»Wir werden niemals vergessen!«: Trauma, Erinnerung und Identität in der armenischen Diaspora Griechenlands [1. Aufl.] 9783839402283

Was bedeutet das Trauma des Genozids von 1915 für Armenier in Griechenland heute? Welche Rolle spielt es für Identität u

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German Pages 288 [287] Year 2015

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
1 Ziele, Fragestellungen und Zentrale Konzepte: Eine Einführung
1.1 Zum Thema des Buchs
1.2 Zum theoretischen Rahmen und zu den zentralen Fragestellungen
1.3 Zum Aufbau des Buchs
1.4 Der Genozid von 1915
1.5 Konzepte armenischer Identität und Diaspora
2 Methode und Feldforschungspraxis
2.1 Kritische Reflexionen zur Forschungspraxis einer Multi-Sited Ethnography
2.2 Positionierung im Feld
2.3 Zur Bedeutung von Lokalität für eine Multi-Sited Ethnography
2.4 Feldforschungspraxis
Zu den Erhebungstechniken
Zur Aufarbeitung und Auswertung der Daten
Zur Verwendung von Sprache(n) während der Feldforschung
Zur Zitierweise des Datenmaterials
3 Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Lokale Geschichte(n) der Paroikies
3.1 Flucht, Ankunft und die Erfindung einer armenischen „Nation im Exil“
3.2 Im Ghetto: Die Territorialisierung einer „Nation im Exil“
3.3 „Das große Übel“: Die Spaltung der „Nation im Exil“
3.4 Staatsbürgerschaft und die Auflösung der Ghettos: Die De-Territorialisierung der „Nation im Exil“
3.5 Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Die Unabhängigkeit und ihre Folgen
4 „Ein Armenier: Eine Kirche, zwei Armenier: eine Schule, drei Armenier: drei Parteien!“ – Institutionen, Differenzen und Zugehörigkeiten
4.1 Strukturen der Paroikia
Administrative Strukturen der Antelias-Paroikia
„Organisatorische Dezentralisierung“ und lokale Identitätsarbeit
Die Paroikia in Athen
Die Paroikia in Thessaloniki
4.2 Führer und Gefolgschaft : Interne Differenzen am Beispiel der Daschnak-Paroikia
Wenn Migranten Diasporaarmenier treffen
Konfligierende Definitionen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft
4.3 Zwischen loyalem Millet und ethnischer Minderheit: Rechtliche Stellung der Paroikies im Nationalstaat Griechenland
5 Kollektive Erinnerungsarbeit und Ritualisierung
5.1 Die Politisierung und Ritualisierung des Genozidgedenkens in der armenischen Diaspora in Griechenland
5.2 Die Politische Zentralveranstaltung: Performanzen armenischer Identität im griechischen Nationalstaat
Die Prozession zum Denkmal des unbekannten Soldaten
Ein Vergleich zwischen Daschnak und Ramgavar
Alternative Ritualisierungen der Migrantinnen
5.3 Das Dilemma von Erinnerung und Vergessen
Totengedenken in Thessaloniki: Die Verehrung der Knochenreliquie
Totengedenken in Athen: Aktive rituelle Akteure und passive Teilnehmende
5.4 Die Demonstrationen als kontrollierte Rebellionen?
Demonstrieren in Athen: Die perfekte Inszenierung einer kontrollierten Rebellion?
Demonstrieren in Thessaloniki: Die Abweichung von der ritualisierten Inszenierung
5.5 Zum Zusammenhang von Ritualen, Diasporaraum und projektiven Erzählungen
6 Individuelle Erinnerungsarbeit und intergenerationelle Übertragung
6.1 Lusine, Anusch und Shushan – Der Genozid als ein „großer Kopfschmerz“
Identifikation mit dem Genozid
Die emotionale Sonderstellung des Genozids
Imaginationen der Türkei zwischen Versöhnungs- und
Bedrohungsphantasien
Das ambivalente Verhältnis zu Griechenland
Das Verhältnis zur Daschnak zwischen Widerspruch und Anerkennung
Politischer Protest zwischen Zwang und Verpflichtung
Der Genozid als Bindeglied
6.2 Ruben: Erinnerungsarbeit eines Dissidenten
Die türkische Sprache als Totengedenken
Die Türkei als persönliche Heimat
Laufbahn eines Dissidenten
Das Verhältnis zur Türkei
Die Abwehr einer Identifikation mit dem Genozid
6.3 Serine – „Das kommt mir vor wie ein großes Theater“
6.4 Familie Kassapian – Der Genozid erhält uns als Armenier!?
Der Genozid in der intergenerationellen Übertragung
Armenische Identität zwischen Genozid und Armenien
Armenisch sein heißt Opfer bringen!
Das Verhältnis zur ritualisierten Erinnerungsarbeit
6.5 Takuhi Atamian – Die Zwischenstellung der 2. Generation
Die regulative Biographie des Vaters
Das Verhältnis zur Türkei: Die Sehnsucht nach Normalität
6.6 Isabella Turoni – Das Erbe: Der Hass auf die Türken
Die Reise in die Türkei
Das Verhältnis zu den Türken
6.7 Zum Zusammenhang von kollektiver und individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit
7 Aspekte einer Theorie zu Diaspora
7.1 Diaspora als soziale Formation vs. Diasporaraum
7.2 Ethnologische Aspekte einer Untersuchung kollektiver Traumata
7.3 Mobilität und Transnationalität vs. Sesshaftìgkeit und Territorialität
7.4 Diaspora als Diasporaraum
Literaturverzeichnis
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»Wir werden niemals vergessen!«: Trauma, Erinnerung und Identität in der armenischen Diaspora Griechenlands [1. Aufl.]
 9783839402283

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Susanne Schwalgin »Wir werden niemals vergessen!«

Susanne Schwalgin (Dr. phil.) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Gender, Ethnizität, Identität. Die neue Dienstmädchenfrage im Zeitalter der Globalisierung« an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Identitätsforschung sowie Gender Studies.

Susanne Schwalgin

»Wir werden niemals vergessen!« Trauma, Erinnerung und Identität in der armenischen Diaspora Griechenlands

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Susanne Schwalgin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-228-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALTSVERZEICHNIS

1

Ziele, Fragestellungen und Zentrale Konzepte: Eine Einführung

1

1.1 Zum Thema des Buchs 1 . 2 Z u m t h e o r e t i s c h e n R a h me n u n d z u d e n z e n t r a l e n Fragestellungen 1.3 Zum Aufbau des Buchs 1.4 Der Genozid von 1915 1.5 Konzepte armenischer Identität und Diaspora

6 16 18 25

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Methode und Feldforschungspraxis

2 . 1 K r i t i s c h e R e fl e x i o n e n z u r F o r s c h u n g s p r a x i s e i n e r Multi-Sited Ethnography 2.2 Positionierung im Feld 2 . 3 Z u r B e d e u t u n g v o n L o k a l i t ä t fü r e i n e M u l t i - S i t e d Ethnography 2.4 Feldforschungspraxis Zu den Erhebungstechniken Zur Aufarbeitung und Auswertung der Daten Zur Verwendung von Sprache(n) während der Feldforschung Zur Zitierweise des Datenmaterials

3

Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Lokale Geschichte(n) der Paroikies

3 . 1 F l u c h t , A n k u n ft u n d d i e E r fi n d u n g e i n e r a r me n i s c h e n „Nation im Exil“ 3.2 Im Ghetto: Die Territorialisierung einer „Nation im Exil“ 3.3 „Das große Übel“: Die Spaltung der „Nation im Exil“ 3 . 4 S t a a t s b ü r g e r s c h a ft u n d d i e A u fl ö s u n g d e r G h e t t o s : Die De-Territorialisierung der „Nation im Exil“ 3.5 Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Die Unabhängigkeit und ihre Folgen

4

„Ein Armenier: Eine Kirche, zwei Armenier: eine Schule, drei Armenier: drei Parteien!“ – Institutionen, Differenzen und Zugehörigkeiten

4.1 Strukturen der Paroikia Administrative Strukturen der Antelias-Paroikia

2

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51 55 65 69 76 78

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„Organisatorische Dezentralisierung“ und lokale Identitätsarbeit Die Paroikia in Athen Die Paroikia in Thessaloniki 4 . 2 F ü h r e r u n d G e fo l g s c h a ft : I n t e r n e D i f f e r e n z e n am Beispiel der Daschnak-Paroikia Wenn Migranten Diasporaarmenier treffen Konfligierende Definitionen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft 4.3 Zwischen loyalem Millet und ethnischer Minderheit: Rechtliche Stellung der Paroikies im Nationalstaat Griechenland

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Kollektive Erinnerungsarbeit und Ritualisierung

5.1 Die Politisierung und Ritualisierung des Genozidgedenkens in der armenischen Diaspora in Griechenland 5 . 2 D i e P o l i t i s c h e Z e n t r a l v e r a n s t a l t u n g : P e r fo r m a n z e n a r me n i s c h e r I d e n t i t ä t i m g r i e c h i s c h e n N a t i o n a l s t a a t Die Prozession zum Denkmal des unbekannten Soldaten Ein Vergleich zwischen Daschnak und Ramgavar Alternative Ritualisierungen der Migrantinnen 5.3 Das Dilemma von Erinnerung und Vergessen Totengedenken in Thessaloniki: Die Verehrung der Knochenreliquie Totengedenken in Athen: Aktive rituelle Akteure und passive Teilnehmende 5 . 4 D i e D e m o n s t r a t i o n e n a l s k o n t r o l l i er t e R e b e l l i o n e n ? Demonstrieren in Athen: Die perfekte Inszenierung einer kontrollierten Rebellion? Demonstrieren in Thessaloniki: Die Abweichung von der ritualisierten Inszenierung 5 . 5 Z u m Z u s a m me n h a n g v o n R i t u a l e n , D i a s p o r a r a u m und projektiven Erzählungen

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Individuelle Erinnerungsarbeit und intergenerationelle Übertragung

6.1 Lusine, Anusch und Shushan – Der Genozid als ein „g r o ß e r K o p fs c h m e r z “ Identifikation mit dem Genozid Die emotionale Sonderstellung des Genozids Imaginationen der Türkei zwischen Versöhnungs- und Bedrohungsphantasien Das ambivalente Verhältnis zu Griechenland II

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6.2

6.3 6.4

6.5

6.6

6.6

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Das Verhältnis zur Daschnak zwischen Widerspruch und Anerkennung Politischer Protest zwischen Zwang und Verpflichtung Der Genozid als Bindeglied Ruben: Erinnerungsarbeit eines Dissidenten Die türkische Sprache als Totengedenken Die Türkei als persönliche Heimat Laufbahn eines Dissidenten Das Verhältnis zur Türkei Die Abwehr einer Identifikation mit dem Genozid Serine – „Das kommt mir vor wie ein großes Theater“ Familie Kassapian – Der Genozid erhält uns als Armenier!? Der Genozid in der intergenerationellen Übertragung Armenische Identität zwischen Genozid und Armenien Armenisch sein heißt Opfer bringen! Das Verhältnis zur ritualisierten Erinnerungsarbeit T a k u h i A t a mi a n – D i e Z w i s c h e n s t e l l u n g d e r 2. Generation Die regulative Biographie des Vaters Das Verhältnis zur Türkei: Die Sehnsucht nach Normalität Isabella Turoni – Das Erbe: Der Hass auf die Türken Die Reise in die Türkei Das Verhältnis zu den Türken Z u m Z u s a m me n h a n g v o n k o l l e k t i v e r u n d individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit

Aspekte einer Theorie zu Diaspora

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7.1 Diaspora als soziale Formation vs. Diasporaraum 7.2 Ethnologische Aspekte einer Untersuchung kollektiver Traumata 7 . 3 M o b i l i t ä t u n d T r a n s n a t i o n a l i t ä t v s . S e s s h a ft i g k e i t und Territorialität 7.4 Diaspora als Diasporaraum

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Literaturverzeichnis

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III

Danksagung Das Dissertationsprojekt zu Identitätsprozessen in der armenischen Diaspora, dessen Abschluss dieses Buch ist, war über sechs Jahre hinweg ein zentrales Thema in meinem Leben. Während dieser wichtigen Lebensphase haben mich eine Reihe von Personen großzügig unterstützt. Professor Waltraud Kokot – meine Doktormutter – hat mit ihrem Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft den Grundstein für meine Dissertation gelegt. Ihr sei gedankt für das Vertrauen, das sie in mich gesetzt hat, und für ihre geduldige Betreuung dieses langwierigen Projektes. Ihr strukturierender und nüchterner Blick auf meine Thesen hat mich immer wieder auf den Boden wissenschaftlicher Arbeit zurückgeholt. Auch Professor Dorle Dracklé hat meinen Schreibprozess von Beginn an mit ihrer sachkundigen und konstruktiven Kritik beeinflusst. Mit ihren einfühlsamen und hartnäckigen Kommentaren ist es ihr immer wieder gelungen, die „dichtesten Momente“ meiner ethnographischen Beschreibungen und eine Klärung meiner diffusen Gedanken hervorzulocken. Ohne die Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Dissertationsprojekt vier Jahre lang finanziert hat, hätte ich weder eine MultiSited-Ethnography durchführen, noch meine Arbeit in unterschiedlichen Kontexten präsentieren können. An dieser Stelle sei auch Dorothea Schell gedankt, die bei meinen ersten Gehversuchen als Vortragende auf dem akademischen Parkett meine Mentorin war. Während meiner Forschungsphasen in Thessaloniki und Athen waren es vor allem meine armenischen Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen ohne deren Bereitschaft, mich an ihrem Leben und ihren Sichtweisen teilhaben zu lassen, ich die Feldforschung nicht hätte durchführen können. Leider können an dieser Stelle aus Gründen der Anonymisierung nicht alle namentlich genannt werden. Mein besonderer Dank gebührt Paris Misirlian, Thessaloniki der großzügig seine profunden Kenntnisse über die armenische Diaspora mit mir geteilt hat. Bedanken möchte ich mich bei Vera und Nouran Bledjian für ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit sowie ihre offene Diskussionsbereitschaft. Karine Abrahamian hat mich an ihren Migrationserfahrungen teilhaben lassen und mir ihre Freundschaft geschenkt. Barbara SpenglerAxiopoulos und Kalias Axiopoulos haben mich während meiner Feldforschungsphase in Thessaloniki in ihrem wunderbaren Haus wohnen lassen und mir auf diese Weise meinen Einstieg ins Feld erleichtert. Eine nicht minder große Unterstützung bei meinem Einstieg ins Feld der armenischen Diaspora Athens habe ich durch die Familie Tsamouzian erfahren. Ihnen gebührt mein Dank dafür, dass ich in ihrem Haus stets willkommen war und sie ihre weitreichenden Kontakte für mich eingesetzt haben. Ganz besonders aber haben mich während meiner Athener Feldforschung Syrvart, Tanig und Gerise Hagopjanian bei vielfältigen alltags- und forschungspraktischen Problemen mit unvergleichlicher Großzügigkeit unterstützt. Für die Bereitwilligkeit, mit der sie mich in die Familie aufgenommen haben und für ihV

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

re Zuneigung und Freundschaft, die meinen Ausstieg aus dem Feld überdauerte, kann ich ihnen nicht genug danken. Mein Forschungsaufenthalt in Jerewan wäre ohne Andrea Gavrilina niemals so erfolgreich verlaufen. Ihr großartiges Organisationstalent, ihre Ortskenntnis und Kontakte haben dazu beigetragen, dass ich trotz meines kurzen Aufenthaltes einen Einblick in die Beziehungen zwischen Heimatland und Diaspora gewinnen konnte. Während die Zeit der Feldforschung von unvorhersehbaren und ständig neuen Eindrücken und Erlebnissen geprägt war, war der Prozess der Auswertung und des Schreibens ein langwieriges und oftmals einsames Geschäft. In dieser Phase waren Kommentare zu und Diskussionen über meine Arbeit eine unschätzbare Hilfe. Dafür danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen Kathrin Wildner, Andrea Lauser, Ute Metje, Verena Böll, Martin Sökefeld und Richard Michael Diedrich. Ebenso wichtig war für mich während dieser Phase die emotionale Unterstützung durch meine Freundinnen in Hamburg. Sabine Golz, Tullia Sellar, Anne Kersting, Juliane Zeitler, Barbara Widmann und Angelica Ensel haben dafür gesorgt, dass ich mich in Hamburg zu Hause gefühlt habe. Ich danke ihnen für ihre Ermutigung und ihren Glauben an meine Fähigkeiten. Diesen Glauben haben mir auch Volker Czylwik, Ioannis Manos und Heike Fangrat über hunderte Kilometer hinweg vermittelt. Danken möchte ich auch meinem Vater, Walter Schwalgin und seiner Frau Ursula. Sie haben mein Forschungs- und Dissertationsprojekt materiell und ideell in großzügiger Weise unterstützt. Auch meiner Mutter, Erika Leist, gilt mein Dank, da sie meinen Wissensdurst während meiner Kindheit in vielfältiger Weise gefördert und auf diese Weise die Grundlage für meine spätere wissenschaftliche Arbeit gelegt hat. Mein ganz besonderer Dank gebührt Umut Erel. Während der intensivsten Phase des Schreibens hatte ich in Umut, die ebenfalls ihre Doktorarbeit fertig stellte, eine regelmäßige Austauschpartnerin. Sie hat buchstäblich jedes Wort dieser Arbeit gelesen, kommentiert und mit mir diskutiert. In den Phasen, in denen ich das „ganze Ding am liebsten in die Ecke geschmissen hätte“, haben mich ihre klugen Kommentare und ihr großartiger Humor immer wieder motivieren können. Unsere Zusammenarbeit hat mir außerdem gezeigt, dass wissenschaftliches Arbeiten fruchtbarer ist, wenn es kein Projekt für Einzelkämpfer bleibt. Widmen möchte ich meine Arbeit Dorothea Meyer-Bauer und Syrvart Hagopjanian. Beide haben mich in ihrer jeweils unverwechselbaren Art und Weise unterstützt. Mit Dorothea Meyer-Bauer verband mich, seitdem wir 1990 gemeinsam unsere „Initiation“ als Feldforscherinnen in einer Markthalle Thessalonikis durchstanden haben, eine tiefe Freundschaft und die Begeisterung für die Ethnologie Südosteuropas. Sie hat mit der für sie charakteristischen Akribie erste Entwürfe dieser Arbeit kommentiert; ihre Strukturierungsvorschläge waren mir eine große Hilfe. Ohne Syrvart Hagopjanian hätte ich die Ziele, die ich mir für die Feldforschung in Athen gesteckt habe, nieVI

DANKSAGUNG

mals erreichen können. Ihre lebhaften Erzählungen haben die Geschichte der armenischen Diaspora in Athen für mich lebendig gemacht. Und durch unsere Gespräche habe ich verstehen gelernt, was es heißt, in einem „Diasporabewusstsein“ zu leben. Außerdem hat sie unermüdlich ihre exzellenten Beziehungen zu anderen Armeniern für meine Forschung nutzbar gemacht und mir mit großartiger Selbstverständlichkeit ihre Gastfreundschaft, Fürsorge und Liebe entgegen gebracht. Der Tod von Dorothea und Syrvart ist ein schrecklicher Verlust. Ich werde sie niemals vergessen. Hamburg 2002/Münster 2003

VII

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

VORBEMERKUNG Zum Umgang mit fremdsprachlichen Begriffen und Toponymen Griechische und armenische Begriffe sind kursiv gesetzt, die deutsche Bedeutung folgt in Klammern. Ausführliche Erläuterungen finden sich bei ihrer ersten Nennung in Fußnoten. Bei Toponymen, die sich auf Orte im ehemaligen osmanischen Reich bzw. in der heutigen Türkei beziehen, verwende ich die Bezeichnungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Weichen diese von heute bzw. außerhalb von Griechenland gebräuchlichen Bezeichnungen ab (z.B. Smyrna statt Izmir), stehen diese in Klammern dahinter. Zum Teil implizierte die Bezeichnungspraxis eine politische Stellungnahme meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. So wird Istanbul in Griechenland in offiziellen wie privaten Kontexten in der Regel als Konstantinopel bezeichnet, um die Bedeutung griechischer Geschichte und Kultur für diese Stadt hervorzuheben. Manchmal wird damit auch ein territorialer Anspruch ausgedrückt. Ich teile diese politischen Implikationen der Benennungspraxis jedoch nicht.

Zur Anonymisierung meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Um die Anonymität meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu gewährleisten, habe ich ihre Namen verändert und zum Teil biographische Angaben verschlüsselt. Ausnahmen bilden diejenigen, die explizit nicht anonymisiert werden wollten sowie Personen, die ich in ihren Funktionen als Repräsentanten der armenischen Diaspora und ihrer Vereine interviewt habe. Bei ihnen ist es nicht möglich, ihre Identität so zu verändern, dass sie nicht identifizierbar wären. Allerdings zitiere ich sie auch nur mit Äußerungen, die sie in einer offiziellen Interviewsituation in ihrer Eigenschaft als Vertreter der Paroikia und ihrer Institutionen gemacht haben. Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die ausführlicher zu Wort kommen, stelle ich in den einzelnen Kapiteln mit einigen biographischen Angaben vor.

VIII

1

ZIELE, FRAGESTELLUNGEN UND ZENTRALE KONZEPTE: EINE EINFÜHRUNG

In dieser Ethnographie untersuche ich, wie Armenier in der Diaspora Griechenlands durch Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis, den Genozid von 1915, Identität und Gemeinschaft herstellen. Im Mittelpunkt stehen zwei Arenen, in denen Erinnerungen und damit Identität und Gemeinschaft konstituiert werden: die Öffentlichkeit der institutionalisierten Diasporagemeinde und die Privatheit der Familie. Beide Arenen verstehe ich als sich überschneidende soziale Räume, die von Machtbeziehungen gekennzeichnet sind. Wie Armenier in Thessaloniki und Athen in diesen sozialen Räumen kollektive und individuelle Erinnerungen und Identifikationen herstellen und aushandeln, das ist das Thema dieses Buches. Mit meiner ethnographischen Beschreibung und Analyse der Erinnerungsund Identitätsarbeit von Armeniern der zweiten, dritten und vierten Generation nach dem Genozid in Thessaloniki und Athen verfolge ich in erster Linie ein Ziel: Ich verstehe meine Ethnographie als einen Beitrag zu einer Theorie von Identitätsprozessen in der Diaspora. Diaspora als wissenschaftliches Konzept und als Forschungsgegenstand hat seit einiger Zeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften Hochkonjunktur. Im Rahmen meiner Forschung habe ich jedoch festgestellt, dass theoretische Ansätze zu Diaspora vielfach zu generalisierend und simplifizierend sind, um die komplexen Prozesse von Identitäts- und Gemeinschaftsbildung bei Menschen in der Diaspora zu erklären. Dies liegt meiner Meinung nach darin begründet, dass die akademische Debatte um Diaspora von theoretischen Diskussionen dominiert wird. Demgegenüber gibt es jedoch bislang nur wenig empirische Arbeiten, die ausgehend von einer Theorie der Diaspora Identitätsprozesse von Menschen in einer Situation der räumlichen Zerstreuung untersuchen. Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Außerdem sind Debatten um Diaspora als Prototyp räumlich nicht begrenzbarer Gruppen in der Ethnologie eng verknüpft mit einer Kritik an einem ortsgebundenen Kulturbegriff. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Praxis der Feldforschung, die insbesondere von George Marcus (1995) in seinem programmatischen Aufsatz zur Multi-Sited Ethnography aufgezeigt wurden. Ausgehend von seinen Überlegungen besteht ein zweites Ziel darin, theoretische Postulate der Debatte um Diaspora methodisch umzusetzen. Darüber hinaus liefert dieses Buch auch einen Beitrag zur Erforschung sozialer und kulturspezifischer Verarbeitungsstrategien kollektiver Traumata. Bis vor einigen Jahren war die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Aus1

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

wirkungen kollektiver Traumata zum einen von psychologischen und sozialpsychologischen Forschungsansätzen und zum anderen von einer Erforschung des Holocaust dominiert. Eine Auseinandersetzung aus ethnologischer Perspektive steckt dagegen noch in den Anfängen (Antze/Lambek 1996: xiv-xv; Robben/Suárez-Orozco 2000). Während der Fokus psychologischer Analysen auf intrapsychische Prozesse traumatischer Erfahrungen gerichtet ist und Fragen nach psychischen Abwehrmechanismen und heilenden Verarbeitungsprozessen im Vordergrund stehen, werden hier interpersonelle und soziokulturelle Verarbeitungsprozesse aus einer intergenerationellen Perspektive analysiert. Da Überlebende des Genozids an den Armeniern von 1915 zum Zeitpunkt meiner Feldforschung mehrheitlich bereits verstorben waren, gehörten Angehörige der Erlebnisgeneration nicht zu meinem Sample. In dieser Ethnographie steht vielmehr die Frage im Vordergrund, auf welche Weise ihre Nachfahren in Griechenland heute traumatische Erfahrungen der Erlebnisgeneration für die Konstruktion kollektiver Identitäten in Anspruch nehmen. Warum ich davon ausgehe, dass kollektive und individuelle Erinnerungen an den Genozid von 1915 identitäts- und gemeinschaftsstiftende Wirkung in der armenischen Diaspora Griechenlands haben, erläutere ich im folgenden Abschnitt.

1.1

Zum Thema des Buchs

Der armenische Genozid von 1915 dominiert die Wahrnehmung und kollektive Repräsentation armenischer Identität in der Diaspora und in Armenien. Das Ereignis von 1915 gilt heute als der zentrale Auslöser der Zerstreuung der Armenier in alle Welt. Die bereits in der Antike einsetzenden und bis heute andauernden Migrationsbewegungen von Teilen armenischer Bevölkerung, die nicht ausschließlich auf gewaltsame Vertreibungen, sondern auch auf freiwillige, durch Handel motivierte Migration zurückzuführen sind, werden heute in der armenischen Historiographie als logische Hinführung bzw. Weiterführung des Genozids gesehen. Auf diese Weise werden disparate Ereignisse und unterschiedlichste Erfahrungen in eine lineare historische Abfolge gebracht, in der der Genozid als die Katastrophe den Kulminationspunkt für eine Geschichte des Exils darstellt. Aus armenischer und akademischer Perspektive wird die armenische Diaspora daher in erster Linie als Opferdiaspora dargestellt und der Zustand der Zerstreuung hauptsächlich negativ als ein erzwungenes Exil definiert (vgl. Cohen 1997: 42-56). Dabei wird der Genozid zu dem zentralen Symbol armenischer Identität in der Diaspora und für manche Autoren sogar zu dem einzigen Element, das nach traumatischen Erfahrungen von Vertreibung und Massakern „zur Konstruktion eines kollektiven Referenzrahmens“ genutzt werden kann (Dabag 1996: 226). Als ich meine Feldforschung in den armenischen Gemeinden von Thessaloniki und Athen begann, hatte ich erhebliche Vorbehalte gegen diese essentialisierenden Festschreibungen kollektiver Identitäten auf eine Erfahrung, die 2

EINFÜHRUNG

meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner – Kinder, Enkel und Urenkel von armenischen Flüchtlingen, die 1922 aus dem osmanischen Reich nach Griechenland vertrieben worden waren – nur aus Erzählungen kannten. An der Fortschreibung eines Mythos der armenischen Opferdiaspora wollte ich mich nicht beteiligen. Vielmehr war mein Forschungsinteresse explizit darauf ausgerichtet, lokale Prozesse der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung in der armenischen Diaspora Griechenlands in ihrer Vielschichtigkeit zu untersuchen, ohne von vorneherein die „Genozidfixiertheit“ der dominanten armenischen Historiographie zu übernehmen. Dennoch zog sich die Relevanz des Genozids für armenische Identität heute wie ein roter Faden durch den gesamten Forschungsverlauf. Kaum ein Gespräch oder eine Begegnung vergingen, bei dem der Genozid nicht direkt oder indirekt zum Thema wurde und mich meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nicht in zahlreichen Abwandlungen mit dem Statement konfrontierten: „Wir werden niemals vergessen!“ Was niemals vergessen werden sollte, waren die traumatischen Erfahrungen der Vorfahren: das Trauma des Genozids von 1915 und der anschließenden Flucht und Vertreibung aus der alten Heimat im osmanischen Reich, die Gefühle von Fremdsein und Heimatlosigkeit sowie die Demütigungen, die mit Staatenlosigkeit und dem durch den Genozid erzwungenen Exil verbunden waren. Vergessen werden durfte aber auch nicht die Gewissheit und der Stolz darauf, sich als Armenier von den Griechen zu unterscheiden; nicht zu sein wie sie, nicht werden zu wollen wie sie und der Wunsch, dieses Gefühl von Anderssein, von Armenischsein, zu bewahren und auf die nachfolgenden Generationen zu übertragen. Vor allem zu Beginn meiner Feldforschung empfand ich die fortwährende Konfrontation mit der Mahnung „Wir werden niemals vergessen“ fast als einen „Initiationsritus“, mit dem sich Armenier auch einen Eindruck über meine Positionierung als Forscherin und eine Bestätigung meiner moralischen Integrität verschaffen wollten. Sagten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner „Wir werden niemals vergessen!“, so implizierte diese Aufforderung auch „Ihr sollt niemals vergessen!“: Ihr, damit war in unseren Begegnungen zunächst ich als Ethnologin gemeint, die über armenische Identität in der Diaspora forschen wollte. Mit diesem Statement wurde ich immer wieder daran erinnert, dass armenische Identität heute untrennbar mit dem Genozid von 1915 verbunden ist. Tatsächlich gingen die meisten Armenier, denen ich mich als Ethnologin vorstellte, ohnehin davon aus, dass der Genozid das Thema meiner Forschung sei. Ihr, das waren für meine armenischen Gesprächspartner aber auch die Türken, die 1915 einen Völkermord an den Armeniern des osmanischen Reiches verübt hatten, der bis heute nicht anerkannt ist. Ihr, das war der Rest der Welt, allen voran die einflussreichen europäischen Staaten, unter anderem Deutschland, und die USA, die den Genozid 1915 nicht verhindert hatten und die Türkei heute nicht zur Anerkennung zwingen. Und ihr, damit meinten sie selbstverständlich auch die Griechen, denen sie sich einerseits durch ihr glei3

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

chermaßen problematisches Verhältnis zur Türkei solidarisch verbunden fühlten, während sie gleichzeitig darum kämpften, von ihnen als ethnisch Andere wahrgenommen zu werden. In diesem Sinne beinhaltete der Ausruf „Ihr sollt nicht Vergessen!“ Anklage und Forderung nach Anerkennung und Solidarisierung, Selbstbehauptung und Beharrung auf einer Identität als Armenier zugleich. Für mich war mit der ständigen Mahnung zur Erinnerung an den Genozid erstens die Aufforderung verbunden, zu den politischen und moralischen Positionen der Anderen, die neben mir mit „Ihr“ adressiert wurden, Stellung zu beziehen. Zweitens fühlte ich mich gemahnt, über das, was nicht vergessen werden sollte, zu schreiben. Diese Forderungen empfand ich in der ersten Phase meiner Feldforschung als belastend. Da ich mich zunächst hauptsächlich im Rahmen der institutionalisierten armenischen Gemeinde bewegte und meine Gesprächspartner Aktivisten der politischen Parteien waren, hatte ich Bedenken, vor den Karren politischer Projekte gespannt zu werden, denen ich nicht vollen Herzens zustimmen konnte. Außerdem fragte ich mich, inwieweit das Postulat der Relevanz des Genozids für armenische Identität nicht eher die Identitätspolitik einer kleinen elitären Gruppe armenischer Aktivisten war und ob sich andere Armenier damit überhaupt auf ähnliche Weise identifizieren konnten. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass der Beginn meiner Feldforschung in Thessaloniki in die Zeit des offiziellen Jahrestages des Genozids, April Santschorz (24. April), fiel. Dieser Tag war für Armenier einer der höchsten Feiertage im Jahreszyklus und wurde mit einer Vielzahl von aufeinander bezogenen Ritualen begangen, in deren Vorbereitung und Ausführung alle Organisationen der Gemeinden eingebunden waren. Ich fragte mich daher, ob diese öffentliche und ritualisierte Identifikation mit dem Genozid im Alltagsleben meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ebenfalls eine so zentrale Rolle spielen würde. Im weiteren Verlauf der Feldforschung erweiterten sich meine Beziehungen zu Armenierinnen und Armeniern, die nicht zu dem kleinen Kreis politischer Aktivisten gehörten und die zum Teil eine distanziertere Position zur offiziellen Identitätspolitik der Gemeinde hatten. Aber auch sie schienen sich ständig mit dem moralischen Anspruch „Wir werden niemals vergessen!“ auseinander zu setzen. Diese moralische Verpflichtung zur Erinnerung an den Genozid hatte für sie die Bedeutung eines von den Eltern und Großeltern übertragenen Erbes. Viele erzählten davon, dieses Erbe als eine emotionale Belastung zu empfinden und gleichzeitig als eine identitätsstiftende Herausforderung, die eine zentrale Stellung in ihrem Leben hatte. Andere beschrieben ihr Verhältnis zum Genozid mit dem Bild einer offenen schmerzenden Wunde, die nicht verheilen wolle und sie immer daran erinnere, dass die Ereignisse von 1915 nach wie vor nicht anerkannt seien. Außerdem wurde mir deutlich, wie stark die moralische Verpflichtung in das Alltagsleben meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner hinein reichte, da sie unmittelbar mit ihren Vorstellungen armenischer Identität in der Diaspora verbunden

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EINFÜHRUNG

war und ihre individuellen Identifikationen mit Griechenland und Armenien maßgeblich beeinflusste. Die Rede über und das Gedenken an den Genozid war also in vielerlei Hinsicht ein verbindendes Element. Auf der lokalen Ebene, der von mir untersuchten Diasporagemeinden Thessalonikis und Athens, stellt der Rückgriff auf den Genozid eine Verbindung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung, Armeniern und Griechen, zentralen Diskursen der Identitätspolitik und individuellen Identifikationen her. Auf der transnationalen Ebene verbindet die Rede über den Genozid und die Gedenkpraxis Armenier in Griechenland mit Armeniern in aller Welt und dem Heimatland Armenien. Darüber hinaus schafft der Genoziddiskurs auch eine Verbindung zwischen der akademischen Auseinandersetzung und den politischen Projekten armenischer Parteien auf transnationaler wie lokaler Ebene. Gleichzeitig war das moralische Postulat zur Erinnerung und damit zur Bewahrung armenischer Identität für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner mit Unsicherheiten, Zweifeln und mühevollen Anstrengungen verbunden. Neben allen selbstbewussten Aussagen über die Bedeutung der Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen der Vorfahren berichteten sie von ihren Sorgen darüber, ob und auf welche Weise es überhaupt möglich sei, der moralischen Verpflichtung nach Erinnerung gerecht zu werden. Sie erzählten von den Mühen, die es erforderte, trotz zunehmender zeitlicher Distanz die Erfahrungen der Vorfahren lebendig zu erhalten. Und sie sprachen von ihrer Verunsicherung über die eigene Identität, die sich mit dem Verblassen der Erinnerungen verband und über ihre Angst, als Armenier vergessen zu werden und sich selber zu vergessen. In ihren Augen abschreckende Vorbilder gab es dafür genug: Die so genannten „verlorenen“ (chamenoi) Armenier, die sich im Laufe der Zeit assimiliert hätten, indem sie irgendwann die mühsame Aufgabe der Bewahrung von Erinnerungen an die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit und damit ihre armenische Identität aufgegeben hätten. Aber auch über die Kontinuität und Stabilität armenischer Identität bei den eigenen Kindern machten sich viele Sorgen, da deren Leben zunehmend von Erfahrungen und Beziehungen außerhalb der armenischen Gemeinschaft bestimmt schien. Erinnerungen und Identität zu haben war meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern existentiell wichtig. Gleichzeitig empfanden sie beides als kostbare und flüchtige Werte, derer man sich nicht selbstverständlich versichern konnte, sondern die einer ständigen Bedrohung ausgesetzt waren. Darüber hinaus führte die gemeinsame Identifikation mit dem moralischen Postulat zur Erinnerung und der damit verbundenen Gedenkpraxis nicht nur zu intergenerationellen Auseinandersetzungen und Spannungen innerhalb der Familien, sondern auch zu Konflikten auf der lokalen und transnationalen Ebene der armenischen Diaspora: Wer sind die legitimen Wächter des kollektiven Gedächtnisses – Akademiker, Diasporapolitiker oder die Regierung der Republik Armenien? Wie begründet sich ihre Legitimität? Welche Gedenkpraxis ist der Erinnerung an das Ereignis angemessen und verspricht den größ5

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ten Erfolg? Und schließlich, wie soll die Forderung nach Erinnerung in der intergenerationellen Übertragung umgesetzt werden? Dies waren Fragen, die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner beschäftigte und die sie immer wieder mit mir diskutierten. Die identitätsstiftende Wirkung des Genozids ergab sich also nicht aus der Kraft des Ereignisses an sich, wie es essentialisierende Sichtweisen nahe legen. Vielmehr hörte und beobachtete ich, dass es `echte Arbeit´ war, Erinnerungen und Identität zu erhalten, um als Armenier nicht „verloren“ zu gehen. Ich gehe davon aus, dass es gerade diese Arbeit ist – die soziale Praxis des sich Erinnerns – die Identität und Gemeinschaft in der Diaspora entstehen lässt. Diaspora verstehe ich dabei nicht als Synonym für eine spezifische transnationale Gemeinschaft von Menschen, sondern vielmehr als einen lokalen und gleichzeitig transnationalen sozialen Raum, der von Spannungen und Konflikten gekennzeichnet ist. Auf welche theoretischen Überlegungen ich mich mit dieser These stütze, erläutere ich im folgenden Abschnitt.

1.2

Zum theoretischen Rahmen und zu den zentralen Fragestellungen

Identität, (traumatische) Erinnerung und Diaspora sind die theoretischen Begriffe, die in diesem Buch eine zentrale Rolle spielen. Im Weiteren führe ich kurz in die theoretischen Annahmen zu Identität, (traumatischer) Erinnerung und Diaspora ein, die für meine Ethnographie grundlegend sind. Weitere theoretische Konzepte greife ich in den einzelnen Kapiteln dann auf, wenn es für die Analyse meines Datenmaterials notwendig ist. Zum Schluss des Buches fasse ich meine wichtigsten empirischen Ergebnisse zusammen und diskutiere sie im Hinblick auf ihre Relevanz für ein theoretisches Konzept zu Identitätsprozessen in der Diaspora und für eine Auseinandersetzung mit kollektiven Traumatisierungen aus ethnologischer Perspektive. Identitäten, ob kollektive oder individuelle, verstehe ich als einen fortwährenden, niemals abgeschlossenen Prozess multipler, widersprüchlicher und veränderbarer Identifikationen und Abgrenzungen. Dieser Prozess ist durch Positionierungen gekennzeichnet, die ein Kollektiv oder ein Subjekt durch ständige Vergleiche im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Differenzen mit anderen Subjekten und Kollektiven und in der Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen Anderer einnimmt. Auf diese Weise werden fortwährend Repräsentationen produziert, die ich in Anlehnung an Stuart Hall (1994: 74) als Erzählungen über Identität bezeichne. Diese Identitätserzählungen sehe ich einerseits als ein Produkt, also als Repräsentationen von Identität und andererseits als eine Identitätsarbeit, mit der Identität geschaffen wird. Denn erst im Akt des Erzählens ordnen wir die disparaten, konfusen Erfahrungen, die unser Leben ausmachen, zu einer Vorstellung über unser Selbst, die wir uns und anderen mitteilen (Brah 1996: 95-127; Hall 1994: 66-88; Jenkins 1996: 3-4; Plummer 2001: 44-45). 6

EINFÜHRUNG

Mit diesem Verständnis von Identität schließe ich mich den Positionen der kontemporären konstruktivistischen Identitätsforschung an, die Identitäten als einen von multiplen Identifikationen geprägten Prozess ansehen und sich damit gegen primordiale Vorstellungen fixierter und essentialistischer Identitäten wenden. Dennoch gehe ich davon aus, dass wir die Vorstellung eines kohärenten, stabilen Selbst brauchen, um uns in der Welt zu positionieren. In Anlehnung an Avtar Brah (1996: 123-124) verstehe ich Identitätsarbeit auch als den Moment, in dem wir unsere sich ständig verändernden, multiplen und widersprüchlichen Identifikationen zu Kohärenz, Kontinuität und Stabilität eines Selbst zu verbinden versuchen, das sich zwar ständig verändert, in unserer Vorstellung jedoch stabil bleibt. Gerade diese Vorstellungen eines stabilen, kontinuierlichen und kohärenten Selbst sind es, die in der Identitätsarbeit immer wieder neu entworfen werden. Identitätsarbeit ist also durch das Bedürfnis gekennzeichnet stabile, kontinuierliche und kohärente Identitäten herbei zureden. Dieses Bedürfnis nach einer stabilen Identität gewinnt vor allem für Menschen, die ihre Lebenssituation als krisenhaft, bedrohlich und voller Brüche erfahren haben, wie es bei Armeniern in Griechenland der Fall ist, eine zentrale Bedeutung, trifft im Prinzip aber auf alle Menschen zu (vgl. Bhabha 1994; Brah 1996; Dracklé 1999). Identitätsarbeit ist aber nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass Identitäten herbei geredet werden, sie werden auch `herbei gehandelt´. Zwar kann der Akt des Erzählens an sich auch als eine soziale Handlung verstanden werden, da in der Erzählung Identität konstituiert wird (Antze und Lambek 1996; Dracklé 1999: 11-14; Plummer 2001: 44-45). An dieser Stelle meine ich jedoch Handlungen, die sich in konkreten körperlichen Praktiken ausdrücken und die ich in Anlehnung an Judith Butlers (o. J.: 270-282; 1995: 22 ff.) Konzept der Performativität als performative Handlungen bezeichne. Mit Performativität bezieht sich Judith Butler auf die Vorstellung der sozialen Konstruktion von Geschlecht als einer „stilisierten Wiederholung von Handlungen“ (stylised repetition of acts). Stilisierte Wiederholungen von Handlungen sind es auch, mit denen Armenier armenische Identität einerseits zum Ausdruck bringen und andererseits in der konkreten, körperlichen Praxis erleben. Was als armenische Identität empfunden und wie dies durch körperliche Attribute oder Handlungen ausgedrückt wird, ist daher nicht Ausdruck von etwas bereits existierendem, sondern konstituiert sich in dem Moment der Performanz. Diese performativen Handlungen sind sozial geteilt und historisch bedingt; Abweichungen der Performativität gehen mit offensichtlichen und indirekten Reglementierungen einher. Indem ein Subjekt also Identität „richtig“ – d.h. in Übereinstimmung mit kollektiven Vorstellungen – aufführt, versichert es sich und die Anderen gleichzeitig darüber, dass es eine Identitätsessenz gibt (Butler o. J.: 270-282; dies. 1995: 22 ff.). Als performative Handlungen bezeichne ich sowohl Alltagshandlungen, die mehr oder weniger bewusst ausgeführt werden, als auch Rituale, wie die Genozidgedenkrituale, die bewusst aus dem Alltag herausgehobene expressive Handlungen sind und von Armenierinnen und Armeniern in Griechenland als 7

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Tradition empfunden werden. In Anlehnung an Catherine Bell (1992: 88-93) verstehe ich Rituale als eine relationale Kategorie sozialer und kulturspezifischer Handlung, die sich nur in Abgrenzung zu anderen Handlungsmöglichkeiten definieren und untersuchen lässt und sich durch kultur- und kontextspezifische Strategien der Ritualisierung von diesen unterscheidet. Was ein Ritual ausmacht, ist immer zufällig, provisorisch und definiert durch die Differenz zu anderen Handlungen. So sind Routinisierungen, Habitualisierungen oder auch Historisierungen, die von den Akteuren als spezifische Merkmale von Ritualen wahrgenommen werden, Strategien der Ritualisierung. Ebenso wenig sind die Differenzen zu anderen Handlungen festgelegt, sondern können als Bestandteil von Ritualisierung verstanden werden, durch die diese ihre Wirkung erhält. Dabei ist es den Akteuren in der Regeln nicht bewusst, dass sie durch Ritualisierungen wie auch durch andere soziale Handlungen Identität sowohl verkörpern als auch (re)produzieren. Ausgehend von diesen Annahmen untersuche ich armenische Identitätsarbeit auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Erzählungen über Identität und der Ebene performativer Handlungen. Durch die Zentralität der Genozidgedenkrituale für armenische Identitätsarbeit liegt mein analytischer Schwerpunkt auf ritualisierten Handlungen. Für beide Formen der Identitätsarbeit sind Erinnerungen an den Genozid, ob als Narrationen oder als ritualisierte Gedenkpraktiken, von zentraler Bedeutung. Meine These, dass Erinnerungen an eine kollektive traumatisierende Erfahrung zentral für die Konstitution armenischer Identität heute sind, mag auf den ersten Blick im Widerspruch mit dem in der akademischen Debatte dominanten Verständnis von Trauma stehen. Die Traumaforschung wurde lange Zeit von psychologischen und klinischen Konzepten dominiert. In diesem Kontext werden Traumata als abrupte, gewaltsame Ereignisse verstanden. Diese werden vom Subjekt als so verstörend und zerstörerisch wahrgenommen, dass sie nicht in die Vorstellung eines kohärenten Selbst integriert werden können. Die Verletzung der Vorstellung eines kohärenten Selbst führe zu lang andauernden psycho-pathologischen Störungen, die häufig erst Jahre später auftreten und auch innerhalb der Familie auf die nachfolgenden Generationen übertragen werden können (Caruth 1996; Kestenberg, J. 1995; Bar-On 1997; Rosenthal 1995; dies. 1999). Diese pathologischen Störungen beinhalten unter anderem nicht zu kontrollierende Angstzustände und Gefühlsausbrüche, Depressionen sowie vor allem das erneute Durchleben der traumatischen Erfahrung in Tag- und Nachträumen, den so genannten Flashbacks. Cathy Caruth (1995; 1996) definiert Trauma daher auch als eine Erfahrung, die den Geist und Körper eines Subjektes gewaltsam erobert, besetzt hält und dort ein Eigenleben führt, dem sich das Subjekt wie in einem Zustand der Besessenheit hilflos ausgeliefert fühlt. Heilungschancen werden in der Erinnerung an und der Erzählung über das Trauma gesehen. Da Erinnerung und Erzählung immer eine nachträgliche Deutungsarbeit der Erfahrung beinhalten, in der ein kohärentes Ich entworfen werden könne (Rosenthal 1999). Der Zusammenhang von traumatischer Er8

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fahrung, Erinnerung und Erzählung wird aus psychologischer Sicht jedoch als problematisch und paradox angesehen. Da man, wie Aleida Assmann (1999: 260) es ausdrückt, davon ausgeht, dass „Worte diese körperliche Gedächtniswunde nicht repräsentieren“ könnten. Den Opfern traumatischer Erlebnisse wird daher häufig Sprachlosigkeit attestiert (Platt 1995; 1998a; Rosenthal 1995; dies. 1999). Dieser konstatierten Sprachlosigkeit der Opfer und ihrer Nachkommen stehen jedoch öffentliche Artikulationen traumatischer Erfahrungen wie die meiner armenischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gegenüber. Davon abgesehen gibt es eine Fülle von Zeugenliteratur, Projekten zur Dokumentation und Veröffentlichung von Überlebendenerinnerungen z.B. an den Holocaust, öffentlichen ritualisierten Gedenkfeiern, Musealisierungen und Medialisierungen, in denen sich Artikulationen kollektiver Traumata manifestieren (vgl. Langer 1991; Young 1997). Aus einer ethnologischen Perspektive sind traumatische Erfahrungen nicht nur durchaus erzählbar. Vielmehr gehe ich davon aus, dass es erstens ein ausgesprochenes Bedürfnis der öffentlichen Artikulation von Traumata gibt, die zweitens geradezu prädestiniert scheinen, zu Kristallisationspunkten der Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten zu werden (vgl. Das 1990; Eriksen 1995; Ewing Pratt 2000; Nordstrom 1997). Dieser Widerspruch zwischen einem Verständnis von Trauma als psychopathologischer Identitätsstörung und als Referenzpunkt kollektiver Identitäten ergibt sich aus den unterschiedlichen fachspezifischen Untersuchungszielen der Psychologie und Ethnologie. Von den Sozialanthropologen Antze und Lambek (1996: xiv-xv) übernehme ich den Vorschlag, zwischen zwei sich gegenseitig überschneidenden Erinnerungsprozessen zu unterscheiden: Erinnerung als einem intrapsychischen, unbewussten und eher stillen Vorgang und Erinnerung als einem dialogischen und eher öffentlich ausgerichteten Prozess der Berufung auf und der Beschwörung von Erinnerung (invocation of memory) mit den damit verbundenen kulturspezifischen Handlungen. Während der Fokus der Analyse von Psychologen auf die intrapsychischen Prozesse traumatischer Erfahrungen gerichtet ist und Fragen nach psychischen Abwehrmechanismen und heilenden Verarbeitungsprozessen im Vordergrund stehen, analysiere ich als Ethnologin interpersonelle und soziokulturelle Verarbeitungsprozesse traumatischer Erfahrungen. Dabei stehen einerseits theoretische Fragen nach der Verbindung zwischen individuellen und kollektiven Verarbeitungsprozessen traumatischer Erfahrungen, nach der Funktion von Institutionen und Strukturen in diesen Prozessen und nach der Beziehung zwischen traumatischer Erinnerung, Erzählung und der Konstruktion von Identitäten im Vordergrund (vgl. Antze/Lambek 1996: xiv-xv; Robben/Suárez-Orozco 2000: 10-13; Losi/Passerini/Slavtici 2001). In Bezug auf die theoretischen Implikationen traumatischer Erinnerungen als individuelle und kollektive Praxis der Berufung und Beschwörung von Erinnerung schließe ich mich Winter und Sivan (1999: 16) an, die traumatische Erinnerungen nicht als eine grundsätzlich

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

andere Kategorie begreifen, sondern lediglich als ein extremes Phänomen von Erinnerungsprozessen. In Anlehnung an Antze und Lambek (1996: xv) verstehe ich Erinnerung daher als eine soziale Praxis, mit der Individuen ihre vergangenen Erfahrungen entsprechend ihrer gegenwärtigen Situation retrospektiv sinnhaft deuten und sich auf diese Weise immer wieder neu in der Welt positionieren. Damit haben Erinnerungen für Identität eine zweifache Bedeutung: Zum einen gehen wir implizit davon aus, dass die Erinnerungen an unsere Erfahrungen die phänomenologische Basis unserer Identität bilden. Diesen Prozess bezeichnen Antze und Lambek als intrapsychischen Prozess des Erinnerns. Zum anderen sind Erinnerungen aber auch ein explizites Mittel, das wir bewusst einsetzen, um zu verstehen, wer wir sind oder anderen deutlich zu machen, wie sie uns wahrnehmen sollen. Erinnerungen sind also Identitätsarbeit, denn in beiden Fällen dienen Erinnerungen dazu, die Vorstellung eines Selbst zu produzieren und uns dessen zu vergewissern. Erinnerungsarbeit wird, wie ich im Zusammenhang mit Identität bereits argumentiert habe, erst in dem Moment zu einer Identitätsarbeit, in dem wir uns und anderen über unser Leben erzählen. Erst im Akt des Erzählens ordnen wir die disparaten und konfusen Erfahrungen, die unser Leben ausmachen, zu einer zumindest für den Moment kohärenten Vorstellung unseres Selbst (vgl. Antze/Lambek 1996; Dracklé 1999: 11-14; Plummer 2001: 44-45). Erfahrung, Erinnerung, Erzählung und Identität sind also dialektisch miteinander verbunden, ohne sich jedoch identisch zueinander zu verhalten. Einerseits werden Erzählungen durch Erfahrungen und Erinnerungen geprägt, andererseits versuchen wir durch Erinnerungen und Erzählungen darüber unsere disparaten Erfahrungen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. In diesem Prozess des Erinnerns und Erzählens orientieren wir uns an der Erzählsituation angepassten sozial und kulturell akzeptierten Erzählformen. Diese sind Mittel der Deutungen unserer Erfahrungen und wirken gleichzeitig auf individueller und interpersoneller Ebene identitätsstiftend (Antze/Lambek 1996: xviii). Ken Plummer (2001: 41-46) hat in diesem Zusammenhang für lebensgeschichtliche Erzählungen ein „action modell of story telling“ entwickelt, das meiner Ansicht nach auch auf die Identitäts- und Erinnerungserzählungen zutrifft, die ich in diesem Buch analysiere. An diesem „Aktionsmodell des Erzählens“ sind Erzähler, Zuhörende und Rezipienten gleichermaßen beteiligt. Denn Zuhörende und Rezipienten haben zumindest in dem Moment des Erzählens auch die Macht, eine spezifische Erzählung auszulösen. So habe ich als Ethnologin – wie eingangs beschrieben – bei meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern in der Feldforschungssituation Erzählungen über den Genozid hervorgerufen. Zuhörer und Rezipienten interpretieren und deuten die Erzählungen, ob sie im Moment des Erzählens – in einem Gespräch – anwesend sind oder ob sie die Erzählungen später in einer verschriftlichen Form rezipieren. Zuhören und Lesen sind daher keine passiven Handlungen, sondern aktive Prozesse, in denen Bedeutungen konstruiert werden (Dracklé 1999: 25-30; Nordstrom 1997: 78-89). 10

