaten (die einzelnen Staaten des Bundes gegenüber dem Reich) bezeichnet.79 77  Vgl. dazu auch der Beitrag von Klatt, Die Bedeutung von Normen, sowie von Kiesselbach, Was sagt das Gesetz? 78  Man mag einwenden, dass durch eine ironische Verwendung des Wortes tatsächlich die gegenteilige Bedeutung zum Ausdruck kommen kann („Das ist ja eine schöne Schweinerei!“). Dem kann man aber entgegensetzen, dass es eben die Ironie ist, die die eigentliche Bedeutung des Wortes, die auch hier bestehen bleibt, in ihr Gegenteil verkehrt. 79  Dies war die Terminologie des Deutschen Bundes, die im Reich adaptiert worden ist, vgl. etwa Art. VI der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 und Art. 3



E. Recht und Sprache – Parallelen zwischen zwei Kulturgütern139

Heutzutage hingegen wird dem Gesamtstaat (dem Staat auf Grundlage eines aus den Bundesländern bestehenden Bundes) diese Bezeichnung vorbehalten.80 Der Begriff an sich gibt insoweit keinen Aufschluss, er steht beiden Zuordnungen offen. Es liegt im Ermessen dessen, der den Begriff verwenden möchte, welche genaue Bedeutung er ihm für seine Zwecke zuordnet. Eine bestimmte, dem Begriff aus sich heraus anhaftende Bedeutung kann dabei aber nicht überschritten werden; die Verwendung des Begriffs insoweit wäre dann falsch oder sinnlos. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass die Bedeutung, die einem Wort aus sich heraus anhaftet, selbst auch auf ursprünglich menschliche Zuordnung eines Begriffs zu einer Bedeutung zurückgeht, diese aber mittlerweile sprachlich und damit kulturell („im Volksgeist“) so verfestigt ist, dass sie nicht mehr zur Disposition steht. Dieses „Gelten“ einer bestimmten Bedeutung eines Wortes ist also ein Gelten im durchaus normativen, wenn auch nicht im rechtlichen Sinne.81 Sprachnormierung bewegt sich daher immer auf dem Grat zwischen der Erkenntnis, welche Bedeutung ein Wort tatsächlich, aus sich heraus hat und der konstitutiven Zuordnung einer bestimmten (darüber hinaus konkretisierenden) Bedeutung. Genauso ist es mit dem Recht beziehungsweise dem materiellen Verfassungsrecht. Es steht den Rechtsetzungsorganen nicht mehr zur Verfügung, aber es ist kein Naturrecht, da es auch auf ursprüngliche Normierung zurückgeht, nur mittlerweile vom Volkswillen aufgenommen worden ist. Hier hat dann die normative Kraft des Faktischen gewirkt. Das bedeutet, dass das materielle Verfassungsrecht sich so weit verfestigt hat in der allgemeinen Überzeugung beziehungsweise im Volksgeist, genauer: im Volkswillen, dass es nicht durch Rechtsetzung verändert werden kann. Jedenfalls kann es das nicht allein durch schlichte Rechtsetzung; allenfalls in einem langen historischen Prozess, in dem die Rechtsetzung eine notwendige Rolle spielen kann, kann es verändert werden. Ebenso ist es nicht effektiv möglich, dass der Duden verbindlich festlegt, dass „schön“ ab sofort die Bedeutung „hässlich“ hat. Das widerspräche dem „Wortsinn“, der Bedeutung des Wortes aus sich heraus, die aber auf ursprünglich willkürliche Zuordnung zurückgeht. Worte lassen aber immer noch mehr oder weniger viel Raum für Zuordnungen von Bedeutungen. So ist es auch beim Recht, wo den verfassten Organen diese zuordnende Aufgabe zuRV 1871; sie endete formell mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, die von den „deutschen Ländern“ sprach, vgl. Art. 2 WRV 1919. 80  Vgl. Art. 20 Abs. 1 GG; in diesem Sinne wird der Begriff des Bundesstaates heute verallgemeinert als Ausdruck einer bestimmten (föderativen) Staatsform, auch im Gegensatz zum Staatenbund, verwendet. 81  Siehe auch Schmiedl-Neuburg, Kultur, Sprache und Recht zwischen Relativismus und Universalismus, 281.

140

Kap. 4: Verfassung und Verfassungsrecht

kommt: im Rahmen der Verfassung im materiellen Sinne, also nach vorgegebenen normativen Grundwertungen, das Recht zu konkretisieren.

F. Zwischenergebnis Damit liegt nun die Vorstellung zugrunde, dass alles Verfassungsrecht im materiellen Sinne „gleichrangig“ ist, unabhängig von seinem Regelungsgegenstand, da es demselben Normgeber entspringt. Es gilt kraft der Souveränität des normierenden Willens. Es besteht aus dem Verfassungsgewohnheitsrecht sowie aus dem Verfassungskern. Zur Verfassung im Sinne einer Verfassungsurkunde wird eine Norm nur rein formell „erhoben“, ohne ihr dadurch höhere Geltungskraft zu verleihen oder dies auch nur zu können – die Kompetenz dafür ist nicht ersichtlich. Diese Norm hat bereits den höchsten denkbaren Rang – vorausgesetzt, sie entspricht tatsächlich dem materiellen Verfassungsrecht – dadurch, dass ihr Erzeuger wiederum an keine Norm gebunden ist, sondern inhaltlich völlig frei, also souverän, normieren kann. Der übrige, nicht vom Souverän normierte Inhalt der Verfassungsurkunde – das formelle Verfassungsrecht – bedarf einer anderen, eigenen Legitimitätsherleitung.

Kapitel 5

Verfassung und Volk Der Begriff des Volkes ist bisher ausschließlich im Sinne des Souverän, der verfassunggebenden Gewalt, verwendet worden. Aber auch das „Volk“ oder „Staatsvolk“ ist einer jener Begriffe, denen man eine Vielzahl an Bedeutungen zuordnen kann.1 Ungeachtet des vielfältigen Spektrums an Bedeutungen im rechtlichen wie im außerrechtlichen Sinne, die diesem Begriff zugeordnet werden können, werden hier zwei (rechtliche) Bedeutungen des Begriffs „Volk“ gegenübergestellt, die für den Zweck der Untersuchung von großer Relevanz sind. Vor dem Hintergrund der beiden oben gewonnenen Verfassungsbegriffe lässt sich diesen jeweils einer der beiden Volksbegriffe zuordnen. Dieser Dualismus des Volksbegriffs beruht letztlich, ebenso wie die beiden Verfassungsbegriffe, auf dem Dualismus von Sein und Sollen. Im Grundgesetz wird mehrmals Bezug auf „das Volk“ genommen, und die Differenzierung der unterschiedlichen Bedeutungen ist wichtig für eine Einordnung des Grundgesetzes in das hier eingenommene Verfassungsverständnis. Aber es lassen sich daraus auch die beiden hier relevanten Begriffe des Volkes abstrahieren. Es handelt sich bei den beiden Alternativen einerseits um das Volk als den Souverän (I) und andererseits um das Volk im Sinne der Demokratie (II), einerseits um das Volk im Sinne der Präambel des Grundgesetzes2 und des Art. 146 GG, andererseits um das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, einerseits um den pouvoir constituant, andererseits um den oder die pouvoir constitué(s) oder einen Teil derer, einerseits um eine Einheit, andererseits um eine Summe, einerseits um ein Legitimationssubjekt, andererseits um ein Staatsorgan.

A. Das Volk vor oder über der Verfassung Da Gegenstand der Arbeit bisher nur die Natur von Recht an sich und die Entstehung von Recht und der Rechtsordnung war, noch nicht hingegen die Ausgestaltung einer konkreten Rechtsordnung oder einer konkreten Verfas1  Vgl. 2  Vgl.

nur Stern, Staatsrecht II, § 25 I 2 m. w. N. Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Präambel Rn. 2.

142

Kap. 5: Verfassung und Volk

sung betrachtet worden ist, war Volk bisher überwiegend im Sinne des souveränen Volkes zu verstehen. „Das Volk“ vor oder über der Verfassung3 ist das Volk als eine ideelle Person, es bezeichnet die Personifizierung der durch gemeinsame Identifikation zur politischen Einheit gewordenen Gruppe von Menschen, die in der Lage sind, eine Rechtsgemeinschaft zu bilden. Diese Einheit, diese Person, ist souverän, sie ist der Souverän. Sie ist Träger des Gemeinwillens und damit auch die verfassunggebende Gewalt. Naturgemäß kann dieses Volk sich selbst nicht verfassen, es kann sich seiner natürlichen Fähigkeiten nicht berauben oder entledigen. Es kann sich nicht sich selbst gegenüber verbindlich seinem Willen unterwerfen. Es ist in einem immerwährenden Naturzustand, in dem es dauerhaft souverän ist.4 Deshalb kann es auch, wenn es von seiner Gewalt zur Verfassunggebung Gebrauch macht, nicht konstitutiv diese Gewalt verfassen, binden, bändigen, in irgendeiner Weise normieren. Wenn, wie in Art. 146 GG, auf sich selbst Bezug genommen wird, dann kann das nur deklaratorisch geschehen.5 Wenn es keinen Art. 146 GG gäbe, der „dem deutschen Volke“ das Recht zuerkennt, „in freier Entscheidung“ eine neue Verfassung zu beschließen, dann dürfte und könnte dieses deutsche Volk das selbstverständlich dennoch kraft seiner eigenen Existenz. Es kann sich dies auch nicht selbst verbieten. Dieses „Recht“, genauer: diese Fähigkeit besteht immer automatisch.6 Dieses Volk wird in Art. 1 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG angesprochen. Auch die Eidesformel des Bundespräsidenten in Art. 56 GG bezieht sich auf das Wohl des Volkes in diesem Sinne.7 Ebenso erscheint dieses Volk in der Präambel des Grundgesetzes: „[…] hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Dieses Volk steht vor der Verfassung, weil es, theoretisch-historisch, notwendig vorausgesetzt wird, damit eine Verfassung gesetzt werden kann. Es steht über der Verfassung, weil es kraft seines souveränen Willens diejenige Gewalt innehat, über die Verfassung zu verfügen. Diese Charakterisierung trifft zu, soweit es um die nach innen gerichtete Perspektive geht, das heißt Schmitt, Verfassungslehre, 238. Möller, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 16. 5  Anders wohl Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 146 Rn. 2: „Der wesentliche Gehalt des Art. 146 liegt darin, den Erlass einer neuen Verfassung zu ermöglichen […] Damit wird eine legale Verfassungsablösung ermöglicht.“ (Hervorh. durch Verfasser). 6  Eine konstitutive Bedeutung im Sinne einer Erlaubnis der Verfassungsbeseitigung durch die Verfassung kann es nicht geben, vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 19. 7  Das ist keineswegs selbstverständlich bzw. ohne Weiteres anerkannt, sondern entspricht ausdrücklich der Einordnung durch den Verfasser. 3  Vgl. 4  Vgl.



B. Das Volk nach oder in der Verfassung143

um die Etablierung einer innerstaatlichen Rechtsordnung auf der Grundlage von Verfassunggebung. Anders liegen die Dinge, wenn dieses Volk nach außen, im völkerrechtlichen Verkehr, auftritt. Auch hier souverän, ist es jedoch ein souveränes Rechtssubjekt unter anderen souveränen Rechtssubjekten und so in der Lage – analog zum Menschen – verbindlich Verträge zu schließen. Das Volk tritt dann auf und handelt in Form des Staates, als Völkerrechtssubjekt. Dies ist, beim Staat analog zum souveränen Menschen8, kein Widerspruch zur Souveränität, sondern vielmehr – neben der Verfassunggebung nach innen – der wichtigste und erste Anwendungsfall derselben, die erst den Grund der Rechtsfähigkeit liefert. Dieses Volk ist eine kontinuierliche Identität und Einheit, die unabhängig von ihrem momentanen jeweiligen personalen Substrat über Generationen hinweg besteht, abhängig allein von der Existenz der gemeinsamen Identifikation als ein Volk. Prägend ist für diesen Begriff des Volkes vor oder über der Verfassung, dass er gebraucht wird, um ein und dieselbe Person zu bezeichnen, nämlich den Souverän. Dieses Volk ist die oben herausgearbeitete Grundlage einer jeden Rechtsordnung. Ihm kommt eine „vorstaatliche Existenz zu, die auf anderen Vorgängen als auf rechtsnormativen Volksdefinitionen gründet.“9 Es sind jene Vorgänge, die oben10 als die Identifikationsmerkmale eines Volkes, eines „Ethnos“, genannt worden sind.

B. Das Volk nach oder in der Verfassung Wenn eine Verfassung Bezug auf den Begriff des Volkes nimmt und dabei normativ mehr zu sein beansprucht als ein deklaratorischer Hinweis wie zum Beispiel das feierliche Bekenntnis zum Prinzip der Volkssouveränität in der Präambel, dann kann dieser Begriff des Volkes nicht derselbe sein wie der gerade unter A. beschriebene. Das ist insbesondere der Fall, wenn in der Verfassung (oder an sonstiger Stelle in der Rechtsordnung) das Volk mit Kompetenzen betraut werden soll, wenn es also zur verfassten Gewalt wird. Das Volk wird dann zum Organ der Rechtsordnung, es wird zur verfassten Gewalt, deren Kompetenz erst normativ durch die Verfassung delegiert wird, also erst nach der Verfassung durch Normierung in der Verfas8  Vgl.

unten, Kapitel 6 A. III. Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 3, wobei sich der Begriff „vorstaatlich“ auf den unten, Kapitel 6 B. Der Staat im staatsrechtlichen Sinne, beschriebenen zweiten Staatsbegriff beziehen muss. 10  Siehe oben, Kapitel 3 C. II. 9  Grawert,

144

Kap. 5: Verfassung und Volk

sung.11 Alles, was dieses Volk ist, ist es „im Rahmen und auf der Grundlage einer Verfassung“12, ist es nur durch eine Verfassung, kraft der ihm darin zugeteilten Kompetenz. In dieser Weise kann Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verstanden werden. Während Satz 1, „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, näherliegenderweise als ein erneutes Bekenntnis zur Volkssouveränität verstanden werden kann13, legt Satz 2 normativ und konstitutiv fest, dass die Staatsgewalt „vom Volke […] ausgeübt“ (Hervorhebungen durch Verfasser) wird. Hier ist weniger das Volk als verfassunggebende Gewalt im Sinne der Volkssouveränität angesprochen als vielmehr das Volk als Träger der innerstaatlichen Gewalt im Sinne der Demokratie.14 Hier delegiert die verfassunggebende Gewalt, also das Volk im Sinne von A. (Das Volk vor oder über der Verfassung), die verfasste Gewalt im Staat an ein bestimmtes Subjekt, nämlich an die im Staat, in der Rechtsordnung lebenden Menschen. Hier wird die Demokratie als Regierungsform festgelegt.15 In Satz 1 bekennt sich das Grundgesetz deklaratorisch zum Seins-Prinzip der Volkssouveränität, in Satz 2 wird normativ und konstitutiv die demokratische Regierungsform festgelegt.16 Weitere Stellen, in denen das Volk als verfasste Gewalt, als Organ, angesprochen wird, sind Art. 21 Abs. 1 S. 1 („die politische Willensbildung des Volkes“), Art. 29 (Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung) und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG („Sie sind Vertreter des ganzen Volkes“). Allen diesen Bezugnahmen gemeinsam ist, dass immer der eine Begriff des Volkes gemeint ist: Das Volk als die Summe aller (aktuell) zur Rechtsordnung gehörenden Individuen, also alle natürlichen Rechtssubjekte (Menschen). Hier ist Adressat nicht eine einzelne Person, wie es beim Subjekt der verfassunggebenden Gewalt der Fall ist. Adressat ist hier eine Vielzahl von Personen. Dieser Begriff des Volkes ist das Subjekt aller Staatsgewalt in der Demokratie und wird weiter unten in diesem Zusammenhang von hoher Relevanz sein. Zur Abgrenzung von dem Volk als Souverän ist des Öfteren vom „Staatsvolk“, von Demos (im Gegensatz zu Ethnos) die Rede.17 Der Moment Schmitt, Verfassungslehre, 239 ff. Verfassungslehre, 239. 13  Vgl. Pieroth in Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 4. 14  Vgl. Pierot in Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 4; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 11, 14. 15  Im Lichte dieser Unterscheidung der beiden Volksbegriffe kann auch die Rechtsprechung des BVerfG gelesen werden, vgl. bspw. BVerfGE 83, 37, (50 f.). 16  Vgl. auch Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 30 f.: Hier wird die Unterscheidung relativ deutlich zwischen einem Legitimationsprinzip in Satz 1 und dem Volk als Staatsorgan qua Kompetenzzuweisung in Satz 2. 17  Vgl. z. B. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 5 f. 11  Vgl.

12  Schmitt,



C. Zwischenergebnis145

der Verfassung des Volkes – im Sinne eines dynamischen Vorgangs – ist somit die „Umformung des Volkes zum Staatsvolk“18. Da dieses Volk, das als Staatsorgan insbesondere in der Demokratie mit wichtigen Kompetenzen betraut wird, über diese Kompetenzen nicht aus eigener Kraft verfügt, sondern sie normativ delegiert bekommt, müssen auch entsprechende Verfahren zur Willensbildung normiert werden. Während der souveräne Volkswille sich automatisch bildet und dabei nicht an Form und Inhalt gebunden ist, ja nicht einmal gebunden werden kann, ist der Wille des Volkes im Rahmen der Verfassung unbedingt auf ein Verfahren angewiesen und im Inhalt nicht grenzenlos, sondern an den materiellen Gehalt der Verfassung (Grundrechte etc.) gebunden. So ist es dem Demokratieprinzip, welches eben dieses Volk mit der Ausübung aller staatlichen Gewalt betraut, geschuldet, dass für die Willensfindung dieses Volkes auch das Mehrheitsprinzip festgelegt wird.19 Eine wichtige Kompetenz dieses Volkes ist die als Wahlvolk, als welches es noch über dem Parlament steht. Als solches ist es aber nicht als Organ im Aufbau der Kompetenzhierarchie zu verstehen, denn in dieser Hierarchie wird das Parlament unmittelbar von der Verfassung mit Kompetenz ausgestattet. Im Sinne des Demokratieprinzips aber, im Sinne der demokratischen Legitimität, steht das Volk an oberster Stelle, direkt gefolgt von dem Parlament.20 Demokratieunabhängig lässt sich allgemein über diesen Volksbegriff sagen: „Welchen Status und welche Funktion das Volk im Gefüge eines eingerichteten Staates und im Rahmen einer gegebenen Verfassung hat, hängt von deren Positivierung ab.“21

C. Zwischenergebnis Das Grundgesetz ist demnach von zwei Volksbegriffen geprägt, die in einer Rechtsordnung voneinander zu unterscheidende Rollen einnehmen: dem ontologischen Volksbegriff der Volkssouveränität und dem normativen Volksbegriff der Demokratie. Sähe man in beidem dasselbe, ließe sich die Rechtsordnung des Grundgesetzes letztlich nicht begründen, ließen sich insbesondere die Bindung der „verfassungsändernden Gewalt“ durch die „verfassunggebende Gewalt“ nicht erklären. Man käme zu der „Aporie“ oder „Paradoxie“, dass die Verfassung dasselbe Subjekt hätte wie die Legis18  Grawert,

Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 6. unten, Kapitel 7 B. 20  Vgl. unten, Kapitel 7 A. IV. 21  Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 7. 19  Vgl.

146

Kap. 5: Verfassung und Volk

lative.22 Beide Volksbegriffe lassen ihren wesentlichen Unterschied anhand einer Analogie aus dem Privatrecht verdeutlichen: Dabei ist das Verhältnis des Volkes vor der Verfassung zu dem nach der Verfassung wie das Verhältnis einer (als ideelle Person eher natürlichen als juristischen) Person zu einer rechtsfähigen Personengesellschaft.

22  Dreier,

Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 747.

Kapitel 6

Verfassung und Staat Der dritte wichtige Begriff, der sich aus dem Komplex der Rechtsordnung ergibt und der hier in diesen Kontext eingeordnet werden soll, ist, nach dem der Verfassung und dem des Volkes, der des Staates. Man kann den Begriff des Staates nicht auf eine allgemeingültige Definition reduzieren.1 Es können jedoch aus den zahlreichen möglichen Bedeutungen und Verwendungen dieses Begriffs zwei Bedeutungen zugeordnet werden, die zu den voranstehenden Äußerungen zum Begriff des Volkes relativ parallel verlaufen und sich aus dem bisher gezeichneten Bild der Rechtsordnung ergeben beziehungsweise sich dort einfügen lassen. Entsprechend lässt sich der Begriff verwenden einerseits im Sinne des Staates vor der Verfassung (I.), andererseits nach der Verfassung (II.), einmal als verfassender, einmal als verfasster Staat, einerseits im Sinne des Ganzen, andererseits im Sinne des rechtlich Vergemeinschafteten. Wenn über das Verhältnis von Staat und Verfassung gesagt wird, „[d]ieser ist ihr Gegenstand und ihre Voraussetzung“2, dann ist zum ersten der Staat nach der Verfassung, zum zweiten der Staat vor der Verfassung gemeint.3

A. Der Staat als Völkerrechtssubjekt I. Der Staat als Verkörperung des Ganzen Der Staat als Verkörperung des Ganzen ist als Person identisch mit der Person des Volkes.4 Er ist die personale Verkörperung des Volkes (Das Volk vor oder über der Verfassung), die Form, in der das Volk nach außen in Erscheinung tritt. „Staat und Volk sind als Organisation und Verband einer Gemeinschaft von Menschen aufeinander bezogen. Sie bedingen sich wechselseitig.“5 Gegenüber dem Staat ist das Volk sein „konstruktives zum „Dilemma der Staatsbegriffe“ Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 46. Staat und Verfassung, Rn. 1. 3  Zu diesen beiden zu differenzierenden Begriffen des Staates vgl. Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 137 ff. 4  Vgl. oben, Kapitel 5 A. 5  Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 1. 1  Vgl.

2  Isensee,

148

Kap. 6: Verfassung und Staat

Pendant“6. Die sich selbst durch das oben beschriebene „Wir-Gefühl“ als ein Volk identifizierenden Menschen bilden also zugleich den Staat.7 Deshalb ist es auch kein Zufall oder Fehler, dass das bereits oben im Zusammenhang mit der Identität des Volkes bemühte Zitat auch hier wieder passt: „Staat ist die sich selbst bewußt gewordene, politisch handelnde, zum Recht fähige Gemeinschaft eines Volkes.“8 Der Staat, verstanden als Verkörperung des Ganzen, steht, insbesondere in der Wahrnehmung von außen, immer auch für die Kultur, die Geschichte etc. des Volkes. Diese Merkmale sind aber als identitätsstiftende Momente ohnehin in der Identität des Volkes enthalten, sodass sich dieser Kreis hier ohne Weiteres schließt. Der Staat ist der Zustand oder Status, den das Volk innehat. In diesem Sinne gebraucht man den Begriff „Staat“ beispielsweise, wenn gesagt wird, Deutschland sei ein Staat oder ein Gemeinwesen sei ein Staat. Gemeint sind dann nicht einzelne staatliche Organe, Behörden, sondern das gesamte, alles umfassende, vom Souverän ausgehende und zusammengehaltene Konstrukt.9 Diese Staatlichkeit besteht somit vor der unten (B.) beschriebenen.

II. Souveränität nach innen und außen Entsprechend dem Zustand des Volkes ist der Staat hier souverän. Dieser Begriff des Staates als souveräne Person hat eine nach innen und eine nach außen gerichtete Dimension, die beide in demselben Merkmal der Souveränität wurzeln.10 Nach innen gerichtet zeigt sich diese Souveränität allein in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Nach außen gerichtet ist der Staat souveränes Völkerrechtssubjekt; er tritt anderen Staaten gegenüber souverän auf, wie der Mensch anderen Menschen gegenüber souverän ist. Nach innen bedeutet Souveränität, dass der Staat völlig frei ist in der normativen Ausgestaltung seiner Rechtsordnung. Es liegt in seinem Ermessen – dem des Volkes als verfassunggebende Gewalt –, welche Rechtsordnung in seinem Innern gelten soll. Insofern ist der Staat auch bereits vor der Verfassung vorhanden: Die Verfassung verdankt ihr „Dasein dem zum Staat organisierten Volk, nicht umgekehrt. Die Staatlichkeit als solche steht nicht zur Disposition des Verfassunggebers.“11 Souveräne Staatsgewalt ist 6  Grawert,

Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, Rn. 10. Voigt, Den Staat denken, 61. 8  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 26. 9  Siehe zu diesem Begriff des Staates auch Isensee, Staat und Verfassung, Rn.  139 ff. 10  Vgl. auch Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 53. 11  Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 33, dort auch: „Er [der Verfassunggeber] entscheidet nicht darüber, ob Staat sein soll oder nicht, vielmehr geht er aus ihm 7  Vgl.



A. Der Staat als Völkerrechtssubjekt149

daher auch nicht jede in Betracht kommende Staatsgewalt, sondern nur die dem Staat in diesem Sinne unmittelbar zurechenbare, also nur die verfassunggebende Gewalt.12 Sonstige „Staatsgewalten“ sind derivative, daher nicht souveräne Gewalten und entsprechen auch nicht dem hier (A.) erörterten Staatsbegriff.13 Die Ursprünglichkeit von Hoheitsgewalt ist das entscheidende Kriterium der Staatlichkeit in diesem Sinne.14 Im Außenverhältnis bedeutet Souveränität des Staates, dass er gegenüber anderen Staaten gleichberechtigt ist, dass diese nicht ihre Hoheitsgewalt innerhalb seiner Jurisdiktion ausüben dürfen. Positiv oder aktiv ausgedrückt bedeutet Souveränität, dass der Staat frei darin ist, seine rechtlichen Beziehungen alleine nach seinen Interessen zu regeln. Negativ oder passiv ausgedrückt bedeutet Souveränität im Außenverhältnis nicht ein Recht des Staates gegenüber anderen Staaten, sondern die Begrenzung der Hoheitsgewalt anderer Staaten auf deren jeweils eigenes Hoheitsgebiet, auf den Wirkungsbereich deren Rechtsordnungen. Das, was Hoheitsgewalt ausmacht, die Souveränität, die den anderen Staaten durch ihre jeweiligen Völker vermittelt wird, gilt eben nur innerhalb des eigenen Staates und reicht nicht in die Rechtsordnungen anderer Staaten hinein. Souveränität nach außen ist folglich nur die zweite Seite der Medaille, deren erste Seite die souveräne Rechtsmacht nach innen ist.15 Die Beschränkung der Souveränität auf die jeweils eigene Rechtsordnung bedeutet zugleich die Gleichberechtigung (souveräne Gleichheit16) gegenüber anderen Staaten. Äußere Souveränität bedeutet klassischerweise Völkerrechtsunmittelbarkeit, das heißt, dass ein Staat keine andere Autorität über sich hat als die des internationalen Rechts.17 Bei genauem Hinsehen ist daher Souveränität des Staates und Souveränität im Staat dasselbe, beides sind Facetten der Volkssouveränität.18 hervor und gestaltet ihn aus.“ Ich würde weiter gehen: Der Staat ist der Verfassunggeber. 12  Abweichend wohl Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, Rn. 35 ff. 13  Siehe zu jenem Staatsbegriff sogleich, B. 14  Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 180; siehe hingegen Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 39. 15  Siehe auch Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, Rn. 24. 16  Deshalb ist die souveräne Gleichheit im Völkerrecht auch ein Seins-Gesetz und bedarf zu ihrer Geltung keiner Positivierung. 17  So im Sondervotum des Richters Anzilotti zum Gutachten des Sätndigen Internationalen Gerichtshofes im Fall der deutsch-österreichischen Zollunion, PCIJ, Series A / B41, 55, 57: „[…] que l’État n’a au-dessus de soi aucune autre autorité, si ce n’est celle du droit international“; vgl. auch Kelsen, The Principle of Sover­eign Equality of States as a Basis for International Organization, 208: „The State is sov­ ereign when it is subjected only to international law, not to the national law of any other State.“ 18  Vgl. aber Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, Rn. 4.

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Kap. 6: Verfassung und Staat

Die frühere und überholte Auffassung der „unbeschränkten Souveränität“19, die auch das ius ad bellum mit umfasste, steht hiernach gar nicht erst zur Debatte, da sich Souveränität auf ein solches Recht überhaupt nicht erstrecken kann. Jedoch wird Souveränität hier durchaus angesehen als Ursprung der Völkerrechtssubjektivität, nicht als vom Völkerrecht verliehene Rechte und Pflichten.20 Der Staat als Gesellschaftsform unterscheidet sich also von jeder anderen Gesellschaftsform dadurch, dass seine Grundlage ein Volk im oben definierten Sinne ist. Jede andere rechtliche Gesellschaftsform, sei sie auch mit irgendeiner Form von Gewaltmonopol ausgestattet, basiert auf normativer Übereinkunft, ist damit ein Sollens-Konstrukt.21 Allein der Staat ist ein Seins-Konstrukt und basiert auf Identifikation, allein er ist souverän.

III. Die Analogie zum Menschen In der Souveränität zeigt sich die Analogie zwischen der ideellen Person des Staates und der natürlichen Person des Menschen: Die Souveränität des Menschen ist auf seine Person beschränkt, was ihn zugleich davor bewahrt, den Willen anderer Menschen verbindlich aufgezwungen zu bekommen. Der Mensch ist, ebenso wie der Staat, nach innen sowie in seinem äußeren Handeln souverän. Beide, Staat und Mensch, sind geborenes Rechtssubjekt. Genau so, wie es nicht Beeinträchtigung, sondern vielmehr gerade Folge der Souveränität ist, dass der Mensch sich vertraglich verbindlich verpflichten kann – das ist zu Beginn konstatiert worden –, ist dasselbe der Fall beim Staat.22 Oder, in Anlehnung an Hegel: „Sowohl das Individuum als auch der Staat zeichnen sich dadurch aus, daß sich in ihnen der allgemeine Geist zum bestimmten Willen verdichtet und, sich seiner selbst bewußt, zu einem Ganzen gestaltet. Die Freiheit des einzelnen und die Souveränität des Staates sind insofern die gleiche Erscheinung des wirkenden Geistes.“23

19  Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, 1092. 20  So aber Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, 1095. 21  Auf die Europäische Union als ein mögliches Beispiel hierfür wird unten, Kapitel 8, eingegangen. 22  Vgl. die Rspr. des Ständigen Internationalen Gerichtshofs 1920 im Wimbledon-Fall, StIGHE 1, 103 (113); siehe auch Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, Rn. 26. 23  Haase, Grundnorm – Gemeinwille – Geist, 310.



A. Der Staat als Völkerrechtssubjekt151

IV. Die Identität des Staates Dieser Staat wird geboren, sobald sich ein Menschenkollektiv zu einem Volk zusammenschließt und damit die Grundlage für eine Rechtsordnung legt, er ist identisch mit der in diesem Moment geschaffenen politischen Einheit. Damit ist der Staat abhängig allein von der Identität des Volkes, hingegen sowohl im Bestand als auch in der Identität unabhängig von kommenden und gehenden Verfassungen, die sich dieses Volk gibt. Der Staat besteht und ist identisch, solange dieses sich identifizierende Volk als Grundlage der Rechtsordnung besteht24, unabhängig von einer konkreten Verfassung: Der Staat ist vielmehr die die konkrete Rechtsordnung verfassende Gewalt, nicht aber das von ihr Verfasste.25 Das Volk ist das Kontinuitätsmoment, der gleich bleibende Träger des verfassunggebenden Willens. In diesem Sinne genügt als Staat bereits die elementare Staatlichkeit, also die theoretisch-historische bloße Existenz eines Volkes mit einem Gemeinwillen als Souverän, das aber noch einer Verfassung bedarf.26 Die Verfassung als Verfassung der Rechtsordnung ist in diesem Sinne auch die Verfassung des Staates, wenn man ihn als personifizierte Verkörperung der gesamten Rechtsordnung begreift. Die Souveränität des Staates bedarf damit keiner weiteren Begründung, sondern ergibt sich vielmehr logisch aus der Identität von Volk und Staat sowie aus der Volkssouveränität. Staatlichkeit in diesem Sinne ist aber eben auch zwingend auf Souveränität angewiesen, das heißt: Nur der souveräne Staat, nur die ideelle Personifizierung eines Souverän, ist wirklich Staat.27

V. Entstehung und Untergang von Staaten Der Zusammenhang beziehungsweise die Identität zwischen der Identität des Volkes und der des Staates im Sinne der Verkörperung des Ganzen gibt auch Aufschluss über die Entstehung und den Untergang von Staaten. Wenn die Identität des Staates als Völkerrechtssubjekt identisch ist mit der Identifikation des Volkes, dann entsteht ein neuer Staat, wenn sich ein Volk neu oder anders identifiziert, denn dann entsteht eine neue Identität des Volkes, durch das sich die gesamte Rechtsordnung legitimiert und das auch dem Staat seine Identität stiftet. Solange die Identität dieselbe bleibt, solange das Volk sich weiterhin als dasselbe identifiziert, kann die Verfasi. E. aber zustimmend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 22 f. auch Stern, Staatsrecht I, § 5 I 3 c); vgl. auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 281. 26  Vgl. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 25, 69. 27  Voigt, Den Staat denken, 64. 24  Kritisch, 25  So

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Kap. 6: Verfassung und Staat

sung des Staates sich ändern durch eine neue Verfassunggebung durch das Volk, die Identität des Volkes und damit des Staates bleibt aber dieselbe. Ein Mensch ändert auch nicht seine Identität, wenn er seine Meinung ändert. Es existiert damit anhand der Identität des Staates ein zumindest ­theoretisch eindeutiges Abgrenzungskriterium für die Frage der Entstehung und des Untergangs von Staaten, insbesondere in den oftmals schwierigen Grenzfällen Fusion / Inkorporation und Dismembration / Sezession. Die Anwendung dieser „Formel“ führt auch zu genau den Ergebnissen, die der vorherrschenden Meinung entsprechen. Man stelle sich zwei Nachbarstaaten A und B vor, die sich in einem politischen Vorgang zu einem einzigen Staat zusammenschließen. In Betracht kommen dafür die Modelle einer Fusion, wobei ein völlig neuer Staat C entstünde, oder einer Inkorporation, beispielsweise des Staates B in A, sodass danach nur Staat A existierte. Welches dieser Modelle vorliegt, ist in den historischen Einzelfällen oft sehr umstritten.28 Der dafür entscheidende Vorgang liegt allein bei der Identität des Volkes. Wenn sich die Bürger aus A als das „Volk A“ verstehen, und die Bürger aus B sich als eigentlich auch dem Volk A zugehörig empfinden (und die Bürger aus A das ebenfalls tun), so liegt nach dem Zusammenschluss ein vergrößertes Volk A vor und damit existiert der Staat A weiterhin, während Staat B untergegangen ist. Derartige Vorgänge finden sich in der Bundesrepublik etwa beim Beitritt des Saarlandes 1956 / 195729 als zehnter Gliedstaat der Bundesrepublik oder auch bei der deutschen Wiedervereinigung 1990.30 Herrscht bei den Bürgern hingegen das Gefühl vor, dass der neue Staat die staatliche Heimat eines neuen Volkes, nämlich nicht mehr A, nicht mehr B, sondern des neuen Volkes C (oder AB) bilden soll, eines Volkes, dessen Menschen sich über neue, andere, zwischen A und B gemeinsame Merkmale als ein neues, größeres, aber eben einheitliches Volk begreifen, so ist damit im Zuge einer Fusion ein neuer Staat C entstanden. Um in der deutschen Geschichte zu bleiben, kann ein solcher Vorgang etwa in der Gründung des Norddeutschen 28  Es ist bspw. umstritten, ob die Gründung der UdSSR im Jahre 1922 eine Fusion der Russischen mit der Ukrainischen, der Weißrussischen und der Transkaukasischen Sowjetrepublik darstellt, so Schweisfurth, Ausgewählte Fragen der Staatensukzession im Kontext der Auflösung der UdSSR, 99 ff., oder ob es sich um eine Inkorporation der drei Republiken in die russische gehandelt hat, so Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 119 f. 29  Das Saarland kann, wenn auch nicht ohne Weiteres, in der vorangehenden Dekade als ein eigener Staat (französisches Protektorat) angesehen werden. 30  Die historischen Vorgänge in der Staatenpraxis taugen immer nur bedingt als Beispiele für die rein theoretischen Vorgänge, da letztere sich mit ihnen immer nur zum Teil decken, zum anderen Teil aber neben anderen stehen bzw. von anderen überlagert werden. Kein Beispiel in der Praxis gibt zu 100 % einen theoretisch eindeutigen Vorgang wieder.



A. Der Staat als Völkerrechtssubjekt153

Bundes gesehen werden.31 Wenn auch Preußen eine Hegemonialstellung von Anfang an innehatte, so empfanden die sich diesem Bündnis anschließenden Völker dabei nicht als Preußen und schlossen sich diesem preußischen Staat nicht an. Die Völker der Gliedstaaten Preußen, Sachsen, Braunschweig, Anhalt etc. schlossen sich zu einem neuen Staat zusammen, in dem sie alle in erster Linie als Deutsche, und eben nicht mehr als Preußen oder Sachsen lebten. Dem wiederum haben sich weitere Staaten im Wege der Inkorporation angeschlossen, weil sich ihre Völker ab diesem Moment in dem neuen Staat ebenfalls als Deutsche im Sinne des Bundes beziehungsweise dann des Reiches gefühlt haben. In diesem Moment des Zusammenschlusses entsteht also mittels neuer Identität ein neues Volk, damit ändert sich die Identität des Souverän beziehungsweise entsteht ein neuer Souverän an der Spitze eines neuen Staates. In umstrittenen historischen Einzelfällen mag gerade diese Feststellung, was die Menschen empfunden haben, als was sie sich fühlten, das Schwierige sein. Das jedoch ist das entscheidende Merkmal, welches hier identifiziert werden sollte. In den Fällen der Desintegration32, also der Sezessionen und Dismem­ brationen, gilt dasselbe: Im Fall der Sezession, der Abspaltung eines Landesteils von einem anderen, entsteht ein neuer Staat. Im Falle der Dismembration ist jeder danach bestehende Staat ein neuer Staat. Bei der Sezession spaltet sich eine Gruppe des Volkes aus Staat A ab, in der Regel weil sie sich gerade nicht mehr diesem Volk A zugehörig fühlt, sondern sich vielmehr anhand eigener Merkmale als ein eigenständiges Volk B identifiziert. Somit entsteht ein neues Volk, mit neuer, souveräner Rechtsordnung und in einem neuen Staat B, während sich an der Identität des Volkes A in der Regel nichts ändert. Würde Bayern sich abspalten, so würde sich der Rest von Deutschland nach wie vor unverändert als Deutsche in einem deutschen Staat, der Bundesrepublik Deutschland, an deren Identität sich völkerrechtlich nichts ändern würde, fühlen. Anders ist es, wenn ein Staat in der Weise zerfällt, dass sich innerhalb des Volkes das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Volksgruppen auf beiden beziehungsweise allen Seiten ändert, so zum Beispiel beim Zerfall der Tschechoslowakei 1992 / 1993. Keines der beiden Nachfolgevölker der Tschechen und der Slowaken sieht sich als die Tschechoslowaken an, sondern jeder Teil identifiziert sich anhand eigener, neuer Kriterien. So entstehen zwei völlig neue, souveräne Staaten im Wege der Dismembration.

31  Vgl. 32  Vgl.

Kau in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt Rn. 175. Kau in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt Rn. 176 f.

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Kap. 6: Verfassung und Staat

B. Der Staat im staatsrechtlichen Sinne Von Staat in einem anderen Sinne muss die Rede sein, wenn man den Blick innerhalb der Rechtsordnung – man könnte auch sagen: innerhalb des Staates (im oben beschriebenen Sinne) – belässt. Dann bietet sich der Begriff Staat an für alle Stellen, die von der Rechtsordnung geschaffen werden und von der Rechtsordnung mit bestimmten Aufgaben betraut werden.33

I. Staatlichkeit als das durch die Rechtsordnung Vergemeinschaftete Jede Rechtsordnung weist ein gewisses Maß an Verstaatlichung, das heißt Vergemeinschaftung, Integration, auf. Ausgangspunkt jeder Vergemeinschaftung in der Rechtsordnung ist die Person des Souverän, deren Existenz zugleich das Minimum an Vergemeinschaftung darstellt. Von hier aus gehen alle Staatsgewalten, vermittelt über und verfasst in der Verfassung, aus. Es sind dies die drei klassischen Gewalten, die die im Staat anfallenden Aufgaben wahrnehmen: Erstens die Schaffung allgemeinverbindlichen, staatlichen Rechts (Legislative), zweitens die Ausübung des Zwangs der Rechtsordnung in Form eines (ausführenden) Gewaltmonopols (Exekutive) sowie drittens die rechtsprechende Instanz zur verbindlichen Klärung der in der Praxis auftretenden rechtlichen Streitfragen (Judikative). Diese Aufgaben werden in der Rechtsordnung an dafür geschaffene Organe übertragen, die damit die Vergemeinschaftung der Rechtsordnung verkörpern. Diese Organe können, pluralistisch im Gegenteil zum oben beschriebenen einheitlichen Staatsbegriff, als Staat im hier (B.) beschriebenen Sinne bezeichnet werden.34 Der Staat ist jede in der Rechtsordnung verfasste Gewalt. Das ist alles in rechtlicher Weise Vergemeinschaftete. Der Staat ist das, was das Volk (A.) verfasst. Während der Staat im oben beschriebenen Sinne das Ausgangsprodukt ist – das Verfassende –, ist der Staat im hier beschriebenen Sinne das Endprodukt dieses Prozesses – das, was in diesem Zuge geschaffen wird. Der Staat wird nach dieser Definition also gleichgesetzt mit den eigent­ lichen Staatsorganen. In diesem Sinne ist der Staat ein Rechtssubjekt (und -objekt) in der Rechtsordnung. Der Staat ist dann eine juristische Person, die nicht identisch ist mit der ideellen Person des Staates, der die gesamte Rechtsordnung verkörpert. Er ist vielmehr ein von dieser Rechtsordnung geschaffenes und ihr unterworfenes Rechtssubjekt, ein Rechtssubjekt in der 33  Vgl. 34  Vgl.

zu diesem Staatsbegriff Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 137 ff. Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 149.



B. Der Staat im staatsrechtlichen Sinne155

nationalen Rechtsordnung, das von ihr berechtigt oder verpflichtet werden kann. Dieser Staat ist „die Herrschaftsorganisation, die den Individuen und den nichtstaatlichen Verbänden rechtlich übergeordnet und mit der spezifischen Befugnis ausgestattet ist, hoheitlich-einseitig Recht zu setzen und durchzusetzen.“35 Hier ist der Staat „die Staatsgewalt als das Gegenüber zu den Grundrechtträgern.“36 Der Staat ist hier nicht der Souverän, sondern eine vom Souverän geschaffene Gewalt, ein künstlich vom Souverän geschaffenes, nicht originäres und nicht souveränes Rechtssubjekt innerhalb der staatlichen Rechtsordnung. In diesem Sinne wird der Begriff „Staat“ gebraucht, wenn in dieser Arbeit häufig von „staatlich gesetztem Recht“37 die Rede ist. „Staatlich gesetzt“ ist dann im Gegensatz zu „vom Souverän gesetzt“ zu verstehen. Auch das Volk im oben zweitens beschriebenen Sinne, also als verfasstes Volk, nach der Verfassung, ist in diesem Sinne Staatsorgan und damit Teil des Staates. Das ist in der Demokratie eigentlich selbstverständlich, geht doch alle Staatsgewalt – und gerade das ist ja hier der Staat – vom Volke aus.

II. Staatlichkeit als Gegensatz zu Privatheit Die so definierte Staatlichkeit steht in einem rechtlichen Gemeinwesen im Gegensatz zur Privatheit. Staatlich ist alles rechtlich Vergemeinschaftete, demgegenüber ist nicht staatlich alles das, was den Menschen in ihrer Privatsphäre verbleibt beziehungsweise in der Sphäre der Zivilgesellschaft liegt.38 Staat (B.) und Gesellschaft sind also aufgehoben in dem einen alles umfassenden Staat (A.), so wie Tag und Nacht einen Tag bilden.39 Der Bezug alles Staatlichen allein auf öffentliche, politische Belange ergibt sich daraus, dass es sich per definitionem um vergemeinschaftete Interessen handelt.40 Die zumindest theoretisch klar verlaufende Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Staat und Gesellschaft, wird bei­ spielsweise durch die Grundrechte verfassungsrechtlich definiert.41 Da das 35  Isensee,

Staat und Verfassung, Rn. 145. Staat und Verfassung, Rn. 147. 37  Erstmals oben, Kapitel 1 B. I. Recht und Wert. 38  Vgl. Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 57. 39  Ähnlich Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 78, 151 f., der von Staat im engeren und Staat im weiteren Sinne spricht. 40  Vgl. auch Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 40. 41  Vgl. Grzeszick in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 [Stand: Januar 2010] Rn. 50, dort zur „Trennung zwischen Staat und Gesellschaft“: „Während die Bürger aus grundrechtlicher Freiheit heraus agieren, bedarf staatliches Handeln der demokratischen Legitimation.“; vgl. auch Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 148 ff. 36  Isensee,

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Kap. 6: Verfassung und Staat

Volk (B.) in der Demokratie auch Staatsorgan und damit dem Staat zuzurechnen ist, muss man auch zwischen Volk und Gesellschaft differenzieren.42 Die Gesellschaft steht dem Staat in öffentlich-rechtlichem Verhältnis gegenüber, das Volk (B.) ist Teil des Staates. Wenn auch durch dasselbe personale Substrat gebildet, so besteht doch ein funktionaler Unterschied, nämlich eben jener zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Wo diese Trennlinie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Staat und Gesellschaft, gezogen wird, ist eine normative Entscheidung des Verfassunggebers. Man kann sagen: Je liberaler eine Rechtsordnung ausgeprägt ist, desto weniger Raum vereinnahmt das Staatliche, desto mehr Raum wird der Zivilgesellschaft überlassen. Die Regelungsdichte ist dann vor allem eine geringere, es herrscht ein geringeres Maß an Vergemeinschaftung. Wenn die Rede ist von einem „starken Staat“ oder „schwachen Staat“, dann bezieht sich das auf den Staat im staatsrechtlichen Sinne. Es ist eine rechtspolitische Frage, also eine Frage nach der Ausgestaltung der Rechtsordnung, ob sie den Staat mit weitreichenden Kompetenzen ausstattet und damit in eine totalitäre Richtung führt oder eher als „Nachtwächter“ im Sinne eines small governments definiert. Die beiden Pole lauten Libertalismus vs. Totalitarismus.

III. Gemeinwohlverpflichtung alles Staatlichen Aus dieser Definition von Staat heraus ergibt sich, dass der Staat kein Selbstzweck ist. Er ist nicht unabhängig, sondern juristische Person, also Rechtssubjekt von Verfassung wegen. Aus dieser Genese heraus, ins Leben gerufen durch den Gemeinwillen, ist er diesem auch permanent verpflichtet. Daraus folgt: Jedes staatliche Wollen, jedes Agieren, das logischerweise immer von einzelnen Menschen wahrgenommen werden muss, darf von vornherein nur dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Da aber der Staat nur durch Menschen handlungsfähig ist, jedes staatliche Handeln auf das Handeln von Menschen angewiesen ist, diese aber in der Regel – als Menschen – zunächst oder zumindest immer auch ihr eigenes, individuelles Interesse im Blick haben, ist das ein praktisches Problem im Staat, und es muss dafür gesorgt werden, dass auch tatsächlich alles staatliche Handeln allein am Gemeinwohl orientiert ist. Nur dann ist es legitimes staatliches Handeln und kein Machtmissbrauch durch den jeweils im Namen des Staates handelnden Menschen. Auf der Seite des Staates stehen auch die Parteien, die – im Gegensatz zu Lobbygruppen, die auf der anderen Seite stehen – keine Individualinteressen, Partikularinteressen, Klientelinteressen 42  Vgl. Isensee, Staat und Verfassung, Rn. 155: „Volk und Gesellschaft sind nicht dasselbe.“



C. Folgerung157

vertreten dürfen, sondern immer nur, sozusagen als Volksparteien, das Interesse aller, unterschiedlich geprägt durch unterschiedliche Wertvorstellungen, die miteinander im Wettbewerb stehen, im Blick haben müssen. Wenn auch in der Praxis der Unterschied nicht immer leicht zu erkennen ist und mitunter auch verwischt wird, wenn auch Vertreter der einen Seite auf der jeweils anderen Seite agieren, so ist doch eine klare und fundamentale Trennung zumindest in der Theorie erforderlich und vorhanden: Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, und das ist auch die Funktion von Parteien, der ist allein dem Gemeinwohl verpflichtet und muss im Sinne des gesamten Volkes handeln. Wer Individualinteressen vertritt, darf das nicht in öffentlicher Funktion tun, darf dies nicht als Vertreter des Staates tun, sondern nur als Vertreter der Zivilgesellschaft, als Lobbyist, als Privatperson, deren Einflussnahme auf Vertreter des Staates jedoch legitim ist und in der Natur der Sache liegt.43

C. Folgerung Der Begriff des Staates (im äußeren, völkerrechtlichen Sinne) ist damit untrennbar mit dem der Verfassung und dem des Volkes verbunden. Der Staat ist nach außen hin die Verkörperung eines Volkes im Sinne einer souveränen Rechtsgemeinschaft. Staat in diesem Sinne ist daher nicht jede politisch organisierte Einheit, nicht zum Beispiel ein deutsches Bundesland (das selbstverständlich als „Staat“ in einem anders definierten Sinne bezeichnet werden kann!). Entscheidend ist, dass ihm ein Staatsvolk zugrunde liegt, das sich in erster Linie über gemeinsame Merkmale als das Volk dieses Staates definiert und somit den Souverän an der Spitze dieses Staates schafft. „In erster Linie“ bedeutet, dass die Zusammengehörigkeit auf dieser Ebene die stärkste sein muss, sodass dort der Souverän entsteht und nicht auf einer anderen Ebene. Die meisten Deutschen beispielsweise fühlen sich in erster Linie als Deutsche und weniger als Bürger ihres jeweiligen Bundeslandes, wobei die Identifikation mit dem Bundesland von Land zu Land unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Allein auf Bundesebene herrscht ein so hohes Maß an gemeinsamer Identifikation, dass hier ein Souverän entsteht. Jeder Staat in diesem Sinne ist automatisch souverän nach außen und innen. In diesem Sinne gibt es also nur souveräne Staaten oder eben Nicht-Staaten.

43  So trennt auch der politische Aristotelismus strikt zwischen Polis – Stadt, Öffentlichkeit, Allgemeinheit – und Oikos – Haus, Privatheit, Besonderheit. Ein Eindringen des Privaten in den öffentlich, den politischen Raum würde eine Zersetzung des Staates bedeuten; vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 18 f.