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Darüber hinaus sind unsere Erzählungen zeitlich- und räumlich strukturiert, sie haben einen Anfang und ein Ende, das auch räumlich bestimmt wird, Akteure und Ereignisabfolgen, die ebenfalls im Raum und in der Zeit verortet und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Diese Chronotopen (Bakhtin 1981; Antze und Lambek 1996: xvii-xviii) unterliegen zeit- und kulturspezifischen Erzählkonventionen, die zwar in öffentlich-kollektiven Erzählungen offensichtlicher sein mögen, aber private und individuelle Erzählungen ebenfalls strukturieren. Kritisch und kulturvergleichend untersucht worden sind in den letzten Jahren vor allem konkurrierende Chronotope, die dominante und marginale Formen historischer Narrationen strukturieren (vgl. Collard 1989; Friese 1993, 1994; Hölscher 1995; Sider/Smith 1997; Tonkin 1992). Auch in der Ethnologie hat man sich unter dem Motto „Krise der Repräsentation“ ab der Mitte der 1980er Jahre mit den für unser Fach typischen Chronotopen und mit dem damit verbundenen Authentizitätsanspruch ethnographischer Erzählungen kritisch auseinandergesetzt (vgl. Dracklé 1999: 22-25; Marcus 1986; Clifford 1993). Antze und Lambek (1996: xvii-xviii) weisen darauf hin, dass auch andere professionelle Diskurse spezifische Erzählstrukturen aufweisen, indem sie die Chronotope in therapeutischen und juristischen Zeugnissen vergleichen. In der therapeutischen Situation werden die Klienten animiert, mit dem Fluss ihrer Gedanken zu gehen; ihre Narration wird akzeptiert und gedeutet. Im juristischen Kontext dagegen geht es um Chronotope, die Augenzeugenschaft belegen und in denen die zeitliche und räumliche Reihenfolge einer Erzählung bedeutsam ist. Die Bedingungen der Produktion dieser Chronotope und ihrer Bedeutungs- und Autoritätsentfaltung sind nur in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen wirksam, zu deren Konstitution sie fortwährend beitragen. Daher haben Erzählungen mit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen unterschiedliche gesellschaftliche Reichweiten und Autoritäten. Dies führt dazu, dass individuelle Erinnerungen oft stumm bleiben und niemals zu Erzählungen werden können, während dominante Erzählungen, die für sich in Anspruch nehmen, eine kollektive Erfahrung zu repräsentieren, zu öffentlichen Erzählungen werden und unsere Wahrnehmung von Ereignissen wie z.B. dem Genozid dominieren (vgl. Antze/Lambek 1996; Dracklé 1999: 28; Plummer 2001). In welcher Weise und mit welchen Mitteln individuell und kollektiv erinnert wird, welche Erinnerungen öffentlich artikuliert werden können und welche ausgelassen oder verschwiegen werden (müssen), welche der multiplen Erinnerungen zu einer kollektiven Repräsentation und damit zu Referenzpunkten kollektiver Identitäten werden – diese Prozesse sind das Ergebnis von Aushandlungen innerhalb der Machtstrukturen einer Gruppe von Menschen (hier einer Diaspora) und einer mehr oder weniger bewusst initiierten und wahrgenommen Identitätspolitik. Ich gehe davon aus, dass es sich bei diesen individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen um unterschiedliche, aber sich überkreuzende Ebenen handelt. Sie bringen jeweils unterschiedliche Ver11

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gangenheitsrepräsentationen hervor, die in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Antze/Lambek 1996: xx; Collard 1989: 89-90; Plummer 2001: 234-237; Winter/Sivan 1999: 6-11). Dieses komplexe Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerungs- und damit auch Identitätsarbeit wird in diesem Buch untersucht. Meine bislang formulierten theoretischen Annahmen zu Identität und Erinnerung treffen auf den Zusammenhang von Identitäts- und Erinnerungsarbeit bei allen Menschen zu. Allerdings stellt sich diese Ethnographie darüber hinaus die Frage, was die Besonderheit von Identitäts- und Erinnerungsarbeit bei Menschen ausmacht, die Gemeinschaft über nationalstaatliche Grenzen hinweg in einer Lebenssituation der räumlichen Zerstreuung – der Diaspora – herstellen müssen. Khachig Tölölyan (1991a: 5) prägte in seinem programmatischen Artikel „The Nation-State and its Others: In Lieu of a Preface“ den Ausdruck von Diaspora als das „paradigmatische Andere des Nationalstaates“, der mittlerweile zu einem geflügelten Wort in der akademischen Debatte avanciert ist. Was genau aber macht Diaspora zum „Anderen“ des Nationalstaates? Identitätsprozesse von Menschen in der Diaspora sind geprägt von einem Spannungsfeld der Gleichzeitigkeit von Beziehungen und Zugehörigkeiten zum Residenzland und einer Heimat, auf die sich ihr homing desire (Brah 1996: 180) richtet. Dieses homing desire unterläuft eine eindeutige und singuläre Identifikation mit dem Residenzland, wie sie aus der Perspektive nationaler Ideologien gefordert wird (Clifford 1994; Anthias 1998: 566). Mit James Clifford (1994) müssen Diasporen daher gleichzeitig als verwurzelt und mobil (rooted and routed) angesehen werden. Diese Spannung zwischen Prozessen der Verortung im Residenzland bei gleichzeitiger Beibehaltung emotionaler, kultureller, sozialer und/oder ökonomischer Beziehungen und Zugehörigkeiten zu einer Heimat, macht das für Diasporen spezifische Bewusstsein von Multi-Lokalität aus, das als Diasporabewusstsein bezeichnet wird (Clifford 1994; Gilroy 1997; Safran 1991; Tölölyan 1996). Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass die Heimat, auf die sich das homing desire richtet, von Angehörigen unterschiedlicher Diasporen auch unterschiedlich konzeptionalisiert werden kann. Unter Heimat kann ein konkreter Herkunftsort verstanden werden, an den gelebte Erfahrungen und Erinnerungen geknüpft sind. Heimat kann ein Heimatland sein, das entweder in Form eines Nationalstaates existiert oder als ein Territorium ohne nationale Souveränität. Heimat kann aber auch die Idee eines „gelobten Landes“ bezeichnen, entweder in der Form eines mythischen Ursprungslandes, das nur noch in der Erinnerung existiert, oder als visionäre Imagination, die in der Zukunft eintreten wird. Keinesfalls darf Heimat jedoch per se mit einem Herkunftsland oder Herkunftsort gleichgesetzt werden, wie es zum Beispiel im Kriterienkatalog, den William Safran (1991: 83) zu Diaspora aufgestellt hat, der Fall ist. Und auch das homing desire muss nicht unbedingt bei jeder Diaspora mit der Artikulation eines Rückkehrwunsches verbunden sein (Brah 1996: 180), wie es Safrans (1991: 84) Kriterienkatalog nahe legt. Auch die von William Safran 12

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(1991: 83) formulierte Vorstellung, dass die räumliche Zerstreuung, die zur Entstehung einer Diaspora führt, linear von einem lokalisierbaren Zentrum ausgehen muss, ist in diesem Zusammenhang problematisch. Denn erstens kann sich eine Diaspora durch Migrationen konstituieren, die von verschiedenen Orten ausgegangen sind und zweitens entstehen in der Diaspora neue Orte der Ansiedlung, von denen ausgehend weitere Wanderungen unternommen werden können (vgl. Clifford 1997: 248-249; Kokot 2000: 191). Daher gilt es vielmehr empirisch zu untersuchen, welche Konzeption von Heimat Angehörige einer Diaspora in einer konkreten historischen Situation artikulieren. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass es innerhalb einer Gruppe von Menschen, die sich als Diasporagemeinschaft sehen, gleichzeitig unterschiedliche konkurrierende Konzeptionen von Heimat und Zugehörigkeiten geben kann. Denn Identitäten von Menschen in der Diaspora sind durch transnationale und multiple Bindungen zu Orten beeinflusst, die durch häufig widersprüchliche konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen hervorgerufen werden. Arjun Appadurai und Carolyn Breckenridge (1989: i) weisen darauf hin, dass im Laufe der historischen Entwicklung einer Diaspora verschiedene Pfade und Spuren kollektiver Erinnerung ausgebildet werden, die an unterschiedliche Orte und Zeiten gebunden sind und immer wieder neue Bezugspunkte entstehen lassen. Welche dieser multiplen Bindungen und Erinnerungen allerdings für eine kollektive Repräsentation in Anspruch genommen werden und damit zu Referenzpunkten kollektiver Identitäten werden ist weder vorbestimmt noch zufällig. Vielmehr ist es das Ergebnis von Aushandlungen innerhalb der Machtstrukturen einer Diaspora und einer mehr oder weniger bewusst initiierten und wahrgenommenen Identitätspolitik. An dieser Identitätspolitik sind Menschen in sehr unterschiedlich machtvollen Positionen beteiligt. Zentral ist daher für meine Ethnographie die von Avtar Brah (1996: 183-184) formulierte Frage, wer in einer genügend machtvollen Position ist, in der Diaspora ein kollektives „Wir“ zu konstruieren und welche Differenzen innerhalb der als „Wir“ konzeptionalisierten Gruppe jeweils marginalisiert oder sogar verschwiegen werden müssen. Auch wenn Khachig Tölölyan (1991a: 5) Diaspora als das „Andere“ des Nationalstaates bezeichnet, ergeben sich in diesem Punkt grundsätzlich keine Unterschiede zwischen Diaspora und Nation. Wie jede Nation ist auch jede Diaspora eine imaginierte Gemeinschaft (Anderson 1991), in der eine kollektive Identität fortwährend konstituiert werden muss. Obgleich Safrans (1991: 83) und Cohens (1997: 185) Auffassungen von Diaspora dies nahe legen, ist Diaspora also zu keinem Zeitpunkt eine homogene Gruppe, die sich auf eine "mitgebrachte" unveränderliche Identität oder ein ethnisches Bewusstsein berufen kann (vgl. Anthias 1998; Tölölyan 1996). Bevor wir Diaspora und Nation als etwas grundsätzlich Unterschiedliches verstehen, müssen wir erst genauer untersuchen, wie Angehörige einer Diaspora diese Art von Gemeinschaft imaginieren und zur hegemonialen „nationalen Ordnung der Dinge“ (Malkki 1997: 55) in Beziehung setzen.

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In Abgrenzung zu essentialisierenden Positionen wie sie von Safran und Cohen vertreten werden, gehe ich davon aus, dass eine Diaspora nur entstehen und Bestand haben kann, wenn eine heterogene Gruppe von Menschen, die sich z.B. in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Alter, Klassenzugehörigkeit, politische Vorlieben und Subjektivität voneinander unterscheiden, bereit ist, sich mit einer gemeinsamen Vorstellung von Gemeinschaft und einer spezifischen Identitätspolitik zumindest partiell zu identifizieren (vgl. Brah 1996: 93-127, Anthias 1998). Diese Vorstellung von Gemeinschaft muss, ebenso wie im Nationalstaat, ständig neu geschaffen, verbreitet und bestätigt werden. Ein zentrales Element dieses Prozesses ist der beständig ausgedrückte Anspruch nach Identifikation von Individuen mit Erfahrungen und Erinnerungen, die als so zentral wahrgenommen werden, dass sie von den potentiellen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt werden sollten. Dabei steht der Bezug auf eine gemeinsame Geschichte im Mittelpunkt der Erinnerungs- und Identitätsarbeit (vgl. Kokot 2000; Malkki 1995). Um also angemessen untersuchen zu können, wie eine kollektiv geteilte Vorstellung von Gemeinschaft produziert und verbreitet wird und wie es dazu kommt, dass sich eine spezifische Gruppe von Menschen als Teil einer „Diasporagemeinschaft“ versteht, halte ich folgende Fragen für zentral: Welche Institutionen und Personen (re)produzieren und verbreiten Vorstellungen von Gemeinschaft? Welche Ereignisse und Erfahrungen werden dabei zu Referenzpunkten einer gemeinsamen Geschichte und welche werden ausgespart? Abschließend möchte ich noch einmal auf die Ausgangsfrage meiner theoretischen Überlegungen zu Diaspora zurückkommen, was genau bei der Untersuchung von Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Menschen in einer Situation der räumlichen Zerstreuung berücksichtigt werden muss. Zusammenfassend sind mir vor allem zwei Punkte wichtig: Diaspora ist das „Andere“ des Nationalstaates, weil Identitäten von Menschen in der Diaspora durch transnationale und multiple Bindungen zu Orten beeinflusst sind, die durch häufig widersprüchliche konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen hervorgerufen werden. Wie im Nationalstaat hängt Erinnerungs- und Identitätsarbeit jedoch auch in der Diaspora von Machtbeziehungen ab. Diese beiden zentralen Punkte sind in Avtar Brahs (1996: 178-210) Konzept des diaspora space berücksichtigt. In Anlehnung an Brah verstehe ich Diaspora für meine Analyse der Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Armeniern in Griechenland als einen konkurrenzgeladenen kulturellen und politischen Raum, in dem individuelle und kollektive Erfahrungen und Erinnerungen aufeinanderprallen, zusammengefasst und zu einer kollektiven Identität gebündelt werden. Diasporaraum bezeichnet dabei zum einen die von Machtstrukturen beeinflussten Beziehungsnetzwerke zwischen Menschen und Gruppen, die diesen Raum ausmachen. Darunter fallen sowohl private und individuelle als auch kollektive und institutionelle Beziehungen innerhalb der lokalen Diasporagemeinden, Beziehungen zu Diasporagemeinden der gleichen ethnischen Gruppe in anderen Ländern, zum Residenzland sowie zu dem Ort, der als Heimat angesehen wird. Der Diasporaraum entsteht aber nicht nur 14

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durch soziale, kulturelle und ökonomische Beziehungen, sondern auch durch konkrete Orte, die zu geographischen Referenzpunkten für symbolische und imaginierte Beziehungen werden. Damit rückt auch die Frage nach der Bedeutung von Lokalität für die Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der Diaspora in den Vordergrund. Insbesondere Khachig Tölölyan (2000a; 2000b) hat kritisiert, dass die Debatte um Diaspora von einer Dichotomisierung zwischen Menschen in der Diaspora als mobil und Angehörigen des Nationalstaates als sesshaft geprägt ist. Dadurch werde die Bedeutung von Sesshaftigkeit und Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora zu Gunsten einer Betonung von Mobilität heruntergespielt. Nehmen wir jedoch James Cliffords Wortspiel von Diaspora als rooted and routed ernst, so ist es gerade diese Spannung zwischen Prozessen der Ver- und Entortung, zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit, die charakteristisch für das Diasporabewusstsein ist. Ich gehe daher davon aus, dass wir zunächst einmal untersuchen müssen, wie dieses Diasporabewusstsein von Angehörigen einer Diaspora artikuliert wird. Zu fragen ist: Wie und von wem werden Beziehungen zu einer imaginierten Heimat konstruiert, erhalten und artikuliert? Welche Bedeutung spielen Praxen der Mobilität und Sesshaftigkeit in diesen Prozessen und wie wird Mobilität und Sesshaftigkeit bewertet? Darüber hinaus werde ich einbeziehen, dass diasporische Sesshaftigkeit nicht nur auf die Verortung in einer spezifischen Diasporagemeinde beschränkt werden kann, sondern auch die positive Identifikation mit dem Residenzland und den konkreten Orten der Ansiedlung beinhaltet. Diesen Bedeutungsdimensionen von Lokalität und Sesshaftigkeit habe ich auch dadurch Rechnung getragen, dass die Feldforschung in zwei armenischen Gemeinden in Griechenland – in Thessaloniki und Athen – durchgeführt wurde. Ausgehend von meinen theoretischen Überlegungen zu Identität, Erinnerung und Diaspora ergeben sich drei zentrale Fragestellungen mit denen ich in den folgenden Kapiteln untersuche, wie armenische Identitäts- und Erinnerungsarbeit in Griechenland funktioniert: x Mit welchen Erzählungen und performativen Handlungen schaffen Armenier in Griechenland Erinnerung und Identität? x In welchem Verhältnis stehen kollektive und individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit zueinander? x Welche Beziehungen entstehen durch die kollektive und individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit im Diasporaraum und welche Orte werden dabei zu Referenzpunkten? Diese drei Fragen begleiten mich in unterschiedlicher Gewichtung in allen Kapiteln des Buches.

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1.3

Zum Aufbau des Buchs

Im zweiten Kapitel Methode und Feldforschungspraxis diskutiere ich zunächst die methodischen Implikationen, die sich aus meiner Hypothese zu Diaspora als Diasporaraum ergeben. Erstens werde ich ausführlich beschreiben und kritisch diskutieren, wie ich die Forderungen nach einer Multi-Sited Ethnography bei der Untersuchung von Identitätsprozessen in der armenischen Diaspora methodisch umgesetzt habe. Zweitens gebe ich einen kurzen Überblick über die Datenlage und die technischen Aspekte von Datenerhebung und –auswertung. Die beiden folgenden Kapitel sind aufeinander bezogen und geben zum einen notwendige Informationen über die historische Entwicklung und die aktuelle Strukturierung, interne Differenzierung und rechtliche Position der Gemeinden von Thessaloniki und Athen. Außerdem stehen die oben aufgeworfenen Fragestellungen im Vordergrund. Das dritte Kapitel Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Lokale Geschichte(n) der Paroikies basiert auf Erinnerungserzählungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über die Entwicklung der Gemeinde. Diese stelle ich unter zwei Gesichtspunkten dar: Erstens gebe ich einen Überblick über Entwicklungen der Vergangenheit, die den historischen Kontext der aktuellen Situation der armenischen Diaspora Griechenlands bilden. Im Fokus stehen dabei Fragen nach der Rolle von Institutionen und Eliten für den Prozess der Gemeinschaftsbildung und –erhaltung, nach sich verändernden Definitionen von Zugehörigkeiten und internen Differenzlinien und nach dem Einfluss der Lokalitäten Thessaloniki und Athen auf Prozesse der Gemeinschaftsbildung und Grenzziehung. Zweitens analysiere ich die Erinnerungserzählungen als Beispiele armenischer Identitätsarbeit. Im vierten Kapitel „Ein Armenier: Eine Kirche, zwei Armenier: eine Schule, drei Armenier: drei Parteien!“ – Institutionen, Differenzen und Zugehörigkeiten“ beschreibe ich zunächst die Strukturen sozialer Organisation der armenischen Diaspora in Athen und Thessaloniki. Im zweiten Teil des Kapitels analysiere ich die Differenzlinien, die für die Positionierung eines Subjektes innerhalb der institutionalisierten Gemeinde zentral sind. Dabei setze ich mich auch mit der Frage auseinander, nach welchen Kriterien über Zugehörigkeit zu einer lokalen armenischen Gemeinschaft entschieden wird. Im dritten Teil des Kapitels analysiere ich die Position der armenischen Diaspora im Kontext des griechischen Nationalstaates. Formal juristisch sind alle Armenier seit 1968 griechische Staatsbürger, gehören Armenier damit automatisch zur griechischen Nation? Und wenn ja, wie wird die Zugehörigkeit zur griechischen und armenischen Nation von ihnen bewertet? Welche Arten von Zugehörigkeiten gibt es und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Dies sind Fragen, die ich beantworten werde. Mit den nächsten zwei Kapiteln wende ich mich dem zentralen Thema meiner Ethnographie, der Konstruktion von Identität und Gemeinschaft durch die Erinnerungsarbeit an den Genozids von 1915 zu. Ich beschreibe und ana16

EINFÜHRUNG

lysiere die performativen Handlungen und die Erzählungen, die zentral für die armenische Erinnerungsarbeit an den Genozid sind aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Im fünften Kapitel Kollektive Erinnerungsarbeit und Ritualisierung beschreibe ich die kollektive Erinnerungsarbeit, die im öffentlichen Raum in den armenischen Paroikies und an ausgewählten öffentlichen Orten der Städte Athen und Thessaloniki stattfand. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf die Ritualisierungen, die von Armeniern selber als die wichtigsten Zeremonien des Genozidgedenkens eingeschätzt wurden. Meine Beschreibungen basieren in erster Linie auf teilnehmender Beobachtung, die ich in den Jahren 1996 und 1997 während der Genozidgedenkfeierlichkeiten in Thessaloniki und Athen durchführte. Darüber hinaus ziehe ich als Quellen Selbstdarstellungen armenischer Parteien sowie Presseberichte hinzu. Im Vordergrund meiner Analyse stehen zwei Fragen: Wodurch werden die Rituale zum Genozidgedenken zu Performanzen der ethnischen Einheit und Gemeinsamkeit nach außen und der Produktion und Reproduktion von Hierarchien und Differenzen nach innen? Welche Beziehungen im Diasporaraum werden durch die Rituale einerseits aktiv gestaltet und andererseits bestätigt und verändert? Im sechsten Kapitel Individuelle Erinnerungsarbeit und intergenerationelle Übertragung steht die Darstellung der Reflexionen im Vordergrund, die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bei Interviews im privaten Rahmen über den Genozid und die kollektive Erinnerungsarbeit äußerten. Dieses Kapitel beleuchtet damit die spannungsvolle und oft ambivalente Beziehung zwischen der individuellen Erinnerungspraxis und der öffentlichen, institutionalisierten Praxis der Erinnerung. Auch die performativen Handlungen der kollektiven Erinnerungsarbeit sind in diesem Kapitel nach wie vor Gegenstand meiner Analyse. Denn die Interpretationen der Reflexionen meiner Gesprächspartnerinnen erlauben nachträgliche „Nahaufnahmen“ und Bewertungen performativer Handlungen zum Genozidgedenken, die meinem beobachtenden Blick zum Zeitpunkt der konkreten Teilnahme an der institutionalisierten Erinnerungsarbeit nicht zugänglich waren. Damit kann ich auch einen Beitrag zu der Frage liefern, wie Rituale eigentlich das tun, was ihnen zugeschrieben wird. Außerdem stelle ich in diesem Kapitel die Frage, wie die Genoziderfahrungen und die Erinnerung daran intergenerationell übertragen wird. Neben der Übertragung durch die öffentlichen und politisierten Ritualisierungen, die im vorhergehenden Kapitel analysiert wurden, bildet die Familie einen weiteren zentralen sozialen Kontext, in dem traumatische Erinnerungen weitergegeben werden. Meine Unterteilung in öffentlich-kollektive und privat-individuelle Erinnerungsarbeit verstehe ich nicht als eine Dichotomisierung von öffentlicher und privater Erinnerungspraxis. Vielmehr erlaubt diese Art des methodischen Vorgehens aufzuzeigen, auf welche Weise sich öffentlich-kollektive und privat-individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit gegenseitig bedingen und beeinflussen. Um diese Überkreuzungen zwischen der öffentlich-kollektiven und privat-individuellen Erinnerungsarbeit darzustellen, 17

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

wähle ich in diesem Kapitel einen personenzentrierten Ansatz der Darstellung: Ich analysiere Sequenzen aus Interviews, die ich mit einer oder mehreren Personen über ihr Verhältnis zum Genozid im privaten Kontext geführt habe. Im siebten und letzten Kapitel Aspekte einer Theorie zu Diaspora greife ich die zentralen Ergebnisse aus den einzelnen Kapiteln nochmals auf und diskutiere sie im Hinblick auf ihre Relevanz für eine Theorie von Diaspora, als einem analytischen Instrument für die Untersuchung von Prozessen der Identifikation und Gemeinschaftsbildung in einer Lebenssituation der räumlichen Zerstreuung. Darüber hinaus diskutiere ich, welche Konsequenzen und weiterführenden Fragestellungen sich aus meiner Arbeit für eine Erforschung kollektiver Traumata aus ethnologischer Perspektive ergeben können. Zunächst möchte ich jedoch noch einige Begriffe klären, die für das weitere Verständnis meiner Ethnographie armenischer Identitäts- und Erinnerungsarbeit von grundlegender Bedeutung sind, nämlich was Armenier in Griechenland unter Genozid, Gemeinschaft, Diaspora und Identität verstehen. Ich beginne mit einen kurzen Abriss über den Genozid.

1.4 Der Genozid von 1915 Unter dem Genozid von 1915 werden die systematischen Deportationen verstanden, die ab April 1915 von der jungtürkischen Regierung angeordnet wurden unter dem Vorwand, es handele sich um kriegsnotwendige Umsiedlungen.1 Die Umsiedlungsmärsche führten jedoch über die Berglandschaft Ostanatoliens an die Endpunkte der Deportationen in der heutigen syrischen Wüste. Wer nicht schon auf den Märschen durch die gewalttätigen Übergriffe türkischer und kurdischer irregulärer Truppen oder durch körperliche Erschöpfung, Verdursten und Verhungern ums Leben gekommen war, den erwartete in der syrischen Wüste nichts anderes als Sand. Orte wie Ras-ul-ain und Deres-Zor wurden damit zu armenischen Massengräbern und haben heute für Armenier weltweit eine ähnliche symbolische Bedeutung wie Auschwitz für die Opfer des Holocaust. Nach armenischen Schätzungen wurden während des Genozids 1,5 Millionen Armenier ermordet; 500.000 konnten das osmanische Reich verlassen und schlossen sich zum Teil schon bestehenden armenischen Gemeinden in Europa und Übersee an. Ein großer Teil floh auch in die Sowjetrepublik Armenien (vgl. Dadrian 1995, 1999; Gust 1993; Hovannisian 1986; Walker 1980).

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Auch vor 1915 hatte es immer wieder Massaker an den armenischen Untertanten des osmanischen Reiches gegeben, die allerdings lokal begrenzt waren. Unter der Regierung Sultan Abdul Hamids fanden zwischen 1894 und 1896 an verschiedenen Orten Pogrome statt. Bis zu 300.000 Armenier wurden umgebracht bzw. starben an den Folgen. Auch unter dem jungtürkischen Regime kam es 1909 zu einem Massaker an der armenischen Bevölkerung Kilikiens in der Provinz Adana, dem 20.000 Menschen zum Opfer fielen.

EINFÜHRUNG

Ähnlich wie der Terminus Holocaust erst nachträglich für die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten eingeführt wurde, benutzen Armenier die Bezeichnung Genozid mehrheitlich erst seit 1965 für die Ereignisse von 1915. Im Gegensatz zum Holocaust ist Genozid jedoch kein Begriff der exklusiv für armenische Massaker verwendet wird (Levy/Sznaider 2001: 61). Vielmehr wurde der Begriff 1944 von dem Völkerrechtler Raphael Lemkin vor dem Hintergrund einer strafrechtlichen Verfolgung des Holocaust geprägt. 1948 wurde Lemkins Definition zur Grundlage der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen.2 Seitdem wurde das Wort verstärkt von armenischen und nichtarmenischen Organisationen für die Ereignisse von 1915 verwendet (vgl. Hovannisian 1992: xvi). Diese Verwendung des Begriffs war von einem 1965 einsetzenden Prozess der Politisierung und Veröffentlichung des Genozidsgedenkens begleitet (vgl. Kapitel 5). Mit der öffentlichen Benennung der Ereignisse von 1915 als Genozid war und ist immer die Artikulation armenischer Ansprüche nach politischer und juristischer Anerkennung verbunden. Die Lobbyarbeit armenischer Organisationen zielt seitdem darauf ab, ihr jeweiliges Gegenüber, Politiker und Wissenschaftler der jeweiligen Residenzländer oder Vertreter supranationaler Organisationen, erstens davon zu überzeugen, die Ereignisse von 1915, d.h. die systematischen, staatlich initiierten Deportationen der armenischen Bevölkerung, die Ermordung von 1,5 Mio. Armeniern und die Vertreibung der übrigen armenischen Bevölkerung anzuerkennen und diese Ereignisse zweitens explizit als „Genozid“ zu bezeichnen.3 In nicht2

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Die Genozid-Konvention beinhaltet in Artikel II folgende Definition: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: A. Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b. Verursachung von schwerem körperlichen und seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c. vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e. gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“ (Vereinte Nationen: Konvention zur Verhütung und Bestrafung zum Völkermord vom 9. Dezember 1948, zit. n. Chalk/Jonassohn 1998: 295). Auf die kontroversen Diskussionen um die Konvention und ihre politische Durchsetzungskraft kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Kritisiert wurde die Konvention vor allem für die enge Definition der Opfergruppe, ihre Täterzentriertheit sowie für die mangelnden Handlungsmöglichkeiten, die sich daraus für die Vereinten Nationen ergaben. Für einen Überblick über aktuelle Diskussionen siehe Dabag 1996; Chalk/Jonassohn 1998. Geschieht dies nicht, ist die Frage der Anerkennung aus armenischer Perspektive nicht zufriedenstellend gelöst. So kommentierte die griechischsprachige armenische Zeitschrift Armenika, die in Athen erscheint, den Besuch des Papstes Johannes Paul II. in Siskenakabert (Genoziddenkmal in Jerewan) im Jahr 2001 folgendermaßen: „Während seines Aufenthaltes in der Hauptstadt Jerewan besuchte der Papst, begleitet vom Katholikos Karekin II., das

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politischen und nicht-öffentlichen Kontexten verwenden Armenier nach wie vor den armenischen Terminus tchart Massaker bzw. in Griechenland die griechische Bezeichnung (kokkini) sfagi/sfages (rotes Massaker/rote Massaker) (vgl. Dabag 1996: 178-179). Eine weitest gehende internationale Anerkennung als Genozid hat der Völkermord von 1915 im Gegensatz zum Holocaust und zur Erbitterung der Armenier bis heute nicht gefunden. Ich möchte jedoch ausdrücklich betonen, dass ich von der Faktizität des Genozids ausgehe, die bis heute nicht unwidersprochen anerkannt ist. Auf politischer, juristischer und auch akademischer Ebene gibt es durchaus divergierende Positionen. Die heutige türkische Regierung hat sich bislang geweigert, den Genozid an den Armeniern durch die jungtürkische Regierung als historisches Faktum anzuerkennen. Dabei streitet sie nicht unbedingt ab, dass es Gewalt gegen Armenier im osmanischen Reich gegeben hat. Diese wird jedoch als Reaktion auf separatistische gewalttätige Aktionen von Seiten der Armenier gewertet und keinesfalls als Genozid kategorisiert. Türkische diplomatische Vertretungen im Ausland sowie einige türkische Organisationen protestieren regelmäßig dann, wenn eine Anerkennung des Genozids zu offiziell und weitreichend zu werden droht. Viele Staaten – wie z.B. die USA und Deutschland – vermeiden daher aus innen- und außenpolitischen Gründen eine offizielle Anerkennung (Guroian 1992; Kiendl 1998).4

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Denkmal für die Opfer des Genozids und in einer ergreifenden Zeremonie voller Symbolik zollte er den 1,5 Mio. Armeniern Tribut, die von den Türken 1915 massakriert wurden und betete für die Auferstehung ihrer Seelen. Auch wenn der Pontifex es vermied das Wort ‚Genozid‘ zu benutzen (meine Hervorhebung), haben viele Armenier diesen Besuch als eine Anerkennung der türkischen Verbrechen empfunden.“ (Armenika 22, 2001: 5, meine Übersetzung). Zwar wurde in Deutschland 2001 eine Petition eingereicht, über die jedoch nach wie vor nicht entschieden wurde. Und auch auf lokaler Ebene setzt sich die Haltung der Regierung fort. In Potsdam sollte ein Pfarrer Lepsius Haus eingerichtet werden. Lepsius war ein evangelischer Geistlicher, der zum Zeitpunkt des Genozid ein Hilfswerk für armenische Opfer gründete und auch auf politischer Ebene für eine Verhinderung und später für die Anerkennung der Massaker kämpfte. Obwohl die Stadtverwaltung ihre Zusage auf finanzielle Unterstützung bereits gegeben hatte, distanzierte sie sich von diesem Projekt, nachdem türkischdeutsche Dachverbände, Vereine und auch Privatleute dagegen protestiert hatten (Gafga/Gurian 2001: 19-20). Und noch ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem akademischen Kontext: Die türkischen Zeitungen Hürriyet und Aydinlik starteten im Jahr 2001 eine Kampagne der Diffamierung gegen Taner Akçam. Akçam ist ein türkischer Historiker, der am Institut für Sozialforschung in Hamburg über den Genozid arbeitete und seine Thesen in der türkischen Tageszeitung Yeni Binyil veröffentlicht hatte. Diese Kampagne dehnte sich auf die Europaausgabe der Hürriyet aus und schloß auch die Diffamierung von Tessa Hofmann, der Koordinatorin für Armenien in der Gesellschaft für bedrohte Völker, Udo Steinbach, den Leiter des Orient-Instituts Hamburg und Oral Calislar, Journalist der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet ein. Allen

EINFÜHRUNG

Dabei war der Genozid 1915 in Europa durchaus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wahrgenommen worden. Die alliierten Sieger des 1. Weltkriegs forderten sogar eine Verurteilung der Verantwortlichen. Diese Forderung gehörte, nachdem die Türkei als Bündnispartner des Deutschen Kaiserreichs den 1. Weltkrieg verloren hatte, zu den Bedingungen, die im Friedensvertrag von Sévres diktiert wurden. Allerdings verbanden die Alliierten ihre Forderung mit der Teilungsabsicht Anatoliens. Der Genozid bot also den notwendigen Vorwand, um die Teilungspläne der Alliierten moralisch zu legitimieren (Akçam 1998). Wie schon während des gesamten 19. Jh. die Orientfrage eng mit der Armenischen Frage verknüpft war, diente auch der Genozid den Großmächten als Hebel, um das osmanische Reich unter Druck zu setzen. Der Historiker Taner Akçam argumentiert, dass auf diese Weise die Verfolgung des Genozids für die türkische Nationalbewegung gleichbedeutend mit einer Bedrohung nationalstaatlicher Souveränität wurde. Daher empfänden national gesinnte türkische Politiker Forderungen nach einer Anerkennung des Genozids auch heute noch als eine Bedrohung der nationalstaatlichen Existenz und Souveränität der Türkei. Der Genozid, so Akçam, muss weiter geleugnet werden, um den Mythos eines nationalen Befreiungskampf unhinterfragt aufrechterhalten zu können (Akçam 1996; ders. 1998). Aber nicht nur in der Türkei erfüllt die Leugnung des Genozids eine stabilisierende Funktion für die nationale Identität. Die öffentliche Unkenntnis über den Genozid in Deutschland ist vor dem Hintergrund, dass der Völkermord mit Wissen der Regierung des Deutschen Kaiserreiches durchgeführt wurde und deutsche Offiziere an seiner Planung und Durchführung beteiligt waren (Dadrian 1995; ders. 1999), ebenfalls kritisch zu betrachten. Geklärt ist nach wie vor nicht, ob und in welchem Maße der Genozid als Vorlage für die Judenvernichtung während des Dritten Reiches gedient hat (Gust 1993: 301302). Dass der Genozid aus armenischer Perspektive zu „einem vergessenen Völkermord“ (Dadrian 1998; Gust 1993) werden konnte, dem nach wie vor zu wenig internationale Anerkennung zuteil wird, ist jedoch nicht nur auf den nationalistischen Standpunkt der Türkei und die Indifferenz in anderen Staaten zurückzuführen. In den 20er Jahren gab es noch keine internationale gesetzliche Grundlage, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch über die nationale Souveränität eines Staates hinweg strafrechtlich zu verfolgen.5 Im dama-

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wurde vorgeworfen, für den Deutschen Geheimdienst BND gegen die Türkei zu agitieren (Persembe 2001). Diese Auflistung von Aktivitäten der türkischen Regierung, der Presse und türkischer Interessensverbände im Ausland ließe sich beliebig verlängern und auf andere Länder übertragen. Zu ähnlichen Reaktionen in anderen Ländern siehe Guroian 1992 und Fankhauser 1998. Dieses Dilemma begleitet das moderne Völkerrecht bis heute. Der Völkerrechtler Luchterhandt (1998: 349) spricht in diesem Zusammenhang von einer Paradoxie, da „im Zentrum des Völkerrechts nicht eigentlich die Völker stehen, sondern die Staaten“. Minderheiten, die sich nicht auf eine nationalstaatliche Souveränität berufen können und staatlicher Verfolgung

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ligen internationalen Umgang mit armenischen Flüchtlingen war daher eine Rechtspraxis, die die nationalstaatliche Souveränität in den Vordergrund stellte, bestimmend.6 Zwar wurden die Opfer des Genozids im Rahmen der „christlichen Solidarität“ bedauert und vielfältige Hilfswerke ins Leben gerufen. Von der internationalen Gemeinschaft wurden sie nicht als Opfer eines Genozids definiert, sondern als staatenlose Flüchtlinge, für die der Völkerbund die Verantwortung übernahm. Armenischen Flüchtlinge wurde damit zwar philanthropische Hilfe zuteil, eine politische und juristische Anerkennung als Opfer eines Völkermordes blieb ihnen jedoch verwehrt. Politisch gesehen waren sie als staatenlose Flüchtlinge vielmehr eine Anomalie, die bei der Aufteilung Europas in Nationalstaaten entstanden war und möglichst schnell beseitigt werden sollte. Daher zielte die Politik des Völkerbundes darauf ab, die Aufnahmeländer zu einer Naturalisierungspolitik zu bewegen oder Armenier in die damalige Sowjetrepublik Armenien zu „repatriieren“ (Simpson 1939). Zwar waren weder der Völkerbund noch die Aufnahmeländer an der Entstehung einer armenischen Diaspora im Sinne einer „Nation im Exil“ interessiert, unterstützten diesen Prozess jedoch ungewollt (vgl. Kapitel 3.1 und 3.2). Noch waren sie darauf aus, den Völkermord öffentlich zu diskutieren, da damit ja auch ein Eingeständnis des Scheiterns der „Orientpolitik“ der Großmächte verbunden gewesen wäre. Diese völkerrechtliche Definition als Staatenlose hatte, wie ich im fünften und sechsten Kapitel zeigen werde, einen großen Einfluss auf die Ausprägung der öffentlichen und privaten Erinnerungsarbeit an den Genozid. Die Bedingungen einer öffentlichen Artikulation der erlebten Traumata und der Forderung nach Anerkennung waren bis nach dem 2. Weltkrieg nicht gegeben. Kein Wunder also, dass die öffentliche Beschwörung der traumatischen Erinnerungen zunächst auf den Kontext der armenischen Diaspora beschränkt blieb. Erst 1965 anlässlich des 50. Jahrestages des Genozids kam es zu einem Wandel im öffentlichen Umgang mit dem Gedenken an den Genozid. Erstmals fanden in armenischen Diasporagemeinden weltweit sowie in Armenien selber, gegen den Willen der sowjetischen Regierung, Protestkundgebungen statt. Sie prangerten an, dass der Genozid 50 Jahre danach weder

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ausgesetzt sind, können sich seit 1948 zwar auf die UN-Konvention zur Verfolgung des Völkermordes berufen. Jedoch blieb die UN-Konvention in ihrer rechtlichen Umsetzung wirkungslos, da es bis zur Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag im Jahr 1993 keine internationale Gerichtsbarkeit gab, die nationalstaatlicher Gerichtsbarkeit übergeordnet war (Luchterhandt 1998: 347-407). Ein internationales Bewusstsein für die traumatischen Auswirkungen eines Genozids gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Die Erforschung kollektiver Traumata steckte ohnehin noch in den Kinderschuhen und blieb bis zum Ende des 2. Weltkriegs auf den militärischen Kontext beschränkt. Für Opfer kollektiver Gewalt in den Zwischenkriegsjahren, wie die armenischen Überlebenden des Genozid, gab es keine professionelle Beachtung und Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer psychischen Traumata (Robben/SuárezOrozco 2000: 13).

EINFÜHRUNG

von der Türkei noch von anderen Staaten offiziell anerkannt worden war. Der 50. Jahrestag 1965 symbolisierte fortan für Armenier in der Republik und der Diaspora den Ausgangspunkt für ein ‚nationales Erwachen‘ und eine ‚Wiedergeburt des Nationalbewusstseins‘ (Björklund 1993: 344; Hofmann 1994: 155-156; Jacoby 1998a: 130-139; ders. 1998:b). Seitdem kämpfen Organisationen in der Diaspora, vor allem armenische Parteien, auf nationaler und supranationaler Ebene für eine offizielle Anerkennung der Ereignisse von 1915 als Genozid (vgl. Kapitel 3.4 und Kapitel 5.1).7 Dieser politische Konflikt um Anerkennung bzw. ihre Verhinderung kennzeichnet auch einen Großteil der historischen Forschung zum Genozid (vgl. Dabag 1996: 177-189; ders. 1998: 152-156). Aufgrund dieser politischen Dimension ist jede Art von Forschung zum Genozid an den Armeniern per se pro-armenisch, da sie notwendigerweise von der Existenz eines Genozid ausgeht und damit der offiziellen türkischen Position, es habe sich dabei lediglich um einen Bürgerkrieg gehandelt, zuwiderläuft. 1996 ist der bekannte Orientalist Bernhard Lewis von einem Pariser Gericht verurteilt worden, weil er in seinem Werk über das osmanische Reich den Genozid als ein „Missgeschick“ dargestellt hatte, welches aus Spannungen zwischen einer Mehrheits- und einer Minderheitsbevölkerung entstanden sei (Dabag 1996: 181). Trotz dieses Beispiels unterscheidet sich die rechtliche Praxis in Bezug auf eine Leugnung des Genozids nach wie vor gravierend vom internationalen rechtlichen und ethischen Umgang mit dem Holocaust. Erkennen wir an, dass auch die offizielle Historiographie eine spezifische Art der Rekonstruktion und Repräsentation von Vergangenheit ist (Friese 1993; Sider und Smith 1997), kann dies zu einem gefährlichen Relativismus in Hinblick auf die ethische Bewertung historischer Ereignisse führen, wenn gegensätzliche Repräsentationen der Vergangenheit unkontextualisiert und gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Auch aus der Perspektive einer rekonstruktivistischen Geschichtsauffassung, die ich, wie unter Punkt 1.2 erläutert, favorisiere, gibt es Kriterien, die eine gute von einer schlechten Repräsentation historischer Ereignisse unterscheiden wie z.B. die Kohärenz und Überzeugungskraft der Argumentation (Plummer 2001: 239-240). Eine kritische Auseinandersetzung mit den divergierenden Positionen pro-armenischer und pro-türkischer historischer Forschung würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Ich halte die Darstellungen der Ereignisse durch pro-türkische Historiker jedoch weder für kohärent noch für überzeugend und schließe mich damit den Positionen von Akçam 1995, Dadrian 1992, 1995, 1999, Hovanni7

Als erste supranationale Organisation erkannte der Weltkirchenrat 1983 die Massaker von 1915 als Genozid an. 1985 folgte die UN-Unterkommission für Menschenrechte und 1987 erklärte das Europäische Parlament von Straßburg die Ereignisse von 1915 zu einem Genozid analog der Kriterien der UN Konvention (Dadrian 1995: xix). In den 90er Jahren folgten nationale Regierungen wie 1994 Israel und 1996 Griechenland. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Genozid bislang aus Rücksicht auf ihre engen Beziehungen zur Türkei noch nicht offiziell anerkannt.

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sian 1992 und Suny 1993 an. Außerdem möchte ich auch Robben und Suárez (2000: 12) widersprechen, die postmodernen Positionen in der Ethnologie vorwerfen, eine wenn auch unabsichtliche wissenschaftliche Hilfestellung zu leisten, um Positionen organisierter Gewalt zu verharmlosen, indem sie diese lediglich als weitere „Stories“ oder „Fiction“ präsentierten. Carolyn Nordstroms (1997) Ethnographie über den Bürgerkrieg in Mosambik „A different kind of war story“ ist meiner Ansicht nach ein exzellentes Gegenbeispiel. Zustimmen möchte ich Robben und Suárez-Orozco jedoch in ihrer Forderung danach, dass sich Ethnologen stärker als bisher mit der Untersuchung von kollektiver Gewalt und dadurch hervorgerufenen Traumatisierungen beschäftigen sollten. Denn gerade die Ethnologie könnte entscheidend dazu beitragen, die kulturell unterschiedlichen Ausprägungen von Gewalt sowie die kreativen Strategien des Widerstands der Opfer zu erforschen, ohne diese zu pathologisieren. In diesem Sinne verstehe ich meine Ethnographie auch als eine Dokumentation der kreativen Strategien, mit denen sich die Nachfahren der Opfer des Genozids von 1915 gegen Pathologisierungen und Indifferenzen der „Anderen“ zur Wehr setzen.8 Einen ersten tieferen Einblick in diese widerständigen Strategien armenischer Erinnerungs- und Identitätsarbeit gebe ich jetzt mit einer Einführung in armenische Konzepte zu Gemeinschaft, Identität und Diaspora. Sie sind das weitere Verständnis dieser Ethnographie grundlegend. Diese Schlüsselkonzepte erläutere ich beispielhaft an einem Auszug aus meinen Feldnotizen, in dem ich eine nicht alltägliche Begegnung mit Ruben, einem meiner Schlüsselinformanten in Thessaloniki, protokolliert habe. Ruben bat mich, für ihn die Rolle einer Ehevermittlerin einzunehmen und zusammen mit seiner Mutter diskutierten wir das Pro und Contra potentieller armenischer Bräute. Ich habe diese Begegnung ausgesucht, gerade weil die private Entscheidung Rubens zu heiraten auf den ersten Blick nichts mit dem Genozid und kollektiver armenischer Identitätspolitik zu tun hat. Umso deutlicher kann ich an diesem Beispiel meine unter Punkt 1.1 erläuterte These verdeutlichen, dass der Genozid bzw. die Erinnerung daran ein verbindendes Glied zwischen dominanten Diskursen in der armenischen Diaspora und individuellen Entscheidungen und Erfahrungen ist. Aus Gründen der Übersicht habe ich meine Feldnotiz in Sequenzen unterteilt, an denen ich zentrale Konzepte armenischer Identität und Diaspora aufzeige und vor dem Hintergrund meiner theoretischen Annahmen interpretiere. 8

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Dabei bilden sicherlich, wie Robben und Suaréz-Orozco es fordern, Empathie und Anerkennung zentrale Voraussetzungen. Jedoch ist mir die Problematik einer Position der Anwaltschaft für „Andere“ bewußt. Wie vor allem Vertreterinnen einer postkolonialen, feministischen Kritik angemahnt haben, müssen wir unsere Autorität, für „Andere“ sprechen zu können, kritisch hinterfragen. Gerade in diesem Feld setzt ethnologische Forschung eine reflektierende und kritische Haltung gegenüber der eigenen Positionierung und den Auswirkungen der ethnologischen Repräsentationen voraus (vgl. Spivak 1988; Trinh 1987; Nordstrom 1997: 24-29; Davies 1999: 45-64).

EINFÜHRUNG

1.5 Konzepte armenischer Identität und Diaspora „An einem Vormittag im November 1996 besuchte ich Ruben, der seit dem Beginn meiner Feldforschung in Thessaloniki zu einem Hauptinformanten für mich geworden war. Ruben war ein in Thessaloniki geborener Armenier, Mitte 30, noch unverheiratet und lebte mit seiner Mutter zusammen. Zu meiner Überraschung eröffnete er mir, dass er heiraten wolle und bei der Heiratsvermittlung meine Hilfe bräuchte.“ (Gesprächsprotokoll Nr. 36, 14.11.1996)

Ich war von Rubens Ansinnen, ihm bei der Suche nach einer Braut als Ehevermittlerin zur Seite zu stehen, ambivalent berührt. Zum einen irritierte mich, dass Ruben, der wie ich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung Anfang 30 war, bei einer so individuellen und weitreichenden Entscheidung wie einer Eheschließung auf die traditionelle Ehevermittlung (griech.: proksenia) zurückgreifen wollte. Proksenia hatte bei Eheschließungen in Rubens Elterngeneration noch eine tragende Rolle gespielt. Von gleichaltrigen Armeniern und Griechen wurde die arrangierte Ehe als vorsintflutlich abgelehnt. Ihr Ideal war eine Heirat aus Liebe. Ruben dagegen erklärte mir, dass für ihn die Ehe in erster Linie eine Lebensgemeinschaft sei, die auf gegenseitigem Respekt und dem gemeinsamen Projekt der Familiengründung basiert. Emotionen wie Liebe dagegen erwartete er nicht. Dies befremdete mich. Zum anderen war ich durch sein Anliegen gleichzeitig überfordert und geschmeichelt. Überfordert, weil ich keinerlei Ahnung hatte, wie eine Proksenitria (griech.: Ehevermittlerin) vorzugehen hat; geschmeichelt, weil er mir diese Rolle zutraute. Dies empfand ich als Bestätigung unserer vertrauensvollen Beziehung und meiner geglückten Positionierung als Ethnographin im Feld. Ich hatte Ruben bereits im ersten Monat meiner Feldforschung in Thessaloniki kennen gelernt. Er war schnell zu einem Schlüsselinformanten für mich geworden, der mir geduldig meine Fragen beantwortete und mich mit seinem breiten Wissen über armenische und griechische Geschichte und Politik beeindruckte. Wie viele Schlüsselinformanten hatte Ruben eine marginale Position in der lokalen armenischen Gemeinde (Davies 1999: 79). Daher hatte er Schwierigkeiten eine vertrauenswürdige Person zu finden, die einerseits sein Anliegen diskret vorantreibt und andererseits über die nötigen Kontakte zu armenischen Familien verfügt. Ich vereinte diese beiden Anforderungen in idealer Weise. Durch meine Forschung hatte ich Kontakte zu den armenischen Familien in Thessaloniki, die wie Ruben endogame Ehen für wichtig hielten. Außerdem konnte er davon ausgehen, dass ich Informationen vertraulicher behandeln würde als andere Mitglieder der Paroikia. Paroikia, dieses griechische Wort benutzten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, wenn sie von der lokalen Diasporagemeinde und der Gemeinschaft aller Armenier Griechenlands redeten. Diese Bezeichnung werde ich für die lokalen armenischen Gemeinden in Thessaloniki und Athen übernehmen. Denn hinter Paroikia verbirgt sich ein Konzept von Gemein25

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schaft, das Aufschluss darüber gibt, wie sich Armenier in Griechenland ihre Gemeinschaft in der Diaspora vorstellten und wie sie diese Vorstellung in Beziehung zum dominanten Konzept des Nationalstaates setzten. Der griechische Begriff Paroikia (Kolonie) bezeichnet die Gemeinschaft und den institutionalisierten Zusammenschluss von Menschen gleicher ethnischer Herkunft, die in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland leben. Er beinhaltet die Vorstellung einer Lebenssituation in der Diaspora (griech.: Zerstreuung) und wird auch von Griechen für griechische Gemeinschaften im Ausland verwendet. Dementsprechend wurde die Gesamtheit aller in der Diaspora lebenden Armenier auch als Armenoi tis diasporas (Armenier der Diaspora) bezeichnet. Diaspora bezieht sich auf die Situation der Zerstreuung, während Paroikia die als Ergebnis der Zerstreuungssituation entstandenen Gemeinschaften und ihre institutionelle und räumliche Ausprägung bezeichnet.9 Die armenischen Begriffe Gaghut und Spiurk dagegen wurden mir gegenüber kaum verwendet. Dies hat mit der Bedeutung der griechischen und armenischen Sprache während meiner Feldforschung zu tun (vgl. Kapitel 2). Das Verhältnis von Spiurk und Gaghut entspricht dem von Diaspora und Paroikia. Spiurk beschreibt den Zustand der Zerstreuung, während die in der Zerstreuung gebildeten Gemeinschaften/Gemeinden als Gaghut bezeichnet werden (Dabag/Platt 1993: 119).10 Nach Bakalian (1993: 145) lässt sich Gaghut von Ghaributiun ableiten. Ghaributiun geht auf das arabisch-türkische Wort Gharib (Fremder) zurück und beschreibt das unter Fremden sein. Dabag und Platt (1993: 119) leiten das Wort von Gaght ab, das Auswandern bedeutet. Damit weist die Etymologie des Wortes Gaghut Gemeinsamkeiten mit Paroikia auf, denn Paroikos bedeutet ebenfalls Fremder und Ausländer (Pons 1997). Dieser Begriff wird allerdings alltagssprachig für Fremde nicht verwendet, gebräuchlich sind die Worte Xenos und Allodapos. 9

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Nur sehr selten verwendeten Armenier dagegen den griechischen Terminus Koinotita, der im griechischen Sprachgebrauch sowohl Gemeinschaft als auch Gemeinde bedeutet, jedoch nicht die Vorstellung einer Zerstreuung beinhaltet. Im Gegensatz zur Paroikia wird die jüdische Gemeinde Griechenlands jedoch ausschließlich als Koinotita bezeichnet. Die Verwendung von Koinotita als Verwaltungseinheit war schon während der Zeit gebräuchlich, als Griechenland noch zum Osmanischen Reich gehörte. Dass die jüdische Diaspora auch schon während Griechenlands Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich als juristische Einheit anerkannt war, erklärt möglicherweise diesen Unterschied in der Bezeichnung (persönliche Konversation mit Ioannis Manos und Bea Lewkowicz). Andere Autoren weisen jedoch darauf hin, dass Gaghut nur bis zum Genozid für die armenischen Diasporagemeinden verwendet wurde, während mit Spiurk die Gemeinden bezeichnet werden, die nach dem Genozid entstanden. Spiurk habe daher die negative Konnotation des erzwungenen Exils, während Gaghut auch die Gemeinden bezeichnete, die infolge von Handelsaktivitäten entstanden.

EINFÜHRUNG

Das Konzept Paroikia beinhaltete für Armenier in Griechenland also zweierlei. Erstens positionierten sich Armenier in Griechenland damit als Fremde im griechischen Nationalstaat, dem sie mit der Vergabe der griechischen Staatsbürgerschaft 1968 formal angehörten. Zweitens implizierte Paroikia/Gaghut die Vorstellung eines idealtypischen umfassenden Gesellschaftsmodells, dem das Nationalstaatenkonzept zugrunde lag. Dies äußerte sich auch darin, dass die Organisationsstrukturen einer Paroikia von Armeniern in Griechenland mit denen eines Nationalstaates verglichen wurden (vgl. Kapitel 4). Paroikia hatte für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die Bedeutung einer „Nation im Exil“. Dieses Konzept einer „Nation im Exil“ existiert in der gesamten armenischen Diaspora und weist starke Parallelen zum jüdischen Konzept galuth (Exil) auf (vgl. Dabag/Platt 1993: 119; Pattie 1997: 28). Geprägt wurde dieser Begriff von Khachig Tölölyan (ders. 1988: 62; ders. 1996: 9; ders. 2000b: 111). Ruben jedoch identifizierte sich nicht mit der lokalen „Nation im Exil“, der Paroikia. Er charakterisierte sich als Dissident, da er mit der in der Paroikia dominierenden Partei und deren Identitätspolitik in ständigem Streit lag. Zu einer transnationalen armenischen „Nation im Exil“ wollte er aber sehr wohl gehören, wie die folgende Sequenz zeigt: „Oberste Priorität habe eine Ehe mit einer Armenierin. Denn Ruben war, wie viele andere Armenier auch, der Ansicht, dass armenische Identität nur in einer Ehe mit einem armenischen Partner erhalten und weitergeben werden könne, während „Mischehen“ auf längere Sicht zu Identitätsverlust und – um ein populäres Schlagwort dieses in der gesamten armenischen Diaspora geführten Identitätsdiskurses zu verwenden – zu „weißem Genozid“ führten.“ (Gesprächsprotokoll Nr. 36, 14.11.1996)

Obwohl sich Ruben als Dissident empfand und sich von der Paroikia in Thessaloniki distanziert hatte, reflektierte sein Wunsch nach einer armenischen Ehefrau einerseits den in der Paroikia dominanten Diskurs über Diaspora und Identität und andererseits sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer armenischen „Nation im Exil“. Wie alle nationalistischen Projekte basiert auch das Konzept einer „Nation im Exil“ auf dem Ideal einer reinen armenischen Identität und Kultur, die nur erhalten werden können, wenn sie eindeutig territorial verortet sind – am besten in Form eines Nationalstaates. Dementsprechend bestand ein zentraler Punkt der Ideologie der die armenische Diaspora dominierenden Partei, der Daschnaktsutiun, jahrelang in der Forderung nach einem unabhängigen armenischen Nationalstaat. Ein Ziel ihrer Identitätspolitik war es, das homing desire der aus dem osmanischen Reich nach Griechenland geflohenen Armenier auf die abstrakte Vorstellung eines unabhängigen armenischen Nationalstaates zu richten. Diese Identitätspolitik war offenbar so überzeugend, dass Armenier in Griechenland heute weitgehend Armenien als ihren Herkunftsort ansehen. Erinnerungen an die tatsächlichen Herkunftsorte spielten dagegen in der intergenerationellen Weitergabe in der Paroikia und in den Familien kaum ei27

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ne Rolle.11 Rubens Familie bildete hier, wie ich später noch vertiefen werde, eine Ausnahme. Diaspora als Folge der gewaltsamen Vertreibung aus dem osmanischen Reich dagegen wurde in erster Linie als erzwungenes, temporäres Exil, als unzulängliches Substitut für einen Nationalstaat und eben als eine „Nation im Exil“ konzeptualisiert. Die Erhaltung und Weitergabe einer „reinen“ armenischen Identität wurde daher nur auf armenischem Territorium als möglich angesehen. Denn meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner machten die alltägliche Erfahrung, dass Identität in der Diaspora von Fragmentierung und Hybridisierung von Identität kennzeichnet war. Prozesse der Hybridisierung empfanden sie als Bedrohung und im Prinzip als Weiterführung des Genozids von 1915. Dieses spannungsgeladene Gefühl von Bedrohung und Sehnsucht nach einer stabilen und kontinuierlichen Identität war es, was Armenier auch mit dem ständigen Anspruch „Wir werden niemals vergessen“ artikulierten. Daher zielten die Aktivitäten der Institutionen und Organisationen der Gemeinden darauf ab, die Vorstellung einer reinen armenischen Identität durch fortwährende Erinnerungserzählungen und performative Handlungen zu entwerfen und intergenerationell zu tradieren. Die Ideologie, die dieser Erinnerungs- und Identitätsarbeit zugrunde lag, bezeichneten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner als Askabahbanum, das wörtlich „NationsBewahrung“ bedeutet (Tölölyan 2000b: 115-116). Die Bemühungen um Askabahbanum wurden jedoch als ein nicht zu gewinnender Wettlauf gegen das Vergessen gesehen. Die Konsequenzen des Vergessens drückten sich für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner am dramatischsten in Assimilierung (griech.: afomoiosi) aus. Vergessen, Assimilierung, aber auch Hybridisierungen von Identität verstanden sie als eine Erosion von Identität. In ihren Augen wurde dadurch die Vernichtung einer nationalen armenischen Identität, die mit dem Genozid eingesetzt hatte, mit anderen Mitteln weitergeführt. Daher bezeichneten sie das Vergessen und Prozesse der Assimilierung auch plakativ als „weißen Genozid“ (griech.: levki genoktonia oder levik sfagi, arm.: jermag tschart) in Abgrenzung zum Völkermord von 1915, der „roter Genozid“ (griech.: kokkini genoktonia /sfagi) genannt wurde. Dieses Konzept einer bedrohten Identität bezeichnet die amerikanische Ethnologin Jenny Phillips (1989) als ein root paradigm armenischer Identität in der Diaspora (vgl. Pattie 1997: 24). Wie Ruben empfanden die meisten die unkontrollierbare Liebe als die schlimmste Bedrohung für die Grenzen ethnischer Reinheit und die Existenz einer reinen armenischen Identität. Interethnische Ehen – der Prozentsatz lag zwischen 70-80%12 – wurden als eine der größten Gefahren für den Fortbestand einer armenischen Gemeinschaft und „Nation im Exil“ gesehen. Aber 11 12

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Bisharat (1997) beschreibt einen ähnlichen Transformationsprozeß für palästinensische Flüchtlingscommunities in der Westbank. Zur Problematik von Zahlen siehe Kapitel 4.

EINFÜHRUNG

selbst Ruben – dem im Gegensatz zu seinen Altersgenossen eine Liebesheirat nicht wichtig war – wollte lieber eine Griechin aus „seinem Ort“ Thessaloniki als eine Armenierin aus der Republik heiraten. Dieses scheinbare Paradox zwischen der moralischen Forderung nach einer reinen ethnischen Ehe um dem Anspruch des Askabahbanum gerecht zu werden und einer interethnischen Heiratspraxis werde ich mit der nächsten Sequenz analysieren. Zunächst wird an dieser Stelle deutlich, wie stark die in der Paroikia dominante nationale Ideologie des Askabahbanum sich auf private Entscheidungen, Handlungen und Gefühle auswirkt und damit in den individuellen Körper eindringt. Indem interethnische Liebe und Ehe als unrein definiert werden, zielt Askabahbanum darauf ab, sowohl die Psyche als auch den Körper zu regulieren und zu kontrollieren. Handlungspraktisch drückte sich die Ideologie des Askabahbanum in performativen Handlungen aus, die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner als Thysies (dt.: Opfer; arm.: nachantak) und Prosfores13 (dt.: Gaben; arm.: neviratevutiun) bezeichneten. Da die Kontinuität einer „reinen Identität“ in der Diaspora trotz aller Bemühungen nicht erhalten werden kann und unweigerlich vom „weißen Genozid“ bedroht ist, war es nach Meinung meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner diese Praxis des Opferns, die armenische Identität ausdrückte und die ersehnte Stabilität und Kontinuität von Identität sicherte. Die Praxis des Sich-Opferns für die „Bewahrung der Nation“ umfasste eine ganze Reihe performativer Handlungen: Neben der schon erwähnten endogamen Heirat, einer armenischen Familiengründung und der intergenerationellen Übertragung der traumatischen Fluchtund Genoziderinnerungen in der Familie, auch das Engagement in der Paroikia, Geldspenden, das Erlernen der armenischen Sprache, in Thessaloniki aber auch der Fahrdienst für die Kinder zum armenischen Sprachunterricht oder in Athen zur weit entfernten Schule.14 Da die Familie wie in allen nationalen Projekten als Keimzelle der Nation angesehen wurde (vgl. Anderson 1991; McClintock 1993), galten Handlungen, die im privaten, familiären Rahmen der Familie vollzogen wurden, ebenso als Opfer für die Nation, wie diejenigen, die in der Öffentlichkeit der Paroikia durchgeführt wurden. Dabei unterlagen die Handlungen einer geschlechtsspezifischen Hierarchisierung, die mit einer Dichotomisierung von 13

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Im Gegensatz zu Marcel Mauss Konzept der Gabe geht es bei diesen Handlungen nicht um die Kommunion (Vereinigung) zwischen Menschen und Gott, sondern um die Herstellung einer Verbindung zwischen dem Subjekt und der Idee einer nationalen Gemeinschaft. Diese Idee ist armenischen Nationalisten jedoch durchaus „heilig“. Das Konzept und die Praxis des Opferns ist nicht nur für Armenier in Griechenland relevant, sondern ist auch in anderen ethnographischen Studien zur armenischen Diaspora als ein zentrales emisches Konzept und als wichtige kulturelle Handlungen heraus gearbeitet worden (vgl. Antoniou 1995; Bakalian 1993: 350-357; Pattie 1997: 22-23; Phillips 1989; Talai 1989: 131-134; Tauber 1999).

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Öffentlichkeit und Privatheit verbunden war. Während Männer eine dominante Position in der institutionalisierten Paroikia hatten, wurde die familiäre Sozialisation der Kinder in erster Linie als frauenspezifische Aufgabe betrachtet. Diese Verknüpfung von Konzepten von Weiblichkeit und Mutterschaft mit der Aufgabe der kulturellen Reproduktion der ethnischen Gruppe hat Nira Yuval-Davies (1997: 39.46) als einen zentralen Bestandteil ethnischer und nationaler Projekte beschrieben. Damit zeigt sich an dieser Stelle, wie durch die performativen Handlungen des Opfer-Bringens, die vordergründig nationale und ethnische Identifikationen ausdrücken, zugleich Geschlechteridentitäten konstituiert werden. Auch wenn individuelle und kollektive Identifikationen mit Armenischsein in dieser Ethnographie im Vordergrund meiner Analyse stehen, möchte ich betonen, dass ethnische, kulturelle, soziale und geschlechtsspezifische Identifikationen grundsätzlich als sich überkreuzende Dimensionen von Identität gesehen werden müssen (vgl. Anthias 1998; Brah 1996). Da armenische Identität in der Diaspora aufgrund der Situation des ungewollten Exils den idealen Kriterien ethnischer Reinheit nicht entsprechen kann, wurde die Kontinuität und Stabilität armenischer Identität für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner schon durch die zuverlässige und ständige Handlungsbereitschaft an sich sicher gestellt. So erklärte mir Elise, eine ältere Armenierin, als wir zusammen mit anderen älteren Damen des Dignatz (armenischer Frauenverein in Athen) Berge von Lahmacun und Ischli Köfte15 vorbereiteten, die auf dem alljährlich stattfindenden Bazar verkauft werden sollten: „Weißt Du, wir sagen zwar, das sei typisch armenisches Essen, aber das essen sie auch in der Türkei und im ganzen Mittleren Osten. Armenisch ist, das wir zusammenkommen und diese Speisen für den Bazar herstellen“ (Beobachtungsprotokoll Nr. 63, 09.12.1997).

Elise vertrat damit die Ansicht, dass armenische Identität nicht etwa eine Essenz sei, die durch eindeutige kulturelle Marker wie z.B. armenisches Essen definiert wird, wie es das dominante Konzept von Identität in der Paroikia impliziert, sondern durch fortwährende Handlung hergestellt werden muss. Die Praxis des Opfer-Bringens für die armenische Nation sehe ich daher als performative Handlungen, in denen armenische Identität nicht nur ausgedrückt, sondern auch konstituiert wird. Indem ein Subjekt Identität „richtig“ – d.h. in Übereinstimmung mit den kollektiven Vorstellungen des OpferBringens aufführt, versichert es sich und gleichzeitig anderen Armeniern, dass es trotz der Erfahrungen von Hybridisierungen eine Essenz armenischer Identität gibt. 15

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Lahmacun ist in Deutschland unter der Bezeichnung türkische Pizza ein sehr erfolgreicher Schnellimbiß. Ischli Köfte sind gefüllte Klöße, deren Kern aus einer feinen, würzigen Hackfleischmischung besteht, der von einer Mischung aus Bulgur und Hackfleisch eingehüllt wird.

EINFÜHRUNG

Anne-Marie Fortier charakterisiert diese Art von performativen Handlungen in ihrer Studie über eine italienische Migranten-Community in London als Handlungen, die als ein Resultat essentialistischer Identität wahrgenommen werden und nicht als Performanzen, durch die diese Identität und damit Gemeinschaft in der Diaspora konstituiert wird (Fortier 2000: 3-9). In der armenischen Diaspora Griechenlands wurde das Verhältnis von essentialistischen Identitätskonzepten und einer performativen Praxis armenischer Identität etwas anders gesehen. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gingen einerseits von der Existenz einer armenischen Identität aus, wie sie in der dominanten Identitätspolitik der Paroikia entworfen wurde. Gleichzeitig waren sie sich jedoch darüber bewusst, dass sie in der Lebenssituation der Diaspora nur durch opfernde Handlungen, die ich als performativ bezeichne, dem stabilen und kohärenten Kern einer armenischen Identität nahe kommen können. Aus ihrer Perspektive wurde dieses Ringen um eine Essenz armenischer Identität noch zusätzlich durch eine weitere Ebene von Identifikation verkompliziert, die ich in Anlehnung an Avtar Brahs Formulierung „lived experience of a locality“ (1996: 192) als Identifikation mit der gelebten Erfahrung von Lokalität bezeichne. Wie diese gelebte Erfahrung von Lokalität mit der Ideologie des Askabahbanum zusammenhängt und zu den spannungsgeladenen multiplen Identifikationen und Zugehörigkeiten führt, die ich zuvor als ein zentrales Kriterium von Diaspora definiert habe, wird in der nächsten Sequenz deutlich: „Als wir zusammen mit seiner Mutter begannen das Für und Wider der wenigen potentiellen Ehefrauen in Thessaloniki zu diskutierten, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass die ethnische Herkunft für Ruben und seine Mutter nicht das wichtigste Kriterium bei der Auswahl einer Ehefrau war. Auf meinen Vorschlag, sich doch unter den seit der Unabhängigkeit Armeniens nach Griechenland zugewanderten Republikarmenierinnen umzusehen, reagierten beide mit Ablehnung. Wenn überhaupt käme höchstens eine armenische Braut aus Istanbul in Frage. Aufgrund der geographischen Nähe zu Thessaloniki seien die kulturellen Unterschiede noch vergleichsweise gering und Rubens Eltern stammten ursprünglich von dort. Ehe er jedoch eine Braut aus Armenien zur Frau nehme, sagte Ruben, heirate er lieber eine Griechin.“ (Gesprächsprotokoll Nr. 36, 14.11.1996)

Zunächst konkretisiert sich in dieser Sequenz, wie Identitäten von Menschen in der Diaspora durch multiple Bindungen zu Orten beeinflusst sind, die durch widersprüchliche konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen konstruiert werden. Einerseits wünschte sich Ruben im Einklang mit der dominanten Ideologie des Askabahbanum eine armenische Ehefrau, um armenische Identität erhalten zu können und auf diese Weise der Bedrohung durch den „weißen Genozid“ zu entgehen. Die Imagination Armeniens als dem symbolischen Referenzort einer reinen Identität spielt dabei eine zentrale Rolle. Aus Armenien stammen sollte die Braut jedoch nicht. Zwar ist die Vorstellung einer ungeteilten armenischen Nation und einer gemeinsamen ethnischen Identität von Diaspora- und Republikarmeniern ein zentrales Element des 31

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Konzeptes einer reinen armenischen Identität und der Ideologie des Askabahbanums. Ruben und seine Mutter betonten jedoch Differenzen zwischen Diaspora- und Republikarmeniern, die in diesen dominanten Vorstellungen negiert werden. Sie argumentierten, dass Armenier aus der Republik schon allein durch die geographische Entfernung zu kulturellen „Anderen“ würden. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass sich diese kulturelle Differenz in der Wahrnehmung von Ruben und seiner Mutter mit sozialen und ökonomischen Differenzen überkreuzte, auch wenn die Beiden dies während unseres Gesprächs nicht explizit sagten. Armenische Migranten in Griechenland waren als illegalisierte Einwanderer in einer sozial und ökonomisch marginalisierten Position (vgl. Kapitel 4.2). Ruben war, wie die meisten meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, der Meinung, dass eine glückliche Ehe vor allem dann gewährleistet sei, wenn es möglichst wenige Differenzen zwischen den Ehepartnern gebe. Außerdem äußerte Ruben in einem anderen Gespräch die Bedenken, dass eine Migrantin aus Armenien, die Eheschließung mit einem Diaspora-Armenier als ein Mittel nutzen würde, um ihren prekären Aufenthaltsstatus in Griechenland zu legalisieren und ihren sozioökonomischen Status zu verbessern. Größere Gemeinsamkeiten sahen Ruben und seine Mutter bei einer Braut aus Istanbul als gegeben an. Denn Istanbul war für beide ein Ort, der mit einer gelebten Erfahrung von Lokalität verbunden war, weil die Familie von Ruben von dort stammte. Im Gegensatz zu anderen Familien war diese Erfahrung in Rubens Familie intergenerationell tradiert und zu einem wichtigen Identifikationspunkt geworden. In Kapitel 6.2 werde ich argumentieren, dass es gerade diese positive Identifikation mit der osmanischen Vergangenheit der Familie und der heutigen Türkei war, die Ruben zu einem Außenseiter in der Paroikia werden ließ. Und auch die Identifikation mit Griechenland als Ort der gelebten Erfahrung von Lokalität war bei beiden so stark, dass eine Braut von dort immer noch als ähnlicher wahrgenommen wurde als eine Braut aus Armenien. Damit bildeten sie übrigens keine Ausnahme in der Paroikia, denn die dortige Heiratspraxis war durch Eheschließungen mit griechischen Partnern bestimmt. Außerdem wirft diese Sequenz auch ein Schlaglicht auf die Art und Weise wie der Diasporaraum aus einer individuellen Perspektive konstituiert wird und welche Beziehungen und Orte dabei eine Rolle spielen. Für Ruben und seine Mutter ist dieser Raum durch unterschiedliche widersprüchliche Imaginationen und Erfahrungen geprägt. Armenien als imaginierter territorialer Bezugspunkt einer „Nation im Exil“ ist ein Ort mit positiver Bedeutung. Konkret erlebte Beziehungen mit Armeniern aus der Republik hingegen waren für beide mit negativen und unüberbrückbaren Erfahrungen von Differenz verbunden. Istanbul wird zu einem Ort der positiven Identifikation, weil damit erstens kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden werden und zweitens positive Erinnerungen an die Familien an diesen Ort gebunden sind. Und auch Griechenland ist aufgrund der gelebten Erfahrung von Lokalität ein Ort positiver Identifikation. Diese zentrale Bedeutung einer gelebten Erfahrung von Lokalität

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EINFÜHRUNG

für Identitätsprozesse in der Diaspora wird abermals in der nächsten Sequenz deutlich: „Als zentrales Argument führten beide an, dass die Nootropia (dt.: Mentalität) von Armeniern in der Diaspora entscheidend durch den Ort geprägt sei, an dem sie leben und dass daher Eheschließungen zwischen armenischen Partnern aus unterschiedlichen Herkunftsländern grundsätzlich problematisch seien. Mit dem griechischen Sprichwort: ‚(Besser) Schuhe aus Deinem Ort, auch wenn sie geflickt sind!‘ (Papoutsia apo ton topo sou, as einai balomena), brachte Rubens Mutter die Diskussion auf den Punkt.“ (Gesprächsprotokoll Nr. 36, 14.11.1996)

Für Ruben und seine Mutter manifestierte sich die gelebte Erfahrung in Griechenland in ihrer Nootropia (Mentalität). Mit Nootropia (Mentalität) bezeichneten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner alle die Identifikationen, die sie als Folge ihres Lebens und ihrer Sozialisation in der griechischen Gesellschaft sowie ihrer Zugehörigkeit zur lokalen armenischen Gemeinde ansahen, die aber weder den essentialistischen Inhalten des dominanten Identitätsdiskurses noch der Ideologie des Askabahbanum gerecht wurden. Dabei bezeichnete Nootropia je nach Situation sehr unterschiedliche Prozesse der Identifikation und Abgrenzung: Nootropia wurde z.B. dafür verantwortlich gemacht, dass Griechenland schon längst zur Heimat geworden war, die man nicht gegen Armenien eintauschen wollte, obwohl die offizielle Rhetorik doch immer eine Rückkehr in die Heimat Armenien postuliert hatte; dass griechische Heiratspartner denen aus der Republik Armenien oder aus anderen Diasporagemeinden außerhalb Griechenlands vorgezogen wurden, weil diese als kulturell ähnlicher empfunden worden. In Anlehnung an Gerd Baumann (1996: 195-198) interpretiere ich den Diskurs über Nootropia als „demotische Alternative“ zum dominanten Identitätsdiskurs und der Ideologie des Askabahbanum. Baumann hat diesen Begriff des „demotischen Identitätsdiskurses“ in seiner Ethnographie über ethnische Identifikationen von Jugendlichen im multiethnischen Londoner Stadtteil Southall geprägt. Damit ist ein Diskurs von Jugendlichen über Identität gemeint, der im Gegensatz zum dominanten Diskurs der Führer der einzelnen ethnischen Communities des Stadtteils nicht von klar abgegrenzten Kulturen und Identitäten ausgeht, sondern Hybridisierungen von Identität anerkennt. Ein „demotischer Identitätsdiskurs“ ist eine kreative Reaktion auf dominante Diskurse. Er stellt jedoch keine unabhängige Alternative dar, die die Wirkung des dominanten Diskurses unterminiert oder außer Kraft setzt. Auf ähnliche Weise rechtfertigt Nootropia die aus der individuellen Perspektive wahrgenommenen Widersprüche zum Ideal einer reinen armenischen Identität, ohne die Existenz einer Essenz armenischer Identität prinzipiell in Frage zu stellen. Es lassen sich also drei miteinander verbundene Ebenen von Identifikationsprozessen unterscheiden, mit denen Armenier in der Diaspora ringen, wenn sie eine kohärente und stabile armenische Identität herbei reden und handeln: Die Ideologie des Askabahbanum als ein Metanarrativ über armenische Identität, das in der gesamten armenischen Diaspora die Vorstellung ei33

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ner primordialen, essentialistischen armenischen Identität entwirft. Diese ideologischen Vorstellungen werden bei Veranstaltungen in der Gemeinde und in der Familie intergenerationell übertragen werden soll. Die Praxis des Opfer-Bringens als handlungsorientierte Identifikation mit diesem Konzept, die von performativen hybriden Handlungen geprägt ist, mit denen sich Armenier einerseits versichern, dass es prinzipiell eine Essenz armenischer Identität gibt, die sie jedoch aufgrund der Lebenssituation in der Diaspora niemals vollständig bewahren können. Und Nootropia, Mentalität, die sich auf die Identifikation mit der gelebten Erfahrung von Lokalität bezieht. In diesem Spannungsverhältnis multipler Identifikationen wird Gemeinschaft in der armenischen Diaspora hergestellt. Dabei ist es paradoxerweise die Erinnerung an den Genozid, eine Erfahrung absoluter existentieller Bedrohung und biographischer Brüche, die den Referenzpunkt für die Konstruktion einer stabilen und kontinuierlichen armenischen Identität darstellt. Dieses vermeintlich paradoxe Verhältnis zwischen armenischer Identitätsarbeit und Erinnerungsarbeit an den Genozid werde ich in den nächsten Kapiteln näher untersuchen. Zunächst diskutiere ich im nächsten Kapitel mein methodisches Vorgehen während der Feldforschung.

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2

METHODE UND FELDFORSCHUNGSPRAXIS

Identitäten in der Diaspora sind von multiplen überlokalen und transnationalen Beziehungen und Bindungen zu Orten beeinflusst. Diese sind sowohl symbolischer als auch physischer Natur. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die ethnologische Forschungspraxis. Denn diese sollte die Relevanz der multiplen Beziehungen für lokale Sinnkonstruktionen in einer spezifischen Diasporagemeinschaft in die Untersuchung einbeziehen (vgl. Dracklé 1999; Fog Olwig/Hastrup 1997; Marcus 1995; Welz 1998). Auf theoretischer Ebene sind die methodologischen Konsequenzen, die sich aus diesem Postulat ergeben, ausführlich debattiert worden (vgl. Appadurai 1990; ders. 1991; Clifford 1994; Gupta/Ferguson 1992, 1997; Haraway 1991; Hannerz 1992). Dabei ist der stationären Feldforschung vorgeworfen worden, sie habe durch ihre Konzentration auf lokal begrenzte Untersuchungseinheiten die Erforschten einseitig als Ansässige und Sesshafte konstruiert, deren Identitäten vor allem durch lokal-gebundene und immobile „Kommunikationsgesmeinschaften“ beeinflusst seien (Welz 1998: 192). Diese Forschungspraxis habe außerdem zu einer Vernachlässigung der Gruppen geführt, deren Identitäten durch Grenzüberschreitungen und Mobilität geprägt seien. Um diese einseitige Begrenzung auf die Bedeutung von Lokalität und Sesshaftigkeit aufzulösen, haben einige Ethnologinnen und Ethnologen gefordert, Mobilität, Grenzüberschreitungen und Globalität zu konzeptionellen Ausgangspunkten ethnologischer Untersuchungen zu machen. (vgl. Gupta/ Ferguson 1992, 1997; Fog Olwig/Hastrup 1997).16 Waltraud Kokot (2000: 192) wirft dagegen kritisch ein, dass in diesen Diskussionen die ethnologische Untersuchungstradition zu nicht-sesshaften Gruppen nicht berücksichtigt sei und das „Feld“ ethnologischer Untersuchungen schon längst als Metapher „im Sinne eines Geflechts von Verbindungen und Austausch“ konzeptionalisiert würde. Zu der Frage, wie dieses Feld aus multiplen Beziehungen und Ortsbezügen forschungspraktisch in seiner ganzen Komplexität untersucht werden kann, gibt es gemessen an den reichhaltigen theoretischen Debatten wenig methodische Diskussionen. Eine Ausnahme bildet George Marcus (1995) Artikel „Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“17. Dort entwirft Marcus eine Forschungspraxis, die nicht länger auf ei16 17

Für einen ausführlichen Überblick über diese Diskussionen siehe auch Bräunlein/Lauser 1997; Ackermann 1997: 14-21. An Marcus‘ Multi-Sited Ethnography orientiert sich auch Gisela Welz (1998) in ihrem Methodenartikel „Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitäts-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

nen stationären Forschungsort fokussiert bleibt, sondern mobil werden und sich unterschiedliche Forschungsfelder (sites) erschließen muss. Im Folgenden werde ich Marcus Wortschöpfung „Multi-Sited Ethnography“ beibehalten, da damit die Komplexität von Forschungsfeldern, die in Orten, aber auch in nicht lokalisierbaren Forschungsfeldern wie z.B. dem Internet oder transnationalen symbolischen Beziehungen bestehen können, ausgedrückt werden kann. George Marcus (1995) sieht prinzipiell zwei Möglichkeiten eine MultiSited Ethnography forschungspraktisch umzusetzen. Die erste Möglichkeit bestehe in der Verfolgung der Spuren und Pfade, die eine Verbindung zwischen den einzelnen sites der Forschung entstehen lassen. Als zweite Möglichkeit bezeichnet er die Gegenüberstellung verschiedener Orten, wobei der Fokus jedoch auf deren Verbindung liegt. Dabei werden die Orte nicht als homogene, abgeschlossene Untersuchungsfelder oder Gruppen von Menschen gedacht, sondern untersucht werden die Beziehungen, Verbindungen und auch Transformationen von Bedeutungen, die zwischen diesen Orten bzw. sozialen Gruppen bestehen und konstruiert werden. Der komparative Anspruch besteht nicht darin, alle Orte mit der gleichen Intensität und den gleichen Methoden zu untersuchen. Vielmehr betont Marcus, dass eine Multi-Sited Ethnography auf alle Fälle ein Produkt von Wissen unterschiedlicher Intensität und Qualität darstelle, da sich das methodische Vorgehen und die Fragestellungen je nach Forschungsgegenstand zwangsläufig veränderten. Die besondere Leistung der Multi-Sited Ethnography, so argumentiert Marcus weiter, bestehe darin, die Beziehungen zwischen den einzelnen sites auf der Basis von ethnographischem Material nachzuweisen (ders. 1995: 100-102). Dabei werden globale Prozesse nicht als Einflüsse gedacht, die von außerhalb auf das Untersuchungsfeld einwirken und dieses beeinflussen. Vielmehr bestehe das Forschungsinteresse gerade darin, an einem oder mehreren strategisch situierten Forschungsorten zu untersuchen, wie sich handlungsfähige Subjekte mit ihrem lokal produzierten Wissen zwischen dem Lokalen und Globalen positionieren. Damit sei jede strategisch situierte Ethnographie nicht nur eine Untersuchung lokaler Sinnkonstruktionen, sondern gleichzeitig auch globaler Entwicklungen (ders. 1995: 111-112). Beide Vorgehensweisen, die Verfolgung von Spuren und Pfaden und die Gegenüberstellung von Forschungsorten, sieht George Marcus als sich gegenseitig ergänzende Techniken, mit denen in einer Mult-Sited Ethnography der Untersuchungsgegenstand definiert wird:

druck“. Dorle Dracklé beschreibt die Feldforschungspraxis in ihrer „Ethnographie zur kulturellen Poetik von Politik, Bürokratie und virtueller Ökonomie in Südportugal“ als Spurensuche beschreibt. Bei dieser Spurensuche konzentrierte sie sich „in Ergänzung der bekannten ethnographischen Methoden (...) auf das Dazwischen“, (1999: 54) in dem sie in Anlehnung an Marcus den Pfaden von Menschen, Dingen, Geschichten, Metaphern und Konflikten folgte (dies. 1999: 58-61).

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METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS „These techniques might be understood as practices of construction through (preplanned and opportunistic) movement and of tracing within different settings of a complex cultural phenomenon given an initial, baseline conceptual identity that turns out to be contingent and malleable as one traces it.“ (Marcus 1995: 106)

Dieses Zitat charakterisiert die Art und Weise, wie in meiner Feldforschung verschiedene Vorgehensweisen ineinander griffen. Im Folgenden diskutiere ich, wie ich das Postulat nach einer mobilen Forschungspraxis in meiner Feldforschung umgesetzt und gleichzeitig mit der Stärke der Ethnologie, der Erforschung lokaler Sinnkonstruktionen durch den längeren Feldaufenthalt, verbunden habe. Wie ich bereits im einführenden Kapitel argumentiert habe, wird in der gegenwärtigen Debatte um Diaspora die Bedeutung von Sesshaftigkeit und Lokalität für Identitätsprozesse zu Gunsten einer Betonung von Mobilität heruntergespielt. Meine Forschungserfahrung und -ergebnisse dagegen zeigen gerade, welche Bedeutung Lokalität für die Erforschung von Identitäts- und Erinnerungsarbeit in der armenischen Diaspora hatte. Die Konsequenzen, die sich daraus für die ethnologische Untersuchung von Diaspora ergeben, werde ich unter Punkt 2.3 diskutieren. Außerdem gebe ich in diesem Kapitel einen kurzen Überblick über die Durchführung von Datenerhebung, Transkription und Auswertung der Daten sowie über die Materiallage und zur Zitierweise aus Interviews.

2.1

Kritische Reflexionen zur Forschungspraxis einer Multi-Sited Ethnography

Die erste Station meiner Forschung – die armenische Paroikia in Thessaloniki – war ein strategisch positioniertes Forschungsfeld im Marcus‘schen Sinne, mit dem armenische Identitäts- und Erinnerungsarbeit in der Diaspora am Beispiel von Thessaloniki untersucht werden sollte. Im Gegensatz zu Forschungsfeldern, die sich aus unerwarteten und glücklichen Entdeckungen ergeben (Diedrich 1999: 2), führte eine Reihe von strategischen und pragmatischen Erwägungen zur Auswahl der armenischen Gemeinde von Thessaloniki. Da meine Forschung im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes stand, war die Entscheidung für die armenische Paroikia von der Praxis der Drittmittelvergabe beeinflusst. Für die Auswahl der armenischen Diaspora in Griechenland sprach, dass es zum einen ein bislang noch nicht erforschtes empirisches Phänomen war, bei dem es sich zweitens trotz aller definitorischen Unschärfen des Konzeptes Diaspora in der Fremd- und Selbstwahrnehmung um eine Diaspora handelte. Thessaloniki war als Untersuchungsort auch deswegen geeignet, da ich dort bereits 1990/1991 eine Feldforschung für meine Magisterarbeit durchgeführt hatte (Schwalgin 1995) und daher auf griechische Sprachkenntnisse, Kontakte und ethnographisches Wissen zurückgreifen konnte. Die sonst übliche Orientierungsphase konnte daher entfallen. 37

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Zu Beginn meiner Feldforschung in Thessaloniki interessierte ich mich insbesondere für den Zusammenhang zwischen der dominanten und kollektiven Identitätsarbeit armenischer Aktivisten und Institutionen einerseits und den Konstruktionen armenischer Identität, die aus individueller Perspektive artikuliert wurden, andererseits. Durch die Existenz einer institutionalisierten Gemeinde, die an einem Ort lokalisiert war, fiel mir die erste Kontaktaufnahme leicht. Die armenische Paroikia in Thessaloniki war mit 1.200 offiziellen Mitgliedern, von denen jedoch nur ungefähr die Hälfte regelmäßig in Erscheinung trat und einem kleinen Kern von Aktivisten überschaubar. Dies gab mir zunächst das Gefühl, es mit einem klar abgegrenzten Forschungsfeld zu tun zu haben, das ich mir umfassend erschließen konnte. Da ich mich für kollektive Identitätsarbeit und ihre zentralen Akteure, armenische Aktivisten, interessierte und es ohnehin ein emisches Konzept von Führerschaft in der Paroikia gab, wählte ich zunächst einen offiziellen Zugang über die Institution Gemeinde. Die diversen organisierten Aktivitäten der Paroikia boten außerdem viele Gelegenheiten zur teilnehmenden Beobachtung und damit auch zur Kontaktaufnahme zu weiteren Personen. Im weiteren Verlauf der Feldforschung erweiterte ich dann den Kreis meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Nun standen verstärkt Interviews mit Personen im Vordergrund, die nicht zum engeren Kreis der Aktivisten gehörten. Außerdem interessierte ich mich auch keineswegs nur für diejenigen, die sich mit der institutionalisierten Paroikia identifizierten, sondern für alle in Thessaloniki lebenden Personen, die sich als Armenierinnen und Armenier wahrnahmen und/oder wahrgenommen wurden. Dennoch, meine ursprüngliche Idee, die institutionalisierte Gemeinde nur als Ausgangsort zu nutzen, konnte ich nicht umsetzen. Zwar versuchte ich Wege aus der Paroikia zu finden, indem ich die Vermittlung von aktiven Gemeindemitgliedern in Anspruch nahm. Außerdem suchte ich Kontakte zu Armeniern außerhalb der Gemeinde auf eigene Faust, indem ich Geschäfte, an denen armenische Namen18 standen, aufsuchte und versuchte, mit den Inhabern ins Gespräch zu kommen. Alle diese Versuche scheiterten jedoch aus Gründen, über die ich folgende Vermutungen habe. Zum einen reagierten Armenierinnen und Armenier, die ich auf diese Weise kennen zu lernen versuchte, misstrauisch oder zumindest verwundert auf mein Anliegen, mit ihnen über Armenischsein sprechen zu wollen. Sie argumentierten, dass ihre armenische Herkunft für sie keine Relevanz mehr habe. Personen, die ich auf Vermittlung anderer ansprach, waren zwar meist bereit mit mir zu reden, betonten jedoch ebenfalls, dass Armenischsein keine Bedeutung für sie habe. Sie verfielen häufig in eine Art Rechtfertigungsrede darüber, warum sie und ihre Eltern zu „verlorenen Armeniern“ (chamenoi) geworden waren und verwiesen mich zurück auf die Paroikia. Daher ist dieses Buch eine Ethnographie über diejeni18

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Da armenische Namen in der Regel auf der Silbe -ian enden, fiel es mir leicht im Geschäftszentrum der Stadt Geschäfte mit „armenischen“ Eigentümern ausfindig zu machen.

METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

gen Armenier und Armenierinnen, die zumindest partiell bereit waren sich mit der institutionalisierten Gemeinde und ihren Identitätspolitiken zu identifizieren. Meine Forschung blieb aber auch in anderer Hinsicht auf die Paroikia zentriert. Denn in erster Linie waren mir die Bereiche der Alltagspraxis zugänglich, die sich auf Aktivitäten in der Paroikia oder auf Veranstaltungen, die von der Paroikia organisiert worden waren, bezogen. Lebensbereiche außerhalb dieser Institution wie z.B. Familie, Arbeitsplatz, Schule, Universität und soziale Beziehungen zu Armeniern und Griechen außerhalb der Paroikia blieben meiner teilnehmenden Beobachtung, bis auf wenige Ausnahmen, versperrt. Dieses methodische Problem hätte ich eventuell lösen oder zumindest entschärfen können, wenn mir mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Neun Monate Feldforschung waren jedoch zu knapp bemessen. Der Gefahr aufgrund der Paroikia-Zentriertheit meiner Forschung diese als homogene und klar abgegrenzte ethnische Enklaven zu präsentieren, wirkte ich durch konzeptionelle Überlegungen entgegen, die ich bereits in der Einführung ausführlich erläutert habe (vgl. Kapitel 1.2): x Erstens verstand ich die Paroikia nicht als eine homogene Einheit, sondern als eine heterogene Gruppe von Menschen, die sich im Bezug auf Alter, Geschlecht, Klasse, politische Orientierung und persönliche Erfahrungen voneinander unterscheiden. Dass sie sich trotz aller Differenzen mit einer armenischen kollektiven Identität identifizieren, sehe ich als das Ergebnis einer kollektiven und subjektiven Identitäts- und Erinnerungsarbeit an, mit denen Gemeinsamkeit im Hinblick auf geteilte Erfahrungen konstruiert und Differenzen verschwiegen oder aber negiert werden. In meiner Forschung konzentrierte ich mich also nicht nur auf das, was Armenier als gemeinschafsstabilisierend wahrnahmen, sondern gerade auch auf Differenzen, Konflikte und Spaltungen. x Zweitens unterschied ich zwischen Diaspora als emischem und als analytischem Konzept. Ich verstehe Diaspora im Gegensatz zu meinen armenischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern nicht als Synonym für eine spezifische historische Erfahrung oder eine soziale Formation im Sinne einer homogenen armenischen „Nation im Exil“. Vielmehr fasse ich Diaspora als einen konkurrenzgeladenen, kulturellen und politischen Raum auf, in dem individuelle und kollektive Erfahrungen und Erinnerungen aufeinanderprallen, zusammengefasst und zu einer kollektiven Identität gebündelt werden. Diasporaraum bezeichnet dabei zum einen die von Machtstrukturen beeinflussten multiplen Beziehungsnetzwerke zwischen Menschen und Gruppen und zum anderen die Orte, die zu Referenzpunkten für konkrete soziale und imaginierte Beziehungen werden. Wie ich anschließend erläutern werde, habe ich diese überlokalen Beziehungsnetzwerke und Bezugsorte in meine Untersuchung einbezogen.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

x Drittens ging ich davon aus, dass Identitätsprozesse in der Diaspora sich dadurch auszeichnen, dass sie sich gleichzeitig auf Identifikationsmomente unterschiedlicher Dimensionen (z.B. ethnische, politische, verwandtschaftliche etc.) beziehen können (vgl. Sökefeld 1997: 350-351). Dieses Navigieren zwischen verschiedenen Identifikationsmomenten verläuft manchmal bewusst und oft unbewusst. Mir war bewusst, dass mir aufgrund des Paroikia-Fokus meiner Forschung vor allem die Facetten der multiplen Identifikationen zugänglich waren, die von meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern als „armenisch“ wahrgenommen wurden. Hätte ich ausschließlich einen autobiographischen, personenzentrierten Forschungsansatz gewählt, dann hätten Erzählungen und performative Handlungen, mit denen Armenischsein (re)produziert wurde, vermutlich weniger im Vordergrund gestanden. Andererseits war der Fokus auf die institutionalisierte Gemeinde notwendig, um das Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit zu beleuchten. Von Thessaloniki ausgehend erschloss ich mir langsam den Diasporaraum meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Dabei erwiesen sich ihre vielfältigen und konflikthaften Beziehungen zu zwei Orten als besonders zentral: zur Paroikia in Athen und zum Heimatland Armenien. Die Paroikia von Thessaloniki war in ein hierarchisch strukturiertes Beziehungsgefüge armenischer Diasporagemeinden weltweit eingebunden. Athener Aktivisten behaupteten, die Definitionsmacht über die Identitätsarbeit in Thessaloniki auszuüben. Armenier in Thessaloniki dagegen hatten ein gespaltenes Verhältnis zur Athener Paroikia. Einerseits fühlten sie sich unterlegen, da Armenier dort viel armenischer seien. Andererseits empfanden sie sich von den Athener „Fanatikern“ gegängelt, die keinerlei Verständnis für ihre lokal spezifische, aber dennoch nicht weniger „armenische“ Identität hatten. Um einerseits den Einfluss Athener Führungseliten auf lokale Identitätspolitiken zu untersuchen und andererseits das lokalspezifische der Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der Diaspora herauszuarbeiten, folgte eine weitere achtmonatige stationäre Feldforschung in Athen. Ein weiterer Ort, den ich in meine Forschung einbezog, war die Republik Armenien. Diese wurde von meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern als Heimatland wahrgenommen. Die nationale Unabhängigkeit Armeniens 1991 hatte weitreichende Konsequenzen für Armenier in Griechenland. Denn erstens wanderten seitdem Migranten aus Armenien ein und konfrontierten die „einheimischen“ Armenier mit abweichenden Vorstellungen von Armenischsein, die den ihren meist völlig zuwiderliefen. Andererseits hatte die veränderte politische Situation nach der Unabhängigkeit zu einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen dem Heimatland und der Diaspora geführt. Dieser Prozess setzte auch eine Re-Definition des Konzeptes von Diaspora und Identität in der armenischen Diaspora in Gang. In einem einmonatigen Forschungsaufenthalt in Jerewan/Armenien ging ich daher der Frage nach, wie offizielle Regierungsvertreter die Beziehung Heimatland/Diaspora 40

METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

definierten. Außerdem wollte ich diese Heimat, die mir sowohl von Migranten als auch „Einheimischen“ in den leuchtendsten Farben beschrieben worden war und deren Symbolisierungen mir in der Paroikia und jedem armenischen Privathaus in Form von Bildern, Fotos, Kalenderblättern und Skulpturen auf Schritt und Tritt entgegen blickten, selbst in Augenschein nehmen. Sehr gerne hätte ich mich der von der Paroikia organisierten Gruppenreise nach Armenien angeschlossen, um Armenier aus der Diaspora bei ihrer zumeist ersten Konfrontation mit dem Gegenstand ihres homing desires zu begleiten. Diese Idee konnte ich leider nicht realisieren, da die Gruppenreise für mein Budget viel zu teuer war. Die Umsetzung einer Multi-Sited Ethnography ist eben auch von den finanziellen Mitteln abhängig, die dafür zur Verfügung stehen. Selbst während meiner stationären Feldforschung in Thessaloniki war ich natürlich mobil. Ich bewegte mich im Stadtgebiet von Thessaloniki, um meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu Hause aufzusuchen oder um in griechischen Institutionen Aufschluss über die rechtliche und politische Situation der Paroikia zu erhalten. Außerdem nahm ich an allen von der Paroikia organisierten Ausflügen und Fahrten teil, die zu Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, zu anderen armenischen Gemeinden und für zwei Wochen in das Ferienlager für die Kinder auf der nahe gelegenen Halbinsel Chalkidiki führten. Darüber hinaus verfolgte ich die konflikthaften Beziehungen innerhalb der Paroikia in anderen zeitlichen und räumlichen Kontexten durch Recherchen armenischer Websites im Internet und die Auswertung aktueller und historischer armenischer Printmedien. In Athen führte die Ausdehnung meiner Feldforschung auf eine MultiSited Ethnography dazu, dass ich mich zunächst noch stärker auf die Institution der Paroikia fokussierte als in Thessaloniki. Darüber hinaus wurde mir dort der Einfluss von Lokalität auf die Feldforschungspraxis und armenische Identitäts- und Erinnerungsarbeit besonders deutlich. Während ich in Thessaloniki zu möglichst vielen Personen, auch außerhalb der Paroikia, Kontakt gesucht hatte, interessierte ich mich in Athen, auch wegen der Kürze der Zeit, insbesondere für einen ganz bestimmten Personenkreis: Personen, die führende Positionen in der Hierarchie der Paroikia einnahmen und als Führer gesehen wurden. Da es in der armenischen Diaspora in Griechenland ein klares Konzept von Hierarchien, Gefolg- und Führerschaft gibt, fiel es mir nicht schwer herauszufinden, wer zu diesem Personenkreis gehörte. Die Kontaktaufnahme und der Aufbau von Beziehungen zu diesen Führern waren jedoch in unterschiedlicher Weise problematisch. Aktivisten der zentralen Institutionen wie Parteien und Kirchen nahmen zumindest verhältnismäßig regelmäßig an Veranstaltungen der verschiedenen Kirchengemeinden der Athener Paroikia teil. Angehörige der intellektuellen und ökonomischen Eliten waren dagegen kaum über die Veranstaltungen erreichbar. In diesen Fällen kam ein Kontakt durch Vermittlung mir bereits bekannter Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zustande. Häufig bestand daher nicht die Möglichkeit, vor einem offiziellen Interviewtermin ein erstes Kennenlernen zu initiieren. Die Interviews, die ich mit diesen Personen führte, hatten daher einen deutlich offi41

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

zielleren Charakter als Interviews mit Personen, zu denen ich vorher bereits einen Kontakt aufbauen konnte. Wie die unterschiedlichen Forschungsfelder Thessaloniki und Athen meine Beziehungen zu Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern und meine Positionierung im Feld beeinflussten, möchte ich an dieser Stelle etwas ausführlicher erläutern.

2.2 Positionierung im Feld Die Positionierung der Ethnographin im Feld wurde für die traditionelle stationäre Feldforschung als ein quasi natürlicher Sozialisationsprozess beschrieben. Dieser wurde als erfolgreich betrachtet, wenn die Ethnographin nach einer ersten Phase des Kulturschocks das nötige kulturelle Wissen erworben hatte, um sich ohne kulturelle Missverständnisse und Misstrauen der Einheimischen quasi natürlich in ihrem Forschungsfeld zu bewegen. Bis zur so genannten reflexiven bzw. interpretativen Wende war damit die Vorstellung der Übernahme einer im Feld bereits vorhandenen sozialen Rolle verbunden, um den Forschungsverlauf möglichst wenig zu beeinflussen. Seitdem geht man davon aus, dass Feldforschung grundsätzlich ein dialogischer Prozess ist, an dem wir ebenso wie die von uns Erforschten aktiv beteiligt sind. Diesen Prozess beeinflussen wir jedoch nicht nur durch unsere bloße Anwesenheit, sondern auch durch unsere Wahrnehmung, die von Erfahrungen und Interpretationen geprägt ist. Um nicht unbewusst eigene Vorannahmen und Interpretationen zu reproduzieren, ist die fortwährende Selbstreflexion über die Positionierungen, Identifikationen und Dis-Identifikationen im Feld ein zentraler Bestandteil jeder Feldforschung (Davies 1999). George Marcus (1995: 111-112) argumentiert, dass die Multi-Sited Ethnography aufgrund der sich ständig verändernden Forschungsfelder ein besonders hohes Maß an Reflexivität voraussetzt, die gleichzeitig einen wichtigen methodischen Zugang darstellt. Denn die Multi-Sited Ethnography mache sehr bewusst, dass sich die Forscherin in einem Raum – in meinem Fall in einem Diasporaraum – positionieren muss. Dieser Raum bewege sich ständig zwischen öffentlichen und privaten und zwischen elitären, offiziellen und marginalen, subalternen Kontexten. Besonders stark empfand ich diese Herausforderung der fortwährenden Positionierung in den verschiedenen sozialen Kontexten, die den Raum meiner Feldforschung in Athen ausmachten. Dort bewegte ich mich einerseits in der offiziellen und öffentlichen Domäne politischer Aktivisten der Athener Paroikia. Viele von ihnen lernte ich erst anlässlich des telefonisch verabredeten Interviews kennen, in dem sie mir in ihrer Eigenschaft als offizielle Vertreter von Partei und Kirche offizielle Repräsentationen der Paroikia präsentierten. Manchmal waren damit auch moralische Anforderungen an mich verbunden, wie zum Beispiel die Aufforderung im Sinne ihrer politischen Ideologie über den Genozid zu schreiben. Andererseits hatte ich sehr enge und private Beziehungen zu zwei Familien, bei denen meine Rolle als Feldforscherin für sie und mich immer mehr in den 42

METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

Hintergrund getreten war. Meist waren wir „einfach nur so“ zusammen und dennoch habe ich gerade durch sie so „ganz nebenbei“ ein tieferes Verständnis über die Themen und Fragen gewonnen, die für mich damals zentral waren. Diese Möglichkeit, jederzeit nachfragen und die eigene Wahrnehmung diskutieren zu können, blieb mir auch nach der „Rückkehr“ aus dem Feld durch Besuche, Telefonate und Briefe erhalten. Die Intimität und Privatheit unserer Beziehungen stellte mich oft vor ethische Dilemmata und forschungspraktische Probleme. Da meine Rolle als Forscherin weder ihnen noch mir ständig präsent war, erfuhr ich zum Beispiel von internen Spannungen und Problemen in der Paroikia und den Parteien, die man einer Odar (Fremden) und Außenstehenden niemals mitgeteilt hätte. Aus ethischen Gründen habe ich diese Informationen und Gespräche zwar nicht in meinen Feldnotizen protokolliert, dennoch hat mein Wissen darüber die Interpretation meiner Daten nachhaltig beeinflusst. Die hier für meine Athener Forschung exemplarisch beschriebene Bewegung zwischen unterschiedlichen Forschungskontexten hatte weitreichende Konsequenzen für meine Identität als Ethnographin. Ich empfand meine Forschung als einen konstanten Prozess der Positionierung in sich ständig verändernden Feldern sozialer Beziehungen, in denen Identifikationen, Abgrenzungen, Affinitäten und Distanz mit ständig wechselnden Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern immer wieder neu verhandelt werden musste (vgl. Marcus 1995: 112-113). Diese Verhandlungsprozesse und meine Reflexionen darüber beschreibe ich in den einzelnen Kapiteln.19

2.3

Zur Bedeutung von Lokalität für eine Multi-Sited Ethnography

Paradoxerweise hat gerade meine mobile Feldforschungspraxis, die verschiedene Orte einbezog, dazu geführt, die spezifische Bedeutung von Lokalität für armenische Identitäts- und Erinnerungsarbeit einerseits und die Forschungspraxis andererseits wahrzunehmen. Durch längerfristige Aufenthalte in beiden Paroikies schärfte sich mein Blick für lokale Unterschiede sowohl in den Strukturen der Paroikies als auch in der Identitäts- und Erinnerungsarbeit. Deutlich wurde auch, dass der Diasporaraum im Sinne eines Raumes von sozialen Beziehungen und Bezügen zu Orten in- und außerhalb Griechenlands in beiden Paroikies unterschiedlich gestaltet wurde. Dies hatte entscheidenden Einfluss auf die lokale Identitäts- und Erinnerungsarbeit hatte, deren lokalspe-

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Zwar gehe ich davon aus, dass die Positionierung im Feld bei jeder ethnologischen Feldforschung unterschiedliche soziale Kontexte umfasst und eine ständige Aufgabe bleibt, die im Dialog mit den Erforschten ausgehandelt werden muss (vgl. Wolff 2000: 336). Ich stimme Marcus jedoch zu, dass die sozialen Kontexte bei einer Multi-Sited Ethnography vielfältiger sind als bei einer stationären Feldforschung an einem Ort.