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Kap. 6: Verfassung und Staat

Unter Einbezug der Realität, wie sie sich zu einem beliebigen Zeitpunkt auf dieser Welt präsentiert, muss natürlich eingeräumt werden, dass unter Umständen nicht alle Staaten der Welt als Staat in diesem Sinne gelten können. Der Begriff des Staates wird hier an bestimmte notwendige Merkmale geknüpft, die letztlich vom Prinzip der Volkssouveränität ausgehen und den Staat ausschließlich als personale Verkörperung eines freiwillig zusammengeschlossenen Volkes ansehen. Damit sind natürlich manche Staaten, die diesem Ideal nicht entsprechen, aus dieser Sicht nicht mehr als durch bloße Macht zusammengehaltene de facto-Einheiten. Diese rechts­ theoretische Beurteilung macht es aber nicht entbehrlich, diese Einheiten in der internationalen Politik und auch im Völkerrecht dennoch wie (ideale) Staaten zu behandeln.

Kapitel 7

Recht und Demokratie Nachdem nun das Rechts- und damit auch das Verfassungsverständnis in dieser Arbeit auf die für eine Rechtsordnung fundamentalen Begriffe von Verfassung, Volk und Staat angewandt und anhand dieser präzisiert worden ist, wird die im Folgenden äußerst relevant werdende rechtliche Bedeutung der Begriffe der Demokratie und insbesondere der Mehrheit untersucht. Zunächst wird der Begriff der Demokratie vor dem Hintergrund des Verständnisses von Recht zwischen Sein und Sollen eingeordnet. Anschließend wird insbesondere der Zusammenhang zwischen dem Demokratieprinzip und dem Mehrheitsprinzip maßgebliche Auswirkungen auf die Frage der Verfassungsänderung haben. Es erscheint eine abstrakte Behandlung der beiden Begriffe – vor einer Anwendung auf das Grundgesetz an späterer Stelle – geboten.

A. Demokratie als Herrschaft des Volkes Der Begriff der Demokratie gehört zu den schon inflationär gebrauchten Begriffen, deren positive Ausstrahlung sich allzu oft zu Nutzen gemacht wird. Der Begriff wird beispielsweise häufig bemüht, wenn es eigentlich um Menschenrechte oder um Rechtsstaatlichkeit, um Freiheitlichkeit oder um Toleranz geht. Eher umgangssprachlich, aber durchaus auch in der Fachsprache wird das Attribut „demokratisch“ häufig verwendet für eine beliebige Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip.1 Aufgrund der Bedeutung des demokratischen Prinzips für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand soll der Begriff hier für diesen Zweck nun klar umrissen werden. Den Ausgangspunkt dafür markiert die etymologische Bedeutung des altgriechischen Begriffs: Herrschaft des (Staats-)Volkes.2 Die Definition von Demokratie als „Herrschaft der Mehrheit“ geht entweder, wenn der Bezug zum Volk nicht impliziert wird, zu kurz, oder, wenn er enthalten sein soll, zunächst einmal zu weit.3 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 13. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 13. 3  Zur Bedeutung der Mehrheit in der Demokratie siehe unten, B. 1  Vgl. 2  Vgl.

160

Kap. 7: Recht und Demokratie

I. Demokratie als normatives Prinzip Der Begriff der Demokratie wird hier verstanden in einem komplementären Zusammenhang zum Begriff der Volkssouveränität. Er bildet das normative Pendant zum nicht normativen, sondern Seins-Begriff der Volkssouveränität.4 Demokratie beschränkt ihre Wirkung und ihr Dasein allein auf die Sphäre des Sollens. Sie wird hier verstanden als ein Prinzip, nach dem eine Rechtsordnung, somit auch ein Staat, normativ ausgestaltet sein kann. Somit beginnt der Wirkungsraum für Demokratie ab dem Bestehen einer Verfassung und sie wirkt normativ in eine Rechtsordnung hinein, steht aber niemals – anders als eben die Volkssouveränität – vor der Verfassunggebung. Die normative Wertenscheidung für die demokratische Prägung einer Rechtsordnung wird – entsprechend dem Gewicht dieser Entscheidung – stets auf der obersten normativen Ebene, der Verfassung im materiellen Sinne, zu verorten sein.5 Eine Verfassung kann nach diesem Verständnis aber nie auf demokratischem Wege zustande kommen, vielmehr kann eine volkssouverän zustande gekommene Verfassung eine Rechtsordnung demokratisch verfassen. Demokratie verschafft nicht aus sich selbst heraus, kraft eigener Kompetenz, Legitimität des Rechts. Rechtliche Legitimität leitet sich allein aus der Verfassungsmäßigkeit des Rechts ab. Wenn aber in der Verfassung das Demokratieprinzip festgeschrieben ist, dann muss Recht, um legal und legitim zu sein, demokratisches Recht sein. Daraus folgt aber auch, dass Demokratie, als bloß eine Regierungsform oder, im Gesetzgebungsstaat6, als Form der Rechtsetzung beziehungsweise Stil der Rechtsordnung unter mehreren möglichen, als eine bestimmte Wertausrichtung der gesamten Rechtsordnung, etwas anderes sein muss als die Volkssouveränität, also als der Grundsatz, dass sich das Recht letzten Endes vom Volkswillen her legitimiert.7 Demokratie kann nicht bloß bedeuten, dass das Volk sich selbst beherrscht in dem Sinne, dass alles Recht vom Volke ausgeht. Diese Voraussetzung ist nach der hier hergeleiteten Definition von Recht, die in unbedingtem Zusammenhang mit der Idee von Volkssouveränität steht, ohnehin zwingend für jedes geltende Recht. Volkssouveränität gilt als einzig mögliche Quelle und mögliches Legitimationsprinzip jeden Rechts. Demokratie als recht weiter, offener Begriff bedeutet „Volksherrschaft“8, „Selbst4  Vgl.

oben, Kapitel 3 E. unten, Kapitel 10 B. I. 2. 6  Schmitt, Legalität und Legitimität, 7 ff. 7  Auf diesen Unterschied stellt wohl auch Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 105, ab, wenn er sagt: „Demokratie und Legitimation sind nicht gleichbedeutend“: Demokratische Strukturen alleine verschafften einem Rechtssystem noch keine Legitimation, ebenso müsse ein legitimes Rechtssystem nicht unbedingt demokratische Strukturen aufweisen. 5  Vgl.



A. Demokratie als Herrschaft des Volkes161

regierung des Volkes“9. Er ist vielmehr ein Oberbegriff für eine Vielzahl demokratischer Elemente10, die eine Rechtsordnung oder Staatsordnung, also den Inhalt einer Verfassung ausmachen können, und die sich – stark verallgemeinert ausgedrückt – auszeichnen durch relativ großen, direkten und unmittelbaren Einfluss des Individuums, des Rechtssubjekts, auf das Recht, also auf Rechtserzeugung und -anwendung.11 Demokratie ist somit eine relativ enge Verknüpfung der Rechtssubjekte mit den vergemeinschafteten, also verstaatlichten Aufgaben, deren Wahrnehmer hier als „der Staat nach der Verfassung“12 bezeichnet worden ist, eine nicht allzu tiefgehende, nicht allzu strikte Trennung zwischen den Rechtssubjekten und den die Aufgaben der Rechtsordnung wahrnehmenden Stellen. Das Volk als Staatsorgan13, der Demos, spielt somit in der Demokratie eine wesentliche Rolle. Demokratie ist damit ein Ordnungs- oder „Organisationsprinzip“14 recht­ licher Herrschaft, das keine materiellen Wertungen beinhaltet, sondern diesen gegenüber so offen ist, wie es auch für Recht an sich zutrifft.15 Der wesentliche und entscheidende strukturelle Unterschied zwischen Volkssouveränität und Demokratie ist aber: Erstere stammt als Erklärung für die Entstehung, Existenz und Geltung von Recht aus dem vorrechtlichen, nichtnormativen Bereich, aus der Sphäre des Seins, während zweitere aus dem normativen Bereich, den eine Rechtsordnung normativ regelt, stammt. Die Gemeinsamkeit zwischen Volkssouveränität und Demokratie und zugleich den wesentlichen Unterschied deutlich zum Ausdruck bringt die Formulierung: Volkssouveränität bedeutet, dass alles Recht im Volk begründet ist, Demokratie hingegen, dass alles Recht vom Volke her begründet sein soll. Demokratie kann im Gegensatz zu Volkssouveränität nie hinreichende Legitimität für die Geltung von Recht stiften. Kelsen hat diese prinzipielle Differenzierung der beiden Begriffe in der gleichen Weise vorgenommen: Über seine Demokratietheorie schreiben Jestaedt und Lepsius: „Volkssouve8  Zur Identität von Herrschern und Beherrschten vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 234 ff. 9  Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, Rn. 2. 10  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 252. Die reale Demokratie muss immer ein Kompromiss sein zwischen diesen demokratischen Elementen der Rechtsordnung und der Praxistauglichkeit, also zwischen dem Pol des demokratischen Ideals, der direkten Demokratie, und dem Pol der Handlungsfähigkeit des Staates. 11  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 223. 12  Vgl. oben, Kapitel 6 B. 13  Vgl. oben, Kapitel 5 B. 14  Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 9 (Hervorh. im Original); vgl. auch Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 32 f. 15  Abgesehen von der Wertung, dass das Volk eben die Staatsgewalt ausübt, was aber offensichtlich ist; vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 38.

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Kap. 7: Recht und Demokratie

ränität ist ein staatstheoretischer Begriff, der mit den Mitteln des positiv erzeugten Rechts nicht bestimmt werden kann. Er entstammt der Ebene des Seins. Demokratie und Parlamentarismus hingegen stellen normative Konstruktionen dar, basierend auf Rechtsbegriffen. Heute würden wir sagen: Die Volkssouveränität ist der Geltungsgrund der Verfassung und liegt deswegen einem verfassungsrechtlichen Demokratiebegriff voraus. Daher können die in der Demokratie und in der Volkssouveränität vorausgesetzten Volks­ begriffe nicht identisch sein. Das Volk als pouvoir constituant kann kein rechtlich erzeugtes, das Volk als pouvoir constitué muss ein rechtlich erzeugtes sein.“16 Letzteres in Bezug auf die beiden Begriffe des Volkes steht im Einklang mit den vorherigen Ausführungen zum dualen Volksbegriff. Es gilt damit der Grundsatz: Pouvoir constituant kann nur das Volk sein, pouvoir constitué soll – in der Demokratie – das (Staats-)Volk sein. Das Volk wird, in jeweils anderem Sinne, in Bezug genommen. „Die verfassunggebende Gewalt liegt beim Volk kraft der Volkssouveränität, ist also extrakonstitutionell, alle anderen Gewalten gehen vom Volk aus kraft der Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt, wie sie in der Verfassung getroffen wurde.“17 Die Demokratie ist die Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt, in der Verfassung sich selbst – dann als Staatsvolk – die Ausübung der Staatsgewalten weitgehend vorzubehalten.18 Im Wortlaut des Grundgesetzes kann man den Unterschied an der Formulierung des Art. 20 Abs. 2 GG festmachen: Während Satz 1 anerkennt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, und damit das Volk als Souverän, als verfassunggebende Gewalt anerkannt wird, bestimmt Satz 2, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeübt wird, wodurch die Verfassung die Rechtsordnung als demokratische ausgestaltet.19 Auf der einen Seite wird das Volk als eine Person, den Souverän, angesprochen, auf der anderen Seite das Volk als Kollektiv aller Rechtssubjekte innerhalb einer Rechtsordnung.20

16  Jestaedt / Lepsius,

XIX.

17  Stern,

Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen,

Staatsrecht I, § 5 I 3 b) (Hervorh. im Original). Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 8: „Die Demokratie als Staats- und Regierungsform geht über die Inhaberschaft der verfassunggebenden Gewalt durch das Volk hinaus. Sie besagt, daß das Volk nicht nur Ursprung und letzter Träger der politischen Herrschaftsgewalt ist, es vielmehr die politische Herrschaftsgewalt auch selbst ausübt, sie aktuell innehat und innehaben soll.“ 19  Vgl. Pieroth in Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 4. 20  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 27. 18  Vgl.



A. Demokratie als Herrschaft des Volkes163

II. Streit um Begrifflichkeiten? Das Wesen des Unterschieds zwischen Volkssouveränität als seins-seitige Begründung der Geltung von Recht einerseits und Demokratie als norma­ tive Ausgestaltung einer Rechtsordnung andererseits zeigt sich auch in anderer Weise: Eine Rechtsordnung kann, statt demokratischer Prägung, auch beispielsweise monarchisch, aristokratisch oder auch diktatorisch geprägt sein. Solange jene normativen Prägungen in der Verfassung verankert sind, also letztlich vom Volkswillen so gewollt sind, können derartige Rechtsordnungen in Geltung stehen. Nicht aber taugen die entsprechenden Modelle auf der Seins-Seite als Begründung der Geltung von Recht, als Begründung der verfassunggebenden Gewalt: Entgegen früheren Annahmen kann keine monarchische, keine diktatorische, ebenso wie keine natur- oder gottgegebene Souveränität eine Verfassung in Kraft setzen – das kann allein das Volk als einziger Souverän. Die Bedeutung der derartigen Unterscheidung von Volkssouveränität und Demokratie, von Volk im verfassenden und Volk im verfassten Sinne, ist nicht zu unterschätzen. Es genügt der folgende Hinweis auf Literaturstellen, in denen beides vermischt oder gleichgesetzt wird, was zwingend zu anderen Konsequenzen bezüglich der Natur der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt und der verfassungsändernden Gewalt führen muss: Man kann die Linie der Gleichsetzung von Volk als Souverän und Volk als demokratisches Staatsorgan als identitäre oder radikale Demokratie21 im Sinne Rousseaus22 bezeichnen. Auch das Demokratieverständnis bei Carl Schmitt scheint entgegen dieser Trennung auf eine Gleichsetzung der beiden Begriffe hinauszulaufen, wenn er zum Beispiel eine „demokratische Diktatur“23 annimmt, solange sich nur diese Verfassung „demokratisch“ auf den Volkswillen berufen kann, oder wenn er die Lehre von der Volkssouveränität als Ursprung einer Verfassung als „demokratische Legitimität“24 bezeichnet.25 Die Andersartigkeit des Schmittschen Demokratieverständnisses zeigt sich auch daran, dass die „wahre“ Demokratie sich dadurch ausScheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 43. bereits oben, Kapitel 3 B. III. 23  Schmitt, Verfassungslehre, 237. 24  Schmitt, Verfassungslehre, 90. 25  Aber auch Schmitt, Verfassungslehre, 223, ist für weitere Bedeutungen des Begriffs offen, auch für den hier vertretenen: „Daneben kann das Wort Demokratie eine Methode der Ausübung bestimmter staatlicher Tätigkeiten angeben. Dann bezeichnet es eine Regierung- oder Gesetzgebungsform und bedeutet, daß in einem System der Gewaltenunterscheidung eine oder mehrere dieser Gewalten, z. B. die Gesetzgebung oder die Regierung, nach demokratischen Prinzipien unter möglichst weitgehender Beteiligung der Staatsbürger organisiert ist.“ 21  Vgl. 22  Vgl.

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zeichnen soll, dass alles ausnahmslos dem Mehrheitswillen des Volkes oder des Parlamentes unterliegt.26 Wenn die Verfassung neben der Normierung des Demokratieprinzips weitere materielle Normierungen enthält – die Grundrechte beispielsweise – dann sei „das demokratische Prinzip nicht nur modifiziert, sondern eine wesentlich verschiedene Art Verfassung aufge­ stellt.“27 Nur eine absolute Demokratie, in der alles dem Mehrheitsprinzip unterliegt, scheint damit die „wahre“ Demokratie zu sein. Deshalb hat Schmitt auch Probleme damit, die Wertneutralität des ersten, organisatorischen Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung mit der Wertfülle ihres zweiten, die Grundrechte enthaltenden Hauptteils für vereinbar zu erklären.28 Er bezeichnet das „versammelte Volk“, also das Volk unter der Verfassung, die Summe der Individuen, ganz ausdrücklich als „den Souverän“.29 Bei Heller klingt es so: „[E]s gibt überhaupt heute keine andere Herrschaftslegitimation, als die demokratische.“30 Wenn damit die letzte Legitimation allen Rechts und alles Staatlichen gemeint ist und mit der demokratischen Legitimation jene der Volkssouveränität gemeint ist und daher nur ein terminologischer Unterschied besteht, so ist dem in der Sache zuzustimmen. Auch bei Kirchhof klingt dieses Demokratieverständnis an: Wenn er sagt, dass „verfaßte Mehrheitsorgane im Binnensystem der Verfassung den Grundgedanken der Demokratie [nicht] aufheben [könnten]“31, dann leuchtet das ohne Weiteres ein, da eine die Demokratie festlegende Verfassung jedem verfassten Staatsorgan nur die Kompetenz im übrigen Rahmen der Verfassung, also auch unter dem dort normierten Demokratievorbehalt, einräumt. Wenn er aber sagt, dass „ein verfassunggebendes Volk im Binnensystem des demokratischen Legitimationsgedankens auf das Demokra26  Gleichzeitig soll in dieser „absoluten Demokratie“ (ohne Verfassung) der Mehrheitswille des Volkes dann souverän sein, womit unter der absoluten oder wahren Demokratie wohl eine utopische Vorstellung einer ganz primitiven Rechtsordnung darstellt verstanden werden muss, in der nicht mehr als ein bloßes Volk existiert, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 258 f. 27  Schmitt, Legalität und Legitimität, 41. 28  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 49. 29  Schmitt, Verfassungslehre, 244. Mit diesem Verständnis kommt Schmitt auch zu der Ansicht, dass eine geheime Wahl eigentlich nicht demokratisch ist, da sie den Abstimmenden zum Privatmann mache, der seine private Meinung abgebe und somit das Wahlergebnis keine öffentliche Meinung wiedergeben könne, eine volonté de tous, aber keine volonté générale, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 246. Das macht nur Sinn, wenn man unter Demokratie nicht die Relevanz der einzelnen Willensäußerungen im Volk versteht, sondern ausschließlich einen einheitlichen Gemeinwillen, der zugleich Souverän ist. 30  Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, 329. 31  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 36.



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tieprinzip [nicht] verzichten [könne]“, dann bezieht er den „demokratischen Legitimationsgedanken“ offenbar auf den Gedanken der Volkssouveränität bei der Feststellung der verfassunggebenden Gewalt. Wenn man aber beide unterschiedlichen Begriffe sinnvoll verwenden will, dann muss man differenzieren. Man muss differenzieren zwischen einerseits der Gewalt des Volkes bei der Verfassunggebung, also bei der letzten Geltungsbegründung von Recht, die in der letztlich nur beim Menschen zu findenden, alles Recht begründenden Souveränität wurzelt, und andererseits zwischen dem in einer Verfassung vorgeschriebenen, den verfassten Staat und die Rechtsordnung prägenden Demokratieprinzip, welches jedes staatliche Handeln, insbesondere auch die Gesetzgebung, an eine gewisse Mitbestimmung des verfassten Volkes bindet. Letzteres entspricht der Idee, dass auf diese Weise ein möglichst für jeden verträglicher Kompromiss für jeden Rechtsunterworfenen gefunden werden kann, da gerade diejenigen, an die das Recht adressiert ist, an seiner Setzung in möglichst breitem Umfang beteiligt sind und dabei jeder Einzelne die gleiche Chance auf Mitwirkung an der Rechtsetzung hat. Hier wird deshalb eine Demokratietheorie vertreten, die der identitären Demokratie im Sinne Rousseaus / Schmitts eine arbeitsteilig-dualistische Auffassung des Begriffes „Volk“ und parallel dazu der Begriffe Volkssouveränität und Demokratie entgegensetzt, und wie sie auch die Demokratietheorie Kelsens bietet.32

III. Demokratische Legitimation Während die Volkssouveränität verlangt, dass jedes Recht einer Rechtsordnung letztlich auf den Willen des Volkes zurückführbar sein muss, stellt das Demokratieprinzip gewissermaßen die normative Fortsetzung dieses Gedankens dar.33 Zur nicht-normativen Legitimation der bloßen Geltung von Recht, über die Übereinstimmung mit den Regeln der Verfassung bis hin zum Willen des Souverän, des Volkes, kommt in der Demokratie eine zweite, eine normative Form der Legitimation hinzu. Wenn eine Verfassung das Demokratieprinzip vorschreibt, dann verlangt sie von der Rechtsordnung, dass jeder Rechtsakt, sei er Rechtsetzung, sei er Rechtsanwendung, tatsächlich auf den Willen des Volkes zurückführbar ist, und geht damit über den rechtlichen Legitimationsregress zur Verfassung hinaus. Man kann auch von einer formellen Legitimation und einer materiellen Legitimation 32  Eine gute Gegenüberstellung der beiden Strömungen im Hinblick auf den Begriff der Demokratie bietet Dreier, Kelsens Demokratietheorie. 33  Siehe auch Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 1: „Die Demokratie als Staats- und Regierungsform […] knüpft an das Prinzip der Volkssouveränität an […].“

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sprechen: Während es zur Qualifikation als Recht ausreicht, dass – rein formal – der Regress über die verschiedenen Kompetenzdelegierungen über die Verfassung hin zum Volkswillen im Sinne des Souverän möglich ist, stellt das Demokratieprinzip zur demokratischen Legitimation gewisse materielle Anforderungen an Inhalt und Zustandekommen des Rechts. Was kennzeichnet diese materiell-normativen Anforderungen, die in einer demokratischen Rechtsordnung an Recht gestellt werden, damit die Herrschaft durch das Volk realisiert ist? Worin besteht die demokratische Legitimation? 1. Kopplung allen Rechts an den Willen des Volkes Während Recht bezüglich seiner Geltung, bezüglich seiner spezifischen Rechtsqualität ausreichend legitimiert ist über die Wahrung des Prinzips der Volkssouveränität, mithin durch Übereinstimmung mit der Normierung in einer geltenden Verfassung – egal, welche Regeln dort normiert sind –, braucht es zur – materiell-normativen – demokratischen Legitimität zusätzlich die direkte Kopplung an den Willen des Volkes.34 Anders herum: Es bedarf eines spezifischen effektiven Einflusses des Volkes auf die Ausübung der Staatsgewalt.35 Die Herrschaftsgewalt darf „nicht autonom werden, muß sich vielmehr stets in angebbarer Weise auf den Volkswillen zurückführen lassen und gegenüber dem Volk verantwortet werden.“36 Zusätzlich zum permanenten effektiven Einfluss des Volkes auf die Herrschaftsgewalt muss umgekehrt also eine jederzeitige Verantwortlichkeit der Herrschaftsgewalt gegenüber dem Volk bestehen.37 Diese Voraussetzungen sind insbesondere nicht gewährleistet, wenn eine Verfassung einen Führerstaat oder eine absolute Monarchie begründen würde und somit den freien und unabhängigen Willen einer einzigen Person zum Ausgangspunkt von Rechtsetzung und / oder -durchsetzung normieren würde. Eine solche Normierung wäre ein Bruch in der demokratischen Legitimationskette. Geltendes Recht könnte zwar gesetzt werden, indem es mit der Verfassung in Einklang steht und solange der Gemeinwille diese Verfassung trägt. Allerdings wäre es nicht mehr demokratisch legitimiert in dem Moment, in dem der demokratische Legitimationsregress in dem unabhängigen, freien Willen dieser einen Person endet. Die Legitimationskette im Sinne der Volkssouveränität geht an dieser Stelle zwar weiter bis hin zur verfassunggebenBöckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 1. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 14. 36  Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 11; ebenso BVerfGE 93, 37 (66). 37  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 21 ff. 34  Vgl. 35  Vgl.



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den Gewalt des Souverän, die demokratische Legitimationskette hingegen reißt ab zwischen der Verfassung und dem normsetzenden, mit absoluter Kompetenz ausgestatteten Organ, da der freie und unabhängige Wille dieser einzelnen Person keinen direkten Weg zum Volkswillen mehr zulässt.38 Das Volk hat seinen Willen dann nur bis zur Verfassung durchgesetzt und ihn an dieser Stelle anderen Kräften überlassen. In der Demokratie bleibt das Volk auch „nach der Verfassung“ noch entscheidend in der Ausübung der Staatsgewalt. Damit von einer Kopplung an den Willen des Volkes beziehungsweise von effektivem Einfluss des Volkes und damit von demokratischer Legitimation ausgegangen werden kann, muss zudem jede demokratisch handelnde Stelle nicht nur (direkt oder indirekt) vom Volk gewählt sein, sondern durch diesen Wahlakt auch gerade zu dieser Tätigkeit ermächtigt, also legitimiert worden sein. Die Wahl darf daher nicht nur eine Personenauswahl darstellen, sie muss vielmehr eine bewusste Ermächtigung zur entsprechenden Tätigkeit (zum Beispiel die Rechtsetzung beim Parlament) sein. 2. Gleichwertigkeit aller Stimmen Wesentlich im demokratischen Gedanken ist, dass im Rahmen der Willensbildung des Volkes jeder Stimme gleiches Gewicht zuerkannt wird – „Demokratie und Gleichheit gehören aufs engste zusammen.“39 Die Demokratie sieht jede Stimme als gleichwertig an, was dadurch ermöglicht wird, dass jeder Zugehörige sich mit dem gesamten Volk identifizieren kann. Das Volk vor der Verfassung und das Volk nach der Verfassung sind im Ideal, was das personale Substrat betrifft, kongruent. Die Gleichwertigkeit der Stimmen wird im Zuge der normativen Fiktion erlangt, sie ist nicht natürlich vorgegeben. Wurde oben im Zuge der Konstitution des Gemeinwillens noch der natürliche Zustand vorgefunden, dass verschiedene Menschen unterschiedlich starke Willens- und Meinungsbildungen entwickeln können, so ist im Rahmen der verfassten Gewalt des Volkes jede Stimme als gleichwertig genormt. Nur so kann Chancengleichheit in der Demokratie gewährleistet sein, kann jeder Einzelne gleichberechtigt an der Willensbildung des Volkes mitwirken, kann von jedem die Bereitschaft erwartet werden, seinen Individualwillen dem des Volkes unterzuordnen. Der demokratische Gleichheitsbegriff setzt nicht an der natürlichen Menschengleichheit an, den Gemeinsamkeiten, die alle Menschen verbinden und die das spezifisch Menschliche ausmachen, der Menschenwürde also vor allem. Diese ohnehin bestehende Gleichheit bedarf nicht des Demokratieprinzips zu ihrer Aner38  Vgl.

Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 16. Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 41.

39  Böckenförde,

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kennung.40 Vielmehr beruht der demokratische Gleichheitsbegriff auf den unterschiedlichen individuellen Willensmöglichkeiten der Menschen im Staat und erkennt diese individuellen Willen, normativ und konstitutiv, als gleichwertig an. Ermöglicht wird diese normierte Gleichwertigkeit durch die bereits vorhandene gemeinsame Identifikation.41 Die Idee der Gleichwertigkeit der Stimmen, ungeachtet der natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen, ist unmittelbar Inhalt des Demokratieprinzips.42 Demokratische Gleichheit ist somit vor allem Gleichwertigkeit und somit Chancengleichheit.43 Diese demokratische Gleichheit ist an und für sich bereits eine wichtige und substanzvolle Wertung, ohne dass an dieser Stelle ein Bezug zu Wahlen oder einem Abstimmungsmodus wie dem Majoritätsprinzip hergestellt werden müsste. Das Demokratieprinzip beinhaltet also den Gedanken, dass dem Volk als Staatsorgan eine besondere Rolle zukommt und dass jeder Einzelne in diesem Volk die gleichwertige Chance auf Mitbestimmung hat, ermöglicht durch Gleichwertigkeit der Stimmen.

IV. Der Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimation In der Demokratie ist das Recht somit in doppelter Hinsicht der Wille des Volkes, es bedarf einer doppelten Legitimation: Es ist zum einen der Wille des Volkes, weil es auf der Verfassung beruht, die dem Volkswillen entspricht und von ihm gesetzt worden ist. In diesem Sinne ist aber jedes Recht, auch in einer Diktatur, dem Volkswillen entsprechend, wenn es nur einer volkssouveränen Verfassung entspricht. In der Demokratie aber ist das Recht zugleich Ausdruck des demokratischen Volkswillens, da es nur als Ausdruck des demokratischen Volkswillens zustande kommen kann, also durch das Staatsvolk selbst geschaffen wird. Diese doppelte Legitimation von Recht in der Demokratie führt aber zu einer doppelten Hierarchie. Neben dem Stufenbau der Rechtsordnung besteht eine zweite Hierarchie, die sich am Demokratieprinzip, genauer gesagt: an der demokratischen Legitimität, ausrichtet.44 Das Volk unter und in der Verfassung verfügt als verfassungsmäßiges Subjekt aller Staatsgewalt, als oberster pouvoir constitué, über die höchste Schmitt, Verfassungslehre, 226 f. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 46 ff. 42  Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 345; ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, 3; vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 224. 43  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 41. 44  Vgl. dazu Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 42. 40  Vgl. 41  Vgl.



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demokratische Legitimität. Im Hinblick auf die demokratische Legitimation ist das Volk das höchste Staatsorgan. Von ihm „wird alle Staatsgewalt ausgeübt“ und sie geht im Wege der demokratischen Delegierung weiter an verschiedene Organe. So legitimiert das Volk in Wahrnehmung einer seiner wichtigsten Funktionen, der als Wahlvolk, das Parlament45. Das Parlament wiederum kann eine Regierung ermächtigen. Die demokratische Legitima­ tion nimmt auf diesen Schritten jeweils ab.46 Die (idealerweise) parallel dazu verlaufende rechtliche Legitimation wird durch Rechtsnormen vermittelt, sie ergibt sich aus dem beziehungsweise führt zum Stufenbau der Rechtsordnung. Dem Demokratieprinzip entspricht es, dass Recht, je höher der Rang ist, den es im Stufenbau der Rechtsordnung einnimmt, über umso höhere demokratische Legitimität verfügen soll. Entsprechend nimmt die demokratische Legitimität idealerweise ab, je niedriger der Rang des Rechts in der Hierarchie ist. Das ist Folge des Demokratieprinzips, denn aus rein rechtlicher Sicht ist es keineswegs zwingend. Es wäre illegitim, wenn eine rechtlich übergeordnete Instanz in demokratischer Hinsicht über eine geringere oder auch nur die gleiche Legitimität verfügte, wie die Instanz, gegenüber der sie derogiert. Das höherrangige Parlamentsgesetz verfügt über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität – vermittelt durch das Parlament – als die niederrangigere Rechtsverordnung, die der Minister erlassen hat, der als Teil der Regierung vom Vertrauen des Parlamentes abhängt. Der normativ neutrale Stufenbau der Rechtsordnung würde aber ohne Weiteres auch eine hierarchische Konstruktion zulassen, in der die Verfassung eine einzelne Person mit Rechtsetzungsbefugnis ausstattet, und diese Person in einem bestimmten Bereich eine Rechtsetzungsbefugnis an ein (demokratisch gewähltes) Parlament delegiert. Die demokratische Legitimation des niederrangigeren Parlamentsrechts wäre dann zweifelsohne die höhere. Dieser Widerspruch wäre belanglos, solange man sich nicht in einer demokratischen Rechtsordnung befände. Unter der Geltung des Verfassungsprinzips der Demokratie müssen beide Hierarchien aber synchron verlaufen, damit das geltende Recht auch demokratisch legitimiert ist. Wichtig ist aber, dass es sich hierbei um einen normativen Dualismus handelt: In der Demokratie soll die rechtliche Hierarchie zu der demokratischen synchron verlaufen. Diese Prämisse ist ganz entscheidend für die folgende Bewertung des Verhältnisses der Rechtsebenen in der Ordnung des Grundgesetzes. Kapitel 10 45  Dazu bedarf es freilich noch einer genaueren Untersuchung des Parlamentarismus, die sogleich erfolgt. 46  So auch, wenngleich etwas zurückhaltend formuliert, Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 16: „[M]ittelbare wie unmittelbare Berufung durch das Volk sind gleichermaßen zulässig, wenngleich die unmittelbare Berufung eine höhere demokratische Dignität begründen mag.“

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wird die rechtliche Hierarchie des Grundgesetzes in den Blick nehmen, Kapitel 11 wird den demokratietheoretischen Aspekt hinzuziehen.

V. Repräsentation und Parlamentarismus Der Parlamentarismus ist Teil der Demokratie dann, wenn das Parlament treffenderweise als Repräsentation des Volkes bezeichnet werden kann und diesem Organ eine entsprechende Stellung in der Verfassungsordnung eingeräumt ist.47 Er ist in der Demokratie eigentlich unverzichtbar und außerdem in der Rechtsordnung des Grundgesetzes von so bedeutender Rolle für die Änderung der Verfassung, dass er hier einer Behandlung bedarf, ist es doch das Parlament, das zur Verfassungsänderung befugt sein soll. Ein Parlament ist auch in nicht demokratischen Rechtsordnungen denkbar, wenn seine Funktion entsprechend beschnitten ist.48 Ohne Parlament ist die Demokratie aber nur als direkte oder unmittelbare Demokratie denkbar.49 Die repräsentative Demokratie ist auch das Modell des Grundgesetzes. Kelsen liefert die folgende Definition des Parlamentarismus: „Parlamentarismus ist: Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, also demokratisch gewähltes Kollegialorgan, nach dem Mehrheitsprinzipe.“50 Der so gebildete Wille kann dann als Wille des Volkes nach demokratischen Anforderungen gelten. Das geschieht mittels Zurechnung, die wiederum durch Repräsentation begründet wird.51 Wie ist nun aber die Stellung des Parlamentes in der demokratischen Hierarchie zu bewerten? Aus ganz praktischen und ohne Weiteres nachvollziehbaren Gründen der Arbeitsteilung soll das Staatsvolk, und zwar das gesamte Staatsvolk in seiner Pluralität, in einem Parlament repräsentiert werden.52 Wenn das gelingt und der im Parlament konstituierte Wille als der Wille des Volkes gilt, dann ist das Parlament in der demokratischen Hierarchie das zweithöchste Staatsorgan, direkt nach dem Staatsvolk, das in seiner Funktion als Wahlvolk das Parlament legitimiert. Der parlamentarisch konstituierte Wille des Volkes ist aber durch Repräsentation in jedem Fall mediatisiert, sodass seine demokratische Legitimation unterhalb der des direkten oder unmittelbaren VolkswilBrenner, Das Prinzip Parlamentarismus, Rn. 4, 15, 25. Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, Rn. 4, 14. 49  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 27. 50  Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 28 (Hervorh. im Original). 51  Vgl. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, Rn. 26. 52  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 29; zur Funktionsweise von Repräsentation genauer Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, Rn.  26 ff. 47  Vgl. 48  Vgl.



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lens (zum Beispiel in einem Volksentscheid) steht. Damit das von einem das Volk repräsentierenden Parlament gesetzte Recht auch als der Wille des Volkes gelten kann, muss der das Parlament konstituierende Wahlakt auch zur Rechtsetzung legitimieren, das bedeutet: Die Wähler müssen bewusst dazu ermächtigen, dass dieses Parlament (statt ihrer selbst) Recht setzen darf. Von der Art des Parlamentes, insbesondere seiner Konstituierung, hängt der Grad an Repräsentation, an demokratischer Mediatisierung und damit auch an demokratischer Legitimität des Parlamentes ab. Bereits erwähnt worden ist die Grundvoraussetzung der Repräsentation im Parlamentarismus, nämlich „die freie, gleiche und direkte Wahl und die Möglichkeit der Kontrolle durch Verweigerung der Wiederwahl“53. Welcher Grad an Repräsentation das Parlament zwischen den Polen unmittelbarer / direkter Demokratie und mittelbarer / indirekter Demokratie einnimmt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die den Grad an Mediatisierung (oder anders: Maß an Indirektheit, an Mittelbarkeit) beeinflussen, wie zum Beispiel: Art der Wahl, Anzahl der Abgeordneten, Dauer der Legislaturperiode. Relativ offensichtlich ist, dass der Volkswille unmittelbarer wiedergegeben wird, je kürzer die Legislaturperiode ausfällt, da der Einfluss des Wahlvolkes auf die parlamentarische Willensbildung dann ein aktuellerer ist. Je geringer die Anzahl an Abgeordneten im Parlament, desto fiktiver wird die Willenszurechnung zum Staatsvolk, desto höher der Grad an Mediatisierung. Die Pole sind hier Identität, also der Fall, dass das Staatvolk sich selbst repräsentiert, und totale Repräsentation durch nur einen Abgeordneten, was einer Diktatur gleichkäme.54 Im ersteren Fall liegt das Extrem direkte Demokratie vor, im letzten Fall besteht keine demokratische Legitimation mehr oder nur noch ein theoretisches Mindestmaß. Direkte Demokratie ist praktisch in ihrer reinen Form nicht oder nur theoretisch möglich, weshalb sich überhaupt des Instrumentes der Repräsentation bedient wird.55 Damit das Volk aber in seiner Pluralität repräsentiert werden kann, bedarf es einer gewissen Anzahl an Abgeordneten. Der Pluralismus ist im demokratischen Parlamentarismus ein entscheidendes Moment, das den Parlamentarismus zwischen den Polen direkter Demokratie und Repräsentation 53  Alexy,

Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, 210. zu diesen gegensätzlichen Polen Schmitt, Verfassungslehre, 252, 262. 55  Nicht diskutiert werden soll hier die alte These, dass nur unmittelbare Demokratie echte Demokratie sei, Parlamentarismus hingegen defizitär sei, sie kann heute und für den vorliegenden Zweck schlicht abgewiesen werden; vgl. dazu nur Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 20 (Vorbemerkung zur 2. Auflage); sowie Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 26 ff.; und klärend Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, Rn.  2 ff. 54  Vgl.

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positioniert.56 Der Parlamentarismus lebt nicht von bloßer einmaliger und legitimierender Wahl, sondern auch vom Diskurs und der Kraft des Argumentes, von Deliberation.57 Entscheidend ist, dass der Pluralismus überhaupt zum Ausdruck kommt, dass ein Diskurs im Prozess der Willensfindung zustande kommen kann, der das Volk in seiner Pluralität wiedergibt.58 Das ist sicherlich ab einer gewissen Anzahl in derart ausreichendem Maße erreicht, dass das Plus an Pluralität durch eine weitere Steigerung der Abgeordnetenzahl nicht mehr in angemessenem Verhältnis zu den öffentlichen Kosten und Erschwerungen der Willensfindung stünde. Bei gut 600 Abgeordneten, die gut 80 Millionen Menschen repräsentieren, ist sicherlich ein angemessenes, effektives und in demokratischer Hinsicht legitimes Maß an Repräsentation erreicht. Großen Einfluss auf die Funktionsweise der Repräsentation hat auch die Art der Wahl, also insbesondere die Frage, ob das System der Verhältniswahl oder das der Mehrheitswahl Anwendung findet (Gleichheit, Allgemeinheit und Freiheit der Wahl sind als demokratische Grundsätze vorausgesetzt). Auch die Frage, ob Personen oder Parteilisten gewählt werden, hat einen gewissen Einfluss. Ohne auf diese Einflüsse hier in ihrer Tiefe eingehen zu müssen, kann man festhalten, dass die Verhältniswahl das geeignetere Mittel ist, um im Parlament lediglich einen Repräsentanten des Volkes in seiner Pluralität darzustellen59, während das Mehrheitswahlrecht immer bereits eine sachähnliche Entscheidung durch das Wahlvolk vorwegnimmt, indem Stimmen (der jeweiligen Minderheit) keine Repräsentation finden, ohne dass überhaupt eine konkrete Sachfrage vorgelegen hat.60 Vielmehr geht es um Personen und abstrakte Programme. Das Mehrheitswahlrecht mit seiner „mehrheitsbildenden“ Funktion bringt nicht ein neutrales Abbild des Volkes hervor, sondern nimmt bereits eine Mehrheitsabstimmung vorweg, was konsequenterweise Mehrheitsbildungen im Parlament erleichtern soll auch Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, Rn. 2. Alexy, Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, 210; Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 43. 58  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 58. 59  So auch Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 293: „Denn die im Vergleich zur Mehrheitswahl erweiterte Funktion der Verhältniswahl liegt unter anderem darin, dass sich mit ihrer Hilfe annäherungsweise passgenau die soziale Struktur und die politischen Gruppierungen der Gesellschaft im Repräsentationsorgan des Volkes abbilden lassen.“ 60  Denke man das Mehrheitswahlsystem radikal und konsequent zu Ende, unter Auflösung der Wahlkreise, so wäre nur die Mehrheit des Volkes im Parlament vertreten, die Minderheit aber überhaupt nicht. Das stellte offensichtlich keine Repräsentation mehr dar; vgl. auch Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 61; Pfister, Die Rettung des parlamentarischen Systems, 24 f. 56  Vgl. 57  Vgl.



A. Demokratie als Herrschaft des Volkes173

und tatsächlich erleichtert.61 Man kann daher sagen: Während das nach dem Verhältniswahlrecht gebildete Parlament das Volk personell repräsentiert und auf dieser Grundlage einen konkreten (demokratischen) Volkswillen erstmals entwickelt, repräsentiert ein nach dem Mehrheitswahlrecht konstituiertes Parlament bereits einen unmittelbar im Wahlvolk konstituierten Willen. Das Parlament als Repräsentation des Volkes sollte folglich durch Verhältniswahl gewählt werden.62 Es geht hier um Repräsentation, nicht um die Abstimmung in einer Sachfrage (das unterscheidet die Wahl auch von einem Volksentscheid)63.64 Während die politische Arbeit in einem mehrheitsrechtlich gebildeten Parlament sicherlich einfacher gestaltet ist, kann man dem verhältnismäßig gebildeten Parlament das höhere Maß an demokratischer Legitimation zusprechen. Das Volk wird hier nicht mehr als repräsentiert. Das bringt es auch mit sich, dass gesellschaftliche Konflikte und politische Interessenkämpfe in viel höherem Maße ins Parlament hineingetragen werden65 – ein Umstand, der dem parlamentarischen Repräsenta­ tionsgedanken zunächst voll entspricht.66 Es bleibt damit festzuhalten, dass verschiedene Faktoren Auswirkung darauf haben, wie stark mediatisiert der im Parlament gebildete Wille dem Volk als dessen Wille zugerechnet werden kann. Entscheidend ist, dass er mittels Repräsentation mediatisiert ist und somit in der demokratischen Hierarchie eine Stufe unterhalb des unmittelbaren Willens des Volkes steht. Dass das Parlament nicht souverän ist, sondern verfasste Gewalt, dürfte an dieser Stelle schon ohnehin nicht mehr in Frage stehen, wird aber nochmals daran verdeutlicht, dass es in demokratischer Hinsicht dem Staatsvolk, selbst bereits verfasste Gewalt, untergeordnet ist.67 Der Parlamentarismus

Meyer, Demokratische Wahlen und Wahlsystem, Rn. 27 f. i. E. auch Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 58 ff.; vgl. auch Meyer, Demokratische Wahlen und Wahlsystem, Rn. 26: „sie ist das neutrale Wahlverfahren schlechthin.“ 63  Vgl. aber Meyer, Demokratische Wahlen und Wahlsystem, Rn. 1. 64  Pfister, Die Rettung des parlamentarischen Systems, 21: „Die Verhältniswahl […] ist überhaupt keine Abstimmung und will keine sein.“ 65  So auch Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 291. 66  Diese Bewertung ließ das Verhältniswahlrecht in den Augen einiger Staatsrechtslehrer während der Endphase der Weimarer Republik zunehmend unattraktiver erscheinen, vgl. dazu Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 291 f. 67  Anders ist es in der englischen Verfassungstradition, wo eine Tendenz zu Parlamentssouveränität herrscht, was historische Gründe hat: Das Parlament hat eine ältere Tradition als in kontinentaleuropäischen Staaten und geht auf den Kampf um die Souveränität zwischen dem Monarchen und dem Volk zurück. 61  Vgl. 62  So

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ist also in der Demokratie die Form der Realisierung der Herrschaft des Volkes, die sich dabei des Instrumentes der Repräsentation bedient.

B. Das Majoritätsprinzip Wenn das Demokratieprinzip das Volk, also eine aus vielen Individualwillen bestehende Personenmehrheit, mit der Herrschaft beauftragt, dann bedarf dieses Herrschaftssubjekt eines Modus zur Willensfindung und -artikulation. Des Volkes Wille ist hier ja nicht mehr der immer automatisch bestehende und zu erkennende Wille einer Person, der des Volkes als Souverän, sondern vielmehr der zu findende Wille einer Personenmehrheit, die noch eines Verfahrens zur konstitutiven Willensfindung bedarf. In diesem Abschnitt wird erörtert, in welchem Zusammenhang das Majoritätsprinzip mit dem Demokratieprinzip steht, ob es sich zwingend daraus ergibt und ob es etwas spezifisch Demokratisches ist. Das Majoritätsprinzip ist nicht nur von Interesse, weil es in irgendeinem Zusammenhang zum Demokratieprinzip zu stehen scheint, vielmehr berührt dieses Problem ja gerade den Kern der hier untersuchten Problematik: Die Verfassungsänderung soll mittels einer qualifizierten Mehrheit vonstattengehen.68 Die Funktionsweise des Majoritätsprinzips im Rahmen der demokratischen Rechtsordnung ist somit unerlässliches Untersuchungsobjekt, um die Frage legitimer Verfassungsänderungen, insbesondere in der Rechtsordnung des Grundgesetzes, zu beantworten.

I. Grundlagen des Mehrheitsprinzips Wenn man unter Demokratie, wie oben definiert, die Herrschaft des Volkes versteht, dann ist das Majoritätsprinzip wohl nichts spezifisch Demokratisches, jedenfalls keineswegs auf die Demokratie beschränkt und damit ein Prinzip zur Willensfindung mit weiterem Anwendungsraum. Mehrheitsentscheidungen werden schließlich offenkundig nicht nur auf Ebene von Volksentscheiden getroffen, sie sind nicht einmal auf rechtliche oder politische Sachverhalte beschränkt, sondern finden vielmehr in zahlreichen Lebensbereichen Anwendung. Der Inhalt des Demokratieprinzips geht definitiv über die Geltung des Mehrheitsprinzips hinaus (wenn es dieses umfasst), ebenso geht der Anwendungsbereich des Mehrheitsprinzips über die Demokratie hinaus. Der Mehrheitsentscheidung muss also ein über die Demokratie hi­ nausgehender Wert beziehungsweise ein eigenständiges Gerechtigkeitsmo68  Das ist im Grundgesetz so, war aber auch in beiden deutschen Vorgängerverfassungen der Fall; vgl. bereits oben, Einleitung Fn. 1.



B. Das Majoritätsprinzip175

ment zukommen.69 So erscheint das Majoritätsprinzip zunächst als ein fairer Kompromiss zur Willensfindung in irgendeiner Personenmehrheit. Als ein normatives Verfahren zur konstitutiven Willenserzeugung einer Personenmehrheit bedarf es einer Begründung, warum das Majoritätsprinzip in einer Personenmehrheit und auch im Rahmen des Demokratieprinzips gelten soll. Es könnte ja auch, rein positivistisch gesehen, jedes beliebige andere Verfahren Anwendung finden, sofern es normiert wäre. Andererseits galt im Ausgangspunkt der Koordinationsordnung nur das Einstimmigkeitsprinzip.70 Dass gerade das Majoritätsprinzip als fairer Modus zur Willensfindung gelten soll, ist aber natürlich nicht bloßer Zufall. Ihm liegt, wie jeder Normierung, bereits eine bestimmte Wertung inne beziehungsweise geht ihm eine bestimmte Wertung voraus.71 Welche ist diese Wertung, die das Mehrheitsprinzip als gerecht und gut erscheinen lässt? Welche Wertung lässt das Mehrheitsprinzip legitimer als andere Regeln der Willensfindung erscheinen? Das Prinzip, dass die einfache Mehrheit entscheidet, gründet in der Idee, dass dies einen praktikablen und gerechten Kompromiss zur Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung aller im Volk vorhandenen Willen darstellt. Es geht hier um die tatsächlichen Einzelwillen der abstimmenden Indivi­ duen. Vom Willen der Mehrheit darf nicht, auch nicht in der Demokratie, geschlossen werden auf den souveränen Volkswillen, der im Wesen etwas anderes ist. Der Wille der Mehrheit ist auch keine Fiktion oder Vermutung des Gemeinwillens. Er ist etwas wesentlich anderes, ein Kompromiss zur Willensfindung.72 Entscheidend ist, dass es sich um einen Kompromiss handelt. Das bedeutet, das von der Mehrheit Gewollte ist nichts Perfektes, nichts Wahres, nichts Absolutes. Diesem Kompromiss liegt kein „materiales Vernunft­ moment“73 inne, aus ihm geht nicht die Wertung hervor, dass die Mehrheit vermutlich am ehesten das „Richtige“ oder das „Vernünftigste“ treffe.74 Schon die Idee, dass das „Richtige“ oder „Wahre“ oder „Vernünftige“ über69  Vgl. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 29: „Das Mehrheitsprinzip erscheint in der mittelalterlichen Welt zunächst als ein formales Prinzip, noch ohne Verbindung mit einem demokratischen Gedanken.“ 70  Vgl. Grzeszick in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 [Stand: Januar 2010] Rn. 42; siehe auch oben, Kapitel 2 A. 71  Vgl. oben, Kapitel 1 B. I. 72  Zur Unterscheidung von volonté générale und volonté de tous siehe auch oben, Kapitel 3 D. I. 73  Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 104. 74  Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 87 (ff.): „Die Annahme, Mehr­ heiten seien vernünftig, übersieht zum Teil tatsächliche wie erwünschte Faktoren der

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Kap. 7: Recht und Demokratie

haupt existiert, ist fraglich. Am ehesten könnte damit der Gemeinwille gemeint sein. Dieser ist aber weder geeignet, Antworten auf alle Fragen zu liefern, auf die politische und rechtliche Antworten gesucht werden, noch gibt es Grund zu der Annahme, dass er ausgerechnet im Mehrheitsbeschluss erkannt werden kann. Damit dieser Kompromiss legitim erscheint, muss die Gleichwertigkeit der Stimmen vorausgesetzt werden.75 Damit eine zahlenmäßige Mehrheit an Stimmen auch überwiegt, muss jede Stimme gleich viel zählen. Nur dann ist die Stimmenmehrheit auch ein Übergewicht an Stimmen, also an vorhandenen Willensäußerungen. Voraussetzung des Mehrheitsprinzips ist damit auch eine gewisse Homogenität.76 Diese Voraussetzung der Stimmengleichheit bringt die Demokratie aber immer mit, denn sie beruht als Staatsform ihrerseits immer auf der Grundlage eines souveränen Volkes.77 Das Mehrheitsprinzip findet damit seine Voraussetzung, die Gleichheit der Stimmen, in der Demokratie vor, ist hier insofern idealerweise anwendbar. Demokratie stellt beide Ausprägungen der Stimmengleichheit zur Verfügung: Die Gleichberechtigung der Stimmenabgabe (Allgemeinheit der Abstimmung) sowie die Gleichwertigkeit der Stimmenzählung (Gleichheit der Abstim­ mung).78 Die Homogenität des Staatsvolkes, die das Majoritätsprinzip erst anwendbar macht und es legitim erscheinen lässt, zeigt noch einmal deutlich, dass die Demokratie wirklich die „Herrschaft des Volkes“ ist und nicht etwa die „Herrschaft der Mehrheit“: Nicht die Mehrheit beherrscht die Minderheit. Die Minderheit herrscht genauso wie die Mehrheit. Es herrscht tatsächlich das ganze Volk. Eine Minderheit als solche, per se, gibt es ja gar nicht. Es gibt immer nur in Bezug auf einzelne Fragen eine Minderheit, das ist aber eine technische Minderheit im Modus der Willensfindung. Wer zu ihr dazuWillensbildung.“; vgl. auch Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 104. 75  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 9 f.; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 29: „Das Prinzip der Majorität wirkte jedenfalls in der Richtung sich aus, daß unter den Abstimmenden Gleichheit angenommen werden mußte, wenn die Mehrheit für alle bestimmend sein sollte.“; vgl. auch ders., a. a. O., 46 ff. 76  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 66: „kulturell relativ homogene Gesellschaft“; vgl. auch Grzeszick in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 [Stand: Januar 2010] Rn. 47: „Ein real existentes Mindestmaß an politischer, sozialer und kultureller Homogenität der Bürger; eine politische Einheit mit einem gewissen Grundkonsens; eine Gemeinschaft mit kultureller Identität; oder eine gemeinschaftliche Vorstellung der Bürger vom guten und gerechten Leben.“ 77  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 64. 78  Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 110 ff.