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zifische Unterschiede in den nächsten Kapiteln ausführlicher diskutiert werden. Im Rahmen der stationären Feldforschung galt die längerfristige physische Anwesenheit im Feld als Voraussetzung für die verstehende Untersuchung der sozialen und kulturellen Praxis der „Anderen“ (Lüders 2000: 389-396). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass längerfristige Beziehungen zu denjenigen, für deren Wissen und Sinndeutungen wir uns interessieren, auch im Rahmen einer Multi-Sited Ethnography zentral für das tiefergehende Verstehen der „Anderen“ sind. In meinen wechselnden Forschungsfeldern konnten vertrauensvolle Beziehungen nur durch eine länger andauernde Präsenz an einem Ort hergestellt werden. Denn obwohl es sich um Angehörige einer Diaspora handelte, führten die meisten von ihnen ein äußerst sesshaftes Leben. Meine Erfahrungen mit einer Multi-Sited Ethnography lassen sich daher folgendermaßen zusammenfassen: Lokalität hat keineswegs an Bedeutung verloren, weder in Zusammenhang mit der ethnologischen Forschungspraxis noch im Hinblick auf ihre Relevanz für die Konstruktion von Identitäten in der Diaspora. Längere Kontakte mit den „Anderen“ sind nach wie vor eine entscheidende Voraussetzung um vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und für das Verstehen fremder sozialer und kultureller Praktiken. Wenn diese „Anderen“, wie Armenier in Griechenland, in erster Linie ein sesshaftes Leben führen, ist die längere stationäre Feldforschung an einem Ort nach wie vor relevant. Wie in dieser Ethnographie deutlich werden wird, ist damit keineswegs eine Verengung der Forschungsperspektive auf einen isolierten lokalen Ausschnitt verbunden. Zentral für jede Art von Feldforschungspraxis, unabhängig davon ob sie eher mobil oder stationär verläuft, ist eine Perspektive, die den konkreten Ort oder das Feld der Forschung als eine von vielen möglichen Lokalisierungen des Globalen begreift (vgl. Clifford 1992: 99-100; Dracklé 1999: 53; Welz 1998: 191). Deutlich wurde jedoch auch, dass sich der Einfluss von Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora nur durch eine Feldforschungspraxis erschließen lässt, die mehr als einen Ort einbezieht. Damit steht die ethnologische Forschungspraxis jedoch vor einem Dilemma: Denn nicht jede Lokalität kann in der gleichen intensiven Art und Weise erforscht werden, sondern eine MultiSited Ethnography ist immer ein Produkt von Wissen unterschiedlichster Qualität und Intensität (Marcus 1995: 100). Häufig ist damit der Verlust einer gewissen Tiefenschärfe verbunden (Welz 1998: 191). Außerdem können die komplexen Forschungszusammenhänge einer Multi-Sited Ethnography meiner Ansicht nach nur dann angemessen untersucht werden, wenn wir nicht nur unsere Forschungstechniken kritisch hinterfragen, sondern auch den ‚LonleyCowboy-Mythos‘, der ethnologische Feldforschung nach wie vor prägt. Nehmen wir die Forderungen nach einer Multi-Sited Ethnography ernst, muss sich die Forschungspraxis von der durch Einzelpersonen durchgeführten Ethnographie weg auf eine Erforschung durch transdiziplinäre Forscherteams zu bewegen. Dies würde allerdings auch eine Bereitstellung größerer finanzieller

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METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

Ressourcen notwendig machen, als realistischerweise im Rahmen der gegenwärtigen Forschungsförderung aufgebracht werden können.

2.4 Feldforschungspraxis Bevor ich nun einige Hinweise zu den von mir angewandten Erhebungstechniken, zur Datenlage und zu meiner Vorgehensweise bei der Auswertung gebe, möchte kurz noch einmal zwei Punkte hervorheben, die charakteristisch für meinen Forschungsprozess waren. Wie oben beschrieben war meine Umsetzung einer Multi-Sited Ethnography von Phasen stationärer Feldforschung strukturiert: Von April 1996 bis Dezember 1996 forschte ich in Thessaloniki, im August 1997 war ich in Jerewan und von September 1997 bis März 1998 in Athen. Außerdem besuchte ich zwischen 1997 und 2000 Thessaloniki und Athen immer wieder zu kürzeren Aufenthalten, die manchmal jedoch bis zu zwei Monaten andauerten. Durch dieses Hin- und Herpendeln zwischen Hamburg, Thessaloniki und Athen hatte ich nicht das eindeutige Gefühl von „im Feld“ und „aus dem Feld zurück“ sein. Darüber hinaus führten alle diese Besuche zu einer Vertiefung meiner Beziehungen und gerade mein Weggehen und Zurückkommen, das von Phasen der Datenauswertung und der theoretischen Auseinandersetzung unterbrochen war, ermöglichte mir, dabei entstandene Fragen zu beantworten und meine Perspektivenwechsel empirisch zu überprüfen. Daher erscheint mir die Einteilung des Feldforschungsprozess in eindeutige Phasen von Datenerhebung im Feld, Aufbereitung der Daten z.B. durch Transkription, Ausarbeiten von Notizen, Auswertung und schließlich Schreiben der Ethnographie zu Hause als künstlich. Mit dem Abschluss der stationären Feldforschung in Athen im März 1998 verlagerte sich meine Arbeit zwar von der Datenerhebung auf die Datenaufbereitung und die Analyse des Datenmaterials am Schreibtisch in Hamburg. Dennoch hatte ich bereits während der stationären Feldforschungen immer wieder Phasen von Interpretation und Schreiben. Und auch nachdem ich mein Datenmaterial nach Hamburg gebracht hatte und es dort ordnete und interpretierte, ergaben sich immer wieder neue Fragen, die ich mit meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern per Telefon oder bei Besuchen besprechen konnte. Ich sehe meine Forschungspraxis daher als eine ständige Pendelbewegung zwischen den verschiedenen Ebenen des Forschungsprozesses. Dieser Pendelbewegung folgte auch mein Erkenntnisprozess (vgl. Davies 1999: 193-195). Im Folgenden gebe ich einige Hinweise zu den einzelnen Ebenen dieses Erkenntnisprozesses.

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Zu den Erhebungstechniken Zentrale Erhebungstechniken während der gesamten Feldforschung waren die teilnehmende Beobachtung, informelle Gespräche (alle diejenigen Konversationen, die sich zufällig ergaben) und themenzentrierte halb-strukturierte und narrative (auch lebensgeschichtliche) Interviews mit Einzelpersonen, Familien und Gruppen. Darüber hinaus führte ich zu ausgewählten Ereignissen, vor allem den Genozidgedenkritualen, intensive Einzelfallbeobachtungen durch. Neben der Anfertigung eines möglichst detaillierten Beobachtungsprotokolls dokumentierte ich die Vorbereitungen und die Nachwirkungen dieser Ereignisse und machte sie gezielt zum Thema von Gesprächen und Interviews. Internetrecherchen, Fotodokumentationen und die Archivierung von Presseberichten ergänzten diese Materialsammlungen zu einzelnen Ereignissen. In Athen nahmen außerdem Archiv-, Literatur- und Textrecherchen zur Geschichte und rechtlichen Situation der Armenier in Griechenland einen größeren Raum ein. Darüber hinaus wertete ich im Rahmen eines zweiwöchigen Forschungsaufenthaltes in Oxford armenische Zeitschriften aus den 1950er und 1960er Jahren aus, um mir auf diese Weise einen vertieften Einblick in die historische Dimension politischer Spaltungen in der armenischen Diaspora zu verschaffen. Das Kompendium der in beiden Feldforschungen erhobenen Daten umfasst daher folgende Materialien: 96 aufgezeichnete Interviews (Länge zwischen 45 Minuten und 7 Stunden20) und Interviewprotokolle, 78 Gesprächsprotokolle, 79 Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, eine Sammlung von historischen und aktuellen Photographien, Videoaufzeichnungen der Veranstaltungen der Gemeinden, Zeitungsberichte über die Paroikies, Veröffentlichungen der Vereine und Parteien sowie Kopien armenischer Printmedien und aus historischen Archiven. Zur Aufarbeitung und Auswertung der Daten Bereits während der Feldforschung leistete ich erste Vorarbeiten in Richtung einer arbeitsökonomischen Datenaufbereitung. Anstelle eines handschriftlichen Feldtagebuches führte ich eine strukturierte Dokumentation in Form von Beobachtungsprotokollen, Gesprächsprotokollen, Interviewprotokollen, Reflexionen über den Feldforschungsverlauf und das methodische Vorgehen, die alle direkt in den Computer eingegeben wurden. Zu Beginn eines jeden Protokolls wurden in einer gesonderten Spalte die Themen eingetragen, dabei wurden Begriffe verwendet, die mir zentral erschienen. Hier muss ich allerdings einschränkend anmerken, dass sich die Schlüsselbegriffe je nach Erkenntnisstand natürlich verändert und erweitert haben.

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Längere Interviews erstreckten sich meist über einen ganzen Tag und waren von Essens- und Kaffeepausen unterbrochen.

METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

Am zeit- und arbeitsintensivsten war die Transkription der Interviews. Insgesamt liegen 96 Interviews vor, von denen ich 46 Interviews als Schlüsselinterviews identifizierte und in neugriechischer Sprache und Schrift transkribierte. Schlüsselinterviews sind diejenigen Interviews, in denen zu zentralen Themen besonders ausführlich und anschaulich Stellung genommen wurde. Weitere Interviews (wie zum Beispiel Gespräche über die Strukturen der Paroikies) wurden themenspezifisch bzw. in Stichpunkten protokolliert bzw. transkribiert. Zum Teil geschah dies schon während der Feldforschungen in Vorbereitung auf weitere Interviews. Die weitere Analyse der Transkriptionen und des übrigen Datenmaterials lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen. Einige der transkribierten Interviews wurden mehrfach einer mehrschrittigen sequentiellen Inhaltsanalyse unterzogen, die mit jeweils unterschiedlichen theoretischen Fragestellungen verbunden war. Im Prinzip war meine methodische Vorgehensweise eng angelehnt an die Grounded Theory von Strauss und Glaser (Strauss und Corbin 1990). Wie bei der Grounded Theory lag meine Priorität auf der Entwicklung und nicht auf der Verifizierung analytischer Kategorien aus dem Datenmaterial. Während die Grounded Theory aber davon ausgeht, dass während des Kodierungsprozesses Theorien aus dem Datenmaterial entwickelt werden, war mein Interpretationsprozess niemals frei von theoretischen Annahmen (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995: 142-144). Weitere Hinweise zum Vorgehen bei der Interpretation der Daten gebe ich in den einzelnen Kapiteln. Zur Verwendung von Sprache(n) während der Feldforschung Meine Kommunikation mit Armeniern in Thessaloniki und Athen fand in Griechisch statt. Zu Beginn meiner Feldforschung in Thessaloniki hatte ich mich zunächst darum bemüht, Armenisch zu lernen. Schon die erste Reaktion meines Ansprechpartners, dem Vorsitzenden des dortigen Armeniki Ethniki Epitropi (Armenisches Nationalkomitee), zeigte mir, dass dies keineswegs ein leicht zu erfüllendes Anliegen sein würde: In Thessaloniki gebe es niemanden, der mich privat in Armenisch unterrichten könne. Die einzige Möglichkeit Armenisch zu lernen bestand darin, die Sprachkurse zu besuchen, die der Priester der Gemeinde für Erwachsene anbot. Der Unterricht erfolgte jedoch sehr unregelmäßig und erstarb nach kurzer Zeit ganz. Obwohl Griechisch die Alltagssprache der Armenier in Thessaloniki war und Armenisch meist nur in formalisierter, ritualisierter Form (Begrüßungsfloskeln, Phrasen) oder in bestimmten Kontexten (Gottesdienst auf Hocharmenisch, Vorstandssitzungen des Gemeinderates, Kinderferiencamp) verwendet wurde, war Sprache eines der zentralen Symbole armenischer Identität und damit von Zugehörigkeit. Dementsprechend wirkten die rudimentären Grundkenntnisse, die ich mir während des Sprachunterrichts aneignete wie „Zauberworte“ auch auf reser-

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vierte Gesprächspartner. Griechisch blieb jedoch die Sprache der gemeinsamen Kommunikation in Gesprächen und Interviews.21 In Athen dagegen bedauerte ich oft, dass meine Armenischkenntnisse trotz des Privatunterrichts, mit dem ich in Athen begonnen hatte, dürftig waren. Im Gegensatz zu Thessaloniki gab es dort armenische Grund- und weiterführende Schulen, so dass selbst die junge Generation über bessere Armenischkenntnisse verfügte. Außerdem hatte es in Athen bis zu Beginn der 1960er Jahre Wohnviertel mit einem sehr hohen armenischen Bevölkerungsanteil gegeben. Viele Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die zwischen 1922 und 1950 geboren worden waren, waren zunächst in einem primär armenischsprachigen Umfeld aufgewachsen und sozialisiert worden. Auch die Zuwanderung von Armeniern aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens in den 1970er und 1980er Jahren hatte, zumindest innerhalb der Institutionen, zu einem „Revival“ der armenischen Sprache geführt. Auch wenn für mich in Athen bessere Armenischkenntnisse in vielen Kontexten hilfreich gewesen wären, gab es dennoch kaum Kommunikationsprobleme, da alle meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auch Griechisch sprachen. Eine Ausnahme bildeten Migrantinnen und Migranten, die seit 1991 aus der Republik Armenien nach Athen und Thessaloniki zugewandert waren. Obwohl meine Untersuchung schon allein durch ihre Zentriertheit auf die Paroikies in erster Linie auf „einheimische“ Armenierinnen und Armenier fokussiert blieb, hätten bessere Armenischkenntnisse sicherlich zu vertieften Kontakten geführt. Diese Sprachkenntnisse hätte ich mir jedoch nur in Armenien aneignen können, da sich das in der Republik Armenien gesprochene Ostarmenisch vom Westarmenisch der Diaspora deutlich unterscheidet. Aber auch in diesem Fall gelang es mir Schlüsselinformantinnen und –informanten zu finden, mit denen ich in Griechisch kommunizieren konnte. Auch wenn ich das Sprachproblem während meiner Feldforschung zufrieden stellend lösen konnte, so verweist es doch auf ein grundsätzliches Problem, das im Rahmen einer Multi-Sited Ethnography auftreten kann. Die Übersetzung kultureller Idiom bleibt auch im Rahmen einer Multi-Sited Ethnography eine zentrale Aufgabe der Ethnographin. Dies setzt jedoch eine sehr komplexe Sprachfähigkeit voraus, denn die Ethnographin muss ständig zwischen mehr als zwei Sprach- und Wissensebenen übersetzen. George Marcus (1995: 100-101) weist daraufhin, dass es daher kein Wunder sei, wenn Beispiele für eine Multi-Sited Ethnography meist auf einen monolingualen – den angloamerikanischen – Kontext beschränkt blieben. Zur Zitierweise des Datenmaterials Bei Zitaten aus den Interviewtranskriptionen, Auszügen aus Interview-, Gesprächs- und Beobachtungsprotokollen geben die Quellenangaben Aufschluss 21

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Nur die Interviews mit Regierungsvertretern in Armenien führte ich in Englisch.

METHODE UND FORSCHUNGSPRAXIS

über die Nummer der jeweiligen Datenart, das Datum der Aufnahme und die Seitenzahl. Alle Interviewauszüge zitiere ich in meiner Übersetzung. Diese beinhaltet, wie jede Übersetzung, gleichzeitig eine erste Interpretation des Datenmaterials. Verwendeten meine Gesprächspartnerinnen Begriffe, die mit kulturspezifischen Konzepten verbunden waren und daher nicht ohne weiteres übersetzt werden konnten, habe ich entweder Erläuterungen zur Übersetzung in Fußnoten beigefügt und/oder bei besonders zentralen Begriffen das griechische bzw. armenische Wort verwendet. Darüber hinaus habe ich mich bemüht, die umgangssprachliche Rede meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wiederzugeben, sie jedoch gleichzeitig den Gepflogenheiten der deutschen Sprache anzupassen. Da ich keine ethnolinguistische Analyse meiner Interviews mache, halte ich diese Veränderungen für gerechtfertigt. Abgesehen davon lässt sich die ursprüngliche Gesprächssituation ohnehin nur bedingt konservieren. Bereits die Tonbandaufnahme wirkt verändernd; meine Transkription stellt einen weiteren Eingriff dar und die Auswahl der in diesem Buch zitierten Interviewpassagen untermauert meine Interpretationen. Die Schreibweise griechischer und armenischer Begriffe folgt den üblichen Transliterationen. Nachdem ich in diesem Kapitel die Paroikies Thessaloniki und Athen aus der Perspektive meines methodischen Vorgehens schon kurz vorgestellt habe, folgt in den nächsten beiden Kapiteln eine tiefere Einführung in die historische Entwicklung und aktuelle Situation beider Orte meiner Feldforschung. Diese beiden Kapitel bilden den Kontext für meine Analyse der kollektiven und individuellen Erinnerungsarbeit an den Genozid in den Kapiteln 5 und 6.

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V O N E I N E R „N A T I O N I M E X I L “ Z U E I N E R DIASPORISCHEN MINDERHEIT: LOKALE GESCHICHTE(N) DER PAROIKIES

Armenier und Armenierinnen in Griechenland verstanden ihre Gemeinschaft in der Diaspora als eine „Nation im Exil“. Wie diese „Nation im Exil“ nach der massenhaften Ankunft armenischer Flüchtlinge 1922 entstand, sich entwickelt hat und wie ihre Kontinuität bis heute herbei geredet wird, darum soll es in diesem Kapitel gehen. Meine Darstellung basiert auf Erinnerungserzählungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die unter zwei Gesichtspunkten analysiert werden: Als Quellen einer Oral History der Paroikies und als Erzählungen, mit denen Armenier und Armenierinnen die Vorstellung einer historisch kontinuierlichen kollektiven Identität und Gemeinschaft, einer „Nation im Exil“, produzierten, also als Identitätsarbeit. Im Sinne einer Oral History22 geben die Erinnerungserzählungen Aufschluss über die Entstehung einer armenischen Diaspora in Griechenland und ihre historische Entwicklung bis zum Zeitpunkt meiner Feldforschung. Darüber hinaus dokumentieren sie die marginalisierten Lebensumstände armenischer Flüchtlinge in den Jahren nach der Flucht und den langsamen Integrationsprozess ihrer Nachfahren in den griechischen Nationalstaat. Dabei fokussiere ich meine Darstellung auf die Entwicklungen und Ereignisse, die für das 22

Da es kaum historische Grundlagenforschung zur armenischen Diaspora in Griechenland gibt, war die Rekonstruktion der lokalen Geschichte(n) ein wichtiges Anliegen während meiner Feldforschung. Neben den Erinnerungserzählungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner habe ich folgende Materialien gesammelt, um mein Bild über die historische Entwicklung der Paroikies abzurunden: Zu den Lebensbedingungen der – in erster Linie griechischen – Flüchtlinge von 1922, ihren Einfluß auf sowie ihre Integration in die griechische Gesellschaft liegen historische und soziologische Studien, zeitgenössische Berichte von Hilfsorganisationen und Informationen von den Flüchtlingen selber vor, die seit den 50er Jahren systematisch vom Institut für Kleinasiatische Studien in Athen gesammelt wurden (z.B. Carabott 1986; Markham 1925; Pelagidis 1997; Pentzopoulos 1962). Darüber hinaus habe ich Berichte von internationalen Hilfsorganisationen gesammelt, die sich explizit auf die Lage der zunächst staatenlosen armenischen Flüchtlinge vor dem Hintergrund der allgemeinen Flüchtlingsproblematik im Griechenland der 20er und 30er Jahre beziehen (Alden 1925; Nansen 1923; Societé de Nation 1927; Simpson 1939). Eine tiefergehende Auswertung des historischen Materials und der Interviews im Sinne einer Oral History würde den Rahmen dieser Ethnographie sprengen, stellt jedoch ein lohnendes zukünftiges Projekt dar.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Verständnis der aktuellen Situation der Paroikies, die ich im nächsten Kapitel dargestellt wird, notwendig sind und die den historischen Kontext für das Herzstück dieser Ethnographie, die Analyse der kollektiven und individuellen Erinnerungsarbeit an den Genozid im fünften und sechsten Kapitel bilden. Khachig Tölölyan (2000b: 122) bezeichnet die Analyse der komplexen Beziehungen, durch die Entwicklungen in einer lokalen armenischen Diasporagemeinde mit unterschiedlichen nationalen und internationalen Entwicklungen verwoben sind, als die zentrale Herausforderung für eine Geschichtsschreibung der armenischen Diaspora. Diese komplexe Verwobenheit der lokal spezifischen historischen Entwicklungen beider Paroikies zu rekonstruieren und zu analysieren, übersteigt den Rahmen dieses Buches bei weitem. Vor allem auch deswegen, weil es kaum historische Grundlagenforschung zur armenischen Diaspora in Griechenland gibt.23 Ich kann in diesem Kapitel nur einige Schlaglichter auf die historische Entwicklung des Diasporaraumes werfen und konzentriere mich dabei auf die historischen Dimension der Beziehungen, die zum Zeitpunkt meiner Feldforschung für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner besonders relevant waren: Die Beziehungen der beiden Paroikies untereinander, ihre Position in der transnationalen armeni23

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Es liegen lediglich zwei Aufsätze des Historikers Hassiotis vor, der eine davon in Zusammenarbeit mit Guila Kassapian, einer armenischen Aktivistin der Paroikia Thessalonikis. In Hassiotis/Kassapian 1986 wird die historische Entwicklung der Paroikia in Thessaloniki beschrieben, Hassiotis 1995 bezieht sich auf die Entwicklung der armenischen Diaspora in ganz Griechenland. In beiden Artikeln werden Erfahrungen und Ereignisse verschwiegen, die dem Bild einer homogenen armenischen Diaspora und harmonischer Beziehungen zwischen dem griechischen Staat bzw. der griechischen Bevölkerung und der armenischen Diaspora zuwiderlaufen könnten. Erfahrungen von Diskriminierung durch die griechische Bevölkerung und den Staat sowie von gewaltvollen politischen Auseinandersetzungen innerhalb der armenischen Diaspora waren zum Beispiel durchaus Thema in den Erinnerungserzählungen meiner Gesprächspartner, jedoch nicht in den Artikeln von Hassiotis. Um ein differenziertes Bild zu gewinnen, führte ich auch eine Recherche im Archiv des griechischen Außenministeriums durch und wertete Akten aus dem Zeitraum 1924 bis 1936 aus. Meine Bemühungen, weitere Dokumente in anderen Archiven zu finden, verliefen ergebnislos. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es so gut wie keine historische Grundlagenforschung zu Armeniern in Griechenland gibt und darüber hinaus die griechischen Archive nur schwer zugänglich (50 Jahre Sperrfrist) und noch schwerer zu bearbeiten sind (keine Findbücher, z. T. handschriftliche Karteikarten über Archivbestände, die selbst von Archivaren nicht entziffert werden konnten). Zur Situation in griechischen Archiven siehe auch Mazower (1993: 423). Eine lohnende, leicht zugängliche Quelle für die weitere Analyse wären die Zeitungen der armenischen Parteien gewesen, die seit dem ersten Tag ihres Erscheinens lückenlos vorhanden sind. Dies hätte allerdings bedeutet, eine historische Grundlagenforschung zu beginnen, was zwar wünschenswert wäre, aber weder meiner Fragestellung entsprach noch von mir als Ethnologin geleistet werden konnte.

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

schen Diaspora, ihr Verhältnis zum griechischen Nationalstaat, der heutigen Republik Armenien und der Türkei. Außerdem interpretiere ich die lebensgeschichtlichen Erinnerungen und offiziellen Geschichtserzählungen als Identitätsarbeit. Im einführenden Kapitel habe ich argumentiert, dass Vorstellungen von Gemeinschaft, hier einer „Nation im Exil“, ständig neu geschaffen, verbreitet und bestätigt werden müssen. Ein zentrales Element dieses Prozesses ist der beständig ausgedrückte Anspruch nach Identifikation von Individuen mit Erfahrungen und Erinnerungen, die als so zentral wahrgenommen werden, dass sie von den potentiellen Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden sollen. In diesem Zusammenhang sind zwei Fragen wesentlich. Sie werden mich auch in diesem Kapitel beschäftigen werden: Welche Institutionen und Personen (re)produzieren und verbreiten Vorstellungen von Gemeinschaft? Welche Ereignisse und Erfahrungen werden dabei zu Referenzpunkten und welche werden ausgespart? Besonders zentral für die armenische Vorstellungen von Gemeinschaft und Identität ist die Erinnerungsarbeit an den Genozid. Die Erinnerungspraxis an die lokale Geschichte stand in einem auffälligen Kontrast zu dieser institutionalisierten Erinnerungsarbeit an den Genozid bzw. an andere Ereignisse der armenischen Nationalgeschichte.24 Erinnerungen an die lokale Geschichte waren weder ein Objekt schriftlicher Repräsentationen25 noch Gegenstand von Ritualisierungen26. Auch dann nicht, wenn es sich um folgenreiche oder traumatische Einschnitte für die Entwicklung der Paroikia oder den Lebensweg ihrer Mitglieder handelte: Ereignisse, die im Laufe dieses Kapitels noch zur Sprache kommen werden, wie zum Beispiel die massenhafte Ankunft armenischer Flüchtlinge aus Kleinasien 1922, die Einweihung einer armenischen Bischofskirche in Athen, der griechische Bürgerkrieg, dessen gewaltvolle Aus-

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Ereignisse der nationalen Geschichte wie z.B. die Schlacht Vartans gegen die Perser im Jahr 451, die Schlacht bei Sadarapat gegen die Türken 1918 und die 1. und 2. armenische Unabhängigkeit waren – ebenso wie der Genozid – Gegenstand einer ritualisierten Erinnerungsarbeit sowie anderer Repräsentationen armenischer Identität in Büchern, politischen Schriften, Predigten. Symbolhafte Darstellungen dieser Ereignisse schmücken armenische Einrichtungen oder Wohnzimmer in Thessaloniki und Athen. Wie diese Ereignisse der Nationalgeschichte in der lokalen Erinnerungsarbeit mit dem Gedenken an den Genozid verbunden werden, werde ich im fünften Kapitel beleuchten. Dies scheint sich gegenwärtig zu verändern. Bei der Durchsicht der griechischsprachigen Zeitschrift Armenika, die in Athen herausgegeben wird, fällt auf, dass Themen der lokalen Geschichte gleichberechtigt mit Themen der nationalen Geschichte behandelt werden. Auf die Gründe für diese Veränderung gehe ich zum Ende dieses Kapitels näher ein. Ausnahmen bildeten Einweihungsfeiern oder Jubiläen von Institutionen. Im Gegensatz zu den Genozidgedenkritualen handelte es sich dabei zwar um Formen ritualisierter Erinnerungsarbeit, die jedoch in den Augen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nicht einer Gedenktradition entsprachen.

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einandersetzungen auch innerhalb der Paroikia ausgetragen wurden und die Entscheidung der griechischen Junta 1968, Armenier einzubürgern. Auch die Institutionen und ihre Akteure, die – wie im Weiteren deutlich wird – sowohl bei der Erfindung einer armenischen „Nation im Exil“ als auch in der kollektiven Erinnerungsarbeit an den Genozid eine herausragende Rolle spielten, verhielten sich einer Bewahrung der lokalen Geschichte gegenüber indifferent. Dies war umso erstaunlicher, als dass sie sonst fortwährend von Bewahrung redeten: Der Bewahrung der Erinnerung an den Genozid vor dem Vergessen und der Bewahrung einer reinen armenischen Identität vor der Assimilation, dem „weißen Genozid“. Zwar gaben sie auf meine Fragen nach der historischen Entwicklung der Paroikia bereitwillig Auskunft und sahen ihre Erzählungen gleichzeitig als willkommene Gelegenheit, die zentrale Rolle, die gerade ihre Institution daran hatte, hervorzuheben. An einer systematischen Bewahrung dieser „Erfolgsgeschichte“ – z.B. in Form von Archivierungen – schienen sie jedoch kein großes Interesse zu haben: In Thessaloniki wurden historische Dokumente, Schriftverkehr und religiöse Objekte in mehreren Kartons auf dem Dachboden gelagert. Eigentlich war geplant, diesen Bestand mit Mitteln aus dem Fond, den Thessaloniki 1997 als „Kulturhauptstadt Europa“ von der EU bekommen hatte, bearbeiten zu lassen. Als das versprochene Geld nicht angewiesen wurde, geriet das Projekt in Vergessenheit. In Athen war das Archiv der Wohltätigkeitsorganisation Dänische Freunde Armeniens, die vor einigen Jahren ihre Arbeit eingestellt hatte, vernichtet worden, weil sich keine armenische Institution dafür interessierte. Aus dieser Indifferenz der einflussreichen Institutionen der Paroikia kann jedoch keineswegs geschlossen werden, dass Berufungen auf lokale Geschichte für kollektive und persönliche Identifikationen unbedeutend gewesen wären. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner beriefen sich nämlich ständig auf Ereignisse der Vergangenheit um mir zum Beispiel die gegenwärtigen Strukturen der Paroikies, aktuelle Probleme, Unterschiede zwischen der Paroikia in Athen und Thessaloniki, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Griechen und Armeniern, armenische Identität an sich, aber auch ihr persönliches Schicksal und ihre aktuelle Lebenssituation zu erklären. Und sie erzählten mir über ihre Erinnerungen, um mir eine Vorstellung ihrer Selbst und von Armenischsein zu vermitteln. Gleichzeitig beeinflusste ich diese Erinnerungserzählungen durch meine Anwesenheit unbewusst und bewusst. Unbewusst, weil meine bloße Anwesenheit meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner natürlich dazu animierte, mir über sich persönlich, die Paroikia und ihre Erfahrungen zu erzählen. Bewusst, weil ich in meinem Bemühen, die lokale Geschichte zu rekonstruieren, lebensgeschichtliche und themenzentrierte Interviews durchführte (vgl. Plummer 2001: 41-46). Auf welche Ereignisse der Vergangenheit sich meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner dabei beriefen, war unterschiedlich. Zum einen schienen für die kollektive Geschichte der Paroikies in Athen und Thessaloniki unterschiedliche Ereignisse bedeutsam gewesen zu sein. Zum anderen stellten Individuen ihre persönliche Geschichte und die Geschichte der Paroikia 54

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auf unterschiedliche Art und Weise dar. Die Darstellung der kollektiven Geschichte folgte in der individuellen Rede offizieller Repräsentanten der Paroikies spezifischen Chronotopen, deren zentrales Merkmal war, dass die Paroikia in allen Phasen ihrer historischen Entwicklung als homogenes soziales Gebilde dargestellt wurde. Auch wenn es also keine schriftlich fixierte Version dieser Geschichte gab, so gab es offenbar eine Tradition der Oral History. Erzählungen der Familiengeschichte oder der eigenen Biographie dagegen ließen eine differenziertere und heterogenere Vorstellung der Vergangenheit entstehen. Dennoch folgten auch diese individuellen Erinnerungserzählungen oft dem Chronotop offizieller Erinnerungserzählungen. Dieses komplexe Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Erinnerungsarbeit greife ich an dieser Stelle nur kurz auf und vertiefe es im fünften und sechsten Kapitel. Die nun folgende Analyse der historischen Entwicklung der Paroikies basiert auf dem Chronotop der Erzählungen offizieller Repräsentanten der Paroikies in Athen und Thessaloniki. Um dieses sehr komplexe Kapitel möglichst kurz zu halten, verzichte ich weitgehend auf ausführliche Zitate aus meinem Interviewmaterial. Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den kollektiven Geschichte(n) der Paroikies, wie sie mir von offiziellen Repräsentanten erzählt wurden und den lebensgeschichtlichen Erzählungen reiße ich nur an, um meine zentrale These zu verdeutlichen: Die hier präsentierten Erinnerungserzählungen sind eine Form armenischer Identitätsarbeit, da auf diese Weise die Vorstellung einer homogenen und historisch kontinuierlichen armenischen „Nation im Exil“ (re)produziert wird.

3.1

Flucht, Ankunft und die Erfindung einer armenischen „Nation im Exil“

Der Genozid an der armenischen Bevölkerung des osmanischen Reiches von 1915 gilt heute als der zentrale Auslöser der Zerstreuung der Armenier in alle Welt und der Entstehung einer armenischen Diaspora (Tölölyan 2000b: 118). Auch meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen sahen im Genozid den Auslöser für ihr Leben im griechischen „Exil“. Ihre massenhafte Ankunft in Griechenland führten sie jedoch auf ein anderes traumatisches Ereignis zurück, die „Kleinasiatische Katastrophe“ (mikraasiatiki katastrofi) von 1922. Unter der „Kleinasiatischen Katastrophe“, die für die griechische nationale Identität einen ähnlich zentralen Referenzpunkt bildet wie der Genozid für armenische Identität, wird in Griechenland heute folgendes verstanden: Nach dem Ende des 1. Weltkriegs waren die Siegermächte, die Entente, entschlossen, das zusammenbrechende osmanische Reich unter sich aufzuteilen. Griechenlands Bündnistreue wurde mit der Zusicherung belohnt, Smyrna (Izmir), eine Stadt mit einer mehrheitlich griechischen Bevölkerung, und dessen Hinterland unter griechisches Protektorat zu stellen. Bevor jedoch eine Vereinbarung erzielt werden konnte, landeten griechische Truppen am 15. Mail 1919 mit der Zustimmung Großbritanniens, Frankreichs und den USA in 55

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Smyrna. Vertraglich abgesichert wurde die Annexion Smyrnas erst ein Jahr später im Abkommen von Sévres, das allerdings nicht mehr ratifiziert wurde. Während sich die Griechen mit der Landung in Smyrna ihrer Megali Idea (Großen Idee) eines Griechenlands der „zwei Kontinente und der fünf Meere“ näher denn je wähnten, hatte das Ereignis für die nationale Bewegung um Mustafa Kemal eine mobilisierende Wirkung. Im September 1920 startete die griechische Armee von Smyrna aus eine Offensive nach Südwestanatolien, die ab dem Frühjahr 1921 von Mustafa Kemal und seinen Truppen zurückgeschlagen wurde. Im August 1922 wurde das griechische Heer schließlich vernichtend geschlagen und trat einen chaotischen Rückzug an die Küste Kleinasiens an; begleitet von griechischer und armenischer Bevölkerung, die aus Angst vor Massakern flohen. Als Smyrna schließlich am 8. September 1922 von türkischen Truppen eingenommen wurde, kam es zu einem Massaker an den Teilen der griechischen und armenischen Bevölkerung, denen die Flucht auf die nahe gelegenen griechischen Inseln nicht mehr gelungen war. Im Vertrag von Lausanne 1923 vereinbarten Griechenland und die Türkei auf Druck des Völkerbundes einen Bevölkerungsaustausch. Als entscheidendes Kriterium nationaler Zugehörigkeit wurde Religion definiert. 380.000 Muslime mussten Griechenland verlassen, welches zwischen 1922 und 1923 bei einer Gesamtbevölkerung von ca. fünf Millionen mehr als eine Million Flüchtlinge aufnahm. Griechenland wurde auf diese Weise zum ethnisch homogensten Staat auf dem Balkan. Unter den Flüchtlingen waren auch ca. 100.000 Armenier, von denen jedoch bis 1928 zwei Drittel das Land wieder verlassen hatten. Die anderen siedelten sich – wie auch die griechischen Flüchtlinge – vor allem in Thessaloniki und Athen an (Clogg 1997: 121-133; Hassiotis 1995).27 27

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Zahlenangaben zu griechischen und armenischen Flüchtlingen sind äußerst problematisch. 1928 führten griechische Behörden eine Volkszählung durch: 1.221.849 Personen wurden als griechische Flüchtlinge registriert, davon seien 151.892 vor und 1.069.957 nach der „Kleinasiatischen Katastrophe“ ins Land gekommen. Als Armenier ließen sich 33.634 Personen registrieren (Carabott 1986: 1-2, Hassiotis 1995: 91). Nach Sandis (1973: 166) waren 28,2 % der Bevölkerung Athens und 47,8 % der Bevölkerung Thessalonikis 1928 Flüchtlinge aus Kleinasien. Diese Zahlen sind jedoch selbst für das Jahr 1928 problematisch und lassen nur sehr vorsichtige Rückschlüsse auf die tatsächlichen Flüchtlingszahlen in den Jahren 1922-23 zu. Philipp Carabott (1986: 3) nennt dafür folgende Gründe: Nicht alle ließen sich als Flüchtlinge oder Armenier registrieren; in den überbevölkerten urbanen Flüchtlingsvierteln waren exakte demographische Zählungen gar nicht durchführbar; eine nicht bestimmbare Anzahl von Flüchtlingen migrierte kurz nach ihrer Ankunft in Griechenland in andere Länder weiter und die Sterblichkeitsrate war vor allem bei alten Menschen und Kindern in den ersten Jahre nach der Flucht extrem hoch. Ähnlich problematisch ist die Zahl von 100.000 armenischen Flüchtlingen im Jahr 1922, auf die sich meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner beriefen (siehe auch Simpson 1939). Hassiotis (1995: 89) spricht von 80.000 Armeniern und 7.000-8.000 Waisenkindern für das Jahr 1923. Auch die Zahlen zur Abwanderung sind nicht eindeutig, Hassiotis

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Erzählungen über die Geschichte der Paroikies setzten als Ausgangspunkt der Entstehung einer „Nation im Exil“ die Ankunft armenischer Flüchtlinge im Jahr 1922. In Athen, wo es bis 1922 keine nennenswerte armenische Ansiedlung gegeben hatte, wurde die Entstehung der Paroikia mit dem Datum 1922 auf eine Stunde Null festgeschrieben, obwohl ein Teil der Flüchtlinge erst zu späteren Zeitpunkten nach Athen kam.28 Die Protagonisten in den Erzählungen über die Geburtsstunde der Athener Paroikia sind die mittellosen, traumatisierten Flüchtlinge. Sie werden als eine homogene Gruppe dargestellt, die sich trotz ihrer prekären Lebensbedingungen sogleich daran machte die für eine „Nation im Exil“ zentralen identitätsstiftenden Institutionen wie Kirchen, Schulen und Klubs aufzubauen: „Also, und damals bestand ihre erste Arbeit darin eine Schule zu bauen, einen Klub zu bauen, eine Kirche zu bauen. Und das schafften sie, auch wenn die Kirche erst mal aus Holz gemacht war, vorläufig. (...) Aber damit gab es einen Ort, wo man die Kinder sammeln konnte, damit sie die Sprache lernen, die Geschichte, die Lieder usw.“ (Interview Nr. 59, 04.12.1996, S. 2)

Die hier zitierte Passage aus einem Interview mit dem Präsidenten der Armenier Griechenlands korrespondiert mit einer Redewendung, die sowohl von Armeniern in Griechenland als auch in der Literatur zur Charakterisierung armenischer Identität verwendet wird: Wohin und auf welche Weise Armenier auch migrierten, ihre erste Handlung bestehe stets darin, eine Kirche und eine Schule zu bauen. Von Armeniern aus Thessaloniki dagegen, wo sich bereits seit Ende des vorhergehenden Jahrhunderts eine institutionalisierte Gemeinde mit den zentralen Institutionen konstituiert hatte,29 wurde die massenhafte Ankunft armenischer Flüchtlinge anders erzählt. In ihren Erzählungen stellt die Ankunft der Flüchtlinge, die die armenische Bevölkerung Thessalonikis abrupt um ein Vielfaches ansteigen ließ, die kleine Paroikia vor die schwere Aufgabe, den Flüchtlingen solidarisch beizustehen und sie in ihre Gemeinschaft zu integrieren. Die Erzählungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Paroikia diese

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(1995: 91) gibt für das Jahr 1927 die Zahl von 42.000 Armeniern an und beruft sich dabei auf Fridjof Nansen, den Hochkommissar des Völkerbundes. Simpson (1939: 36) nennt für 1925 unter Berufung auf das Near East Relief, eine Hilfsorganisation, die sich um armenische Flüchtlinge kümmerte, eine Anzahl von 45.000. Hassiotis (1995: 86) erwähnt, dass armenische Flüchtlinge bereits nach den Massakern von 1894-96 nach Athen geflohen seien. Viele Flüchtlinge flohen 1922 ausserdem zunächst in die der Türkei nahegelegenen Teile Griechenlands und kamen erst im Laufe der nächsten Jahre nach Athen. Die Paroikia in Thessaloniki konstituierte sich 1880. 1884 wurde eine Gemeindevertretung (nationales Komitee) gewählt, 1885 kam der erste Priester und führte ein Tauf-, Heirats- und Sterberegister ein, 1888 entstand der armenische Friedhof und 1903 eine Kirche, ein Vikariat und eine Schule. Dieser Gebäudekomplex dient seitdem als religiöses und soziales Zentrum (Hassiotis/Kassapian 1986).

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Aufgabe bravourös meisterte, was unter anderem auch mit Verweisen auf die Eheschließungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen bekräftigt wurde. Im Gegensatz dazu erzählten einige Armenier und Armenierinnen in lebensgeschichtlichen Interviews von Konflikten zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, die unter anderem dazu führten, dass sich einige Flüchtlinge enttäuscht von der Paroikia zurückzogen und zu „verlorenen Armeniern“ (chamenoi Armenoi) wurden. Beide Erzählungen sind Erfolgsgeschichten, die gleichzeitig einen exemplarischen Charakter haben, jedoch auf unterschiedliche Aspekte der Erfindung einer „Nation im Exil“ verweisen: Die Athener Erzählung über den Aufbau der Strukturen der Paroikia ist eine Erzählungen des Triumphes der Kontinuität nationaler Identität über die Vernichtung: Flüchtlinge, die traumatische Erfahrungen wie Deportationen, Massaker und Vertreibungen durchgemacht hatten, begannen in der Fremde dennoch sofort mit dem Aufbau einer institutionellen Infrastruktur, die die Kontinuität armenischer Identität sicher stellen sollte. Dabei wussten sie offenbar genau, was zu tun war. Die Thessaloniker Erzählungen bestätigen die zentrale Bedeutung von Institutionen für die Bewahrung armenischer Identität. Während in der Athener Erzählung betont wird, wie problemlos Institutionen, die bereits in der alten Heimat als identitätsstiftend angesehen wurden, in eine neue Umgebung übertragen werden konnten, wird in der Thessaloniker Erzählung die Funktionsfähigkeit der Institutionen hervorgehoben. Darüber hinaus idealisiert diese Erzählung auch armenische Identität und Gemeinschaft, als deren zentrale Eigenschaften persönliche Opferbereitschaft für das Gemeinwohl und bedingungslose ethnische Solidarität hervorgehoben werden. Gewaltvolle Ereignisse wie Völkermord, Vertreibung und Flucht haben nicht nur nachhaltige traumatisierende Auswirkungen auf die Opfer, sondern zerstören auch soziale Institutionen und Lebensformen (Eriksen 2001). In den offiziellen Erinnerungserzählungen werden die abrupten Brüche und die Zerstörung existenzieller Grundlagen durch den Genozid und die „Kleinasiatische Katastrophe“ in Stabilität und Kontinuität der nationalen Identität umgedeutet. Zwar wird die Etablierung einer „Nation im Exil“ als eine schwere und mühevolle Aufgabe gewürdigt. Diese konnten die Flüchtlinge jedoch meistern, da sie mit schlafwandlerischer Sicherheit zu wissen schienen, mit welchen Mitteln Stabilität und Kontinuität hergestellt werden konnte. Aus dieser Perspektive erscheinen weder die Lebensformen der Flüchtlinge noch die Institutionen durch die traumatischen Ereignisse zerstört oder auch nur verändert worden zu sein. Zwar konnten Armenier beim Aufbau einer „Nation im Exil“ auf Institutionen zurückgreifen, die bereits im Osmanischen Reich die armenische Diaspora organisiert hatten. Dies waren die transnationale armenisch-orthodoxe Kirche und die armenischen Diasporaparteien: Die anti-kommunistische, nati-

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onalistisch-sozialistische Daschnaktsutiun30, kurz Daschnak genannt, die bald wie überall in der armenischen Diaspora zur dominanten Kraft in der Paroikia werden sollte, und ihre Opponentinnen, die liberal-konservative Ramgavar31 sowie die sozialistische Hinschak.32 Sie waren die treibenden Kräfte beim Aufbau einer „Nation im Exil“, zogen dabei jedoch nicht, wie die Erfolgsgeschichten nahe legen, an einem Strang, sondern konkurrierten vielmehr um die Autorität über und die Loyalität unter den Flüchtlingen. Bevor ich mit meiner Analyse der Erinnerungserzählungen fortfahre, möchte ich diese Institutionen, die bis heute zentral für die armenische Diaspora Griechenlands sind, vorstellen: Die traditionsreichste Institution war die armenisch-orthodoxe Kirche, die über weitreichende Erfahrungen in der Herstellung eines Gemeinwesens in der Diaspora verfügte. Im osmanischen Reich oblag ihr auf Grund des MilletSystems die Verwaltung der armenischen Bevölkerung. Das Millet-System bildete die Grundlage der administrativen Verwaltung der nicht-muslimischen Bevölkerung im osmanischen Reich. Die Klassifizierung und Hierarchisierung der einzelnen Bevölkerungsgruppen erfolgte auf der Grundlage von religiöser Zugehörigkeit. Durch das Millet-System anerkannte Religionsgemeinschaften hatten eine autonome Administration, die sich auch auf säkulare Angelegenheiten wie die Erhebung und Eintreibung von Steuern, die Erziehung und Rechtsprechung bei internen Angelegenheiten wie Eheschließung und – scheidung sowie Erbschaftsregelungen bezog.33

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armenisch: Förderation; Abkürzung von Hay Hegapohagan Daschnaktsutiun: Armenische Revolutionäre Föderation armenisch: republikanisch; Abkürzung von Ramgavar Azadagan Gusaktsutiun: Republikanische Liberale Partei. Die Anhänger der Partei werden ebenfalls als Ramgavar bezeichnet. armenisch: von Hinschak: Erwecker. Die Bewertung des Milletsystem im allgemeinen und für die armenische Bevölkerung des osmanischen Reiches im besonderen ist umstritten: Kymlicka (1995) zum Beispiel bewertet es aufgrund des hohen Grads an Selbstverwaltung als beispiellos tolerant für den Umgang mit untergebenen Minderheiten und als paradigmatisch für eine multikulturelle Gesellschaft im heutigen Sinne. Diese Position ist problematisch, da Multikulturalismus eine Form von Pluralität ist, die an rezente Kulturkonzepte gebunden ist, die für das osmanische Reich nicht relevant waren. Andere Autoren bewerten das MilletSystem dagegen als ein System struktureller Benachteiligung und Ungleichheit, das den Angehörigen der Millets zwar bestimmte Rechte garantierte, in erster Linie aber darauf abzielte, die religiöse und gesellschaftliche Überlegenheit des Islam zu garantieren (Atamian 1955: 2028; Gust 1993: 66; Libaridian 1980: 92; Walker 1989: 86ff.). Diese Autoren argumentieren meist im Kontext einer Auseinandersetzung mit den Massakern an der armenischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert und dem armenischen Genozid von 1915. Problematisch sind beide Positionen, da sie eine Homogenität des armenischen Millets implizieren. Religiöse Zugehörigkeit wurde im Kontext der administrativen Praxis des osmanischen Reiches zwar

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Gegründet im Jahre 301 gilt die armenisch-orthodoxe Kirche als die identitätsstiftende und kontinuitätsbildende Institution der armenischen Nation schlechthin (Jacoby 1998a: 27). „H ekklisia einai mia!“ (Es gibt nur eine Kirche) war ein Ausspruch, mit dem meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die Kirche als einen Hort der nationalen Einheit idealisierten. Die Geschichte dieser Institution spiegelt jedoch zwei Dinge wider: Die armenisch-orthodoxe Kirche war niemals eine politisch neutrale Institution, sondern immer aktiv in die Formulierung und Ausführung politischer Projekte involviert. Und der Klerus war niemals nur passiver Spielball der politischen Interessen anderer, sondern immer aktiv in politischen Machtkämpfen verstrickt, da die meisten Dispute die Interessen der Kirche als die administrative Institution der Diaspora unmittelbar berührten (Phillips 1989: 96-97; Suny 1993: 122; Tölölyan 1988). Dies führte immer wieder zu politisch-motivierten Spaltungen innerhalb der Kirche: Bereits im 15. Jahrhundert führten politische Konflikte zur Bildung von zwei Katholikaten. Das ältere blieb in Etschmiadzin, einer Stadt in der Nähe Jerewans. Ein weiteres wurde in Kilikien gegründet und wurde nach dem Genozid nach Antelias, einenVorort Beiruts, verlegt. Beide Katholikate sind bis heute bedeutende symbolische Orte im armenischen Diasporaraum, an denen sich immer wieder politische Konflikte herauskristallisieren, die auch die armenische Diaspora Griechenlands nachhaltig erschütterten (Phillips 1989: 49-58). Da das armenisch-orthodoxe Patriarchat in Istanbul formal zum Katholikat von Etschmiadsin gehörte, unterstanden die armenischen Kirchengemeinden in Griechenland bis zu einem erneuten Schisma in den 50er Jahren Etschmiadsin. Darüber hinaus steht die Kirche bis heute in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu den Diasporaparteien, vor allem zur mächtigen Daschnak, mit denen sie um Einfluss und Vorherrschaft in der armenischen Diaspora konkurriert. Diese Situation charakterisiert Khachig Tölölyan (1988: 61) als ein eigentümliches Spektakel: „(...) on the one hand, we have a clergy which sees the solution of the Church‘s problems in extending the secular, non-spiritual authority of the clergy further, while on the other hand we have a political organization opposed to this extension, but much of whose influence rests on the fact that its adherents have been able to win elections for positions on the boards of religious or church-related institutions.“ (Tölölyan 1988: 61)

Dieses Spektakel findet – wie ich in diesem und dem nachfolgenden Kapitel zeigen werde, bis auf den heutigen Tag auch in den armenischen Paroikies in Griechenland statt. 34

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zur zentralen Determinante von Identität, darf aber nicht als einziges Kriterium gesehen werden, das ein Subjekt in der osmanischen Gesellschaft positionierte. Der auffallende Kontrast zwischen der Repräsentation der Kirche als Symbol der Einheit aller Armenier und ihrer konflikthaften Fragmentierung sowie Verwobenheit mit den Parteien ist ein charakteristisches Merkmal der armenisch-orthodoxen Kirche weltweit (Jacoby 1998a: 27-30). Symbol der

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Die Daschnak wurde 1890 in Tiblissi, Georgien als Partei nationaler und sozialistischer Orientierung gegründet. Ihr Ziel bestand zunächst in der Verbesserung der Lebensumstände der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich. Während Armeniens erster, sehr kurzer nationalstaatlicher Unabhängigkeit 1918-1921 regierte die Daschnak und wurde mit der Inkorporation Armeniens als Teilrepublik in die Sowjetunion zu einer Exilpartei (Phillips 1991: 76-96; Jacoby 1998a: 68-92). Im Exil entwickelte die Daschnak eine kompromisslose anti-kommunistische Ideologie und das Selbstbild als wahre Hüterin armenischer nationaler Identität und als Exilregierung. Die Formierung der armenischen Diaspora als eine „Nation im Exil“ und die Ideologie des Askabahbanum (der Nationsbewahrung), der erbitterte Kampf für Armeniens nationale Unabhängigkeit und ab den 1960er Jahren für die Anerkennung des Genozids sind bis heute die zentralen Anliegen dieser Partei (Atamian 1955; Björklund 1991; Tölölyan 1991b; Libaridian 1980; Nalbandian 1963). Die Hinschak wurde ebenso wie die Daschnak als eine Partei mit sozialistischer und revolutionärer Ausrichtung in der Diaspora in Genf 1887 gegründet. Schon 1890/91 ergaben sich Differenzen mit der Daschnak über die Frage der Durchsetzung des Sozialismus. Im Gegensatz zur Daschnak favorisierten sie eher einen sozialistischen als einen nationalistischen Staat. Während der Massaker an der Bevölkerung im osmanischen Reich führten HinschakAkvisten einige Aufsehen erregende Aktionen durch (Phillips 1991: 70-71; Jacoby 1998a). Die liberale Ramgavar dagegen wurde nicht in der Diaspora, sondern im osmanischen Reich gegründet. Ihr Vorläufer war die konstitutionelle demokratische Partei; die Gründung der Ramgavar erfolgte erst 1921. Im Gegensatz zur Hinschak und Daschnak lehnte die Ramgavar gewalttätige Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele grundsätzlich ab und verfolgte statt dessen immer einen pragmatischen Kurs, der auf die Stabilisierung der Wirtschaft und die Einigung mit den jeweils Mächtigen in Armenien und in den Residenzländern ausgerichtet war (Phillips 1991: 72-73). Gemeinsam mit der Hinschak, die seit den 1940er Jahren in Griechenland jedoch völlig an Bedeutung verloren hat, formierte sie die Anti-Daschnak-Opposition. Stark vereinfacht lag der ideologische Unterschied der Parteien bis zur Unabhängigkeit Armeniens 1991 in ihrer gegensätzlichen Haltung der SowjetEinheit ist die Kirche, da sie von Armeniern und Nicht-Armeniern als die älteste armenische Institution gesehen wird. Ohne ihre fortdauernde Existenz seit 314, der Übernahme des Christentums als Staatsreligion, so lautet die essentialistische Sichtweise, die zunächst von religiösen und später auch von nationalistischen armenischen Eliten sowie ausländischen Gelehrten vertreten wurde, hätte es keine die Jahrhunderte überdauernde kontinuierliche Existenz des armenischen Volkes gegeben. Die christliche Religion in ihrer spezifisch armenischen Ausprägung wird bis heute neben der armenischen Sprache als das zentrale Merkmal gesehen, mit dem sich Armenier kollektiv von NichtArmeniern (arm. Odar: Fremde) abgrenzen.