B. Das Majoritätsprinzip177

zählt, hat die jederzeitige gleiche Chance, selbst die Mehrheit zu bilden.79 Sie nimmt an dieser Abstimmung ja genauso teil wie die Mehrheit, beide nehmen also gleichberechtigt an diesem Vorgang, der ein Ergebnis hervorbringt, und damit an der Herrschaft insgesamt, teil. In einer anderen Frage kann diese Minderheit eine Minute später schon die Mehrheit sein. Dadurch haben sich ja aber nicht die gesamten Herrschaftsverhältnisse im Staat verschoben. Gleichzeitig ist „auch der mit der Majorität Stimmende […] nicht mehr nur seinem eigenen Willen unterworfen. Das erfährt er sofort, wenn er seinen bei der Abstimmung geäußerten Willen ändert“80, wie Kelsen richtig festgestellt hat. Es herrscht also nicht die jeweilige Mehrheit, sondern immer das gesamte zugrundeliegende abstimmende Volk. Es darf keine so wesentlichen Unterschiede unter den Rechtssubjekten geben, dass ein Teil zur dauerhaften, festen Minderheit gebrandmarkt ist. Es darf keine unüberwindbaren Differenzen zwischen den einzelnen Individuen geben, sondern zumindest immer das Potential, einen Kompromiss zu finden, dem jeder zustimmen könnte.81 Erforderlich ist „ein alle Glieder der jeweiligen Gemeinschaft umschließendes rechtliches Band, ein Grundkonsens über die Akzeptierung dieser Abstimmungsregel mit der zukunftsgerichteten Bereitschaft, sich dem Willen der Majorität zu unterwerfen.“82 Dieses Band, diese Verbundenheit, dieser „Grundkonsens“, dieses „fundamentale „Gemeinschaftsgefühl“83 ersetzt, ganz technisch ausgedrückt, die einstimmige Annahme des Mehrheitsprinzips durch alle Beteiligten.84 Diese einstimmige Annahme des Mehrheitsprinzips, aufgrund derer die Mehrheitsentscheidung jedem Einzelnen zurechenbar ist, erfolgt jedoch nicht durch jedes Individuum gesondert, sondern auf Ebene der Verfassung, angeordnet durch den Gemeinwillen. In der Demokratie, die ein souveränes Volk ja immer bereits voraussetzt, ist dieses Gemeinschaftsgefühl in Form 79  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 29; Wiencke, Zur Legitimität von EUMehrheitsentscheidungen, 34. 80  Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 323. 81  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 63 (ff.): „die Abwesenheit extremer wirtschaftlich-sozialer Gegensätze“; vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 143. 82  Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 106; ähnlich auch Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 54. 83  Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 36. 84  Vgl. Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 38: „Für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen allgemein ist festzuhalten, dass eine der Mehrheitsentscheidung vorgelagerte Kollektivbildung für die Hinnahme des Mehrheitsentscheids nicht nur erste Voraussetzung ist, sondern sich sowohl im Hinblick auf eine kulturell bedingte als auch eine politisch bestimmte Gemeinschaftskonstruktion denken lässt.“; vgl. auch Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 109.

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der Homogenität, die auch die erforderliche Gleichwertigkeit liefert, immer gegeben.85 In einer demokratischen Verfassung ist es deshalb auch kein Zufall, dass, als Kehrseite des Mehrheitsprinzips, der Minderheiten- und Individualschutz in Form von Grundrechten zum Ausdruck kommt.86 Die Homogenität wird durch die vorausgehende gemeinsame Identifikation als ein Volk ermöglicht und findet in der verfassungsrechtlichen Normierung des Demokratieprinzips weiteren Ausdruck. In diesem Sinne ist Demokratie auf eine Rechtsordnung, also auf ein homogenes Volk angewiesen. Dieser Zusammenhang wird unten87 von hoher Relevanz für die Frage nach demokratischen Strukturen in der Europäischen Union sein. Im Lichte dieser Homogenität beziehungsweise Gleichwertigkeit aller Stimmen und der damit verbundenen gleichen „Chance der heutigen, aktuellen Minderheit, zur Mehrheit von morgen zu werden“88, erscheint das Mehrheitsprinzip als legitimer Kompromiss.89 Die bei Schmitt im Rahmen eines Szenarios der unbeschränkten Tyrannei der Mehrheit geschilderten Probleme treten in der Demokratie nicht auf, da das Mehrheitsprinzip nicht bereits auf der Ebene der verfassunggebenden Gewalt gilt, also nicht bei der Frage, was der souveräne Gemeinwille ist.90 Somit besteht nicht die Gefahr, dass eine prozentuale Minderheit schlicht auf legale Weise als „illegal“91, als außerhalb der Rechtsordnung stehend abgetan werden kann. Es geht nicht um die Frage der Zugehörigkeit zur Rechtsordnung, sondern nur um einen Modus der Willensfindung in einzelnen rechtlichen beziehungsweise politischen Fragen. Es könnte keine auf legalem Wege an die Macht gekommene Mehrheit die „Tür der Legalität hinter sich schließen“, denn damit würde sie über die Kompetenz verfügen, die sie schlicht auszuüben hat und die ihr delegiert worden ist.92 Mit anderen Worten: Die Demokratie kann nicht demokratisch abgeschafft werden. Das Mehrheitsprinzip gilt nur im Rahmen der Verfassung, das heißt im Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 109. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 53. Die Grundrechte dienen in erster Linie dem Schutz des Individuums gegen die öffentliche Gewalt. Die Willensbildung der öffentlichen Gewalt hat aber in der Demokratie ihren Ursprung im Majoritätsprinzip. Damit dürfen diese Grundrechte natürlich ihrerseits nicht dem Majoritätsprinzip unterliegen, was nur der Fall ist, wenn sie auf der Ebene der materiellen Verfassung gewährleistet sein können; dazu siehe unten, Kapitel 10 B. I. 5. 87  Vgl. unten, Kapitel 8 F. 88  Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 107. 89  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 28 ff. 90  Schmitt, Legalität und Legitimität, 30 ff. 91  Schmitt, Legalität und Legitimität, 31. 92  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 31, 35. 85  Vgl. 86  Vgl.



B. Das Majoritätsprinzip179

Rahmen der verfassungsmäßig bereits vorgegebenen Werte, insbesondere der Grundrechte.93 Der Gesetzgebungsstaat, wie Schmitt ihn dort schildert, scheint die jeweilige einfache parlamentarische Mehrheit als den Souverän anzuerkennen. Er trennt – jedenfalls in dem dort geschilderten Szenario – nicht zwischen der Frage, wer der Souverän ist, und wer im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung mit der staatlichen Rechtsetzung betraut wird. Dieses Problem der identitären Demokratie ist oben94 bereits in Erscheinung getreten. Die Verfassung beziehungsweise der Souverän ist in der parlamentarischen Demokratie aber der „überdemokratische höhere Drit­ te“95, der gewährleistet, dass die Mehrheit nicht über grenzenlose, absolute Macht verfügt – aber auch dafür sorgt, dass ihr überhaupt irgendeine Macht im rechtlichen Sinne zukommt.96 Das Majoritätsprinzip ist damit logische Konsequenz der Gleichwertigkeit der Stimmen in der Demokratie. Anders ausgedrückt: Das Majoritätsprinzip an sich ist nicht Teil des Demokratieprinzips, es besteht „autonom“ und darüber hinaus. Teil des Demokratieprinzips ist aber immer das Majoritätsprinzip. Anders ausgedrückt: Das Majoritätsprinzip ist nicht auf die Demokratie beschränkt, die Demokratie aber immer auf das Majoritätsprinzip angewiesen. „Schon wegen dieses Ansatzes in der Gleichheit besitzt das Majoritätsprinzip eine Affinität zu demokratischen Strukturen, ohne aber auf diese beschränkt zu sein.“97 Dennoch: Das Majoritätsprinzip ergibt sich nicht automatisch: Es bedarf der Normierung. Diese kann aber im Rahmen des Demokratieprinzips als mitumfasst angesehen werden. Insofern gehört zum Demokratieprinzip die Geltung des Mehrheitsprinzips als Kompromiss zur Willensfindung des Volkes.98 Charakteristisch für das Wesen des Mehrheitsprinzips als Teil des Demokratieprinzips ist folglich, dass mehrheitlich beschlossenes Recht nicht hinreichend legitimiert ist dadurch, dass es mehrheitlich beschlossen worden ist. Das Mehrheitsprinzip ist ein normiertes Verfahren, das selbst keinen unmittelbaren Bezug zur Sphäre des Seins aufweist, in der nach der Legitimität von rechtlicher Geltung zu suchen ist. Mehrheitsrecht ist legitim, weil es verfassungsgemäß ist, weil es der seine Erzeugung regelnden Norm entspricht. Recht ist nicht Recht, weil es dem auch Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 54. oben, A. II. 95  Schmitt, Legalität und Legitimität, 35 (Hervorh. im Original). 96  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 35 f. 97  Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 9. 98  Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 224; vgl. auch Höreth, Warum sich das Vereinte Europa mit der Demokratie schwer tut, 81: „Die mit dem Demokratieprinzip verbundene Einführung des Mehrheitsprinzips“; vgl. auch Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 751: „Denn die Mehrheitsregel ist nicht Geltungsgrund der demokratischen Ordnung, sondern deren Entscheidungstechnik.“ 93  Vgl. 94  Vgl.

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Kap. 7: Recht und Demokratie

Willen der Mehrheit entspricht. Ansonsten wäre der Wille der Mehrheit automatisch Recht, die Mehrheit könnte also nie rechtswidrig handeln.99 Recht ist Recht, weil es der übergeordneten Rechtsebene formell und materiell entspricht. Die dem Mehrheitsprinzip innewohnende legitimatorische Wirkung hat daher keine rechtliche legitimatorische Wirkung oder sonstige rechtliche Wirkung, sofern sie nicht positiv in Kraft gesetzt wird als rechtsetzender Tatbestand. Die Begründung der Geltung des Majoritätsprinzips lautet damit wie folgt: Dem Prinzip wohnt ein materiales Gerechtigkeits- oder Legitimitätsmoment inne, das allein seine Geltung nicht zu begründen vermag. Die Geltung jedoch gründet positivistisch in verfassungsmäßiger Anordnung durch den Gemeinwillen als Teil des Demokratieprinzips.100

II. Die einfache Mehrheit als Wesensmerkmal der Demokratie – „demokratische Legitimität“ Geht man unbedarft an den Begriff der „Mehrheit“ heran, so versteht man ihn in der Regel als „mehr als die Hälfte einer bestimmten Menge“. Es ist auch kein Zufall, dass für das einfache Gesetzgebungsverfahren im Grundgesetz gemäß Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich gerade das Prinzip der einfachen101 Mehrheit gefordert wird. Dieser einfachen Mehrheit (und nur dieser) wohnt tatsächlich ein bestimmtes Gerechtigkeitsmoment inne, welches aber trotzdem – wie mehrfach betont – alleine nicht in der Lage wäre, Recht zu legitimieren. Dieses Prinzip ist Bestandteil des Kerns „demokratischer Legitimität“. Es bedarf der normativen Entscheidung für dieses Prinzip. Die Demokratie als Entscheidung durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes trifft aber die Entscheidung für gerade dieses, ein bestimmtes Gerechtigkeitsmoment beinhaltende Prinzip der einfachen Mehrheit. Diesem Gerechtigkeitsmoment ist entsprochen, sobald eine einfache Mehrheit erSchmitt, Legalität und Legitimität, 28, 30. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 84: „Richtig bleibt es allerdings, die rein rechtliche Geltung des Mehrheitsprinzips in den Normen der Verfassung anzusiedeln.“ 101  Es ist die einfache Mehrheit, nicht die absolute, auf die die folgende Darstellung passt. Versteht man (wie in der Terminologie des Grundgesetzes) unter der einfachen Mehrheit die Mehrheit aller Abstimmenden, unter der absoluten die Mehrheit aller Stimmberechtigten, so berücksichtigt die absolute Mehrheit lediglich zusätzlich die nicht Abstimmenden. Bei Sachfragen, also Ja / Nein-Abstimmungen, um die es hier im Wesentlichen geht, können diese aber unberücksichtigt bleiben, da hier nur ein nicht Abstimmen aus mangelndem Interesse in Betracht kommt. Jedem kann entweder ein Dafür oder ein Dagegen zugemutet werden. Mangelndes Interesse darf aber legitimerweise unberücksichtigt bleiben. 99  Vgl.

100  Vgl.



B. Das Majoritätsprinzip181

reicht ist, und es wird nicht durch ein höheres Maß an Zustimmung gesteigert. Dieser Entscheidung auf Verfassungsebene kann sich eine verfasste Gewalt nicht ohne Weiteres entziehen. Das hat Folgen für die Bewertung anderer Mehrheitsquoren, insbesondere der Zweidrittelmehrheit, wie die An­ wendung dieses Gedankens auf das Grundgesetz später zeigen wird. Die Bedeutung der Zweidrittelmehrheit als Voraussetzung für Verfassungsänderungen ist bereits 1932 durch Carl Schmitt in dessen Werk „Legalität und Legitimität“ einer umfassenden kritischen Betrachtung unterzogen worden. Die grundsätzliche Geltung des Prinzips der einfachen Mehrheit in Abstimmungen für oder gegen ein bestimmtes Vorhaben entspringt der Erwägung, dass die Minderheit bereit ist, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen, sobald dieses Verhältnis besteht. Mehrheit bedeutet aber zunächst nur ein Votum von über 50 %. Im Idealfall gelangt das Mehrheitsprinzip zur Anwendung, wenn über eine konkrete Frage mit Ja oder Nein entschieden wird. Das impliziert, dass die Frage, über die abgestimmt wird, die über die Annahme eines bestimmten Projektes, beispielsweise eines Gesetzvorhabens, ist.102 Es gibt dann in solchen „Sachabstimmungen“ genau zwei Alternativen: Ja und Nein.103 Der eigentliche (bestenfalls mehrheitsfähige) Kompromiss entsteht bereits im Diskurs vor der Abstimmung.104 Bei der Abstimmung gemäß dem Mehrheitsprinzip über diesen Kompromiss geht es lediglich um Zustimmung oder Ablehnung. Bei einer Zustimmung von über 50 % sind auch die übrigen, in dieser Abstimmung die Minderheit bildenden Stimmberechtigten, bereit, sich dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen. Die 50 % als Grenze sind kein zufälliger oder beliebig festgelegter Wert. Sie sind zum einen, das ist offensichtlich, die Grenze der Mehrheit. Der Mehrheit wohnt aber ein Gerechtigkeitsmoment inne, das durch folgenden ­Gedanken zustande kommt: Bei der Abstimmung zählt jeder Wille genau gleich viel. Das ist nicht, wie gezeigt worden ist, seinsmäßig so vorgegeben, im Gegenteil: Einzelne Willen können stärker oder schwächer ausgeprägt sein, für den einen kann die anstehende Entscheidung wichtiger, für den anderen weniger wichtig sein.105 Die Gleichwertigkeit der Stimmen wird normativ fingiert, vorgeschrieben als Teil des Demokratieprinzips. Durch diese Gleichwertigkeit kann jeweils eine Ja-Stimme mit einer vorhandenen Nein-Stimme ausgeglichen und neutralisiert werden und umgekehrt, sodass am Ende dieses Verrechnungs-Gedankenspiels eine bestimmte Masse reiner Ja- oder Nein-Stimmen übrig bleibt. Dasselbe Bild zeichnet Locke in seinen 102  Zu

anderen Formen der Abstimmung vgl. unten, III. auch Schmitt, Verfassungslehre, 240. 104  Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 57; ders., Allgemeine Staatslehre, 324. 105  Vgl. dazu bereits oben, Kapitel 3 D. I. 103  Vgl.

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Kap. 7: Recht und Demokratie

Two Treatises of Government, wenn er sagt, „it is necessary the body should move that way whither the greater force carries it, which is the consent of the majority“.106 Das setzt aber eben auch voraus, dass unter den Abstimmenden genau jene Gleichwertigkeit und Homogenität herrscht, dass jeder den jeweils anderen, sei er auch in der Einzelfrage anderer Meinung, als gleichwertig anerkennt und sogar mehr als das, als Seinesgleichen. Nur dann ist der unterlegene Einzelne bereit, den in diesem Verfahren durch Mitwirkung aller zustande gekommenen Beschluss auch als seinen Beschluss zu akzeptieren. Nur diese gemeinsame Identität, die in der Rechtsordnung aber gerade gegeben ist107, ermöglicht das Ausgleichen entgegengesetzter Stimmen. Diese Rechnung setzt aber eine Grenze bei genau 50 % voraus, weil die Legitimation des Ergebnisses durch Stimmenausgleich nur bei diesem Quorum funktioniert. Das entscheidende Gerechtigkeitsmoment der Mehrheit hat seine Wirkung dargetan in dem Moment, in dem ein einfacher Mehrheitswille besteht. Dieses faktische Stimmenübergewicht auf der Grundlage der gleichen Chance eines jeden, die Mehrheit zu erlangen, beinhaltet die als gerecht empfundene Wertung, die das Mehrheitsprinzip als legitim erscheinen lässt. Ein größerer Anteil an Zustimmung als 50 % kann in demokratischer Hinsicht das Ergebnis nicht legitimer erscheinen lassen.108 Mit den Worten Carl Schmitts: „Überhaupt wäre es eine sonderbare Art von ‚Gerechtigkeit‘, eine Mehrheit für um so besser und gerechter zu erklären, je erdrückender sie ist und abstrakt zu behaupten, daß 98 Menschen 2 Menschen mißhandeln, sei bei weitem nicht so ungerecht, wie daß 51 Menschen 49 Menschen mißhandeln. Hier wird die reine Mathematik zur reinen Unmenschlichkeit.“109 Deutlicher, da zwei Misshandelte durchaus weniger Unrecht als 49 Misshandelte darstellen und es vielmehr nur um das prozentuale Verhältnis geht, wird der Satz wie folgt: Es erscheint sonderbar zu sagen, wenn 98 Menschen zwei Menschen misshandeln, dann sei das bei weitem nicht so ungerecht wie wenn drei Menschen zwei andere Menschen misshandeln, obwohl in erster Variante sich 98 % der Beteiligten einig sind in dem, was sie tun, während dies im zweiten Fall nur 60 % sind.

106  Locke,

Two Treatises of Government, II, Chapter VIII § 96. Identität und Identifikation ist ja bereits Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Rechtsgemeinschaft in Form einer Rechtsordnung bestehen kann, siehe oben, Kapitel 3 C. 108  Einen offenbaren Widerspruch qualifizierter Mehrheiten zum Prinzip der Gleichheit erkennt auch Krabbe an und infolge dessen spricht er sogar Vorschriften, die qualifizierte Mehrheiten anordnen, jeden Rechtswert ab und hält sie schlicht für unverbindlich, vgl. Krabbe, Die moderne Staatsidee, 85. 109  Schmitt, Legalität und Legitimität, 40; vgl. auch ders., Verfassungslehre, 252; Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 31 f. 107  Diese



B. Das Majoritätsprinzip183

Bei jeder höher (als 50 %) liegenden Grenze wird diese Gerechtigkeitserwägung ad absurdum geführt: Würde beispielsweise 80 %-ige Zustimmung gefordert, so führte eine Zustimmung von 75 % dazu, dass die ablehnenden 25 % sich durchsetzten und die große Mehrheit sich dem Willen einer Minderheit unterwürfe.110 Die Bedenken dagegen liegen auf der Hand.111 Demokratische Legitimität ist zudem keine Größe, die je nach Umfang der Zustimmung linear zunimmt. Ansonsten wäre eine mit 30 %-iger Zustimmung getroffene Entscheidung legitim, eine mit 45 %-iger Mehrheit getroffene Entscheidung legitimer, und eine 60 %-ige noch legitimer. Die demokratische Legitimität beruht nicht auf dem simplen Prinzip „Je mehr Zustimmung, desto legitimer die Entscheidung“, wobei der normierte Wert von „über 50 %“ zufällig als ausreichend normiert wäre. Tatsächlich ist nicht jede Entscheidung mit einem geringeren Maß an Zustimmung weniger legitim, vielmehr legitimiert jede unter 50 % liegende Zustimmung überhaupt nicht mehr die Entscheidung. Vielmehr besteht dann automatisch eine entgegengesetzte Mehrheit, eine Mehrheit gegen die Annahme der Entscheidung. Bei Ja- / Nein-Entscheidungen besteht immer eine Mehrheit. Weniger als 50 % Zustimmung bedeutet automatisch immer eine ablehnende Mehrheit. Sobald aber die 50 % überstiegen sind, kippt metaphorisch gesprochen ein Schalter um und die Mehrheit liegt auf der zustimmenden Seite und somit auch die demokratische Legitimität bei Ja. Wie weit die Zustimmung über 50 % liegt, kann keine Auswirkung auf diese Legitimität haben. Das bloße quantitativ höhere Maß an Zustimmung hat unter legitimatorischen Gesichtspunkten keine Auswirkung auf die Qualität der Entscheidung. Eine mit 40 % „angenommene“ Entscheidung ist nicht bloß um 20 Prozentpunkte oder um ein Drittel weniger legitim als eine mit 60 % angenommene. Sie ist überhaupt nicht mehr legitim in demokratischer Hinsicht. Es geht vor allem nicht um eine Annäherung an Einstimmigkeit, da diese hier überhaupt keine Rolle spielt und im Übrigen überhaupt auch erst bei 100 %-iger Zustimmung gegeben ist, aber eben nicht bei annähernd 100 %.112 Natürlich sind zwei Drittel mehr Zustimmung als 51 %, so wie 51 % Zustimmung auch mehr sind als 30 %. Aber diese rein quantitative höhere Zustimmung berührt nicht die demokratische, qualitative Mehrheit der 50 %. Sie wäre relevant, wenn 100 %-ige Zustimmung der Maßstab wäre. Dann 110  Insoweit auch zustimmend Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 10, ders., Allgemeine Staatslehre, 324. 111  Dazu genauer sogleich. 112  In diese Richtung scheint aber Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 55, die besondere Legitimität einer qualifizierten Mehrheit zu erkennen: „Tendenz zur Einstimmigkeit“ (Hervorh. im Original); ebenso Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 144.

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Kap. 7: Recht und Demokratie

könnte man sagen: „Je höher die Zustimmung, umso näher an 100 %, desto höher die Legitimität“. Aber um diesen Maßstab geht es im demokratischen Mehrheitsverfahren nicht. Diese „quantitative Legitimität“ hätte die 100 %-ige Zustimmung als Ideal, nicht das Prinzip der Mehrheit. Um Einstimmigkeit geht es aber in der Demokratie nicht.113 Es liegen also zwei unterschiedliche Prinzipien vor, die nicht einfach miteinander kombiniert werden können: das Ideal der Einstimmigkeit mit seinem spezifischen Gerechtigkeitsmoment und das Ideal der Mehrheit mit seinem spezifischen Gerechtigkeitsmoment.114 Der Widerspruch zeigt sich an folgendem fiktiven Gesetzgebungsvorhaben: Durch einfaches Parlamentsgesetz wird mit 60 %-iger Zustimmung gegen 40 % Ablehnung die Fortsetzung der Atomenergieerzeugung beschlossen. Ein neuer Bundestag beschließt daraufhin mit 80 %-iger Zustimmung den Ausstieg aus der Atomenergie und schreibt dieses Gesetz – die erforderliche qualifizierte Mehrheit ist ja gegeben – ins Grundgesetz. Der darauf folgende Bundestag will nun wieder den „Ausstieg aus dem Ausstieg“ beschließen und erreicht wieder 60 % Zustimmung für ein Verbotsgesetz. Dieses Mal setzen sich aber faktisch die ablehnenden 40 % durch, gegen die Mehrheit von 60 %, da nicht die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit erreicht worden ist.115 Bei dieser letzten Abstimmung wird nun also an dieselbe Frage ein völlig anderer Legitimitätsmaßstab angelegt als bei der vorletzten Abstimmung. Ist das richtig so? Man könnte darauf verweisen, dass eine höhere Ebene diese Frage nun geregelt habe und somit die niedere Ebene nicht mehr die Kompetenz habe, das selbst zu regeln. Aber das würde gemäß dem Demokratieprinzip voraussetzen, dass die höhere Ebene über höhere demokratische Legitimität verfügt. Das ist aber nicht der Fall, denn unter dem Aspekt der demokratischen Legitimität verfügt sie mit ihren 80 % Zustimmung ebenfalls nur über die Legitimität der einfachen Mehrheit, da die Zweidrittelmehrheit im selben Plenum keine höhere demokratische Legitimität verschaffen kann. Dieser Wertungswiderspruch verstößt daher gegen das Demokratieprinzip. Schmitt, auf den trotz seines andersartigen Demokratieverständnisses in Bezug auf die Bedeutung der Mehrheit in der Demokratie durchaus verwiesen werden kann, kommt daher zum Schluss, „unter dieser Voraussetzung der Homogenität [also der StimmenSchmitt, Verfassungslehre, 252. das Plus an Legitimität der qualifizierten Mehrheit darin gesehen wird, dass das Mehrheitserfordernis dadurch „näher an die Einstimmigkeit gerückt“ wird, wie bei Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 126, dann wird dieser unterschiedliche Maßstab verkannt; vgl. auch Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 55. 115  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 50  f.; Grzeszick in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 [Stand: Januar 2010] Rn. 42 f. 113  Vgl.

114  Wenn



B. Das Majoritätsprinzip185

gleichheit und daher -addierbarkeit] läßt sich eine andere Stimmenberechnung als die nach einfacher Mehrheit nicht rechtfertigen“.116 Durch die Orientierung an einer qualifizierten Mehrheit „verläßt man den auf der vorausgesetzten Homogenität beruhenden demokratischen Grundsatz der ­ einfachen Mehrheit, ohne zu irgendeinem neuen Prinzip überzugehen.“117 „Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten für bestimmte Entscheidungen bedeutet in aller Regel weder eine Verstärkung von noch ein mehr an Demokratie.“118 Die qualifizierte Mehrheit ist der Demokratie wesensmäßig fremd. Ein weiteres Argument für das Legitimitätsprinzip der einfachen Mehrheit ist, dass nach diesem Problem eine maximale Handlungsfähigkeit staatlicher Organe gewährleistet ist. Eine einfache Mehrheit besteht latent immer.119 In jeder Sachfrage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann, in jeder Abstimmung über ein konkretes Vorhaben, besteht, wenn keine Mehrheit dafür ist, zumindest eine Mehrheit, die dieses Vorhaben nicht befürwortet. Das ist bei einer Zweidrittelmehrheit nicht der Fall. Zwar ist auch das Quorum von zwei Dritteln immer entweder erreicht oder nicht erreicht, im Falle eines Ergebnisses von 40 zu 60 ist es aber schon im Wortsinne nicht mehr eine Mehrheit, die sich durchsetzt, sondern eine Minderheit. Um bei dem Beispiel des Atomausstieges zu bleiben: Genauer betrachtet ist es nicht das Problem, dass sich in einer Sachfrage die 40 % der ablehnenden Stimmen durchsetzen. Sie setzen ja nicht positiv etwas durch, sie verhindern ja nur negativ eine positive Regelung. Bei Abstimmungen, in denen Einstimmigkeit vorausgesetzt wäre, könnte sogar ein Einziger einen Beschluss verhindern, was man ja auch nicht immer als grob ungerecht empfinden würde. Das Problem ist vielmehr, dass, wenn 60 % für den „Ausstieg aus dem Ausstieg“ (also für die Atomenergie) wären, die faktische Folge ja nicht wäre, dass gar keine Regelung getroffen würde, was man noch verkraften könnte. Es bliebe vielmehr beim Ausstieg aus der Atomenergie. Stellt man sich aber in diesem Moment eine erneute Abstimmung über eben jenen Ausstieg (der dann ja nach wie vor gilt und bekräftigt worden ist) vor, so wären natürlich 60 % dagegen und nur 40 % dafür. Das bedeutet faktisch: Ein Gesetz, das aktuell nicht einmal über die einfache Mehrheit verfügt, gilt – als des Volkes Wille – und ist nicht durch die Mehrheit abänderbar. Das wäre wieder nur dann legitim, wenn dieser beibehaltene Status Quo, 116  Schmitt,

Legalität und Legitimität, 42. Legalität und Legitimität, 44, wobei darin durchaus ein Prinzip, nämlich das Ideal der Einstimmigkeit, erkannt werden kann. Dieses ist allerdings mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar bzw. hat im Rahmen der Geltung dieses Prinzips keine eigene legitimatorische Kraft. 118  Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 53. 119  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 50. 117  Schmitt,

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Kap. 7: Recht und Demokratie

gegen den sich gerade 60 % der Stimmen ausgesprochen haben, über ein höheres Maß an Legitimität als die einfache Mehrheit verfügte. Allein die qualifizierte Mehrheit ist dazu aber ungeeignet. Und den Gemeinwillen kann die Regelung erst recht nicht für sich beanspruchen. Der Schutz von Minderheiten120 kann ebenfalls nicht ohne Weiteres als Rechtfertigung qualifizierter Minderheiten ins Feld geführt werden121 – jedenfalls nicht, ohne der Sachfrage eine besondere, von vorneherein außerhalb des Demokratieprinzips stehende Dimension zuzuerkennen.122 Es dient nicht dem Schutz einer Minderheit, dass diese einer Mehrheit ihren Willen aufzwingen kann. Dieses Wesen der demokratischen Legitimität – dass mehr dafür als dagegen sind – ist deutlich von anderen Bedeutungen abzugrenzen, die der Mehrheit gerade nicht zukommen: Sie stellt keine Vermutung zugunsten des oder auch nur Annäherung an den Gemeinwillen dar. Sie beansprucht auch nicht, ein Indiz, eine Vermutung oder eine Annäherung an irgendeine Wahrheit oder eine Gerechtigkeit, an irgendeine Form „richtigen“ Rechts zu gewährleisten. Die Probleme dieser Vorstellungen – dass eine Mehrheit tendenziell eher „richtig“ liegt als eine Minderheit, dass sie eher in der Lage ist, das Vernünftige zu wollen usw. – liegen in ihrer Inkompatibilität mit dem Begriff des Rechts: Es gibt nicht den Gemeinwillen, der sich in Bezug auf jede einzelne Frage, die ein Staatswesen, eine Rechtsordnung, beantworten muss, seine Meinung bildet. Es gibt auch nicht die objektiv richtige, vernünftige Wahrheit im Hinblick auf jede noch so kleine Einzelfrage, auf die eine rechtliche Antwort gesucht wird. Es gibt überhaupt keine absolute Wahrheit im Recht, da es um Normatives, um die Sphäre des Sollens, geht. Die Gerechtigkeit der Mehrheit erschöpft sich in dem oben dargestellten Kompromiss.123 Schlussendlich kann im Hinblick auf die Zweidrittelmehrheit festgehalten werden, dass es nur Sinn machen würde, eine Frage der einfachen demokratischen Mehrheit nicht zur Disposition zu stellen, wenn die Frage bereits vorentschieden ist und zwar mit einer höheren demokratischen Legitimität als der der einfachen Mehrheit. Diese Voraussetzung erfüllt aber nicht eine Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 53 ff. aber bspw. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 144. 122  Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Rn. 53: „Demokratisch gesehen sind qualifizierte Mehrheiten allenfalls dort gerechtfertigt, wo die Kerngehalte der demokratischen Ordnung selbst in Frage stehen, wie die demokratischen Freiheitsrechte oder Ausformungen des demokratischen Gleichheitsprinzips; ferner als Minderheitenschutz dort, wo für bestimmte Gruppen von Bürgern die vorrechtliche Gemeinsamkeit mit den übrigen Bürgern, die inhaltliche Voraussetzung der Funktionsfähigkeit demokratischer Gleichheit ist, fehlt.“ 123  Vgl. m. w. N., auch zu a. A., Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, 104 f. 120  Vgl. 121  So



B. Das Majoritätsprinzip187

Zweidrittelmehrheit gegenüber einer einfachen Mehrheit in ein und demselben Abstimmungskörper. Sie könnte allenfalls durch einen demokratisch legitimeren Spruchkörper erlangt werden, also etwa als einfache Mehrheit des Volkes gegenüber der einfachen Mehrheit im Parlament. Bedeutsam ist der Satz von Schmitt: „Wenn aus sachlichen Gründen bestimmte Interessen und Gruppen gesichert werden sollen, so muß man sie durch besondere, nicht mehr demokratische Spezialeinrichtungen aus dem demokratischen Willensbildungsprozeß herausnehmen, das heißt sie eximieren und privile­ gieren.“124 Aus diesem Regelfall der einfachen Mehrheit bei Abstimmungen folgt auch, dass jedenfalls dann, wenn keine genauere Benennung eines Quorums vorliegt, die einfache Mehrheit gemeint ist. Sie kann auch als die „demokratische Mehrheit“ bezeichnet werden.125 Die Charakterisierung und Bedeutung des Mehrheitsprinzips in der demokratischen Rechtsordnung ist relevant für die später zu behandelnde Abgrenzung der unterschiedlichen Ebenen der Rechtsordnung (materielles Verfassungsrecht, formelles Verfassungsrecht, einfaches Recht), insbesondere für die Legitimation der Setzung formellen Verfassungsrechts.

III. Bedeutung der relativen Mehrheit Nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Verfassungsänderung, wohl aber mit der abschließenden Würdigung der Mehrheitsproblematik steht die „relative Mehrheit“. Die relative Mehrheit tritt dann in Erscheinung, wenn es um eine Abstimmung zwischen mindestens zwei positiven Optionen geht, das heißt, es geht nicht um die Alternativen Ja oder Nein, sondern das Ja, also dass eine positive Entscheidung getroffen wird, steht bereits fest, es geht nur um die Auswahl unter mehreren Optionen. Typischerweise findet diese Wahl bei Personenwahlen statt, wenn ein Amt unbedingt besetzt werden soll. Hier wird zwingend ein positives Ergebnis herbeigeführt, die Beibehaltung des Status Quo („Nein“) ist keine Option. Eine relative Mehrheit besteht immer. Die relative Mehrheit entfällt auf die Alternative, auf die mehr Stimmen entfallen, als auf jede andere Alternative für sich genommen. Hier kann es 124  Schmitt,

Legalität und Legitimität, 43 f. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 124, dort insbes. 102: „Die absolute Mehrheit ist daher gewissermaßen der Grundtypus aller Mehrheiten.“; vgl. auch Grzeszik in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 [Stand: Januar 2010] Rn. 43: „Daraus folgt, dass Mehrheit im Sinne des demokratischen Mehrheitsprinzips im Grundsatz die einfache Mehrheit ist und Abweichungen von diesem Grundsatz aus demokratischer Perspektive nicht frei erfolgen können, sondern der Rechtfertigung bedürfen.“ 125  Vgl.

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Kap. 7: Recht und Demokratie

vorkommen, dass eine relative Mehrheit zugleich eine absolute Mehrheit ist, nämlich dann, wenn auf eine Alternative mehr als 50 % der Stimmen aller Stimmberechtigten entfallen. Dann kann diese Wahl auch nach der demokratischen Logik als des Volkes Wille gelten, da bei einer Ja / Nein-Abstimmung über diese Alternative eine einfache Mehrheit sicher wäre. Es kommt aber häufig vor, dass eine relative Mehrheit nur scheinbar eine einfache Mehrheit darstellt. Während bei Ja / Nein-Abstimmungen jeder seine Meinung einfließen lassen kann – man ist entweder dafür oder dagegen –, ist das bei mehreren positiven Alternativen nicht der Fall. Hier besteht nicht die Möglichkeit, keine der vorgeschlagenen Alternativen zu wählen, also mit Nein zu stimmen. Selbst wenn, beispielsweise bei einer Personen-Stichwahl, nur zwei Optionen zur Wahl stehen und somit auf die eine Wahlalternative mindestens 50 % der Stimmen entfallen werden, so können doch diejenigen, die mit keiner der beiden Alternativen einverstanden sind, diesem Willen nicht Ausdruck verleihen, außer durch Nichtwahl oder ungültige Wahl.126 Ein Ergebnis von 55 % für eine Option kann also nicht als Wille der Mehrheit des Volkes gelten, wenn nur 70 % der Wahlberechtigten abgestimmt haben, unter den 30 % der Nichtwähler aber 20 Prozentpunkte auf solche entfallen, die nicht mangels Interesse nicht gewählt haben, sondern mangels zustimmungsfähiger Alternative beziehungsweise Nein-Option. Tatsächlich haben in diesem Beispiel 10 % der Wahlberechtigten aus mangelndem Interesse keine Stimme abgegeben; sie können unberücksichtigt bleiben. 20 % hätten mit Nein gestimmt, mangels dieser Option aber ebenfalls nicht abgestimmt. 38,5 % aller Wahlberechtigten haben für Alternative A gestimmt („55 %“) und 31,5 % für Alternative B („45 %“). Hinter dem Ergebnis von „55 % Zustimmung“ stehen daher nur 38,5 % der Wahlberechtigten, wenn man die 10 % der nicht interessierten Nichtwähler ignoriert, nur 42,8 % derjenigen, die sich einen Willen gebildet haben. Das entspricht nicht der Anforderung an eine demokratische Mehrheit. Bei relativen Mehrheiten unter 50 % ist dieses Defizit offensichtlich, bei relativen Mehrheiten von über 50 % ist es zu bedenken. Relative Mehrheiten sind deshalb, in der Regel zumindest, nicht ausreichend demokratisch legitimierend. Problematisch ist, dass nicht unterschieden werden kann zwischen Nichtwählern mangels Interesse und Nichtwählern mangels Befürwortung einer der Alternativen. Eine Stichwahl zwischen zwei verbleibenden Kandidaten ist damit im Wesentlichen nichts anderes als eine Wahl zwischen mehr als zwei Kandidaten und das Ergebnis im Zweifel auch nur eine relative Mehrheit. Um eine demokratische Mehrheit zu bekommen, müsste an Stelle einer Stichwahl eine Abstimmung allein über den Kandidaten abgehalten werden, 126  Vgl. zu diesem Problem um die einfache und die absolute Mehrheit bereits oben, Fn. 101.



B. Das Majoritätsprinzip189

der über die relative Mehrheit und damit über die besten Chancen verfügt. Dann zeigt sich, ob die Mehrheit ihn befürwortet oder ablehnt. Das Problem liegt auf der Hand: Es bestünde die Gefahr, dass niemand gewählt würde. Nun kann es aber notwendig sein, auf das Prinzip der relativen Mehrheit zurückzugreifen. Wie bereits gesehen, liefert sie die Garantie, dass eine Entscheidung herbeigeführt wird. Bei Ja / Nein-Fragen bedeutet ein Nein immer die Beibehaltung des Status Quo, was bei erstmaliger Regelung immer eine Nichtregelung bedeutet, bei der personellen Besetzung eines Amtes immer die Vakanz des Amtes. Befinden wir uns nun in dem Dilemma, dass in Demokratien zahlreiche Posten auf undemokratische Weise besetzt werden und eine Korrektur nur auf Kosten der Funktionsfähigkeit des Staates herbeigeführt werden kann? Nein, das Dilemma besteht nicht. Bei Abstimmungen über Gesetzesvorhaben, die in der Demokratie „vom Volke ausgeübt“ (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) werden müssen, bedarf es nach wie vor der einfachen Mehrheit. Das Prinzip der einfachen Mehrheit gilt für Sachfragen, das bedeutet in erster Linie: Gesetzesvorhaben. Diese zu legitimieren galt es ja, da sie normative Vorschriften enthalten, die das einzelne souveräne Individuum binden sollen. Hier, bei solchen Sachfragen, spielt die relative Mehrheit aber praktisch keine Rolle, es wird ja bei diesen Abstimmungen nicht mit relativer M ­ ehrheit über verschiedene Entwürfe abgestimmt, sondern es kommt zur Ja / NeinAbstimmung über jeweils einen Entwurf. Die relative Mehrheit hingegen kommt bei Personenwahlen zur Anwendung. Hier geht es aber nicht um Sachentscheidungen. Es geht um die Besetzung eines Amtes, das auf rechtlicher Grundlage bereits geschaffen und damit bereits demokratisch legitimiert worden ist. Die Person in einem solchen Amt macht aber keine Gesetze nach freiem Willen. Es handelt sich vielmehr um Positionen, in denen Gesetze ausgearbeitet werden, über die dann demokratisch, also mit einfacher Mehrheit, entschieden wird, oder um Positionen, in denen demokratisch verabschiedete Gesetze administrativ ausgeführt werden, oder um repräsentative Funktionen wie im Amt eines Staatspräsidenten.127 Ein Minister hingegen, der tatsächlich mit Rechtsetzungsbefugnis in Form von Rechtsverordnungen ausgestattet ist, ist nicht nur mit relativer Mehrheit, sondern als Teil der vom Parlament abhängigen Regierung mit absoluter Mehrheit gewählt worden.128 127  Das Amt des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik, dessen Aufgaben allerdings nicht auf den repräsentativen Bereich beschränkt waren, ist ein Beispiel für eine Personenwahl durch eine solche „unechte“ absolute Mehrheit, vgl. Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten v. 4.5.1920, RGBl. 1920, 849, insbes. § 4. 128  Die Wahl des Bundeskanzlers mit relativer Mehrheit gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG bildet die Ausnahme, sie ist demokratisch defizitär. Die Legitimation der

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Kap. 7: Recht und Demokratie

Die Sachentscheidung ist folglich in der Regel bereits vorher getroffen worden oder wird erst nachher getroffen, und zwar jeweils mit demokratischer Mehrheit im Namen des Volkes. Das Amt ist lediglich dazwischen geschaltet mit einem beschränkten Maß an hoheitlichen Befugnissen, das die defizitäre relative Mehrheit als unbedenklich erscheinen lässt.

IV. Legitimitätsmittlung und Legitimitätsstufen Aus der bisher dargelegten Legitimität des Mehrheitsentscheides lässt sich zunächst ableiten, dass Mehrheitsentscheide unter Beteiligung des gesamten Staatsvolks als demokratisch legitimiert gelten können. Einen Schritt weiter gehend lässt sich auch festhalten, dass ein repräsentativ gewähltes Parlament ebenfalls diese Entscheidungen treffen kann, diese Entscheidung aber eine Legitimitätsstufe unterhalb des Volksentscheides zu verorten ist. Jede weitere mehrheitliche Entscheidung, deren Entscheidungssubjekt für sich genommen demokratisch legitimiert ist, kann ebenfalls als demokratisch legitim gelten, wobei die Legitimitätsstufe von der Anzahl und der Art der Legitimitätsmittlungsstufen abhängt.

C. Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Demokratie ein normatives Prinzip ist, das auf Verfassungsebene dem Volk alle Herrschaftsgewalt in der Rechtsordnung zuteilt. Dabei wird der Wille eines jeden Einzelnen als gleichwertig angesehen. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können findet die Willensbildung des Volkes größtenteils im Rahmen des Parlamentarismus und nach den Grundsätzen des Mehrheitsprinzips statt. Dabei wohnt dem Prinzip der einfachen Mehrheit das Moment demokratischer Legitimation inne. Ein höheres Quorum an Zustimmung als das der einfachen Mehrheit vermag kein höheres Maß an demokratischer Legitimität zu vermitteln. Das Mehrheitsprinzip findet die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit erfüllt in einer demokratischen Rechtsordnung, das Demokratieprinzip seine Voraussetzungen wiederum in der Existenz eines souveränen Volkes.

Regierung ist eine der wichtigsten Sachfragen, die das Parlament mit absoluter Mehrheit zu entscheiden hat.

Kapitel 8

Die internationale Dimension – Die Europäische Union als Rechtsordnung? In diesem Kapitel wird ein Exkurs in die international-rechtliche Dimension des bisherigen Konzepts einer von den Begriffen Verfassung, Volk und Staat geprägten Rechtsordnung vorgenommen. Konkret wird dieses Konzept auf die Europäische Union angewandt und so deren Realität mit den das Konzept prägenden Begriffen ins Verhältnis gesetzt.1 Der Zweck liegt in einer weiteren Verdeutlichung und Profilierung der Begriffe Verfassung, Volk und Staat sowie der damit einhergehenden Einordnung der Europäischen Union in diese Kategorien.

A. Der völkerrechtliche Hintergrund Vor einer Anwendung der bisherigen Konzeptualisierung einer Rechtsordnung mithilfe der Begriffe Verfassung, Volk und Staat auf die Europäische Union und ihr Recht bedarf es einiger allgemeiner Betrachtungen des völkerrechtlichen Hintergrundes. Staaten sind oben2 als souveräne, geborene, also originäre Rechtssubjekte identifiziert worden. Damit ist zunächst alles, was auf der Grundlage des souveränen Menschen zu Recht und zur Rechtsordnung entwickelt worden ist, grundsätzlich so auch auf den Staat anwendbar. Das Völkerrecht bezeichnet diese Sphäre des Rechts, die die Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten als Rechtssubjekten behandelt. Hier handeln die Staaten aufgrund ihrer äußeren Souveränität, geprägt vor allem vom Grundsatz der souveränen Gleichheit.3 Die innere Souveränität der Staaten als Person, deren Ausdruck die innerstaatliche Rechtsordnung ist, ist davon nur mittelbar betroffen. Genau wie der Mensch als souveränes Rechtssubjekt von seinen äußeren rechtlichen Pflichten verpflichtet ist, das heißt, er soll sich demgemäß verhalten, muss es aber aufgrund seiner inneren Souveränität 1  Vgl. für eine solche Untersuchung auch Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 32 ff. 2  Vgl. oben, Kapitel 6 A. 3  Vgl. oben, Kapitel 6 A. II.

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Kap. 8: Die internationale Dimension

nicht in einem natürlich-kausalen Sinne, genau so ist der Staat völkerrechtlich auch zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichtet, innerlich aber aufgrund der Souveränität frei, sich so zu verhalten oder eben nicht. Die Trennung von innerer und äußerer Dimension ist die Grundlage eines dualistischen Verständnisses des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht4, das die Konsequenz der hier vertretenen Souveränitätsauffassung ist. Völkerrecht wird hier demnach in ganz klassischem Sinne verstanden als zwischenstaatliches Recht.5 Der einzelne Mensch ist hier nicht Rechtssubjekt, sondern kann vom Völkerrecht nur mittelbar behandelt werden. Er ist im Völkerrecht mediatisiert.6 Ein internationales Recht, das alle Menschen der Welt mit einbezieht, eine auf der Weltbevölkerung basierende Weltrechtsordnung eines Weltstaates sozusagen, ist davon zu unterscheiden. Es wäre als Utopie vorstellbar, eher noch als Koordinationsordnung, eventuell auch als Rechtsordnung im engeren Sinne, aber in der vorliegenden Untersuchung ist Derartiges nicht von Bedeutung. Im klassischen Sinne als Völkerrecht ist ebenfalls eine Koordinationsordnung ohne Weiteres denkbar, die alle Staaten der Welt als koordinierte, gleichrangige souveräne Rechtssubjekte umfasst. Ob in dieser Sphäre auch eine Rechtsordnung im engeren Sinne in Frage kommt, also eine Völkerrechtsordnung mit einem überstaatlichen Souverän an der Spitze, ist theoretisch möglich, praktisch eine interessante Frage, muss hier aber nicht beantwortet werden. Wichtig wäre das insbesondere im Hinblick auf die Frage der Existenz und Begründung von allgemeinverbindlichem Völkerrecht, insbesondere Völkergewohnheitsrecht, neben dem Völkervertragsrecht. Für eine solche Völkerrechtsordnung (inklusive Souverän, inklusive allgemeinverbindlichen Rechts) käme es wohl vor allem auf den aktuellen Stand der viel diskutierten Phänomene einerseits der Konstitutionalisierung im Völkerrecht7 und andererseits der Internationalen Gemeinschaft8 an, also auf die Frage des Fortschritts globaler Integration der Staaten. Als Ausgangspunkt für die Betrachtung des EU-Rechts kann aber die völkerrechtliche Koordinationsordnung als Fundament dienen.

4  Damit ist auch das keine Frage der normativen Regelung durch eine Rechtsordnung, sondern ebenfalls eine Frage des Seins, wie schon oben in der Einleitung angedeutet worden ist. 5  Vgl. Vitzthum in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 5 ff. 6  Vgl. Vitzthum in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 60. 7  Vgl. Vitzthum in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 20, 72. 8  Vgl. dazu insgesamt Proelß, Die internationale Gemeinschaft.