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republik Armenien gegenüber begründet. Die Ramgavar und auch die Hinschak sahen ein vorrangiges Ziel in der Gründung und Erhaltung eines armenischen Staates und akzeptierten daher Sowjet-Armenien als legitimen Staat. Die anti-kommunistische Daschnak dagegen, die von den Kommunisten nach der 1. Unabhängigkeit Armeniens ins Exil vertrieben wurde, erkannte SowjetArmenien nicht als Repräsentantin der armenischen Kultur oder als Heimatland aller Armenier an. Sie kämpften für die Etablierung eines unabhängigen armenischen Nationalstaates, in dem sie wiederum die Führung übernehmen würden. Auf symbolischer Ebene fand der Konflikt zwischen den Parteien seinen Ausdruck in den unterschiedlichen Haltungen der armenischen Fahne gegenüber. Während die Ramgavar und die Hinschak die Fahne Sowjet-Armeniens als nationales Symbol akzeptierten, hielten die Daschnak an der Trikolore fest, die während der kurzen ersten Unabhängigkeit die Staatsflagge gewesen war und seit der zweiten Unabhängigkeit 1991 auch wieder ist. An diesem Symbol entzündeten sich immer wieder Konflikte, die zum Teil in offene Gewalt umschlugen. So wurde am Weihnachtsabend 1933 Erzbischof Tourian aus Boston in der armenischen Kirche New Yorks von Daschnak-Aktivisten erschossen, weil er im Juli desselben Jahres bei einer öffentlichen Veranstaltung die Entfernung der Trikolore angeordnet hatte (Phillips 1991: 121-132). Dieses Ereignis schlug auch in der armenischen Diaspora Griechenlands hohe Wogen. Eine meiner Gesprächspartnerinnen in Thessaloniki erinnerte sich, dass ihr Vater eines Sonntags erbost aus der Kirche nach Hause kam und berichtete, dort sei wegen der Ermordung des Bischofs ein Handgemenge zwischen Pro- und Anti-Daschnaks entstanden. Auch nach der Unabhängigkeit 1991 setzte sich der Konflikt zwischen den Parteien im Prinzip fort (Jacoby 1998a: 115-124) und wird auch in dieser Ethnographie immer wieder thematisiert werden. Obwohl die Institutionen mehrheitlich bereits vor dem Genozid existierten, haben sie diesen nicht unbeschadet überstanden. Während des Genozids war ein großer Teil der religiösen und politischen Elite ermordet worden,35 schon deshalb war eine Kontinuität nicht gegeben. So berichteten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in ihren lebensgeschichtlichen Erinnerungen, dass nach der Flucht nach Griechenland zunächst ein eklatanter Mangel an Priestern geherrscht habe. Laienpriester seien eingestellt worden, deren einzige Qualifikation darin bestanden habe, dass sie in der Lage waren die hocharmenische Liturgie zu rezitieren. Darüber hinaus ist es fragwürdig, ob und in welchem Ausmaß armenische Flüchtlinge Armenischsein zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Griechenland 35

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Der offizielle Genozidgedenktag, der 24. April, erinnert daran, dass 1915 an diesem Tag in Istanbul 600 Angehörige der armenischen Elite deportiert und anschließend umgebracht wurden. Auch in allen anderen armenischen Gemeinden im osmanischen Reich gingen Verhaftungen und Ermordungen der lokalen Eliten den Deportationen und Massakern voraus (Gust 1993; Hovanissian 1986).

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überhaupt als eine nationale oder auch nur ethnische Identität verstanden. Im Millet-System des osmanischen Reich war die armenische Gemeinschaft über die gemeinsame Religionszugehörigkeit definiert worden. Zwar hatten nationale Ideologien seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss auf die Bevölkerung im osmanischen Reich gewonnen, die Gründung armenischer Parteien und der Genozid waren mit diesem Prozess eng verbunden. Jedoch ist davon auszugehen, dass die Identifikation mit nationalen Ideologien bei der sehr heterogenen armenischen Bevölkerung unterschiedlich stark ausgeprägt war. Wie bei jeder entstehenden Nation waren es in erster Linie intellektuelle und politische Eliten (Kennedy/Suny 1999; Tölölyan 1999), wie die Angehörigen der beschriebenen Institutionen, die den Prozess der Nationsbildung im osmanischen Reich und später in der Diaspora vorantrieben. Sie konkurrierten darum, die heterogene armenische Bevölkerung an ihre Versionen armenischen Nationalismus zu binden. Diesen konflikthaften Prozess der Entstehung einer „Nation im Exil“ reflektierten auch die Lebensgeschichten meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. In ihren Erinnerungserzählungen traten alle die Differenzen hervor, die in den lokalen Erfolgsgeschichten der Ankunft negiert worden waren. Diese kann ich im Folgenden nur kurz anreißen: Die armenischen Flüchtlinge waren weit davon entfernt eine homogene Gruppe zu sein. Sie stammten aus unterschiedlichen Regionen des ehemaligen osmanischen Reiches wie Kleinasien, Kilikien, Ostanatolien und Thrakien. Sie hatten unterschiedliche traumatische Vertreibungs- und Fluchtgeschichten erlebt. Einige von ihnen hatten bereits 1915 mit den Deportationen ihre Heimat verlassen müssen. Sie hatten die Massaker überlebt, kehrten jedoch nicht an ihre Herkunftsorte zurück, sondern versuchten sich an ständig wechselnden Orten eine neue Existenz aufzubauen. Dabei waren sie immer wieder Opfer von kriegsbedingten Vertreibungen geworden. Andere waren nach dem Genozid zunächst wieder nach Hause zurückgekehrt und flohen dann aus Angst vor den vorrückenden türkischen Truppen und erneuten Massakern erst nach Smyrna und dann nach Griechenland. Aus der Perspektive dieser Menschen waren Genozid und „Kleinasiatische Katastrophe“ nicht zwei deutlich unterscheidbare Ereignisse, wie es griechische und armenische Politiker und Historiker betonen. Vielmehr erlebten sie diese Dekade als ein quälendes Kontinuum von Traumatisierungen, das erst mit ihrer Ansiedlung in Griechenland langsam wieder einer Erfahrung von „Normalität“ wich. Armenierinnen und Armenier dagegen, die in Smyrna gelebt hatten, waren vom Genozid persönlich nicht betroffen gewesen und flohen erst 1922 mit dem Einmarsch der türkischen Truppen in die Stadt. Darüber hinaus brachten die Flüchtlinge sehr unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und psychische Voraussetzungen für einen Neubeginn in einem fremden Land mit. Nur sehr wenigen war es gelungen, vor der Flucht Teile ihres Vermögens nach Griechenland zu transferieren. Andere konnten eine Zeitlang vom Verkauf der mitgebrachten Wertsachen überleben. Viele kamen buchstäblich nur mit dem Hemd auf dem Leib in Griechenland an und waren 63

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

auf Gedeih und Verderb auf die Unterstützung der Hilfsorganisationen angewiesen. Händler und Handwerker konnten vergleichsweise müheloser ihren Beruf wieder aufnehmen, während dies für Bauern in einem städtischen Umfeld unmöglich war. Diese hatten als staatenlose Flüchtlinge kaum Aussicht, von der griechischen Regierung ein Stück Land zu gewiesen zu bekommen. Nur sehr wenige hatten das Glück nach der Flucht auf einen intakten Familienverband zurückgreifen zu können. Sie konnten an die geschlechts- und generationsspezifische Arbeitsteilung, die vor der Flucht existiert hatte, anknüpfen. Da viele Männer während des Genozids und in den Wirren des Krieges selektiert, umgebracht oder in den Strafbataillonen der türkischen Armee umgekommen waren, gab es jedoch eine überproportional hohe Zahl von Haushalten, die aus einer oder mehreren Frauen und halbwüchsigen Kindern bestand. Viele der Frauen und Mädchen waren außerdem durch die massenhaften Vergewaltigungen traumatisiert, welche die Deportationen begleitet hatten. Die meisten von ihnen waren in ihrem bisherigen Leben keiner Lohnarbeit nachgegangen und mussten sich nun durch eine Berufstätigkeit eine Lebensgrundlage schaffen. Manche entwickelten dabei ein erstaunliches unternehmerisches Talent, in dem sie zum Beispiel Webereien und Teppichknüpfereien gründeten. Die wenigen, die aus „besser gestellten“ Familien stammten und eine „bürgerliche“ Erziehung genossen hatten, die Armenisch, Griechisch- und/oder Französischunterricht beinhaltete, arbeiteten als Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen in den neu gegründeten armenischen Bildungsinstitutionen. Die meisten Flüchtlinge sprachen jedoch kein Wort Griechisch und je nach Herkunftsregion und sozialem Hintergrund auch nicht Armenisch, erst Recht kein Hocharmenisch, sondern Türkisch. Für viele blieb Türkisch bis zu ihrem Tod die erste Sprache, während Kinder und Enkel, nachdem sie eine armenische Schule durchlaufen hatten, nur noch armenisch oder griechisch sprachen und sich oft genug, auch dies belegen die lebensgeschichtlichen Erzählungen, der türkischen Sprache ihrer Eltern und Großeltern schämten (vgl. Kapitel 6.2). Die Sprachenvielfalt innerhalb der Familie, die in den Lebensgeschichten meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner thematisiert wurde, wirft auch ein Schlaglicht darauf, dass die Erfindung einer „Nation im Exil“ kein natürlicher Prozess war, sondern harte Arbeit, die in erster Linie von armenischen Institutionen geleistet wurde. Wie bei jedem Projekt der Nationsbildung wurde die sprachliche Homogenisierung als eine zentrale Voraussetzung für die Bildung eines auf nationaler Identität basierenden Kollektivs angesehen. Daher gehörte die Etablierung von armenischen Schulen, wie in der Erfolgsgeschichte eingangs beschrieben, zum zentralen Anliegen der Akteure, die aus der heterogenen Gruppe von Flüchtlingen eine „Nation im Exil“ bilden wollten. Dass die „Nation im Exil“ neben der Idee einer homogenen armenischen Diasporagemeinschaft und der Ideologie des Askabahbanum für meine armenischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gleichzeitig auch die 64

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Vorstellung von Territorialisierung beinhaltete, werde ich nun am Beispiel des Diskurs über die so genannten Ghettos diskutieren.36

3.2

Im Ghetto: Die Territorialisierung einer „Nation im Exil“

Der Diskurs über die Ghettos ist ein lokalspezifisches Chronotop, das sowohl in den offiziellen als auch lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen meiner Athener Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner verwendet wurde, um die Entwicklung der Athener Paroikia und die Lebensumstände der Flüchtlinge bis zum 2. Weltkrieg zu beschreiben. Die Erfahrungen, die damit thematisiert wurden, trafen jedoch auch auf meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus Thessaloniki zu. Obwohl es in Thessaloniki niemals armenische Ghettos gegeben hatte, waren einige Flüchtlingsviertel, zumindest bis zum 2. Weltkrieg, durch eine verhältnismäßig hohe Konzentration armenischer Bewohner geprägt. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus Thessaloniki teilten die Ansicht, dass die Auflösung von Flüchtlingsvierteln und die damit verbundene soziale Mobilität einer der zentralen Gründe für die Gefahr der Assimilierung waren. Um den Diskurs über die Ghettos an dieser Stelle zu verdeutlichen, zitiere ich exemplarisch aus einem lebensgeschichtlichen Interview mit dem Ehepaar Mardiros und Takuhi Atamian. Mardiros Atamian war in den Siebzigern und im Ghetto von Kokkinia, einem Stadtteil von Piräus aufgewachsen. Seine Frau Takuhi war ungefähr zehn Jahre jünger und wurde in einem Stadtviertel mit mehrheitlich griechischer Bevölkerung groß. Unter Ghettos37 verstehen Armenier in Athen heute die ehemaligen Flüchtlingsviertel Kokkinia (Pireus) und Fix (Athen), in denen bis zum 2. Weltkrieg ungefähr 60% der armenischen Flüchtlingsbevölkerung des Athener Großraums lebten.38 Diese Flüchtlingsviertel waren ursprünglich von der griechischen Regierung und den Hilfsorganisationen als provisorische Zeltstädte für armenische und griechische Flüchtlinge eingerichtet worden und entwickelten sich später zu Barackenstädten. Bis zu ihrem Abriss können sie als armenische Enklaven bezeichnet werden, in denen fast alle armenischen 36

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Den Diskurs über die Ghettos habe ich an anderer Stelle ausführlicher beschrieben (Schwalgin 2003 und 2004a), Teile dieser Artikel sind in dieses Kapitel eingeflossen. Der amerikanische Begriff Ghetto wurde jedoch nur verwendet, wenn von der Vergangenheit die Rede war. In anderen Kontexten wurden diese Stadtviertel geitonia (griech. Ausdruck für Nachbarschaft), machala (aus dem türkischen stammender Ausdruck, der für traditionelle Wohnviertel verwendet wird) oder einfach Kokkinia und Fix genannt. Bis zum 2. Weltkrieg lebten 4.500 Armenier in Fix und 4.800 in Kokkinia bei einer armenischen Gesamtbevölkerung für den Großraum Athen (Pireus eingeschlossen) von ca. 15.000 Menschen. (Hassiotis 1995: 91).

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Institutionen Athens angesiedelt waren – Kirchen, Schulen, Zeitungen, Kultur-, Sportvereine sowie die konkurrierenden politischen Parteien. Die letzten Baracken wurden in den 1960er Jahren im Rahmen eines Entwicklungsprogramms der griechischen Regierung abgerissen (Antoniou 1995: 103-108), die Flüchtlinge und ihre Nachfahren in Wohnungsbauprojekte über andere Stadtviertel verteilt. Aber selbst nach dem Abriss des Ghettos blieben die meisten armenischen Institutionen auf dem Territorium der ehemaligen Ghettos konzentriert. Heute leben in diesen Vierteln immer noch mehr Armenier als in anderen Stadtvierteln Athens, die Mehrzahl der heutigen Bewohner sind jedoch Griechen. Und selbst Armenier der dritten und vierten Generation identifizieren sich positiv mit Fix und Kokkinia. Auch für sie sind diese Stadtviertel aufgrund der hohen Konzentration von Institutionen, die als Herz der Diasporagemeinschaft angesehen werden, „armenische Orte“ im griechischen Athen. Die Erzählungen über die Etablierung und Auflösung der Ghettos reflektieren das Spannungsfeld, in dem sich Prozesse der Verortung in Griechenland für Armenier der ersten und zweiten Generation39 nach der Flucht vollzogen. Diese Prozesse waren einerseits geprägt von dem existentiellen Bedürfnis der armenischen Flüchtlinge, sich nach den erlittenen Traumata in einer als feindselig empfundenen Umgebung eine Lebensgrundlage zu schaffen. Andererseits waren sie beeinflusst von einem Diskurs, der die Anwesenheit der Flüchtlinge in Griechenland als einen pathologischen, der nationalen Ordnung der Dinge widersprechenden Zustand verstand. An der Etablierung und Weiterführung dieses dominanten Diskurses waren eine Reihe von Akteuren beteilig: Erstens die griechische Regierung, die die Vergabe der Staatsbürgerschaft bis 1968 hinauszögerte;40 zweitens die griechische Bevölkerung, die 39

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Generation ist nicht gleichbedeutend mit Altersgruppe. Unter der ersten Generation verstehe ich alle diejenigen Armenier, die als Flüchtlinge nach Griechenland eingewandert sind – unabhängig davon ob sie 1922 Kinder, Erwachsene oder Greise waren. Altersmäßig ähnlich heterogen sind dementsprechend die Gruppen der nachfolgenden Generation. Der Zusammenhang zwischen Generation und Altersgruppe läßt sich in Anlehnung an Avtar Brah (1996: 40-43) folgendermaßen erläutern. Altersgruppe stellt eine Analysekategorie dar, die die vertikale Beziehung zwischen Subjekten in spezifischen Stadien des Lebenszyklus betont. Generation dagegen betont als Analysekategorie die horizontale Beziehung zwischen Gruppen von Menschen und setzt diese in einen Bezug zu größeren Einheiten der historischen Zeit, hier zu den 1920er Jahren. Siehe auch die Einführung zum sechsten Kapitel. Lediglich zwischen 1923 und 1928 bestand die Möglichkeit der Einbürgerung, von der ca. 1.000 Armenier Gebrauch machten. Die Mehrheit befürchtete jedoch als griechische Staatsbürger den Anspruch auf ihren ehemaligen Besitz in der Türkei zu verlieren. Diese Politik wurde nach dem RepatriierungsAbkommen mit der Regierung in Jerewan 1928 aufgegeben. Ein Gesetz von 1927, demnach alle Armenier unter 22 Jahren die griechische Staatsbürgerschaft hätten annehmen können, wurde revidiert. 1936 machte die Regierung auch die Einbürgerungen rückgängig, die nach dem Gesetzt von 1927 vollzogen worden waren. Simpson (1939: 41-42) gibt an, die Regierung

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den Flüchtlingen häufig feindselig gegenüberstand;41 drittens der Völkerbund, der die armenischen Flüchtlinge in die Sowjetrepublik Armenien „repatriieren“ oder in Griechenland naturalisieren wollte (Nansen 1928, Societé des Nations 1927; Simpson 1939) und zu guter letzt die armenischen Institutionen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die dominante Daschnak-Partei, die aufgrund ihrer Selbstwahrnehmung als Regierung im Exil das Verständnis von Diaspora als „Nation im Exil“ und die Ideologie des Askabahbanum vertrat. Einerseits symbolisieren die Ghettos die in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht marginale Existenz und elenden Lebensbedingungen armenischer Flüchtlinge in der griechischen Gesellschaft. Mardiros Atamian erinnerte sich: „Also, wenn Du diesen Fluss oder diese heutige Straße überquertest, waren da klitzekleine Häuschen. Die Baracken. Aus Holz und Lehm gebaut. Auf einem so kleinen Raum lebte eine Familie mit drei, vier Kindern. Daneben der andere Nachbar, daneben der andere. (...) Da passte höchstens ein Gemüsehändler mit einem Karren durch.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 30)

Andererseits werden die Ghettos in der nostalgischen Rückschau zu geschützten armenischen Enklaven in einem griechischen Feindesland stilisiert. Sie symbolisieren das Ideal einer geschlossenen und vor allem auch territorial abgegrenzten armenischen Gemeinschaft, versehen mit zentralen sozialen Institutionen wie Kirchen, Schulen, Vereinen und Clubs, in denen die Erhaltung und Tradierung einer reinen armenischen Identität trotz traumatischer Erfahrungen wie Genozid, Flucht und Exil möglich ist. Daher waren die Ghettos – auch für diejenigen, die nie dort gelebt haben und für die jüngere Generation –

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habe entschieden, dass nur diejenigen naturalisiert werden könnten, die ein türkisches Geburtszertifikat hätten oder diejenigen, die bereits in der griechischen Armee gedient hätten. Ausserdem, so Simpson, sei 1937 entschieden worden, dass die griechische Sprache zur Hauptunterrichtssprache in armenischen Schulen werden sollte, obwohl doch alle Armenier repatriiert werden sollten. Auch griechischen Flüchtlinge aus Kleinasien waren in den ersten Jahren Diskriminierungen durch die einheimische Bevölkerung ausgesetzt. Diese empfand die oft nur türkischsprachigen Flüchtlinge als sprachlich und kulturell fremd und stellte ihre griechische Identität in Frage. So wurden zum Beispiel diskriminierende Bezeichnungen wie ‚Tourkosporoi‘ (türkische Samen) und ‚Jaurtovaptismenoi‘ (Joghurtgetaufte) gebräuchlich. In der offiziellen Rhetorik und Politik des griechischen Nationalstaates dagegen wurden die Flüchtlinge als Mittel zur ethnischen Homogenisierung, als wirtschaftlicher Impuls für das weitgehend agrarische Griechenland sowie durch ihre Ansiedlung in Grenzgebieten wie Makedonien als Puffer gegen den Kommunismus instrumentalisiert. Obwohl die Ansiedlung der griechischen Flüchtlinge heute allgemein als „nationale Erfolgsstory“ gesehen wird, haben ethnologische Arbeiten gezeigt, dass auch die Kleinasienflüchtlinge sich bis heute aufgrund ihrer Flüchtlingserfahrung von den sogenannten Einheimischen (Dopyoi) abgrenzen (Kokot 1994 und 1996; Hirschon 1998; Voutira o.J. und 1998).

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ein Symbol von nationalem Überleben und Stolz, trotz des Genozids von 1915. Takuhi Atamian, die in einer griechischen Wohngegend groß wurde, wo nur sehr zerstreut armenische Familien lebten, empfand ihre Kinderjahre als ein ständiges Hin- und Herwechseln zwischen zwei Welten: Der armenischen Familienwelt und der griechischen Außenwelt, in der die armenische Herkunft versteckt werden musste, um nicht zur Zielscheibe von Spott und Diskriminierung zu werden. Umso beeindruckter war sie vom Ghetto Fix: „Hier in Fix lebten die Armenier konzentriert. (...) Der Metzger, der Bäcker, alle waren Armenier. Du gingst Brot kaufen und sagtest: ‚Hatz me dur‘. Armenisch sagtest Du das. In der Nachbarschaft, wenn Du am Morgen das Fenster geöffnet hast, die eine Baracke war hier, die andere gegenüber, Du sagtest: ‚Guten morgen‘. Auf Armenisch. ‚Pariluis‘, sagtest Du. Das war ein Ghetto, alle Armenier zusammen. Ich dagegen wohnte in einer Nachbarschaft von Griechen. Wir waren die einzige armenische Familie in einem, zwei, in fünf Häuserblocks. (...) Und ich erinnere mich, dass ich einmal einen alten Mann traf und sagte: ‚Pariluis, Baron Papian inspezek?‘ Wie geht es ihnen? Armenisch! Auf der Straße! Und der kam zu uns nach Hause und sagt zu meinem Vater: ‚Bravo, Deine Tochter hast Du gut erzogen. Sie traf mich auf der Straße, sie begrüßte mich armenisch und sie fragte mich auf Armenisch, wie es mir geht. Ohne sich zu schämen.‘“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 9)

Der Diskurs über die Ghettos lässt sich als ein doppeldeutiger und ambivalenter Prozess von Territorialisierung und De-Territorialisierung analysieren. Dieser Prozess reflektiert das spezifische duale und paradoxe Bewusstsein von Multi-Lokalität, das unter anderem von Clifford (1994), Gilroy (1993) und Safran (1991) als Diasporabewusstsein bezeichnet wird. Diasporabewusstsein wird, wie die Erinnerungserzählungen an die Ghettos zeigen, einerseits durch die negativen Erfahrungen von Diskriminierung und Ausschluss und andererseits durch die positive Identifikation mit einem historischen Erbe wie der armenischen Geschichte und Kultur sowie mit der lokalen DiasporaGemeinschaft, ihren Vereinen und Aktivitäten konstituiert (Vertovec 1997: 281-282). Diaspora bezeichnet also nicht nur transnationale Bindungen an einen Herkunftsort oder eine imaginierte Heimat, sondern auch den Prozess der Ansiedlung an einem konkreten Ort als spezifische Gemeinschaft nach der Vertreibung oder Migration (Clifford 1994). Diesen Prozess der Verortung stellen Armenier mit dem Diskurs über die Ghettos in einer homogenisierenden Art und Weise dar. Wie bereits einführend erwähnt, hat Khachig Tölölyan die Debatte um Diaspora für ihre Dichotomisierung zwischen Menschen in der Diaspora als mobil und Angehörige des Nationalstaates als sesshaft kritisiert (Tölölyan 2000a und 2000b). Dadurch werde die Bedeutung von Sesshaftigkeit und Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora zu Gunsten einer Betonung von Mobilität heruntergespielt. Nehmen wir jedoch James Cliffords Wortspiel von Diaspora als gleichzeitig „rooted and routed“ ernst, so ist es gerade diese Spannung zwischen multiplen Prozessen der Verortung, zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit, die charakteristisch für das Diasporabewusstsein ist. Aus der 68

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Analyse der Erinnerungserzählungen an die Ghettos leite ich daher zwei sich gegenseitig bedingende und beeinflussende Prozesse von Verortung ab: Verortung durch Imagination und Verortung durch gelebte Erfahrung. Unter Prozess der Verortung verstehe ich den Prozess, in dem einem Ort Bedeutung zugewiesen wird. Diese ergibt sich aus einem Zusammenspiel zwischen der Einbindung des Ortes in einen hierarchisch strukturierten Raum und der kulturellen Konstruktion des Ortes, an dem einerseits Zugehörigkeit konkret erfahren wird und der andererseits Gemeinschaft, Heimat und ganz allgemein Zugehörigkeit symbolisiert (vgl. Gupta/Ferguson 1992: 8). Mit dieser Unterscheidung in zwei Prozesse der Verortung ist keine Dichotomisierung zwischen Imaginationen und alltäglicher Erfahrung gemeint. Vielmehr beeinflussen sich Imaginationen und Alltagserfahrungen gegenseitig. Denn die Art und Weise, wie Armenier ihre Verortung in Griechenland erfahren, ist auch durch ihre emotionalen Bindungen an das imaginierte Heimatland Armenien bzw. an ihren Wohnort in Griechenland beeinflusst. Beide Prozesse der Verortung reflektieren also das spezifische duale bzw. paradoxe Bewusstsein von MultiLokalität, das Diasporabewusstsein. Khachig Tölölyan betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Sesshaftigkeit für Identifikationsprozesse in der Diaspora (Tölölyan 2000a, 2000b): Sesshaftigkeit bezeichnet erstens die Präferenz von Menschen in der Diaspora sich in ethnischen Enklaven mit zentralen Institutionen wie Schulen, Kirchen, Vereinen anzusiedeln, also in Zusammenhängen in denen kulturelle Grenzen geographisch territorialisiert und damit gesichert werden können. Zweitens drücke sich Sesshaftigkeit in der Tendenz aus, lokale Vertretungen diasporischer Institutionen zu gründen, die als dauerhafte Orte der positiven Identifikation dienen. Territorialität, Institutionen und räumliche Nähe zu anderen Armeniern waren, wie der Diskurs über die Ghettos zeigt, die Faktoren, die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner als identitäts- und kontinuitätsstiftend empfanden. Dabei koexistierte ihre Präferenz für ethnische Enklaven durchaus mit sozialer und geographischer Mobilität. Mit dem Diskurs über die Ghettos wird das Bild einer armenischen Enklave evoziert, die durch territoriale Grenzen von der griechischen Umwelt getrennt die Aufrechterhaltung einer reinen armenischen Identität garantiert. Wie durchlässig diese Grenze zur griechischen Umwelt jedoch bereits zum Zeitpunkt des 2. Weltkriegs in den Ghettos, dem Idealtyp einer territorialisierten „Nation im Exil“, war, wurde deutlich, als das „große Übel“ in Form von Krieg, Besatzung und Bürgerkrieg über die Paroikies „hereinbrach“. 3.3

„Das große Übel“: Die Spaltung der „Nation im Exil“

Am 28. August 1940 wurde Griechenland von italienischen Streitkräften überfallen, die von den griechischen Truppen zunächst erfolgreich zurückgeschlagen wurden. Am 6.4.1941 kamen das Deutsche Reich und ihre bulgarischen Verbündeten den italienischen Truppen zur Hilfe und bereits im Juni 1941 stand ganz Griechenland unter deutsch-italienisch-bulgarischer Besatzung. 69

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Thessaloniki und Athen gehörten zur deutschen Besatzungszone. Die deutsche Besatzungsmacht führte ein unbarmherziges Regime: Sie plünderten die landwirtschaftlichen und industriellen Ressourcen des Landes und verlangten darüber hinaus, dass Griechenland die Okkupation finanzierte. Dies hatte verheerende Folgen für die griechische Zivilbevölkerung. Zwischen 1941 und 1944 starben 300.000 Menschen in unmittelbarer Folge von Nahrungsmittelknappheit.42 Am größten war die Hungersnot in Athen. Weitere Folgen waren die fortschreitende Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, Epidemien, Schwarzmarktaktivitäten, Arbeitslosigkeit, der Stillstand des öffentlichen Lebens, aber auch die Formierung von Widerstand gegen die Okkupation (Clogg 1997: 150-154; Mazower 1993: 11-78). Während der Besatzungszeit formierten sich zwei Widerstandsorganisationen: Die von der griechischen kommunistischen Partei (KKE) dominierte Nationale Befreiungsfront EAM43 mit ihrem militärischen Flügel, der Nationalen Volksbefreiungsarmee ELAS44, und die anti-kommunistische Griechische Republikanische Befreiungsliga EDES. Schon während der Besatzungszeit kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den „Linken“, der EAM/ELAS und den „Rechten“, der EDES. Diese Auseinandersetzungen mündeten nach Kriegsende 1944 in einen blutigen Bürgerkrieg, der 1949 mit einem Sieg der „Rechten“ über die „Linken“ endete (Baerentzen 1978; Clogg 1997: 154-177; Mazower 1993: 265-321, 340-377; Richter 1988: 28-31). Der Kriegseinbruch wurde in den Erinnerungserzählungen als ein harscher Einbruch in das harmonische Leben dargestellt, der eine Reihe von dramatischen Ereignissen für die Paroikia nach sich zog: Der griechische Bürgerkrieg, der auch vor den „Grenzen“ des Ghettos nicht halt machte und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führte; die „Repatriierung“ Tausender von Armeniern in die sowjetische Teilrepublik und schließlich die Kirchenspaltung von 1958 waren Ereignisse, welche die Paroikia in zwei unversöhnliche Fraktionen aufsplitterten. Als dies empfanden meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern als schicksalhafte Verkettung, die wie ein „großes Übel“ (grie: megalo kako) über die Paroikies „hereinbrach“ und ihre Harmonie zerstörte.

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Besonders eindringlich und sensibel sind die Folgen der deutschen Okkupation von dem britischen Historiker Mark Mazower (1993: 23-52) beschrieben worden. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von den psychosozialen Folgen der Nahrungsmittelknappheit, der er als „Famine Mentalities“ (1993: 41) bezeichnet: „It hardly need be pointed out that the famine was much more than a statistical problem; its psychological dimensions were at least as important for future developments during the occupation as the death toll itself. The hell of that winter marked the consciousness of all those who lived through it, changing them mentally, morally and politically.“ Ethniko Apeleftherotiko Metopo – Nationale Befreiungsfront. Ethnikos Laikos Apeleftherotikos Stratos – Nationale Volksbefreiungsarmee.

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

Zentral für die Vorstellung dieses überwältigenden „großen Übels“ ist, dass es von außen und ohne das Zutun der Armenier über die Paroikies kam. Am Diskurs über die Ghettos wird zwar die zentrale Bedeutung von Territorialisierung für eine „Nation im Exil“ deutlich, eine konkrete Verortung in der griechischen Gesellschaft wird damit jedoch nicht ausgedrückt. Vielmehr ist mit dem Diskurs über die Ghettos die Vorstellung verbunden, in Griechenland nur im vorläufigen Exil und zu Gast zu sein. Die vor allem von DaschnakAktivisten in den offiziellen und den individuellen Erinnerungserzählungen verwendete Redewendung: „Eimaste filoksenoumenoi stin Ellada“ (Wir sind nur zu Gast in Griechenland) vermittelt dabei den Eindruck, dass es sich bei der Paroikia um eine deutlich von der griechischen Gesellschaft getrennte Gemeinschaft handelt. Angehörige dieser Exilgemeinschaft können sich jedoch, ähnlich wie willkommene Gäste, auf die Gastfreundschaft45 der griechischen Gesellschaft berufen. Die Beziehungen zwischen Paroikia und griechischer Gesellschaft erscheinen dabei als harmonisch und unproblematisch. Dies steht in einem krassen Kontrast zu den Erfahrungen von Diskriminierung und gesellschaftlichem Ausschluss, die in den lebensgeschichtlichen Erzählungen thematisiert wurden. Dabei gibt es interessante lokalspezifische Unterschiede: Armenierinnen und Armenier in Athen sprachen, obwohl sie die Gastfreundschaft der griechischen Regierung hervorhoben, von sich aus negative Erfahrungen von Diskriminierung an, vor allem für die Zeit des 2. Weltkriegs und danach. Vor allem Männer artikulierten ambivalente Gefühle von Ausgeschlossensein und Scham. Diese bezogen sich auf die Erfahrung in einer Zeit nationaler Mobilmachung zu Untätigkeit verdammt gewesen zu sein und dem Ideal männlicher Wehrhaftigkeit nicht entsprechen zu können. Denn als staatenlose Flüchtlinge waren sie vom Wehrdienst ausgeschlossen. In Thessaloniki dagegen wurden Erfahrungen von Diskriminierung, auch in lebensgeschichtlichen Interviews, entweder gar nicht erzählt oder nur sehr ängstlich und zögerlich und begleitet von der Vergewisserung, dass ich diese Passagen nicht aufzeichnen würde. Diese Unterschiede liegen vermutlich einerseits in den unterschiedlichen demographischen Verhältnissen und andererseits in der unterschiedlichen historischen Entwicklung beider Städte begründet. Thessaloniki war erst 1912 in das griechische Königreich integriert worden und außerdem bis zum 2. Weltkrieg eine Stadt mit einer großen und im Wirtschaftsleben dominanten jüdischen Minderheit. Der Homogenisierungsdruck auf Minderheiten war dort stärker als in Athen. In Athen ist darüber hinaus die zahlenmäßig ohnehin größere armenische Bevölkerung geographisch konzentrierter als in Thessaloniki. Vor dem Hintergrund dieser in den lebensgeschichtlichen Erzählungen artikulierten Diskriminierungserfahrungen, interpretiere ich die Vorstellung des 45

Filoksenia (Gastfreundschaft) ist ein zentrales Konzept positiver Identifikation in Griechenland, das auch verwendet wird, um sich gegen Andere – zum Beispiel die Deutschen – positiv abzugrenzen.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

„Gastseins“ in Griechenland auch als eine Strategie, den als pathologisch empfundenen und von Machtlosigkeit gekennzeichneten Status „staatenloser Flüchtlinge“ positiv umzudeuten. Im Zusammenhang mit den Ereignissen während des 2. Weltkriegs und des Bürgerkriegs drücken DaschnakAktivisten mit ihrer Vorstellung der Paroikia als gastrechtlich geschützter und autonomer Enklave aber auch ihren Führungsanspruch und ihre Definitionsmacht in der Paroikia aus. Denn, so wurde in den Erinnerungserzählungen von Daschnak-Aktivisten in Athen auch erzählt, aufgrund der Definition der Paroikia als „(Gast-)Nation im Exil“ hätten sich die Führungseliten der dominanten Parteien Daschnak und Ramgavar entschieden, sich weder aktiv am griechischen Widerstand zu beteiligen noch eine der späteren Bürgerkriegsparteien zu unterstützen. Lediglich eine kleine Gruppe junger Armenier habe dies nicht akzeptieren wollen, wie sich die 76-jährige Daschnak-Aktivistin Satenig Hagopian erinnerte: „Das waren Kinder, junge Leute, 18 bis 20, 22jährige Kinder, die Daschnakzagan waren. Und weil sie wussten, dass die Daschnaktsutiun eine Widerstandspartei ist, kamen sie zum Johov (arm.: Versammlung) und teilten ihre Überlegungen mit: ‚Wartet mal, wenn wir eine Widerstandspartei sind und Griechenland in diesem Moment einen Widerstandskampf führt, warum beteiligen wir uns dann nicht?‘ Aber richtig, richtig war die Entscheidung des Zentralkomitees und das sagte, dass das Land nicht unseres ist: ‚Wir sind zu Gast, wir haben noch nicht einmal die Staatsbürgerschaft. Wir können uns nicht in die Familienangelegenheiten der anderen einmischen.‘ Damit war gemeint, dass es eine Einmischung in Familienangelegenheiten sein würde, wenn man sich daran beteiligt. ‚Wir werden da außen vor bleiben. Wirtschaftlich werden wir Griechenland helfen so gut wir können, aber eine aktive Rolle werden wir nicht spielen.‘ Aber diese jungen Leute, weißt Du, was geschah? Die hatten Feuer gefangen, die waren verrückt geworden, sage ich Dir. Ah, es war eine große Sache ein Gewehr zu tragen.“ (Interview Nr. 76; 10.11.1997, S. 33)

Die Beteiligung armenischer Widerstandskämpfer auf der Seite der kommunistischen EAM/ELAS wird damit zu einer von jugendlicher Begeisterung und männlichem Beweisdrang getragenen hitzköpfigen Tat verharmlost, die die politische Führungsposition der Daschnak nicht ernsthaft in Frage stellen konnte. Im weiteren Verlauf der Okkupation und des Bürgerkriegs kam es im Athener Ghetto Fix zu gegenseitigen Entführungen und Ermordungen unter den Angehörigen verschiedener politischer Lager. Anhänger der Ramgavar lasteten der Daschnak die Schuld am „Brudermord“ an, während die Daschnak-Anhänger die Schuld bei den verwirrten Taten einiger Jugendlicher sahen, die von den griechischen Kommunisten verführt worden seien. Diese Gewalttaten zwischen Daschnak und „armenischen Kommunisten“ waren ohne Zweifel zum Zeitpunkt ihres Geschehens als traumatisch erlebt worden. Im Gegensatz zum Trauma des Genozids sind diese Erfahrungen jedoch weder Gegenstand intergenerationeller Übertragung innerhalb der Familie noch in der Paroikia. Zwar wurde von älteren Gesprächspartnerinnen, deren Familien von diesen Ereignissen persönlich betroffen gewesen waren, häufig und emotional darüber geredet, jedoch immer mit dem Zusatz: Man solle dies düstere 72

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Kapitel der Geschichte ruhen lassen, es gebe keinen Hass mehr, die Zeit heile alle Wunden. Während im Bezug auf den Genozid jede erdenkliche Anstrengung unternommen wird, um die Erinnerung auch für nachfolgende Generationen emotional präsent zu halten und dem moralischen Postulat von „Wir werden niemals vergessen!“ gerecht zu werden, wird das Trauma der kommunalen Gewalt verschwiegen.46 Der Bürgerkrieg und der Kalte Krieg, den Griechenland 1949 in das Bündnis der Westmächte integriert antrat, hatten auch für die armenische Paroikia weitreichende Folgen. 1946-1948 kam es zur Nergaght, der so genannten „Repatriierung“. Von Juni 1946 bis Ende 1948 siedelten ca. 102.000 Armenier der Diaspora (ca. 9,2 %) nach Armenien um (Mouradian 1979:79110). 18.000-25.000 Armenier verließen Griechenland, was Zweidritteln der damaligen armenischen Bevölkerung entsprach (Hassiotis 1995:93; Jacoby 1998a: 127). Weitere Auswanderungswellen gab es in den 1950er Jahren nach Kanada und Argentinien, die jedoch keine typisch armenischen Migrationen waren, sondern auch Teile der griechischen Bevölkerung erfassten. Armenier und Griechen sahen darin gleichermaßen einen Ausweg aus den prekären und instabilen Lebensbedingungen, die in Griechenland nach der Okkupation und dem Bürgerkrieg herrschten. Für beide Paroikies hatte die Nergaght eine abrupte Veränderung der demographischen Verhältnisse und längerfristig auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Parteien zu Gunsten der Daschnaktsutiun zur Folge. Beides war vor allem in Thessaloniki dramatisch spürbar. Dort schrumpfte die Paroikia von ungefähr 6.900 Personen im Jahr 1929 auf 1.157 im Jahr 1953 (Hassiotis und Kassapian 1986). Diese Anzahl blieb bis in die 1990er Jahre stabil. Der Massenexodus nach Armenien wirkte sich nachhaltig auf die Strukturen der Paroikia aus: Die Hilfsorganisationen zogen sich zurück und die armenischen Schulen schlossen wegen Schülermangels ihre Pforten. Seitdem gibt es armenischen Sprach-, Religions- und Geschichtsunterricht nur noch einmal in der Woche am Samstagvormittag. In Athen, wo die Paroikia zahlenmäßig größer war, hinterließen die Nergaght und die Auswanderungswellen der 1950er Jahre zwar auch eine schmerzliche Lücke für viele Mitglieder der Paroikia, da Familienangehörige, Freundinnen und Freunde abwanderten. Die Existenz von als identitätsstiftend angesehenen Institutionen, wie den Schulen, war davon jedoch nicht betroffen. In beiden Paroikies wird die Nergaght jedoch als Ausgangspunkt für die tief greifende Spaltung der Paroikies in zwei politische Lager – das der Daschnaktsutiun und das der Ramgavar – angesehen, die bis heute andauert.

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Gewalttätige Auseinandersetzungen waren immer wieder eine Begleiterscheinung des Kampfes der verschiedenen politischen Akteure in der Diaspora um den Führungsanspruch, so zum Beispiel auch in Griechenland während des Bürgerkriegs im Libanon oder während der Hochphase armenischen Terrorismus. Auch Khachig Tölölyan (1991: FN17) weist darauf hin, dass das Thema in den öffentlichen Repräsentationen ausgespart wird und tabuisiert ist.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Aus der Perspektive der Daschnak hatten die Nergaght und die Niederlage der Linken im Bürgerkrieg, die zu einem anti-kommunistischen Klima führte, zur Folge, dass sie ihren Einfluss in den Paroikies in Griechenland endlich zu einer dominanten Position ausbauen konnten. Die „kommunistischen“ Querulanten, die in ihren Augen für die Gewalttaten im Bürgerkrieg verantwortlich waren und alle diejenigen, die Armenien als gelobtes Land angesehen hatten, konnten die Paroikia nun nicht länger in den Verdacht bringen, eine „fünfte Kolonne Moskaus“ zu sein. Die lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen dagegen weisen darauf hin, dass die Auswanderung nach Armenien für die meisten keine politische, sondern vor allem eine existenzielle Entscheidung war. In dem von Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und der Gewalttätigkeit des Bürgerkriegs geprägten Griechenland sahen viele Armenier für sich als staatenlose Flüchtlinge keine Zukunftsperspektive mehr. Armenien dagegen, das zeigten die Propagandafilme mit denen sowjet-armenische Agenten für die Nergaght warben, versprach „blühende Landschaften“. Dort warteten Arbeit, ein gesicherter Lebensunterhalt und das Ende des prekären rechtlichen und sozialen Status von Staatenlosigkeit auf die Armenier. Diese propagandistischen Visionen von „blühenden Landschaften“ überzeugten auch so manchen Daschnak-Aktivisten davon, Griechenland auf immer den Rücken zu kehren. Die Hoffnungen der Auswanderer wurden ganz und gar nicht erfüllt. Viele wurden zu Opfern der stalinistischen Säuberungswellen, lebten weiterhin unter schwierigen Lebensbedingungen und ergriffen die erste Gelegenheit, die sich bot, um Armenien wieder zu verlassen, meist in Richtung USA (Jacoby 1998a: 124-129). Für die Daschnak waren die wenigen Berichte über die Lebensbedingungen in Armenien, die Angehörige in Griechenland erreichen konnten – manche hörten mehrere Jahre nichts von ihrer Familie oder ihren Freunden – Wasser auf der Mühle ihrer anti-kommunistischen Politik. Aus der Perspektive der Ramgavar-Anhänger begann mit der Nergaght die Machtübernahme der Daschnaktsutiun und ein Leidensweg, der mit der Kirchenspaltung von 1958 seinen dramatischen Höhepunkt fand. 1956 gewann die Daschnak-Partei politische Kontrolle über das Katholikat von Antelias im Libanon. 1952 war der Katholikos gestorben, Neuwahlen wurden bis 1956 verschoben, weil, so lautete die Version der Daschnak, die Kommunisten einen Kandidaten ihrer Wahl lancieren wollten. Stattdessen versuchte nun die Daschnak ihren anti-kommunistischen Favoriten an die Spitze von Antelias zu setzen, was ihr schließlich auch gelang. Laut nie bestätigter Gerüchte soll sogar der CIA darin involviert gewesen sein. Nach der geglückten Inthronisierung ihres Kandidaten setzten die Partei und ihre Anhänger alles daran, die Kirchen der Diaspora aus ihrer Abhängigkeit zum Katholikat im sowjetarmenischen Etschmiadsin zu lösen und zu einem Übertritt zu Antelias zu veranlassen (Phillips 1991: 143- 150). In Griechenland gelang dies 1958. Nur

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VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

eine Kirche, die zum Besitz des Parekordzagan47, einer der Ramgavar nahe stehenden Wohltätigkeitsorganisation, gehörte, blieb bei Etschmiadsin, die anderen Kirchen gehören bis heute zum Katholikat von Antelias. Dieses Schisma wird von Daschnak- und Ramgavar-Anhängern in Athen und Thessaloniki bis heute als ein die Einheit der Armenier zerstörendes Ereignis gesehen, an dem die jeweilige Gegenpartei die Schuld trägt. Aus Sicht der Daschnak war die Kirchenspaltung eine politische Notwendigkeit, um die griechische Regierung davon zu überzeugen, dass die Armenier eine nichtkommunistische loyale Minderheit sind. Die Ramgavar dagegen sahen die Kirchenspaltung als Verrat an der Heimat Armenien und an der spirituellen Bedeutung Etschmiadsins an. Für sie begann 1958 ihre Verfolgungsgeschichte als Kommunisten. Die Daschnak habe die Kirchenspaltung initiiert, um die Macht in der Diaspora zu übernehmen. In Griechenland hätten sie das antikommunistische Klima ausgenutzt, um die Etschmiadsin-loyalen Armenier durch Denunziationen bei der griechischen Polizei einzuschüchtern. Diese unversöhnlichen Auffassungen sind nach wie vor zentral für das Verhältnis der beiden Parteien und ihrer Anhänger, das im nächsten Kapitel ausführlich beschrieben wird. Nach den Auswanderungswellen und der Kirchenspaltung von 1958 begann eine Phase der Konsolidierung. Die demographischen Verhältnisse, die sich seit der Flucht von 1922 durch ständige Auswanderungswellen immer wieder verändert hatten, blieben bis zur Unabhängigkeit Armeniens 1991 weitgehend stabil. Die Kämpfe der zentralen politischen Institutionen um Einfluss auf diejenigen, die sich mit einer „Nation im Exil“ identifizierten, hörten mit der Kirchenspaltung zwar nicht auf, jedoch gab es seitdem eindeutige Machtverhältnisse: Die Daschnaktsutiun hatte, wie überall in der armenischen Diaspora, eine dominante Position erworben, mit der Ramgavar als einzig nennenswerter Opposition. Auch in den lebensgeschichtlichen Erzählungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wurden die Jahre nach 1950 als Prozess der Stabilisierung dargestellt: Sie erinnerten für diesen Zeitabschnitt mehr oder weniger erfolgreiche berufliche Karrieren, Hausbau, Familiengründungen, die Ausbildungsstationen der Kinder, die auch außerhalb der Paroikia und ihrer Bildungsinstitutionen erfolgreich waren. Gleichzeitig waren folgende Themen in den offiziellen wie lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen mit dieser Zeit verbunden: die Sorge um die Bewahrung armenischer Identität, die Angst vor den Gefahren des „weißen Genozids“ und die Suche nach neuen Möglichkeiten, die Ideologie des Askabahbanum (Nations-Bewahrung) umzusetzen. Auch in diesem Kontext machten meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Einflüsse, die von außen auf die Paroikia einstürmten, verantwortlich: Die Übernahme der Staatsbürgerschaft und die Auflösung der 47

armenisch: Wohltätigkeit, Abkürzung von Hay Parekordzagan Entanoup Mioutioun: Armenian General Benevolent Union (AGBU), Bezeichnung für die Mitglieder und Anhänger der AGBU

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Ghettos. Im Folgenden kommt wieder, wie in Kapitel 3.2, Mardiros Atamian zu Wort.

3.4

Staatsbürgerschaft und die Auflösung der Ghettos: Die De-Territorialisierung der „Nation im Exil“

Die Gleichzeitigkeit der Prozesse von Verortung durch gelebte Erfahrung und Verortung durch Imagination, die ich in Kapitel 3.2 als Charakteristikum eines armenischen Diasporabewusstsein herausgearbeitet habe, zeigt sich auch in den Erinnerungserzählungen über die Auflösung der Ghettos. Diese Auflösung verlief parallel zur Vergabe der Staatsbürgerschaft und symbolisiert in der Rückschau eine janusköpfige Zäsur: Einerseits wurde damit die erfolgreiche soziale, ökonomische und rechtliche Integration der armenischen Flüchtlinge in die griechische Gesellschaft verbunden, auf die man mit Stolz und Genugtuung zurückblickt und die gleichzeitig eine positive Identifikation mit Lokalität beinhaltet: Die Kinder haben räumlich, sozial und wirtschaftlich die bedrückende Enge des Ghettos verlassen, den griechischen Raum erobert und damit all das erreicht, was der ersten und zweiten Generation verwehrt war, wie Mardiros Atamian betonte: „Schau mal, damals, wenn es in einem Gymnasium zwei armenische Kinder gab, dann wurden die verspottet: ‚Du bist Armenier, was weißt Du schon! Geh doch in Dein Heimatland! Geh doch nach Armenien!‘ (...) Heute ist das natürlich. (Meine Töchter) sind zum Gymnasium gegangen, die fanden das natürlich. Das ist ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das zum Gymnasium, zur Universität geht.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 32)

Außerdem sah Mardiros Atamian diese Öffnung nach außen auch als einen Auslöser dafür, dass die Einstellung der Griechen zu Armeniern heute weitgehend positiv ist und die Diskriminierung sich in Interesse verwandelt hat: „Die Jugend ist nach draußen gegangen. Die konnten Beziehungen zu den Griechen haben und die Griechen aufklären, unsere Kultur vermitteln, sie bekannt machen. Daher begannen wir aufzusteigen. Sozial.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 31-32)

Andererseits wird die Auflösung der Ghettos einem Angriff auf die soziale Integrität und kollektive Identität durch die griechische Regierung gleichgesetzt. Sie erscheint dabei als eine erzwungene Vertreibung. Ein Prozess, der schon lange vor der Auflösung der letzten Baracken auf Initiative der Armenier eingesetzt hatte – denn die meisten Armenier waren bereits vor der Auflösung der Ghettos in andere Stadtviertel gezogen und viele hatten bereits vor 1968 auf eigene Faust Wege und Mittel gefunden, um griechische Staatsbürger zu werden, so auch Mardiros und Takuhi Atamian – wird auf diese Weise zeitlich fixiert und das aktive Streben nach sozialer und wirtschaftlicher Integration als Zwang von außen interpretiert. Da die sozialen und territorialen Grenzen der Gemeinschaft nicht mehr deckungsgleich sind, was auch vorher schon nur für 76

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diejenigen zutraf, die tatsächlich im Ghetto lebten und arbeiteten, ist die armenische Identität vor allem der jüngeren Generation in Gefahr: „Und auf diese Weise haben sie (die griechische Regierung) das armenische Element aufgelöst. (...) Sie gaben ihnen Häuser in verschiedenen Gegenden. Nicht dort, wo sie ihre Baracken hatten. Sie distanzierten sie. (...) Und weißt Du, was dann passierte? In diesen Baracken sage ich Dir, die eine neben der anderen, der Armenier hatte keinen Kontakt zu Griechen. Sie lebten wie in einem Ghetto. Auf einem Raum, in kleinen Häuschen, ich kannte Deine Tochter, habe sie geheiratet. Takuhi kannte Deinen Sohn, sie heirateten. Jetzt, als das aufgelöst wurde, sieht er neben sich eine Griechin, schön, sie gefällt ihm, schön, hässlich wie auch immer. Weißt Du, die Liebe hat keine Augen, die sieht nicht und so kam es zu den Mischehen.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 31)

Umso stärker konzentrieren sich die Aktivitäten der Diasporaeliten darauf, die sozialen und kulturellen Grenzen der „Nation im Exil“ festzulegen und zu bewachen. Dies wurde von einigen ironisch als die Errichtung eines „Ghettos im Kopf“ bezeichnet. Dabei sperrt sich vor allem die unkontrollierbare Liebe, die offenbar keine Augen für „die Erhaltung einer reinen Identität“ hat, der Sicherung der Grenzen ethnischer Reinheit. Interethnische Ehen – der Prozentsatz liegt sicherlich zwischen 70-80% – wurden als eine der größten Gefahren für den Fortbestand einer armenischen Gemeinschaft gesehen. Trotz aller Anstrengungen ist also der Prozess des „natürlichen Verschleiß“ armenischer Identität, der nach Meinung vieler Armenier durch die Auflösung der (angeblichen) Deckungsgleichheit sozialer und territorialer Grenzen eingesetzt hat, nicht aufhaltbar. Und auch Mardiros Atamian sorgte sich um die Zukunft der Gemeinde: „(Die Zukunft der Gemeinde), die macht uns Sorgen, Du denkst von hier, von dort darüber nach, Du sagst: ‚So lange ich in einem fremden Land lebe‘, verstehst Du? Du hast einen Verschleiß, einen natürlichen Verschleiß. Wir versuchen, diesen Verschleiß so gut wir können, gering zu halten.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 36)

Die soziale und wirtschaftliche Integration, mit der sich Armenier persönlich wie kollektiv positiv identifizieren, wird vor dem Hintergrund des Diskurses von Diaspora als „erzwungenem Exil“ zu einer Kapitulation vor dem machtvollen Einfluss des Lokalen. Gleichzeitig verschoben sich die Vorstellungen von Diaspora und Heimatland. Ab Mitte der 1960er Jahre gewann das politisierte und öffentliche Gedenken an den Genozid immer stärkere Bedeutung für die Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der Paroikia. Vor allem die Daschnaktsutiun, die sich vorher ganz auf den Kampf um eine nationale Unabhängigkeit Armeniens konzentriert hatte, begann nun, sich als die treibende Kraft des Kampfes für die Anerkennung des Genozids zu präsentieren. Wie ich in Kapitel 5.1 noch ausführlich diskutieren werde, war dies ein Prozess, der die gesamte armenische Diaspora betraf mit lokalspezifisch jedoch unterschiedlichen Ausprägungen. Nach Khachig Tölölyan (2000b: 119-123) setzten folgende Faktoren diesen Prozess in Gang: sich wandelnde Beziehungen zwischen der Diaspora und 77

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

dem Heimatland, die auch mit einem Abflauen der Kalten-Krieg-Stimmung zusammenhingen; interne Entwicklungen in der Sowjetunion, die zum 50. Jahrestag des Genozids 1965 eine öffentliche Demonstration in Jerewan ermöglichten und ein Generationenwechsel in der armenischen Diaspora. Während für die erste Generation armenischer Aktivisten vor allem die unterschiedlichen Haltungen Armenien gegenüber bedeutsam waren und zu Konflikten führten, habe die nächste Generation den Genozid als identitätsstiftendes Symbol und als Fokus politischer Aktivitäten entdeckt. An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass der Genozid sich vor allem auch deshalb zum identitätsstiftenden Symbol eignete, weil er gleichermaßen die transnationale Identifikation mit Armenien und der armenischen „Nation im Exil“ ermöglichte, die durch den zunehmenden Einfluss der gelebten Erfahrung von Lokalität gestärkt werden musste. Die Erinnerungsarbeit an den Genozid und die performativen Handlungen, die den „weißen Genozid“ eindämmen sollten und als Opfer für die armenische Nation gewertet wurden bildeten bis zur Unabhängigkeit Armeniens den Fokus, um den die Identitätsarbeit in den Paroikies kreiste.

3.5

Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit: Die Unabhängigkeit und ihre Folgen

1991 erklärte die sowjet-armenische Teilrepublik ihre nationalstaatliche Unabhängigkeit. Dieses Ereignis bezeichnet Khachig Tölölyan (2000b: 123-124) als den folgenschwersten Einschnitt in der Geschichte der armenischen Diaspora seit dem Genozid von 1915. Erstens führte die Unabhängigkeit, die von einem Krieg mit Aserbaidschan um die armenische Enklave Arzach (arm.: für Berg-Karabach) und einer eklatanten Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation begleitet wurde, zu einem Massenexodus der armenischen Bevölkerung. Seitdem haben ca. zwei Millionen Menschen Armenien verlassen. Dies entspricht einem Drittel der Bevölkerung. Zweitens sind die traditionellen Diasporaparteien, allen voran die dominante Daschnaktsutiun, nach Armenien „zurückgekehrt“, mussten dort jedoch feststellen, dass die politischen Ziele von Diaspora und Heimat nicht deckungsgleich sind. Im Falle der Daschnak führte dies zu massiven Konflikten mit der Regierung Ter-Petrossians, die sich an der Frage entzündeten, welche Bedeutung der Kampf für die Anerkennung des Genozids in der Außenpolitik Armeniens haben sollte. Die Regierung Ter-Petrossians strebte einen Ausgleich mit Ankara an, während die Daschnak an der Forderung eines Schuldeingeständnisses für den Genozid und an der Rückgabe der westarmenischen Gebiete in der heutigen Türkei festhielt (Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.02.1993; Neue Züricher Zeitung 08.02.1995; Frankfurter Rundschau 06.07.1995). 1994 wurde die Partei in Armenien verboten. Die Ministerpräsidentenwahlen im Herbst 1996 führten zu einer weiteren Verhärtung der Fronten. Ter-Petrossians Wiederwahl basierte nach Ansicht der Daschnaktsutiun 78

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

auf Wahlbetrug, dies wurde auch von unabhängigen Wahlbeobachtern der UNESCO bestätigt (Die Zeit 20.09.1996, 27.09.1996). Erst 1999, also nach meiner Feldforschung, wurde dieses Verbot mit der Wahl Robert Koutscharians zum Ministerpräsidenten aufgehoben. Die Ramgavar dagegen verhielt sich in diesem Konflikt der Regierung Ter-Petrossians gegenüber loyal. Der Konflikt zwischen Daschnak und armenischer Regierung vertiefte auch die politischen Spaltungen innerhalb der Paroikies in Griechenland und führte vor allem in Athen zu einer Verhärtung der Positionen von Daschnak und Ramgavar. Diese waren nur anlässlich des verheerenden Erdbeben in Armenien 1989 kurzzeitig durch gemeinsame Hilfsaktionen aufgeweicht worden. Bis 1991 spielte die fortwährende Beschwörung eines souveränen armenischen Nationalstaates eine zentrale Rolle in der Identitätspolitik der Diaspora, vor allem der Daschnaktsutiun, hatte jedoch für die meisten die Qualität einer Utopie. Diese Utopie verlieh der Lebenssituation im Exil einerseits einen positiven Sinn und ein heroisches Ziel, nämlich den Kampf um nationale Autonomie. Andererseits implizierte das Konzept einer „Nation im Exil“ aber auch, dass die Lebenssituation der Diaspora pathologisiert und stigmatisiert wurde. Denn die „Nation im Exil“ blieb trotz aller Bemühungen, eine quasi nationale und territorialisierte Gemeinschaft aufzubauen, eben doch nur ein unzulängliches Substitut für das utopische Ideal eines souveränen Nationalstaates. Dieses Substitut war außerdem noch der Gefahr des „weißen Genozids“ ausgeliefert. Dass diese Imagination von Gemeinschaft und Heimat nicht statisch und unveränderlich ist, sondern abhängig von einem spezifischen historischen Kontext, wird an den Veränderungen deutlich, die sich seit der Unabhängigkeit Armeniens 1991 ergeben haben. Denn die unerwartete Unabhängigkeit Armeniens führte zu einem umfassenden Prozess der Neudefinition armenischer Identität in der Diaspora, der für meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen zum Zeitpunkt meiner Feldforschung keineswegs abgeschlossen war und ambivalente Gefühle hervorrief. Wurde Diaspora bislang als pathologischer, negativer Zustand von Exil verstanden, so traten nun positive Bedeutungsdimensionen von Diaspora hinzu. Diaspora wurde nicht mehr ausschließlich negativ als erzwungenes Exil gesehen, sondern bekam seit der Unabhängigkeit zunehmend eine positive Konnotation im Sinne einer die armenische Nation unterstützenden Gemeinschaft von Armeniern im Ausland, die ihre ökonomischen, politischen Ressourcen nutzen, um den Fortbestand der jungen armenischen Nation zu sichern. In dieser positiven Imagination von Diaspora ist ein Element des Konzeptes der Exilnation gleich geblieben: Egal ob Diaspora als negativer Zustand eines erzwungenen Exils oder positiv als Mediatorin für Armenien angesehen wird, positiv legitimiert wird Diaspora in beiden Imaginationen durch ihren Kampf für die Nation, für die nationale Unabhängigkeit bis 1991 und seit 1991 für den Fortbestand dieser Unabhängigkeit. Außerdem steht der „Rückkehr nach Armenien“, die bis 1991 ein zentrales Ziel armenischer Identitätspolitik war, zumindest theoretisch nichts mehr im Wege. Vor allem diejenigen, die sich mit der Daschnaktsutiun identifizierten, 79

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

die die Rückkehr nach Armenien jahrzehntelang propagiert hatte, begannen zu realisieren, dass sie sich in Griechenland längst nicht mehr als Gäste im erzwungenen Exil fühlten, sondern zu Hause. Die so lange ersehnte staatliche Unabhängigkeit hatte für sie einen umfassenden Umdeutungsprozess zur Folge, der sie nicht nur zwang, ihre Vorstellungen von Diaspora und Identität, sondern auch ihr Verhältnis zu Armenien und Griechenland, zu erlebter und ersehnter Heimat, neu zu überdenken. Diese Phase der Neudefinition rief Irritationen hervor. Sie wurde von vielen als ein konflikthafter Prozess empfunden, erst recht, da die von ihnen favorisierte Partei Daschnak von der armenischen Regierung verboten worden war. Darüber hinaus war Griechenland seit 1991 zu einem Ziel für die Zuwanderung aus Armenien geworden. Die Anzahl der mit Touristenvisa eingereisten Migranten wurde von Vertretern der Paroikia sowohl für Athen als auch für Thessaloniki auf mehrere Tausend geschätzt.48 Die meisten Migranten sahen ihre Migration als vorläufig an und wollten nur solange bleiben, bis sich die Situation in Armenien verbessert hatte. Mit ihrer Migration finanzierten sie in der Regel auch in Armenien zurückgebliebene Familienangehörige, die ohne ihre Überweisungen dort nicht hätten überleben können. Dass jemand freiwillig zurückkehrte, hörte ich während meiner Feldforschung selten, je48

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Zahlenangaben zur Einwanderung aus Armenien sind äußerst problematisch. Fragen meinerseits lösten zumeist einen verzweifelten Seufzer und wortreiche Erklärungen über die Unmöglichkeit einer Beantwortung aus. Dennoch hielt man es, wie zum Beispiel der Präsidenten der Armenischen Diaspora in Griechenland für nötig, Zahlenangaben zu machen: „(Seufzer) Das weiß niemand, noch nicht einmal die Botschaft weiß das. Die Botschaft fragt uns, wir fragen die Botschaft. So eine Situation ist das. Man sagt in Thessaloniki seien es 3.000, manchmal sprechen sie aber auch von 5.000. Ich weiß nicht. Weil die, wie soll ich Dir das erklären, die kommen nicht legal. Sie kommen wie ein Wasserfall und bleiben. Und sie nähern sich uns nicht.“ (Interview Nr. 59, 04.12.1996, S. 8) Da der größte Teil der Migranten mit einem dreimonatigen Touristenvisum nach Griechenland einreiste und nachdem dieses abgelaufen war, ohne Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis im Land blieb, lagen dem griechischen Staat keine Zahlen vor. Aufgrund ihres rechtlich illegalen Aufenthaltsstatus gingen die Migranten jedem Versuch einer Dokumentation aus Angst vor Ausweisung aus dem Weg. So scheiterte zum Beispiel der Aufruf der armenischen Botschaft in Athen an ihre Landsleute, sich dort ohne rechtlich negative Folgen registrieren zu lassen, am Mißtrauen der Migranten. Ein weiteres Problem bei der zahlenmäßigen Einschätzung ergab sich daraus, dass die Anzahl von Migranten ständigen Schwankungen unterlag. Viele verließen Griechenland nach kurzer Zeit wieder oder pendelten zwischen beiden Ländern. Außerdem wuchs die Zuwanderung zumindest bis 1997 stetig an. Schätzwerte von Vertretern der Botschaft und der Diaspora bewegten sich daher zwischen einer Anzahl von 25.000 bis 10.000 für ganz Griechenland und von mehreren Tausend (4.000 bis 5.000) für Thessaloniki und Athen. Die anderen würden sich aufgrund der vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten auf ländliche Gebiete – vor allem Thrakien und den Peloponnes – verteilen.

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

doch kursierten ständig Geschichten über Migranten, die von der griechischen Ausländerpolizei aufgegriffen und abgeschoben worden waren. Die Hoffnungen der Migranten auf ein besseres Leben in Griechenland hatten sich, zumindest zum Zeitpunkt meiner Feldforschung, noch nicht erfüllt. Wie andere Länder der südlichen Peripherie der Europäischen Gemeinschaft hat sich Griechenland im letzten Jahrzehnt von einem traditionellen Auswanderungsland in ein Einwanderungsland gewandelt (vgl. King/Black 1997; King/Lazaridis/Tsardanidis 2000). Da ein Großteil der Einwanderung nach Griechenland undokumentiert ist, liegen bis heute keine offiziellen Zahlen vor. Schätzwerte gehen von einer 400.000 bis zu einer halben Million Einwanderern aus; nur 70.000 von ihnen hatten einen legalen Aufenthaltsstatus.49 Die armenischen Migranten bildeten eine kleine Minderheit unter der großen Zahl undokumentierter Einwanderer, die in Griechenlands Schattenwirtschaft um unterbezahlte Jobs, häufig auf Tagelöhnerbasis, konkurrierten.50 Ein weiteres Charakteristikum der gegenwärtigen Migration nach Griechenland ist ihre Feminisierung. Griechische Frauen sind seit den 1960er Jahren zunehmend erwerbstätig geworden. Reproduktive Tätigkeiten innerhalb der Familie, wie die Beaufsichtigung und die Erziehung der Kinder und die Pflege von älteren und kranken Familienangehörigen, werden jedoch nach wie vor als weiblich konstruiert. Da es nur ein rudimentäres Sozialwesen gibt, werden diese Tätigkeiten zunehmend von Migrantinnen übernommen. (Anderson/Phizaklea 1997; Anthias/Lazaridis 2000; Lazaridis 1995, 1999, 2000, Lazaridis/Psimmenos 1999). Da vor allem die Nachfrage nach in den Haushalten lebenden Haushaltsarbeiterinnen, die quasi rund um die Uhr für Haushalt, Kinderbetreuung und Altenpflege bereit stehen, besonders hoch ist, haben allein stehende Frauen im Gegensatz zu Männern kaum Probleme einen Job zu finden. Aufgrund der doppelten Illegalisierung – einem undokumentierten Aufenthaltsstatus und einem irregulären Arbeitsverhältnis – war die Lebenssituation der Migranten und Migrantinnen aus Armenien prekär: Ohne Arbeitserlaubnis hatten sie keine Aussichten auf längerfristige und besser bezahlte

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Je nach landwirtschaftlicher und touristischer Saison schwanken die Zahlen erheblich. Schätzungsweise die Hälfte bis zu 80% der undokumentierten Einwanderer stammt aus Albanien. Weitere Herkunftsländer sind Polen, Bulgarien, Länder der ehemaligen Sowjetunion (z.B. Armenien, Georgien, Kasachstan, Usbekistan) und der 3. Welt (z.B. Eritrea) (King/Black 2000; Anthias/Lazaridis 2000: 2). In diesem informellen ökonomischen Sektor sind irreguläre Beschäftigungsverhältnisse die Regel. Diese Beschäftigungsverhältnisse können unterschiedliche Formen annehmen, die regional variieren. In ländlichen Regionen sind irreguläre Jobs vor allem an Saisonarbeit in der Landwirtschaft und im Tourismus gebunden. Im städtischen Kontext bieten vor allem das Baugewerbe, die „Sweatshop-Industrie“, Haushalte und die Sexindustrie irreguläre Beschäftigungsverhältnisse.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Jobs, sie genossen keinerlei arbeits- oder versicherungsrechtlichen Schutz und fühlten sich ständig von der Ausweisung bedroht.51 Die Reaktionen der etablierten Diasporaarmenier auf die Zuwanderung aus Armenien müssen im Kontext der für sie konflikthaften Neudefinition gesehen werden: Nachdem sie die Heimat jahrzehntelang aus der sicheren Entfernung hinter dem eisernen Vorhang mit Projektionen belegt hatten, hatte sie sich seit 1991 verkörpert durch die Migranten auf den Weg in die Diaspora gemacht. Im Gepäck hatten diese ein unbequemes Mitbringsel in Form von abweichenden Vorstellungen zu Armenien und armenischer Identität. Auf die Konflikte, die sich auch daraus zwischen Diasporaarmeniern und armenischen Migranten ergaben, werde ich im nächsten Kapitel eingehen. Die sich abzeichnende Veränderung der Konzeptualisierung von Diaspora als einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit ist ein Prozess, der nicht nur Armenier in Griechenland betrifft, sondern auf armenische Gemeinden in der ganzen Welt zutrifft. Khachig Tölölyan (2000b) argumentiert, dass sich die post-genozidale armenische Diaspora gegenwärtig von einem Exilnationalismus zu einem diasporischen Transnationalismus wandelt. Dieser Wandlungsprozess würde in den einzelnen Diasporagemeinden nicht uniform verlaufen, sondern sei von der spezifischen Geschichte der Gemeinschaft, ihren materiellen und institutionellen Ressourcen, ihrer Beziehung zum Residenzland ebenso abhängig, wie von dem Ausmaß, in dem dieses Residenzland von Entwicklung der Globalisierung und von transnationalen Beziehungen beeinflusst ist (Tölölyan 2000b: 108). Im Gegensatz zur Zeit nach dem Genozid würden Armenier Diaspora nun nicht mehr als ein Fragment der Nation sehen, sondern als ein permanentes Phänomen, als eine armenische Transnation, die durch zunehmende Vernetzung mit dem Residenzland, dem Heimatland Armenien und dem Globalen (nationalstaatlich übergeordnete Organisationen und die gesamte armenische Diaspora) charakterisiert sei (Tölölyan 2000: 115-116). Unter Transnation, so Tölölyan, verstehen Armenier heute neben dem armenischen Nationalstaat im Kaukasus, auch die quasi eigenstaatliche armenische Enklave Arzach (arm. Nagorny-Karabach) in Aserbaidschan und die über die ganze Welt zerstreuten Diasporagemeinden. Weiter argumentiert Tölölyan, dass an der transnationalen Vernetzung nicht alle diejenigen, die sich mit der armenischen Transnation identifizieren und/oder identifiziert werden, auf gleiche Art und Weise beteiligt waren und sind. Dies war auch in Griechenland offensichtlich, denn nur ein kleiner Kreis von Aktivisten in den identitätsstiftende Institutionen trieben die (Re)produktion einer armenischen Transnation aktiv voran. Sie waren es, die sowohl die Institutionen der Paroikia als auch die Repräsentation armenischer Identität nach innen und außen 51

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Zwar versucht die griechische Regierung seit 1998 die massive Einwanderung durch die Einführung der sogenannten Green Card zu regulieren. Wie viele der armenischen Migrantinnen und Migranten sich für die Green Card beworben und sie bewilligt bekommen haben, ob und in welchem Maße sich seitdem ihre Lebensumstände verändert haben, kann ich nicht beurteilen, da diese Entwicklungen nach meiner Feldforschung stattfanden.

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

dominierten. Diese zentrale Rolle, die Institutionen und Aktivisten für den Prozess einer nationalen Homogenisierung und einer Imagination von Gemeinschaft in der Diaspora spielen, wird im nächsten Kapitel ausführlich beschrieben. Die Entwicklung der armenischen Diaspora von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit ist auch mit einem Prozess der Globalisierung verknüpft. Tölölyan argumentiert, dass mit der Globalisierung, wie ich hinzufügen möchte vor allem der institutionalisierten Beziehungen, gleichzeitig eine stärkere Identifikation mit dem Lokalen einhergehe. Allerdings in einer Art und Weise, die über die Identifikation mit den territorialen ethnischen Enklaven hinausgehe (ders. 2000b: 107-108; 115-116). In den Paroikies von Thessaloniki und Athen war diese Entwicklung vor allem bei jungen Armenierinnen und Armenier der Altersgruppe der 20 bis Mitte 30jährigen spürbar, die in absehbarer Zeit die führenden Positionen in den Paroikies einnehmen sollten. Für sie schien sowohl die positive gelebte Erfahrung von Lokalität – in Thessaloniki und Athen – als auch die lokale armenische Geschichte zu Mitteln positiver Identifikation und Selbstrepräsentation geworden zu sein. Seit 1998 erscheint regelmäßig die Zeitschrift Armenika, herausgegeben von Angehörigen der Daschnak Jugendorganisation, ausschließlich in griechischer Sprache. Damit reagierte die Daschnak-Jugend auf eine der dramatischsten Folgen des „weißen Genozids“, die mangelnde armenische Sprachfähigkeit der jüngeren Generation. Angehörige der ersten und zweiten Generation traten dieser Folge des „weißen Genozids“ eher mit der Forderung nach noch mehr Opfern für den Erhalt der Sprache entgegen, auch wenn sie zu Hause der Bequemlichkeit halber häufig griechisch mit ihren Kindern und Enkeln sprachen. Die Jugend erkannte diese Entwicklung jedoch an und verarbeitete sie kreativ. Artikel über die lokale armenische Geschichte in Griechenland sind ein fester Bestandteil des Programms von Armenika neben Berichten über Armenien, armenisch-griechische Beziehungen und über andere armenische Gemeinden. Gleichzeitig schien der Terminus Minderheit – meionotita – bei jüngeren Armeniern und Armenierinnen zu einem positiven Begriff der Identifikation zu werden. Dies ist sicherlich auch darauf zurück zu führen, dass es in Griechenland in den letzten Jahren verstärkt zu einer öffentlichen Debatte um ethnische und kulturelle Minderheiten gekommen ist. Zusammenfassend möchte ich vier Aspekte hervorheben, die auch in den folgenden Kapiteln eine Rolle spielen werden: Erstens die Bedeutung von Lokalität im Sinne konkreter Orte der Ansiedlung für Identitätsprozesse in der Diaspora. Diese zeigt sich nicht nur in dem Bedürfnis nach Territorialisierung und der zunehmenden Bedeutung von gelebter Erfahrung von Lokalität für Armenier und Armenierinnen der dritten und vierten Generation, sondern auch in den lokalspezifisch unterschiedlichen Erinnerungserzählungen über die historische Entwicklung der Paroikia. Zweitens wurde durch die Erinnerungserzählungen über die Etablierung und Auflösung der Gettos deutlich, dass Prozesse der Verortung durch gelebte Erfahrung untrennbar mit Prozessen der Verortung durch Imagination verwo83

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ben sind. Einerseits symbolisieren die Ghettos und ihre Auflösung die ambivalenten gelebten Erfahrungen von Lokalität, also gleichzeitig die negativen Erfahrungen von Diskriminierung und Ausschluss und die positiven Erfahrungen sozialer Mobilität. Andererseits sind die Erinnerungserzählungen geprägt von Imaginationen der Ghettos als homogene ethnische Enklaven, in denen sich eine „Nation im Exil“ bis zur Rückkehr nach Armenien gegen den Assimilierungsdruck der Umwelt hätte aufrechterhalten lassen. In den Erinnerungserzählungen über die Ghettos verbinden sich beide Prozesse von Verortung zu einem komplexen Zusammenspiel, dass charakteristisch für ein „Diasporabewusstsein“ und für die Beziehungen ist, durch die ein Diasporaraum entsteht. Drittens wird durch die dominanten Erinnerungserzählungen eine positive Identifikation mit den dominanten Diskursen armenischer Identität und Diaspora sowie mit der lokalen Diasporagemeinschaft, ihren Vereinen und Aktivitäten (re)produziert. Meine Analyse hat gezeigt, dass für die Vorstellung einer homogenen armenischen „Nation im Exil“ ethnische Solidarität, Loyalität und Opferbereitschaft dem politischen Projekt der Nationsbewahrung (Askabahbanum) gegenüber sowie die Rückkehrvision in einen souveränen armenischen Nationalstaat zentral waren. Diese am Idealtyp eines souveränen Nationalstaates orientierte Vorstellung von Diaspora spiegelt in der armenischen Diaspora dominante Konzepte von Identität und Gemeinschaft wider, wie sie von Repräsentanten der zentralen identitätsstiftenden Institutionen, der Kirche und den Parteien (re)produziert und verbreitet werden. Lebensgeschichtliche Erinnerungserzählungen, die in diesem Kapitel nur angerissen werden konnten, stehen in einem konflikthaften Verhältnis zu dieser Vorstellung einer homogenen armenischen Gemeinschaft:52 In ihnen werden Erfahrungen thematisiert, die in den offiziellen Repräsentationen armenischer Identität verschwiegen oder in eine positive Erfolgsgeschichte kollektiver Opferbereitschaft für den Fortbestand einer armenischen Nation im Exil transformiert werden. Denn was in der dominanten Erzählung als quasi natürliche gemeinschaftsstiftende historische Entwicklung erscheint, lässt sich aus der Perspektive lebensgeschichtlicher Erinnerungen auch als eine Geschichte von kommunaler Gewalt, Fraktionierungen und Konflikten erzählen. In diesen lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen stehen nicht etwa nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die tief greifenden Differenzen im Hinblick auf die politischen Präferenzen, den sozioökonomischen Hintergrund, die Konzeptionen von Heimat und Exil und nicht zuletzt die unterschiedlich stark ausgeprägte Bereitschaft, sich mit der Identitätspolitik der Paroikia zu identifizieren, im Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die dominante Erinnerungserzählung über eine „Nation im Exil“ nicht nur das Produkt einer homogenisierenden Identitätsarbeit ist, sondern zugleich ihr konstituierender Bestandteil. Denn über die in der Öffentlichkeit der Paroikia übertragene Geschichte einer homogenen „Nation im Exil“ wird eine kollektive Identifikation einer heteroge52

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Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion siehe Schwalgin 2004b.

VON EINER „NATION IM EXIL“ ZU EINER DIASPORISCHEN MINDERHEIT

nen Gruppe von Menschen mit der Paroikia und den dort vertretenen dominanten Konzepten armenischer Identität gewährleistet. Viertens werden durch diese dominante homogenisierende Erinnerungserzählung traumatische Brüche, wie sie durch Genozid, Deportationen, Krieg, Flucht und Bürgerkrieg hervorgerufen werden, in eine kohärente Vorstellung armenischer Identität und Gemeinschaft umgedeutet. Dieser Prozess der Transformation traumatischer Erfahrungen durch Erinnerungsarbeit zu positiven Identifikationspunkten kollektiver Identität spielt – wie ich in Kapitel 5 und 6 zeigen werde – vor allem in der Erinnerungsarbeit an den Genozid eine herausragende Rolle. Im nächsten Kapitel lenke ich meinen Blick jedoch auf die Differenzlinien, die innerhalb der Paroikia relevant waren. Dort wird nicht mehr die Geschichte der Paroikia, sondern ihre aktuelle Situation zum Zeitpunkt meiner Feldforschung im Vordergrund stehen.

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4 „E I N A R M E N I E R : E I N E K I R C H E , Z W E I A R M E N I E R : E I N E S C H U L E , D R E I A R M E N I E R : D R E I P A R T E I E N !“ – INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Ähnlich wie das englische Wort community bezeichnet Paroikia zweierlei. Erstens die institutionelle und räumliche Ausprägung von Gemeinschaft, im Sinne einer lokalisierten Gemeinde und zweitens die Vorstellung von armenischer Gemeinschaft in der Diaspora. Um beide Dimensionen von Paroikia – als Institution und als Gemeinschaft – wird es in diesem Kapitel gehen. Im ersten Teil beschreibe ich die Strukturen sozialer Organisation der Paroikia in Griechenland. Charakteristisch für die formale soziale Organisation ist erstens die enge Verzahnung von kirchlichen und politischen Strukturen und zweitens die Spaltung der Paroikia Griechenlands in zwei konkurrierende kirchlich-politische Blöcke – die dominante Daschnak-Antelias-Fraktion und die marginale Ramgavar-Etschmiadzin-Fraktion. Drittens haben die lokalen Gemeinden Thessaloniki und Athen im hierarchisch strukturierten armenischen Diasporaraum unterschiedliche Positionen. Dies wirkt sich auch auf ihr Verhältnis zueinander aus. Im zweiten Teil geht es um die Differenzlinien, die für die Positionierung eines Subjektes in der Paroikia relevant waren. Die historische Spaltung der Paroikia in die beiden politisch-religiösen Fraktionen spielte auch zum Zeitpunkt meiner Feldforschung nach wie vor eine entscheidende Rolle für die Einordnung eines Individuums in die Paroikia. Aber auch die Fraktionen der Daschnak-Anhänger und -Gegner bildeten keineswegs monolithische Blöcke, sondern waren von internen Differenzen gekennzeichnet. Diese werde ich am Beispiel der Daschnak-Paroikia näher erläutern. Eine weitere tief greifende Grenze verlief außerdem zwischen denjenigen Armeniern, die sich als Angehörige der etablierten Diasporagemeinden und damit als „Einheimische“ sahen und denjenigen, die seit 1991 aus der Republik Armenien als undokumentierte Einwanderer nach Griechenland gekommen waren. Ob die Migranten aus Armenien, die Wirtschaftsflüchtlinge, wie sie von der etablierten Diaspora genannt wurden, als Mitglieder der Paroikia angesehen werden sollten, dazu gab es keineswegs einheitliche Vorstellungen. Am Ende des zweiten Teils dieses Kapitels wird es daher um die Frage gehen, nach welchen Kriterien eigentlich über Zugehörigkeit zur Paroikia entschieden wird. Ist mit Paroikia wirklich nur eine allgemeingültige Vorstellung von Gemeinschaft verbunden? Auf welche Grundlage stützt sich die Legitimation dieser Vorstellung von Gemeinschaft? Welche Symbole und Attribute verweisen eigentlich auf die

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Zugehörigkeit einer Person? Oder gibt es abweichende, alternative Konzepte von Gemeinschaft? Und wenn ja, wer vertritt sie? Im letzten Teil analysiere ich schließlich die Position der armenischen Paroikia im Kontext des griechischen Nationalstaates. Wie sind die rechtlichen Grundlagen, auf die sich die Gemeinde und ihre Organisationen beziehen können? Welche offiziellen und inoffiziellen Beziehungen existieren zwischen griechischen staatlichen Stellen und der Diaspora? Formal juristisch sind alle Diasporaarmenier seit 1968 griechische Staatsbürger. Gehören Armenier damit automatisch zur griechischen Nation? Und wenn ja, wie wird die Zugehörigkeit zur griechischen und gleichzeitig zur armenischen Nation von ihnen bewertet? Welche Arten von Zugehörigkeiten gibt es und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Dies sind Fragen, die im letzten Teil dieses Kapitels bearbeiten werden.

4.1 Strukturen der Paroikia "Ein Armenier: Eine Kirche; zwei Armenier: eine Schule; drei Armenier: drei Parteien", dies war eine Redewendung, die meine armenischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ständig anführten, um mir die Strukturen der armenischen Diaspora zu verdeutlichen. Die im vorhergehenden Kapitel vorgestellten traditionellen Institutionen der armenischen Diaspora – die armenisch-orthodoxe Kirche und die Parteien – vor allem die Daschnaktsutiun – waren zum Zeitpunkt meiner Feldforschung nach wie vor die bedeutendsten identitätsstiftenden Institutionen und die Eckpfeiler der Paroikia. Dabei drückte die Rede von einer Kirche und einer Schule, aber von drei Parteien selbstironisch die Spaltung der Paroikia in zwei politisch-ideologische Blöcke aus – einen Daschnak-Antelias und einen Ramgavar-Etschmiadzin-Block.53 Für diese Spaltung machten Armenier und Armenierinnen in erster Linie das Machtstreben und die Querelen der Parteien verantwortlich, während sie die Kirche mit der Redewendung „H ekklisia einai mia“ (Es gibt nur eine Kirche) als einen Hort der nationalen Einheit idealisierten. Dabei haben die multiplen und oftmals konfliktreichen Rollen, die die armenisch-orthodoxe Kirche heute einnimmt, wie bereits im vorhergehenden Kapitel deutlich wurde, eine lange Tradition. Die armenische Diaspora Griechenlands ist nach wie vor auf der Basis von Kirchengemeinden organisiert.54 Diese gehören seit der Kirchenspaltung von 53

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Diese Spaltung trifft auch auf andere Diasporagemeinden zu (vgl. Bakalian 1993; Björklund 1993; Pattie 1996; Phillips 1989; Talai 1984; dies. 1986; dies. 1989; Tölölyan 1988; Der. 1991). Im Gegensatz zu armenischen Gemeinden in Deutschland zum Beispiel, die in erster Linie als Kulturvereine organisiert sind. In Deutschland wurde erst 1992 eine Diözese der Armenischen Kirche eingerichtet, die zum Katholikat von Etschmiadzin gehört. Seitdem konkurrieren der Zentralrat armenischer Organisationen (ZAD), der bis zur Gründung der Diözese die Dach-organisation aller

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

1958 mehrheitlich zum Katholikat von Antelias und werden daher politisch von der Daschnaktsutiun dominiert. Obwohl keine offiziellen Zahlen vorliegen, ist davon auszugehen, dass 90% der Armenier Griechenlands armenischorthodox sind und einer der Antelias-Gemeinden angehören. Das Katholikat von Etschmiadzin behielt nur eine kleine Kirche im Stadtviertel Peristeri. Politisch wird diese Gemeinde mit der Ramgavar gleichgesetzt. Mit dieser Paroikia identifizieren sich nicht mehr als einige Hundert Armenier in Thessaloniki und Athen. In Athen gibt es darüber hinaus noch eine katholisch-unierte und zwei protestantische Gemeinden.55 Die armenisch-orthodoxen Gemeinden – die dominante Antelias-Paroikia und die marginale Etschmiadzin-Paroikia – definieren sich als ethnopolitische Gemeinschaften im Sinne einer „Nation im Exil“, die untrennbar mit der Nationalkirche, der armenischen Orthodoxie, verbunden ist. Wie auch in anderen Konzepten nationaler Identität werden religiöse, ethnische und nationale Zugehörigkeit gleichgesetzt, auch wenn religiöse und ethnische Identifikation, wie im Fall der katholischen und protestantischen Armenier und Armenierinnen, gar nicht übereinstimmen. Ihre zentralen Aufgaben sah und sieht diese armenische Nationalkirche in der Diaspora daher nicht in der spirituell-religiösen Begleitung ihrer Mitglieder, sondern in der Administration und der Identitätsarbeit (Tölölyan 1988). Letztere ist auf die Erhaltung armenischer Identität im Sinne der dominanten Politiken der Parteien ausgerichtet.56 Auch für Bischof Ayvasian, den geistigen Führer der Antelias-Gemeinden, hatte nicht Religiosität, sondern die Erhaltung von armenischen Schulen oberste Priorität. Wie alle meine Ge-

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armenischen Vereine Deutschlands war, mit der Diözese um die Führungsposition in der entstehenden armenischen Diaspora Deutschlands (Tauber 1999: 46-47). Diesel kurze Vergleich zeigt zum einen, wie stark Strukturen des Residenzlandes auf die Institutionalisierungsprozesse in der Diaspora einwirken und zum anderen, dass Spaltungen, selbst wenn sie nicht politisch motiviert sind, charakteristisch für die armenische Diaspora sind. Die katholische Gemeinde zählt offiziell ca. 300 bis 400 Mitglieder und gehört der autokephalen armenisch-unierten Kirche mit Hauptsitz im Libanon an. Finanziell wird sie jedoch auch von der römisch-katholischen Kirche unterstützt. Die evangelischen Gemeinden gehören zur armenischprotestantischen Kirche, die ebenfalls autokephal ist und ihren Hauptsitz in den USA hat. Auch in diesem Fall profitieren die zwei sehr kleinen Athener Gemeinden (nur ca. 100 aktive Mitglieder) finanziell durch ihre traditionell guten Beziehungen zu anderen protestantischen Kirchen in den USA. Auf diese Weise können sie auch nach wie vor einen eigenen Kindergarten unterhalten. Von armenischen Intellektuellen der Diaspora wird der armenisch-orthodoxen Kirche vorgeworfen, durch die Konzentration auf administrative Pflichten und politische Querelen, keine zeitgemäßen spirituellen Konzepte entwickelt zu haben, sondern im Hinblick auf religiöse und gesellschaftliche Themen (wie z.B. die Frage nach der Rolle von Frauen in den patriarchalischen Hierarchien der Kirche) noch im 15. Jh. zu verharren (Tölölyan 1988: 62-64).

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sprächspartnerinnen und Gesprächspartner war er der Meinung, dass diese das einzige Mittel seien, die „Erosion“ armenischer Identität bei der Jugend zu verhindern und diese an die Paroikia zu binden: „Ich sage es allen: ‚Wir müssen auf unsere Paroikia acht geben, auf unsere Kirchen, unsere Schulen, damit unsere Sprache erhalten bleibt, unsere Sitten usw.‘ E, wie es eben möglich ist. Wenn Sie nach Frankreich gehen, wissen Sie, wie viele Armenier es dort gibt? Das glauben Sie nie! 300.000, 400.000 Armenier hat die Paroikia dort. Die sind verloren gegangen. Nicht mal 100.000 gibt es noch, die Armenisch können. Nicht mal Schulen haben sie, nichts! Verstehen Sie? Ich sage es ganz frei heraus, für mich ist das A und O, der Glaube hat sich in der Geschichte verloren, es ist die Sprache, die Schulen. Das ist die Basis! Ihnen helfe ich so gut es möglich ist und das meiste Geld, das wir haben, stecken wir in die Schulen.“ (Interview Nr. 95, 02.02.1998, S. 19)

So verstand sich Bischof Ayvasian gleichzeitig als geistliches und weltliches Oberhaupt aller Armenier Griechenlands: „Ich bin der geistliche Führer der Paroikia in Griechenland, erstens. Zweitens gibt es an organisation (sic!), es gibt unsere allgemeine Versammlung, die durch Wahlen bestimmt wird, das parliament (sic!). Das ist das Prinzip. Und dort bin ich Vorsitzender.“ (Interview Nr. 95, 12.02.1998,.S. 25)

Die katholisch-unierten und die protestantischen Gemeinden dagegen sind ihrem Selbstverständnis nach reine Kirchengemeinden und verhalten sich als Institutionen politisch neutral, auch wenn einzelne Gemeindemitglieder Anhänger einer der beiden Parteien sind. Dass sich diese Gemeinden in erster Linie als reine Kirchengemeinden verstehen, spiegelte sich auch in den Aktivitäten ihrer geistlichen Oberhäupter wider, die auf religiöse Themen fokussiert waren. Der katholische Priester bemühte sich sehr um die Ökumene, d.h. um Kontakte zu anderen christlichen (Diaspora-)Kirchen in Athen, indem er zum Beispiel ökumenische Weihnachtsfeiern organisierte. Für den evangelischen Pfarrer waren Kontakt zu und Unterstützung von armenischen Migranten und Migrantinnen aus der Republik und Ländern des Mittleren Ostens besonders wichtig. Er leitete einen Gesprächskreis für Erwachsene, in dem sowohl über religiöse Themen als auch über alltägliche Probleme diskutiert wurde, allerdings immer in Rückbezug auf die Bibel. „Nationale Themen“, die bei den Veranstaltungen in den orthodoxen Gemeinden im Vordergrund standen, kamen hier nicht zur Sprache und „einheimische“ Armenier nahmen daran nicht teil. Die explizite politische Neutralität dieser Gemeinden wurde darüber hinaus auch dadurch deutlich, dass ihre offiziellen Veranstaltungen zu den wenigen Anlässen gehörten, die Führer und Anhänger der Daschnak und der Ramgavar gleichermaßen besuchten. Evangelische und katholische Armenier standen außerdem nicht unter dem gleichen öffentlichen Identifikationszwang mit einem der beiden Lager wie armenisch-orthodoxe Armenier; es sei denn sie waren Mitglieder der einen oder anderen Partei. So waren es in Athen fast ausschließlich evangelische oder katholische Armenier, die Veranstaltungen beider politischer Fraktionen besuchten. 90

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Da meine Feldforschung vor allem auf die Antelias-Gemeinde fokussiert war, stehen die Strukturen dieser Paroikia im Vordergrund meiner nun folgenden Beschreibung. Administrative Strukturen der Antelias-Paroikia Die administrativen Strukturen der Antelias-Gemeinden basieren nach wie vor auf der Verfassung von 186057, die auch bei der Etablierung armenischer Diasporastrukturen kurz nach der Flucht nach Griechenland richtungsweisend gewesen war. Die grundlegende legislative Autorität liegt bei der so genannten allgemeinen Versammlung (griech.: geniki synelevsi). Sie wird von allen den Armeniern gewählt, die Mitglied der Antelias-Paroikia Griechenlands sind. Der Klerus darf nicht mehr als ein Siebtel der Sitze haben. Dies gilt nicht nur für die allgemeine Versammlung, sondern für alle Organisationsebenen der Antelias-Gemeinden. Diese allgemeine Versammlung bestätigt den Bischof in regelmäßigen Abständen in seinem Amt. Im Prinzip hat die allgemeine Versammlung also das Recht, den Bischof oder jeden anderen Kleriker seines Amtes zu entheben und aus Beirut Ersatz zu fordern. Von diesem Recht machte 1998 die Kirchengemeinde Kokkinia in Athen Gebrauch. Nach mehreren Auseinandersetzungen mit dem neuen Gemeindepriester aus dem Libanon, die sich unter anderem an divergierenden Meinungen über die „richtige“ Ausführung religiöser Rituale entzündeten, schickte die Gemeinde den Priester nach Antelias zurück. Außerdem wählt die allgemeine Versammlung die Mitglieder für ein kirchliches und ein politisches Komitee, bei denen die oberste exekutive Autorität für alle Gemeinden Griechenlands liegt. Aufgrund des Mitspracherechts von Laien werden Antelias-Gemeinden als demokratisch bezeichnet im Gegensatz zu den Etschmiadzin-Gemeinden, in denen Laien kein Mitspracherecht haben.58 Die „Demokratie“ der Antelias-Gemeinden ist für ihre Mitglie57

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Bei der Verfassung von 1860 handelte sich um ein Dokument mit einer langen Präambel und 150 Artikeln, die eher ein Regelwerk als eine Verfassung darstellten und sich ausschließlich auf die interne Organisation des armenischen Millets im Osmanischen Reich bezogen. Die bestehenden Strukturen wurden reorganisiert und leicht modifiziert, die Macht des Patriarchen wurde eingeschränkt, er blieb jedoch das geistliche und weltliche Oberhaupt des Millets. Außerdem wurde eine gewählte Nationalversammlung eingerichtet, in der den Laien 6/7 der Sitze zuerkannt wurden. Diese Nationalversammlung wählte sowohl den Patriarchen, als auch eine religiöse und politische Versammlung, das Askain Ischanutiun, das Wirtschafts- und Schulfagen regelte (Barsoumian 1997: 195-199; Gust 1993: 77-79; Phillips 1989: 65-68). Die unterschiedlichen Strukturen sind auf die unterschiedliche konstitutionelle Entwicklung der armenischen Kirche inner- und außerhalb des osmanischen Reiches zurückzuführen. Sie zeigen auch, inwieweit die inneren Organisationsstrukturen der armenischen Kirche in einen über greifenden, nichtarmenischen politischen Kontext eingebunden war. Während für die

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der ein wichtiges und positives Symbol der Abgrenzung zu Etschmiadzin, mit dem gleichzeitig die Aufrechterhaltung der prinzipiell als problematisch angesehenen Kirchenspaltung gerechtfertigt wird. Der kirchliche Rat kümmert sich ausschließlich um Fragen und Probleme, die unmittelbar mit der Kirche als religiöser Institution zusammenhängen. Besonders einflussreich ist dagegen das politische Komitee (arm.: Askain Ischanutiun), da es über alle anderen die Paroikia Griechenlands betreffenden Probleme und Fragen entscheidet wie z.B. Strategien der Identitätspolitik in der Paroikia oder gegenüber dem griechischen Staat und die Finanzen.59 Das Askain Ischanutiun bestimmt auch die personelle Zusammensetzung der politischen Komitees in den einzelnen Kirchengemeinden, die dem Askain Ischanutiun einmal im Jahr rechenschaftspflichtig sind. Der Bischof ist Vorsitzender sowohl des kirchlichen als auch politischen Rates. Außerdem hat das Askain Ischanutiun noch einen nicht-klerikalen Vorsitzenden, den Präsidenten der armenischen Paroikia in Griechenland. Ähnlich wie die lokalen Kirchengemeinden dem zentralen kirchlichen und dem politischen Komitee aller Gemeinden in Athen einmal im Jahr Rechenschaft ablegen müssen und Weisungen erhalten, sind diese Komitees gegenüber der allgemeinen nationalen Versammlung im Antelias rechenschafts- und berichtspflichtig. Alle ein bis zwei Jahre treffen sich dort die Repräsentanten (für Griechenland Bischof Ayvasian) aller Diasporagemeinden, die dem Katholikat von Antelias angehören, um vor der allgemeinen nationalen Versammlung und dem Katholikos ihre Rechenschaftsberichte abzugeben, Weisungen entgegenzunehmen und Vorgehensweisen zu diskutieren. Trotz dieser hierarchischen Struktur, die die Antelias-Gemeinden in der gesamten Diaspora verbindet, gibt es auf der Ebene der einzelnen Diasporagemeinden einen Spielraum in der Umsetzung der Weisungen von oben, der den unterschiedlichen lokalen Bedingungen der Kirchengemeinden Rechnung trägt. Zwar sind die einzelnen Kirchengemeinden weisungsgebunden, jedoch entscheiden sie aufgrund ihrer Kenntnisse der lokalen Verhältnisse, mit welchen Mitteln und Wegen diese Weisungen am besten umzusetzen sind. Auch an dieser Stelle wird die Bedeutung des Lokalen für Identitätsarbeit in der Diaspora deutlich. Nach Khachig Tölölyan (2001b: 114-115) liegt gerade in der Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse der große Erfolg der transnationalen armenischen Institutionen wie der Kirche und der Parteien als identitätsstif-

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armenische Kirche im osmanischen Reich seit 1860 die nationale Verfassung maßgeblich war, unterlag Etschmiadzin der Polozhenie, einem Konglomerat von Gesetzen, die von der russischen Regierung 1836 verabschiedet worden waren. Demnach unterstand die Kirche im russischen Reich der Autorität des Zaren, ähnlich wie im osmanischen Reich dem Sultan (vgl. Phillips 1989: 6667). Im Gegensatz zur Antelias-Kirche haben jedoch Laien keinerlei Mitspracherecht bei der Administration. Das Askain Ischanuitun unterhält eine Reihe von untergeordneten Komitees, die sich mit den einzelnen Bereichen wie Finanzen, juristischen Fragen, der Schule usw. beschäftigen.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

tende Organisationen. Ein gutes Beispiel für die Unterschiede lokaler Umsetzungen globaler armenischer Identitätsarbeit in der Diaspora, das ich später detailliert diskutieren werde, ist die ritualisierte Politik der Erinnerung an den Genozid. Diese setzte in den einzelnen Diasporagemeinden aufgrund einer allgemeinen Weisung des Katholikos Vasgen I. im Jahr 1965 ein und wurde selbst in Athen und Thessaloniki unterschiedlich umgesetzt. Die lokale Autonomie wird auch dadurch gestützt, dass die einzelnen Gemeinden im Prinzip finanziell autark sind. Sie bezahlen auch die Gehälter der lokalen Geistlichen. Die armenischen Kirchengemeinden in Griechenland finanzieren sich ausschließlich über Spenden der Mitglieder, den so genannten Dorees.60 Dorees können viele Formen annehmen, sie reichen von einmaligen oder regelmäßigen61 Spenden unterschiedlich hoher Geldsummen bis zur Überschreibung von Grundbesitz und Immobilien, die den Kirchengemeinden und Vereinen längerfristige Einnahmen sichern. Zwar liegen mir weder Zahlen über die Einkünfte der Gemeinden noch über Spenden vor, die Privatpersonen im Laufe des Jahres machten. Betont werden muss jedoch, dass gemessen an dem relativ kleinen Kreis von Armeniern, die sich mit der Paroikia identifizieren, ein verhältnismäßig hohes Maß an finanziellen Mitteln aufgebracht wurde.62 Und zwar nicht nur um die Institutionen der lokalen Paroikia am Leben zu erhalten, sondern seit dem Erdbeben von 1989 auch, um die Republik Armenien finanziell zu unterstützen. Diese hohe Bereitschaft zu Geldspenden steht im Zusammenhang mit der dominanten Ideologie des Askabahbanum (arm. Nations-Bewahrung) und der Vorstellung einer reinen armenischen Identität, die durch die Gefahren der Assimilierung, dem „weißen Genozid“, in der Diaspora einer ständigen Bedrohung ausgesetzt ist. Da eine reine armenische Identität in der Diaspora nicht zu bewahren ist, sind ständige Bemühungen und Handlungen erforderlich, die als Opfer (Thysies) und Gaben (Prosfores – wörtlich Angebote) bezeichnet werden. Die Praxis der Geldspende war daher für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eine der Handlungen, mit denen armenische Identität zugleich geschaffen, aufrechterhalten und für andere sichtbar und vorbildhaft aufgeführt werden konnte. Der Charakter des Vorbildhaften sowie die Nachweisführung über die eigene armenische Identität wurden auch dadurch ausgedrückt, dass es üblich war, Namen der Geldspender und die Höhe der Beträge in den armenischen Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen. Personen, die höhere Geldsummen oder Immobilien/Grundstücke spendeten, wurden öffentlich ausgezeichnet und geehrt. Häufig waren Spen60 61

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Kirchensteuern in unserem Sinne gibt es in Griechenland nicht. Geldspenden an die Kirche, Partei oder Vereine der Paroikia sind z.B. anläßlich besonderer Momente im Lebenszyklus eines Individuums oder seiner Familie z.B. bei Geburten, Taufen, Hochzeiten, Todesfällen und in Erinnerung daran üblich. Nach Khachig Tölölyan (2000b: 124) ist diese hohe Bereitwilligkeit, Zeit, Arbeitskraft und Geld zu investieren, ein typisches Merkmal armenischer Diasporagemeinden.

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den an Verwendungszwecke wie den Bau eines neuen Gebäudes gebunden, so dass z.B. ein Versammlungsraum den Namen des Spenders bekam. Besonders bedeutende Philanthropen wie Alex Manoukian, der legendäre Gründer des Parekordzagan, zum Beispiel, haben den Status nationaler Helden, zumindest für die Anhänger der Ramgavar bzw. des Parekordzagan. Dorees und Thysies sind also Performanzen armenischer Identität, mit denen Armenierinnen und Armenier öffentlich unter Beweis stellen können, dass sie armenische Identität im Einklang mit in der Paroikia dominanten Konzepten von Armenischsein leben. In Notfällen oder für besondere Projekte, wie z.B. die Schulen in Athen oder das Kinderferienlager der Paroikia in Thessaloniki, bitten armenische Paroikies in Griechenland auch um die finanzielle Unterstützung der armenischen Diaspora in anderen Ländern. Gleichzeitig unterstützen armenische Institutionen in Griechenland seit dem Zusammenbruch der UdSSR auch armenische Gemeinden in den angrenzenden Balkanländern, z.B. in Bulgarien. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass die Grenzen lokaler Handlungsfähigkeit innerhalb der hierarchischen Strukturen immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. So gab es seit Jahren einen Konflikt zwischen der Paroikia in Thessaloniki und dem Askain Ischanutiun in Athen über den Beitrag Thessalonikis zur finanziellen Unterstützung der Athener Schulen. Zwar bezweifelten auch Armenier in Thessaloniki nicht, dass armenische Schulen wichtige Institutionen sind, um Identität zu erhalten und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Einverstanden waren sie hingegen nicht mit der Höhe der finanziellen Unterstützung, die sie aufzubringen hatten. Außerdem hatte die Paroikia in Thessaloniki mit der Begründung des Kinderferienlagers auf der Chalkidiki ein Projekt ins Leben gerufen, das ihrer Ansicht nach ebenso erfolgreich wie armenische Schulen in Athen Kinder an armenische Identität binden. Der lokale Verband der Wohltätigkeitsorganisation Gabuit Hatch63 in Thessaloniki hatte sich erfolgreich dagegen wehren können, die Kontrolle über dieses Projekt an Athen abzugeben. Damit war auch eine Begründung geschaffen worden, um das Kapital der Paroikia großteilig für eigene Projekte zu verwenden. Obgleich die administrativen Strukturen der Gemeinde von der armenischorthodoxen Kirche getragen werden, erhebt die Daschnaktsutiun (respektive die Ramgavar in der Etschmiadsin-Paroikia) einen Führungsanspruch in der Paroikia, der die Kirche einschließt. Der Vorsitzende des Armeniki Ethniki Epitropi Ellados (Armenisches Nationalkomitee Griechenlands), dem offiziellen Sprachrohr der Daschnak in Griechenland, legitimierte diesen Führungsanspruch durch die historischen Verdienste der Partei beim Aufbau der Paroikia:

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Diese Organisation ist auch unter dem Kürzel HOM (armenisch: Abkürzung für Hay Oktounian Mioutioun – Armenische Hilfsvereinigung) bzw. unter der englisch sprachigen Bezeichnung Armenian Relief Society bekannt.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN „Wir haben die Kontrolle über die Paroikia, weil wir die Paroikia von Anfang an organisiert haben. Wir haben uns von Anfang an mit den Themen der Gemeinde auseinandergesetzt. Nicht nur in Griechenland, (...) die Daschnaktsutiun ist die stärkste Kraft der Diaspora.“ (Interview Nr. 64, 05.12.1996, S. 5).

Die dominante Position der Daschnak in Griechenland gründete sich auf drei strukturelle Faktoren: Erstens waren Positionen in den politischen Komitees der einzelnen Kirchengemeinden und im Askain Ischanutiun mit Parteimitgliedern oder Anhängern der Daschnak besetzt (zum Verhältnis von Parteimitgliedern und Anhängern siehe Abschnitt 4.2 in diesem Kapitel). Zweitens waren praktisch alle weiteren Institutionen wie die Schulen, Organisationen und Vereine mit der Partei affiliiert. Drittens waren die Daschnak und ihre Organisationen, ähnlich wie die armenisch-orthodoxe Kirche, in ein hierarchisch organisiertes Gefüge eingebunden, das die ganze armenische Diaspora umspannt. Die besondere Stärke dieser Organisationsform basierte, wie mir der Vorsitzende des Politischen Komitees Griechenlands erläuterte, auf den zwei ineinander greifenden Prinzipien der „ideologischen Zentralisierung“ und der „organisatorischen Dezentralisierung“:64 „Die Stärke der Daschnaktsutiun ist ihre Organisation. Überall auf der Welt, in allen Ländern, gibt es politische Organisationen der Daschnaktsutiun, aber die unterstehen alle dem zentralen Organ, dem Büro (sic!). Daher vertreten wir auch alle die gleiche Richtung. Ich sage Dir, in unserem Programm gibt es zwei Prinzipien: Es gibt die ideologische Zentralisierung und die organisatorische Dezentralisierung. (...) Damit wir funktionieren können. Also haben wir die Entscheidungen, die Anweisungen, die das Büro (sic!) schickt. Aber darüber hinaus handelt jede Region autonom. Und eine dieser Regionen ist ganz Griechenland. Das heißt, Thessaloniki gehört zu Athen. Das heißt, wir können auf der Basis der Gegebenheiten in Griechenland entscheiden, wie und was genau wir machen.“ (Interview Nr. 65, 05.12.1996, S. 8)

Im Folgenden werde ich beschreiben, wie das Prinzip der organisatorischen Dezentralisierung auf der Ebene lokaler Identitätsarbeit funktioniert. Dabei 64

Der Chefredakteur der armenischen Tageszeitung Azat Or Barsamian, der ebenfalls zur Führung der Daschnak in Athen gehörte, beschrieb dieses System der Dezentralisierung auf meine Frage nach dem heutigen Zentrum der Partei folgendermaßen: „Ich antworte Ihnen, damit Sie mich nicht philosophisch finden oder denken, ich gehe Ihrer Frage aus dem Weg. Die Daschnaktsutiun ist dort wo es einen Daschnak, ein Parteimitglied, gibt. Das heißt, ich bin hier, hier ist die Daschnak, dort ist ein anderer. Es gibt kein Zentrum, weil unser System allgemein auf der Basis eines dezentralen Systems basiert. Das heißt decentralisation (sic!). (Die Partei) gibt es überall, wir schließen uns nicht an einem Ort ein, weil es uns einfach an sehr vielen Orten gibt. Heute arbeitet die Daschnaktsutiun in 30 Ländern der Diaspora, in 30 Ländern, es gibt kein Zentrum. Die zentrale Führung wird international gewählt. Der eine kann aus dem Libanon kommen, der andere aus Amerika, aus Frankreich, der andere aus Armenien, auch wenn er jetzt im Gefängnis sitzt und aus Australien oder Kanada. Das hat keine Bedeutung, sie ist überall.“ (Interview Nr. 57, 03.12.1996, S. 6).