B. Umriss der Problematik193

B. Umriss der Problematik Es soll untersucht werden, ob oder inwieweit die EU eine Rechtsordnung im oben definierten Sinne ist. Da die EU – grob gesagt – sowohl völkerrechtliche als auch (inner-)staatsrechtliche Elemente enthält, sind von vornherein zwei unterschiedliche Richtungen zu unterscheiden: Zum einen kann man sich unter einer EU-Rechtsordnung eine rein völkerrechtliche (Teil-) Rechtsordnung vorstellen. In dieser wären die EU-Mitgliedstaaten die Rechtssubjekte, die, nach völkerrechtlichen Grundsätzen, wie oben9 beschrieben, EU-Recht erzeugten und an dasselbe gebunden wären. Zu denken wäre an einen europäisch-völkerrechtlichen Souverän, der als souveräner Gemeinwille über diesen Mitgliedstaaten stünde, wie das bezüglich der Gesamtheit aller Staaten der Welt angedacht worden ist.10 Der Schwerpunkt der politik- und rechtswissenschaftlichen Diskussion geht aber in die Richtung, das Europarecht und die EU im Hinblick auf eine staatliche oder zumindest staatsähnliche Rechtsordnung zu untersuchen. In einer solchen wären die Menschen der Mitgliedstaaten, wären die EUBürger die Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung. Als Rechtsordnung dieser Art hätte die EU damit auch notwendigerweise eine Verfassung. Daher wird die Frage auch primär anhand der staatsrechtlichen Dimension untersucht. Beide Modelle jedoch treffen das spezifisch „Supranationale“ der EU nicht ganz, da sie, wie eingangs gesagt, Elemente von beidem enthält. Zunächst einmal sei klargestellt, dass in der Diskussion keineswegs oder kaum die Position vertreten wird, die EU sei ein Staat.11 Insbesondere vom Bundesstaat – der Form eines Staates, dem sie wohl noch am nächsten kommt12 – wird die EU ausdrücklich unterschieden.13 Stattdessen hat sich die Bezeichnung des „Staatenverbundes“14 etabliert und soll die Stellung der EU gewissermaßen zwischen völkerrechtlichem Staatenbund und staatsrechtlichem Bundesstaat zum Ausdruck bringen. Die Integration der Mitgliedstaaten sei enger als die von souveränen Staaten in einem Staatenbund, jedoch weniger eng als die von Staaten in einem souveränen Bun9  Vgl.

oben, A. oben, A. 11  Vgl. Nettesheim in Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 1 EUV [Stand: August 2012] Rn. 66. 12  Vgl. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 35. 13  Vgl. nur Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 167; BVerfGE 89, 155 (188) (Maastricht). 14  BVerfGE 89, 155, 181 (186) (Maastricht); BVerfGE 123, 267 (350) (Lissabon); Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 23 Rn. 2; Hobe, Europarecht, § 6 Rn. 16. 10  Vgl.

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Kap. 8: Die internationale Dimension

desstaat.15 Hier wird nun versucht, die Identität der EU anstatt „irgendwo dazwischen“ exakt zu verorten, ihre konkreten Differenzen zum Staatenbund einerseits und vor allem andererseits zum souveränen Staat zu benennen. Dabei wird der Begriff des souveränen Staates als Verkörperung einer souveränen Rechtsordnung, wie er oben16 definiert worden ist, zugrunde gelegt. Voraussetzung für eine Staatlichkeit der EU und für die Einordnung des Unionsrechts als Rechtsordnung wäre als zentrales Element souveräner Staatlichkeit und Ausgangs- sowie Endpunkt der rechtlichen Legitimation ein europäisches Volk. Dieses Volk wäre der Souverän und damit die verfassunggebende Gewalt an der Spitze der EU-Rechtsordnung. Wenn die Legitimation des EU-Rechts letztlich in diesem europäischen Volk als Souverän endet, dann, aber nur dann, würde dieses Recht eine autonome17, also souveräne Rechtsordnung (und damit überhaupt eine Rechtsordnung im hier definierten Sinne) darstellen. Endet der Legitimationsregress des EU-Rechts in etwas anderem, so ist zum einen die Staatsqualität der EU sowie die Qualifikation der Verträge als Verfassung dieser (vermeintlichen) Rechtsordnung zu verneinen, zum anderen stellt sich die Frage, wodurch dieses Recht denn dann legitimiert ist, wenn nicht durch ein europäisches Volk.

C. Legitimation des EU-Rechts Eine Einordnung des Europarechts hat also anhand der Herleitung seiner Legitimation zu erfolgen. Dazu ist zunächst das Primärrecht, anschließend das Sekundärrecht in den Blick zu nehmen.

I. Allgemeines zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht Setzt man voraus, was unstreitig ist, nämlich dass das EU-Recht, und zwar sowohl das Primär- als auch das Sekundärrecht, innerstaatlich gilt, dann ist 15  Vgl. Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 108; Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 23 Rn. 2. 16  Vgl. oben, Kapitel 6 A. I. 17  Zum Begriff der Autonomie einer Rechtsordnung vgl. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 31 ff.; Peters definiert den Begriff in drei Bedeutungen: rechtstheoretische, rechtsdogmatische und rechtssoziologische Autonomie. Der hier verwendete Begriff ist im Sinne der Souveränität, also als rechtstheoretische Autonomie verstanden in dem Sinne, dass eine autonome Rechtsordnung einen Souverän an ihrer Spitze hat, die Geltung dieser Rechtsordnung also nicht aus einer anderen Rechtsordnung heraus legitimiert wird.



C. Legitimation des EU-Rechts195

zum einen die Frage nach dem Geltungsgrund, zum anderen die nach dem Verhältnis zum „normalen“ innerstaatlichen Recht aufgeworfen. Das Verhältnis von EU-Recht zu deutschem Recht kann aber schon im Ausgangspunkt nicht das zwischen zwei originären, autonomen, selbstständigen Rechtsordnungen sein. Würde beides nebeneinander konkurrieren, so könnte das Verhältnis naturgemäß nur von einer dritten, beiden Rechtsordnungen übergeordneten Norm bestimmt werden. Eine solche Norm ist erstens nicht ersichtlich, zweitens wiederum auch nicht denkbar, denn mit einer gemeinsamen übergeordneten Norm müssten beide Rechtsordnungen wiederum Teilordnungen ein und derselben Rechtsordnung sein. Konkurrieren zwei Rechtsordnungen tatsächlich, bestehen sie also tatsächlich unabhängig voneinander, so kann aber die Antwort auf die Frage des Verhältnisses weder in der einen, noch in der anderen Rechtsordnung zu finden sein, denn das würde ja bereits eine Befugnis dazu und damit eine Überordnung der jeweiligen Rechtsordnung voraussetzen. Einseitig kann kein Über- und Unterordnungsverhältnis angeordnet werden, das nicht mit demselben Recht von der jeweils anderen Seite in Frage gestellt werden könnte. Eine derartige Antwort setzte damit bereits die Beantwortung der Frage, die sie selbst beantworten soll, voraus. Wenn EURecht und nationales Recht innerstaatlich nicht bezugslos nebeneinander, sondern in einem systematischen (hierarchischen) Verhältnis stehen sollen, dann ist das nur möglich, wenn sich das eine bereits im Ursprung aus dem anderen heraus legitimiert. Dann kann es aber nur so sein, dass das EU-Recht sich aus dem nationalen Recht beziehungsweise aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten heraus legitimiert, da das innerstaat­ liche Recht bereits im souveränen Volk wurzelt. Aus diesem systematischen Gedanken heraus bleibt für die Legitimation des EU-Rechts schon von Anfang an nur die Möglichkeit, dass ihm für jede staatliche Rechtsordnung nur durch eine Inkorporation, durch eine Adaption, zur Geltung verholfen wird. Für die deutsche Rechtsordnung wird dieser systematische Zusammenhang im Folgenden näher betrachtet.

II. Die Legitimation des Primärrechts Zum europäischen Primärrecht gehören in erster Linie die Gründungsverträge in ihrer jeweils aktuellen Form, also heute EUV und AEUV, seit Lissabon auch „die Verträge“ (Art. 1 Abs. 3 EUV, Art. 1 Abs. 2 AEUV) genannt. Weiterhin gehören alle sonstigen in Geltung stehenden EU-bezogenen Verträge (die Protokolle) zwischen den Mitgliedstaaten zum Primärrecht.18 Dieses Primärrecht stellt qualitativ jedenfalls in seinem Ursprung 18  Vgl. nur Hobe, Europarecht, § 10 Rn. 6 f.; aufgrund des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes soll sich auf dieses Primärrecht beschränkt werden und ande-

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Kap. 8: Die internationale Dimension

klassisches Völkerrecht dar.19 Es handelt sich um Verträge, die zwischen souveränen Staaten geschlossen werden und diese berechtigen und verpflichten.20 Nur die Vertragsparteien dieser Verträge können folglich die Rechtssubjekte dieses Rechts sein, und das sind allein die Mitgliedstaaten. Soweit in den Verträgen die EU-Bürger angesprochen beziehungsweise mit Rechten und Pflichten bedacht sind, gilt ganz allgemein, wie bei allen völkerrechtlichen Verträgen: Unmittelbar aus dem Vertrag ergibt sich lediglich eine entsprechende völkerrechtliche Pflicht des Vertragsstaates, im Rahmen seiner innerstaatlichen Rechtsordnung diese Rechte und Pflichten umzusetzen. Das kann insbesondere in Form eines nationalen Umsetzungsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG geschehen. Primär gelten diese Verträge also als Völkerrecht in Form von Völkervertragsrecht und binden als solches lediglich die Vertragsparteien. Insoweit stellen sich keine Probleme bezüglich der Legitimation. Was die nationalen Umsetzungsgesetze betrifft, also die Inkorporation dieser Verträge in die innerstaatliche Rechtsordnung, so gelten diese als Teil der nationalen Rechtsordnung. Die Legitimation erfolgt dann über den Stufenbau der Rechtsordnung und mündet über die Verfassung im nationalen Souverän, dem Willen des Volkes. Der europarechtliche Hintergrund dieser Gesetzgebung, die völkerrechtliche Verpflichtung, ist lediglich das Motiv dieser Gesetze. Im Zuge dieser Umsetzung werden die Verträge vom Völkerrecht in das nationale Recht „kopiert“, das bedeutet aber auch, dass sich dabei die Rechtsnatur dieser Kopie ändert. Eine Vertragsbestimmung wie zum Beispiel Art. 21 Abs. 1 AEUV, die einem EU-Bürger ein subjektives Recht (Freizügigkeit) einräumt, stellt in der Form des völkerrechtlichen Vertrages eine Verpflichtung für den Staat dar, erst in der Form des Umsetzungsgesetzes kann sich dann wirklich das subjektive Recht des Bürgers gegenüber dem Träger von Hoheitsgewalt entfalten. Die Transformation des völkerrechtlichen Vertrages (also auch des europäischen Primärrechts) in nationales Recht erfolgt auf dem Wege der Gesetzgebung gemäß Art. 59 Abs. 2 GG. Dieser Weg weist dabei zwei unterschiedliche Dimensionen auf. Er bestimmt zum einen mit Blick auf das Völkerrecht, wer aus innerstaatlicher Sicht befugt ist zum Abschluss der Verträge beziehungsweise inwieweit die Legislative dort eingebunden sein muss.21 Diese Dimension betrifft aber die Wirksamkeit des völkerrecht­ re Rechtsquellen, die, je nach Definition, ebenfalls unter das Primärrecht gezählt werden können oder müssen (z. B. der EURATOM oder die Grundrechtecharta), ausgeblendet werden. 19  Vgl. Klein / Schmahl in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn. Rn. 250; Nettesheim in Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 1 EUV [Stand: August 2012] Rn. 75. 20  Vgl. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, 36. 21  Vgl. Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 59 Rn. 16.



C. Legitimation des EU-Rechts197

lichen Vertrages. Wichtiger ist hier die andere Dimension, in der das Vertragsgesetz für die innerstaatliche Geltung des Vertrages sorgt, also den Rechtsanwendungsbefehl für das nationale Recht enthält.22 In dieser Dimension ist Art. 59 Abs. 2 GG aber deklaratorisch, da die Möglichkeit der nationalen Gesetzgebung nicht durch diesen Artikel begründet wird. Diese Möglichkeit ist vielmehr selbstverständlich vorhanden aufgrund anderer Vorschriften23, zudem notwendig, da für Völkervertragsrecht Art. 25 GG nicht einschlägig ist.24 Art. 59 GG bringt jedoch zum Ausdruck, dass dem Grundgesetz eine dualistische Auffassung über das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht zugrunde liegt.25 Soweit in solchen Verträgen – wie es in den EU-Verträgen der Fall ist – Hoheitsrechte übertragen werden, stützt sich das Vertragsgesetz zusätzlich auf Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG. EU-Primärrecht begründet demnach keine neben dem Völkerrecht oder dem nationalen Recht stehende weitere Rechtsordnung. Es ist kein Verfassungsrecht im materiellen Sinne, keine oberste Ebene einer Rechtsordnung. Das Primärrecht kann allenfalls untechnisch, im Sinne der materiell wichtigsten Normen dieser politischen Union als „Verfassung der EU“ bezeichnet werden.26 Nichts deutet darauf hin, dass es auch nur der Anspruch des Primärrechts wäre, einem europäischen souveränen Volk zu entspringen, einer europäischen verfassunggebenden Gewalt.

III. Die Legitimation des Sekundärrechts Ungleich komplexer ist die Charakterisierung des Sekundärrechts der EU. Nähme man an, die Verträge seien tatsächlich auch eine Verfassung, so deutete alles darauf hin, dass das Sekundarrecht zusammen mit dem Primärrecht tatsächlich eine Rechtsordnung bilden würde: Das Sekundärrecht legitimierte sich normativ aus den Verträgen, es würden mehr oder weniger demokratische Organe, insbesondere ein Parlament, zur Rechtsetzung eingesetzt. Die Verträge bilden jedoch keine Verfassung, sie sind völkerrechtliche Verträge beziehungsweise innerstaatliches Gesetzesrecht. Dennoch kommt das Sekundärrecht auf eine Weise zustande, die in den Verträgen normiert ist. Den in den Verträgen genannten rechtsetzenden Organen der EU ist normativ die Kompetenz zur Rechtsetzung delegiert worJarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 59 Rn. 17. Art. 70 ff., vgl. auch unten, Kapitel 10 B. I. 2. und 8. 24  Vgl. Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 2, 6. 25  Vgl. Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 1a f. 26  Die Problematik wird gut dargestellt von Nettesheim in Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 1 EUV [Stand: August 2012] Rn.  75 ff. 22  Vgl.

23  Insbesondere

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Kap. 8: Die internationale Dimension

den. Das Sekundärrecht leitet damit seine Geltung normativ schlicht von diesem damit „höherrangigen“ Recht ab. Wenn die Geltung des Sekundärrechts sich aber auf diese Weise, namentlich im Zuge einer „Normenhierarchie“, ableiten lässt, dann gehört dieses Sekundärrecht automatisch auch der Rechtsordnung oder Rechtssphäre an, der diejenigen Normen angehören, von denen her es sich normativ legitimiert. Das bedeutet zunächst, dass das Sekundärrecht eine völkerrechtliche Dimension aufweist, dass es die Staaten daher zur Umsetzung, das heißt in dem Fall: zur Anwendung, verpflichtet. Diese Dimension betrifft aber nicht das Spezifische des Sekundärrechts, nämlich nicht dessen unmittelbare Anwendbarkeit. Gleichzeitig gilt es aber neben dieser völkerrechtlichen Dimension auch unmittelbar innerstaatlich, das heißt zunächst: unmittelbar für und gegen die innerstaatlichen Rechtssubjekte, die Bürger der Mitgliedstaaten. In dieser Dimension stellt das Sekundärrecht eine Ausübung von Hoheitsrechten dar, nämlich Rechtsetzungsbefugnis durch EU-Organe. Der innerstaatliche unmittelbare Geltungsgrund ist dabei der innerstaatliche Anwendungsbefehl, im deutschen Recht also Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG, der „die Brücke errichtet, über die Europarecht nach Deutschland fließt“.27 Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG28 in Verbindung mit den auf seiner Grundlage gemäß Art. 59 Abs. 2 GG in das nationale Recht inkorporierten Verträgen erteilen den in den Verträgen geschaffenen Rechtsetzungsorganen Rechtsetzungskompetenz für die nationale Rechtsordnung, die sogenannte begrenzte Einzelermächtigung.29 Die EU-Rechtsetzungsorgane haben damit echte Rechtsetzungskompetenz im Rahmen der nationalen Rechtsordnung, stehen damit gewissermaßen als Gesetzgeber neben dem Bundestag. Für Deutschland leitet sich diese Kompetenz aus dem Grundgesetz ab. Nationale Gesetze, die diese Kompetenzen an die EU übertragen – also das europäische Primärrecht, die Verträge, in ihrer innerstaatlich umgesetzten Form30 – sind gegenüber sonstigem einfachem Recht, das nach Art. 70 ff. GG erzeugt wird, „besonderes“ Recht, da es in der speziellen Verfassungsnorm des Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG fußt.31 Hier wird 27  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 53; ähnlich ders., Europäische Einigung und Verfassungsstaat, 99; vgl. auch Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 33 f.; auch Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, Rn. 51, spricht von einer „normativen Brücke“ zwischen EU-Recht und nationalem Recht. 28  Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist insoweit lex specialis zum älteren und allgemeineren Art. 24 Abs. 1 GG; zu diesem Verhältnis vgl. auch Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 73. 29  Vgl. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 59 f. 30  Vgl. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 65; BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II). 31  Und in diesem speziellen Zweig nationaler Rechtsetzung, gewissermaßen neben dem „normalen“ Gesetzgebungsverfahren gemäß den Art. 70 ff. GG, ist nach



C. Legitimation des EU-Rechts199

neben der normalen Rechtsetzungsdelegierung in Art. 70 ff. GG eine Rechtsetzungskompetenz delegiert, die auch Kompetenzen nach außen übertragen darf. Soweit das Verfassungsrecht selbst davon betroffen ist, ist gemäß Satz 3 sogar eine Änderungskompetenz vorgesehen.32 In Art. 23 Abs. 1 GG ist es also hineinzuinterpretieren, dass das EU-Recht, wenn es denn einschlägig ist, im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießt – auch vor formellem Verfassungsrecht –, aber eben nur so lange, wie das von der innerstaatlichen Rechtsordnung gewollt, geduldet ist.33 Damit ist in Art. 23 Abs. 1 GG eine normative lex-superior-Regel hineinzulesen, wie sie oben34 im Stufenbau der Rechtsordnung beschrieben worden ist. Passender als der Begriff der „Übertragung von Hoheitsrechten“ wäre freilich die „Einräumung von Rechtsetzungsbefugnis“.35 Gegen eine Bezeichnung oder Klassifizierung dieser Einräumung als „echte Delegation“36 von Rechtsetzungsbefugnis (sogar mit Änderungskompetenz) spricht jedoch nichts, da die Kompetenz-Kompetenz in diesem Verhältnis, also die Entscheidung über diese Delegierung, stets dem nationalen Recht vorbehalten bleibt.37 Entscheidend ist aber, dass die innerstaatliche Geltung des Sekundärrechts letztlich in der nationalen Verfassung begründet ist, dass der Anwendungsbefehl letztlich aus der nationalen Rechtsordnung stammt, das Sekundärrecht sich somit letztlich vom nationalen Souverän (für die jeweilige innerstaatliche Geltung) her legitimiert.38 Es entsteht außerhalb des hier vertretener Auffassung auch der Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht zu erklären. Dieser Vorrang ist durch die Verfassung angeordnet in dem Verhältnis des spezielleren Art. 23 Abs. 1 GG gegenüber den generellen Art. 70 ff. GG. Art. 23 Abs. 1 GG, verstanden als spezielle Normsetzungsdelegierung auf der Ebene des formellen Verfassungsrechts, im Zusammenhang mit der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausgelegt als „amending power“ (Änderungskompetenz, vgl. Kapitel 9 B. II. 4.), erklärt den Vorrang des EU-Rechts vor allem nationalen Recht außer dem materiellen Verfassungsrecht, und zwar einen Vorrang von Gnaden des nationalen Rechts. 32  Die Änderungskompetenz kann sich freilich nur auf das Verfassungsrecht im formellen Sinne beziehen. 33  Dazu ausführlich Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 82 ff. 34  Vgl. oben, Kapitel 2 C. V. 35  Vgl. auch Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 61 f. 36  Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 65. 37  Die EU verfügt über Autonomie im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen, aber eben nicht über Originarität; dies betont auch Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 64 f. 38  So auch BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II), das hier ebenfalls den Geltungsoder Anwendungsvorrang begründet: „Ein innerstaatlicher Geltungs- oder Anwen-

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staatlichen Bereiches, wird aber mittels einer Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für dieses Recht inkorporiert und damit zu innerstaatlichem Recht.39 Zwar nicht das ganze Wesen der EU erfassend und etwas uncharmant ausgedrückt, aber das hier Entscheidende treffend, könnte man die EU als eine Internationale Organisation bezeichnen, an die die Mitgliedstaaten Rechtsetzung in begrenztem, insgesamt aber sehr weitreichendem Umfang outsourcen.

D. Konsequenz für die Frage der Rechtsordnung – die no-demos-These Diese Zugehörigkeit des Europarechts zum Völkerrecht zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und zu den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen andererseits bedeutet, dass es keine autonome, in dem Sinne souveräne EU-Rechtsordnung gibt. Das in allen EU-Mitgliedstaaten für den einzelnen Bürger geltende EU-Recht ist nicht ein Komplex von Rechtsnormen höheren und niedrigeren Ranges, die ihre Legitimität aus einer besonderen „europäischen Rechtsquelle“ beziehen und welcher die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten irgendwie „von außen“ beeinflussend stören könnte, Anwendungskonflikte zweier Rechtsordnungen hervorrufen könnte. EU-Recht entspringt keiner europäischen originären öffentlichen Gewalt.40 Es gilt in den Mitgliedstaaten jeweils als Teil der eigenen Rechtsordnung, und eventuelle Normkonflikte sind mit der üblichen Methodik innerhalb der nationalen Rechtsordnungen zu lösen.41 Der Begriff „EU-Recht“ hat also keine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Legitimation dieses Rechts oder im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung; in dieser Hinsicht ist EU-Recht Völkerrecht und nationales Recht. Er beschreibt einen bestimmten Komplex von Normen, die thematisch zusammenhängen, deren Entstehung gewisse gemeinsame Motive hat und die in einem bestimmten dungsvorrang ergibt sich allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl.“; vgl. auch BVerfGE 89, 155 (190) (Maastricht): „Die Bundesrepublik Deutschland ist somit auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann.“ 39  Vgl. BVerfGE 37, 271 (280) (Solange I); vgl. auch Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 61. 40  Vgl. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 64, 71. 41  Vgl. bereits Fn. 31; m. E. ist der entscheidende Punkt für die Frage des Verhältnis von Europarecht zu (sonstigem!) nationalem Recht das Verhältnis von Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG zu den Art. 70 ff. GG.



D. Konsequenz für die Frage der Rechtsordnung201

politischen Zusammenhang zu sehen sind. Das wesentlich Besondere des EU-Rechts, nämlich die unmittelbare Anwendbarkeit und der Anwendungsvorrang innerhalb der Staaten, ist nicht einer besonderen Qualität dieses Rechts an sich geschuldet, sondern beruht auf den innerstaatlichen Anwendungsbefehlen, ist damit eine Besonderheit von Gnaden des nationalen Rechts. Nach diesem Befund lässt sich festhalten, dass die Europäische Union keine eigene Rechtsordnung ist, erst Recht keinen eigenen Staat verkörpert, eine Verfassung nicht existiert. Die rechtliche Legitimation aller Rechtsakte der EU wird erst durch die Mitgliedstaaten, das heißt durch deren Rechtsordnungen, vermittelt, und so endet der Legitimationsregress jeweils in der Souveränität des Mitgliedstaates, welche ihre Grundlage wiederum in dem jeweiligen Staatsvolk hat. Es existiert nicht ein homogenes (in oben beschriebenem Sinne) europäisches Volk, welches einen europäischen Souverän verkörpern könnte und ihn zur Rechtsetzung und Verfassunggebung legitimiert. Es existiert kein europäischer Ethnos, der der Souverän an der Spitze einer EU-Rechtsordnung wäre, und kein auf diesem Ethnos beruhender Demos.42 Es existieren viele einzelne europäische Völker, die jeweils, über ihre eigene souveräne Rechtsordnung, europäische Rechtsetzung legitimieren. In diesen einzelnen Völkern endet der Legitimationsregress. Die Europäische Union verfügt über lediglich derivative Hoheitsgewalt43, verkörpert also keinen Souverän, der originäre, souveräne Hoheitsgewalt ausüben könnte. Eine Verfassung, die nach oben hergeleiteter Definition unmittelbar dem Willen des Souverän entspringendes Recht darstellt, kann die EU folglich in ihrer heutigen Form nicht haben.44 Nur originäre, dem Souverän unmittelbar entspringende Hoheitsgewalt verfügt über Kompetenz-Kompetenz, kann also eine Verfassung in diesem Sinne setzen. Das kann nur durch ein souveränes Volk geschehen.45 Entsprechend äußerte sich Kirchhof im Zuge der europäischen Verfassungsproblematik 2004 / 2005: „Schließlich 42  Die Betitelung der entsprechenden Argumentationslinie mit dem Begriff der „no-demos-These“ oder „kein-Demos-These“ geht zurück auf Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 96. Nach der hier bevorzugten Terminologie müsste sie eigentlich „noethnos-These“ heißen. 43  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 54: „[…] vor allem wegen ihrer nur mittelbar von den Staatsvölkern (Art. 189 EGV) abgeleiteten Hoheitsgewalt […].“ 44  So auch Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 53 ff. 45  So auch Habermas, der als Beispiel für das Gelingen einer solchen Staatswerdung die Wandlung der USA vom Staatenbund zum Bundesstaat anführt: „Soweit sich andererseits die aus den Einzelstaaten rekrutierte Gesamtheit der künftigen Unionsbürger als das verfassungsgebende Subjekt betrachtete, war der Weg zur Konstituierung eines Bundesstaates frei.“, so habe „die Integration von Staaten die historische Schwelle einer Integration der beteiligten ‚Völker‘ überschritten“, Haber-

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(7.) kann eine Verfassung nach heutigem Verständnis nur demokratisch, also durch die verfassunggebende Gewalt eines demokratischen Volkes hervorgebracht werden, setzt also ein europäisches Staatsvolk in einem kulturellpolitischen Zusammenhalt [das ist die gemeinsame Identität, die das Volk zu einem Souverän macht!] […] voraus. In diesem gegenwärtig unerreichbaren Erfordernis liegt der Grund für das Widerspruchsgebilde eines ‚Verfassungsvertrages‘ “.46 Zurecht nennt Kirchhof dieses Erfordernis „gegenwärtig unerreichbar“, da es keine Frage der Normierung ist, dieses Erfordernis des europäischen Staatsvolks zu erfüllen, sondern eine Frage tatsächlicher Gegebenheit einer solchen Identifikation. Jeder Rechtsakt, der die individuellen Menschen treffen soll, bedarf zwecks rechtlicher Verbindlichkeit des Legitimationsmediums der Mitgliedstaaten47, die diese Legalität vermitteln. Der Legitimationsregress endet gerade nicht in einem gesamt­ europäischen Souverän.48 Auch Badura äußert sich in diesem Sinne: „Der Übergang von den funktionalistischen compétences d’attribution zu einer föderativen Globalisierung könnte jedoch auf eine genuin verfassungsrechtliche Fundierung der europäischen Integration nicht verzichten. Entgegen manchen europapolitischen Antizipationen kann der Schritt von der funktio­ nalen Integration zu einem föderativen Gebilde, äußerstenfalls einem Europäischen Bundesstaat, nicht durch allmählich wachsende Verflechtung und Verdichtung erfolgen, sondern muss dieser Schritt ein konstitutiver Begründungsakt sein, ein Vorgang der Verfassunggebung durch eine wie immer zu denkende europäische verfassunggebende Gewalt.“49 Der entscheidende, unbedingt erforderliche Schritt zur Staatlichkeit beziehungsweise zur Schaffung einer Verfassung als der Spitze einer eigenen Rechtsordnung ist die Schaffung der verfassunggebenden Gewalt eines europäischen Volkes durch gemeinsame Identifikation als ein Volk.50 Dass überhaupt eine kulturelle mas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im su­ pranationalen Gemeinwesen, 172. 46  Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 53, er verwendet dabei den Begriff des Demokratischen im Schmittschen Sinne, vgl. dazu oben, Kapitel 7 A. II. Gemeint ist das Prinzip der Volkssouveränität. 47  Genauer gesagt: des Zustimmungsgesetzes; genauso auch Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 55. 48  Im Ganzen dasselbe Verfassungsverständnis zugrunde legend Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 55: „Bei dieser Legitimationsteilung [durch Mitwirkung des Europäischen Parlaments] bleibt aber das jeweilige Staatsvolk Ausgangspunkt einer auf es selbst bezogenen Staatsgewalt.“, ergänzend: Ebenso bleibt es der Endpunkt; vgl. ebd.: „Derzeit begründet der Unions-Vertrag keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.“ 49  Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 38. 50  Eine Grundlage für diese Argumentationslinie legt bereits Schmitt, der für die Existenz einer zur Demokratie fähigen Nation – was nach hiesigem Verständnis



D. Konsequenz für die Frage der Rechtsordnung203

Identitätsgrundlage in Europa vorhanden sei, ist zwar nicht zu leugnen, jedoch ist „diese aber in ihrer verbindlichen Wirkung bisher nicht vergleichbar mit den nationalen Identitätskonstruktionen“51. Die Identität, wie sie in den Nationalstaaten zur Grundlage der jeweiligen Rechtsordnung geworden ist, lässt sich „mittelfristig nicht auf europäischer Ebene wiederholen.“52 Die dafür notwendigen, nichtnormativen Voraussetzungen „lassen sich auch nicht einfach durch Willensakt schaffen“.53 Über genau diese Unzulänglichkeit eines Willensaktes sind oben54 bereits die klassischen Vertragstheorien zur Staatsbegründung gestolpert. Für die deutsche Rechtsordnung würde das ein Aufgehen des deutschen Volkes in einem europäischen Volk bedeuten. „Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“, so das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil.55 Das ist mehr als nur eine Betätigung oder Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes56, es ist Neuidentifikation der verfassunggebenden Gewalt, das heißt eine Selbstaufgabe als Souverän und damit die grundlegendste Form der Revolution überhaupt.57

untrennbar mit der Frage nach einer Verfassung verbunden ist – ein „politisches Sonderbewußtsein“ voraussetzt, das auf Merkmalen wie bspw. gemeinsamer Sprache, gemeinsamem geschichtlichem Schicksal oder gemeinsamen Traditionen gründet, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 231. 51  Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 46. 52  Wiencke, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, 46; vgl. auch ders., a. a. O., 47: „Eine stabile politische Identität ist an Voraussetzungen wie eine funktionierende politische Öffentlichkeit, eine politische Kultur und eine gemeinsame Zivilgesellschaft gebunden, die in der EU noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind.“ 53  So in diesem Zusammenhang Kielmannsegg, Integrationsziel Politische Union, 33. Er bringt das entscheidende, im Dualismus zwischen Sein und Sollen begründete Hindernis einer europäischen Verfassung nochmal auf den Punkt: Die „gesellschaftlich-politischen [Voraussetzungen eines parlamentarischen demokratischen EU-Staates], über die man nicht einfach Beschluss fassen kann, [sind] aber eben nicht [gegeben]“. 54  Vgl. oben, Kapitel 3 B. IV. 55  BVerfGE 123, 267 (348) (Lissabon). 56  Vgl. aber Polzin, Irrungen und Wirrungen um den Pouvoir Constituant, 89 f.; vgl. auch Klein, Integration und Verfassung, 169. 57  Vgl. unten, Kapitel 9 A. I.

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Kap. 8: Die internationale Dimension

E. Keine (Bürger-)Verfassung auf völkerrechtlichem Fundament Durch völkerrechtlichen Vertrag zwischen souveränen Staaten kann keine Verfassung als oberste Rechtsebene einer Rechtsordnung zwischen souveränen Menschen zustande kommen. Die Verfassung lässt sich nicht von Staaten, also Völkerrechtssubjekten, ableiten, sondern nur vom Souverän selbst unmittelbar geben. Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage58 einer Union kann niemals, so eng die fortschreitende Integration auch würde, ein Staat, eine Rechtsordnung, eine Verfassung entstehen.59 Die Souveränität der Mitgliedstaaten wird auch nicht durch Kompetenzübertragungen ausgehöhlt oder geteilt. Eine politische Einheit kann entweder über Souveränität verfügen oder nicht über Souveränität verfügen. Sie ist entweder ein Staat oder kein Staat – tertium non datur. Die Souveränität ist aber eben nicht teilbar, ebenso, wie sie unveräußerlich ist.60 Im Kontext der Europäischen Union teilen die Mitgliedstaaten mithin Kompetenzen, nicht aber ihre Souveränität. Und so kann aus der EU nach ihrer heutigen Konzeption auch niemals ein Staat mit eigener Verfassung werden. Ein Staat kann nur von unten, vom Volk her, entstehen, niemals aber von oben. Als Bismarck das Deutsche Reich 1871 durch Einigung „von oben“ gegründet hat, da handelte es sich lediglich um den letzten formellen Vollzugsakt. Die notwendige Voraussetzung in der Sphäre des Seins, das Staatsvolk „unten“, war bereits vorhanden.61

F. Probleme der Demokratisierung der EU – Ausdruck des nicht vorhandenen europäischen Volkes Dass tatsächlich zum heutigen Zeitpunkt ein europäisches Volk nicht existent ist und sich das gesamte Europarecht nicht von einem solchen ableiten lässt, tritt – neben dem vielleicht besten Argument, nämlich dem inauch Klein, Integration und Verfassung, 167. diese Richtung auch Habermas, der sagt, eine EU in Form eines Staates könne „erst dann den Legitimationsbedingungen einer Demokratie [und damit eines Staates] genügen, wenn der heute eingespielte Vorrang des Intergouvernementalismus vor der Gemeinschaftsmethode abgeschafft wird“, Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 185. 60  Vgl. Voigt, Den Staat denken, 69. 61  So auch Kirchhof, Europäische Einigung und Verfassungsstaat, 88; es gab schließlich bereits vor 1871 auch in der Sphäre des Volkes ein jahrzehntelanges Streben der Deutschen nach Einheit in einem Nationalstaat, das seinen vorläufigen Höhepunkt in der Deutschen Revolution von 1848 / 1849 fand; anders aber Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 113, wenn er sich auf die Reichsgründung 1867 / 1871 bezieht. 58  Vgl. 59  In



F. Probleme der Demokratisierung der EU205

dividuellen Gefühl eines jeden, der sich selbst fragt – an einigen Stellen konkret zu Tage. Trotz der Erkenntnis, dass die Europäische Union kein Staat sei, ist man gerade wegen der letztlichen unmittelbaren Geltung des EU-Rechts für die einzelnen EU-Bürger darum bemüht, innerhalb dieses Normenkomplexes – der ja faktisch außerhalb der parlamentarischen demokratischen Rechts­ erzeugungsmechanismen der Mitgliedstaaten entsteht, durch diese lediglich adaptiert wird – bereits bei der Entstehung des EU-Rechts demokratische Strukturen zu wahren beziehungsweise aufzubauen. Was die deutsche Rechtsordnung angeht, so besteht geradezu eine Verpflichtung dazu, nicht nur aufgrund des Auftrages in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, sondern auch aufgrund der bloßen Vorgabe des materiell-verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips, das die gesamte Rechtsordnung, auch den inkorporierten Teil, in die Pflicht nimmt.62 Gerade in den Versuchen der Demokratisierung der EU-Rechts-Erzeugung zeigt sich aber auch die Unfähigkeit der EU zum Staat, nämlich in der (momentanen) Unmöglichkeit letztlicher Demokratiedurchsetzung63: EU-Recht entsteht zunächst als Völkerrecht und dabei gilt grundsätzlich Stimmengleichheit zwischen den souveränen Staaten. Da es aber eins-zu-eins automatisch qua Anwendungsbefehl in nationales Recht umgesetzt wird, besteht – mit Rücksicht auf die nationalen demokratischen Rechtsordnungen – das Bedürfnis einer Mitwirkung nicht nur der Staaten, sondern auch der Staatsvölker, im Sinne der jeweils dahinter stehenden Menschen. Dies wird zum einen mit dem europäischen Parlament berücksichtigt, zum anderen mit der Stimmenverteilung im Rat. Das Parlament, als Vertretung der Völker Europas (und eben nicht des europäischen Volkes!) besteht daher nicht aus gleich vielen Abgeordneten aller Staaten, wie es völkerrechtlichen Grundsätzen entsprechen würde. Es wird hier die Größe der Völker berücksichtigt, sie spiegelt sich in der Anzahl der Abgeordneten wieder. So wird ein Schritt getan in Richtung demokratischer Struktur, ja sogar in Richtung eines wahren Parlaments eines europäischen Volkes. Ein Staat wie Deutschland ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht bereit, dass dort beispielsweise Luxemburg ebenso gewichtig und effektiv mitreden darf 62  Vgl.

dazu unten, Kapitel 10 B. I. 2. den Zusammenhang zwischen Demokratie als normative Ausgestaltung innerhalb einer Rechtsordnung und Volkssouveränität als Entstehungsvoraussetzung für eine Rechtsordnung ist oben, Kapitel 7 A. I., hingewiesen worden. Demokratie ist jedenfalls die normative Nachahmung des Prinzips der Volkssouveränität im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung. Das Demokratieprinzip ist auf das Vorhandensein eines souveränen Volkes angewiesen bzw. wird zumindest stark begünstigt. Insoweit können Probleme beim Aufbau demokratischer Strukturen innerhalb der EU im Zusammenhang stehen mit Problemen bei der Zugrundelegung des Prinzips der Volkssouveränität bei der Genese dieses Rechtssystems. 63  Auf

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wie das eigene, mehr als hundert Mal so große Volk. Das würde zwar völkerrechtlichen Grundsätzen entsprechen – one state, one vote64 –, aber wäre angesichts der Bedeutung der Aufgaben des Parlaments demokratischen Rechtsordnungen nicht zumutbar. Eine wirkliche demokratische Vertretung eines europäischen Volkes wäre das Parlament jedoch erst dann, wenn Proportionalität der Stimmen herrschte, wenn also das Gewicht der Luxemburger im Parlament tatsächlich im selben Verhältnis zur Größe dieses Landes stünde wie das Gewicht der deutschen Abgeordneten zur Größe Deutschlands.65 Erst dann könnte man von Repräsentation66 sprechen. Genau dazu sind die kleineren und ganz kleinen Staaten aber nicht bereit, stattdessen herrscht im Europaparlament das Prinzip der degressiven Proportionalität.67 Als Parlament eines Volkes müsste exakte Proportionalität herrschen, genau dazu müsste die Identifikation aller Europäer untereinander als ein Volk vorhanden sein. Dann wäre es dem Luxemburger egal, dass statt zweier Luxemburger Kollegen neben ihm zwei Deutsche sitzen würden, denn er würde sie gleichermaßen als „Seinesgleichen“ wahrnehmen, die ebenso gut dieselben Interessen wie er oder seine luxemburgischen Kollegen vertreten könnten. An die Stelle der im Parlament vertretenen Nationalvölker träte dann das europäische Volk, mit dem sich ja die Luxemburger gerade identifizieren würden; so wie beispielsweise das Land Freie Hansestadt Bremen es auch akzeptiert, als eigenständiges Land im Bundestag eine entsprechend seiner Bedeutung kleine Rolle, also praktisch keine eigenständige Rolle mehr, zu spielen.68 Ein solches Parlament des europäischen Volkes würde sich vom heutigen EU-Parlament durch das entscheidende Merkmal der gleichen Wahl unter64  Vgl.

etwa Art. 18 Abs. 1 UN-Ch. Grundsatz der gleichen Repräsentation der wahlberechtigten Bürger gilt allgemein als unverzichtbares Legitimationserfordernis einer (demokratischen) parlamentarischen Volksvertretung, so auch Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 167. 66  Vgl. oben, Kapitel 7 A. V. 67  Vgl. auch Frenz, 3 %-Klausel als europäischer Mindeststandard beim Wahlrecht, 963: „Damit [mit der degressiv proportionalen Verteilung der Sitze] spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes immer noch der Charakter der Union als Staatenverbund.“ 68  Das Beispiel mit Luxemburg im Rahmen der EU zeigt abermals, dass die gemeinsame Identität eines einer insoweit homogenen Menschenmenge die Existenz eines Volkes als Grundlage eines Staates ausmacht. Ein ähnliches Beispiel bringt Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 100 f.: Er denkt sich einen Anschluss Dänemarks an Deutschland, wodurch aber keineswegs automatisch die Identifikation der Dänen mit dem deutschen Volk einherginge. Die Herrschaftsform der Demokratie wäre dadurch gestört, weil das Parlament, wenn es die Dänen proportional repräsentierte, dennoch nicht mehr ein Volk repräsentieren würde. 65  Der



F. Probleme der Demokratisierung der EU207

scheiden. Von einer solchen Bereitschaft sind die europäischen Völker jedoch zurzeit weit entfernt, die tatsächliche Integration eines europäischen Volkes ist in der Sphäre des Seins nicht derart weit fortgeschritten.69 Dies zeigt sich nicht zuletzt auch am Fehlen einer trans-europäischen Partei, die die Interessen im Namen aller Europäer wahrnähme.70 Und somit bleibt das EU-Parlament eine Vertretung der europäischen Völker und somit ein völkerrechtliches Organ, das jedoch durch teilweise Berücksichtigung der Gewichtung der einzelnen Völker bemüht ist, der Organisation einen demokratischen, staatsähnlichen Anstrich zu geben. Analog dazu gilt bei der Stimmenverteilung im Europäischen Rat das Prinzip der degressiven Proportionalität. Allerdings ist es in einem föderalen Bundesstaat, wie man am Beispiel des Bundesrates in der Bundesrepublik Deutschland sehen kann und wie es aus Sicht der Gliedstaaten auch nachvollziehbar ist, durchaus üblich und kein Widerspruch zur souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates, dass in einer Länderkammer die (begrenzte) Eigenständigkeit der Gliedstaaten gewahrt wird. Das Prinzip der degressiven Proportionalität kann also als Ausdruck des Kompromisses gesehen werden, den die EU bewältigt im Spagat zwischen zwei Polen: Den einen Pol bildet das Prinzip der Staatengleichheit als Konsequenz einer zwischenstaatlichen Organisation auf völkerrechtlichem Fundament. Den anderen Pol bildet das Demokratieprinzip, das als demokratischer „Anstrich“ Eingang in die EU findet, da gewisse Ähnlichkeiten zu einem Staatsgebilde bestehen (insbesondere faktisch unmittelbare Geltung des autonom erzeugten71 EU-Rechts in den staatlichen Rechtsordnungen), wobei dieser zweite Pol – solange kein europäisches Volk existiert – diesen Spagat niemals zu seinen Gunsten beenden könnte. Die Berücksichtigung der Größe der Mitgliedstaaten in Form des Prinzips der degressiven Proportionalität ist demnach eine Konzession des völkerrechtlichen Prinzips der Staatengleichheit an das Demokratieprinzip, veranlasst durch die Staatsähnlichkeit der EU. 69  Dieser Ansicht ist auch Kielmannsegg, Integrationsziel Politische Union, 32 f. Er setzt für die Entstehung eines europäischen Volkes eine „Kommunikationsgemeinschaft“ voraus, deren Voraussetzungen „[i]m Großraum Europa allenfalls rudimentär gegeben [seien]“. Insoweit übereinstimmend auch noch Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 176: „Vor allem relevant ist jedoch der Mangel an reziprokem Vertrauen, das die Bürger verschiedener Nationen zueinander haben müssten, um bereit zu sein, in der politischen Willensbildung über gemeinsame föderale Angelegenheiten eine nationale Grenzen überschreitende gemeinsame Perspektive einzunehmen.“ 70  So auch Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 107; die kurzzeitig bestehende Partei „Libertas“ sei erwähnt. 71  Vgl, Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 69.

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Kap. 8: Die internationale Dimension

G. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – Ausdruck der einzelstaatlichen Souveränität Die Struktur des Fundamentes souveräner Staaten und der Nichtstaatlichkeit der Europäischen Union kommt für den Mitgliedstaat Deutschland auch in der Identitätsgarantie des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 S. 1, 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2, 3 GG) zum Ausdruck sowie darin, dass die Kompetenz-Kompetenz bezüglich der Frage der Einzelermächtigungen an die EU auf Seiten des Mitgliedstaates liegt.72 Dieser Mechanismus ist die mitgliedstaatliche Legitimationsgrundlage des EU-rechtlichen Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 EUV. Im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge bleiben.73 Das bedeutet nichts anderes, als dass die Staaten die Kompetenz-Kompetenz innehaben und sie somit souverän bleiben.74 Die EU kann nicht aus eigener, ihr kraft Natur anhaftender Kompetenz, tätig werden. Dazu bedürfte sie eines souveränen Volkes, das ihr diese souveräne Hoheitsgewalt vermitteln könnte. Solange hingegen aufseiten der Mitgliedstaaten souveräne Völker existieren, kann nicht zugleich ein souveränes europäisches Volk bestehen. Und selbst wenn seitens aller souveräner Mitgliedstaaten alle Kompetenzen, die in einer Rechtsordnung zur Verfügung stehen, an die EU delegiert würden, so bliebe die Souveränität dennoch als leere, aber nicht funktionslose Hülle bestehen – sie selbst kann weder delegiert noch geteilt werden, da ihre Existenz eine nichtnormative Frage des Seins ist.75

Streinz in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 23 Rn. 93. Nettesheim in Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 1 [Stand: August 2012] Rn. 69. 74  So auch Habermas, der sagt, im Verhältnis EU – Mitgliedstaaten bestehe „kein Vorrang einer föderalen Letztentscheidungsbefugnis; und die kann es auch nicht geben, solange die Union nicht selbst staatlichen Charakter annehmen soll“, Habermas, Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, 176. 75  Häufig wird gesagt, dass durch umfassende Kompetenzübertragungen durch die Mitgliedstaaten an die EU die Souveränität der Mitgliedstaaten beschränkt würde oder dass die Souveränität zwischen Staaten und EU geteilt würde, vgl. nur Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 23 Rn. 2. Das ist nach der hier vertretenen Souveränitätsauffassung nicht richtig, da die Souveränität eben nicht teilbar ist. Sie liegt vollständig bei den Mitgliedstaaten, solange sie von den einzelnen Staatsvölkern vermittelt wird, unabhängig davon, wie viele einzelne Kompetenzen die Staaten übertragen; vgl. dazu bereits oben, Fn. 37. 72  Vgl. 73  Vgl.



H. Zwischenergebnis209

H. Zwischenergebnis Damit kann das Ergebnis nur lauten, dass die Europäische Union auf der rechtlichen Grundlage, auf der sie heute aufgebaut ist, keine Verfassung hat und auch keine Verfassung haben kann, kein Staat ist und keine Rechtsordnung darstellt.76 Ein Bundesstaat Europa, eine Verfassung Europas, müsste den Ursprung in einem europäischen Volk haben, dessen Existenz keine normative Frage ist, sondern eine aus der Sphäre des Seins. Ein solches europäisches Volk ist politisch nicht ersichtlich.77 Zum Bundesstaat besteht damit eine deutliche Unterschiedlichkeit. Strukturell hat die EU mit ihm nichts gemeinsam, lediglich werden einige Elemente eines Bundesstaates (demokratische Organe) nachgeahmt. Die passendste Beschreibung der Identität der EU ist tatsächlich die eines Staatenverbundes sui generis, da im Gegensatz zu klassischen Staatenbünden auf rein völkerrechtlicher Ebene die EU eine internationale Organisation ist, die über die besondere Kompetenz der unmittelbaren Rechtsetzung in die natio­ nalen Rechtsordnungen hinein ausgestattet ist. Die Organe der EU werden von den nationalen Rechtsordnungen als Rechtsetzungsautoritäten eingesetzt.78 Diese besondere Kompetenz – einmalig in der Rechtsgeschichte – verflicht diese Organisation in der Tat enger mit den nationalen, souveränen 76  Es handelt sich also nicht um eine im rechtstheoretischen Sinne autonome Rechtsordnung, vgl. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 33 ff. 77  Ob ein europäisches Volk eine zukunftsfähige Vision ist und ob diese Vision erstrebenswert ist oder nicht ist eine ganz andere Frage, letztlich politische Geschmacksache. Kielmannsegg steht der Vision skeptisch bis ablehnend gegenüber: „Eine Föderation von beinahe 30 Nationalstaaten, jeder mit seiner eigenen Sprache, seiner eigenen Geschichte, seiner besonderen kulturellen und politischen Prägung, kann nicht ein Bundesstaat im herkömmlichen Verständnis werden.“ „Die Völker Europas sind politisch – unter dem Dach Europas – primär in ihren eigenen Staaten zu Hause, sehen in diesen das Gehäuse ihrer kollektiven politischen Identität.“ „Die Idee einer Staatswerdung Europas geht nicht von den Völkern Europas aus und wird nicht von ihnen getragen.“, siehe für alle Zitate Kielmannsegg, Integrationsziel Politische Union, 35. Auch Joschka Fischer äußerte sich seinerzeit als deutscher Außenminister diesbezüglich skeptisch: „Die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten.“, in einer Rede am 12. Mai 2000 an der Humboldt-Universität zu Berlin, zitiert nach Posener, „Wird Europa ein Bundesstaat? Niemals!“. Weiler unterteilt insofern in die „Noch Nicht-Version“ und in die „harte Version“ der no-demos-These, die eine solche Entwicklung auch für nicht wünschenswert erachtet, Weiler, Der Staat ‚über alles‘, 102. 78  Genauer gesagt werden die Organe Rat und Parlament mit Rechtsetzungskompetenz betraut. Der Europäische Rat hingegen ist im Grundsatz eine Versammlung souveräner Staaten, die aus ureigener Kompetenz (also souverän) tätig werden und auch ohne entsprechende Vertragsbestimmung einstimmig beschließen können.

210

Kap. 8: Die internationale Dimension

Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, als das sonstigen internationalen Organisationen des Völkerrechts eingeräumt wird.79 Man kann auch sagen, dass die EU mit Blick auf ihr völkerrechtliches Fundament im Ausgangspunkt einen Staatenbund darstellt, der sich aber zu einem Staatenverbund („sui generis“) weiterentwickelt, dabei seinen Wesenskern aber beibehalten hat. Damit befindet sie sich auf einem Weg („immer engerer Zusammenschluss“), der allerdings nicht ohne Weiteres in einen Bundesstaat münden kann, unabhängig davon, ob dieses Ziel politisch gewünscht ist oder nicht. Erforderlich dafür wäre die Neukonzeptualisierung einer EU auf dem Verfassungsfundament eines europäischen Volkes. Andernfalls manövriere sich die Europäische Union aus dieser Sicht „geradewegs in einen Quasi-Bundesstaat, dem indessen der strukturelle Unterbau fehlt“.80 Es läuft keine dynamische Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat; beide ruhen auf unterschiedlichem Fundament.81

79  Aufgrund dieser besonderen Verflechtungen und der praktischen Verselbstständigung der EU in vielerlei Hinsicht könnte man mit Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, 39 ff., von einer „rechtssoziologisch autonomen Rechtsordnung“ sprechen; ähnlich auch Klein, Integration und Verfassung, 177: „Die Rechtsordnung der Union ist zwar völkerrechtlich verankert, gegenüber dem Völkerrecht wie dem Recht der Mitgliedstaaten aber autonom.“ 80  Höreth, Warum sich das Vereinte Europa mit der Demokratie schwer tut, 81. 81  Der Staatenbund auf normativem (vertraglichem), der Bundesstaat auf seinsmäßigem Fundament. So ist es in diesem Sinne in den USA auch keine lineare Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat gewesen, vielmehr ist anlässlich der Verfassung von 1787 das Fundament ausgetauscht worden.