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wird deutlich werden, dass der Erfolg der Daschnak als dominanter Partei in Griechenland vor allem darin begründet, liegt, dass das System der „organisatorischen Dezentralisierung“ mit dem Aufbau lokal verorteter Strukturen, d. h. einem Prozess der Territorialisierung einhergeht. „Organisatorische Dezentralisierung“ und lokale Identitätsarbeit Die Paroikia in Athen Athen ist nicht nur die Hauptstadt des griechischen Nationalstaates sondern gleichzeitig auch das politische und kulturelle Zentrum der armenischen Diaspora in Griechenland. Dort leben mit 10.00065 Armeniern die überwältigende Mehrheit der etablierten armenischen Diaspora, die auf ca. 12.000 Mitglieder geschätzt wird. Dort befindet sich der Sitz des Bischofs, dem offiziellen Repräsentanten aller Armenier in Griechenland, die Zentralverbände der Parteien und Organisationen, armenische Schulen und Zeitungen. Die Paroikia in Thessaloniki, Griechenlands zweit größter und zweit wichtigster Stadt – dies drückt sich in ihrem Beinamen „Synprotevoussa“ (Mithauptstadt) aus – ist mit 1.000 Mitgliedern nach Athen zwar die größte und bedeutendste armenische Paroikia in Griechenland, befindet sich jedoch in einer dem Zentrum Athen untergeordneten hierarchischen Position. Die unterschiedliche Größenordnung beider Paroikies und vor allem ihre unterschiedliche Position im hierarchisch strukturierten transnationalen Raum der armenischen Diaspora sind zwei sehr wesentliche Aspekte, in denen die Paroikies von Thessaloniki und Athen voneinander abweichen. Im Folgenden wird deutlich, dass dies auch Differenzen in anderen Bereichen nach sich zieht. Im Großraum Athen gibt es heute sieben Kirchengemeinden, von denen die drei demographisch stärksten Gemeinden – die Bischofsgemeinde in der

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Die hier verwendeten demographischen Daten sind durchweg Schätzwerte, die zum einen von meinen armenischen Gesprächspartnerinnen verwendet wurden und zum anderen in der Literatur angegeben sind (vgl. Hassiotis/Kassapian 1986; Hassiotis 1995). Sie basieren auf Zahlen, die aus Einträgen in die Kirchenbücher ermittelt wurden. Da Armenier in Griechenland den rechtlichen Status einer religiösen, nicht aber ethnischen Minderheiten haben, werden Mitgliederzahlen nur über Kirchenbücher ermittelt, in denen Taufen, Eheschließungen und Todesfälle festgehalten werden. Berücksichtigt werden dabei weder die Zuwanderer aus Armenien, die in den letzten Jahren nach Griechenland gekommen sind, noch die Kinder aus interethnischen Ehen, die zwar in griechisch-orthodoxen Kirchen getauft wurden, sich aber als Armenier wahrnehmen bzw. wahrgenommen werden. Außerdem geht aus diesen Schätzwerten nicht hervor, wie groß der Prozentsatz derjenigen Armenier ist, die zwar formal armenisch-orthodox sind, sich jedoch nicht mit Armenisch-Sein identifizieren. Daher sind alle Angaben zu Mitgliederzahlen der Paroikia, zur Altersstruktur, zur Geschlechterverteilung und zum Verhältnis interethnischen Ehen zu endogamen Ehen reine Schätzwerte.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Innenstadt und die Kirchengemeinden von Fix und Kokkinia66 zum Katholikat von Antelias gehören. Daneben gibt es noch, wie bereits erwähnt, eine Ramgavar-Etschmiadzin-Paroikia, eine katholische und zwei protestantische Gemeinden. Die zahlenmässig größten Gemeinden sind parteilich gebunden. Beide Parteien können mit Lewis Coser (1974) als „gierige Institutionen“ bezeichnet werden, da sie ihren Mitgliedern und Anhängern ungeteilte Loyalität abverlangen, zumindest in Hinblick auf deren Beziehungen zur jeweiligen anderen Partei. Beide Parteien unterhalten in ihren Gaghuts eine Bandbreite an Institutionen und Vereinen, die die sozialen und kulturellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder „von der Wiege bis zu Bahre“ abdecken. Zur Daschnak-Fraktion gehörten neben den Landesbüro der Partei, ihrer Jugend- und Kinderorganisation und deren jeweiligen Ortsgruppen in den einzelnen Kirchengemeinden auch die Landesbüros und Ortsgruppen der diasporaweit vertretenen Organisationen, die mit der Daschnak identifiziert werden: Die Wohltätigkeitsorganisation Gabuit Hatch, die Sport- und Pfadfinderorganisation Homenetmen67 und der Kulturverein Hamaskain. Außerdem unterhielt die Daschnak-Paroikia eine Tageszeitung68, zwei Kindergärten, zwei Grundschulen und eine weiterführende Schule, die in Fix und Kokkinia lokalisiert waren. Schulen und Kindergärten waren in beiden Stadtvierteln in einem größeren Gebäudekomplex untergebracht, in denen auch die Vereine ihre Büros hatten. Zu diesen Gebäudekomplexen gehörten außerdem Sportplätze, Versammlungsräume und die Leschi (griech.: Klub). Die Leschi war gleichzeitig auch eine Cafeteria und ein Treffpunkt für junge Leute. Diese beiden Gebäudekomplexe in Kokkinia und Fix waren damit die wichtigsten territorialen Zentren der Daschnak-Paroikia. Im Gegensatz dazu war die zahlenmäßig weitaus kleinere Paroikia69 der Ramgavar-Etschmiadzin-Fraktion natürlich weniger gut ausgestattet. Aber sie 66

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Fix und Kokkinia sind – auch nach der Auflösung der „Ghettos“– nach wie vor die Stadtviertel des Großraums Athen, in denen die meisten Armenier leben und vor allem die meisten armenischen Institutionen zu finden sind (vgl. Kapitel 3.2 und 3.4) armenisch: Bezeichnung ergibt sich aus den Initialen des vollen Namens: Haygagan Marmnamazagan Entanur Mioutioun: Armenische Allgemeine Körperertüchtigungs-Vereinigung. Azat Or ist eine achtseitige Tageszeitung, die sechs Mal in der Woche erscheint. Sie berichtet über Entwicklungen in Armenien, der armenischen Diaspora und Griechenland, aber auch über die Länder, die für Armenien bedeutsam sind. Während die Lokalnachrichten in Griechenland entstehen, nutzt man für andere Themen eine Datenbank, die mit anderen armenischen Zeitungen weltweit geteilt wird. Die Zeitung wurde bereits unmittelbar nach der Flucht 1922 gegründet unter dem Namen Nor Or (arm. Neuer Tag). Während der Besatzungszeit wurde sie eingestellt und erschien direkt 1944 wieder unter ihrem neuen Namen Azat Or – Freier Tag. Auch hier liegen keine offiziellen Zahlen vor und selbst Schätzwerte sind äußerst problematisch, da jede Fraktion ein Interesse daran hat, manipulative Zahlen zu nennen, um den eigenen Einfluß zu illustrieren.

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unterhielt immerhin auch einen Kindergarten und eine Grundschule im Athener Stadtviertel Amfitheas, die vom Parekordzagan finanziert wurden. Und auch sie besaß mit dem 1997 im Stadtteil Nikäa eröffneten Kulturzentrum einen zentralen Ort, an dem alle Vereine und Institutionen konzentriert waren: Das Büro der Wochenzeitung Nor Aschat, der Kultur- und Sportverein Ararat, der auch eine Kinder- und Jugendgruppe unterhält und vor allem die einflussreiche Wohltätigkeitsorganisation Parekordzagan. Das Gebäude, eine ehemalige griechische Schule, war erst Mitte der 90er Jahre von Spendengeldern, die zum Teil aus dem Ausland stammten,70 gekauft und renoviert worden und wurde im Januar 1998 in einer feierlichen Zeremonie eingeweiht. Bedenkt man, dass die Ramgavar-Paroikia nicht mehr als höchstens 300 mehr oder weniger aktive Mitglieder umfasst, wobei der Kreis der Aktivisten sehr viel kleiner ist, wird deutlich, welche organisatorischen und finanziellen Anstrengungen unternommen wurden, um ein eigenes Territorium zu errichten. Diese Bedeutung von Territorialisierung wurde auch während der Einweihungsfeier in Szene gesetzt. Die Querstraße, in der sich das Kulturzentrum befindet, war mit Stühlen abgeriegelt worden, der Durchgang wurde von zwei Pfadfindern kontrolliert. Die in dieses „armenisch definierte“ Territorium eintretenden Gäste wurden am Treppenaufgang zum Gebäude von einer weiteren Abordnung der Pfadfinder empfangen. Am Gebäude selber war in griechischen und armenischen goldenen Schriftzeichen deutlich sichtbar „Parekordzagan – Kulturzentrum Nikaia“ angebracht. Im vorhergehenden Kapitel habe ich mit der Analyse der Erinnerungserzählungen an die Ghettos gezeigt, dass die symbolische Identifikation mit den ehemaligen armenischen Enklaven, den „Ghettos“, selbst für Armenier der dritten und vierten Generation noch heute relevant ist. Ich habe argumentiert, dass daran deutlich wird, wie zentral die von der akademischen Diasporadiskussion vernachlässigte symbolisch-affektive Identifikation mit dem Lokalen für die Prozesse der Identitätsbildung in der Diaspora sind (vgl. Tölölyan 2001b: 111f., Fußnote 9). Armenische Kulturzentren erfüllen dieses Bedürfnis nach Territorialisierung in einer Zeit, in der Armenier über das ganze Stadtgebiet verstreut lebten. Dabei wird versucht, die in der kollektiven Erinnerung nostalgisierte Lebensform der ethnischen Enklave des Ghettos in den Kulturzentren zu konservieren. Damit in Verbindung stehende positive Bedeutungen, wie unter sich in einem armenisch-sprachigen und kulturellen Umfeld zu sein, werden auf das Kulturzentrum übertragen: So war der Zutritt für Odars (arm.: Fremde) zwar nicht direkt verboten, sie betraten diese Räume jedoch nur auf Einladung oder in Begleitung von Armeniern. Die Exklusivität dieser Orte wurde auch durch ihre Architektur ausgedrückt. Sie waren durch Mauern 70

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Die höchste private Spende von fünf Millionen Drachmen (ca. DM 30.000) kam von einem in den USA lebendem armenischen Ehepaar, die das Geld zum Andenken an die Eltern des Ehemannes gespendet hatten. Von diesem Geld war ein Saal renoviert worden, der nun in im Rahmen der Eröffnungszeremonie nach den (ungewöhnlicherweise noch lebenden) Eltern benannt wurde.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

und Zäune von der Straße. abgegrenzt und durch Tafeln mit armenischen Zeichen und durch armenische Fahnen (allerdings immer zusammen mit der griechischen Fahne) deutlich sichtbar als armenische Orte definiert. Es wurde auch darauf geachtet, dass griechische Kinder aus den umliegenden Stadtvierteln nicht die Sportplätze benutzten. Außerdem wurde erwartet, dass in diesem armenisch-definierten Territorium nur Armenisch gesprochen wurde. Da vor allem Kinder und Jugendliche dieses Verhaltensnorm schon mal außer Acht ließen, hingen zum Beispiel im Kulturzentrum in Neos Kosmos überall Schilder mit der Aufschrift „Ich spreche Armenisch, Du sprichst Armenisch. Lass uns Armenisch sprechen!“ Dahinter steht die Überzeugung, dass ethnischkulturelle Grenzen umso stärker verteidigt werden müssen, wenn sie nicht mit geographischen zusammenfallen. Die „diasporische öffentliche Sphäre“71 ist in Athen also nicht nur ideologisch/symbolisch, sondern auch räumlich gespalten. Denn im Prinzip gab es kaum Räume oder Orte, an denen sich Anhänger beider politischer Fraktionen begegnen müssten72 bzw. die nicht einer der beiden Fraktionen klar zugeordnet würden. Voraussetzung für die soziale Einbindung einer Person in die Strukturen der armenischen Diaspora in Athen war daher ihre – zumindest öffentliche – Identifikation mit einer der beiden Parteien.73 Offizielle Parteimitgliedschaft war keine Bedingung für Anhängerschaft; die Anzahl der tatsächlichen Parteimitglieder war sehr gering.74 Dieser Prozess der Identifikation mit einer der beiden Parteien wurde in der Regel durch die Sozialisation geprägt. Die Zugehörigkeit der Eltern entschied darüber, in welcher Kirche man getauft wurde, welchen Kindergarten, welche Schule, welche Jugendorganisation man besuchte. Der Parteiwechsel war zwar möglich, aber eher selten, da 71

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Der Begriff „diasporic public sphere“ wurde von Pnina Werbner im Hinblick auf pakistanisch-muslimische Diaspora in Großbritannien geprägt. Sie versteht darunter „a space in which different transnational imaginaries are interpreted and argued over, where aesthetic and moral fables of diaspora are formulated, and political mobilisation is generated“ (zit. n. Tölölyan 2000: Fußnote 6). Eine Ausnahme stellt lediglich die weiterführende Schule dar. Zwar unterhält jede Partei Grundschulen, aber es gibt nur eine weiterführende Schule, die mit der Daschnak identifiziert wird. Wollen Ramgavarfamilien ihre Kinder auf eine armenische Schule in Athen schicken, haben sie also keine andere Möglichkeit. Oftmals entscheidet man sich allerdings dazu, die Kinder auf die Schule der armenischen Wohltätigkeitsorganisation Parekordzagan in Zypern zu schicken, die politisch der Ramgavar nahe steht. Davon ausgenommen waren partiell katholische und protestantische Armenier, da sie mit der Taufe eines Kindes bzw. einer Eheschließung nicht automatisch politisch Stellung beziehen mussten. Tölölyan (1992: 19) geht z.B. davon aus, dass bei einer Zahl von 1,5 Mio. Armeniern in der Diaspora außerhalb der GUS-Staaten nur 8.600 zu den Kadern der Daschnak zählen. Für Griechenland war gerüchteweise im Hinblick auf die Daschnak von 300 bis 500 Parteimitgliedern die Rede. Die Anzahl der Ramgavar-Parteimitglieder kann nach meiner Einschätzung höchstens bei 50 liegen.

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sich damit auch das gesamte armenische soziale Umfeld verändert hätte. Daher war Heirat im Prinzip die fast einzig praktizierte und vor allem auch sozial akzeptierte Form, von einer Fraktion in die nächste zu wechseln. Dabei war es immer die Frau, die wechselt.75 Allerdings sind diese „interfraktionellen“ Eheschließungen immer noch eher die Ausnahme als die Regel.76 Daher wäre es auch völlig verkürzt die öffentliche Identifikation mit einer Partei ausschließlich als politische Identifikation zu bezeichnen. Vielmehr können damit für ein Subjekt eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher sich überkreuzender Identifikationen verbunden sein, wie z.B. die Identifikation mit der Herkunftsfamilie, einer Freundesclique, der armenischen Nation, einer politischen Ideologie etc. Je nach Kontext, Situation und Gegenüber mag die eine oder andere Dimension dominierend kommuniziert bzw. als dominant wahrgenommen werden. Wie stark die räumliche und gleichzeitig auch soziale Segregation der beiden ideologischen Lager in Athen trotz der immer wieder beschworenen Annäherungen zum Zeitpunkt meiner Feldforschung nach wie vor war, wurde mir bei einem Gedenkgottesdienst anlässlich des 100jährigen Geburtstages eines evangelischen Priesters, Reverend Krikor Dermirjan, deutlich. Dies war nach mehrmonatiger Feldforschung in Athen die erste armenische Veranstaltung an der Angehörige beider Fraktionen teilnahmen. Ich war mit einer Gruppe älterer Damen gekommen, die alle aktive Mitglieder ihrer Kirchengemeinde und außerdem Parteimitglied der Daschnak waren. Allen drei gefiel die Veranstaltung auch deswegen ausnehmend gut, da sie dort Leute von der „anderen Seite“ trafen, die sie schon jahrelang nicht mehr gesehen hatten. Die Paroikia in Thessaloniki In Thessaloniki dagegen wurde die diasporische Öffentlichkeit auf den ersten Blick völlig von der Daschnaktsutiun beherrscht. Im Gegensatz zu Athen gab es dort nur eine Antelias-orientierte Kirchengemeinde. Die 1903 erbaute Kirche mit ihren historischen Nebengebäuden und dem später angebauten mehrstöckigen Kulturzentrum, in dem sich auch Versammlungsräume und Büros der Vereine befanden, lag in einer ruhigen Nebenstrassen in der Innenstadt. 75

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Abgesehen von diesen Fraktionswechseln durch Eheschließung ist mir nur ein anderer Fall von Fraktionswechsel bekannt. Agop Djelajian verstand sich als armenischer Poet und Künstler. Als er mit der Daschnak-Führung aneinandergeriet, verließ er den Hamaskain und besuchte fortan auch keine Veranstaltungen mehr in der Paroikia, sondern wechselte zur Ramgavar-Fraktion. Ältere GesprachsparterInnen führten solche Eheschließungen gerne als Beispiele dafür an, dass die ideologischen Konflikte heute überwunden seien. Als die Konflikte während des Bürgerkriegs und des Kirchenschismas auf dem Höhepunkt standen, war an solche Eheschließungen nicht zu denken. Daher habe es auf beiden Seiten viele Frauen und Männer gegeben, die unverheiratet geblieben waren. Zur Problematik interfraktioneller Ehen in den USA siehe Phillips (1989: 217-230).

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Dieser Gebäudekomplex machte das armenische Territorium Thessalonikis aus. Die Daschnaktsutiun war in Thessaloniki weniger als „die Partei“ (to Gusaktsutiun), sondern durch die Ortsvereine der mit ihr affiliierten Organisationen präsent.77 Die Ramgavar dagegen unterhielt in Thessaloniki weder eine Ortsgruppe ihrer Partei – es gab dort nur ein offizielles Parteimitglied – noch war sie durch ihren Sport- und Kulturverein Ararat aktiv. Es existierte lediglich ein Ortsverein des Parekordzagans. Bedeutsam war der Parekordzagan in Thessaloniki in erster Linie als symbolischer Identifikationspunkt der Daschnak-Opposition. Zwar hatte er in einem Hochhaus in der Innenstadt von der Paroikia getrennte Räumlichkeiten, seine Aktivitäten bezogen sich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung aber in erster Linie auf die Verwaltung der Immobilien, deren Einnahmen in die Schule des Parekordzagan in Athen floss. In unregelmäßigen Abständen fanden Mitgliederversammlungen statt, an denen jedoch niemals mehr als 10-15 Personen, alle Männer, teilnahmen. Allerdings war seit Ende 1997 eine Belebung der Aktivitäten festzustellen. Migranten aus der Republik hatten den Parekordzagan als einen Ort entdeckt, an dem sie ihre Vorstellung von Gemeinschaftsleben in der Diaspora ohne Einmischung durch Armenier aus der Diaspora gestalten konnten. Gleichzeitig realisierten die Mitglieder des Parekordzagan, dass ihre Organisation damit eine neue Existenzberechtigung in Thessaloniki gewinnen konnte. Ideologische Trennlinien in der Paroikia von Thessaloniki verliefen also zwischen den Daschnakzagan und den Parekordzagan. Den ideologischen Rahmen für die Selbst- und Fremdeinordnung der Gemeindemitglieder boten zwar die Diasporaparteien Daschnaktsutiun und Ramgavar. Da die Ramgavar in Thessaloniki jedoch nicht institutionell vertreten war, wurde der Parekordzagan zum institutionalisierten Gegenpol der Daschnaktsutiun und damit zum Sammelbegriff für alle Anti-Daschnak: für die politisch Neutralen (Chezok), die Mitglieder des Parekordzagan und die Anhänger der Ramgavar. Auch in Thessaloniki entschied vor allem der familiäre Hintergrund einer Person darüber, ob sie sich als Daschnak, Parekordzagan oder Chezok identifizierte bzw. von anderen wahrgenommen wurde. Der Daschnaktsutiun gehörten tendenziell Nachkommen armenischer Flüchtlinge an, während Nachkommen der Familien, die bereits vor 1922 in Thessaloniki ansässig waren, tendenziell Anti-Daschnaks waren.78 Armenier in Thessaloniki hoben jedoch hervor, dass im Gegensatz zu Athen die ideologische Spaltung für die Paroikia in Thessaloniki an Bedeutung verloren habe. Die Daschnak-dominierte Führung der Paroikia bemühte sich explizit darum, auch Anti-Daschnak-Aktivisten in die Aktivitäten einzubinden, denn „Wir sind eine kleine Paroikia, wir müssen zusammenarbeiten, 77

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In der Paroikia von Athen wurde ständig über to Gusaktsutiun (die Partei) geredet, während meiner Feldforschung in Thessaloniki hatte ich diese Bezeichnung noch nicht einmal gehört. Ähnliche Tendenzen beschreibt Pattie (1997) für die armenische Diaspora auf Zypern.

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sonst sind wir verloren.“ Einige Chezok und Parekordzagan-Anhänger waren zum Beispiel Mitglied im politischen Komitee der Gemeinde, einem der wichtigsten Organe der Daschnak in der Diaspora. Sogar die Position des Präsidenten der Gemeinde war von einem Chezok besetzt. Einige Anti-Daschnak sahen darin jedoch nur eine weitere Strategie der Daschnak, ihre „Diktatur“ über die Paroikia zu verschleiern. Ideologisch-politische Konflikte waren trotz dieser Politik der Annäherung keineswegs aus der Welt geschaffen, sondern bekamen durch lokale und globale Ereignisse und Entwicklungen in der Diaspora immer wieder neue Nahrung. So hatte sich zum Beispiel der Homenetmen, der diasporaweit als Sportorganisation der Daschnak gilt, zu einem Verein entwickelt, der explizit eine politisch neutrale Position bezog. Er hatte sich vom Zentralverband in Athen losgesagt und kooperierte situationsbedingt mit dem Parekordzagan (z.B. beim Empfang des Ministerpräsidenten Ter-Petrosjan in der Gemeinde). Auslöser dieser Abspaltung war ein Konflikt zwischen der lokalen Vereinsführung und der Athener Führung darüber, welchen Stellenwert Ideologie und Sport im Verein haben sollten. Während die Thessaloniker Führung den Aspekt des Sports förderte, plädierte die Athener Führung für eine stärkere Berücksichtigung der Daschnak-Ideologie. Dies zeigt, dass das Prinzip der „lokalen Dezentralisierung“ nur dann erfolgreich sein kann, wenn lokale Bedürfnisse von Seiten der Parteiführung berücksichtigt werden. In Athen dagegen hatte der Zentralverband erfolgreich intervenieren können, als es mit dem Ortsverein in Fix einen ähnlichen Disput gab. Die Parteiführung ernannte kurzerhand einige Verantwortliche, die den Ortsverein wieder „stin grammi“ (auf Linie) brachten. Diese Beispiele zeigen, dass Athener Führungseliten die Identitätsarbeit in Thessaloniki trotz der bestehenden hierarchischen Strukturen nicht über lokale Bedürfnisse hinweg beeinflussen können. Und diese Bedürfnisse waren lokal durchaus unterschiedlich. Angehörige beider Paroikies hatten sehr ambivalente Bilder über die jeweils „anderen“ Armenier. Armenier aus Thessaloniki zum Beispiel erkannten die Autorität des Askain Ischanutiun und anderer Zentralverbände in Athen einerseits durchaus an und verwiesen mit Stolz auf Athens Position als Hort des "wahren Armeniertums". So fragten mich Armenier in Thessaloniki zu Beginn meiner Feldforschung konsterniert, warum ich denn nicht nach Athen gegangen sei, denn nur dort könne ich untersuchen, was es hieße, im Exil zu leben ohne seine armenische Identität verloren zu haben. Sie begründeten dies damit, dass Armenier in Athen allein durch ihre größere Anzahl und die Schulen, Zeitungen und regelmäßig geöffneten Kulturzentren, die auch als soziale Treffpunkte dienten, armenischer seien. Außerdem säßen dort die politischen Entscheidungsträger Griechenlands, die durch armenisches Lobbying zu beeinflussen seien. Was dieses „Armenischer-Sein“ konkret bedeutete, wurde mir deutlich, als ich von Thessaloniki aus meine erste Athenreise plante und daher mehrere Telefonate mit Vertretern der Daschnaktsutiun in Athen führte. Zu meinem großen Erstaunen meldeten sich die Teilnehmer am anderen Ende der Leitung – es handelte sich um 102

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Privatnummern – alle mit dem armenischen „Ajo“ (Ja, bitte). Etwas derartiges passierte in Thessaloniki nur dann, wenn ich im Büro der Paroikia anrief. Andererseits grenzten sich Armenier aus Thessaloniki gegen den Führungsanspruch Athens ab, indem sie die stärkere Politisierung der dortigen Gemeinde als Ausdruck von Fanatismus und Gettoisierung werteten und sich, wie im Falle der Abspaltung des Homenetmen, auch explizit widersetzten. Umgekehrt hielten Armenier aus Athen die Paroikia Thessalonikis wegen ihrer längeren Geschichte und dem stärkeren Gewicht auf kulturellen Veranstaltungen für kultivierter, warfen den Gemeindemitgliedern dort aber gleichzeitig mangelndes politisches Bewusstsein und eine „folkloristische“ armenische Identität vor. So war die Jugendorganisation der Daschnaktsutiun in Thessaloniki aus der Perspektive der Athener Jugend eine Art unpolitischer Freizeitclub. Angehörige der Thessaloniker Jugend dagegen erzählten zwar beeindruckt von den engeren armenischen Netzwerken ihrer Athener Altersgenossen, äußerten jedoch gleichzeitig ihr Befremden angesichts deren „politischen Fanatismus“. In diesen stereotypen Selbst- und Fremdbildern, die Armenier in Athen und Thessaloniki über sich und die jeweiligen „Anderen“ produzieren, überkreuzen sich Repräsentationen, die sich einerseits auf die unterschiedlichen hierarchischen Positionen beider Gemeinden im Netzwerk armenischer Diasporagemeinden beziehen. Andererseits spiegeln sie das Konkurrenzverhältnis zwischen der Hauptstadt Athen und ihrer Mit-Hauptstadt (symprotevoussa) Thessaloniki (Lienau 1989: 26-29, 191-195, 239-244).

4.2

Führer und Gefolgschaft: Interne Differenzen am Beispiel der Daschnak-Paroikia

Nachdem ich den strukturellen Rahmen der Paroikia beschrieben habe, möchte ich meinen Blick nun auf die Menschen lenken, die sich als Mitglieder der Daschnak-Paroikia ansehen bzw. angesehen werden. Wie ich bereits in der theoretischen Einführung erläutert habe, gehe ich davon aus, dass Diaspora als Typus sozialer Organisation aus einer heterogenen Gruppe von Menschen besteht. Sie unterscheiden sich unter anderem in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Alter, Klassenzugehörigkeit, politische Vorlieben und Subjektivität voneinander, sind jedoch bereit, sich mit einer gemeinsamen Vorstellung von Gemeinschaft und einer spezifischen Identitätspolitik zumindest partiell zu identifizieren (vgl. Brah 1996; Anthias 1998). Diese Vorstellung von Gemeinschaft muss ständig neu geschaffen, verbreitet und bestätigt werden – z.B. wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, durch Erinnerungserzählungen. An diesem Prozess der Produktion von Gemeinschaft sind Menschen auf sehr unterschiedliche Art und Weise beteiligt. Den großen Einfluss, den die Kirche und armenische Diasporaparteien auf diese Prozesse nehmen, habe ich bereits erläutert. In diesem Abschnitt möchte ich einen Einblick in die internen Differenzierungen innerhalb der Paroikia geben, die bei der Produktion von Ge103

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meinschaft nach außen zugunsten einer homogenisierenden Imagination von Gemeinschaft negiert werden. Im Fokus meiner Betrachtung stehen die kollektiven internen Grenzziehungen, die für Armenier zur Selbstpositionierung und Abgrenzung von Anderen in der Paroikia relevant waren.79 Die Spaltung in zwei ideologische Lager ist die markanteste Differenzlinie, die sich in Athen sogar in einer räumlichen Segregation ausdrückt. Aber auch die beiden politischen Lager sind keine monolithischen Blöcke, sondern von internen Grenzziehungen geprägt, die in Athen und Thessaloniki zum Teil lokalspezifisch unterschiedlich ausgeprägt waren. Khachig Tölölyan (1996: 16-19, 2001b: Fn 1, 113) geht davon aus, dass armenische Diasporagemeinden trotz aller lokalen Unterschiede, aus vier Kategorien von Menschen bestehen: x Assimilierte oder fast assimilierte Armenier, die sich nicht (mehr) mit Armenischsein oder den Identitätspolitiken der Diasporagemeinde identifizieren, jedoch von den Aktivisten der community mitgezählt werden; x Ethnics als eine mehr oder weniger indifferente Mehrheit, die zumindest partiell bereit ist, sich mit einigen Aspekten der ihnen gebotenen Identitätspolitik zu identifizieren. Sie nehmen mehr oder weniger regelmäßig an Veranstaltungen teil, beteiligen sich jedoch nicht oder selten aktiv. Für ihr Alltagsleben spielt die aktive Verfolgung diasporischer Beziehungen und Themen keine Rolle. x Diasporist als eine Minderheit von Aktivisten, die sog. leadership elite, die den Prozess der Gemeinschaftsbildung in der Diaspora aktiv vorantreibt. Sie planen und führen die Aktivitäten der Institutionen und Organisationen durch und unterhalten aktiv diasporische, transnationale Beziehungen sowie x (seit 1991) Migranten aus Armenien, die sich nach wie vor mit den Identitäten des Heimatlandes identifizieren und für die ein Diasporabewusstsein (noch) keine Rolle spielt. Den Unterschied zwischen diasporists und ethnics leitet Tölölyan (1996: 1619) aus einer Differenzierung zwischen diasporic und ethnic communities ab. Zwar seien die Merkmale, die diasporische von ethnischen Gemeinschaften unterscheide, nicht klar definiert, ein wesentlicher Unterschied bestehe jedoch in der Qualität der triadischen Beziehungen zwischen Heimatland, lokaler Community und anderen communities derselben Diaspora. Dabei seien die Grenzen zwischen diasporic und ethnic communities nicht fest definiert, sondern fließend. Häufig sei nicht klar bestimmbar, wann eine Minderheit von einer ethnic zu einer diasporic community wird. Diese Unterscheidung lasse sich auch auf die soziale Gruppe, die sich als Diaspora definiert, übertragen. 79

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Da mein Fokus auf diesen kollektiven Grenzziehungen liegt, kommen Differenzen wie Alter, Geschlecht und sozialer Status an dieser Stelle zu kurz, werden dafür aber in meiner Analyse der individuellen Reflexionen über den Genozid in Kapitel 6 berücksichtigt werden.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Dabei seien weder die Kategorien diasporist, ethnic noch assimiliert und Migrant in sich abgeschlossene oder gar aufeinanderfolgende Stadien, sondern bezeichnen lediglich mögliche Positionierungen, die Individuen situationsbedingt einnehmen aber auch wechseln können. Analog zu diesen vier Kategorien lassen sich auch die internen Differenzierungen in den Daschnak-Paroikies von Athen und Thessaloniki beschreiben, wobei ich jedoch andere Bezeichnungen wähle. Nach offiziellen Angaben zählte die Paroikia in Athen 10.000 und die in Thessaloniki 1.000 Mitglieder, von denen jedoch über die Hälfte niemals in Erscheinung trat und damit in den Augen aktiver Mitglieder noch nicht einmal ein Mindestmaß an Engagement zeigte. Von armenischen Aktivisten wurden sie als an die Kräfte der Assimilierung (afimoiosi) verloren (chamena) bezeichnet, also als Opfer des „weißen Genozids“. Obwohl sie in die Angaben über offizielle Mitgliederzahlen nach wie vor eingeschlossen wurden, betrachteten die in der Paroikia aktiven Armenier sie nicht als Mitglieder einer armenischen Gemeinschaft in der Diaspora. Die andere Hälfte der offiziellen Mitglieder bestand zu einem größeren Teil aus denjenigen, die ich als passive Mitglieder der Paroikia bezeichnen möchte und zu einem kleineren Teil aus aktiven (drasteroi) Armeniern. Passive Armenier identifizieren sich, wie Tölölyans ethnics, nur partiell mit der Paroikia, indem sie meist nur an Veranstaltungen zu außergewöhnlichen Anlässen wie z.B. Weihnachten, Ostern, Genozidgedenktag, Trauungen, Taufen, Beerdigungen teilnahmen. Der moralischen Forderung nach Opfern für die Paroikia, im Sinne von Geldspenden, Engagement in den Vereinen, aktivem Erhalt der wichtigsten Symbole armenischer Identität (Sprache, Namen, Gründung einer armenischen Familie, Übertragung von Flucht- und Genoziderfahrung) wurden sie kaum gerecht. Zwar spendeten sie in unterschiedlichem Umfang Geld, engagierten sich jedoch nicht aktiv in den Vereinen der Paroikia und erwarten dies auch nicht von ihren Kindern. Tölölyan bezeichnet diese Kategorie von Armeniern als ethnics, da er davon ausgeht, dass Armenischsein für sie in erster Linie die Identifikation mit einigen Merkmalen einer ethnischen Identität bedeutet, transnationale Beziehungen zur Diaspora für sie jedoch keine Rolle spielen. Diese Aussage lässt sich nicht ohne weiteres auf die armenische Diaspora in Griechenland übertragen. Wie ich bereits im Methodenkapitel ausführlich beschrieben habe, war meine Feldforschung „paroikia-zentriert“, die meisten meiner Gesprächspartnerinnen waren – wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise – aktiv in das Fortbestehen der Paroikia involviert; Kontakte zu passiven Armeniern konnte ich dagegen kaum etablieren. Zu der Frage, was für sie Armenischsein bedeutet, die partielle oder gar folkloristische Identifikation mit Ethnizität oder aber die Vorstellung Teil einer Diaspora zu sein, kann ich keine Aussagen machen, außer der, dass sie von aktiven Mitgliedern der Paroikia häufig als Folklore-Armenier gesehen wurden. Einige der wenigen Interviews in meinem Sample mit Personen, die aus Sicht der aktiven Armenier als passiv oder gar als verloren (chamena) bezeichnet werden können, zeigen aber, dass 105

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Gefühle von Zugehörigkeit zur armenischen Diaspora auch unabhängig von Zugehörigkeit zur lokalen Paroikia existieren können. Passivität und mangelndes Engagement in Institutionen/Organisationen der Diaspora muss nicht zwangsläufig auf mangelndes Diasporabewusstsein bzw. Desinteresse an dem aktiven Erhalt diasporischer Beziehungen hindeuten. Während die in der Paroikia dominant vertretene und vermittelte Konzeption von Diaspora auf der Existenz einer Institution gründet, identifizierte sich z.B. Isabella Turoni, die ich in Kapitel 6.6 vorstellen werde, durch die Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie mit der armenischen Diaspora. Mein Schlüsselinformant Ruben dagegen ist ein gutes Beispiel dafür, dass das, was aus der Perspektive der Aktivisten in der Paroikia als Passivität und Desinteresse gewertet wurde, auch eine Folge von abweichender Meinung und eine Form von Widerstand gegen dominante Diskurse in der Paroikia sein kann. Zwar brachte Ruben alle Voraussetzungen mit, um ein aktives Mitglied der Paroikia in Thessaloniki zu sein: Autodidaktisch hatte er sich im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Paroikia exzellentes Armenisch in Wort und Schrift sowie Kenntnisse in armenischer Geschichte und Kultur angeeignet, die jeder Verein gerne für sich genutzt hätte. Und tatsächlich war er jahrelang sogar stellvertretender Vorsitzender des Hamaskain und hatte Übersetzungen für das Armeniki Ethniki Epitropi gemacht. Da er jedoch vom offiziellen Diskurs der Daschnak abweichende Meinungen vertrat, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, aus denen Ruben schließlich die Konsequenz zog, sich aus allen Aktivitäten in der Paroikia zurückzuziehen. Zwar besuchte er in unregelmäßigen Abständen noch Veranstaltungen der Paroikia, wurde vermutlich von anderen Armeniern nach wie vor als zugehörig betrachtet, grenzte sich jedoch selber ganz bewusst von der Paroikia ab (vgl. Kapitel 6.2). Die zahlenmäßig kleinste, für den Fortbestand der Paroikia jedoch wesentlichste Gruppe waren die aktiven (drasteroi) Armenier, die Tölölyan diasporists nennt. In Athen gehörten höchstens 500 und in Thessaloniki ca. 200 Personen zu diesem Kreis. Aktive Armenier waren die Aktivisten der Paroikia, diejenigen die von sich selber sagten und über die gesagt wurde, sie seien „mesa sta pragmata“ (griech. wörtlich: sie sind in den Sachen, lit. sie kennen sich aus). Sie nahmen entweder höhere Positionen in der Paroikia und ihren Vereinen ein oder bildeten das Reservoir der Personen, die sich für diese zeitund arbeitsintensiven Positionen und andere Aufgaben mobilisieren lassen. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie entweder Parteimitglied der Daschnak oder sahen sich zumindest als unterstützende Anhänger der Partei. An den wesentlichen Entscheidungsfindungen, der Entwicklung und Umsetzung der Identitätsarbeit in der Paroikia waren sie aktiv beteiligt, sie waren eben „in den Sachen“ drin. Diejenigen unter ihnen, die führende Positionen in der Paroikia, Partei oder einer der Organisationen einnahmen, unterhielten dadurch auch institutionalisierte, transnationale Beziehungen zu anderen Diasporagemeinden, nach Armenien und zu griechischen Politikern. Durch ihre führenden und einflussreichen Positionen in der Paroikia wurden sie von den anderen Mitgliedern als Ygesia mas (griech.: unsere Führung) 106

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angesehen. Diese Ygesia war, ob in Thessaloniki oder Athen bis auf wenige Ausnahmen männlich (vgl. Tölölyan 2001b: Fn 8). Zwar verwiesen Daschnak-Anhänger, wollten sie die Fortschrittlichkeit ihrer Partei betonen, stolz darauf hin, dass Emanzipation im Sinne von Mitgliedschaft und politischer Beteiligung von Frauen schon bei der Gründung der Partei 1890 zum politischen Programm gehöre. De facto war politischer Aktivismus in der armenischen Diaspora in Griechenland jedoch geschlechtsspezifisch organisiert und unterlag einer patriarchalischen Ordnung. Obwohl die Anzahl von Aktivistinnen und weiblichen Parteimitgliedern von denen der männlichen Geschlechtsgenossen nicht wesentlich abzuweichen schien80, besetzten Frauen kaum führende Positionen in der Hierarchie der Paroikia, Partei oder der Vereine. Ausnahmen bildeten Organisationen wie die Wohltätigkeitsorganisation HOM oder der Dignatz, ein Verein, der sich um die Pflege der Kirche kümmerte, deren Tätigkeitsbereiche jedoch als spezifisch weiblich angesehen wurden. Diese Machtdifferenz zwischen den Geschlechtern wurde von meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern jedoch kaum als solche wahrgenommen. Frauen wie Männer sahen diese Strukturen als eine natürliche und logische Konsequenz von Mutter- und Hausfrauenschaft an, die Frauen zu wenig Zeit und Flexibilität für führende und bedeutende Positionen in der Paroikia lasse. Auf diese Weise wurde die Zuständigkeit von Frauen für Haushalt und Kindererziehung naturalisiert. Armenier, „die sich auskennen“, hatten einen ähnlichen familiären Hintergrund. Mit ihrer hohen Bereitschaft, sich für die Weitergabe armenischer Identität in der Paroikia und in der Familie zu engagieren, folgten sie in der Regel dem Beispiel ihrer Eltern und Großeltern. Aktivisten, die ohne familiären Bezug erst als Jugendliche bzw. Erwachsene begonnen hatten, sich aktiv in der Paroikia zu engagieren, waren die Ausnahme. Denn Aktivisten haben im Elternhaus eine starke Identifikation mit der Paroikia und dem dort vertretenen Konzept armenischer Identität vermittelt bekommen. Als zentrale Charakteristika des Idealtyps eines „sovaros Armenis“ (griech.: wahren Armeniers) sahen sie die Sprache, den Stolz auf die armenische Herkunft, die Verpflichtung zur Weitergabe der Erinnerungen an Genozid- und Fluchterlebnisse der Vorfahren und die Verpflichtung zur engagierten Übermittlung armenischer Identität an die nachfolgenden Generationen an. An diesem normativen Idealtypus eines „sovaros Armenis“ orientieren sie sich in ihrer Lebensführung und bei der Erziehung ihrer Kinder. Armenisches Aktivistentum ist eine Familienangelegenheit. Denn Aktivisten waren meist nicht nur einzelne Familienmitglieder, sondern ganze Familien über mehrere Generationen hinweg. Für die nachfolgenden Generationen war es, zumindest was die heute 40 bis 50jährigen anbelangte, eine Selbstverständlichkeit, Verantwortung für die Paroikia zu übernehmen und in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, „an erxetai i seira mas“ (griech.: wenn die Reihe an uns kommt). Gleichzeitig sahen sich 80

Offizielle Zahlenangaben liegen dazu natürlich nicht vor, ich stütze mich in diesem Punkt auf meine Beobachtungen.

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jedoch gerade Angehörige dieser Altersgruppe damit konfrontiert, dass dieses Postulat für ihre Kinder nicht mehr die gleiche Gültigkeit besaß. Heute ist Loyalität der Paroikia und der Partei gegenüber meist eine Frage der Generation. Die demographische Struktur der Paroikia war von Überalterung geprägt. Die Kinder- und Jugendorganisation der Daschnak, eine von Aktivisten als unerlässlich erachtete Etappe in der Sozialisation zum „wahren Armenier“, hatten sowohl in Thessaloniki als auch in Athen massive Nachwuchsprobleme. In Thessaloniki hatte die Jugendorganisation zum Zeitpunkt meiner Feldforschung nicht mehr als 30 aktive Mitglieder. In diesem Zusammenhang wurde auch die Unwilligkeit vieler junger Erwachsener sich dem Postulat einer endogamen armenischen Ehe zu beugen, von Aktivisten der ersten, zweiten und auch dritten Generation als problematisch angesehen. Diese gingen davon aus, dass Ehepartner mit einem armenischen (Aktivisten-)Hintergrund eher gewillt seien, sich an einem „familiären Aktivismus“ zu beteiligen.81 Überalterung, die Dis-Identifikation der Jugend mit der Paroikia und der Partei sowie die ständig steigende Zahl von interethnischen Ehen wurde von Armeniern in Thessaloniki und Athen als eine Bedrohung für die zukünftige Existenz der Paroikia empfunden. Dieses Gefühl einer bedrohten, ungewissen Zukunft drückte einer meiner Gesprächspartner ironisch-treffend mit dem Ausspruch „Wir sind die letzten Mohikaner“ aus. Trotz aller hier aufgeführten Gemeinsamkeiten gab es zwischen den Aktivisten in Thessaloniki und Athen auch erhebliche Unterschiede. In Thessaloniki erschienen die Aktivisten als eine mehr oder weniger homogene Gruppe, deren Angehörige durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Netzwerke eng miteinander verbunden waren und einen ähnlichen ökonomischen Hintergrund teilten. Die Parteimitgliedschaft oder Anhängerschaft zur Daschnak wurde zumindest nicht öffentlich als Kriterium von interner Differenzierung erwähnt. Obgleich mir gegenüber ein Mitglied des Komitees der Paroikia hervorhob, dass sie sich von Entscheidungen ausgegrenzt fühle, weil sie im Gegensatz zu den meisten anderen kein eingeschriebenes Parteimitglied sei. Von vielen Mitgliedern der Paroikia, wurden die Aktivisten daher auch als eine geschlossene Clique (cliqua) einiger weniger einflussreicher Familien bezeichnet, die es Außenstehenden schwer mache Zugang zu bekommen. In Athen dagegen war „to Gusaktsutiun“ (griech.: die Partei) der zentrale Bezugspunkt für die Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Person innerhalb 81

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Für Aktivistenfamilien stellte es daher eine besondere Bedrohung dar, wenn ihre Kinder nicht-armenische Partner heiraten wollten. Mit dieser Bedrohung durch die miktoi gamoi (griech.: Mischehen) wurde unterschiedlich umgegangen. Einige akzeptierten die Partnerwahl ihrer Kinder, beharrten aber darauf, dass die künftigen Ehepartner, vor allem die Frauen, Elemente von „Armenischsein“ erlernen (z.B. Sprachkenntnisse) und sich aktiv in der Paroikia engagieren sollten. Andere setzten ihre Kinder unter Druck, so dass sie ihre Beziehungen zu nicht-armenischen Partnern aufgaben oder nicht mit einer Ehe legitimierten. Und in manchen Fällen führte die Partnerwahl auch zu einem zeitweiligen oder dauerhaften Bruch mit der Herkunftsfamilie.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

der Paroikia. Die Einstellung einer Person zur Partei, ihre Bewertung durch die Partei, ihre hierarchische und ideologische Position in der Partei waren neben Merkmalen wie Alter, Geschlecht und wirtschaftlicher Stellung entscheidend dafür, wie Individuen sich und andere wahrnahmen und bewerteten bzw. von anderen wahrgenommen und bewertet wurden. Das grundlegende Kriterium der Einordnung innerhalb der Paroikia in Athen war daher die Parteimitgliedschaft. Mit der Identifikation als Parteimitglied waren Stolz, Prestige und ein Gefühl von Auserwähltsein verbunden. Dieses Gefühl von Exklusivität wurde durch die Ideologie der Partei sowie einem Kanon an Verhaltenspostulaten und Ritualen vermittelt und kultiviert. Dazu gehörten Rituale wie der Schwur auf die Partei beim Eintritt in die Partei, dem nur Parteimitglieder beiwohnen dürfen. Zentrale Komponenten der Daschnak-Ideologie sind ein absoluter Machtanspruch, Opferbereitschaft für und absolute Loyalität der Partei und der Heimat gegenüber sowie das Selbstverständnis der Partei als exklusiver Geheimbund. Verstöße gegen den absoluten Loyalitätsanspruch wurden mit Sanktionen geahndet, die von temporärem bis zu endgültigem Parteiausschluss und damit Ausschluss aus dem Kreis der Auserwählten reichten. Die Ansprüche der Partei auf absolute Loyalität wurde von ihren Mitgliedern auch in Gesprächen mit mir häufig aktiv unterminiert, indem die Entscheidungen der Parteiführung kontrovers diskutiert und kritisiert wurden. Die Parteiführung (die regionale wie auch internationale) erschien in diesen oft sehr emotionalen Diskursen als übermächtige Instanz, die eigenmächtig Entscheidungen trifft, die eine ohnmächtige Basis gehorsam auszuführen hat. Gemessen an der Parteiideologie war schon diese kritisierende Rede über die Partei Außenstehenden wie mir gegenüber eine illoyale Handlung. Kennzeichnend für diese Gespräche war, dass das Geheimhaltungs- und Exklusivitätspostulat immer ‚mitkommuniziert‘ wurde und sich auf mich übertrug: Man redete explizit „of the record“, „dürfte darüber überhaupt nicht sprechen, aber...“. Die Grenzen dessen, was erzählt werden durfte oder nicht, steckte jede Person anders. Ich befand mich daher in ständiger Unsicherheit darüber, welche Bereiche die Partei betreffend ich ansprechen durfte und welche nicht. Trotz aller widerständiger Reden setzten sich nur wenige Personen offen über Postulate der Partei hinweg, da sie Sanktionen fürchteten. Obwohl sich Parteimitglieder als ein elitärer Kreis in der Paroikia verstanden und von Nicht-Parteimitgliedern als solcher wahrgenommen wurden, erschienen sie mir im Gegensatz zu Thessaloniki nicht als homogene Gruppe. Bedeutende Differenzen ergaben sich neben der Generationszugehörigkeit und dem Geschlecht durch die wirtschaftliche und berufliche Position einer Person. Eine meiner Gesprächspartnerinnen charakterisierte die differenzierte Sozialstruktur der Paroikia in Athen im Gegensatz zum mittelschichtgeprägten Thessaloniki mit den Worten: „Hier haben wir alles, von Laiki (griech.: Wochenmarkt) bis Kolonaki (ein exklusives Geschäfts- und Wohnviertel in der Athener Innenstadt)“. Während in den ersten Jahrzehnten nach der Ansiedlung in Griechenland Fähigkeiten wie gute Armenischkenntnisse, die Be109

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reitschaft Zeit, Geld und Mühe aufzubringen sowie Loyalität und Gehorsam ausreichten, um in der Parteihierarchie aufzusteigen, wurden führende Positionen in jüngster Zeit eher an diejenigen Parteimitglieder vergeben, die sinnbildlich gesprochen, etwas von Kolonaki hatten: Personen die über besondere wirtschaftliche Ressourcen, intellektuelle und professionelle Fähigkeiten sowie gute Netzwerke zu einflussreichen Griechen verfügten, haben heute bessere Chancen in der Parteihierarchie aufzusteigen. Dies wurde unter anderem auch damit gerechtfertigt, dass die Verwaltung der Paroikia und die politische Lobbyarbeit heute vor veränderte Anforderungen gestellt sei, die andere administrative und professionelle Fähigkeiten notwendig machten. Uneinigkeit bestand bei den Athener Parteimitgliedern auch über die Einordnung der Partei auf der politischen Skala „Links-Rechts“, die in der politischen Landschaft Griechenlands eine bedeutende Rolle spielt. Viele sahen keine Notwendigkeit in einer derartigen politischen Standortbestimmung, da sie die Partei in erster Linie als eine nationale Vereinigung sahen. Seit der Unabhängigkeit Armeniens votierten einige sogar dafür, die Partei in eine reine Kulturvereinigung der Diaspora umzuwandeln, da das zentrale Ziel, die nationalstaatliche Unabhängigkeit, seit 1991 erreicht sei. Für die Identifikation einer Minderheit spielte die sozialistische Parteitradition dagegen eine wesentliche Rolle. Andere Parteimitglieder dagegen erzählten, wie schockiert sie in den 80er Jahren reagiert hätten, als die Daschnak wieder verstärkt ihre sozialistische Tradition in der griechischen Öffentlichkeit betont habe. Sie seien dagegen immer davon ausgegangen, dass es eine national-konservative, also rechte Partei sei. Auch dies waren Diskussionen, die mir in der Paroikia von Thessaloniki niemals zu Ohren gekommen waren. Dort präsentierte sich die Führung als dem politisch rechten Spektrum zugewandt und betonte die national-konservativen Seiten der Partei. Im Gegensatz zu Thessaloniki gab es in Athen noch ein weiteres Unterscheidungskriterium innerhalb der Gruppe der Aktivisten. Während in Thessaloniki alle Aktivisten, bis auf den Gemeindepfarrer und einen Sekretär, ehrenamtlich tätig waren, gab es in Athen auch eine kleine Gruppe von professionellen Diasporisten, die mit armenischer Identitätspolitik ihren Lebensunterhalt verdienten. Dazu gehörten neben dem Klerus (Bischof und Geistliche der jeweiligen Kirchengemeinden), das administrative Personal der Kirchen, die Leiter und einige der Erzieher in den Kindergärten und Schulen sowie den Herausgebern und Chefredakteuren der Zeitungen. Alle professionellen Positionen in diesen für die Identitätsarbeit der Daschnak-Paroikia so zentralen Organisationen waren mit Parteimitgliedern besetzt, die zum großen Teil aus dem Libanon82 stammten oder zumindest in dortigen Schulen und Universitäten ausgebildet worden waren. Armenier aus Thessaloniki, die – wie bereits 82

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Armenier in Griechenland bezeichneten den Libanon als intellektuelles und politisches Zentrum der armenischen Diaspora, das allerdings durch den Bürgerkrieg an Bedeutung verloren habe. Der intellektuelle Einfluß des Libanons besteht bis heute, z.B. durch die Geistlichen der Gemeinden und die verwendeten Schulbücher.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

deutlich wurde – mit Entscheidungen des Athener Askain Ischanutiun oder der zentralen Büros der einzelnen Vereine nicht immer einverstanden waren. Sie zweifelten die Legitimität und Angemessenheit dieser Entscheidungen auch mit der Begründung an, dass sie eben nicht von Einheimischen, sondern von Libanonarmeniern gefällt worden seien. Daran wird deutlich, dass obwohl die armenische Diaspora als eine homogene Nation gedacht wird, ethnische und kulturelle Differenzen durchaus eine Rolle spielen und als Kriterium für Einund Ausschluss gelten können. Dies war vor allem in Bezug auf die Gruppe der seit 1991 zugewanderten Migranten und Migrantinnen aus Armenien der Fall. Sie machten seit 1991 eine zahlenmäßig stetig anwachsende Gruppe in der Paroikies aus. Differenzen zwischen einheimischen Diasporaarmeniern und zugewanderten Migranten waren zum Zeitpunkt meiner Feldforschung die offensichtlichste Trennungslinie innerhalb der Paroikies. Was passiert, wenn Migranten auf Diasporaarmenier treffen, schildere ich im nächsten Abschnitt. Wenn Migranten Diasporaarmenier treffen Einheimische Diasporaarmenier sahen Migranten nicht als Mitglieder ihrer Paroikia an, sondern allenfalls als mehr oder weniger willkommene bzw. unliebsame Gäste. Und auch die Migranten und Migrantinnen betrachteten sich nicht als Bestandteil der Paroikia. Ihre Beziehungen zur etablierten Diaspora waren in Athen und Thessaloniki von deutlichen Unterschieden gekennzeichnet. Armenische Migranten waren in Athen nahezu unsichtbar oder zumindest nicht identifizierbar. Abgesehen von den Gottesdiensten nahmen sie an Veranstaltungen der Paroikia nicht teil.83 Ihre Präsenz machte sich dort vor allem durch die Schüler der armenischen Schulen, die zur Hälfte aus der Republik stammten, und durch die armenischen Haushaltshilfen, die bei Diasporaarmeniern beschäftigt waren, bemerkbar. In Thessaloniki dagegen waren Armenier aus der Republik eine deutlich sichtbare und abgegrenzte Gruppe in der Paroikia. Dies fiel sogar mir bei meinem ersten Besuch auf. In der schmalen Straße vor dem Kirchhof standen ungefähr dreißig Männer unterschiedlichen Alters aus der Republik Armenien, die sich angeregt unterhielten. Die Sonntagsmesse bot einen Anlass andere Migranten zu treffen, sich über Neuigkeiten in der Heimat und über Arbeits- und Wohnmöglichkeiten in Thessaloniki auszutauschen. Zwei Drittel bis drei Viertel der regelmäßigen Kirchgänger waren aus der Republik Armenien eingewandert. Zwei Drittel der Kinder der armenischen Samstagsschule und der Kinderorganisation Baternakan stammten von dort. Auch der Chor der Gemeinde war fest in der Hand von Migrantinnen. Dennoch fühlten sich die Migranten und Migrantinnen nicht als Mitglieder der Gemeinde, sondern als Zaungäste, die keinen gleichwertigen Anspruch auf Teilnahme oder Mit83

Lediglich in den protestantischen Kirchengemeinden nahmen Armenier aus der Republik stärker am Gemeindeleben teil.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

sprache hatten. Nach ihrer Ankunft hatten sich viele Migranten zunächst an die Paroikia gewandt. Ihre Hoffnung dort moralische und materielle Unterstützung bei der Orientierung in der fremden Umgebung zu finden, wurde meist enttäuscht. Der folgende Interviewauszug ist eine typische Schilderung dieses ersten Kontaktes: „Als wir hier ankamen, erfuhren wir, wo die Kirche ist. Wir dachten. dass die Kirche uns helfen würde. Aber die haben uns gesagt: ‚Ihr müsst zurück nach Armenien.‘“ (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 1). Die Erbitterung über diese Erfahrungen von Ablehnung verfestigte sich durch Erfahrungen von ungleicher Behandlung, die Migranten und Migrantinnen mit „Einheimischen“ machten. Denn die Trennung von Diaspora- und Republikarmeniern wurde auch bei den wenigen Gelegenheiten beibehalten, bei denen ein Zusammentreffen unvermeidlich war: getrennte Bänke in der Kirche, getrennte Stuhlreihen bei Veranstaltungen, getrennte Klassen in der Schule, verschiedene Parees84 in der Kinderorganisation der Daschnak sowie verschiedene Feriencamps für die Kinder. Dennoch nutzten Migranten und Migrantinnen die Paroikia ihren Bedürfnissen entsprechend und sahen sie auch als „ihren“ Ort an. Da die Präsenz armenischer MigrantInnen in der Paroikia von Thessaloniki soviel stärker und offensichtlicher war als in Athen und die Paroikia aufgrund ihrer niedrigeren Mitgliederzahl in den Migranten auch eine Möglichkeit sah, die von der Überalterung bedrohte Paroikia mit „frischem Blut“ zu versorgen, setzten sich einheimische Armenier in Thessaloniki viel stärker mit ihrem Verhältnis zu den Migranten auseinander. Ihre Reaktionen müssen im Kontext der konflikthaften Neudefinition armenischer Identität, Diaspora und Heimat gesehen werden, die durch die Unabhängigkeit Armeniens hervorgerufen wurde. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass meine „einheimischen“ Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner der Zuwanderung mit ambivalenten Gefühlen begegneten: „Nein, diese Migration ist nicht gut, die ist für Armenien überhaupt nicht gut. Wir sind vollkommen dagegen und wenn wir irgendwelche Möglichkeiten hätten, sie zurückzuschicken, dann wäre das schön Aber da nun schon einmal zu viele hierher kommen, überlegen wir natürlich auch, was wir tun können, wie wir ihnen helfen können. Das wirft auch gar kein gutes Bild auf die Gemeinde. Aber es gibt ständig viele Probleme. Eh, im ökonomischen Bereich können wir nichts machen, aber in Ausnahmefällen, wenn das Problem sehr dringlich ist, helfen wir auch. Wir können nicht gleichgültig bleiben, eh, wie Eis ihnen gegenüber. Wir tun, was wir können. Und wenn sie wieder nach Armenien zurückkehren möchten, dann tun wir auch noch mehr für sie. Wir kaufen ihnen die Fahrkarte. Aber Voraussetzung ist, dass sie gehen und nicht wieder zurückkehren.“ (Interview Nr. 5, 09.05.1996, S. 6)

Dieser Auszug aus einem Interview mit dem Vorsitzenden der Daschnak in Thessaloniki beinhaltet das ganze Spektrum ambivalenter Positionen und Gefühle: Diasporaarmenier empfanden die Zuwanderung aus Armenien als einen 84

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Unter Parea (Pl. Parees) wird nach Möwe (1987: 134) eine soziale Kategorie verstanden, „die einen Teil des sozialen Feldes abdeckt, neben und sich teilweise überlappend mit anderen Institutionen, wie z.B. der Familie“.