Kapitel 9

Die Änderung der Verfassung (abstrakt) Im Gegensatz zur Europäischen Union ist die Staats- und Rechtsordnungsqualität in der Bundesrepublik Deutschland nicht ernstlich zweifelhaft. Bevor aber die genaueren Voraussetzungen der Änderung der Verfassung, das heißt des materiellen sowie des formellen Verfassungsrechts unter Bezugnahme auf das Grundgesetz, untersucht werden, liegt der Schwerpunkt der Betrachtung des Begriffs der Verfassungsänderung in diesem Kapitel auf einer abstrakteren Sichtweise. Zunächst (A.) werden verschiedene Objekte, auf die sich der Begriff „Verfassungsänderung“ beziehen kann, beleuchtet. Anschließend (B.) wird auf die für die vorliegende Untersuchung relevantesten Aspekte der Verfassungsänderung genauer einzugehen sein.

A. Mögliche Objekte einer Änderung Den Begriff der Verfassungsänderung ganz weit verstanden, kommen verschiedene Objekte in Betracht, die einer Änderung unterzogen werden können.

I. Austausch der verfassunggebenden Gewalt Im weitesten Sinne Verfassungsänderung beziehungsweise die grundlegendste Umwälzung der Verhältnisse stellt der Austausch der verfassung­ gebenden Gewalt dar. Die Änderung der verfassunggebenden Gewalt durch eine Neuidentifikation des Volkes ist Revolution.1 Die Verfassung, ja die gesamte Rechtsordnung änderte sich, da das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ein anderes würde und schon allein deshalb die Verfassung, selbst wenn sie inhaltlich gleichlautend bliebe, eine andere würde.2 Die gesamte politische Identität ist eine andere, weshalb die alte Rechtsordnung nicht mehr existiert und statt ihrer eine neue entsteht. In diesem Fall ändert 1  Schmitt,

Verfassungslehre, 94. nennt diesen Fall „Verfassungsvernichtung“, Schmitt, Verfassungslehre, 94, 99, wobei er sich eigentlich auf den (hier nicht behandelten) Fall des Austausches des gesamten Legitimationskonzeptes bezieht, also bspw. den Wechsel von monarchischer Souveränität zu Volkssouveränität. 2  Schmitt

212

Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

sich auch die Identität des Staates. Hierin liegt auch das Abgrenzungskriterium, wann Staatensukzession stattfindet, wann also die Entstehung oder der Untergang eines Staates infolge von Fusion, Inkorporation etc. vorliegt.3

II. Austausch oder Änderung der Verfassung im materiellen Sinne Wenn sich an der Identifikation des Volkes nichts ändert, die verfassunggebende Gewalt also ihre Identität beibehält, so kann sie dennoch jederzeit ihren Willen – den Volkswillen, den Gemeinwillen – inhaltlich ändern und auf eine neue oberste Wertung der Rechtsordnung, eine neue materielle Verfassung richten.4 Dabei kann eine gänzlich neue Verfassung in Kraft gesetzt werden. Man spricht, auch dann, von einer Revolution.5 Die Revolution ist demnach die Aufhebung einer alten Verfassung (im materiellen Sinne) und die Etablierung einer neuen.6 Ob die alte Verfassung dies „erlaubt“ oder nicht, kann nicht entscheidend sein, da die Genehmigung dieses Vorgangs nicht zur Disposition der Verfassung steht.7 „Die Revolution […] steht vor aller Legalität.“8 Art. 146 GG hat dieses Szenario im Blick, wobei dieser Fall sich dann nur auf einen Austausch der gesamten Verfassung zu beziehen scheint.9 Da die Verfassung im materiellen Sinne die höchste Ebene der Rechtsordnung ist, leitet sich aus ihr auch alle Legalität her. Wird sie beseitigt, wird die Quelle aller Legalität beseitigt und die Setzung der neuen Verfassung kann nur noch in Kategorien von Legitimität oder fehlender Legitimität beurteilt werden, also im Hinblick auf die Frage der Setzung durch den Souverän oder durch eine andere Macht (womit sie keine legitime Verfassung wäre).10 Es ist „legale Verfassungsbeseitigung11 3  Vgl.

Kapitel 6 A. V. wäre beispielsweise der Fall, wenn die Deutschen 1919 sagten: „Wir sind immer noch dieselben wie 1871, die Deutschen nämlich, aber wir wollen keine Monarchie mehr, sondern die demokratische Republik.“ 5  Schmitt nennt diesen Fall „Verfassungsbeseitigung“, Schmitt, Verfassungslehre, 99. 6  Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 18. 7  Vgl. aber Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 18. 8  Schilling, Eine neue Verfassung für Deutschland, 101. 9  Vgl. etwa Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 146 Rn. 2. 10  Vgl. auch Schilling, Eine neue Verfassung für Deutschland, 101 f. 11  Diese zu verhindern ist der Sinn des unantastbaren Kernbereichs des Grundgesetzes gemäß Art. 79 Abs. 3 GG; häufig im Hinblick auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. 4  Das



A. Mögliche Objekte einer Änderung213

somit ein Widerspruch in sich. Was herkömmlich ‚legale Revolution‘ genannt wird, kann auf Grund dieser Voraussetzung entweder nur scheinbar legal oder aber nicht Revolution sein.“12 Man kann einen verfassungsbezogenen Revolutionsbegriff daher auch dahingehend definieren: Revolution ist jede Handlung, die nicht im Sinne der bestehenden Legalitätsordnung ist, die aber legitim im Sinne der Volkssouveränität und somit rechtlich relevant ist. Dieser Revolutionsbegriff deckt sich dann mit der Setzung materiellen Verfassungsrechts. Revolution schafft auf illegale, aber legitime Weise Recht. Es macht zudem keinen rechtlichen Unterschied, ob die verfassunggebende Gewalt die gesamte materielle Verfassung ändert, sie also austauscht, oder lediglich Teile derselben ändert. Zu dieser Unterscheidung siehe sogleich (B.). Da die verfassunggebende Gewalt hier gleich bleibt, ändert sich auch nichts an der Identität des Volkes beziehungsweise des Staates. Schmitt stellt dazu treffend fest: „Betätigt sie [die verfassunggebende Gewalt] sich gegenüber dem neuen Zustand von neuem, so ist die neue Verfassung Ausfluß derselben verfassunggebenden Gewalt wie die beseitigte frühere Verfassung und beruht auf demselben Prinzip. Die Kontinuität liegt dann in der gemeinsamen Grundlage, und weder völkerrechtlich noch staatsrechtlich kann die Frage der Kontinuität des Staates aufgeworfen werden.“13

III. Änderung lediglich der Verfassung im formellen Sinne Wenn man unterscheidet zwischen dem unmittelbar vom Souverän beziehungsweise originär gesetzten Recht, nämlich der Verfassung im materiellen Sinne, und dem übrigen im Verfassungsdokument stehenden Recht, der Verfassung im formellen Sinne, dann muss auch der Fall berücksichtigt werden, dass lediglich dieses formelle Verfassungsrecht geändert wird. Dazu wird angenommen, dass das formelle Verfassungsrecht die dem materiellen Verfassungsrecht unmittelbar nachgeordnete Ebene darstellt, dass es sich also aus ihm heraus legitimiert.14 Für diese Form der Verfassungsänderung bestehen damit bereits legale Vorgaben, die sich aus dem Verfassungsrecht im materiellen Sinne ergeben.

12  Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 19; vgl. auch Jarass in Jarass / Pieroth, GG, Art. 146 Rn. 2: „legale Verfassungsablösung“. 13  Schmitt, Verfassungslehre, 93. 14  Der Nachweis, dass dieses Über- / Unterordnungsverhältnis besteht, steht freilich noch aus; siehe dazu unten, Kapitel 10 D.

214

Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

IV. Gegenstand weiterer Betrachtung Der unter I. geschilderte Fall ist eher relevant im Bereich des Völkerrechts. Er spielt sich jenseits der Grenzen des (inneren) Staatsrechts ab. Unter B. soll sich eingehender mit den unter II. und III. geschilderten Fällen befasst werden.

B. Die Begriffe: Verfassunggebung und Verfassungsänderung Relevant im Hinblick auf den Gegenstand der Untersuchung, die Änderung der Verfassung, ist nun vor allem die allgemeine Frage, wie gesetztes Recht geändert werden kann und durch welche Instanz. Dabei wird allgemein, das heißt nicht konkret auf entweder materielles oder formelles Verfassungsrecht bezogen, erörtert, was man unter einer sogenannten „verfassungsändernden Gewalt“ verstehen könnte.

I. Verfassungsänderung gleich Verfassunggebung Ausgangspunkt für die Frage nach der verfassungsändernden Gewalt ist die grundlegende und zu untersuchende These, dass es keine von der verfassunggebenden Gewalt verschiedene verfassungsändernde Gewalt geben kann.15 Es kann keine unterschiedlichen Gewalten für die Wahrnehmung dieser beiden Kompetenzen geben, da tatsächlich beides – Verfassunggebung und Verfassungsänderung –, was die kompetenziellen Anforderungen betrifft, identisch ist.16 Die Änderung des Rechts einer Ebene ist identisch mit der originären Setzung dieses Rechts, da sie selbst Rechtsschöpfung, also -setzung ist. Und die Ebene des Rechts wird ausschließlich durch die Stellung ihres Gebers im hierarchischen Kompetenzgefüge der Rechtsordnung bestimmt, wie die Überlegungen zur Hierarchie in der Rechtsordnung17 ergeben haben. Die Begriffe der Verfassunggebung und Verfassungsänderung müssen dabei nicht auf materielles und formelles Verfassungsrecht beschränkt werden. Die Frage nach der Abgrenzung zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung kann sogar verallgemeinert werden zur Frage nach der Abgrenzung zwischen Rechtsetzung und Rechtsänderung. 15  Vgl. dazu Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 743 ff.; Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 149. 16  Vgl. auch Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, Rn. 25: Hier ist die Rede von der „auch formalen Gleichartigkeit von Verfassung und Verfassungsänderung“. 17  Vgl. Kapitel 2 B.



B. Die Begriffe: Verfassunggebung und Verfassungsänderung215

Grundsätzlich ist beides identisch. Wenn beispielsweise das Verfassungsrecht im materiellen Sinne gerade dadurch qualifiziert wird, dass es von einer bestimmten Rechtsetzungsgewalt – dem Souverän – gesetzt worden ist, dann kann diese Rechtsetzung auch in der Variante der Änderung – das ergibt sich im Grundsatz aus dem bisher Gesagten – nur durch dieselbe Gewalt erfolgen. Das gilt aber für jede Art von Recht. Qualitativ besteht zwischen Rechtsetzung und Rechtsänderung kein Unterschied, es handelt sich bei beidem um denselben Vorgang: Zur Rechtsetzung bedarf es eines dazu legitimierten, eines mit Kompetenz ausgestatteten Willens, der normativ auf dieses Recht gerichtet ist. Einen Willen derselben Qualifikation bedarf es aber auch zur Änderung dieses Rechts. Daraus ergibt sich im Grundsatz für die Änderung des Verfassungsrechts im materiellen Sinne, dass dazu nur die eine souveräne Gewalt, der pouvoir constituant, fähig sein kann. Andererseits muss ein und dieselbe Instanz sowohl für die Setzung als auch für die Änderung formellen Verfassungsrechts kompetent sein. Sobald eine mit Rechtsetzungskompetenz ausgestattete Autorität neben der materiellen Rechtsetzung eine Kompetenz zur Rechtsetzung delegiert, ist das von dieser delegierten Autorität gesetzte Recht vom Willen der ersten abhängig und somit auch formell und materiell eingeschränkt. Es ist ihr „untergeordnet“ im Sinne einer Hierarchie der Normen beziehungsweise der Normsetzer, es bildet eine neue, niedrigere Ebene von Recht, was nichts mehr bedeutet, als diese formelle und materielle Abhängigkeit.18

II. Die Möglichkeit der Delegierung einer Änderungskompetenz Wie aber ist es nun zu beurteilen, wenn eine Rechtsetzungsautorität verschiedene, in Zusammenhang stehende Rechtssätze erlässt, zugleich aber auch eine Änderungskompetenz in Bezug auf dieses von ihr erlassene Recht delegiert? Der Fall unterscheidet sich bereits auf den ersten Eindruck von dem gerade geschilderten „Normalfall“, dass die Delegierung sich ausdrücklich auf den Erlass von sonstigem, weiterem Recht bezieht, das dann mit dem ersteren materiell übereinstimmen muss und rangmäßig automatisch eine niedere Stellung innehat – was dann so aussehen könnte wie die Art. 76 bis 78 GG. Stattdessen geht es hier um eine Ermächtigung, gerade dieses, von der ermächtigenden (delegierenden) Gewalt erlassene Recht zu ändern, um eine Art „amending power“19. Der Fall sähe also etwa so aus, wie 18  Siehe oben die Ausführungen zur Hierarchie der Rechtsordnung, Kapitel 2 B. II.; wie dort erklärt wird sich hier des eigentlich nicht korrekten Bildes der Normenhierarchie bedient. 19  Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 745.

216

Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

Art. 79 GG – jedenfalls auf den ersten Blick – erscheint. Es geht um die Erteilung einer Kompetenz, um das eigene Recht zu ändern. Damit stellt sich die Frage, ob darin eine Ausnahme des Grundsatzes zum Ausdruck kommt, dass die Rechtsänderungskompetenz immer identisch mit der Rechtsetzungskompetenz sein muss, beziehungsweise dass eine delegierte Kompetenz immer nur untergeordnetes Recht setzen kann. Es kommen vor dem Hintergrund der obigen Darstellung zum Stufenbau der Rechtsordnung20 vier Alternativen in Betracht, wie eine solche Ermächtigung einzuordnen sein könnte. Dabei wird sich schwerpunktmäßig auf die Änderung von Verfassungsrecht bezogen, wobei die Ausführungen auch verallgemeinert auf jede Art von Rechtsetzung angewandt werden könnten. 1. Normale delegierte Kompetenz Es könnte sich bei einer solchen Änderungsbefugnis durch eine verfasste Gewalt um eine normale Delegierung einer Rechtsetzungskompetenz handeln mit der Eröffnung einer neuen, untergeordneten Ebene von Recht. Dann gäbe es keine wirkliche Änderungskompetenz, sondern diese wäre eine Rechtsetzungskompetenz in niederem Rang. Dem scheint aber der eindeutige Wortlaut einer solchen Vorschrift, die ja ausdrücklich zur Änderung des bereits erlassenen höherrangigen Rechts ermächtigt, zu widersprechen. 2. Deklaratorischer Hinweis auf die eigene Änderungskompetenz Es könnte sich bei einer solchen Änderungskompetenz auch um einen rein deklaratorischen Hinweis auf die (selbstverständlich) bestehende Änderungskompetenz durch die rechtsetzende Gewalt selbst handeln. Dann wäre die Änderungskompetenz identisch mit der ursprünglichen Rechtsetzungskompetenz, eine derartige „Delegierung“ damit ein rein deklaratorischer Hinweis auf die eigene Kompetenz, ohne konstitutive Funktion und damit auch keine wirkliche Delegierung. Am Beispiel des Art. 79 GG wäre das also der deklaratorische Verweis auf die verfassunggebende Gewalt des Souverän. Oder, wenn Art. 79 Abs. 1, 2 GG selbst dem formellen Verfassungsrecht zuzurechnen ist, wäre er ein deklaratorischer Hinweis auf die Kompetenz zum Erlass des formellen Verfassungsrechts. Auf diese Weise geändertes materielles Verfassungsrecht wäre weiterhin materielles Verfassungsrecht. 20  Vgl.

dazu oben, Kapitel 2 B.



B. Die Begriffe: Verfassunggebung und Verfassungsänderung217

3. Konstitutive Reglung der eigenen Kompetenz? Es könnte auch so sein, dass die hinter der Normierung stehende Rechtsetzungsautorität ihre eigene Kompetenz für die Zukunft konstitutiv regeln möchte, ihrer weiteren Wahrnehmung der (delegierten) Kompetenz zur Rechtsetzung also die Fesseln des selbst formulierten Verfahrens anlegen möchte. Das ist jedoch nicht möglich, denn ein solches Verfahren würde dann nur vom eigenen Willen abhängen und somit nur solange gelten, wie die dahinterstehende Autorität es auch will.21 Damit wäre sie aber gerade nicht gebunden. Eine konstitutive Regelung der eigenen Kompetenz ist nicht möglich. 4. Echte Änderungskompetenz Es könnte sich aber auch um eine echte, delegierte Änderungskompetenz handeln, die das Recht der höheren Ebene, aus dem diese Kompetenz auch delegiert wird, also das materielle Verfassungsrecht, ändern kann und die von der verfassunggebenden Gewalt des Souverän unterschiedlich ist. Diese Kompetenz hätte dann gewissermaßen den Charakter einer pouvoir constituant constitué, die zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué geschoben wäre.22 5. Bewertung Option 1) wirft keine weiteren Fragen auf. Dass das Verfassungsrecht im formellen Sinne sich über eine solche normale Delegierung legitimiert, ist möglich. Ob dem so ist, wird unten zu prüfen sein. Option 2) wäre nicht geeignet, eine untergeordnete Ebene von Recht zu begründen und daher auch nicht geeignet, das Verhältnis von materiellem zu untergeordnetem formellem Verfassungsrecht zu begründen. Option 3) kann aus den genannten Gründen ebenfalls nicht als Erklärung dienen. Daher bleibt allein die Frage interessant, ob Option 4) möglich ist und was sie für das auf diese Weise geänderte Recht bedeutet. Kann eine Rechtsetzungsautorität eine andere Stelle mit der Kompetenz ausstatten, das eigene Recht zu verändern, ohne dass dieses dadurch seinen Rang ändert, sie also mit der Kompetenz 21  Eine Selbstbindung, wie sie das Reichsgericht beim Parlament für möglich gehalten hat, ist nicht möglich; vgl. RGZ 118, 325 (327): „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat.“; den kompetenziellen Rahmen des Parlamentes konstituiert die Verfassung, nicht das Parlament. 22  Zum Begriff „pouvoir constituant constitué“ vgl. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 744.

218

Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

ausstatten, innerhalb der eigenen Kompetenz Recht zu setzen? Kann der Souverän eine Kompetenz an eine Gewalt delegieren, um „sein“ eigenes, materielles Verfassungsrecht zu ändern, ohne dass dieses aufhört, diesen Rang zu genießen und damit materielles Verfassungsrecht zu sein? Diese Frage muss und kann wohl allein vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Hierarchie der Rechtsordnung beantwortet werden. „Eine Ebene niedriger in der Hierarchie“ bedeutet, wie oben23 klargestellt, nur, dass der Geber dieses Rechts an die formellen und materiellen Vorgaben der höherrangigen Ebene gebunden ist. Das wiederum folgt daraus, dass er seine Kompetenz nicht aus sich heraus innehat, sondern nur von dieser (eben nur deshalb) höherrangigen Instanz delegiert bekommt. Nun ist in Option 4) aber der zur Änderung des höherrangigen Rechts Ermächtigte gerade nicht daran gebunden, denn genau dieses Recht darf und soll er ja ändern. Man muss sich, um die Situation richtig einzuschätzen, noch einmal der Natur der Hierarchie bewusst werden, die sich oben24 ja bereits bezüglich des Rechts als eigentlich fehlerhaft erwiesen hat und nur bezüglich der Rechtsetzungsgewalten als haltbar erwies. Es gibt nur eine Ebene von Recht, nämlich das geltende Recht. Dabei ist nur das Recht geltend, das formell und materiell mit den Vorschriften derjenigen Kompetenz, von der es selbst seine Geltung herleitet, übereinstimmt. Die „Änderungskompetenz“ stellt nun den Sonderfall dar, dass eine Stelle Rechtsetzungskompetenz delegiert bekommt, dabei aber materiell von der Bindung an das Recht der höheren Stelle (die sie formell ermächtigt) befreit wird, diesem Recht also derogieren darf. Diese Möglichkeit kann eine Delegierung ohne Weiteres vorsehen. Das Recht der höheren Ebene kann dann durch die niedere Instanz geändert werden, da die materiellen Schranken weggefallen sind. Nichts spricht dagegen, dass die höhere Instanz diese materielle Freiheit gewähren kann. Sie nimmt sich selbst lediglich etwas zurück. Dennoch steht natürlich die delegierte Kompetenz permanent unter dem Vorbehalt ihrer formellen Ermächtigung, das heißt, die übergeordnete, delegierende Stelle kann jederzeit den delegierenden Rechtssatz zurücknehmen, die Kompetenz also zurücknehmen. Und auch materiell hat sie immer das theoretisch „letzte Wort“, verfügt sie doch in diesem bilateralen Verhältnis über die Kompetenz-Kompetenz. Sie kann materiell jederzeit derogieren. Zwar kann die die delegierte Kompetenz wahrnehmende In­ stanz jetzt ebenfalls jederzeit ihrerseits wieder derogieren. Entscheidend ist aber, dass die höhere Gewalt aufgrund der Natur des bilateralen Verhältnisses derogieren kann, während die untere Instanz zur Derogation immer auf die Wahrnehmung der „von oben“ gewährten Kompetenz angewiesen 23  Vgl. 24  Vgl.

oben, Kapitel 2 B. II. oben, Kapitel 2 B. II.



B. Die Begriffe: Verfassunggebung und Verfassungsänderung219

ist. Die höhere Instanz ist daher höher kraft der Natur des Verhältnisses und damit kraft eines Seinssatzes, nicht kraft einer Norm. Die höhere Instanz kann einzelne Kompetenzen delegieren, auch Änderungskompetenzen, aber nicht ihre Höherrangigkeit aufgeben, nicht die Kompetenz-Kompetenz delegieren. Mit Blick auf das materielle Verfassungsrecht lässt sich sagen: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes kann einzelne Kompetenzen delegieren, nicht aber ihre Souveränität. Im Hinblick auf diese Kompetenz-Kompetenz, die bei der höheren, delegierenden Gewalt liegt, kann man daher mit Berechtigung von einem Rangverhältnis sprechen, was sich ja bezüglich der rechtsetzenden Autoritäten auch keineswegs verbietet.25 Dieses Rangverhältnis hat dann – im Wesentlichen – dieselbe Natur wie das im Rahmen des „Normalfalls“ einer delegierten Kompetenz, wie es unter Option 1) beschrieben wurde. Eine Änderungskompetenz unterscheidet sich mithin von einer „normalen“ delegierten Rechtsetzungskompetenz durch die (gegebenenfalls partielle) Befreiung von der materiellen Bindung, also durch die „mit-delegierte“ Möglichkeit, dem materiellen Recht der delegierenden Kompetenz zu derogieren. Sie ist nichtsdestotrotz eine untergeordnete Kompetenz und setzt damit eine andere Art von Recht als die übergeordnete, somit eine „untergeordnete“. Fraglich ist damit nun, inwieweit das auf diese Weise geänderte Recht seinen Charakter ändert. Es gilt der Satz, dass der Rang einer Norm allein von der Stellung ihres Gebers in der Hierarchie abhängt.26 Materielles Verfassungsrecht ist so definiert worden als das Recht, das vom Souverän gesetzt worden ist. Dieser Definition genügt nun das Recht nicht mehr, das in Ausübung der delegierten „Änderungskompetenz“ entweder erstmals gesetzt worden ist (das ist offensichtlich) oder aber von dieser geändert worden ist, auch wenn es zunächst als materielles Verfassungsrecht in Geltung stand. Es ändert folglich seinen Charakter, oder, wenn man in dem Bild bleiben möchte: seinen Rang. Die Änderungskompetenz in Form von Op­ tion 4) kann also existieren, sie ist zugleich aber auch im Wesentlichen identisch der Option 1). Die Möglichkeit einer Änderungskompetenz stellt folglich keine Ausnahme vom Grundsatz dar, dass das Recht immer nur von derselben Gewalt geändert werden kann, die es auch zu erlassen im Stande ist – so lange dabei der Rang des Rechts gewahrt werden soll. Ausgehend von der materiellen Verfassung kann das von einer möglicherweise delegierten Änderungskompetenz gesetzte Recht damit nicht mehr als materielles Verfassungsrecht bezeichnet werden. Durch eine solche Änderungskompetenz würde vielmehr eine neue Ebene von Recht geschaffen – möglicherweise das formelle Verfassungsrecht, wenn jenes auf diese Weise legitimiert hier besteht ja die Hierarchie. oben, Kapitel 2 B. I.

25  Gerade 26  Vgl.

220

Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

werden kann. Der Nachweis, dass dieses auf diese Weise legitimiert werden kann, steht dabei allerdings weiterhin aus.27 Zu dieser grundsätzlichen Möglichkeit einer Änderungskompetenz tritt aber hinzu, dass in der mit Änderungskompetenz „angereicherten“ Delegierung natürlich auch wieder Bereichsausnahmen enthalten sein können. So kann die delegierende Stelle selbstverständlich für bestimmte Normen, die sie gesetzt hat, die Möglichkeit einer Änderung ausschließen – nicht für sich selbst, aber für die delegierte Kompetenz. Das könnte zum Beispiel so aussehen wie Art. 79 Abs. 3 GG. Somit würden durch eine Änderungskompetenz zwei Arten von Recht ermöglicht: das des höherrangigen Rechtsetzungswillens und das des ermächtigten Änderungswillens. Um zum Bild der Rechtsebenen zurückzukehren: Es bestünden somit zwei Ebenen von Recht. Was hier daher ausgeschlossen werden kann, ist eine konstitutive Änderungskompetenz, deren Betätigung den Rang des Rechts wahrt. Entweder handelt es sich dabei um eine scheinbare Delegierung, nämlich um einen deklaratorischen Hinweis auf die eigene Kompetenz (2)), oder die Delegierung eröffnet eine untergeordnete Ebene des Rechts. Wenn das formelle Verfassungsrecht sich aus einer im materiellen Verfassungsrecht verankerten delegierten Kompetenz legitimiert, wenn es also die dem materiellen Verfassungsrecht untergeordnete Ebene darstellen soll, dann kommen die Optionen 1) und 4), die normale Delegierung und die delegierte Änderungskompetenz, in Betracht. In beiden Fällen wäre das Ergebnis ein Über- / Unterordnungsverhältnis. Für die Optionen 1) und 4) ist die Terminologie von verfassunggebender Gewalt für die Setzung des höherrangigen Rechts und verfassungsändernder Gewalt für die Setzung des niederrangigeren Rechts also insofern irreführend, als sich dabei „Verfassung“ jeweils auf zwei unterschiedliche Arten beziehungsweise Ebenen von Recht beziehen kann. Selbst wenn die delegierte Änderungskompetenz die Ermächtigung zur Änderung des höherrangigen Rechts hat, ändert sich im Zuge der Ausübung dieser Kompetenz der Rang des geänderten Rechts. Es ist daher die Verfassungsänderung durch die verfassunggebende Gewalt von der Verfassungsänderung durch eine delegierte Gewalt strikt zu unterscheiden, da sich in Bezug auf das produzierte Recht wichtige Unterschiede ergeben.28

27  Er wird unten, Kapitel 10, am Beispiel des Grundgesetzes scheitern – das formelle Verfassungsrecht des Grundgesetzes ist nicht auf eine Änderungskompetenz im Sinne der Option 4) zurückzuführen, sondern auf eine „normale“ delegierte Kompetenz gemäß der Option 1). Der materielle Teil des Grundgesetzes steht eben nicht zur Disposition des „verfassungsändernden Gesetzgebers“. 28  Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 98.



C. Begriffliche Alternativen221

C. Begriffliche Alternativen für „Verfassunggebung“ und „Verfassungsänderung“ Verfassunggebung und Verfassungsänderung (durch die verfassunggebende Gewalt) ist quantitativ unterschiedlich, aber qualitativ dasselbe, wenn es sich auf dieselbe Art von Verfassung, also entweder im formellen Sinne oder im materiellen Sinne bezieht. Es bedarf in beiden Fällen derselben Kompetenz. Die Differenzierung zwischen verfassunggebender Gewalt und verfassungsändernder Gewalt macht insofern keinen Sinn, denn wenn in den Begriffen mit „Verfassung“ jeweils dasselbe gemeint sein soll, dann bedarf es zur Änderung dieses Rechts bei gleichzeitiger Wahrung dessen Charakters („Rang“) schlicht derselben Kompetenz wie zu dessen Gebung. Der Begriff der Verfassungsänderung kann sich aber auf zweierlei unterschiedliche Gewalten beziehen, wie gerade gezeigt worden ist: zum einen auf die originäre verfassunggebende Gewalt, zum anderen auf die delegierte verfassungsändernde Gewalt. Daher kommen zwei andere Differenzierungen eher in Betracht, die jeweils sinnvoller erscheinen: Erstens die Unterscheidung zwischen Verfassung(-neu-)gebung einerseits und nachträglicher Verfassungsänderung andererseits. Hier kommt deutlicher zum Ausdruck, welche unterschiedlichen Vorgänge gemeint sind, jedoch besteht gerade hier, wie gezeigt wurde, in der Sache – in der Kompetenz und in der Art des gezeugten Rechts – kein Unterschied. Es macht vor allem eine zweite Differenzierung mehr Sinn, die der kritisierten in gewisser Hinsicht ähnelt, aber das eigentlich gesuchte Ziel derselben auch erreicht: die Unterscheidung zwischen der die Verfassung im materiellen Sinne gebenden und ändernden Gewalt, dem Souverän, einerseits, und andererseits der die Verfassung im formellen Sinne gebenden und ändernden Gewalt.29 Schmitt unterscheidet in dieser Sache, ebenfalls überzeugend und ähnlich wie hier, zwischen „verfassungsändernden Gesetzen und reinen Souveränitätsakten“.30 Es kann allerdings, wie gerade hergeleitet worden ist, möglich sein, dass die die formelle Verfassung gebende und ändernde Gewalt auch ermächtigt ist, die materielle Verfassung im Wege formeller Verfassungsrechtsetzung zu ändern, dabei aber gezwungen ist, dieses von materiellem Verfassungsrecht in formelles zu transferieren. Diese Gedanken zur Änderung der Verfassung und zu den möglichen Zusammenhängen verschiedener Ebenen von Verfassungsrecht werden in den nächsten Kapiteln auf das Grundgesetz bezogen. Insbesondere geht es 29  Vezanis, Verfassung und Verfassungsrecht, 149, unterscheidet sehr ähnlich zwischen „Verfassungsgewalt“ einerseits und „Revisionsgewalt“ andererseits. 30  Wobei sich „verfassungsändernd“ wieder nur auf die Verfassung im formellen Sinne beziehen kann; vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 109.

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Kap. 9: Die Änderung der Verfassung (abstrakt)

um die Frage, ob in Art. 79 Abs. 1, 2 GG die Konstituierung einer die Verfassung im formellen Sinne gebenden und ändernden, von der materiellen Verfassung materiell befreiten und über dem einfachen Gesetzgeber zu verortenden Gewalt, eingesetzt durch die Verfassung im materiellen Sinne, gesehen werden kann. Es geht also um die Frage, ob im Grundgesetz tatsächlich die Option 4) angelegt ist oder ob es sich doch vielmehr nur um den Normalfall der Option 1) oder um Option 2) handelt.

D. Zwischenergebnis Damit bleibt in Bezug auf die beiden in Betracht genommenen Änderungsobjekte vorerst festzuhalten: Die Verfassung im materiellen Sinne kann rangwahrend nur vom Souverän geändert werden und durch keine sonstige Gewalt. Das Verfassungsrecht im formellen Sinne wird aufgrund einer – möglicherweise mit Änderungskompetenz angereicherten – vom Verfassungsrecht im materiellen Sinne delegierten Kompetenz erlassen und steht damit automatisch in Abhängigkeit vom Verfassungsrecht im materiellen Sinne und somit auch im Rang unter ihm. Auch dieses Recht kann nur von eben dieser Kompetenz geändert werden. Würde es vom Souverän geändert, so würde es zu materiellem Verfassungsrecht erhoben.

Kapitel 10

Die Rechtsordnung des Grundgesetzes Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dessen Änderung und insbesondere dessen Vorschriften zur eigenen Änderung – Art. 79 GG – in vorliegender Untersuchung als Ausgangsprobleme aufgestellt worden sind, ist in diesem Kapitel das konkrete Bezugsobjekt der bisher hergeleiteten abstrakteren Verfassungstheorie. Es folgt nun die Untersuchung, wo im Grundgesetz die zuvor hergeleiteten Arten von Verfassungsrecht, also das Verfassungsrecht im materiellen und im formellen Sinne, vorzufinden sind und ob die Konzeption des Grundgesetzes mit diesem zweigliedrigen Verfassungskonzept in Einklang zu bringen ist oder mit ihm in Konflikt steht.

A. Das Grundgesetz zwischen Verfassung im materiellen Sinne und Verfassung im formellen Sinne Das Grundgesetz wird schlicht als „die Verfassung“ Deutschlands bezeichnet. Damit einher geht der Klang, es handele sich um eine einheitliche „Art“ von Recht, wobei Art hier im Sinne von Rang zu verstehen ist, also um eine Ebene von Recht, das Verfassungsrecht nämlich, gegeben vom Verfassungsgeber oder von der verfassungsändernden Gewalt, was wohl keinen Unterschied in Bezug auf die qualitative Einordnung des Rechts zu machen scheint. Andererseits ist es ohne tiefgreifende Untersuchung offensichtlich, dass dieses Bild, sowohl nach dem hier entwickelten Konzept einer Rechtsordnung, aber auch nach der Konzeption des Grundgesetzes, nicht haltbar ist. Verschiedene Ebenen von Recht ergeben sich in der Rechtsordnung dadurch, dass die in der Rechtsordnung legitimierten Normgeber in einem Rangverhältnis stehen. Der Souverän steht an der Spitze, und jede weitere Normsetzungsgewalt verfügt über derivative, vom jeweils höherrangigen Normgeber delegierte Normsetzungsgewalt und ist dadurch auch bereits durch alles höherrangige Recht eingeschränkt, das heißt formell und materiell determiniert. Die Sätze des Grundgesetzes stammen aber nicht von nur einem einzigen Normgeber. Allein Art. 79 GG unterstellt doch bereits, dass es zum einen den Verfassunggeber geben muss, der – bestimmte Teile der Verfassung,

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

aber eben auch – Art. 79 GG selbst normiert hat. Wenn Art. 79 Abs. 1, 2 GG aber selbst wiederum eine Rechtsetzungsautorität legitimieren soll, so muss diese sich zwingend von jener ersten unterscheiden, genauer: von ihr ableiten. Da diese, vermeintlich durch Art. 79 GG legitimierte, Gewalt ihrerseits wiederum Teile des Textes des Grundgesetzes normiert hat, hat man es im Grundgesetz mit mindestens zwei Arten von Recht zu tun. Auch die Rede von „verfassungswidrigem Verfassungsrecht“1 impliziert offensichtlich, dass es mindestens zwei Arten von Verfassungsrecht geben muss – das eine, sowie das andere, an dem das eine gemessen wird. Man kann mit Schmitt diese Unterscheidung mit den Begriffen „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“ bezeichnen.2 Hier sind die Begriffe „Verfassung im materiellen Sinne“ und „Verfassung im formellen Sinne“ bereits eingeführt worden und sollen weiter verwendet werden. Art. 79 GG zeigt also, dass das Grundgesetz (beziehungsweise seine Autoren) selbst von dieser Zweistufigkeit der Verfassung ausgeht. Einerseits ist eine „verfassungsändernde Gewalt“ anerkannt, auf die sich in den Abs. 1 und 2 bezogen wird. Diese Gewalt ist verfasste Gewalt, pouvoir constitué. Es ist zunächst unerheblich, woraus diese verfasste Gewalt ihre Legitimation nimmt – sie ist verfasste Gewalt zur Setzung formellen Verfassungsrechts, da sie nicht souverän ist. Daneben erklärt (an dieser Stelle egal, ob konstitutiv oder deklaratorisch) Abs. 3 bestimmte Inhalte für unberührbar beziehungsweise sperrt sie für Änderungen durch die in den Abs. 1 und 2 in Bezug genommene verfassungsändernde Gewalt.3 Namentlich handelt es sich um das Verbot von Änderungen, „durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. Es ist aber die überwiegende Meinung, dass auch die von Abs. 3 geschützten „Grund­ sätze“4, die die „Identität der Verfassung“5 oder den „Verfassungskern“6 bil1  Vgl. bspw. Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 [Stand: Juli 2014] Rn. 74. 2  Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 56: „[Die wirklichen Fundamentalprinzipien der Verfassung] enthalten eine überlegale Würde, die sie über jede, ihrer Wahrung dienende, organisatorisch-verfassungsrechtliche Regelung oder irgendeine materiell-rechtliche Einzelregelung erhebt. Sie haben […] eine ‚superlégalité constitutionelle‘, die sie nicht nur über die gewöhnlichen, einfachen Gesetze, sondern auch über die geschriebenen Verfassungsgesetze erhebt und ihre Beseitigung durch verfassungsändernde Gesetze ausschließt.“ 3  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 27. 4  Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 35. 5  Vgl. BVerfGE 123, 267 (354); Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik, 5 ff.; Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 37. 6  Dietlein in Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 79 Rn. 25; Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 [Stand: Juli 2014] Rn. 60, 75; der Begriff ist



A. Verfassung im materiellen Sinne und im formellen Sinne225

den, nicht absolut unveränderlich seien. Sie seien vielmehr der verfassunggebenden Gewalt, also dem Souverän, vorbehalten, der nach der überwiegenden Ansicht nicht an die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sei.7 Er werde im Grundgesetz in Art. 146 „anerkannt“8. Selbstverständlich ist der Souverän an diese Grenzen nicht gebunden und die „Anerkennung“ kann aufgrund der Seins-Natur der verfassunggebenden Gewalt des souveränen Volkes nur eine deklaratorische sein. Das Grundgesetz geht damit selbst von einer Trennung von pouvoir constituant und pouvoir constitué aus.9 Wenn das eine „verfassungsgebende Gewalt“10 und das andere „verfassungsändernde Gewalt“11 genannt wird12, so ist das der fehlenden ausdrücklichen Differenzierung zwischen materiellem und formellem Verfassungsrecht geschuldet13, die aber dennoch hinter der Konzeption des Grundgesetzes steht. Im Vordergrund standen hinter dieser Konzeption im Grundgesetz sicherlich andere, eher praktische oder politische Motive. Art. 79 Abs. 3 GG sollte nach den Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung, insbesondere nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Vermeidung einer Verfassungsvernichtung auf scheinbar legalem Wege gewährleisten.14 Die Verfassung sollte nicht (scheinbar) die Instrumente ihrer eigenen Abschaffung selbst liefern.15 Hinter diesen vordergründigen Motiven steht aber tatsächlich – bewusst oder unbewusst – das Konzept von materiellem und formellem Verfassungsrecht. Insofern stehen im Grundgesetz zwei Ebenen von Verfassungsrecht in hierarchischem Verhältnis zueinander.16 Art. 79 Abs. 3 GG kann somit als deklaratorischer Hinweis verstanden werden, zu unterscheiden von dem in dieser Arbeit eingeführten Begriff des Verfassungskerns, vgl. oben, Kapitel 4 C. III. 7  Vgl. Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 [Stand: Juli 2014] Rn. 77. 8  Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 146 Rn. 12. 9  Vgl. Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes, Rn. 14; Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 146 Rn. 11; Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 [Stand: Juli 2014] Rn. 74; Hain in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 31. 10  So das Grundgesetz selbst in der Präambel. 11  Das Grundgesetz selbst verwendet diesen Begriff nicht, aber er ist gängig. 12  Vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 242. 13  Vgl. oben, Kapitel 9 B. 14  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 35; Bryde, Verfassungsentwicklung, 240. 15  Vgl. auch Dietlein in Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 79 Rn. 15: „Verfassungsaushöhlung“; siehe auch Hain in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 30. 16  Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 [Stand: Juli 2014] Rn. 75; im Wesentlichen so auch Dietlein in Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 79 Rn. 15.

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dass die dort genannten Inhalte materielles Verfassungsrecht darstellen und daher von vorne herein der Kompetenz der verfassungsändernden Gewalt gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG entzogen sind.17 Insofern18 war Schmitt 1928 mit seiner Verfassungslehre19 näher an diesem Konzept und damit auch am Schutz der Demokratie als der zur Kaiserzeit und noch in der Weimarer Zeit vorherrschende staatsrechtliche Positivismus.20 Das Ermächtigungsgesetz von 1933 hätte als verfassungswidrige Verfassungsänderung nicht in Kraft treten können, da es mit der Demokratie einen Teil des materiellen Verfassungsrechts zugunsten des Führerprinzips faktisch abgeschafft hat. Im Grundgesetz sind demnach materielles Verfassungsrecht (Verfassungskern) und formelles Verfassungsrecht zu unterscheiden, sowohl inhaltlich – dieser Schritt wird noch vielerorts mitgegangen – als auch im Hinblick auf ihre legitimatorischen Anforderungen. Weitgehend wird diese letzte Trennung in der Wissenschaft nicht vorgenommen, sondern lediglich die Legitimation der Verfassunggebung durch die verfassunggebende Gewalt als ein einheitlicher Vorgang untersucht.21 Gerade diese Trennung und die Legitimation des formellen Verfassungsrechts aus dem materiellen heraus soll aber die Besonderheit des hier gewählten Ansatzes ausmachen.

B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes Das Grundgesetz bietet mit den in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalte eine Auflistung dessen, was die Autoren des Grundgesetzes für das materielle Verfassungsrecht gehalten haben und deshalb für „schutzwürdig“ erachtet haben. Damit drängt sich die Frage auf, ob die Zuordnung der Inhalte auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 235 ff., insbes. 236, 238 ff. zur Frage der Verantwortlichkeit des Positivismus für die Verbrechen des NS-Regimes oben, Kapitel 1 B. I. Wichtig: Der staatsrechtliche Positivismus hat zwar grenzenlose Verfassungsänderungen für zulässig gehalten; das erscheint jedoch nicht als spezifisch positivistische Sichtweise. 19  Schmitt prägte in seiner Verfassungslehre 1928 die weitgehend parallel verlaufende Terminologie von „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“ mit sehr ähnlichen Konsequenzen für die Änderung bzw. Beseitigung der Verfassung, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 102 ff. 20  Vgl. Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, 153 ff; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 76 Anm. 3; Die Problematik für Grenzen der Verfassungsrevisionsgewalt (Art. 78 RV 1871, Art. 76 WRV 1919) ist gegen Ende der Weimarer Republik mehr ins Bewusstsein gelangt, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 109. 21  Vgl. exemplarisch Murswiek in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 92: „Mit Verfassunggebung ist immer auch Verfassungsgesetzgebung gemeint.“ 17  Vgl. 18  Vgl.



B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes227

gemäß der Innensicht des Grundgesetzes einer objektiven, unabhängigen Einordnung standhalten kann.

I. Befund einzelner Gewährleistungen Wenn nun die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalte mit einem unabhängigen Befund über den Verfassungskern (also den geschriebenen Teil des materiellen Verfassungsrechts) in der Rechtsordnung des Grundgesetzes verglichen werden, so sind drei Ergebnisse denkbar:22 Kongruenz Wenn die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalte mit dem Befund über den Verfassungskern übereinstimmen, dann kann angenommen werden, dass die verfassunggebende Gewalt eine „normale“ delegierte Rechtsetzungsgewalt zum Erlass des formellen Verfassungsrechts eingesetzt hat, die damit an alle materiellen und formellen Vorgaben durch das materielle Verfassungsrecht und nur an sie gebunden ist. Untermäßiger Schutz Sollten die geschützten Inhalte nicht den gesamten Verfassungskern erfassen, so ist an eine echte Änderungskompetenz zu denken, da im Wege der „Verfassungsänderung“ durch eine verfasste Gewalt auch der Verfassungskern teilweise geändert werden könnte.23 Übermäßiger Schutz Als dritte Möglichkeit können die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalte über den Verfassungskern hinausreichen. Insoweit könnte ihnen dann aber keine besondere Bestandskraft aus ihrer Eigenschaft als materielles Verfassungsrecht zukommen. Gegenüberzustellen ist dabei das, was Art. 79 Abs. 3 GG vor Veränderungen schützt, dem, was nach einem „objektiven“, vom Grundgesetz unabhängigen Blick auf die deutsche Rechtsordnung als Verfassung im materiellen Sinne oder als Verfassungskern angesehen werden kann. Während sich Ersteres direkt aus Art. 79 Abs. 3 GG ergibt, lautet die für Letzteres entscheidende Frage, welche Regeln des Grundgesetzes es sind, denen ma22  Vgl. 23  Vgl.

auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 236 ff. dazu oben, Kapitel 9 B. II.

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teriell ein derart hohes Gewicht zukommt und von denen eine so weitreichende Prägung für die gesamte Rechtsordnung ausgeht, dass man glaubhaft annehmen darf, sie entsprächen dem Gemeinwillen. Es ist naturgemäß keinem Beweis zugänglich, dass eine bestimmte Wertung tatsächlich an dieser höchsten Stelle in der Rechtsordnung residiert. Dessen Ausdruck ist es, dass gerade die höchste Ebene der Verfassung, die „höchste Zuspitzung der Normativität des Grundgesetzes“, zugleich das höchste Maß an normativer Offenheit, an Unbestimmtheit, aufweist.24 Genauso wenig kann eine Sichtweise auf den Inhalt des materiellen Verfassungsrechts, nur weil sie von „außerhalb des Grundgesetzes“ vorgenommen wird, wirklich „objektiv“ sein. Hier kann nicht mehr als eine Einschätzung vorgenommen werden, die sich um Überzeugungskraft bemüht, die letztlich aber auch nur eine Subsumtion unter die oben ausgeführte Beschreibung des Gemeinwillens ist. 1. Menschenwürde An erster Stelle im Grundgesetz steht Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG: Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Hierauf nimmt auch Art. 79 Abs. 3 GG Bezug.25 Die Menschenwürde erscheint als ein Wert, der die gesamte Rechtsordnung prägt wie kein anderer Wert. Genauer muss die Rede sein vom normativen Schutz der Menschenwürde, die ja selbst vielmehr den Charakter einer in unserer Gesellschaft anerkannten Tatsache26 hat, aus der sich der normative Schutz ableiten lässt.27 Die Bedeutung und Tragweite des Menschenwürdeschutzes im System des Grundgesetzes kann anhand einiger Zitate deutlich gemacht werden. Sie sei, so Stern, „Grund- und Leitnorm für das Gesamtverständnis der Grundrechte und die Orientierung der Staatsgewalt“28, sie stehe für „zweieinhalbtausend Jahre Philosophie­ geschichte“29. Herdegen spricht von der „Stellung der Menschenwürde als ein Höchstwert der Verfassung“ und verweist auf Bezeichnungen als „oberstes Konstruktionsprinzip“, als „Staatsfundamentalnorm“ sowie als „höchsten Rechtswert“30. Der Schutz der Menschenwürde kann in der Rechtsordnung des Grundgesetzes als Wille des Souverän angesehen werden. Insofern ist 24  Hain

in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 32. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 87. 26  Die Menschenwürde ist ja oben, Kapitel 1 A. III. 1. bereits als ontologische Grundlage und Ursprung allen Rechts bezeichnet worden. 27  Vgl. dazu auch Höfling in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 5 ff. 28  Stern, Staatsrecht IV / 1, § 97 I 1. 29  Vgl. Stern, Staatsrecht IV / 1, § 97 I 1. 30  Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 [Stand: Januar 2010] Rn. 4. 25  Vgl.



B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes229

er auch grundsätzlich der Disposition jeder verfassten Gewalt entzogen, was mit Art. 79 Abs. 3 GG in Einklang steht. 2. Demokratieprinzip Das in Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 GG31 verankerte Demokratieprinzip ist gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ebenfalls geschützt.32 Es ist ein unsere Rechtsordnung derart prägendes Grundprinzip, das eine derart feste Verwurzelung im Volkswillen genießt, dass es als materielles Verfassungsrecht gelten kann. Zur heutigen Zeit stellt das deutsche Volk in seiner Selbstwahrnehmung ein aufgeklärtes und selbstbewusstes Volk dar, das (zum größten Teil) auf viele Jahrzehnte erfolgreicher Demokratiegeschichte zurückblickt. Der demokratische Gedanke dürfte im Volksbewusstsein so tief verwurzelt sein, dass er heute als Ausdruck der Identität des Volkes und damit zur Verfassung im materiellen Sinne gezählt werden muss. Als gesamtdeutsches Verfassungsprinzip geht der demokratische Gedanke zurück bis in die Zeit des Vormärz33, erste Erfahrungen mit Demokratie auf deutschem Boden reichen zurück bis in die Mainzer Republik von 1793. Ebenfalls vom Schutz des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG umfasst sind das Repräsentationsprinzip sowie der Parlamentarismus.34 Beides steht untrennbar mit dem Demokratieprinzip in Verbindung.35 Der Modus des Mehrheitsprinzips, der (nicht darauf beschränkt, aber auch) untrennbar mit dem Demokratieprinzip verbunden ist,36 ist insofern ebenfalls Teil des materiellen Verfassungsrechts.37 In puncto Demokratieprinzip, Repräsentationsprinzip sowie Parlamentarismus laufen materielles Verfassungsrecht und Art. 79 Abs. 3 GG also ebenfalls kongruent. 3. Rechtsstaatsprinzip Auch das Rechtsstaatsprinzip wird als vom Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG mitumfasst angesehen.38 Es wird als ungeschriebener Bestandteil des Art. 20 31  Vgl.

oben, Kapitel 5 B., sowie Kapitel 7 A. I. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 64. 33  Große Relevanz bekam er dann erstmals in der Paulskirchenverfassung von 1849; vgl. auch Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 11. 34  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 71. 35  Siehe dazu oben, Kapitel 7 A. V. 36  Vgl. oben, Kapitel 7 B. I. 37  Vgl. auch Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 66. 38  Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 73; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, Rn. 90; Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 86. 32  Vgl.

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

Abs. 1 GG verstanden39 oder in Art. 20 GG in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verankert.40 Das Rechtsstaatsprinzip, verstanden als Grundsatz, dass jede Ausübung von Hoheitsgewalt im Staat mittelbar oder unmittelbar durch ein Parlamentsgesetz, also von der Volksvertretung, legitimiert sein muss, kann als ein die Rechtsordnung derart prägendes Element angesehen werden, dass es dem Verfassungsrecht im materiellen Sinne zurechenbar ist. Die Gesetze bestimmen Umfang und Grenzen der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt.41 Es gelten der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes in alle Eingriffe in Freiheit und in Eigentum.42 Art. 79 Abs. 3 GG und der objektive Befund sind an dieser Stelle kongruent. 4. Gewaltenteilung Ebenfalls eng damit verbunden steht das Prinzip der Gewaltenteilung, das sich in erster Linie auf eine organisatorische Trennung der drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative bezieht. Im Grundgesetz wird er in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG normiert und ist somit vom Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG mit umfasst.43 Der Gedanke, der mit dem Prinzip des checks and balances in der amerikanischen Verfassung von 1787 erstmals positiv zum Ausdruck kam,44 wurde von Montesquieu geprägt.45 In Art. 16 der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wurde das Prinzip sogar so weit zum Kern der Verfassung erhoben, dass es dort heißt: „Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n’est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée, n’a point de Constitution.“ In der Tat dürfte dieses Prinzip der horizontalen Teilung der Gewalten auch in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte so tief verwurzelt sein, dass es mittlerweile als dem Volkswillen entsprechend angesehen werden kann. Es gilt als „ein für das GG tragendes Organisations- und Funktionsprinzip“46, als „politische Klugheitsregel und fundamentaler Verfassungsgrundsatz“47. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 73. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 75; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, Rn. 3. 41  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 76. 42  Vgl. insgesamt zum Rechtsstaatsprinzip Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat. 43  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 74. 44  Art. 1, 2 und 3 der Verfassung verankern die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative. 45  Vgl. Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 79. 46  Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 81. 47  Di Fabio, Gewaltenteilung, Rn. 1. 39  So

40  Vgl.



B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes231

5. Grundrechte Der Grundrechtekatalog dürfte, zumindest teilweise, ebenfalls als unmittelbarer Ausdruck des souveränen Volkswillens angesehen werden. Neben der bereits genannten Menschenwürde sollte der Menschenwürdegehalt der einzelnen Grundrechte, der sicherlich bei einzelnen Grundrechten ausgeprägter, bei anderen weniger ausgeprägt ist,48 auf den unmittelbaren Willen des Souverän zurückführbar sein. Entsprechend fällt auch der Schutz des Menschenwürdegehaltes / Wesensgehaltes der Grundrechte unter den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG.49 6. Sozialstaatsprinzip bzw. Solidaritätsgedanke Auch das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG gehört zu den gemäß Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Inhalten.50 Der ihm zugrundeliegende Solidaritätsgedanke kann als wichtige Grundlage des Zusammenlebens gelten, die dem materiellen Verfassungsrecht zugerechnet werden darf. 7. Föderalismus- / Bundesstaatsprinzip Ob das Föderalismusprinzip / Bundesstaatsprinzip zum Verfassungsrecht im materiellen Sinne gehört, erscheint fraglich. Ob diese Staatsstruktur gerade in einem Volk, das sich ja per definitionem vor allem durch seine Zusammengehörigkeit definiert, so fest in der Grundüberzeugung festzumachen ist, dass es als dessen Gemeinwille bezeichnet werden kann, erscheint eher unglaubhaft.51 Dagegen spricht auch, dass die Aufnahme des Bundesstaatsprinzips in den Schutzgehalt der Ewigkeitsgarantie im Parlamentarischen Rat kontrovers diskutiert worden ist, und letzten Endes erst drei Tage vor der Verabschiedung des Grundgesetzes bejaht worden ist.52 Hier dürfte die Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG über das materielle Verfassungsrecht 48  Sicherlich mehr bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, weniger bei der Rundfunkfreiheit. 49  Vgl. Hain in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 67 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, 245. 50  Vgl. Hain in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 72 ff.; Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 63; Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Rn. 92. 51  Vgl. auch Nettesheim, Wo „endet“ das Grundgesetz?, 354, der dort (Fn. 166) in dieser Hinsicht das Bundesstaatsprinzip ausdrücklich von den übrigen in Art. 79 Abs. 3 GG garantierten Gehalten unterscheidet. 52  Vgl. m. w. N. Polzin, Irrungen und Wirrungen um den Pouvoir Constituant, 81; vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 240 f.

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hinausgehen. Da eine Selbstbindung der „verfassungsändernden Gewalt“ nicht in Betracht kommt, kann dem insoweit keine Verbindlichkeit beigemessen werden.53 8. Gesetzgebungsverfahren Weder vom ausdrücklichen Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst noch unabhängig davon dem unmittelbaren Willen des Souverän zuzuschreiben sind die detaillierten Regeln des Grundgesetzes über die Gesetzgebung gemäß den Art. 70 ff. und 76 ff. GG. Die dort getroffenen Regelungen zu einzelnen Gesetzgebungskompetenzen, die zwischen Bund und Ländern systematisch aufgeteilt sind, sowie zu einem detaillierten Verfahren zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, können kaum überzeugend beanspruchen, direkt auf den Gemeinwillen zurückzuführen zu sein. Dass in den besagten Artikeln ausgerechnet diese Regelungen getroffen wurden, ist vielmehr das Ergebnis der Verhandlungen einzelner Menschen, die ohne wesentlichen Wertungsunterschied im Einzelnen auch durchaus anders hätten ausfallen können. Dass überhaupt eine Gesetzgebungskompetenz an staatliche Organe delegiert wird, ist hingegen sicherlich Bestandteil des materiellen Verfassungsrechts. Diese Wertung kann an der oben beschriebenen Trias54 von Demokratieprinzip, Parlamentarismus und Repräsentationsprinzip festgemacht werden und ist das materiell-verfassungsrechtliche Fundament, auf dem die Regeln in den Art. 70 ff. und 76 ff. GG ruhen. Dieser Zusammenhang hat für die Legitimierung des formellen Verfassungsrechts höchste Bedeutung.55 9. Verfahren der Verfassungsänderung Ebenso wenig wie für die Regelungen zur einfachen Gesetzgebung (und aus denselben Gründen) kann man für die Regelung der Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG beanspruchen, dass sie dem souveränen Volkswillen unmittelbar entspränge. Es war nicht der Souverän, der entschieden hat, dass die Verfassungsänderung durch das für die Gesetzgebung zuständige Parlament, und zwar mit genau „der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates“, erfolgt. Diese detaillierte Wertung geht in erster Linie zurück auf die Autoren des Grundgesetzes. Auch hier geht die Wertung des mateBryde, Verfassungsentwicklung, 242 i. V. m. oben, Kapitel 9 B. II. 3. oben, Kapitel 7 A. V. 55  Vgl. unten, D. II. 2. 53  Vgl. 54  Vgl.



B. Der materielle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes233

riellen Verfassungsrechts nicht darüber hinaus, dass überhaupt auf demokratische Art und Weise durch staatliche Organe Recht gesetzt werden kann. Ein auf diese Weise zustande gekommenes formelles Verfassungsrecht kann, wenn es die dem materiellen Verfassungsrecht unmittelbar nachfolgende Ebene des Rechts sein soll, seine Legitimation also nicht unmittelbar aus der „Ermächtigung“ in Art. 79 Abs. 1, 2 GG beziehen, da diese selbst nicht Teil des materiellen Verfassungsrechts ist. Eine wichtige Konsequenz aus dieser Bewertung ist: Die eigentlich einzige naheliegende Möglichkeit, dass das formelle Verfassungsrecht sich aus einer durch das materielle Verfassungsrecht delegierten Änderungskompetenz heraus legitimiert, nämlich die oben56 beschriebene Option 4) der „echten Änderungskompetenz“, scheidet damit aus.57 Art. 79 Abs. 1, 2 GG ist nicht die materiell-verfassungsrecht­ liche Delegierung der Kompetenz zur Setzung des formellen Verfassungsrechts.

II. Art. 79 Abs. 3 GG selbst? Eine umstrittene und zugleich besonders interessante Frage ist die, ob Art. 79 Abs. 3 GG selbst gemäß den Abs. 1 und 2 abänderbar ist, also ob er von dem (vermeintlich) von ihm ausgehenden Schutz selbst umfasst ist oder nicht. Überwiegend wird das bejaht.58 Ausdrücklich normiert ist es jedoch nicht. Wenn man aber beachtet, dass sein Inhalt keine Norm ist, sondern deklaratorisch eine Seins-Gegebenheit anerkennt, nämlich die, dass das materielle Verfassungsrecht nicht zur Disposition der „verfassungsändernden Gewalt“ (formeller Verfassunggeber) steht59, dann kann er nicht abänderbar sein. Was in der Form eines seinsmäßigen Gesetzes gilt, steht zu niemandes Disposition. Das ist auch die Antwort auf die umstrittene Frage, ob Art. 79 Abs. 3 GG selbst von seiner Unabänderlichkeitserklärung mit umfasst ist oder nicht. Die Befürworter berufen sich auf die „Normlogik“60; dahinter steht aber das Konzept von materiellem und formellem Verfassungsrecht. 56  Vgl.

oben, Kapitel 9 B. II. 4. wird unten, D. II. 1., im Zusammenhang mit der Legitimation des formellen Verfassungsrechts noch näher eingegangen. 58  Vgl. nur Sachs in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 80; Pieroth in Jarass / Pieroth, GG, Art. 79 Rn. 13. 59  Vorausgesetzt, was oben, 9., bereits festgestellt worden ist und unten, D. II. 1., im Zusammenhang mit der Legitimation des formellen Verfassungsrechts nochmals genauer dargelegt wird: dass das materielle Verfassungsrecht keine Änderungskompetenz bereitstellt. 60  Vgl. kritisch Joerden, Logik im Recht, 359; vgl. auch Pieroth in Jarass / Pieroth, GG, Art. 79 Rn. 13: „Logischerweise darf auch Art. 79 Abs. 3 selbst nicht geändert werden“. 57  Darauf

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

Ohne Trennung zwischen diesen beiden ließe sich diese Frage überhaupt nicht vernünftig beantworten, sie führte in einen infiniten Regress: Wenn Art. 79 Abs. 3 GG abänderlich wäre, so könnte man zunächst seinen Inhalt abändern, und danach die vormals durch ihn geschützten Inhalte ändern. Das verleitet zu dem „normlogischen“ Schluss, dass doch die Unabänderlichkeit von Art. 79 Abs. 3 GG, auch wenn sie nicht ausdrücklich normiert ist, mitgedacht werden muss, da die Regel sonst keinen Sinn machte.61 Was wäre aber, wenn die Unabänderlichkeit ausdrücklich festgelegt wäre? Nichts wäre gewonnen. Anhand dieser ausdrücklichen Normierung würde sich dann wiederum exakt dasselbe Problem (der Abänderbarkeit dieser Norm) stellen, und so ginge es unendlich weiter. Auch eine „mitgedachte“ Normierung hilft darüber nicht weg. Warum sollte diese nur „mitgedachte“, aber nicht ausdrückliche Unabänderlichkeitserklärung bezüglich Art. 79 Abs. 3 GG nicht erst recht abänderbar sein? Und so weiter. Das Problem, ob Abs. 3 nun von seinem Schutz erfasst ist oder nicht, ist damit ein Scheinproblem. Die Frage der Unabänderlichkeit des Art. 79 Abs. 3 GG stellt sich gar nicht, wenn man erkennt, dass die dort genannten Inhalte für die verfassungsändernde Gewalt nicht abänderbar sind, weil sie materielles Verfassungsrecht darstellen. Art. 79 Abs. 3 GG ist gar nicht der konstitutive Grund für die Unabänderlichkeit. Man könnte ihn auch streichen, an der Unabänderlichkeit der genannten Inhalte (im hier festgestellten Umfang) änderte das nichts. Wer sollte Unabänderlichkeiten wie die in Art. 79 Abs. 3 GG anordnen, wenn nicht die der verfassungsändernden Gewalt übergeordnete, souveräne verfassunggebende Gewalt? Dann ergeben sich die Unabänderlichkeiten aber aus den Grundsätzen des Stufenbaus, diese beantworten bereits die Frage. Wäre es nicht die verfassunggebende Gewalt, die diese Wertungen vorgenommen hat, so könnte keine verfassungsändernde Gewalt sich selbst verbindlich davon abhalten, etwas zu ihrer Disposition Stehendes abzuändern. Selbst wenn sie es ausdrücklich nicht wollte – sobald sie es wollte, könnte sie es. Würde sie selbst hinter der Normierung62 des Art. 79 Abs. 3 GG stehen, dann könnte sie diese Normierung auch tatsächlich selbst abschaffen.63 Art. 79 Abs. 3 GG selbst (die Unabänderlichkeitserklärung) ist also nicht Teil des materiellen Verfassungsrechts, sein Inhalt ist ein Seins-Gesetz und damit überhaupt kein Recht, sondern Realität. Er ist somit weder „von sich 61  Sachs

in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 80. würde es sich auch um eine Normierung handeln, da die verfassungsändernde Gewalt sich durch normative Festlegung selbst „binden“ würde – freilich nur so lange, bis sie ihre Meinung ändert. 63  Hinter Art. 79 Abs. 3 GG steht also keine Selbstbindung des Verfassunggebers, so auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 242; vgl. auch Murswiek in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 104. 62  Dann



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts235

selbst umfasst“, noch ist er es nicht: Er steht auf der Seins-Seite des Dualismus.64 Die in ihm genannten Normierungen, die zu schützen er intendiert, gehören allerdings (im hier festgestellten Umfang) zum materiellen Verfassungsrecht.

C. Die Setzung des materiellen Verfassungsrechts Das materielle Verfassungsrecht geht auf die ausschließliche konstitutive Bedingung der Setzung durch den souveränen Gemeinwillen zurück. Gleiches gilt für seine Änderung. Auch hierfür kommt ausschließlich der Souverän in Betracht. Soweit es als Verfassungskern im Grundgesetz aufgeführt ist, handelt es sich um eine deklaratorische Darstellung der von den Autoren richtigerweise erkannten Wertung des Souverän.

D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts Bisher ist der Begriff der Verfassung im formellen Sinne noch relativ unkonkret und als bloßer Auffangbegriff verwendet worden für dasjenige Recht im Verfassungsdokument, das mangels unmittelbarer Zurechenbarkeit zum Souverän nicht als Verfassungsrecht im materiellen Sinne bezeichnet werden kann. Insofern gab es bisher lediglich eine negative Definition für das formelle Verfassungsrecht. Die Rechtsnatur, der Geltungsgrund beziehungsweise das Zustandekommen und auch der Rang (oder auch die Ränge) dieses Rechts in der Hierarchie der Rechtsordnung sind bisher erst insoweit in Betracht gezogen worden, als es auf die dem materiellen Verfassungsrecht folgende Stufe festgelegt worden ist. Das bedeutet anders ausgedrückt, dass es sich aus diesem heraus legitimieren muss. Das muss für das Grundgesetz im Folgenden nachgewiesen werden. Die Frage nach dem Charakter, nach der Natur, nach der Art des im Grundgesetz enthaltenen formellen Verfassungsrechts stellt sich in erster Linie als Frage nach der rechtlichen Legitimation. Da es nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens des Souverän ist – gerade das kann ja nicht beansprucht werden – bedarf es einer anderen, vom Souverän verschiedenen Rechtsetzungskompetenz, die dieses formelle Verfassungsrecht in legitimer Weise in Geltung zu setzen vermag. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wie dieses Recht faktisch-historisch zustande gekommen ist, und die beide auf ihre legitimatorischen Momente hin untersucht werden müssen: zum einen durch die Ereignisse der Jahre 64  Im Wesentlichen wohl auch so Hain in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG II, Art. 79 Rn. 42.

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

1948 / 49 um das Zustandekommen des Ur-Grundgesetzes und zum anderen durch das in Art. 79 Abs. 1, 2 GG beschriebene Verfahren65 („Art. 79-Recht“). Jeder Satz des formellen Teils des Grundgesetzes ist auf eine dieser beiden Möglichkeiten zurückzuführen und muss durch eine dieser Optionen legitimiert sein.

I. Legitimation aus eigener Kraft Bevor nach einer Ermächtigung zum Erlass des formellen Verfassungsrechts, die ausschließlich im materiellen Verfassungsrecht gefunden werden könnte, gesucht wird, soll ein anderer Ansatz in Betracht gezogen werden. Es wird der Frage nachgegangen, ob die das formelle Verfassungsrecht setzenden Organe – der Parlamentarische Rat beziehungsweise die damaligen westdeutschen Länder einerseits, das in Art. 79 Abs. 1, 2 GG benannte Organ andererseits – über die dazu erforderliche Kompetenz aus eigener Kraft, aus sich heraus, also kraft besonderer Qualifikation verfügten beziehungsweise verfügen. Nach den vorangegangenen Darstellungen über die Rechtsordnung kann diese „besondere Qualifikation“, vermöge derer Recht unmittelbar legitimiert werden kann, nur eines bedeuten: Souveränität.66 Das würde allerdings bedeuten, dass es sich beim formellen Verfassungsrecht doch auch um materielles Verfassungsrecht handelte, da es ja der einzigen konstitutiven und hinreichenden Voraussetzung des materiellen Verfassungsrechts – Setzung durch den Souverän – entsprechen würde. Die rechtsetzenden Organe wären, wenn sie mit dem Souverän identisch wären, „überqualifiziert“, um formelles Verfassungsrecht zu setzen. Es kann allerdings in der Hierarchie der Rechtsordnung keine souveräne Gewalt geben außer dem Souverän, das wäre unverträglich mit dem Bild der Hierarchie der Normsetzer. Diese Organe müssten folglich identisch sein mit dem Souverän, also den Gemeinwillen ausdrücken. Dass diese Souveränität bei den Setzern des formellen Verfassungsrechts nicht vorliegt, ist aber gerade zur Voraussetzung gemacht worden für die Einordnung als formelles Verfassungsrecht. Diese negative Bedingung war bisher das einzige Wesensmerkmal dieser Art von Recht, außer dem, dass es im Verfassungsdokument steht. Es erscheint insoweit eigentlich überflüssig, diesen Punkt zu prüfen. 65  Dieses Verfahren wird für den Zweck dieser Arbeit vereinfacht dargestellt als Zweidrittelmehrheit im Bundestag, ungeachtet der Beteiligung des Bundesrates und der übrigen föderativen Elemente der Gesetzgebung. Für den Untersuchungsgegenstand, die Frage der Legitimation und des Charakters dieses Rechts, ändert diese Vereinfachung im Wesentlichen nichts; hier steht im Vordergrund das gegenüber der einfachen Gesetzgebung erhöhte Zustimmungsquorum. 66  Nur der Souverän hat Rechtsetzungskraft aus sich heraus, ohne auf normative Delegierung dieser Kompetenz angewiesen zu sein.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts237

Es ist offensichtlich wenig ertragreich, dass man etwas, das man dadurch definiert und abgrenzt, man also voraussetzt, dass es nicht vom Souverän gesetzt worden ist, darauf hin prüft, ob es vielleicht vom Souverän gesetzt worden ist. Hier erscheint es dennoch zweckmäßig. Das bloße Empfinden, dass man Rechtliches rein materiell betrachtet als nicht wichtig genug einordnet, um vom Gemeinwillen geregelt worden zu sein, ist ein schwaches Argument gegen die Möglichkeit, dass die Instanz, die es erlassen hat, über Souveränität verfügt. Aber eine Vermutung darf man durchaus aussprechen: Damit das Konzept aufgeht, dürfte die souveräne Eigenschaft bei den Organen, die formelles Verfassungsrecht setzen, nicht nachzuweisen sein. 1. Die „verfassungsändernde Gewalt“ Betrachtungsgegenstand ist zunächst die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sie könnte diese Kompetenz aus eigener Kraft, also kraft eigener Natur, innehaben (direkt aus der Sphäre des Seins), sodass Art. 79 Abs. 1, 2 GG selbst nur deklaratorischer Charakter zukäme. Die parlamentarische Zweidrittelmehrheit ist aber letztlich nur eine, wenn auch in gewisser Weise „qualifizierte“, Mehrheit einer Gruppe von Menschen. Die Souveränität der qualifizierten Zweidrittelmehrheit im Parlament ist damit nicht zu begründen.67 Daran ändert es auch nichts, dass diese Menschen das gesamte Volk repräsentieren, zumal sie das Volk im Sinne der Demokratie, nicht im Sinne der Volkssouveränität repräsentieren. Was zur einfachen Mehrheit gesagt wurde gilt nicht minder für die Zweidrittelmehrheit. Die Mehrheit ist ein bloßer Kompromiss aus einzelnen Individualwillen. Die Erhöhung der einfachen Mehrheit um weitere ca. 17 % ändert qualitativ nichts an dieser Einordnung. Hierin kann auch keine Vermutung, Annäherung oder Fiktion des Gemeinwillens gesehen werden. Die Mehrheit, auch die qualifizierte, hat keine rechtliche Bedeutung außer der, die ihr von höherer Ebene konstitutiv zugeteilt wird. Sie ist nur legitimiert zur Rechtsetzung, wenn das ihr innewohnende Gerechtigkeitsmoment der (einfachen) Mehrheit als legitim anerkannt wird und aus diesem Grunde als Kompromiss zur Willensfindung akzeptiert wird. Durch jedes Mehrheitsverfahren kann nicht der Gemeinwille unmittelbar zum Vorschein gebracht werden, sondern immer nur ein Kompromiss, der auf der Summe der individuellen Einzelwillen beruht. Das in Art. 79 Abs. 1, 2 GG benannte Organ, der „verfassungsändernde Gesetzgeber“, verfügt somit nicht aus sich heraus über die Kompetenz, Recht zu setzen, sondern ist als verfasste Gewalt auf eine Kompetenzzuweisung angewiesen.

67  Vgl.

oben, Kapitel 7 A. V.

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

2. Das Ur-Grundgesetz Das Grundgesetz in der Fassung seines Inkrafttretens im Jahre 1949 ist vom Parlamentarischen Rat auf der Grundlage des Herrenchiemseer Entwurfes ausgearbeitet worden.68 Der Parlamentarische Rat selbst bestand aus 65 Abgeordneten der damals elf westdeutschen Landtage. Mit 53 gegen 12 Stimmen wurde das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Plenum angenommen. Darauf folgte die Genehmigung durch die alliierten Militärgouverneure. Der (scheinbar) entscheidende Schritt zum Inkrafttreten erfolgte allerdings erst durch die Ratifizierung in den einzelnen westdeutschen Ländern, deren Landtage vom 18. bis zum 21. Mai 1949 darüber abstimmten. Auch Bayern, als einziges das Grundgesetz ablehnendes Land, erkannte aber dessen Geltung an, soweit den in Art. 144 Abs. 1 GG aufgestellten Voraussetzungen – Ratifikation in zwei Dritteln der Länder – entsprochen würde.69 Damit waren die für das Grundgesetz als konstitutiv anerkannten Voraussetzungen erfüllt. In diesem Verfahren, das letztlich auch im Wesentlichen auf dem Mehrheitsprinzip basiert, kann keine Artikulation des Gemeinwillens erkannt werden. Abgesehen von den Teilen des Grundgesetzes, die ohnehin den Gemeinwillen treffen, und die damit ohnehin bereits als materielles Verfassungsrecht, unabhängig vom Verfahren im Parlamentarischen Rat und den westdeutschen Ländern, in Geltung standen, findet sich hier keine souveräne Legitimationsgrundlage. Nichts ist ersichtlich, das darauf schließen lässt, diese Sätze unabhängig von ihrer Konformität mit irgendeinem normierten Verfahren als legitimes Recht anzuerkennen. Letztlich kann auch nicht in einem Plebiszit über das Grundgesetz, wie man ihn möglicherweise in der ersten Bundestagswahl erkannt haben will,70 der Ausdruck des Gemeinwillens erkannt werden, da in einem solchen Plebiszit ebenfalls nur der mehrheitliche Wille des verfassten Volkes hervortritt. Auch der Parlamentarische Rat, die westdeutschen Länderparlamente und die Summe der Deutschen können nicht aus eigener Kraft heraus die Legitimation zur Geltung des von ihm gesetzten Rechts aufbringen. Sie sind 68  Vgl. zur Genese des Grundgesetzes Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik, Rn. 25. 69  An diesem sich im Bayerischen Landtag abspielenden Prozedere erkennt man gut die Funktionsweise des Mehrheitsprinzips: Zunächst wird diesem Verfahren zugestimmt; ein Beschluss, der einstimmig, also von allen Landtagen angenommen werden muss. Dann stimmt man gegen die einzelne Frage – hier die Geltung des Grundgesetzes – und lässt anschließend den zustimmenden Willen der Mehrheit gegen sich gelten. 70  Dazu sogleich unten, III. 4.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts239

selbst Organe, die mit Mehrheitsbeschluss Recht beschließen und sind als solche auf eine Kompetenzzuweisung angewiesen.

II. Anforderungen des materiellen Verfassungsrechts Mit der Abweisung der Möglichkeit der Legitimation aus eigener Kraft heraus durch die rechtsetzenden Organe scheidet schließlich die oben genannte Option 2) aus. Art. 79 Abs. 1, 2 GG stellt keinen deklaratorischen Hinweis auf die ohnehin bestehende Kompetenz des Souverän dar, die dessen Verfahren der Rechtsetzung beschreibt. Damit müsste das im Grundgesetz enthaltene formelle Verfassungsrecht, damit es in der Hierarchie die dem materiellen Recht unmittelbar nachfolgende Stufe besetzen kann, seine Legitimation aus einer Kompetenzzuweisung im Rahmen des Verfassungsrechts im materiellen Sinne beziehen. Möglich erscheinen damit noch Op­ tion 1), die normale Delegierung, und Option 4), die Änderungskompetenz. 1. Ablehnung des Art. 79 Abs. 1, 2 GG als konstitutive Bestimmung Nach oben71 abstrakt zur Verfassungsänderung Gesagtem böte sich folgende Konstellation an: Art. 79 Abs. 1, 2 GG sei die vom Souverän im Rahmen der materiellen Verfassung delegierte Kompetenz zur Verfassungsänderung. Das bedeutete, diese Kompetenz wäre verfasste Gewalt, sie wäre befugt zur Rechtsetzung im Range unterhalb des materiellen Verfassungsrechts, entweder als „normale“ delegierte Rechtsetzungsgewalt oder aber als echte „Änderungskompetenz“ und somit nicht materiell an das materielle Verfassungsrecht gebunden – je nach Reichweite der in Absatz 3 geregelten Unantastbarkeiten. Das formelle Verfassungsrecht wäre damit diejenige dem materiellen Verfassungsrecht untergeordnete Ebene der Rechtsordnung, die wiederum die Erzeugungsregel des einfachen Gesetzesrechts enthält und damit diesem übergeordnet wäre. Diese Möglichkeit muss aber scheitern. Es ist bereits festgestellt worden, dass die relativ detaillierte Verfahrensregel des Art. 79 Abs. 1, 2 GG unmöglich glaubhaft dem Verfassungsrecht im materiellen Sinne zugerechnet werden kann.72 Das würde mit der vorangegangenen Charakterisierung der Verfassung im materiellen Sinne als unmittelbar vom Souverän gesetztes Recht kollidieren: Der Gemeinwille, der sich unter anderem für das Demokratieprinzip und die Menschenwürde entscheidet, denkt nicht nach über Quoren von 67 % und über Beteiligungen von gesetzgebenden Organen wie 71  Vgl. 72  Vgl.

oben, Kapitel 9 D. oben, B. II. 9.

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

Bundestag und Bundesrat. Diese Verfahrensregel ist vielmehr alleine das Werk der Autoren des Grundgesetzes, also vom Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates so aufgeschrieben worden, und hätte, ohne die Grundwertungen der materiellen Verfassung wesentlich zu beeinträchtigen, auch anders ausfallen können. Hinter ihr steht kein höherer Wille als der des Parlamentarischen Rates beziehungsweise der westdeutschen Landtagsabgeordneten. Art. 79 Abs. 1, 2 GG kann nicht als Teil der materiellen Verfassung angesehen werden und somit kann er auch nicht, jedenfalls nicht unmittelbar und konstitutiv, die Delegierung der Kompetenz zur Setzung dieses Rechts verkörpern. Auch sonst kann keine ausdrückliche Ermächtigung gefunden werden, womit weder eine „normale“ Delegierung der Kompetenz, ohne eine Änderungsbefugnis, noch eine „amending power“ ersichtlich ist. Auch die zweite und historisch erste Möglichkeit, die zur Setzung des formellen Verfassungsrechts geführt hat, nämlich durch die Ereignisse in den Jahren 1948 / 49, findet keine ausdrückliche Ermächtigung im materiellen Verfassungsrecht des Grundgesetzes. Diese Funktion können auch die Art. 144, 145 GG, die das Inkrafttreten des Grundgesetzes regeln sollen, nicht übernehmen: Dagegen, sie als Ausdruck des Gemeinwillens zu qualifizieren, sprechen dieselben Bedenken, die schon gegen eine solche Qualifikation des Art. 79 Abs. 1, 2 GG sprechen. 2. Das Demokratieprinzip als konstitutive Bestimmung Auf der Suche nach einer konstitutiven, die Kompetenz zur Setzung formellen Verfassungsrechts delegierenden Ermächtigungsnorm im Rahmen des Verfassungsrechts im materiellen Sinne gerät der Blick auf das Demokratieprinzip. Genauer gesagt gerät der Blick auf die Trias aus Demokratieprinzip, Repräsentationsprinzip und Parlamentarismus. Diese drei Wertungen in ihrem gegenseitigen Bezug aufeinander sind im Verfassungsrecht im materiellen Sinne verankert.73 Sie ermächtigen staatliche Organe zur Rechtsetzung nach demokratischen Grundsätzen. Aus dieser Trias gehen dafür relevante Einzelwertungen hervor, die gemeinsam den Rahmen staatlicher Rechtsetzung bestimmen. Zunächst werden nun diese Wertungen, die zugleich die konstitutiven Bedingungen staatlich gesetzten Rechts bilden sollen, näher benannt. Das erfolgt im Wege der Anwendung und Interpretation des bisher Festgestellten. Daran schließt sich dann (III. und IV.) die Prüfung an, inwieweit die formelles Verfassungsrecht setzenden Instanzen, also Parlamentarischer Rat und parlamentarische Zweidrittelmehrheit, diesen Bedingungen entsprechen. 73  Vgl.

oben, B. I. 2.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts241

An erster Stelle steht die Wertung, dass überhaupt auf der Grundlage des Verfassungsrechts im materiellen Sinne die Möglichkeit besteht, dass staatliche Organe rechtsetzend tätig werden. Die Wertung, dass es überhaupt möglich sein muss, unterhalb des Verfassungsrechts im materiellen Sinne Recht zu setzen, kann als logisches Minus als in der Trias enthalten angesehen werden. Wenn diese Wertungen enthält, wie die staatliche Rechtsetzung aussehen soll, so wird vorausgesetzt, dass eine solche überhaupt möglich ist. An zweiter Stelle steht die Erkenntnis, dass diese Rechtsetzung bestimmte Qualitäten aufweisen muss. Sie muss dem Demokratieprinzip74 genügen, sie kann sich des Repräsentationsprinzips75 bedienen und ist den Grundsätzen des Parlamentarismus76 verpflichtet. Auch das Mehrheitsprinzip77 fin­det an dieser Stelle Eingang in die konstitutiven Anforderungen an das staatlich gesetzte Recht. Es ist drittens eine Selbstverständlichkeit, die sich aus den Grundsätzen der positiven Rechtsordnung (Stufenbau der Rechtsordnung)78 ergibt, dass das staatlich gesetzte Recht ein hierarchisches System etablieren kann. Dass dieser Stufenbau, dieser Teil der Rechtsordnung, gleichzeitig aber auf jeder Stufe den formellen und materiellen Vorgaben des Verfassungsrechts im materiellen Sinne entsprechen muss (sowie, noch selbstverständlicher, den ontologischen Seins-Grundsätzen des Rechts), gilt ebenfalls an dieser Stelle als geklärt. Von enormer Wichtigkeit wird, insbesondere im Verhältnis von formellem Verfassungsrecht zu einfachem Parlamentsrecht, genau dieses Zusammenspiel von Stufenbau der Rechtsordnung einerseits und materiellverfassungsrechtlichen Vorgaben durch das Demokratieprinzip andererseits sein. Es ist bereits oben79 mit dem Dualismus zwischen rechtlicher und demokratischer Legitimität bezeichnet worden. Recht, dass diesen genannten Anforderungen entspricht, kann als mit dem materiellen Verfassungsrecht konform angesehen werden. Nun stellt sich allerdings die Anschlussfrage, wodurch ein konkreter Rechtssatz ausgerechnet dem formellen Verfassungsrecht zugeordnet werden muss, oder negativ, welche auf diese Weise zustande gekommenen Rechtssätze aus welchen Gründen gerade nicht dem formellen Verfassungsrecht zuzuordnen sind, sondern dem einfachen Recht oder einer sonstigen Ebene. Das Problem ist, dass doch alles Recht in der Rechtsordnung des Grundgesetzes mehr oder 74  Vgl. 75  Vgl. 76  Vgl. 77  Vgl. 78  Vgl. 79  Vgl.

oben, oben, oben, oben, oben, oben,

Kapitel 7 Kapitel 7 Kapitel 7 Kapitel 7 Kapitel 2 Kapitel 7

A.; Kapitel 10 B. I. 2. A. V.; Kapitel 10 B. I. 2. A. V.; Kapitel 10 B. I. 2. B. B. A. IV.

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weniger den genannten Anforderungen entspricht. Wenn ein Minister eine Rechtsverordnung erlässt, so setzt er damit auf legale und legitime Weise demokratisches Recht. Was aber führt nun dazu, dass diese Rechtsverordnung in der Hierarchie tatsächlich dort „landet“, wo sie hingehört – relativ weit unten, und nicht auf der Ebene des formellen Verfassungsrechts, dessen Voraussetzungen sie doch scheinbar auch erfüllt? Noch verschärft stellt sich die Frage, wenn der Bundestag einfaches Parlamentsrecht gemäß Art. 70 ff. und Art. 76 ff. GG beschließen will. Wie kann sichergestellt werden, dass wirklich nur dasjenige Recht unmittelbar unterhalb des Verfassungsrechts im materiellen Sinne angesiedelt ist, welches auch dafür vorgesehen ist – also das Verfassungsrecht im formellen Sinne? Eines vorweg: Die Antwort gibt nicht bereits der Stufenbau der Rechtsordnung, die Hierarchie der Rechtsetzer.80 Ein Irrweg wäre es, anzunehmen, dass ein sowohl rein rechtlich als auch demokratisch legitimierter Rechtsetzer, um die Voraussetzung demokratischer Legitimation zu erfüllen, auf die Vermittlung dieser Legitimität durch die ihm übergeordneten Ebenen angewiesen wäre und sich dadurch, durch diese Abhängigkeit, automatisch diesen Ebenen unterordnete. Seine Stellung im Stufenbau wäre ihm dadurch also schon immanent, da sie in der Legitimitätsvermittlung „mitgegeben“ würde. Hier wird aber demokratische mit rechtlicher Legitimation verwechselt beziehungsweise beides gleichgesetzt. Für die Unterordnung ist die rechtliche Legitimation relevant, um die geht es aber hier nicht, sondern nur um die demokratische. Diese demokratische Legitimität ist zwar tatsächlich auch nur vermittelt (beispielsweise bei einem Parlament durch das Wahlvolk oder bei einem Minister durch das Parlament) und damit in unterem Rang, das hat aber keine unmittelbare Auswirkung auf den Rang des Rechts in der Hierarchie der Rechtsordnung. Der entsprechende Rechtsetzer könnte daher beanspruchen, formelles Verfassungsrecht zu setzen. Es bedarf dazu ja gerade keiner formellen legalen Kompetenzzuweisung, es kommt nur auf die vorhandene materielle, also auf die demokratische Legitimation an; mehr fordert das materielle Verfassungsrecht nicht. Eine untergeordnete Rechtsetzungsebene, die ihre Kompetenz über mehrere Stufen vermittelt bekommen hat, könnte folglich, wenn sie demokratisch legitimiert ist, sagen: „Es ist mir egal, dass ich die Rechtsetzungskompetenz von anderen, höheren In­ stanzen delegiert bekommen habe und in diesem Sinne ihnen untergeordnet bin. Ich, für mich, selbst ohne eine solche Delegierung, entspreche den Anforderungen der Verfassung im materiellen Sinne zur Setzung staatlichen Rechts, und bin damit im Stande, Verfassungsrecht im formellen Sinne zu setzen. Die Kompetenz dazu delegiert mir das Verfassungsrecht im materi-

80  Vgl.

oben, Kapitel 2 B. I.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts243

ellen Sinne unmittelbar. Und von dieser Kompetenz mache ich nun Gebrauch.“ Damit bleibt die Antwort auf die Frage weiter offen, woher die korrekte Einordnung als formelles Verfassungsrecht nur dieses Rechts, das auch dorthin „gehört“, stammt. Der subjektive Tatbestand der Rechtsetzung Ein Kriterium liefert das Erfordernis der demokratischen Legitimation des Rechtsetzers. Zur demokratischen Legitimation gehört immer auch die Ermächtigung durch den Träger der demokratischen Gewalt, also durch das Staatsvolk, zu genau dieser Art von Rechtsetzung.81 Der Wahlakt muss neben der Personalauswahl auch eine bewusste Ermächtigung durch das Wahlvolk darstellen, die rechtsetzende Instanz zu dieser Art von Rechtsetzung zu ermächtigen.82 Das ist in der Rechtsordnung des Grundgesetzes beispielsweise beim Minister nicht der Fall in Bezug auf die Setzung formellen Verfassungsrechts. Das Parlament wird hingegen im Wahlakt durch das Volk – seinerseits informiert durch Art. 79 Abs. 1, 2 GG – dazu ermächtigt, neben einfachem Parlamentsrecht auch Verfassungsrecht im formellen Sinne zu setzen. In diesem Akt wird auch eine vom Parlament zu konstituierende und ihm gegenüber verantwortliche Regierung zur Rechtsetzung legitimiert, aber eben nur auf dem Range einer Rechtsverordnung. Den Anforderungen an die Setzung formellen Verfassungsrechts durch das Verfassungsrecht im materiellen Sinne, insbesondere durch das Demokratieprinzip, wird somit nur eine Instanz gerecht, die vom Volk auch ausdrücklich dazu ermächtigt worden ist. Das ist beim Parlament der Fall. Eine letzte Bedingung fehlt noch. Es ist nämlich nicht so, dass jede mehrheitliche normative Äußerung des Parlaments auch gleich unbedingt Verfassungsrecht im formellen Sinne wird. Vielmehr ist manches, das durchaus allen bisher genannten Bedingungen entspricht, lediglich einfaches Parlamentsrecht, anderes ist überhaupt kein Recht, sondern lediglich eine sonstige Willensäußerung des Parlamentes ohne jeden Rechtscharakter. Die letzte Bedingung liegt im subjektiven Tatbestand der Rechtsetzung. Rechtsetzung ist immer nicht nur Tätigkeit bei Erfüllung objektiver Kriterien einer Kompetenzzuweisung. Rechtsetzung ist immer auch bewusstes und gewolltes Tätigwerden in diesem Sinne. Dieser subjektive Tatbestand in Form eines kognitiven und eines voluntativen Elementes ist eine allgemeine Vorausset81  Das ist bereits Bedingung der demokratischen Legitimation der rechtsetzenden Instanz, vgl. Kapitel 7 A. V. 82  Vgl. oben, Kapitel 7 A. III. 1.

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zung rechtlichen Handelns. Sie findet ihren Ausdruck auch im Bereich des Strafrechts, wo mit Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit neben der rein objektiven Erfüllung eines Tatbestandes immer auch subjektive Elemente Voraussetzung deliktischen Handelns sind. Auch im Zivilrecht tritt das subjektive Element zum Vorschein, sei es als haftungsbegründende Voraussetzung im Rahmen des deliktischen Schadensersatzes, sei es im Zusammenhang mit Willenserklärungen, die bei kognitiven oder voluntativen Mängeln anfechtbar sein können. Zur Rechtsetzung gehört immer auch der Wille, dieses Recht, und zwar neben der Klarheit über den normativen Inhalt auch konkret diese spezifische Art von Recht, zu setzen. Ein mit Rechtsetzungskompetenz ausgestatteter Mensch, der seinem Willen Ausdruck verleiht, ohne dass er dabei über Rechtsetzungswillen verfügt, äußert eine bloße private Willensäußerung. Ihn unterscheidet dann nichts von jeder anderen Person, die ihren privaten Willen äußert. Der Bundestag könnte theoretisch den Willen zu einer Norm mit großer Mehrheit beschließen, ohne dass dieser Gesetz würde – wenn damit nicht der Wille einherginge, dass dies eine Betätigung der Rechtsetzungsbefugnis im Sinne der Art. 70  ff. GG sein soll. Zur Rechtsetzung – genau wie zu einer Vielzahl rechtlich relevanter Vorgänge wie einer vorsätzlichen Straftat oder einem Vertragsschluss – genügt also nicht die bloße objektive Erfüllung der normierten Voraussetzungen, nicht das bloße Vorhandensein der Kompetenz. Erforderlich ist auch eine bewusste und gewollte Wahrnehmung dieser Kompetenz. Der subjektive Tatbestand der formellen Verfassunggebung, also der Wille, „das Grundgesetz zu ändern oder zu erweitern“, um es mit der üblichen verfassungsrecht­ lichen Terminologie entsprechend Art. 79 Abs. 1, 2 GG zu bezeichnen, ist aber bei keinem Minister, der eine Rechtsverordnung erlässt, vorhanden. Er ist nicht vorhanden beim Parlament, das mit einfacher Mehrheit ein Gesetz beschließt. Er wäre darüber hinaus auch, jedenfalls beim Minister, nicht demokratisch auf den Willen des Volkes zurückführbar, da diese Stellen nicht demokratisch zur formellen Verfassunggebung legitimiert worden sind, sondern jeweils nur für ihre jeweilige, ihnen zugeordnete Kompetenz. Der Minister kann folglich gar kein Verfassungsrecht setzen. Wenn der Bundestag als verfassungsänderndes Organ agiert, dann ist dieser Aspekt anders zu beurteilen. In diesem Fall agiert das Parlament bewusst nicht als Setzer einfachen Rechts, sondern von formellem Verfassungsrecht, welches über dem einfachen Recht steht. Für diese Konstellation hat das wahlberechtigte Volk im Zuge der Bundestagswahl dieses Organ auch bewusst – zumindest theoretisch informiert über Art. 79 GG – zur Setzung dieses Rechts legitimiert. Damit sind alle Anforderungen, die das materielle Verfassungsrecht an die Setzung von Verfassungsrecht im formellen Sinne stellt, benannt. For-



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melles Verfassungsrecht wird gesetzt durch mehrheitliche Abstimmung in einem demokratisch legitimierten, also vom Volk dazu ermächtigten Gremium mit dem Ziel, dadurch von genau dieser Kompetenz Gebrauch zu machen. Das kann folglich der Bundestag sein, das kann eine andere vom Volk zu diesem Zwecke gewählte Versammlung sein, das kann aber auch das Volk selbst sein in einem Volksentscheid. Jede dieser Optionen würde den Anforderungen des Verfassungsrechts im materiellen Sinne, den Anforderungen des Demokratieprinzips, entsprechen. Es ist nicht ersichtlich, dass es sich bei dieser Kompetenz um eine Änderungskompetenz im oben83 beschriebenen Sinne handelt, vielmehr ist jedes Verfassungsrecht im formellen Sinne setzende Organ auch an die materiellen Vorgaben84 durch das Verfassungsrecht im materiellen Sinne gebunden.85 Es handelt sich um eine normale delegierte Kompetenz. Die Wahrnehmung ein und derselben Kompetenz durch zwei zeitlich und personell unterschiedlich zusammengesetzte Versammlungen (Parlamentarischer Rat und Parlament) ist unbedenklich, da die Kompetenzzuweisung nicht ein Organ bestimmt, sondern nur Voraussetzungen beschreibt. Jedes diese Kompetenz ausübende Organ muss lediglich zum Zeitpunkt der Kompetenzwahrnehmung dazu legitimiert sein. Diese Legitimation ist im Folgenden für beide Organe zu überprüfen.

III. Anwendung auf die Genese des Grundgesetzes Der formelle Verfassungsgehalt des Grundgesetzes vom 24. Mai 1949 müsste den oben hergeleiteten demokratischen Anforderungen entsprechen, um als legitimer Teil der Rechtsordnung in Kraft getreten zu sein, und zwar als „Verfassung“, nämlich Verfassung im formellen Sinn, also als oberste Ebene des staatlich gesetzten Rechts. Die objektiven Voraussetzungen dafür sind die Rechtsetzung durch den Willen der Mehrheit des Volkes, wobei das Volk repräsentiert werden kann durch ein vom Volk gewähltes Organ. Die83  Vgl.

oben, Kapitel 9 B. II. zwar an die oben, B. I., festgestellten. 85  Eine Änderungskompetenz im materiellen Verfassungsrecht ist theoretisch denkbar, aber der Natur dieses Rechts entsprechend wohl praktisch unwahrscheinlich in Form einer ganz konkreten normierten Ermächtigung. Im Grundgesetz kann man die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, festgemacht insbes. an Art. 23 Abs. 1 GG, als formell-verfassungsrechtliche Normierung verstehen, die auch eine Art von Änderungskompetenz da partielle Zurücknahme des eigenen Anwendungsanspruchs darstellt; vgl. oben, Kapitel 8 C. III. Die Grenze dieses formell-verfassungrechtlich eingeräumten Anwendungsvorrangs bleibt damit das materielle Verfassungsrecht; vgl. auch Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 295. 84  Und

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se Wahl muss ebenfalls dem Mehrheitsprinzip entsprechen. Die subjektiven Voraussetzungen sind zum einen das Bewusstsein seitens des Wahlvolkes, die Kompetenz zu eben dieser Art von Rechtsetzung zu vermitteln, sowie der entsprechende Rechtsetzungswille seitens des Organs. Es liegt in der Natur der Sache, dass es keine detaillierten Verfahrens­ regelungen zum „richtigen“ Erlass des formellen Verfassungsrechts geben kann. Allerdings gibt es zwei übliche86 Vorgehensweisen beim Erlass einer Verfassung (im formellen Sinne): Entweder wird eine „verfassunggebende Versammlung“ vom Volk gewählt und damit legitimiert zur Verabschiedung einer Verfassung und diese beschließt konstitutiv diese Verfassung.87 Oder es wird ein Konvent einberufen zur Ausarbeitung einer Verfassung, die der nachträglichen Legitimation durch das Volk (oder eines vom Volk dazu gewählten Gremiums) bedarf.88 Beide Möglichkeiten erfüllen die oben genannten Kriterien. Beim Grundgesetz war keiner der beiden Fälle einschlägig, die Situation war komplexer. Hier haben die deutschen Länder eine gewichtige Rolle gespielt, außerdem die Teilung des deutschen Volkes sowie der Einfluss der alliierten Besatzungsmächte. Letztere beide Punkte sollen als Sonderprobleme hier nicht weiter beachtet werden; sie sind jedenfalls heute überwunden. Es können verschiedene Schritte auf dem Weg zum Inkrafttreten des Grundgesetzes ausgemacht werden, die jeweils auf ihre legitimierende Kraft vor dem Hintergrund der genannten Anforderungen hin beleuchtet werden müssen.89 1. Ausarbeitung und Annahme durch den Parlamentarischen Rat Als erste Instanz zur Setzung des Verfassungsrechts im formellen Sinne ist der Parlamentarische Rat in den Blick zu nehmen und seine Legitima­tion zu prüfen.90 Zunächst noch gedrängt durch die drei westlichen Besatzungsauch Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 144 [Stand: Juni 2007] Rn. 21. war es 1919 in Weimar der Fall; vgl. auch Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 98; Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 145 [Stand: Juni 2007] Rn. 9. 88  Solche Referenden fanden über zahlreiche deutsche Länderverfassungen statt, vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 98; auch der Europäische Verfassungskonvent, der zwischen 2002 und 2003 tagte, kann als Beispiel dienen, unter Einschränkung der oben, Kapitel 8 E., genannten Bedenken gegen die Verfassungsqualität des zu erschaffenen Vertrages. 89  Zur Genese des Grundgesetzes ausführlich siehe z.  B. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland. 90  Es geht hier nicht einfach um die Frage der „verfassunggebenden Gewalt“ – die liegt, soweit sie das materielle Verfassungsrecht betrifft, beim souveränen deut86  Vgl. 87  So



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mächte, konstituierten die westdeutschen Landtage 1948 den Parlamentarischen Rat, der aus 65 Vertretern der in den Landtagen vertretenen Parteien (sowie fünf Berliner Abgeordneten mit Beobachterstatus) bestand. Die Abgeordnetenzahl richtete sich einerseits proportional nach der Einwohnerstärke der Länder sowie andererseits proportional nach den Fraktionsstärken der Landtage.91 Im Parlamentarischen Rat wurde das Grundgesetz auf der Grundlage des vom Herrenchiemseer Konvent eingebrachten Entwurfs ausgearbeitet und am 8. Mai 1949 nach dritter Lesung mit 53 gegen zwölf Stimmen angenommen.92 Die demokratische Legitimation des Parlamentarischen Rates ist zweifelhaft. Durch die gewahrte Proportionalität kann er zwar als Repräsentant des gesamten deutschen Volkes angesehen werden. Auch herrschte unter den Abgeordneten das Gefühl vor, dass man als Vertreter des deutschen Volkes auftrete.93 Relativiert wird diese Eigenschaft aber dadurch, dass man sich über das weitere Verfahren gemäß Art. 144 GG, die Abstimmungen über das Grundgesetz in den einzelnen Ländern, bewusst war. Als ausreichend legitimierte verfassunggebende Versammlung hat sich der Parlamentarische Rat also wohl nicht angesehen. Problematisch ist auch insbesondere, dass das Gremium indirekt durch die Landtage gewählt worden ist, zumal bei der Wahl der Landtage durch die Länderbevölkerungen nicht das Bewusstsein vorhanden war, indirekt eine verfassunggebende Versammlung zu legitimieren. Die Landtage sind seitens der Länderbevölkerungen nicht dazu legitimiert worden, eine „verfassunggebende“ Versammlung zu legitimieren.94 Diese fehlende demokratische Legitimation im Ausgangspunkt der Legitimationskette disqualifiziert letztlich den Parlamentarischen Rat.95 Zudem sorgte die relativ kleine Zahl an Abgeordneten für einen sehr hohen Grad schen Volk und war nur relevant für die Setzung des Verfassungsrechts im materiellen Sinne. Korrekt könnte von der die Verfassung im formellen Sinne gebenden Gewalt gesprochen werden. 91  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 34 f. 92  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 84. 93  Und nicht als Vertreter der jeweiligen Länder; vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, 31 f.; vgl. auch Möller, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 55; Stern, Staatsrecht V, § 133 II 9 c) α). 94  So auch Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, 86: „Die Abgeordneten [des Parlamentarischen Rates] schöpften ihren Glauben, ‚Vertreter‘ des Volkes zu sein, unter anderem daraus, daß sie – wie es in etlichen Entwürfen zur Präambel hieß – vom Volk entsandt wurden. Aber diese Ansicht entsprach nicht den Tatsachen, weil sie nicht vom Volk gewählt und die Landtage, von denen sie wirklich entsandt wurden, vom Volke nicht zur Verfassunggebung legitimiert waren.“ 95  Anders Starck in von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG I, Präambel Rn. 19.

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an Mediatisierung eines zu konstituierenden Volkswillens.96 Letztlich kann der Parlamentarische Rat nicht als ausreichend legitimiertes Organ angesehen werden, mit dem Grundgesetz formelles Verfassungsrecht in Kraft zu setzen.97 2. Annahme durch die westdeutschen Länder Nachdem das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat mehrheitlich angenommen worden war und die alliierten Militärgouverneure sich mit dem weiteren Verfahren, das in den Art. 144, 145 GG beschrieben ist, für Einverstanden erklärt hatten, wurde das Grundgesetz den westdeutschen Landtagen zur Ratifizierung vorgelegt.98 Außer in Bayern wurde es in allen Parlamenten zwischen dem 18. und dem 21. Mai 1949 angenommen und galt so gemäß Art. 144 Abs. 1 GG, der eine Annahme durch zwei Drittel der Länder voraussetzte (was von allen Ländern, auch Bayern, akzeptiert worden ist), als angenommen. Kann in diesem Verfahren eine ausreichende demokratische Legitimation erkannt werden, die das Grundgesetz als formelles Verfassungsrecht in Kraft zu setzen im Stande war? Zunächst einmal gilt es, klarzustellen, dass das deutsche Staatsvolk Träger der demokratischen Rechtsetzungsgewalt war und ist, nicht die deutschen Länder. Das ergibt sich ohne Weiteres aus allem bisher Gesagten, war aber auch 1949 die ganz überwiegende Meinung.99 Hier haben jedoch die Länder gehandelt; sie waren die Personen, unter denen mehrheitlich (zehn zu eins) über das Grundgesetz abgestimmt worden ist. Darin einen legitimierenden Akt zu erkennen gelingt nur, wenn diese elf Länder als Repräsentanten des deutschen Volkes auftreten konnten. Die Länder bildeten in diesem Moment ein elfköpfiges Organ, das unter Geltung des Mehrheitsprinzips über das Inkrafttreten des Grundgesetzes entschied.100 Dabei lag auch das Bewusstsein und der Wille vor, „Verfassungsrecht“ zu schaffen, der subjektive Tatbestand war somit erfüllt. Waren aber auch diese elf abstimmenden Personen, namentlich die westdeutschen Länder, demokratisch legitimiert? Durfte beziehungsweise konnte dieses „Organ“ über die Geltung von Verfassungsrecht abstimmen? Repräsentierten sie – was die entschei96  Vgl.

oben, Kapitel 7 A. V. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 97. 98  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 85 ff. 99  Vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, 30 ff. 100  Art. 144 I GG sagt: „Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll.“ 97  Vgl.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts249

dende Voraussetzung ist – das deutsche Volk, sind sie von diesem dazu ermächtigt worden? Diese Personen, also die einzelnen Länder, bildeten ihren Willen wiederum als einzelne Länderparlamente, als Landtage. Sie repräsentierten damit, jeder für sich als demokratisch gewähltes Parlament, zunächst die jeweiligen Länderbevölkerungen.101 Sie können aber nicht zugleich das gesamte deutsche Staatsvolk repräsentieren. Das funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht. Zum einen repräsentiert jeder einzelne Länderwille gerade dieses Land und zwar nur dieses, und in einer Reihe mit den jeweils anderen Ländern kann nicht der Wille des Gesamtvolkes repräsentiert werden, sondern nur der Wille der Länder, zumal jedes Land, unabhängig von seiner Größe, eine Stimme hat. Zum anderen hat dieses elfköpfige Organ auf diesem Wege in keinem Moment die erforderliche Legitimation vom Gesamtvolk übermittelt bekommen, da die Landtage in den jeweiligen Wahlvorgängen nur von der jeweiligen Landesbevölkerung legitimiert werden konnten und so jedes Land nur als Vertreter seiner Bevölkerung auftreten konnte, aber nicht das Gesamtorgan vom Gesamtvolk als sein Repräsentant gewählt worden ist.102 Das deutsche Volk ist zu keinem Zeitpunkt bewusst zur (auch nicht indirekten) Wahl eines zur gesamtdeutschen „Verfassunggebung“ legitimierten Organs geschritten.103 Vorhanden war also der (eingeschränkte104) Wille seitens der Länder, Verfassungsrecht zu schaffen, und auch ist das demokratische Verfahren des Mehrheitsprinzips beachtet worden. Es fehlte aber an der demokratischen Legitimation der Länder durch das deutsche Volk.105 Das Zustandekommen ist eher von dem Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages geprägt, der hier aber nicht weiterhelfen kann.106 Zwar kommt in der Geltung des Mehrheitsprinzips auch ein deutsches Gesamtbewusstsein der Länder zum Ausdruck, dieses wurzelt aber in den jeweiligen Ländervölkern als (völkerrechtlichen oder partiell 101  Vgl. Murswiek in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 147. 102  Vgl. dazu Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 99; a. A. Herdegen in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Präambel [Stand: Mai 2015] Rn. 54. 103  Vgl. auch Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 144 [Stand: Juni 2007] Rn. 22. 104  Sie wollten nicht wirklich eine „Verfassung“ schaffen; vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 28; vgl. auch Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, 27, 36. 105  A. A. Huber in Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 22 f. 106  Siehe aber Hillgruber in Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 144 Rn. 3; siehe auch Huber in Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 22, der die Länder „lediglich als organisatorische Einheiten […], deren sich das Deutsche Volk bei der Ausübung seiner verfassungsgebenden Gewalt bedient hat“, bezeichnet.

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völkerrechtlichen) Personen, nicht in den Personen des Staatsvolkes. Dieses Bewusstsein ist Grundlage der Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips zwischen den Ländern, aber es sind die handelnden Rechtssubjekte eben die Länder, nicht die Menschen. Wären die Abstimmungen in den Ländern in Form von Plebisziten ausgefallen, wie es im Frankfurter Dokument Nr. I noch vorgesehen war107, hätte das an der Einordnung des Vorgangs nichts geändert, jedenfalls nicht, wenn man das Ergebnis in derselben Weise gelesen hätte, wie man die Parlamentsabstimmungen gelesen hat: aus dem Erfordernis heraus, dass zwei Drittel der Länder zustimmen müssten. Lediglich dann, wenn die Plebiszite in allen elf Ländern positiv ausgefallen wären, oder wenn insgesamt in allen elf Ländern zusammengenommen mehr Zustimmung als Ablehnung verzeichnet worden wäre, hätte man das Ergebnis als demokratischen Entscheid des gesamten deutschen Volkes und damit als Legitimation des Grundgesetzes umdeuten können. Selbst das wäre aber letztlich nicht ganz unzweifelhaft, da die Plebiszite ja jeweils auf Landesebene durchgeführt worden wären und damit die Bürger eigentlich die falsche Frage gestellt bekommen hätten: nicht „Willst du als Deutscher das Grundgesetz?“, sondern „Willst du, dass dein Land (Bayern beispielsweise) an diesem Bundesstaat nach dem Grundgesetz teilnimmt?“ Die Landtage konnten diese Funktion jedenfalls nicht wahrnehmen; sie waren dazu nicht legitimiert.108 In der Ratifikation des Grundgesetzes durch die deutschen Länder kann folglich nicht die legitime Inkraftsetzung des Grundgesetzes als Verfassungsrecht im formellen Sinne liegen.109 3. Ausfertigung durch den Parlamentarischen Rat und Inkrafttreten Schließlich ist das Grundgesetz, wie es Art. 145 Abs. 1 GG beschreibt, vom Parlamentarischen Rat nach der Feststellung seiner Annahme ausgefertigt und verkündet worden und sollte nach diesem letzten Schritt am 24. Mai 1949 in Kraft treten.110 Anlässlich dieses eher förmlichen, feierlichen und deklaratorischen Vorgangs treten aber keine neuen Aspekte auf, die dem Grundgesetz legitimatorische Kraft hätten zukommen lassen können.

Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 144 [Stand: Juni 2007] Rn. 5. eine andere Richtung Huber in Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 19. 109  So im Ergebnis auch Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 144 [Stand: Juni 2007] Rn. 20. 110  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 87; vgl. auch Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 145 [Stand: Juni 2007] Rn. 3 ff. 107  Vgl. 108  In



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts251

4. Nachträgliche Legitimation durch Bundestagswahl und Verfassungskonsens Es wurde also festgestellt, dass weder der Parlamentarische Rat noch die deutschen Länder legitimiert waren, das Grundgesetz als Verfassungsrecht im formellen Sinne in Kraft zu setzen.111 Der Vorgang der tatsächlichen Legitimation des Grundgesetzes durch das Volk ist hingegen in dem plebiszitären Gewicht der ersten demokratischen Bundestagswahl vom 14. August 1949 zu erkennen.112 Hier ist die Legitimation, derer das Grundgesetz als formelles Verfassungsrecht bedurfte und die es seit seinem „Inkrafttreten“ wenige Monate zuvor beanspruchte, nachträglich demokratisch durch das Gesamtvolk verliehen worden. Es ist keine Fiktion, in dem Wahlergebnis, das eine Mehrheit für die das Grundgesetz stützenden Parteien brachte, eine bewusste Legitimation durch das Wahlvolk zu sehen und damit die Verfestigung des Grundgesetzes im Range des formellen Verfassungsrechts, das den Anforderungen des materiellen Verfassungsrechts genügte.113 Dieser Vorgang ergänzt nicht das defizitäre Verfahren der Länderabstimmung, er ersetzt ihn vielmehr, da er alle Voraussetzungen demokratischer Rechtsetzung vereinigt. Man kann davon ausgehen, dass bei den Wählern dieser ersten Bundestagswahl das Bewusstsein der Abstimmung über das Grundgesetz durchaus vorhanden war, auch wenn es nicht ausdrücklich darum ging. Die Wahl, die ja selbst auf der Ordnung des Grundgesetzes beruhte, kann man als Angebot an das deutsche Volk interpretieren, erstmals dieses Grundgesetz anzuwenden und damit anzunehmen. Letzten Endes kann das Ergebnis des Plebiszits mit 54,7 % der Stimmen aller Wahlberechtigten auf Seiten der das Grundgesetz tragenden Parteien als mehrheitliche Annahme der durch das Grundgesetz geschaffenen Ordnung angesehen werden.114 Die Bundestagswahl 1949 in ihrer Lesart als Plebiszit über das Grundgesetz stellt die Erfüllung der durch die Verfassung im materiellen Sinne aufgestellten Anforderungen an die Kompetenz zur Setzung des formellen Verfassungsrechts dar. Hier nimmt das Volk diese ihm normativ delegierte Kompetenz wahr. 111  So auch Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz, 80 ff., insbes. 88; anders aber Huber in Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 18 f. 112  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 1000 f.; Klein in Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Art. 144 [Stand: Juni 2007] Rn. 22. 113  So auch Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 100 f.; kritisch Murswiek in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 154. 114  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 101.

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Als zweiten Legitimitätspfeiler wird häufig auf den „Verfassungskonsens“115 verwiesen, der sich in den Jahrzehnten nach Inkrafttreten des Grundgesetzes im Volk verfestigt habe.116 Diese im Volk verankerte Akzeptanz des Grundgesetzes dürfte sich wohl eher auf den Verfassungskern des Grundgesetzes, also auf das materielle Verfassungsrecht, beziehen, denn auf das formelle Verfassungsrecht. Der Verfassungskonsens wäre damit nichts anderes als der Gemeinwille und kann somit zur Legitimation des Verfassungsrechts im formellen Sinne nichts beisteuern.

IV. Anwendung auf die „verfassungsändernde Gewalt“ Wenn der Bundestag als „verfassungsändernder Gesetzgeber“ gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG agiert, dann entspricht er demokratischen Anforderungen. Das ist im Grunde bereits oben117 bei der Herleitung der Anforderungen des Demokratieprinzips dargelegt worden. Es stimmt eine Mehrheit über die Rechtsetzung ab. Dabei besteht auch das Bewusstsein und die Intention, diese besondere Art von Recht zu setzen. Auch die demokratische Legitimation durch das Wahlvolk mit der Ermächtigung zu genau dieser Art von Rechtsetzung ist vorhanden. Nach Maßgabe des Verfassungsrechts im materiellen Sinne kann der Bundestag also nach Art. 79 Abs. 1, 2 GG formelles Verfassungsrecht setzen. Kritischer Betrachtung bedarf aber zum einen das in diesem Verfahren angewandte Prinzip der Zweidrittelmehrheit. Diese Betrachtung folgt sogleich. Zum anderen muss untersucht werden, ob – neben der Erkenntnis, dass demokratischen Anforderungen entsprochen wird – auch das gleiche Maß an demokratischer Legitimität in diesem Verfahren liegt, wie es bei der Legitimation des Ur-Grundgesetzes vorhanden ist. Andernfalls läge möglicherweise ein Konflikt zum Demokratieprinzip vor. Dieser zweite Punkt wird unten118 im Zusammenhang mit einer Bewertung der demokratischen Legitimation aller hier beschriebenen Rechtsebenen behandelt. 1. Das Problem der Zweidrittelmehrheit In der Zweidrittelmehrheit liegt ein letztes Problem im Zusammenhang mit der Legitimation, nämlich das oben119 bereits angesprochene Problem 115  Murswiek

in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 154. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 102 f. 117  Vgl. oben II. 2. 118  Vgl. unten, Kapitel 11 B. 119  Vgl. oben, Kapitel 7 B. II. 116  Vgl.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts253

der Inkompatibilität der qualifizierten Mehrheit mit dem Demokratieprinzip. Weniger problematisch sind die Fälle, in denen formelles Verfassungsrecht mit mindestens Zweidrittelmehrheit aktiv beziehungsweise positiv beschlossen wird. Hier sind alle Voraussetzungen zur Rechtsetzung erfüllt: Die einfache Mehrheit (als notwendiges Minus zur Zweidrittelmehrheit) liegt vor, die Legitimation des Organs durch das Volk ist gegeben, und das Organ hat auch den Willen, Verfassungsrecht im formellen Sinne zu setzen. Problematisch sind die Fälle, in denen zwar eine einfache Mehrheit vorhanden ist, aber keine Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Objektiv ist das demokratische Erfordernis zur formellen Verfassungsrechtsetzung, die einfache Mehrheit, hier zwar erfüllt. Auch die demokratische Legitimation durch das Volk ist gegeben. Fraglich ist nun, ob das letzte erforderliche Merkmal zur Setzung von Verfassungsrecht im formellen Sinne – der subjektive Tatbestand der Rechtsetzung – erfüllt ist oder nicht. 2. Subjektiver Tatbestand des Organs Klar dürfte sein, dass bei den einzelnen Abgeordneten, die für die Verfassungsänderung stimmen, dieser Wille vorhanden ist, bei denjenigen, die dagegen stimmen, nicht. Entscheidend ist aber der Wille des Organs, das nur einen einheitlichen Willen bildet. Bei 80 % Zustimmung lautet dieser Wille „Ja zur Verfassungsänderung“. Bei 40 % Zustimmung lautet dieser Wille „Nein zur Verfassungsänderung“. Wie lautet er bei 60 % Zustimmung? Hier handelt nun ein Organ, das bei dieser Art von Rechtsetzung – wenn es um formelles Verfassungsrecht geht – die interne Willensbildung vom Vorhandensein einer Zweidrittelmehrheit abhängig macht. Das Organ könnte mit dieser einfachen Mehrheit von 60 % nun zwar formelles Verfassungsrecht setzen, die objektiven Voraussetzungen wären erfüllt, es will es aber ausdrücklich nicht. Jeder Einzelne der dafür Stimmenden will dieses Recht zwar, und diese mögen in der Summe auch die einfache Mehrheit bilden. Aber der subjektive Tatbestand des gesamten Organs ist nicht erfüllt, der Wille, die Kompetenz wahrzunehmen, ist nicht gegeben, wenn nur die einfache Mehrheit erreicht ist. Das geht aus der Regelung des Art. 79 Abs. 1, 2 GG, die ihrerseits eine normative Äußerung des Organs darstellt, hervor: Seine Kompetenz kann das Organ durch eine solche Regelung zwar nicht einschränken120, aber seinem tatsächlichen Willen bezüglich der Wahrnehmung dieser Kompetenz kann es so Ausdruck verleihen. Ob das Organ eine Kompetenz wahrnimmt, bleibt ihm immer selbst überlassen. Der in Art. 79 Abs. 1, 2 GG zum Ausdruck gebrachte Wille geht aber unmissverständlich dahin, dass „Verfassungsänderungen“ 120  Vgl.

auch oben, Kapitel 9 B. II. 3.

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nur gewollt sind, wenn dafür eine Zweidrittelmehrheit besteht. Der „verfassungsändernde“ Gesetzgeber will ja nicht mehr und nicht weniger als genau diejenige Kompetenz wahrnehmen, die anlässlich der erstmaligen Setzung formellen Verfassungsrechts in Art. 79 Abs. 1, 2 GG beschrieben worden ist. Art. 79 Abs. 1, 2 GG ist also keine konstitutive Kompetenzbeschreibung durch das materielle Verfassungsrecht – das ist bereits gesagt worden –, er ist eine Selbstbeschreibung durch die formelles Verfassungsrecht setzende Instanz, wie sie ihre Kompetenz wahrnehmen will. In den Fällen erreichter einfacher Mehrheit, aber fehlender Zweidrittelmehrheit fehlt es daher am subjektiven Tatbestand, weshalb es zu keiner Setzung formellen Verfassungsrechts kommt. Das bedeutet für diese Fälle (über 50 %, aber unter zwei Dritteln JaStimmen) natürlich, dass sich eine Minderheit (von über einem Drittel bis zu 50 % minus eine Stimme) gegen eine einfache Mehrheit durchsetzt. Praktisch gelöst werden könnte der Fall dann, wenn es um erstmalige Setzung einer Norm in Form formellen Verfassungsrechts geht, weil dann der Bundestag stattdessen auch einfaches Recht desselben Inhalts beschließen könnte. Es müsste ja kein bereits bestehendes formelles Verfassungsrecht abgeändert werden, der Gesetzgeber erreichte sein normatives Ziel daher auch mittels einfacher Rechtsetzung. Diese praktische Lösung funktioniert nicht ohne Weiteres, wenn es um die Änderung von einmal gesetztem formellen Verfassungsrecht geht, weil dieses nicht einfach durch einfaches Recht geändert werden kann. Hier wirkt sich die Sperrwirkung des höheren Ranges, das „Problem der Zweidrittelmehrheit“, aus, in diesen Fällen liegt der Kern des Problems.121 Dieses Problem bedarf somit zu seiner letztlichen Beurteilung einer Betrachtung des Verhältnisses von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrechts. Vorerst genügt die Feststellung, dass der Bundestag, wenn er von seiner Kompetenz zur Setzung formellen Verfassungsrechts Gebrauch machen will, über diese Kompetenz verfügt und die Anforderungen demokratischer Rechtsetzung auch erfüllt sind. Der als „verfassungsändernder Gesetzgeber“ mit Zweidrittelmehrheit agierende Bundestag nimmt also die von der Verfassung im materiellen Sinne delegierte Kompetenz wahr, staatliches Recht – die Verfassung im formellen Sinne – zu setzen. 121  Hier setzt sich, wie oben, Kapitel 7 B. II., gezeigt worden ist, eine Minderheit gegenüber einer Mehrheit durch, da eine Position bewahrt wird oder gar gestärkt wird, die möglicherweise noch nicht einmal die einfache Mehrheit für sich beanspruchen kann. Das ist aber ein Problem im Verhältnis des bestehenden und legitim in Kraft getretenen formellen Verfassungsrechts zum einfachen Parlamentsrecht und wird daher später behandelt. Denn hier äußert sich die (demokratisch-legitimatorisch fragwürdige) Sperrwirkung des formellen Verfassungsrechts gegenüber einfachem Recht. Vgl. dazu unten, Kapitel 11 E.



D. Die Legitimation des formellen Verfassungsrechts255

Die Kompetenz zur Setzung des Verfassungsrechts im formellen Sinne, die „Verfassungsänderungskompetenz“, ist also eine normale, von der nächsthöheren Ebene (direkt vom Souverän) delegierte Kompetenz zur Setzung der untergeordneten Ebene von Recht. Es handelt sich nicht um eine spezielle, wie oben als möglich erachtete echte „Änderungskompetenz“, nicht um eine „amending power“, sondern um eine delegierte Kompetenz, die an die formellen Voraussetzungen der höheren Ebene – das Demokratieprinzip – gebunden ist, aber eben auch an die materiellen Vorgaben der höheren Ebene, die normativen Wertungen der materiellen Verfassung (Menschenwürde, Menschenwürdekern der Grundrechte etc.), wie sie deklaratorisch in Art. 79 Abs. 3 GG genannt sind.

V. Ergebnis zur rechtlichen Legitimation des formellen Verfassungsrechts Es können somit beide Arten der Setzung formellen Verfassungsrechts, sowohl die Inkraftsetzung des Ur-Grundgesetzes im Jahre 1949 als auch die Setzung oder Änderung des formellen Verfassungsrechts durch den Bundestag gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG, als Ausübung der im Rahmen des Demokratieprinzips materiell-verfassungsrechtlich delegierten Kompetenz verstanden werden. Geltungsgrund der Verfassung im formellen Sinne ist damit das Demokratieprinzip, das die Setzung nach demokratischen Grundsätzen und mit dem Willen, Recht dieses Ranges zu setzen, fordert. Materielles Verfassungsrecht und formelles Verfassungsrecht stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, wobei das formelle dem materiellen Verfassungsrecht unmittelbar nachgeordnet ist. Die Funktion des Art. 79 GG ist damit eine in jeder Hinsicht deklaratorische. Gesetzt worden ist dieser Rechtssatz von dem Organ, das die Kompetenz zur Setzung formellen Verfassungsrechts wahrnimmt: das Parlament, das seine Auffassung bezüglich seiner eigenen Tätigkeit während der Wahrnehmung der ihm delegierten Kompetenz in diesem Artikel beschreibt. In den Absätzen 1 und insbesondere 2 wird beschrieben, welches Verfahrens man sich bedienen will, um diese Kompetenz wahrzunehmen, auf welche Weise man seinen Willen bilden will. Diese Vorschrift ist damit keine kons­ titutive Kompetenzbeschreibung, sondern eine „nur“ deklaratorische, aber durchaus notwendige, ja unverzichtbare Beschreibung zum Verständnis des Willens der „verfassungsändernden Gewalt“. Die konstitutive Kompetenzerteilung zur Setzung formellen Verfassungsrechts stellt die Trias um das Demokratieprinzip dar. Dabei handelt es sich um eine „normale“ Delegierung von Rechtsetzungskompetenz gemäß Option 1), nicht um eine echte Änderungskompetenz gemäß Option 4). Art. 79 Abs. 1, 2 GG ist der selbst

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formulierte, deklaratorische Hinweis auf diese, von oben delegierte, eigene Kompetenz. Er ähnelt somit der oben122 beschriebenen Option 2). Absatz 3 bringt zudem das Bewusstsein zum Ausdruck, dass man sich der materiellen Grenzen, denen man unterworfen ist, bewusst ist und nicht beansprucht, diese zu überschreiten: Das Verfassungsrecht im materiellen Sinne kann aus dieser subjektiven Sicht (in Übereinstimmung mit der objektiven Lage) nicht durch die eigene Kompetenz, eine pouvoir constituée, geändert werden. Ebenso wie beispielsweise der deklaratorische Art. 146 GG ist Art. 79 Abs. 3 GG ein Rechtssatz, dessen normativer Gehalt nicht zur Disposition des „verfassungsändernden Gesetzgebers“ gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG steht.

E. Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht Das Verfassungsrecht im formellen Sinne verkörpert somit die höchste Ebene staatlich gesetzten Rechts, die oberste Ebene des gemäß einem normierten Verfahren (nämlich gemäß dem Demokratieprinzip) gesetzten Rechts. Im formellen Verfassungsrecht findet sich wiederum die Legitimation des einfachen (parlamentarischen) Gesetzgebers. Die Art. 76 bis 78 GG legitimieren die gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik, gemäß dem dort normierten Verfahren geltendes Recht zu setzen, das natürlich der Verfassung (im materiellen und im formellen Sinne) nicht widersprechen darf.123 Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht zu einfachem Parlamentsrecht ist nicht nur der Vollständigkeit halber zu untersuchen oder aus bloßem weiterführenden Interesse. Erst wenn das Verhältnis des formellen Verfassungsrechts zu der ihm nachfolgenden Ebene geklärt ist, kann ersteres als abschließend charakterisiert gelten, und dieser Anspruch war einer der Ausgangspunkte der Arbeit. Erst dann kann die abschließende Beurteilung erfolgen, welche Grenzen der „verfassungsändernde Gesetzgeber“, also der Bundestag als Setzungsorgan formellen Verfassungsrechts, beachten muss oder beachten sollte. Insbesondere ist erst dann eine abschließende Bewertung des „Problems der Zweidrittelmehrheit“ möglich, die in der Ordnung des Grundgesetzes ein höheres Maß an Legitimität gegenüber der einfachen parlamentarischen Mehrheit beansprucht.

122  Vgl.

oben, Kapitel 9 B. II. 2. ergibt sich aus den allgemeinen Ausführungen zur „Hierarchie“ der Normen, vgl. oben, Kapitel 2 B. II. 123  Das



E. Formelles Verfassungsrecht und einfaches Parlamentsrecht257

I. Die Legitimation des einfachen Rechts aus der Verfassung im formellen Sinne Das Grundgesetz beschreibt in den Art. 76 bis 78 GG in Form von formellem Verfassungsrecht die formellen Geltungsbedingungen der nachfolgenden Ebene staatlich gesetzten Rechts, des einfachen Parlamentsrechts. In materieller Hinsicht ist der einfache Gesetzgeber eingeschränkt sowohl durch die Geltung des höherrangigen formellen als auch des höherrangigen materiellen Verfassungsrechts, also durch den gesamten materiellen Inhalt sowohl des Grundgesetzes als auch des Verfassungsgewohnheitsrechts.124 Die parlamentarische Mehrheit hat keine Kompetenz aus eigener Kraft, die Willensäußerung der Mehrheit von ca. 600 Personen bekommt die rechtliche Bedeutung erst durch Kompetenzzuweisung. Die rechtliche Bedeutung folgt nicht aus einem logischen, ontologischen oder naturrechtlichen Grundsatz. Der objektive Sinn (der Gesetzgebung) dieses Abstimmungsaktes wird den 600 subjektiven Willensakten erst durch höheren Rechtssatz verliehen. Die relevanten Regelungen sind in formeller Hinsicht insbesondere die Art. 76 bis 78 GG, die ihrerseits formell-verfassungsrechtliche Konkretisierungen der Verfassung im materiellen Sinne, insbesondere des Demokratieprinzips, sind. Materiell ist die einfache Gesetzgebung maßgeblich durch die Grundrechte, zum einen als Grenze, zum anderen als Auftrag, determiniert. Aber auch jede andere Verfassungsnorm mit materiell-rechtlichem Inhalt beschränkt den einfachen Gesetzgeber. Allein aus dieser Delegierung der einfachen parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz im Grundgesetz beziehungsweise aus der Legitimation des einfachen Rechts aus Verfassungsnormen heraus ergibt sich die Überordnung des formellen Verfassungsrechts über das einfache Recht. Diese Hie­ rarchie ergibt sich nicht aus der höheren Zustimmung zu „Verfassungsänderungsgesetzen“, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen und damit auf einer breiteren Mehrheit als einfaches Recht fußen. Sie ergibt sich auch nicht aus einer „erschwerten Abänderbarkeit“ des formellen Verfassungsrechts.125 Die Hierarchie der Normen beziehungsweise Normsetzer, der Stufenbau der Rechtsordnung, ist Folge von gegenseitigen Delegierungs- und Legitima­ tionsverhältnissen der verschiedenen Stufen untereinander.126 Er beruht 124  Die doppeldeutige Verwendung des Wortes „materiell“ nebeneinander mag hier verwirren, wenngleich sie sich durch die gesamte Arbeit zieht: Das „materielle Verfassungsrecht“ weist, je nach Regelungsgegenstand, sowohl materielle Inhalte (z. B. die Grundrechte) als auch formelle Inhalte (z. B. die Delegierung der Kompetenz zur Setzung formellen Verfassungsrechts) auf. Gleiches gilt für das Verfassungsrecht im formellen Sinne. 125  Vgl. dazu unten, Kapitel 11 E. II. 126  Siehe oben, Kapitel 2 B. II.

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nicht auf vermeintlich mehr oder weniger hohem Maß an Legitimation aus eigener Kraft heraus, nicht auf einem mehr oder weniger hohen Quorum an Zustimmung zu einer Norm, sondern allein aus diesem Delegierungs- oder Abhängigkeitsverhältnis.

II. Die zwei gesetzgebenden Funktionen des Bundestages Der Normsetzer von formellem Verfassungsrecht und von einfachem Recht ist jeweils der Bundestag. Der Bundestag ist der einfache und der „verfassungsändernde“ Gesetzgeber. Handelt es sich daher um zwei unterschiedliche Organe? Man könnte über die Definition des Begriffs „Organ“ genauso streiten wie über den Begriff der „Rechtsordnung“ und viele andere auch. Man kann ihn so definieren, dass beides dasselbe Organ ist oder es sich um zwei unterschiedliche Organe handelt, genauso wie man den Begriff der Rechtsordnung so definieren kann, dass sich Völkerrecht und nationales Recht als eine einzige Rechtsordnung erweisen, oder ihn so definieren kann, dass – ohne Unterschied in der Sache! – es sich um zwei eigenständige Rechtsordnungen handelt. Entscheidend ist aber vielmehr die „Sache“, also: Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Bundestag als verfassungsänderndem Organ und dem Bundestag als einfachem Gesetzgeber? Letztlich ganz wesentlich ist, dass der Bundestag jeweils bewusst in Ausübung einer unterschiedlichen Kompetenz tätig wird. Als verfassungsänderndes Organ nimmt er eine Kompetenz wahr, die durch die Verfassung im materiellen Sinne delegiert wird: die Setzung von Verfassungsrecht im formellen Sinne. Als einfacher Gesetzgeber nimmt der Bundestag eine Kompetenz wahr, die ihm durch die Verfassung im formellen Sinne, also durch sich selbst, delegiert worden ist. Somit wird unterschiedliches Recht geschaffen. Dabei ist es (aus rein formeller Sicht) völlig unerheblich, ob es sich bei diesen Vorgängen um dieselben Personen handelt oder um gänzlich verschiedene. Hier zeigt sich deutlich die Relevanz des subjektiven Tatbestands der Rechtsetzung: Wenn der Bundestag ein Gesetz mit 80 %-iger Mehrheit beschließt, dann ist für den Charakter des geschaffenen Rechts ganz entscheidend, welche Art von Recht der Bundestag zu setzen beabsichtigt. Geht der Wille dahin, einfaches Recht zu setzen, dann wird auch dieser Wille umgesetzt, vorausgesetzt, der Bundestag ist in materieller Hinsicht handlungsbefugt und nicht durch entgegenstehendes höherrangigeres Recht eingeschränkt. Will er formelles Verfassungsrecht setzen – weil er das für angemessen hält oder weil formelles Verfassungsrecht dem Gesetz als einfachem Gesetz entgegenstünde – dann „landet“ dieses Gesetz im Grundgesetz. Diese Absicht ist entscheidend, und es ist umgekehrt auch vorstellbar,



E. Formelles Verfassungsrecht und einfaches Parlamentsrecht259

dass das Parlament trotz 80 %-iger Mehrheit von der Möglichkeit der Setzung formellen Verfassungsrechts keinen Gebrauch machen will, weil es beispielsweise diesen gesetzgeberischen Gegenstand nicht für verfassungsrechtswürdig hält. Der Bundestag kann aber, wenn er will, durch die Setzung einer Norm in Form von formellem Verfassungsrecht diese Norm für den einfachen Gesetzgeber „sperren“. Rein rechtlich ist das unproblematisch. Problematisch wird diese doppelte Gesetzgebungsfunktion des Bundestages allerdings, wenn man sie unter dem Aspekt der demokratischen Legitimität betrachtet.127 Die Konsequenz dieser Personalunion des Bundestages im Zusammenhang mit dem Rangverhältnis beider Arten von Recht führt zu einer Besonderheit. Ungeachtet der demokratischen Legitimität der beiden Arten von Recht ist das Verhältnis eindeutig: Formelles Verfassungsrecht derogiert einfachem Recht, einfaches Recht kann nicht im Widerspruch zu formellem Verfassungsrecht erlassen werden. Der Bundestag könnte aber eigentlich, wie oben hergeleitet, formelles Verfassungsrecht mit einfacher Mehrheit setzen, wenn er das wollte. Die übergeordnete Ebene des materiellen Verfassungsrechts stellt keine weitere Bedingung als die des Demokratieprinzips an den verfassungsändernden Gesetzgeber. Täte der Bundestag das, so führte das zu der absurden Situation, dass sich einfache Gesetzgebung und verfassungsändernde, also formelle Verfassunggebung, nur noch im subjektiven Tatbestand der Rechtsetzung unterscheiden würden. Wenn der einfache Gesetzgeber ein Gesetz verabschieden wollte, das der Verfassung im formellen Sinne widerspräche, so würde er zunächst daran scheitern, könnte aber eine Sekunde später seinen Willen dahingehend ändern, dieses Gesetz nun – mit exakt derselben einfachen Mehrheit! – als formelles verfassungsänderndes Gesetz zu verabschieden. Wenn einfaches Recht und formelles Verfassungsrecht auf exakt dieselbe Weise zustande kämen, dann würde das Rangverhältnis zwischen beiden gänzlich leerlaufen. Es würde völlig überflüssig, zwei verschiedene Arten von Recht formal zu unterscheiden. Insofern macht es Sinn und erscheint zweckmäßig, dass der Bundestag als verfassungsändernder Gesetzgeber andere, und zwar erschwerte, Bedingungen an seinen Willen knüpft, diese höhere Form der Gesetzgebung zu nutzen. Es scheint daher statthaft, dass der übergeordnete Normsetzer, wenn er von demselben Organ verkörpert wird, irgendwie erschwerten Bedingungen der Willensbildung ausgesetzt ist. Gänzlich ad absurdum geführt würde das Rangverhältnis, wenn ein Organ in Personalunion zwei hierarchisch zueinander stehende Kompetenzen wahrnähme (weil es sich in Wahrnehmung der übergeordneten mit der untergeordneten betraut hätte) und dabei die untergeordnete die schwerere wäre. Beispielsweise könnte der Bundestag mit 127  Siehe

dazu das folgende Kapitel 11.

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Kap. 10: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes

einfacher Mehrheit – er könnte das ja tatsächlich nach eben Gesagtem – das Grundgesetz dahingehend ändern, dass der Bundestag zur einfachen Gesetzgebung nun einer Zweidrittelmehrheit bedürfte. Die Absurdität dieser theoretisch möglichen Konstellation liegt auf der Hand.

F. Das einfache Parlamentsrecht und die Rechtsverordnung Die Rechtsverordnung (vgl. Art. 80 GG) ist die Form der Rechtsetzung, in der das Parlament die Regierung oder einen Minister ermächtigt, selbst rechtsetzend tätig zu werden. Dabei gelten bestimmte formelle und materielle Voraussetzungen. Damit liegt ein (fast) idealer Fall der Delegierung vor, der keine weiteren Fragen aufwirft. Einzig erwähnt werden sollte, dass dieses Über- / Unterordnungsverhältnis sich nicht ganz allein aus dem jeweiligen delegierenden parlamentarischen Rechtsakt erklärt (was es durchaus könnte). Es ist bereits auf höherer Ebene vorgezeichnet, nämlich im formellen Verfassungsrecht. Art. 80 GG konstruiert dieses hierarchische Verhältnis bereits mit. An der Stellung im Stufenbau der Rechtsordnung ändert das letztlich nichts.

Kapitel 11

Der Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimität in der Rechtsordnung des Grundgesetzes Das vorherige Kapitel hat die Erkenntnis geliefert, dass die Rechtsordnung des Grundgesetzes rechtlich hierarchisch aufgebaut ist. An oberster Stelle steht das Verfassungsrecht im materiellen Sinne, gefolgt vom Verfassungsrecht im formellen Sinne. Darauf folgt das einfache Parlamentsrecht, an das sich wiederum Rechtsverordnungen (usw.) anschließen. Die Hierarchie wird vermittelt durch den jeweiligen Delegationszusammenhang. Dieser hierarchische Aufbau der Rechtsordnung, kombiniert mit der Geltung des Demokratieprinzips, führt zur Einschlägigkeit des bereits erkannten Legitimitätsdualismus zwischen den beiden Prinzipien / Hierarchien.1 Dieser Dualismus fordert von einem übergeordneten Rechtssatz ein höheres Maß an demokratischer Legitimität als von einem ihm untergeordneten, dem er derogiert.2 Es wäre illegitim, wenn Undemokratischeres Vorrang genösse vor Demokratischerem. Ob diese demokratische Hierarchie in der Ordnung des Grundgesetzes auch so vorzufinden ist und wie die vorzufindende Kongruenz beziehungsweise Diskrepanz der beiden Hierarchien zu bewerten ist, ist Gegenstand der Untersuchung in diesem Kapitel und führt gleichzeitig zum Endergebnis der Arbeit. Die verschiedenen Ebenen des grundgesetzlichen Stufenbaus werden nun auf ihre demokratische Hierarchie hin untersucht und anhand dieses Ergebnisses kann dann festgestellt werden, ob dem Legitimitätsdualismus entsprochen wird. Dabei findet auch das „Problem der Zweidrittelmehrheit“ seine letzte Lösung.

1  Vgl.

oben, Kapitel 7 A. IV. Regel funktioniert zunächst nur in diese eine Richtung, von unten nach oben. Das Demokratieprinzip fordert nicht, dass eine untergeordnete Norm ein Minus an demokratischer Legitimation fordert, sondern dass eine übergeordnete Norm über ein Plus an demokratischer Legitimität verfügt, damit ihr höherer Rang, also ihre derogierende Kraft, legitim ist. Aus der Regel nach oben ergibt sich natürlich zwingend die entsprechende entgegengesetzte Regel nach unten, aber eben nur als Reflex. 2  Diese

262

Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

A. Die demokratische Legitimität des Verfassungsrechts im materiellen Sinne Die oberste Ebene allen Rechts, das Verfassungsrecht im materiellen Sinne, kann nicht am Demokratieprinzip gemessen werden. Es gilt absolut, kraft der Souveränität des ihn setzenden Willens. Durch dieses Recht wird das Demokratieprinzip überhaupt erst normiert.

B. Das Verfassungsrecht im formellen Sinne Für das Verfassungsrecht im formellen Sinne sind zwei Wege der Rechtsetzung ausgemacht worden: zum einen die Verabschiedung des Ur-Grundgesetzes von 1949, zum anderen die Setzung als Art. 79-Recht. Beide Möglichkeiten sind, für sich genommen, legitime, da legale Wahrnehmungen der durch das materielle Verfassungsrecht vorgesehenen demokratischen Kompetenz zur Setzung formellen Verfassungsrechts. Nun ist es aber überdies erforderlich, dass beide Varianten, da sie dieselbe Art, also denselben Rang von Recht zu setzen beanspruchen, auch über das gleiche Maß an demokratischer Legitimität verfügen. Andernfalls läge ein Wertungswiderspruch vor dem Hintergrund des Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimität vor: Es wäre im Hinblick auf das Demokratieprinzip nicht legitim, dass 1949 in Kraft gesetztes Recht später von einer weniger demokratisch legitimierten Stelle abgeändert werden dürfte oder diese Stelle Recht auf derselben Ebene setzen dürfte. Die Frage ist daher nun, ob beide Arten der Rechtsetzung das gleiche Maß an Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit demokratischer Legitimität aufweisen oder ob hier ein Ungleichgewicht besteht.3 Da es sich um gänzlich unterschiedliche Verfahren der Rechtsetzung handelt und das Maß an demokratischer Legitimität von mehreren Faktoren abhängt und zwar bewertet, aber nicht exakt berechnet werden kann, sollte wohl die Feststellung genügen dürfen, dass es sich um ein in etwa gleiches Maß an demokratischer Legitimität handelt.

I. Das Ur-Grundgesetz Welche Faktoren haben die demokratische Legitimität des Ur-Grundgesetzes beeinflusst? Das Grundgesetz ist verfasst worden von zwei Organen (durch den Parlamentarischen Rat auf Grundlage des Chiemseer Entwurfs), 3  Vgl.

oben, Kapitel 7 A. V.



B. Das Verfassungsrecht im formellen Sinne263

bei denen der juristische Sachverstand im Vordergrund stand, und nicht die demokratische Legitimität.4 Nichtsdestotrotz war letztere durchaus auch (wenn auch nicht in ausreichendem Maße) vorhanden, in beiden Organen.5 Dem kann man als die Legitimation jedenfalls unterstützend etwas Gewicht beimessen. Viel wichtiger und für die demokratische Legitimität des Grundgesetzes entscheidend war aber, wie oben gesehen worden ist, der plebiszitäre Charakter der ersten Bundestagswahl 1949, die als Abstimmung über das Grundgesetz gedeutet werden kann. Als Plebiszit würde dieser Legitimationsakt die höchste Form demokratischer Legitimität darstellen, die es nur geben kann: eine unmittelbare Entscheidung durch das Staatsvolk selbst. Jedoch ist relativierend zu beachten, dass es eben keine ausdrückliche Abstimmung über das Grundgesetz war, dass es sich eben nicht um ein echtes Plebiszit gehandelt hat.6 Es wurde über die Zusammensetzung des Bundestags abgestimmt, eigentlich wurde nicht einmal in einer Sachfrage abgestimmt, sondern über die Zusammensetzung eines das Volk repräsentierenden Organs abgestimmt.7 Lediglich umgedeutet wird die mehrheitliche Zustimmung zu den Parteien, die das Grundgesetz getragen haben, als Zustimmung zum Grundgesetz. Es war also kein echtes Plebiszit über das Grundgesetz. Die demokratische Legitimation des Grundgesetzes ist folglich in diesem Sinne keine direkte, unmittelbare, sie ist durch diese Umstände etwas geschmälert. Das so beschriebene Maß an Legitimität des Ur-Grundgesetzes stellt nun die Referenz dar, an der sich das Art. 79-Recht messen lassen muss.

II. Art. 79-Recht Die Legitimation des Art. 79-Rechts lässt sich einfacher erfassen. Hier wird über die Setzung von Recht in Form einer Sachfrage mehrheitlich abgestimmt in einem Organ, das in hohem demokratischem Maße das Volk repräsentiert (Verhältniswahl, vgl. oben8) und welches vom Wahlvolk zu genau dieser Kompetenz ermächtigt worden ist. Gegenüber dem höchsten denkbaren Maß an demokratischer Legitimation – der Abstimmung über die Sachfrage durch das Volk selbst – ist das Verfahren gemäß Art. 79 Abs. 1, 4  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 40, 97. 5  Vgl. oben, Kapitel 10 D. III. 1.; vgl. auch Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 39 f. 6  Vgl. Murswiek in Bonner Kommentar, Präambel [Stand: September 2005] Rn. 154. 7  Vgl. zum Unterschied Mehrheitswahl / Verhältniswahl oben, Kapitel  7 A.  V. 8  Vgl. oben, Kapitel 7 A. V.

264

Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

2 GG um einen kleinen Schritt in der demokratischen Legitimität zurückgenommen: Anstelle des Volkes handelt das repräsentative Parlament. Der Bundestag stimmt in diesen Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip ab: Der Setzung formellen Verfassungsrechts liegt immer (als notwendiges Minus) eine einfache Mehrheit zugrunde. Dass das Organ seinen subjektiven Tatbestand an das Vorhandensein einer Zweidrittelmehrheit knüpft, hat auf die demokratische Legitimität des gesetzten Rechts keine Auswirkung. Die immer vorhandene Zweidrittelmehrheit ist, wie oben begründet, kein Grund für ein Legitimationsplus dieses Rechts.9

III. Bewertung Ohne, dass sich das Maß der demokratischen Legitimität der beiden völlig unterschiedlichen Verfahrensarten nun genau beziffern ließe, kann man nach einer Gesamtgewichtung der jeweils legitimitätsstärkenden und -schwächenden Faktoren wohl davon ausgehen, dass beide Arten der Rechtsetzung über ein etwa gleich hohes Maß an demokratischer Legitimation verfügen. Eines kann jedoch unterstellt werden: Dieses zunächst zufriedenstellende und dem Ideal (gleiche demokratische Legitimation auf gleicher Ebene im Stufenbau der Rechtsordnung) entsprechende Ergebnis ist nicht Folge einer so geplanten Konzeption, sondern eher ein jedenfalls nicht genau so geplanter Zufall. Üblicherweise entstehen Verfassungen (im formellen Sinne) auf die oben10 geschilderten Weisen: entweder durch Erarbeitung und Verabschiedung durch eine vom Volk zu alleine diesem Zweck gewählte verfassunggebende Versammlung, oder durch Ausarbeitung in einem Verfassungskonvent und anschließende Volksabstimmung über diesen Entwurf. Die zweite Variante beschreibt die unmittelbarste Form demokratischer Legitimität. Beide Varianten weisen eine höhere demokratische Legitimität auf als die beiden oben beschriebenen Varianten, die sich auf das Grundgesetz beziehen. Dem Grundgesetz wird sein Legitimationsdefizit jedoch nicht (jedenfalls nicht mehr, war es doch im Ursprung geradezu beabsichtigt11) zuerkannt. Es wird jeder unmittelbar vom Volk angenommenen Verfassung gegenüber als gleichwertig wahrgenommen. Ihm wird also im Empfinden ein höheres Maß an demokratischer Legitimität zugerechnet, als es tatsächlich aufweist. Dabei wird als Ideal die plebiszitäre Annahme einer Verfassung angenommen, und dem Grundgesetz wird, da es eine Verfassung sein soll und ja auch ist, diese Legitimität unbewusst unterstellt. 9  Vgl.

oben, Kapitel 7 B. II. oben, Kapitel 10 D. III. 11  Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 27 f. 10  Vgl.



C. Das einfache Parlamentsrecht265

Ausgehend von diesem (tatsächlich nicht vorhandenen, aber) vermeintlich höheren Maß an demokratischer Legitimität des Grundgesetzes müsste nun, um die legitimatorische Gleichrangigkeit im Verfassungsänderungsverfahren zu wahren, dort eine legitimationssteigernde Maßnahme gegenüber dem einfachen, mehrheitlichen Gesetzgebungsverfahren durch das direkt vom Volk gewählte Parlament Eingang finden. Andernfalls wiese das vom Parlament mit einfacher Mehrheit erlassene formelle Verfassungsrecht aufgrund der Vermittlung des Volkswillens durch Repräsentation ein Legitimitätsdefizit gegenüber der Ur-Verfassung auf. Diese legitimitätserhöhende Maßnahme soll die Zweidrittelmehrheit darstellen. Durch diese Maßnahme soll dieses Recht in legitimatorischer Hinsicht gegenüber einfachem Parlamentsrecht aufgewertet werden und ihm zugleich das Maß an demokratischer Legitimität zukommen, das der Ur-Verfassung fälschlicherweise unterstellt wird. Dass das erhöhte Quorum der Zweidrittelmehrheit dazu aber nicht im Stande ist, dazu ist oben12 alles Notwendige gesagt worden. In legitimatorischer Hinsicht steht dieses Recht dem mit einfacher Mehrheit erlassenen Parlamentsrecht absolut gleich. Beide Fehler gleichen sich nun aus: Das Ur-Grundgesetz hat nicht das Maß an demokratischer Legitimation erfahren, die es idealerweise hätte erfahren sollen, und die Zweidrittelmehrheit kann dem Parlamentsrecht nicht das Plus an demokratischer Legitimation bescheren, das man sich von ihr verspricht. In der Folge verfügen beide Verfahren am Ende über das gleiche (verringerte) Maß an demokratischer Legitimität und können die Position des höchsten staatlich gesetzten Rechts legitimer Weise einnehmen, da zumindest kein in demokratischer Hinsicht legitimeres Verfahren der Rechtsetzung in der Rechtsordnung des Grundgesetzes vorgesehen ist.13

C. Das einfache Parlamentsrecht Die demokratische Legitimität des einfachen Parlamentsrechts ist vergleichsweise einfach zu bewerten: Der vom Volk direkt und zu diesem Zweck gewählte Bundestag entscheidet mit einfacher Mehrheit über das einfache Parlamentsrecht. Hier liegt also, das ist jetzt offenbar, exakt das gleiche Maß an demokratischer Legitimität vor wie beim Art. 79-Recht und in etwa das gleiche Maß wie beim Ur-Grundgesetz. Der Bundestag als einfacher Gesetzgeber, durch das formelle Verfassungsrecht mit dieser Kompetenz ausgestattet, blickt nach oben und sieht sich selbst als „verfas12  Vgl.

oben, Kapitel 7 B. II. in Art. 29 GG vorgesehenen Volksentscheide zur Neugliederung des Bundesgebietes stellen insoweit eine Ausnahme dar, die die Grundsätzlichkeit der hier dargelegten Konzeption nicht in Frage stellt. 13  Die

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Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

sungsändernden Gesetzgeber“, als Setzer des formellen Verfassungsrechts. Der Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimität, der in diesem Verhältnis eine Legitimitätszunahme nach oben fordert und somit auch eine -abnahme nach unten herbeiführte, ist hier gestört.14

D. Die Rechtsverordnung Ein eindeutig geringeres Maß an demokratischer Legitimität als die bisher genannten Ebenen weist die Rechtsverordnung auf. Hier wird nicht nur der Wille des Volkes durch Repräsentation indirekt wiedergegeben, sondern auch das Parlament entscheidet nicht direkt und selbst. Der für die Verordnung verantwortliche Minister hängt als Teil der Regierung von der Wahl durch das und vom Vertrauen des Parlamentes ab und steht damit unter dessen Einfluss, so dass er als demokratisch legitimiert gelten kann. Da er jede Legitimation vom Parlament ableitet, ist offensichtlich, dass er ein geringeres Maß an demokratischer Legitimität beanspruchen kann, als es das übergeordnete Parlament kann. Das entspricht der Anforderung des Legitimitätsdualismus.

E. Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht ist der entscheidende Schauplatz für das „Problem der Zweidrit­ telmehrheit“.15 Hier zeigen sich die demokratietheoretischen Defizite am deutlichsten. Im Gegensatz zum vorangegangenen Kapitel geht es hier unter derselben Überschrift nicht um den rein rechtlichen Zusammenhang der Delegation, sondern um das Verhältnis beider Ebenen im Hinblick auf die demokratische Legitimität.

I. Geltungsvorrang bei gleicher demokratischer Legitimität Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, dass beide Ebenen in der Rechtsordnung, das formelle Verfassungsrecht sowie das einfache Parlamentsrecht, über das gleiche Maß an demokratischer Legitimität verfügen. Der Rang im Stufenbau der Rechtsordnung nimmt ab, aber das Maß an demokratischer Legitimität bleibt dasselbe. Der einzige Unterschied zwischen for14  Dazu 15  Vgl.

genauer sogleich, E. oben, Kapitel 10 D. IV. 1.



E. Formelles Verfassungsrecht und einfaches Parlamentsrecht267

mellem Verfassungsrecht (in Form des Art. 79-Rechts) und einfachem Parlamentsrecht, die Zweidrittelmehrheit, führt zu keinem qualitativen Unterschied.16 Das Demokratieprinzip und der aus ihm folgende Dualismus der rechtlichen sowie der demokratischen Legitimität fordern aber klar, dass die höhere Ebene über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität verfügen muss. Es wäre ansonsten nicht zu rechtfertigen, dass sie der anderen übergeordnet ist. Dass eine untergeordnete Ebene über ein niedrigeres Maß an demokratischer Legitimität verfügen müsste, ist nicht direkt gefordert, ergibt sich aber reflexartig zwingend aus der ersten Forderung. Dieser demokratietheoretische Widerspruch im Verhältnis zwischen einfachem Parlamentsrecht und formellem Verfassungsrecht kann festgehalten werden. „Die positivrechtliche Regelung des Art. 79 Abs. 2 GG muß […] als unzulänglich bewertet werden, weil sie zu geringe Anforderungen an die Verfassungsänderung stellt.“17 Der Geltungsvorrang führt konkret zum „Problem der Zweidrittelmehrheit“, zur oben18 bezeichneten Sperrwirkung: Recht, das irgendwann mit Zweidrittelmehrheit gesetzt worden ist, hat sogar dann Bestand, wenn es nicht einmal mehr eine einfache Mehrheit für sich beanspruchen kann. Das ist der Fall in der besagten 60 %-Situation, wenn eine Änderung des formellen Verfassungsrechts nur 60 % gewinnen kann und damit scheitert.19 Der Status Quo bleibt dann gegen eine entgegenstehende Mehrheit erhalten, ohne eine entsprechende höhere Legitimität aufzuweisen.

II. Tatsächlicher und vermeintlicher Zusammenhang von Legitimation, erhöhter Geltungskraft und erhöhter Bestandskraft In der Trias aus Legitimation, erhöhter Geltungskraft und erhöhter Bestandskraft, im Zusammenspiel dieser drei Begriffe, lässt sich das Problem und seine Lösung nochmals abschließend darstellen. Das Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht ist geprägt von der Eigenschaft der erschwerten Abänderbarkeit oder, was dasselbe meint, der höheren Bestandskraft des formellen Verfassungsrechts. Diese Eigenschaft, die direkt aus der Zweidrittelmehrheit folgt, steht aber in einem ganz syste16  So i.  E. auch Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 746: „Von einer spürbaren qualitativen Differenz zwischen Verfassungsänderung und Gesetzgebung, insbesondere im Verfahrenswege, kann also trotz der besonderen Mehrheit keine Rede sein.“ 17  Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 746. 18  Vgl. dazu oben, Kapitel 10 E. II. 19  Vgl. oben, Kapitel 10 D. IV. 1.

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Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

matischen Verhältnis zu dem Legitimitätsdualismus in einer demokratischen Rechtsordnung und dieser Zusammenhang ist weiterhin aufschlussreich für das Verhältnis beider Rechtsebenen.20 Über die Delegierung von Kompetenzen und den daraus entstehenden Stufenbau in der Rechtsordnung ist bisher gesagt worden, wie er funktioniert und welche Folgen für die Hierarchie, also die Vor- und Nachrangigkeit, daraus entstehen. Außerdem ist der Einfluss und die Forderungen des Demokratieprinzips auf und an diesen Stufenbau, bezeichnet mit dem Legitimitätsdualismus21, dargestellt worden. Der Stufenbau der Rechtsordnung hat aber auch einen ganz praktischen Aspekt, der hier eine Rolle spielt, nämlich seinen praktischen Zweck. Der Sinn der Hierarchie in der Rechtsordnung ist der der Arbeitsteilung.22 Es kann nicht ein einzelnes Organ – schon gar nicht der Souverän selbst, aber auch nicht das Parlament – alles Rechtliche selbst regeln. Aus diesem Grund werden Kompetenzen delegiert. Aus dem Gedanken der Arbeitsteilung zwecks Entlastung folgt aber auch, dass ein Organ, das sich selbst entlasten will und deshalb Kompetenzen delegiert, diese delegierte Kompetenz zweckmäßigerweise an einfachere, also unkompliziertere formale Bedingungen der Willensbildung bindet. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das Parlament per Gesetz einen Minister zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigt. Mit dem konkreten Inhalt der Verordnung muss sich nicht mehr das Plenum befassen. Es werden im Ministerium keine langen parlamentarischen Debatten geführt, um einen Kompromiss zu finden. Die demokratische Legitimation der Rechtsverordnung ist dann aber eine geringere als die des Gesetzes. Ebenso ist es eine Etage höher: Es ist einfacher, ein Parlament mit einfacher Mehrheit entscheiden zu lassen, als das Volk, das es repräsentiert, zu befragen. Durch die Repräsentation geht aber auch ein Stück an demokratischer Legitimität verloren.23 Dass in der Hierarchie die niedrigere Ebene einfacher Recht setzen kann, ist keineswegs zwingend, ist aber häufig legitimer Zweck und gerade der Sinn der Delegierung. Dabei nimmt aber gleichzeitig in der Regel das Maß an demokratischer Legitimität dieser delegierten Rechtsetzung ab. Für diese Verringerung der demokratischen Legitimität können verschiedene Aspekte verantwortlich sein, sei es, weil Personen beschließen, die weniger unmittelbar vom Volk legitimiert worden sind, sei es, weil schlicht weniger Personen entscheiden. Die nach unten 20  Dieser Zusammenhang wird aber kaum benannt oder erkannt; vgl. nur Kelsen, Reine Rechtslehre, 230. 21  Siehe oben, Kapitel 7 A. IV. 22  Vgl. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 214; auch in diese Richtung Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 29. 23  Vgl. oben, Kapitel 7 A. V.



E. Formelles Verfassungsrecht und einfaches Parlamentsrecht269

abnehmende Legitimation erscheint aber gerechtfertigt, da erstens das höherrangige Gesetz in materieller Hinsicht bereits richtungsweisend und vor allem verbindlich vorgreifen kann. Andererseits hat der höherrangigere und über mehr demokratische Legitimität verfügende parlamentarische Gesetzgeber das Mittel in der Hand, jederzeit derogierendes Recht zu schaffen. In diesem Sinne ist es die praktisch vorfindbare Regel in der Rechtsordnung, dass das Maß an demokratischer Legitimität abnimmt, je niedriger der Rang des Rechts in der Hierarchie der Rechtsordnung ist. Diese Regel ist nicht bezweckt, aber sie ist eine sich aus dem Zweck der Vereinfachung als Reflex ergebende Regel. Die vom praktischen Zweck bedingte Regel lautet damit: Je niedriger die Rechtsetzungsebene in der Hierarchie der Rechtsetzer, desto einfacher erfolgt die Rechtsetzung und desto geringer fällt das Maß an demokratischer Legitimität aus. Und damit wird klar, dass diese im Ursprung ganz praktisch motivierte Regel nicht beziehungslos neben dem vom Demokratieprinzip geforderten Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimität steht – sie berührt diesen Dualismus. Beide Aspekte, der demokratietheoretische und der praktische, verhalten sich also zueinander in einer bestimmten Weise. Dabei geraten beide Aspekte nicht in Widerspruch: Die Regel, dass praktisch bedingt die demokratische Legitimität abnimmt, je niedriger die Rechtsetzungsebene ist, harmoniert mit der demokratietheoretischen Forderung, dass die demokratische Legitimität zunehmen muss, je höher die Rechtsetzungsebene ist. Die praktische Arbeitsteilung zwecks Entlastung ist damit auch demokratietheoretisch legitim. Es ist aber aus demokratietheoretischer Sicht nur gefordert, dass nach oben die Legitimität zunimmt. Dass sie nach unten abnimmt, ist ein sich daraus ergebender logischer und zwingender Reflex, aber nicht primär gefordert. Aus praktischer Sicht ist die primäre Forderung Vereinfachung, also erstens eine Delegierung und zweitens einhergehend damit eine vereinfachte Form der Rechtsetzung, und es ist ebenfalls nur ein Reflex, dass damit die demokratische Legitimität abnimmt. Mit der demokratietheoretisch geforderten Zunahme an demokratischer Legitimität nach oben geht, wiederum reflexartig, eine Erschwerung der Rechtsetzung einher. So führt eine Volksbefragung zu einem höheren Maß an demokratischer Legitimität als ein Parlamentsbeschluss, ist aber auch mit einem größeren Aufwand verbunden und insofern schwieriger herbeizuführen. Auch ein Parlamentsbeschluss ist legitimer als eine Ministerialverordnung, erfordert aber auch ein komplizierteres Verfahren. Ganz vereinfacht: Je höher, desto legitimer (Zweck), desto komplizierter (Reflex). Das ist die logische Umkehrung der Regel, dass mit einer Vereinfachung ein Minus an demokratischer Legitimation einhergeht. Nicht umkehrbar sind hingegen Zweck und Reflex. Es ist kein logischer Schluss, zu sagen: Durch eine Erschwerung des Verfahrens wird ein höhe-

270

Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

res Maß an demokratischer Legitimität erreicht. Allgemein: Es ist nicht zielführend, um den Zweck zu erreichen, den Reflex herbeiführen. Aus dem richtigen Satz: „Immer wenn jemand ermordet wird, ist dieser hinterher tot.“, folgt auch nicht zwingend, dass immer, wenn einer stirbt, derjenige auch ermordet worden ist. Das ist ein offensichtlicher Trugschluss. Aus dem Sprichwort „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ folgt auch nicht der Grundsatz, dass ich, wenn ich ein Stück Holz zu hobeln habe, das Ziel dadurch erreiche, dass ich einfach Späne fallen lasse. Das Beispiel erscheint banal, fast schon lächerlich. Aber genau derselbe Trugschluss liegt dem Gedanken zugrunde, dass die demokratische Legitimität zunimmt, je schwerer das Rechtsetzungsverfahren ist. Die bloße Erschwerung der Rechtsetzung führt keineswegs zwingend zu einem höheren Maß an Legitimität. Das bereits bemühte Zitat von Horst Dreier könnte man also leicht modifizieren, sodass es hieße: Die positivrechtliche Regelung des Art. 79 Abs. 2 GG muss als unzulänglich bewertet werden, weil sie zu geringe, besser: die falschen, Anforderungen an die Verfassungsänderung stellt.24 Was hat das mit dem Verhältnis von formellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht zu tun? Wie oben bereits gesagt, ist dieses Verhältnis von der erschwerten Abänderbarkeit des formellen Verfassungsrechts gegenüber dem einfachen Parlamentsrecht geprägt. Dass eine „erschwerte Abänderbarkeit“ gefordert wird, verdeutlicht, dass dem genau dieser Trugschluss zugrunde liegt. Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Zusammenhänge zwischen Legitimitätsdualismus und praktischen Erwägungen des Stufenbaus der Rechtsordnung führt die richtige Forderung, dass das übergeordnete Recht über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität führen muss, unbemerkt zu der falschen Forderung, dass seine Setzung erschwert sein muss.25 Das zurecht geforderte höhere Maß an Legitimität, das das formelle Verfassungsrecht gegenüber dem einfachen Parlamentsrecht aufweisen soll, wird mit erschwerter Setzung beziehungsweise Abänderbarkeit (was der Setzung gleichkommt) gleichgesetzt. Dazu passt es schließlich auch noch, dass die Zweidrittelmehrheit diese Vorstellung zu erfüllen scheint, was auf zwei Irrtümern gründet. Die Zweidrittelmehrheit wird für legitimer gehalten als die einfache Mehrheit, weil es ja mehr als die einfache Mehrheit sind, die dafür stimmen. Dieser Zusammenhang ist oben26 widerlegt worden. Gleichzeitig ist es offensichtlich schwieriger, die Zweidrittelmehrheit zu erreichen, als eine einfache Mehrheit, sie ist also das 24  Angelehnt

746.

an Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat,

25  Dieser Trugschluss spricht aus den oben, Kapitel 4 B. I. 2. und teilweise 3. genannten Auffassungen. 26  Vgl. oben, Kapitel 7 B. II.



E. Formelles Verfassungsrecht und einfaches Parlamentsrecht271

erschwerte Verfahren. Durch die Erschwerung scheint damit tatsächlich das Bezweckte, die höhere Legitimität, erreicht. Die beiden Irrtümer sind erstens, dass die Zweidrittelmehrheit legitimer ist als die einfache Mehrheit, und zweitens, dass mit der Erschwerung immer das Maß an Legitimität steigt. Beide Trugschlüsse bestätigen sich also auch noch gegenseitig. Der Gedanke soll am Beispiel noch deutlicher gemacht werden: Es würde ohne Zweifel ein gegenüber dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erschwertes Verfahren darstellen, wenn für „Verfassungsänderungen“ (die Setzung formellen Verfassungsrechts) das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit der Modifikation versehen würde, dass neben der einfachen Mehrheit sich unter den Zustimmenden 20 vorab bestimmte, zufällig oder mit System ausgewählte Abgeordnete befänden. Diese Modifikation würde die „Verfassungsänderung“ sicherlich enorm erschweren. Aber ebenso offensichtlich wäre sie nicht im Stande, die demokratische Legitimität zu erhöhen. Engere Voraussetzungen machen die Rechtsetzung schwerer, erhöhen aber nicht – zumindest nicht unbedingt oder automatisch – die demokratische Legitimität. Weniger offensichtlich, aber gemäß den oben gemachten Ausführungen genau so verhält es sich mit der Zweidrittelmehrheit. Zwei Drittel der Stimmen sind tatsächlich schwerer zu erreichen als 50 %. Sie führen aber nicht zu einem höheren Maß an demokratischer Legitimität. Der richtigerweise angestrebte Zweck – Abgrenzung der höheren Rechtsebene durch ein höheres Maß an Legitimität – wird verwechselt mit seinem Reflex – der erschwerten Rechtsetzung. So wird er letztlich verfehlt. Speziell in der Form als Abänderungsmodus von bereits gesetztem Rechts ist es ein erklärter Zweck der Zweidrittelmehrheit, das so zu ändernde Recht zu verstetigen, Kontinuität zu schaffen.27 Auch das ist nur scheinbar legitim. Denn das materielle Verfassungsrecht bedarf eines solchen Schutzes nicht, es ist verstetigt dadurch, dass es dem Souverän vorbehalten ist. Das formelle Verfassungsrecht hingegen ist gegenüber dem einfachen Parlamentsrecht, wie gesehen worden ist, nicht schützenswert, da es keine besondere Legitimität aufweist. Der Zusammenhang zwischen „erhöhter Geltungskraft“ und „erhöhter Bestandskraft“ oder „erschwerter Abänderbarkeit“, Merkmale, die häufig zur Charakterisierung von Verfassungsrecht gebraucht werden, ist also folgender:28 Verfassungsrecht ist im Rang höher als einfaches Parlamentsrecht und genießt daher Vorrang, was mit „erhöhter Geltungskraft“ gemeint ist. Das ergibt sich aus der rechtlichen Legitimation des einfachen Parlamentsrechts aus dem formellen Verfassungsrecht heraus (Legalität), keines27  Vgl. 28  Vgl.

Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 252. oben, Kapitel 4 B. I. 3.

272

Kap. 11: Rechtliche und demokratische Legitimität

wegs aus der erschwerten Abänderbarkeit.29 In der demokratischen Rechtsordnung muss mit dem höheren Rang ein höheres Maß an demokratischer Legitimität einhergehen, üblicherweise reflexartig begleitet durch eine vergleichsweise schwerere Form der Rechtssetzung. Erschwerte Abänderbarkeit oder gleichbedeutend erhöhte Bestandskraft ist aber nicht primäres Merkmal von formellem Verfassungsrecht, sie ist nicht Selbstzweck. Sie ist bestenfalls regelmäßiger Reflex der eigentlich gesollten Eigenschaft: höherer demokratischer Legitimität. Diese schützt das formelle Verfassungsrecht dann reflexartig vor allzu leichten Änderungen. Das verkennt das Grundgesetz, genau wie es Weimarer Reichsverfassung und Bismarcksche Reichsverfassung verkannt haben. In allen drei Verfassungen wurde dieser Fehler dadurch begünstigt, dass jeweils dasselbe Organ – immer das Parlament – für beide Arten von Rechtsetzung zuständig war. Ein Organ mit der Doppelfunktion zu betrauen, in zwei verschiedenen hierarchischen Ebenen rechtsetzend tätig zu werden, ist angesichts des notwendigen Legitimitätsunterschiedes problematisch. Durch eine Erhöhung des Quorums wird das Problem jedenfalls nicht gelöst. Der im Grundgesetz angelegte Kreislauf: Die Zweidrittelmehrheit erschwert die Änderung des formellen Verfassungsrechts, diese Erschwerung soll das Verfassungsrecht schützen, schutzwürdig ist es aufgrund höherer Legitimität, höhere Legitimität hat es durch Zweidrittelmehrheit, funktioniert nicht.

F. Ergebnis Zwar ist rein rechtlich gesehen das Rangverhältnis zwischen dem formellen Verfassungsrecht, genauer: dem Ur-Grundgesetz sowie dem Art. 79-Recht einerseits, und dem einfachen Parlamentsrecht andererseits, eindeutig. Aber in Bezug auf die demokratische Legitimation ist beides gleichrangig. Über allem, nämlich im Verfassungsrecht im materiellen Sinne, ist jedoch das Demokratieprinzip verankert und gilt somit für jede Form der Gesetzgebung für sich genommen sowie ihr jeweiliges Verhältnis zu anderen Formen. Damit wird das Problem der mangelnden demokratischen Legitimation zugleich ein Problem der rechtlichen Legitimation. Grund für diesen Dissens ist der Artikel, dem die Regelung entnommen wird: Art. 79 Abs. 1, 2 GG. In der Praxis der Rechtsordnung des Grundgesetzes herrscht somit ein Demokratiedefizit. Die rechtliche Wirkung des höherrangigen formellen 29  Die erschwerte Abänderbarkeit ist aber weitläufig als der Grund für die erhöhte Geltungskraft anerkannt; vgl. Häberle, Integrationskraft der Verfassung, § 15 Rn. 6; Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien, 46; Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, Rn. 3, differenzierter in Rn.  4 f.



F. Ergebnis273

Verfassungsrechts, das gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG in das Grundgesetz aufgenommen wird, ist in rechtstheoretischer sowie demokratietheoretischer Hinsicht nicht voll zu rechtfertigen, sie leidet an einem legitimatorischen Mangel. Die gängige Praxis, Gesetzgebungsgegenstände auf diese Weise dem einfachen Gesetzgeber zu entziehen, ist insofern zu beanstanden, jedenfalls ist sie gemessen am Demokratieprinzip nicht legitim.

Fazit und Ausblick A. Der Charakter des formellen Verfassungsrechts Was ist nun also das mit Zweidrittelmehrheit gesetzte Recht für eine „Art“ von Recht? Es handelt sich um eine eigene Art von staatlich gesetztem Recht, das sich vom einfachen Parlamentsrecht unterscheidet. Es ist ihm rangmäßig übergeordnet, da es aufgrund einer höherrangigen Kompetenzzuweisung durch die „verfassungsändernde Gewalt“ genannte, durch das Demokratieprinzip zur Setzung formellen Verfassungsrechts ermächtigte, Instanz erlassen wird.1 Aus diesem Recht erhält das Parlament als einfacher Gesetzgeber erst seine Kompetenz.2 Folge ist der Geltungsvorrang und die derogierende Kraft des formellen Verfassungsrechts.3 Es weist aber gegenüber dem einfachen Parlamentsrecht kein höheres Maß an Legitimität auf, wie es aber nach dem Demokratieprinzip für die übergeordnete Ebene gefordert ist.4 Letztlich rechtfertigt sich die Benennung als „Verfassungsrecht“ allein aus dem Umstand heraus, dass es in dem „Verfassung“ genannten Dokument steht, eine besondere Qualität kommt ihm dadurch nicht zu.5 Es handelt sich um staatlich gesetztes, demokratischen Anforderungen entsprechendes Recht, das im Stufenbau der Rechtsordnung zwischen materiellem Verfassungsrecht und einfachem Parlamentsrecht angesiedelt ist.

B. Grenzen der Änderung des Verfassungsrechts Der Bundestag fungiert als Setzer des formellen Verfassungsrechts, indem er normative Inhalte in das Grundgesetz gemäß dem Verfahren des Art. 79 Abs. 1, 2 GG aufnimmt. Ihm sind dabei Grenzen nach oben gesetzt, nämlich durch das gesamte materielle Verfassungsrecht. Diese Grenzen benennt Art. 79 Abs. 3 GG deklaratorisch.6 Nach unten ist ihm keine Grenze gesetzt, das heißt: Jeder normierbare Inhalt, und sei er noch so banal, könnte 1  Vgl.

oben, Kapitel 2 B. II., sowie Kapitel 10 D. II. 2 oben, Kapitel 10 E. I. 3  Vgl. oben, Kapitel 2 B. II. 4  Vgl. oben, Kapitel 7 A. IV., sowie Kapitel 11 C. 5  Vgl. oben, Kapitel 4 C. II. 6  Siehe oben, Kapitel 10 B. II. 2  Vgl.



C. Optionen275

ins Grundgesetz aufgenommen werden – vorausgesetzt die Wertung verstößt nicht gegen materielles Verfassungsrecht. Insofern stehen dem „verfassungsändernden Gesetzgeber“ die gleichen materiellen Gesetzgebungsinhalte zur Verfügung wie dem einfachen Gesetzgeber. „Die Grenze des materiellen Verfassungsrechts ist nach ‚unten‘ offen.“7 Zu beachten ist aber, dass seine Normierung eine Sperrwirkung gegenüber dem ebenso demokratisch legitimierten einfachen Gesetzgeber hat, demselben Organ, demselben Parlament, denselben demokratisch gewählten Personen: dem Bundestag mit einfacher Mehrheit. Diese Sperrwirkung, die sich aus dem höheren Rang kraft höherer rechtlicher Legitimation ergibt, wäre nur dann auch demokratisch legitimiert, wenn damit ein entsprechender demokratischer Legitimitätsvorsprung einherginge, was aber nicht der Fall ist. Aufgrund des genannten Legitimationsdissenses zwischen rechtlichem und demokratischem Rang, aufgrund insbesondere des Problems um das demokratische Defizit, das beim Erfordernis der Zweidrittelmehrheit zur Rechtsänderung auftritt (60 %-Problematik)8, ist der „verfassungsändernde Gesetzgeber“ nicht nur gehalten, von seiner Kompetenz zurückhaltend Gebrauch zu machen. Vielmehr ist dadurch die gesamte Kompetenz in Frage gestellt, sie kann insgesamt überhaupt keine demokratisch legitime Funktion wahrnehmen, die nicht der einfache parlamentarische Gesetzgeber ebenso gut wahrnehmen könnte. Der Bundestag sollte auf die Wahrnehmung dieser Kompetenz verzichten und sich auf die einfache gesetzgeberische Funktion mit einfacher Mehrheit beschränken. Weniger problematisch ist die erstmalige Setzung des formellen Verfassungsrechts oder auch die Änderung des einfachen Parlamentsrechts auf diesem Wege, da diese immerhin genauso legitimiert sind wie die Setzung einfachen Rechts. Problematischer ist die damit eingetretene Sperrwirkung gegenüber einem nicht weniger legitimierten Parlament, die die höhere Bestandskraft mit sich bringt und die selbst gegenüber einer entgegengesetzten Mehrheit Bestand hat.

C. Optionen Die in der Rechtsordnung des Grundgesetzes (und in jeder Rechtsordnung, die formelles Verfassungsrecht anerkennt) angestrebte und angelegte Funktion höherrangigen, dem einfachen parlamentarischen Recht übergeordneten staatlich gesetzten Rechts ist an sich eine legitime Form der hierarchischen Stufung. Das Bedürfnis, bestimmte Gesetzgebungsgegenstände der 7  Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers, 71, wobei dort mit „materiellem“ Verfassungsrecht in etwa das hier als „formelles Verfassungsrecht“ Bezeichnete gemeint ist. 8  Vgl. oben, Kapitel 7 B. II., Kapitel 10 D. IV. 1. und 2., sowie Kapitel 11 E. I.

276

Fazit und Ausblick

flexiblen parlamentarischen einfachen Mehrheit zu entziehen, sie vor ihr zu sichern, ist ein legitimes Bedürfnis, solange diese Sicherung demokratisch legitimiert werden kann. Als besonders wichtig empfundene und auf Kontinuität angelegte Grundwertungen, denen jedoch nicht der Rang des materiellen Verfassungsrechts zugesprochen werden kann, können so in der formellen Verfassung festgeschrieben werden und binden auf diese Weise auch den parlamentarischen einfachen Gesetzgeber. Das Problem in der Rechtsordnung des Grundgesetzes ist lediglich die mangelnde demokratische ­Legitimität des dazu kompetenten Organs, genauer: sein mangelnder Legitimitätsvorsprung. Die in Art. 79 Abs. 1, 2 GG benannte Kompetenz ist als „unzulänglich“9 beurteilt worden, diese Funktion wahrzunehmen. Dies ließe sich aber korrigieren. Drei Modelle werden dazu vorgeschlagen. Es geht darum, ein Organ zu finden und mit der Setzung des formellen Verfassungsrechts zu betrauen, das tatsächlich über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität verfügt, als der Bundestag bei der Setzung einfachen Parlamentsrechts.

I. Volksentscheid Die nächstliegende Idee wäre wohl, dass die Kompetenz zur Setzung des formellen Verfassungsrechts, wie sie das Demokratieprinzip delegiert, vom obersten demokratischen Staatsorgan selbst, also vom Staatsvolk, unmittelbar und direkt wahrgenommen würde. Für Gesetzgebungsvorhaben, denen ein besonders hohes Gewicht zugemessen wird, denen ein besonders hohes Maß an Bestand und Kontinuität zukommen soll und denen somit ein besonders hohes Maß an Legitimität zukommen muss, können dann Volksentscheide einberufen werden. In zahlreichen deutschen Landesverfassungen ist dieses Element direkter Demokratie enthalten.10 Das dadurch ermöglichte Höchstmaß an demokratischer Legitimität der Entscheidung brächte den entsprechend höheren Aufwand (eine Form der erschwerten Abänderbarkeit) mit sich, der wiederum seinen Teil dazu beitrüge, dass sich auf wenige, der Aufnahme ins Grundgesetz würdige Bereiche beschränkt würde. Es könnten weitere Verfahrensvorkehrungen getroffen werden, die einen bedachteren Gebrauch dieses Instrumentes sicherstellen könnten. So wäre es denkbar, dass solche Volksentscheide nur einmal im Jahr stattfänden und dann über Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, 746. Beispiel ist Art. 129 VerfRP, wo gemäß Abs. 1 die Mehrheit der Stimmberechtigten über Verfassungsänderungen entscheiden darf. Hier findet man auch die oben beschriebene Wertung wieder: Während das Volk mit einfacher Mehrheit entscheiden kann, wird im Landtag eine Zweidrittelmehrheit gefordert mit dem Motiv, das richtigerweise erkannte gegenüber dem Volk bestehende demokratische Minus auszugleichen. 9  Vgl.

10  Ein



C. Optionen277

mehrere anstehende Gesetze abgestimmt würde. Auch an eine zeitliche Knüpfung an die Bundestagswahl wäre zu denken. Auch kann man an eine obligatorische Anmeldefrist für plebiszitäre Projekte von etwa sechs Monaten denken, sodass eine ausreichende Information und darauf beruhend eine die Entscheidung legitimierende Debatte, ein Diskurs im Volk stattfinden könnte. Außerdem wäre eine Begründungspflicht für formell verfassungsrechtliche Gesetzgebungsprojekte denkbar, da die repräsentative Demokratie doch die Regel, die direkte Demokratie die Ausnahme bleiben sollte. Auch könnte eine Einbeziehung des Parlamentes in der Form möglich sein, dass das Initiativrecht (auch oder ausschließlich) beim Parlament läge, und dieses für Verfassungsprojekte ein Referendum einzuberufen hätte.11 Einen möglichen Einbezug des Volkes im Rahmen von Verfassungsänderungen, sowohl auf Initiative des Volkes selbst (Abs. 1 S. 4), als auch auf Initiative des Bundesrates (Abs. 2), sah Art. 76 WRV vor. Beim Volksentscheid könnte auch derjenige mit Nein stimmen, der dem Vorhaben an sich nicht ablehnend entgegensteht, es aber für nicht angemessen hält, es in Form von formellem Verfassungsrecht ins Grundgesetz aufzunehmen. Gegen einen zweiten Anlauf des Gesetzgebungsprojektes auf der Ebene des einfachen Parlamentsrechts würde nichts sprechen, sofern man einem negativen Volksentscheid keine Sperrwirkung zumäße. Als ein Nachteil der plebiszitären Lösung erscheint, dass diese Lösung zulasten der spontanen Handlungsfähigkeit, die beim Gesetzgeber eher besteht, geht. Eine Zweidrittelmehrheit kann ad hoc im Verfahren nach Art. 76 ff. GG entscheiden. Andererseits könnte das auch nicht ganz zufällig zur Folge haben, dass von der Kompetenz angemessen zurückhaltend Gebrauch gemacht wird. Es sollen ja gar keine Regelungen, deren Bestand von spontanen politischen Mehrheitsverhältnissen abhängig ist und die praktisch auf spontane Änderungsmöglichkeit angewiesen sind, in das Grundgesetz Einzug erhalten.

II. Volksversammlung (als zur Verfassungsänderung gewähltes Organ) Es wäre aber auch denkbar, die demokratische Legitimität einer Entscheidung zu erhöhen, ohne den Boden der repräsentativen Demokratie zu verlassen. Dazu könnte ein eigenständiges Organ, eine verfassungsändernde 11  Die Verfassung des Königreichs Spanien bspw. sieht in Art. 167 Abs. 3 vor, dass im Rahmen von Verfassungsänderungen, die grundsätzlich von der parlamentarischen Legislative mit zum Teil qualifizierten Mehrheiten vorgenommen werden, auf Antrag von 10 % der Mitglieder des Abgeordnetenhauses oder des Senats die Verfassungsänderung einer Volksabstimmung unterworfen wird.

278

Fazit und Ausblick

Versammlung, deren Aufgabe ausschließlich die Setzung und Änderung des formellen Verfassungsrechts ist, geschaffen werden. Welche Momente könnten die demokratische Legitimation eines solchen Organs gegenüber dem Bundestag dermaßen erhöhen, dass es legitim erscheint, diese Aufgabe zu übernehmen? Da in Deutschland der Bundestag ein nach dem Verhältniswahlrecht gewähltes Parlament ist und daher das Volk besonders unmittelbar repräsentiert, erscheint die Erhöhung der Legitimität schwierig. Wäre der Bundestag ein nach dem Mehrheitsprinzip zusammengesetztes Parlament, so würde das eine Verschiebung zugunsten der Handlungsfähigkeit und zulasten der demokratischen Legitimität darstellen.12 Dann könnte eine nach Verhältniswahlrecht gewählte Versammlung als noch näher, noch unmittelbarer am Volk stehend angesehen werden. Nach der Lage der Dinge könnte man aber auf die Abgeordneten des Bundestages zurückgreifen. Wie sollte dann das Maß an demokratischer Legitimität erhöht werden? Eine bloße Erhöhung der Anzahl der Abgeordneten ausschließlich für Verfassungsänderungen würde wohl kein spürbar höheres Maß an Legitimation schaffen.13 Durch die näher konkretisierte Zweckbestimmung (Beschränkung auf Verfassungsänderung) könnte die demokratische Legitimität allerdings etwas erhöht werden – aber ausreichend wesentlich? Es könnte auch eine eigenständige, verfassungsändernde Versammlung gewählt werden. Wann aber sollte diese gewählt werden? Für jedes Verfassungsänderungsprojekt neu? Warum sollte dann statt dieser Wahl nicht gleich das Volk direkt abstimmen, wie es der erste Vorschlag war? Die Wahrnehmung der Aufgabe durch eine spezielle Volksversammlung lässt zu viele Fragen offen und erscheint insgesamt wenig praktikabel.

III. Doppelte Parlamentsmehrheit Der dritte Lösungsvorschlag versucht, die Vorteile der beiden ersten zu kombinieren und gleichzeitig die Nachteile zu minimieren. Verfassungsrecht im formellen Sinne könnte vom Parlament zunächst mit einfacher Mehrheit als einfaches Parlamentsrecht verabschiedet werden. Um es auf den Rang formellen Verfassungsrechts zu heben, könnte mit bestimmter Frist vor einer Bundestagswahl das Gesetz als verfassungsänderndes Gesetz, also als formelles Verfassungsgesetzesvorhaben, angemeldet werden. Über das gleiche Vorhaben müsste dann nach der Bundestagswahl erneut mit einfacher Mehrheit abgestimmt werden. Es müsste somit in zwei aufeinanderfolgenden 12  Siehe 13  Vgl.

dazu oben, Kapitel 7 A. V. oben, Kapitel 7 A. V.



C. Optionen279

Legislaturperioden eine entsprechende Mehrheit bestehen. Das hätte zur Konsequenz, dass automatisch die dazwischenliegende Bundestagswahl zum indirekten Quasi-Volksentscheid über diese Vorhaben interpretiert werden kann. Die Schwedische Verfassung, Kapitel 8, Art. 15 Regeringsformen, sieht ein im Wesentlichen entsprechendes Verfahren vor.14 Hier darf anlässlich der dazwischenliegenden Reichstagswahl auch ein Referendum abgehalten werden, dem aber allenfalls negative Bindungswirkung zukommen kann. Als historisches Beispiel eines ähnlichen Revisionsverfahrens dient die Französische Verfassung von 1791 in Titel VII („Von der Revision der Verfassungsbeschlüsse“): Hier sollten gemäß Art. 2 bis 4 sogar drei aufeinanderfolgende gesetzgebende Versammlungen denselben Änderungswunsch äußern, um dadurch die Verfassungsänderung herbeizuführen.15 Auch diese Lösung ginge zulasten der spontanen Handlungsfähigkeit, was angesichts der Regelungsgegenstände, an die hier zu denken ist, aber gut hinnehmbar ist.16

14  Jahn,

Das politische System Schwedens, 120. dazu auch Robbers, Die Änderungen des Grundgesetzes, 1325. 16  Vgl. oben, 1. 15  Vgl.

Zusammenfassende Thesen 1. Recht beruht auf einem Dualismus von Sein und Sollen: Es handelt sich um Sollenssätze, die von der Seins-Sphäre (von außen) und von der Sollens-Sphäre (von innen) betrachtet werden können. Die Seins-Sphäre formuliert Bedingungen an die Geltung des Rechts, die schlicht von außen vorgegeben sind und deren Inhalt keinerlei Normativität aufweist. Sie betreffen vor allem die Geltung des Rechts. Der normative Inhalt des Rechts, die Sollens-Sphäre, unterliegt keiner Grenze außer der der Seinssphäre und er steht dem Willen, der die Norm formuliert, zur Disposition. 2. Die spezifisch rechtliche Geltung von Rechtsnormen ist durch das Merkmal des Zwangs charakterisiert. Seine Legitimität gründet in der Souveränität dessen, der die Rechtsnorm setzt; einer Eigenschaft, die grundsätzlich nur für den Menschen anerkannt wird. Souveränität ist Rechtsfähigkeit kraft eigener Natur, also nicht-normative, sondern originäre Rechtsfähigkeit. Aufgrund dieser Souveränität ist Recht aber nur als Selbstverpflichtung denkbar, es muss also in einem Rechtssystem grundsätzlich Identität von Rechtsetzern und Rechtsadressaten herrschen. 3. Recht ist eine bestimmte Form von Normen und daher immer angewiesen und allein abhängig von einem dahinterstehenden normsetzenden Willen. Naturrecht ist nicht denkbar, da die Natur keinen Willen äußert, sondern alternativlose Seinssätze, die Naturgesetze, formuliert. Recht hingegen ist immer letztlich vom Menschen gesetzt. Insofern gibt es nur gesetztes, also positives Recht. 4.  Ein Rechtssystem kann hierarchisch („Stufenbau der Rechtsordnung“) aufgebaut sein. Die Hierarchie ergibt sich dadurch, dass durch normative Delegation Rechtsetzungskompetenzen erteilt werden können, deren Wahrnehmer dann von der delegierenden Ebene formell und materiell abhängig und damit dieser untergeordnet ist. 5.  Eine staatliche Rechtsordnung wird als besonderes Rechtssystem charakterisiert durch Abgrenzbarkeit nach außen und Integration nach innen. Sie ist hierarchisch aufgebaut und bedarf als nach außen abgrenzendes sowie nach innen integrierendes Moment einer souveränen Macht an der Spitze. Dieser Souverän muss – Identität von Rechtsetzern und Rechts­ adressaten – alle Rechtssubjekte verkörpern und allgemeinverbindlich Recht setzen können. Er kann nicht vertraglich geschaffen werden, er muss nichtnormativer Natur sein. Er ist der Gemeinwille, der Wille des Volkes als



Zusammenfassende Thesen281

einer Person, die entsteht, wenn sich die Rechtssubjekte (Menschen) miteinander als ein Volk identifizieren. 6.  Ein Staat ist die Verkörperung einer solchen Rechtsordnung und beruht auf einem souveränen Volk. Die Europäische Union ist kein Beispiel für einen solchen Staat, da sie all ihre Hoheitsgewalt nicht von einem Volk bezieht, sondern diese von den souveränen Mitgliedstaaten ableitet, somit auch keinen Souverän an ihrer Spitze hat und keine Rechtsordnung ist. 7. Das vom obersten, souveränen Volkswillen gesetzte Recht ist Verfassungsrecht im materiellen Sinne. Es wird durch nichts anderes als seinen Setzer charakterisiert und ist daher naturgemäß auf fundamentale Grundwertungen beschränkt. Es bedarf keines Verfahrens der Setzung, sondern entsteht durch bloßes Wollen des Souverän. Es kann von den Menschen im Einzelnen nicht geschaffen, nur erkannt werden. Der Diskurs ist ein wichtiges Instrument, das der Erkenntnis des materiellen Verfassungsrechts dient. 8.  Die höchste Ebene des dem materiellen Verfassungsrecht nachfolgenden Rechts richtet sich nach den formellen und materiellen Determinanten des materiellen Verfassungsrechts. In der demokratischen Rechtsordnung bestehen daher bestimmte Vorgaben für das Verfahren der Rechtsetzung, insbesondere die maßgebliche Beteiligung des Volkes und die Geltung des Mehrheitsprinzips. Soll diese Ebene ebenfalls „Verfassungsrecht“ heißen, so ist sie, als „formelles“ Verfassungsrecht, wesentlich verschieden vom materiellen Verfassungsrecht und daher von ihm zu unterscheiden. 9. Demokratisches Recht muss im doppelten Sinne legitim sein: In rein rechtlicher Hinsicht muss es sich durch Regress über den Stufenbau der Rechtsordnung auf die Verfassung und somit auf den Gemeinwillen zurückführen lassen. In demokratischer Hinsicht ist gefordert, dass jede Rechtsetzungskompetenz wahrnehmende Stelle über ein höheres Maß an demokratischer Legitimität verfügt als die ihr jeweils nachgeordnete Stelle, die formell und materiell von ihr abhängig ist und der gegenüber sie derogieren kann. 10. Verschiedene Faktoren beeinflussen das Maß an demokratischer Legitimität einer Rechtsnorm; nicht dazu gehört das Quorum an Zustimmung in der Abstimmung über die Norm. Eine Zweidrittelmehrheit an Zustimmung ist für sich genommen in demokratischer Hinsicht nicht legitimer als eine einfache (50 %-)Mehrheit im selben Abstimmungskörper. 11.  In der Rechtsordnung des Grundgesetz mangelt es im Verhältnis vom (höherrangigen) formellen Verfassungsrecht, das gemäß Art. 79 Abs. 1, 2 GG gesetzt wird, zum (niederrangigen) einfachen Parlamentsrecht am demokratischen Legitimitätsvorsprung des ersteren. Es ist daher illegitim, Gesetzgebungsgegenstände allein aufgrund qualifizierter Mehrheit und durch Aufnahme in das Grundgesetz dem demokratischen (einfachen) Gesetzgeber zu entziehen.

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290 Literaturverzeichnis – Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, JöR 4 (1910), 196–218 Tosch, Erich, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an den Willen des historischen Verfassunggebers, Berlin 1979, Tosch, Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers Vezanis, Demetrius, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Bracher, Karl Dietrich / Dawson, Christopher / Geiger, Willi / Smend, Rudolf (Hrsg.), Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, Zweiter Band: Staats- und Verfassungsrecht, Tübingen 1966, 139–151 Vitzthum, Wolfgang Graf / Proelß, Alexander (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Auflage, Berlin 2016, zitiert: Autor in Vitzthum / Proelß (Hrsg.), Völkerrecht Voigt, Rüdiger, Den Staat denken – Der Leviathan im Zeichen der Krise, 3. Auflage, Baden-Baden 2014, zitiert: Voigt, Den Staat denken Volkmann, Uwe, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 2013, zitiert: Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre – Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, Der Staat 54 (2015), 35–62 Vöneky, Silja, Recht, Moral und Ethik. Grundlagen und grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, Tübingen 2010, zitiert: Vöneky, Recht, Moral und Ethik Vranes, Erich, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, ZaöRV 65 (2005), 391–405, zitiert: Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior Weiler, Joseph Halevi Horowitz, Der Staat ‚über alles‘ – Demos, Telos und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JöR 44 (1996), 91–135, zitiert: Weiler, Der Staat ‚über alles‘ Wiencke, Fabian, Zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheidungen, Münster 2013 Winkler, Günther, Zeit und Recht – Kritische Anmerkungen zur Zeitgebundenheit des Rechts und des Rechtsdenkens, Wien 1995, zitiert: Winkler, Zeit und Recht Winterhoff, Christian, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung. Zur Theorie der Verfassung und der Verfassungsrechtserzeugung, Tübingen 2007, zitiert: Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung Zimmermann, Andreas, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge. Zugleich ein Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen völkerrechtlicher Kodifikation, Berlin 2000, zitiert: Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge

Sachwortverzeichnis Abänderbarkeit, erschwerte  122 ff., 267 ff. amending power  215 ff., 240 Änderungskompetenz  66, 215 ff., 227, 233, 239, 245, 255 Äquivalenztheorie  30 f. Aristokratie  90, 163 begrenzte Einzelermächtigung, Prinzip der  197, 208 Bestandskraft, erhöhte  122 ff., 267 ff. Bundesstaat  138 f., 193, 202, 207, 209, 231 Chiemseer Entwurf  247 Deliberation  172 Demokratie  143 ff., 159 ff., 204 ff., 229, 240 ff. Diktatur  163, 171 Diskurs  111 f., 172, 181, 277 Dualismus – im Völkerrecht  19 – von rechtlicher und demokratischer Legitimation  168 f., 241, 261 ff. – von Sein und Sollen  20, 28 ff., 32 f., 141 Einstimmigkeitsprinzip  57 f., 80 ff., 183 ff. Einzelwille, siehe Individualwille Europarecht  191 ff. Fehlerkalkül  64 ff. Föderalismusprinzip  207, 231 Geltung von Recht  44 f., 59 ff. Geltungskraft, erhöhte  121 f., 267 ff.

Gemeinwille  91, 96 ff., 107 ff., 118 ff., 142, 228 ff. Gemeinwohl  91, 108 ff., 156 f. Gesellschaftsvertrag  85 ff., 94 ff. Gesetzgebungsverfahren  59 f., 232, 240 ff. Gewaltenteilung  113, 127, 154, 230 Gewaltmonopol  35 Gewohnheitsrecht  131 ff., 137 Gleichheit – demokratische  167 f., 172, 176 ff., 191, 204 ff. – souveräne  86 ff., 135, 149 Grundkonsens  83 f., 177 Grundnorm  78, 107, 114 Grundrechte  88 f., 127, 155, 177 f., 231, 257 historische Rechtsschule  135 f. Homogenität  96 ff., 176 ff., 182 ff., 201 Identifikation  94 ff., 141 ff., 147 ff., 202 f., 206, 211 f. Identifikationstheorie  94 ff. Identität – der Rechtsordnung  57 f., 79, 83 – der Verfassung  100 f., 208, 224 – des Staates  100 f., 147 ff., 151 ff., 211 f. – des Volkes  90 f., 94 ff., 141 ff., 151 ff., 200 ff. – von Rechtsetzern und Rechtsadressaten  52 f., 55, 77, 85, 90, 93, 99, 113 f. Individualinteresse  54, 156 f. Individualwille  108 ff., 174 ff. Integration  96, 192 f., 202 ff. Internationale Gemeinschaft  192

292 Sachwortverzeichnis Kausalität  28 ff. Kollisionsnorm  66 ff., 135 Kompetenz-Kompetenz  199, 201, 208, 218 f. Konfliktlösungsregeln, siehe Kollisionsnorm Konsensprinzip, siehe Einstimmigkeitsprinzip Konstitutionalisierung im Völkerrecht  192 Koordinationsordnung  53 f., 56 f., 77 ff., 85 ff., 192 Legitimation – des EU-Rechts  194 ff. – des formellen Verfassungsrechts  235 ff., 255 f. – rechtliche und demokratische, siehe Dualismus von rechtlicher und demokratischer Legitimation – von Zwang  33 ff. Legitimität – demokratische  165 ff., 168 f., 180 ff., 261 ff. – im Gegensatz zu Legalität  78, 212 f. Lissabon-Entscheidung  100, 203 Maastricht-Entscheidung  100 Machtübernahme durch die National­ sozialisten  212 f., 225 Majoritätsprinzip, siehe Mehrheits­ prinzip Mediatisierung – des Menschen im Völkerrecht  248 – des Volkswillens  170 ff., 192 Mehrheit – absolute  180, 188 f. – doppelte  278 f. – einfache  174 ff., 180 ff., 252 ff., 270 f. – qualifizierte  181 ff., 237, 252 ff., 264 f., 266 ff., 274 f. – relative  187 ff. – Zweidrittel-, siehe qualifizierte Mehrheit

Mehrheitsprinzip  80 ff., 157, 172 f., 174 ff. Mehrheitswahl  172 f. Menschenwürde  41, 112, 167, 228 f., 231 Monarchie  90, 163 Naturgesetz  28 ff. Naturrecht  33, 41, 47 ff., 89 f. Naturzustand  78 f., 85 ff., 142 no-demos-These  200 ff. normative Kraft des Faktischen  132 f., 139 Normativität  29 ff. Normenhierarchie, siehe Stufenbau der Rechtsordnung Normkollision, siehe Kollisionsnorm Normkonflikt, siehe Kollisionsnorm Parlamentarischer Rat  238 f., 246 ff. Parlamentarismus  170 ff., 229, 232, 240 ff. Parlamentsrecht, einfaches  242, 256 ff., 265 ff. Parteien, politische  156 f., 207, 251 Plebiszit  250 f., 263, 277 Pluralismus, Pluralität  170 ff. positives Recht, siehe Rechtspositivismus Positivismus, siehe Rechtspositivismus pouvoir constituant  114, 141, 162, 215, 225 pouvoir constituant constitué  217 pouvoir constitué  141, 162, 168 f., 224 f. Primärrecht, europäisches  195 ff. Proportionalität, degressive  205 ff. Rechtsordnung 56 ff., 77 ff., 193 f., 200 ff. Rechtspositivismus  46 ff., 120 ff., 125, 175, 180, 226 Rechtsstaatsprinzip  229 f. Repräsentation  90 f., 112, 170 ff., 229, 240 f., 245 ff., 262 ff., 277 f. Revolution  203, 211 ff.

Sachwortverzeichnis293 Sekundärrecht  197 ff. Selbstbindung  217, 232 Selbstverpflichtung  52, 58 Souveränität – als solche  58 f., 77 ff., 86 ff., 94 ff. – des Menschen  41 ff., 52 ff., 150 – des Staates  143, 148 ff., 151, 160 ff., 191 f., 208 – des Volkes  113 ff., 143 f. Sozialstaatsprinzip  231 Sperrwirkung  254, 259, 267, 275 Sprache und Recht  50 f., 71 ff., 97 ff., 137 ff. Staat – als Völkerrechtssubjekt  147 ff. – im staatsrechtlichen Sinne  154 ff. Staatengleichheit, siehe Gleichheit, souveräne Staatensukzession  151 ff. Staatenverbund  193, 209 f. Strafe  35 f., 38 f. Stufenbau der Rechtsordnung  58 ff., 168 f., 215 ff. subjektiver Tatbestand der Rechtsetzung  243 ff., 253 f., 258 f. Umsetzungsgesetz  196 Verbindlichkeit (von Recht, Normen), 25, 41 ff., 58 Verfassung im formellen Sinne – Begriff  120 ff., 130 – im Grundgesetz  223 ff., 235 ff., 262 ff., 274 ff.

Verfassung im materiellen Sinne – Begriff  124 ff., 128 ff., 131 ff. – im Grundgesetz  223 ff., 226 ff., 262 Verfassungsablösung  212 f. verfassungsbegleitende Gewalt  104 Verfassungsbeseitigung  212 f. Verfassungsdokument  120 f., 130 f. Verfassungsgewohnheitsrecht  131 ff. Verfassungsidentität, siehe Identität der Verfassung Verfassungskern  131, 224 ff. Verfassungsrecht, siehe Verfassung Verfassungsvernichtung  211 f. Verfassungsvertrag  201 f., 204 Verhältniswahl  172 f., 278 Vertrag, völkerrechtlicher  195 ff., 204, 249 Vertragstheorie  85 ff. Volk – als Souverän  141 ff., 160 ff. – als Staatsorgan  143 ff., 160 ff. Völkerrecht  148 ff., 191 f., 204 ff. Völkerrechtsunmittelbarkeit  149 Volksentscheid  276 f. Volksgeist  110, 135 ff. volonté de tous  108 volonté générale  108 Wirksamkeit  44 f. Zivilgesellschaft  155 f. Zwang  33 ff.