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nicht zu kontrollierenden Strom, dem sie ohnmächtig ausgeliefert waren. Aus politischen Gründen verurteilten sie die Migration; moralisch fühlten sie jedoch eine Verpflichtung zur Hilfe. Darüber hinaus befürchteten sie, dass die Migranten ihrem guten Ansehen in der griechischen Öffentlichkeit schaden könnten. Zentral war, dass die Migranten als Störung einer bestehenden Ordnung, als Problem an sich gesehen wurden, das konsequenterweise am besten gelöst werden kann, wenn sie wieder nach Armenien verschwinden. Hier trifft zu, was Malkki (1997: 63) für einen zentralen Punkt im Umgang mit dem Phänomen Flucht/Migration hält: Das Problem wird nicht in den politischen Bedingungen gesucht, sondern „within the bodies and minds (and even souls) of people categorized as refugees“. Bei den Migranten dominierte die Wahrnehmung, dass Diasporaarmenier sie ausgrenzten und ihnen ihre Hilfe verweigerten, obwohl die meisten von ihnen durchaus von Hilfestellungen der Diasporaarmenier profitierten. So nutzte ein Großteil der Diasporaarmenier, die führenden Aktivisten, die am liebsten alle Migranten nach Armenien zurückschicken wollten, eingeschlossen, ihre beruflichen und sozialen Netzwerke und Ressourcen um Migranten und Migrantinnen Arbeit und Wohnungen zu vermitteln. Häufig waren Migranten und Migrantinnen auch in den Privathaushalten von Diasporaarmeniern beschäftigt, die Frauen als Haushaltsarbeiterinnen, Kinderfrauen und Altenpflegerinnen, die Männer als Gärtner und Handwerker. Kennzeichnend für diese Vermittlungen war jedoch, dass sie nicht systematisch und institutionalisiert erfolgten, sondern auf face-to-face-Beziehungen basierten, denen gegenseitige Sympathie zugrunde lag. Gegenseitige Stereotypisierungen und Vorurteile traten in dieser interpersonellen Beziehung zwar in den Hintergrund, wurden aber nicht aufgehoben. Im Gegenteil, die Trennungslinie zwischen Diasporaarmeniern und Migranten, die aus ihrer unterschiedlich machtvollen sozialen und ökonomischen Positionierungen im Diasporaraum resultierte, wurde durch diese asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnisse eher noch zementiert. Interessanterweise machten Angehörige beider Gruppen jedoch nicht in erster Linie soziale und ökonomische Unterschiede für ihr konflikthaftes Verhältnis verantwortlich, sondern abweichende Vorstellungen von Heimat und Identität. Diasporaarmenier und Migranten sahen Armenien als ihre Heimat an, imaginierten diese aber völlig unterschiedlich. Für Diasporaarmenier war die Heimat Armenien wie Brah (1996: 192) schreibt, „a mythic place of desire in the diasporic imagination. In this sense it is a place of no return, even if it is possible to visit the geographical territory that is seen as the place of ‚origin‘“. Ihr Heimatkonzept lässt sich mit den beiden Modi von Verortung – Verortung durch Imagination und durch gelebte Erfahrung von Lokalität beschreiben, die ich im vorhergehenden Kapitel eingeführt habe: Diasporaarmenier stellten sich Armenien als eine Landschaft vor, die mit nationalen Symbolen bewachsen ist, als ein gigantisches Freilichtmuseum der nationalen Geschichte, in dem auch die dort lebenden Menschen Ausstel-

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lungsstücke puren, unverfälschten Nationalcharakters sind.85 Darüber hinaus symbolisierte das unabhängige Armenien für viele Diasporaarmenier das Ende eines Zustands, den vor allem die ältere Generation im Kontext des griechischen Nationalstaates als diskriminierend empfunden hat: Zwar hatte bereits die Übernahme der griechischen Staatsbürgerschaft ihren Zustand als staatenlose Flüchtlinge rechtlich gesehen beendet. Das Fehlen eines Nationalstaates empfanden aber weiterhin viele als Makel und Demütigung, wie folgender Auszug aus einem Interview mit einem Angehörigen der zweiten Generation zeigt: „Aber wenn wir in der Schule die griechische Fahne hochgezogen haben, dann habe ich immer gedacht, wir haben doch auch eine Fahne. Das ist mir immer übel aufgestoßen und es hat mich sehr aufgerüttelt, als Armenien unabhängig wurde.“ (Interview Nr. 13, 13.06.1996, S. 5)

Von diesem Makel der Staatenlosigkeit in einer nationalstaatlich organisierten Welt sahen sie sich erst befreit, seitdem Armenien für alle Welt sichtbar ein vollwertiges Mitglied in der Gemeinschaft der Nationalstaaten geworden war. Daher wiesen mich alle meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen darauf hin, dass sie durch Gefühle von Rührung und Stolz überwältigt seien, angesichts nationaler armenischer Symbole in der armenischen Öffentlichkeit oder im Fernsehen. Takuhi Atamian fasste diese Emotionen in folgende Worte: „Als ich Armenien zum ersten Mal besucht habe 1980, da war es noch sowjetisch. 10 Jahre danach 1991 da hat es mich sehr berührt, als ich unsere Nationalfahne am Flughafen gesehen habe. Da wehten drei Fahnen. Und ich habe tatsächlich geweint.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 58)

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum viele Diasporaarmenier verbittert reagierten, weil Armenien ihnen bislang nicht die Staatsbürgerschaft gegeben hat. Die reale Konfrontation mit Armenien, die seit der Unabhängigkeit Armeniens verstärkt in Form von Reisen stattfand, führte nicht unbedingt dazu, dass sich diese Imaginationen veränderten. Die für Diasporaarmenier aus Griechenland typische Form der Gruppenreise war organisiert als Rundreise durch das Freilichtmuseum nationaler Symbole, angereichert mit Museums-, Opernund Konzertbesuchen. Die Empfindungen bei diesen Reisen drückten Diasporaarmenier mit religiösen Metaphern aus. Die Begegnung mit dem „reinen Armenien“ erlebten sie als eine Art „Wiedergeburt“ im Sinne einer „Identitätsinfusion“, die sie wieder oder stärker an ihre Geschichte und ihre Identität 85

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So beschrieb ein Armenier aus Thessaloniki sein Verhältnis zu Armenien folgendermaßen: „Aber wenn Du dort hergehst, dann kommt es Dir sofort wieder, die Worte Deiner Vorfahren und deswegen sagte ich, jeder Armenier hat die Pflicht, dorthin zu gehen. Denn wir kennen unsere „Rasse“ (ratsa) nicht, wir wissen nicht, wer wir sind.“ (Interview Nr. 13, 13.06.1996)

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

bindet. Da sie diese Gruppenreisen mit anderen Armeniern aus der Diaspora unternahmen, stärkte das gemeinsame Erleben auch gleichzeitig die Gemeinschaft der lokalen Paroikia und damit auch ihre kollektive Verortung als armenische Diaspora in Griechenland. Im Prinzip hat Armenien für Diasporaarmenier eine ähnliche Bedeutung, wie Ruth Klüger (1992: 77), eine Überlebende des Holocaust, sie für Auschwitz beschreibt: „Wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht.“ Auch Diasporaarmenier haben ihr Gepäck zu Haus gepackt. Es besteht aus Imaginationen von Heimat, die ‚zu Hause‘ also in der lokalen Diaspora-Community (re)produziert werden. Dennoch sind diese Bedeutungen nicht nur das Ergebnis lokaler Konstruktionsprozesse, sondern sie beinhalten auch Elemente, die Bestandteil eines Flusses von Bedeutungen sind, die in der gesamten armenischen Diaspora zirkulieren. Reisen nach Armenien sind also eine Bestätigung dieser globalen und lokalen Bedeutungen für die eigene Identität. Armenien dient dabei als eine machtvolle materialisierte Bestätigung für individuelle und kollektive Identifizierungen mit bzw. als armenische Diaspora Griechenlands. James Clifford (1997: 269) sagt über die multiplen Beziehungen von Menschen in der Diaspora: „It is the connection (elsewhere) that makes a difference (here)“. Ich denke, für Armenier in Griechenland muss sein Statement umformuliert werden. Es ist in diesem Fall vielmehr die kontinuierliche kollektive (Re)produktion von Imaginationen, die zwar in der globalen Diaspora zirkulieren, jedoch lokalspezifisch ausformuliert werden, die woanders, also in Armenien, verortet werden. Die Tatsache, dass Armenien seit der so lang ersehnten Unabhängigkeit ein wirtschaftlich instabiles Land ist, dass auf Hilfe aus der Diaspora angewiesen ist, irritierte die positive Imagination der Diasporaarmenier zwar, überlagerte sie aber nicht. Die Verpflichtung zur Hilfe für Armenien war zum integralen Bestandteil des Konzeptes von diasporaarmenischer Identität geworden. Zentrales Ziel der vielfältigen Hilfeleistungen aus Thessaloniki und auch Athen war allerdings das nationale Überleben Armeniens und die Wiederherstellung des vor-sowjetischen „reinen“ Zustands des Landes. Denn die gegenwärtigen Probleme Armeniens waren nach Vorstellung der Diasporaarmenier Auswirkungen, die auf die Verunreinigung des „wahren Armeniens“ durch den Kommunismus zurückzuführen sind. Aus dieser nationalistischen Perspektive wird Migration als Gefahr für das nationale Überleben gesehen. Die Migranten werden dabei zu schlechten Patrioten, die durch ihr Weggehen die Heimat verraten. Das Heimatkonzept der Migranten unterschied sich deutlich von dem der Diasporaarmenier, was auf ihre prekären Lebensumstände in Griechenland und die Kürze ihres Aufenthalts zurückzuführen ist. Einerseits sahen sie Armenien nach wie vor als Heimat im Sinne einer gelebten Erfahrung von Lokalität (Brah 1996: 192). Sie imaginierten Armenien auf der Folie der Alltagserfahrungen, die ihr Leben dort bestimmt hatten. Durch ihre zumeist sehr engen Verbindungen zu in Armenien lebenden Familienangehörigen, Verwandten und Freunden fühlten sie sich nach wie vor mit dem Alltagsleben dort verbun115

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den. Das von ihnen erwirtschaftete Geld bildete meist die ökonomische Grundlage für noch in Armenien lebende Familienangehörige und Verwandte. Auf diese Weise blieben sie auch über Nationalstaatengrenzen hinweg nach wie vor Mitglieder ihrer Herkunftsfamilien und des familiären Haushaltes.86 Vor dem Hintergrund der als ausweglos empfundenen Lebenssituation – die Rückkehr in die Heimat war bis auf weiteres aus nicht möglich, das Bleiben in Griechenland perspektivlos und von der Ausweisung gefährdet – begannen viele Migranten ihre Alltagserfahrungen vor der Migration zu idealisieren und von der Rückkehr zu träumen. Serine, eine Migrantin aus Jerewan, die im Folgenden häufiger zu Wort kommen wird, formulierte dies folgendermaßen: „Ich habe immer geweint, wenn ich einen Brief geschrieben habe, um ihn nach Armenien zu schicken. Immer wenn ich zum Reisebüro gegangen bin, um den Brief wegzubringen, ich war immer in Tränen und ich wollte, immer, immer war mein Traum: Wann wird der Tag kommen, an dem ich zurückgehe. Wenn ich Leute sah, die zurückfuhren, dann sagte ich immer: Wann wird der Tag sein, an dem ich ein Ticket nach Armenien kaufe. Und dieser Traum ist immer noch mit mir.“ (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 17)

Auch für sie wurde Armenien immer mehr zu einem mythic place of desire. Gegenstand ihres homing desires (Brah 1996) war allerdings eine idealisierte Erinnerung der Lebensumstände in Sowjet-Armenien, „als wir noch gut lebten“. Die staatliche Unabhängigkeit wurde von den Migranten als Auslöser für die Katastrophe ihres individuellen Exils verstanden. Die nationalpolitische Perspektive der Diasporaarmenier, die das Ereignis als ersten Schritt der Wiederherstellung einer wahren, unverfälschten Heimat feierten, konnten sie nicht nachvollziehen. So stellten sich auch bei Serine Zweifel ein, ob Armenien nicht auch für sie längst zu einem „Ort ohne Rückkehr“ geworden ist. „Jetzt habe ich Angst zurückzugehen. Ich habe keine Angst, vor Hunger oder Durst zu sterben. Es ist eine psychologische Angst. Ich habe Angst davor zurückzukommen und die Dinge nicht so vorzufinden, wie vorher. Und meine Freunde nicht mehr zu finden, weil die meisten Armenien verlassen haben.“ (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 30)

Viele Migranten nahmen wie Serine Armenien trotz ihres homing desires als einen Ort wahr, an dem sie nicht mehr ohne weiteres an ein vertrautes Leben anknüpfen konnten. Dabei waren es nicht einmal die materiellen Lebensbedingungen allein, die eine Rückkehr für die meisten schwierig erscheinen ließ, sondern auch die tief greifenden sozialen Veränderungen, die seit der Unabhängigkeit stattgefunden hatten.

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Inwieweit Pendelmigration eine Rolle spielte und wie transnationales Haushaltsmanagement oder auch Mutterschaft ausagiert wurden, bleibt eine offene Forschungsfrage für die Zukunft. Sie hätte den Rahmen meiner Feldforschung gesprengt.

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Darüber hinaus machten viele Migranten und Migrantinnen aus Armenien in Griechenland erstmals die schmerzhafte Erfahrung, dass ihre armenische Identität in Zweifel gezogen und sie „wie Menschen zweiter Klasse“ behandelt wurden. Diasporaarmenier, die aus ihrer Perspektive nach nicht einmal richtig Armenisch sprachen und für sie von Griechen nicht zu unterscheiden waren, sprachen ihnen ab, „wahre Armenier“ zu sein, weil sie ihr Heimatland verlassen haben. Auch die Entscheidung der Gemeinde, Kinder von Migranten und Diasporaarmeniern in getrennten Gruppen in das Sommerferienlager fahren zu lassen, empfanden viele als Diskriminierung. „Sind wir etwa Türken? Warum trennen sie die Kinder, schließlich sind die genauso gut Armenier“, so äußerte sich meine Gesprächspartnerin Serine mir gegenüber erbost. Als wie verletzend sie dies empfand wird in der Formulierung „sind wir etwa Türken“ deutlich. Denn Türken, die Nachfahren der Täter des Genozids, sind die signifikanten Anderen gegen die Armenier ihre kollektive Identität konstruieren. Als der Gemeindepfarrer und andere Diasporaarmenier auf Serines Hochzeit mit einem Griechen mit dem Vorwurf reagierten, dass „Mischehen“ zum Verlust von Armenischsein führe, setzte sie sich zur Wehr: „Ich habe mich aufgeregt und ihnen geantwortet: ‚Ich habe 28 Jahre in Armenien gelebt und bin dort nicht weggegangen, weil alles so schön war. Wenn Sie es dort so schön finden, dann gehen Sie doch selber nach Armenien.‘ Und da haben sie nichts mehr gesagt.“ (Gesprächsprotokoll Nr. 49, 09.10.1996)

Die aus der Perspektive der Diasporaelite logische Formel „Mischehe gleich Verlust armenischer Identität“ hielt Serine lediglich für ein Argument, um sie von der Teilhabe an einer gesicherten Existenz in Griechenland auszuschließen. Kein Wunder, dass sie dies Argument nicht ernst nehmen konnte, denn auch die meisten Diasporaarmenier gehen heute keine endogamen Ehen ein. Dass sie durch Heirat mit einem Griechen weniger armenisch werden könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellung. Serine ging, wie die meisten Migranten davon aus, dass man armenische Identität selbstverständlich hat, ohne sich darum besonders bemühen zu müssen. Hier lag auch der zentrale Unterschied zum Identitätskonzept der Diasporaarmenier. Ihrer Ansicht nach musste man sich um den Erhalt armenischer Identität ständig aktiv und aufopferungsvoll bemühen, damit sie nicht verloren ging. Armenischsein war in ihren Augen an ein spezifisches Bewusstsein und an soziale Handlungen gebunden, die gleichzeitig mehr oder weniger verbindliche Identitätsmarker waren, wie z.B.: Engagement für die Gemeinde, aktives Bemühen um die armenische Sprache, die Weitergabe armenischer Namen, die Gründung rein armenischer Familien. Migranten, die nach Ansicht der Diasporaarmenier aufgrund ihrer Herkunft doch ethnisch „reiner“ sein müssten, gaben diese Symbole ethnischer Identität auf, wie eine Aktivistin aus Thessaloniki beklagte: „Diese Menschen von dort, die haben nicht dieses Bewusstsein, natürlich nicht. Für die gibt es das Bedürfnis gar nicht. Wenn es zum Beispiel Leute sind, die alle in ei-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA nem Loch wohnen und schreckliche Jobs machen müssen, obwohl sie Akademiker sind. Da gibt es welche, die einfach zusehen, dass sie sich sehr schnell anpassen, die ändern ihre Namen, ihre Vornamen, eine Sache, die für uns unmöglich ist. Sie lernen etwas Griechisch, sie vergessen schnell, sie suchen Sicherheit. Wenn sie Männer finden, die sie heiraten, dann vergessen sie schnell. Das Armenischsein, das ist in uns drin, nicht in denen.“ (Interview Nr. 2, 02.05.)

Migranten nahmen die „Opfer“ der Diasporaarmenier für den Fortbestand armenischer Identität nicht als solches wahr. Soziale Handlungen und Verhaltensweisen, die zentral für das Identitätskonzept der Diasporaarmenier waren, wie z.B. ihre ritualisierte Erinnerungsarbeit empfand Serine zum Beispiel, wie wir im Kapitel 6.3 sehen werden, als „gekünsteltes Theater“. Aber auch Diasporaarmenier waren damit konfrontiert, dass Migranten ihre armenische Identität anzweifelten: „Es gibt Leute, die sprechen überhaupt kein Griechisch. Und sie fragen Dich: ‚Warum sprichst Du kein Armenisch?‘ Und Du sagst ihnen: ‚Warum auch immer, ich hatte nicht die Gelegenheit, weißt Du.‘ Und sie sagen: ‚Du bist keine Armenierin.‘“ (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 36)

So beklagte sich Shushan, eine junge Diasporaarmenierin, die kaum Armenisch sprach, aber von anderen Diasporaarmeniern aufgrund ihres Engagements für die Gemeinde in ihrer ethnischen Identifikation als Armenierin bestärkt wurde (vgl. Kapitel 6.1). Allerdings berichteten Diasporaarmenier wesentlich seltener über derartige Konfrontationen mit Migranten. In den Erzählungen der Migranten und Migrantinnen über ihr Verhältnis zu den Diasporaarmeniern gehörten sie dagegen zum Standardrepertoire. Dass sie sich seltener direkt äußerten als Diasporaarmenier, lag darin begründet, dass ihre Beziehungen von struktureller Ungleichheit geprägt waren. In der Diaspora in Griechenland waren die Diasporaarmenier eindeutig in einer machtvolleren Position und Migranten und Migrantinnen waren auf ihre Hilfestellungen angewiesen. Schließlich kann man nicht auf der Grundlage von gemeinsamer ethnischer Herkunft Solidarität und Hilfe einfordern und diese Grundlage gleichzeitig offen in Zweifel ziehen. In Gesprächen mit mir dagegen, ließen Migranten und Migrantinnen keinen Zweifel daran, dass sie die „wahren“ Armenier seien. Es erfüllte sie sichtlich mit Genugtuung, sich durch diese Abwertung dem ausschließenden Verhalten von Diasporaarmeniern zu widersetzen. Aber Armenier aus der Republik wurden nicht nur diskursiv und durch offen ablehnendes Verhalten von der Zugehörigkeit zur Paroikia ausgeschlossen. Auch formal gehörten sie nicht dazu. Dies offenbarte sich anlässlich der Wahlen zum Askain Ischanutiun 1996 in Thessaloniki. An diesem Ereignis wurde auch deutlich, dass selbst bei den offiziellen Repräsentanten die Frage nach Mitgliedschaft in der Paroikia von unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Definitionen von Zugehörigkeit bestimmt war, die ich im Folgenden erläutern werde.

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INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Konfligierende Definitionen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft Als ich während eines Interviews den offiziellen Repräsentanten der armenischen Diaspora in Griechenland, Bischof Ayvasian, danach fragte, wen die Paroikia als Mitglied ansehen würde, antwortete er mir: „Dies ist eine schwierige Frage“ (Interview Nr. 95, S. 9). Im Prinzip gebe es das Konzept von Mitgliedschaft gar nicht, denn: „Die armenisch orthodoxe Kirche ist eine demokratische Kirche, jeder der Armenier ist und heiraten möchte, getauft werden möchte oder seinen Toten beerdigen möchte, kann frei zu jeder Kirche gehen, die er möchte, die Erlaubnis wird ihm gegeben werden. Egal woher er gekommen ist, es gibt keinen Ausschluss.“ (Interview Nr. 95, 12.02.1998, S. 14)

Armenier seien jedoch diejenigen, die armenischer Herkunft und in der armenischen Kirche getauft seien. In dieser Definition von Zugehörigkeit fallen ethnische und religiöse Identität zusammen, während der Geburts-, Herkunftsoder Residenzort keine Rolle spielt. Bei der Wahl zum Askain Ischanutiun 1996 wurde jedoch offensichtlich, dass es andere Definitionen von Zugehörigkeit gab, bei denen der Herkunftsund Residenzort durchaus eine Rolle spielte. Denn wahlberechtigt waren nur diejenigen, die in der Paroikia offiziell registriert waren. Voraussetzung für die Registrierung war, dass eine Person erwiesenermaßen in der armenischorthodoxen Kirche getauft worden war und zudem länger als fünf Jahre in Griechenland gelebt hatte. Damit wurden erstens alle Migranten aus der Republik Armenien von der politischen Mitsprache ausgeschlossen, da sie erst nach 1991 nach Griechenland eingewandert waren. Diese fassten die Regelung als eine weitere Bestätigung ihrer fortwährenden Diskriminierung auf. Zweitens traf diese Regelung jedoch auch Personen, deren Zugehörigkeit zur Paroikia in anderen Situationen niemals in Zweifel gezogen worden wäre: Dabei handelte es sich um griechische Ehepartner und Kinder aus interethnischen Ehen, die nicht in der armenischen Kirche getauft worden waren, wie die Geschwister Takis und Eleni Vartanian.87 Als Kinder aus einer interethnischen Ehe hatten sie nicht die idealtypische Sozialisation armenischer Kinder in der Paroikia durchlaufen. Weder hatten sie die armenische Schule besucht, und sprachen daher auch kein Armenisch, noch waren sie in die Kinder- oder Jugendgruppe gegangen. Verbunden fühlten sie sich jedoch dem Homenetmen, in dem Takis von Kindheit an Basket87

Heiraten in Griechenland zwei Menschen unterschiedlicher Konfession, so findet die Eheschließung in der Regel in der Kirche des Mannes statt. Die griechisch-orthodoxe Kirche verlangt nach Angaben des armenischen Bischofs darüber hinaus auch eine Erklärung der Eheleute, dass die Kinder in der griechisch-orthodoxen Kirche getauft werden. Eine Armenierin, die einen Griechen heiratet, wird von der Paroikia auch nach ihrer Eheschließung als Mitglied definiert. Aber auch wenn ihre Kinder sich als Armenier empfinden, gelten sie offiziell nicht als Mitglieder der Paroikia.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ball spielte und an dessen Veranstaltungen und Ausflügen die Familie regelmäßig teilnahm. Als wieder einmal ein neuer Vorstand gewählt werden sollte, stimmten beide ihrer Wahl in diese arbeits- und zeitintensiven Positionen zu. Takis wurde stellvertretender Vorsitzender und Eleni Kassenwartin. Das Engagement der Geschwister war in erster Linie Ausdruck ihrer Loyalität zu diesem Verein und den dort aktiven Mitgliedern, eine Identifikation mit der Paroikia und der Identitätsarbeit ihrer Führung war damit für sie nicht verbunden. Dennoch fühlten sie sich auf diese Weise der Paroikia zugehörig und wurden, aufgrund ihres Engagements auch von den anderen als aktive Mitglieder der Paroikia anerkannt. Denn der Kreis der Aktivisten in der Paroikia von Thessaloniki war so klein, dass auf engagierte Personen nicht verzichtet werden konnte, auch wenn sie – streng genommen – andere normative Merkmale armenischer Identität (wie die Sprachkenntnisse) nicht erfüllten. Als Eleni und Takis ihren Namen nicht auf den Wahllisten registriert sahen, empfanden sie dies als Affront, den sie nicht ohne weiteres hinnehmen wollten. Takis entschloss sich, „Theater“ zu machen und für sein Wahlrecht zu kämpfen: „Sie sagten uns: ‚Aman88 Kinder, wir bitten Euch in den Vorstand.‘ Extra, mich! Sie sehen mich als Armenier, um in einen armenischen Vorstand zu gehen und Du siehst mich nicht als Armenier, um an einer armenischen Wahl teilzunehmen? Warum? Und dieses ganze Theater ist von mir ausgegangen. (er spricht erregt weiter). Ich gehe zur Versammlung (des Homentment) und sage: ‚Miki (der Vorsitzende) es gibt Wahlen, bist Du darüber informiert?‘ Er sagt mir: ‚Ja, die werden stattfinden‘, sagt er, ‚aber ich werde nicht wählen, das sind die Parteianhänger (ta kommatika), die wählen‘. Ich sage: ‚Weißt Du was? Ich werde auch nicht wählen.‘ Er sagt: ‚Nein, warum wirst Du nicht wählen?‘ Und von da an gab es ein (Theater). Wir rufen in der Kirche an. Ich sage denen: ‚Kinder, die Familie Vartanian hat nicht das Recht zu wählen?‘ ‚Nicht? Wie?‘ Ich sage: ‚Wie, lest Ihr denn Eure eigenen Anschläge nicht?‘ ‚Ich lese das‘, sagt einer, der im Wahlkomitee ist. ‚Ja‘, sagt er mir, ‚Du hast Recht, Ihr könnt nicht wählen.‘ Ich sagte: ‚Seid Ihr verrückt geworden, tickt Ihr noch richtig? Ok, mir ist das egal, aber sag das mal meinem Vater! Als das Erdbeben in Armenien war: Herr Vartanian89, geben Sie! Er hat zwei Kinder, die sind in einem armenischen Vorstand, die helfen, welche armenische Veranstaltung hier auch immer stattfindet, alle Drucksachen, (machen wir) umsonst, warum (sollen wir nicht wählen)?‘ Er sagt: ‚Das hat Athen gesagt und weil Athen das gesagt hat, müssen sie die Situation nicht berücksichtigen,‘ sagt er mir. ‚Lass mal, Taki,‘ sagt er, ‚ich werde mit Athen sprechen und wir werden das diskutieren und wir werden sehen, was sich machen lässt.‘ ‚Gut‘, sage ich. Und so fing das an. Sie haben die Listen geprüft und haben weitere 10, 15 Leute gefunden, die auch darunter waren und sehr böse geworden wären, wenn sie nicht hätten wählen können. Also Leute, bei denen es unvorstellbar gewesen wäre, wenn sie nicht an armenischen Wahlen hätten teilnehmen dürfen. (zählt diese auf). Und dann haben sie eine Woche vor den Wahlen die Erlaubnis geschickt, dass wir wählen dür88 89

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Aman ist ein Ausruf, der in Situationen der Verzweiflung, Verärgerung häufig benutzt wird. Die Familie stellte eine Ausnahme dar. Obwohl der Vater Armenier war, wurde er in der griechisch-orthodoxen Kirche getauft, heiratete eine Griechin und ließ seine Kinder wiederum griechisch-orthodox taufen.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN fen. Und ich gehe wählen und was sagen sie mir? ‚Deine Frau, kommt die nicht wählen?‘ Ich sage: ‚Jetzt macht Ihr mich verrückt, welche Frau, wie meine Frau (die Griechin ist).‘ ‚Nein‘, sagen sie, ‚auch Deine Frau kann wählen.‘ ‚Gut‘, sage ich, ‚erst hatte noch nicht einmal ich das Recht, und plötzlich auch meine Frau, dann werde ich auch meine Schwiegermutter mitbringen. Wie kann das denn sein?! Was sagt ihr jetzt?!‘ Und dann habe ich sie geholt und ihr gesagt: ‚Geh wählen.‘ Also sie treffen irgendwelche Entscheidungen hier, die gar nicht ihre sind, die kommen fertig aus Athen.“ (Interview Nr. 43, 07.11.1996, S. 19-21).

Das „Theater“ ist für Eleni und Takis gut ausgegangen: Sie und – der Logik des familiären Aktivismus folgend – sogar die griechische Ehefrau von Takis konnten an der Wahl teilnehmen und wurden damit auch formal als Mitglied der Paroikia anerkannt. Gleichzeitig lassen sich an diesem Beispiel die verschiedenen und konflikthaften Definitionen von Zugehörigkeit zur armenischen Paroikia nochmals zusammenfassend erläutern. Mit der Paroikia verbanden Armenier konfligierende Vorstellungen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Offizielle und dominante Konzepte definierten die Paroikia zum einen als eine administrative Einheit, die von der Kirche und den Parteien regiert wird. Aufgrund der Parteienspaltung der armenischen Diaspora führte dies in Athen de facto zu zwei räumlich und administrativ getrennten armenischen Gemeinschaften. Am Beispiel der DaschnakParoikia habe ich erläutert, dass mit Paroikia außerdem die Vorstellung einer ethno-politischen Einheit, einer „Nation im Exil“ verbunden war. Über die Zugehörigkeit zu dieser „Nation im Exil“ bestanden abweichende Meinungen. Aufgrund der engen Verflechtung religiöser und politischer Strukturen war die Zugehörigkeit zur Paroikia, an eine Deckungsgleichheit von nationaler, ethnischer und religiöser Identität gebunden. Armenische Protestanten und Katholiken blieben damit formal von dieser „Nation im Exil“ ausgeschlossen. Neben der armenischen Herkunft und dem armenisch-orthodoxen Glaube war Sesshaftigkeit, wie das Beispiel der Wahlen gezeigt hat, ebenfalls eine Voraussetzung von Zugehörigkeit, zumindest wenn es um die Partizipation an politischen Prozessen in der Paroikia ging. Zwar wurde Armeniern aus der Republik die Teilnahme an der Liturgie und anderen Angeboten der Paroikia nicht verwehrt, sie wurden jedoch von einer Mitsprache ausgeschlossen. Darüber hinaus lag dieser Definition von Zugehörigkeit das Konzept familiären Aktivismus verbunden mit idealtypischen Vorstellungen einer endogamen Ehe und einer „rein-armenischen“ Familie zugrunde. Für den Umgang mit hybriden Formen von Armenischsein, dabei beziehe ich mich auf Kinder aus so genannten Mischehen und die nicht-armenischen Ehepartner und Ehepartnerinnen von Mitgliedern der Paroikia, gab es keine eindeutigen Kriterien von Zugehörigkeit. Vielmehr griff hier ein anderes Prinzip von Zugehörigkeit, das auf der performativen Praxis von Armenischsein basierte. Wie das Beispiel von Eleni und Takis zeigte, war Aktivismus ein wesentliches Kriterium, das in Einzelfällen über eine (formale) Zugehörigkeit entscheiden kann. Offenbar, und auch dies zeigte das Beispiel, wurde damit lokal unterschiedlich umgegangen: Eleni und Takis galten aufgrund ihres Engagements für den Home121

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

netmen aus der Perspektive der Paroikia in Thessaloniki als Mitglieder einer armenischen Nation, aus der Perspektive der Athener Führung jedoch nicht. Außerdem war die Zugehörigkeit zur Daschnak-Paroikia auch immer an eine Akzeptanz des Führungsanspruchs der Partei, also an eine politische Identifikation, gebunden. Während in Athen Armenier, die die Legitimation der Daschnak auf einen Führungsanspruch nicht anerkennen, auf die Ramgavar-Paroikia ausweichen konnten, hatten Armenier in Thessaloniki diese Möglichkeit nicht. Daher nahmen überzeugte Anti-Daschnaks in Thessaloniki nicht an den Wahlen zur Paroikia teil. Trotz der Dominanz der Partei hatten sie dennoch Wege des Widerstands gefunden, indem sie den Homenetmen zu einem Chezok-Verein machten. Und noch etwas wurde deutlich: Diaspora als wissenschaftlicher Begriff wird von vielen Autoren als spezifische Form sozialer Organisation gesehen, die sich von anderen Formen wie z.B. dem Nationalstaat aufgrund spezifischer Kriterien, die ich im letzten Kapitel kritisch diskutieren werde, abgrenzen lässt (vgl. Cohen 1997: 180-196; Safran 1991: 83-90; Tölölyan 1996: 1216; Vertovec 1997: 278-281). Da die Diskussion von Diaspora als sozialer Form auf abgrenzende Merkmale zu nationalstaatlichen Organisationsformen ausgerichtet ist, suggeriert dieses Konzept von Diaspora, das es sich dabei um eine quasi-natürliche Gemeinschaft handele. Indem ich die internen Differenzlinien in ihrer jeweiligen lokalspezifischen Ausprägung in den Vordergrund meiner Analyse gestellt habe, entstand zum einen ein differenziertes Bild der internen Beziehungen. Zum anderen wurden auf diese Weise auch die Machtstrukturen innerhalb einer Paroikia und zwischen den beiden Paroikies Thessaloniki und Athen deutlich. Auch hier zeigte sich, dass Einflussmöglichkeiten von Personen innerhalb der Paroikia auf die Produktion und Übertragung von Konzepten armenischer Identität und Diaspora an institutionalisierte Positionen gebunden sind. Dies bestätigt die im vorhergehenden Kapitel erläuterte These über den zentralen Stellenwert von Institutionen und Eliten für die Prozesse der Gemeinschaftsbildung in der armenischen Diaspora. Auch in der Diaspora müssen Zugehörigkeiten immer wieder neu verhandelt und hergestellt werden. In diesen Prozessen sind, ebenso wie im Nationalstaat, die Definitionen derjenigen, die zentrale identitätsstiftende Institutionen führen, dominant, aber nicht unwidersprochen. Im nächsten fünften Kapitel werde ich zeigen, dass in der öffentlichen Erinnerungsarbeit an den Genozid eine kollektive armenische Identität (re)produziert wird. Mit dieser Erinnerungs- und Identitätsarbeit wird einerseits versucht, Differenzlinien und Heterogenitäten zugunsten verbindlicher kollektiver Identifikationen aufzulösen. Andererseits perpetuieren sie interne Machtbeziehungen. Im sechsten Kapitel wird die Analyse dieses Spannungsverhältnisses zwischen homogenisierender öffentlicher Identitätsarbeit und den individuellen Positionierungen, die durch multiple, sich überkreuzende Differenzen beeinflusst sind, im Vordergrund stehen. Dabei werden auch Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter und Klasse, die ich in diesem Kapitel nur anreißen konnte, in die Analyse einbezogen werden Vorher analysiere ich 122

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

noch eine wesentliche Beziehung des armenischen Diasporaraumes, die auch in den nächsten beiden Kapitel von zentraler Bedeutung sein wird: Die Beziehung zwischen der armenischen Diaspora und dem griechischen Nationalstaat.

4.3

Zwischen loyalem Millet und ethnischer Minderheit: Rechtliche Stellung der Paroikies im Nationalstaat Griechenland

Auf den ersten Blick scheint alles eindeutig: Seit 1968 sind Armenier – bis auf wenige Ausnahmen90 – formal griechische Staatsbürger und haben damit die gleichen Rechte und Pflichten wie griechische Bürger. Aus staatsbürgerschaftlicher Perspektive besteht an ihrer Zugehörigkeit zur griechischen Nation also kein Zweifel. Allerdings sind dominante Definitionen von Griechischsein an die Vorstellung einer Deckungsgleichheit von nationaler, ethnischer und religiöser Identität gebunden. Diese dominanten Vorstellungen sind auch in Konzepten zu Staatsbürgerschaft fest verankert. Die griechische Sprache und die griechisch-orthodoxe Kirche gelten als die zentralen Merkmale griechischer nationaler Identität. Der Status der griechischen Orthodoxie als Nationalkirche ist auch rechtlich legitimiert, denn sie ist die offizielle Staatsreligion, der 98 % aller Griechen angehören. Missionarische Aktivitäten anderer Kirchen sind gesetzlich verboten. Für die Errichtung anderer Kirchen und die Ernennung ihrer Geistlichen muss die Erlaubnis des Ministerium für Erziehung und Religion eingeholt werden, das von der griechisch-orthodoxen Kirche dominiert wird. Um ihre hegemoniale Position zu bewahren, kontrollieren sie die Handlungsfähigkeit anderer Kirchen. Meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen hatten der griechischorthodoxen Kirche gegenüber daher eine sehr kritische Haltung. Wurde über Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung gesprochen, so rekurrierten sie in erster Linie auf Erfahrungen mit religiös motivierter Diskriminierung. Sie warfen der griechischen Orthodoxie eine fanatische Haltung vor, da aus deren Perspektive armenische Orthodoxie als Häresie betrachtet würde. Viele berichteten, dass griechisch-orthodoxe Geistliche sie nicht als Paten akzeptiert hatten. Außerdem würden besonders verbohrte griechische Popen im Falle von Eheschließungen mit griechischen Partnern immer wieder darauf bestehen, dass Armenier im Geiste der griechischen Orthodoxie noch einmal getauft werden müssten. In Athen, wo die armenische Paroikia nicht wie in Thessaloniki über einen eigenen Friedhof verfügte, kam es auch immer wieder zu Konflikten um die Benutzung der Friedhofskapelle mit griechischen Geistlichen. 90

Ausnahmen bildeten die seit 1991 zugewanderten Armenier aus der Republik sowie armenische Einwanderer aus Ländern des Mittleren Ostens, die zwar schon länger in Griechenland lebten, aber nur zum Teil die griechische Staatsbürgerschaft hatten.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Selbst Bischof Ayvasian, der in unserem Gespräch ständig betonte, dass die Beziehungen zwischen der Paroikia, dem griechischen Staat und der griechisch-orthodoxen Kirche „sehr gut“ seien, berichtete davon, dass er seines geistlichen Amtes mit einer gewissen Vorsicht walten müsse. Weder könne er interkonfessionelle Paare, bei denen die Frau Armenierin sei, dazu ermutigen noch darin unterstützen, in der armenischen Kirche zu heiraten. Da die Regel sei, dass die Frau dem Dogma des Mannes folge, würde die griechische Kirche dies als Missionierung auffassen: „Es sind sehr wenige, ein, zwei, die den Wunsch hatten, ich weiß nicht warum, dass ein griechischer Ehemann und ein armenisches Mädchen in der armenischorthodoxen Kirche geheiratet haben. Es sind wenige. Ich kann dies auch nicht fortsetzen, weil ich dann ein Problem mit der griechisch-orthodoxen Kirche bekomme. Weil die dann sagen, dass ich in ihrem Terrain fische. Missioniere.“ (Interview Nr. 95, 12.02.1998, S. 10)

Grieche ist also, wer eine griechische Herkunft für sich in Anspruch nehmen kann, griechisch spricht und an die griechische Orthodoxie glaubt. Zum Prinzip des ius sanguinis, das dem griechischen Staatsbürgerschaftsrecht zugrunde liegt, tritt noch die Vorstellung der griechischen Orthodoxie als Nationalkirche. Diese Kriterien von Zugehörigkeit erfüllten Armenier in doppelter Hinsicht nicht. Sie empfanden sich als Angehörige einer anderen ethnischen Gruppe und einer armenischen Transnation. Ihre nationale und ethnische Identität war, ebenso wie die der Griechen, an eine Identifikation mit einer Nationalkirche gebunden. Den Status einer offiziellen Minderheit räumt das griechische Staatsbürgerschaftsrecht jedoch weder einzelnen Armeniern noch der armenischen Diaspora als Kollektiv ein. Griechenland tut sich schwer mit der Anerkennung seiner ethnischen und religiösen Minderheiten. Seit der Gründung und geographischen Ausdehnung des griechischen Nationalstaates – Makedonien mit Thessaloniki als Hauptstadt und Thrakien wurden erst 1912 inkorporiert – war die Politik ethnisch und religiös Anderen gegenüber die einer nationalen Homogenisierung (vgl. Blinkhorn/Veremis 1990; Danforth 1995; Gounaris u. a. 1997; Karakasidou 1997; Mackridge/Yannakis 1997). Daran haben bis jetzt weder die öffentlich artikulierten Ansprüche auf Minderheitenrechte von makedonischen Aktivisten in Nordgriechenland noch die Tatsache, dass Griechenland de facto seit Anfang der 90er Jahre eine Einwanderungsgesellschaft ist, etwas ändern können. Einen offiziell anerkannten Minderheitenstatus besitzen in Griechenland nach wie vor nur Juden und Muslime in Thrakien (Lienau 1989:38-49), während makedonische Aktivisten, die sich als ethnische und sprachliche Minderheit in Nordgriechenland definieren, bislang – unter Anteilnahme von Menschenrechtsorganisationen – vergeblich um ihre Anerkennung kämpfen (vgl. Danforth 1995; Karakasidou 1997; Cowan 1997; dies. 2001). Zwar ist Multikulturalismus (polypolikosmikotita) seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem in Thessaloniki – zu einem populären Begriff griechischer 124

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Medien geworden.91 Ein politisches und juristisches Projekt einer multikulturellen Gesellschaft ist damit jedoch nicht verbunden. Vielmehr wird der Begriff Multikulturalismus im Sinne einer folkloristischen Auffassung verwendet, die Kultur als objektivierbare und konsumierbare Güter ansieht. Der griechische Ethnologe Georgios Agelopoulos (2000) führt diese Entwicklung in erster Linie auf Thessalonikis Status als Kulturhauptstadt Europas 1997 und zweitens auf die massive Einwanderung aus den angrenzenden Balkanländern und der ehemaligen Sowjetunion seit Anfang der 90er Jahre zurück. Nach meinen Beobachtungen wurde im Zusammenhang mit der Selbstrepräsentation Thessalonikis als europäische Kulturhauptstadt die osmanische Geschichte der Stadt, die bis dato im öffentlichen Diskurs als „500 Jahre Sklaverei“ bezeichnet wurde, partiell zu einer positiven Tradition umgedeutet. Bisher vernachlässigte und daher halb verfallene architektonische Zeugnisse aus dieser Zeit wurden restauriert. Und auch die jüdische Geschichte der Stadt, die vorher in erster Linie Gegenstand einer (jüdischen) akademischen Historiographie war, wurde plötzlich öffentlichkeitswirksam dem nationalen und internationalen Publikum der Kulturhauptstadt als eine prägende Tradition Thessalonikis präsentiert. Die Lebensbedingungen der undokumentierten Einwanderer, die seit zehn Jahren die kulturelle Pluralität der Stadt bestimmen, wurden jedoch nicht zum Thema öffentlicher Diskussionen. Im Gegensatz zu den „einheimischen“ Minderheiten der Stadt, wie den Juden oder Armeniern, hatten sie weder Gelegenheit zur Selbstdarstellung noch profitierten sie von der Vergabe öffentlicher Gelder. De jure existiert also keine armenische Minderheit in Griechenland. Denn Armenier werden vom griechischen Staat rechtlich nicht als ethnische Minderheit anerkannt und sind als religiöse Minderheit nur geduldet. De facto betrachtet der griechische Staat die Daschnak-Paroikia jedoch als eine ethnopolitische Einheit mit dem Bischof als dem offiziellen Repräsentanten aller Armenier Griechenlands. In dieser Eigenschaft wird der Bischof, wie die Repräsentanten ausländischer diplomatischer Vertretungen, zu offiziellen Anlässen eingeladen. Armenier, die sich nicht mit der Daschnak-Paroikia identifizieren bzw. als Mitglied gesehen werden, sind somit von der Möglichkeit ausgeschlossen, ihre Interessen gegenüber dem griechischen Nationalstaat zu vertreten. Im Prinzip hat die armenische Paroikia (der Daschnak) damit de facto, wenn auch nicht de jure, einen ähnlichen Status im griechischen Nationalstaat wie das armenische Millet im osmanischen Reich.92 Die Anerkennung des griechischen Staates ist nicht nur symbolischer Natur, sondern hat – allerdings ausschließlich Daschnak-Paroikia – weitreichende Konsequenzen. Der griechische Staat genehmigte nicht nur schon vor Jahren armenische Kindergärten und Schulen, sondern finanziert seit einigen Jahren auch das griechische Personal der armenischen Schulen und seit 1997 so91 92

Der Begriff war bis in die 1980er Jahre in Griechenland unbekannt und wurde durch Wissenschaftler eingeführt (Agelopoulos 2000: 140) Zum Millet-System siehe Kapitel 3.1.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

gar die Lehrkräfte, die das armenische Curriculum unterrichten.93 Bedenkt man die zentrale Bedeutung, die Schulen für die Etablierung und Übertragung ethnischer und nationaler Projekte haben, so leistet der griechische Staat damit einen aktiven Beitrag zum Fortbestand einer armenischen Minderheit in Griechenland, die es de jure gar nicht geben dürfte. Diese paradoxe Situation – de jure: Nicht-Existenz, de facto: großzügige Unterstützung armenischer Identitätsarbeit – gründet nicht auf Rechtssicherheit, sondern auf einer geschickten Politik der Paroikia dem griechischen Staat gegenüber. Diese Politik besteht zum einen aus der Konzeptionalisierung der armenischen Diaspora als „Nation im Exil“ und zum anderen aus der ständigen Aushandlung guter Beziehungen zwischen der armenischen Paroikia und dem griechischen Nationalstaat. Das zumindest bei der Führung der Paroikia nach wie vor dominante Konzept der armenischen Diaspora als „Nation im Exil“ geht nicht von einem dauerhaften Aufenthalt in Griechenland aus, sondern von einer Rückkehr nach Armenien. Die Rolle des griechischen Staates wird als gastgebende Nation konzeptionalisiert, die armenischen Flüchtlingen Exil gewährt hat. Dass dieses Konzept mit den problematischen Aufnahmebedingungen in Griechenland zusammenhängt, habe ich im vorhergehenden Kapitel erläutert. Obgleich selbst armenische Aktivisten heute an eine Rückkehr nach Armenien nicht mehr glauben, ist ihre Haltung Griechenland gegenüber nach wie vor von Dankbarkeit für die erwiesene Gastfreundschaft geprägt, wie auch Bischof Ayvasian betonte: „Wir leben sehr gut zusammen (mit den Griechen) und haben sehr gute Beziehungen. Es hat mit keinem Bischof jemals Probleme gegeben, die ganzen Jahre über nicht. Das hat Bedeutung, nicht für mich persönlich, sondern für die Paroikia. Wir sind dankbar. Die Menschen damals, wir hatten noch nicht einmal Brot zum Essen, und sie gaben uns Brot. Müssen wir dafür nicht dankbar sein?! Verstehen Sie, wie das ist?! (...) Und was gewinnen wir, wenn wir Feindschaft haben? Nichts!“ (Interview Nr. 95, 12.02.1998, S.19)

In diesem Zitat drückte Bischof Ayvasian eine Haltung dem griechischen Staat und der Bevölkerung gegenüber aus, die viele – vor allem die älteren – meiner Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen immer wieder mit Redewendungen wie: „wir sind hier Gäste“, „die Griechen haben uns großzügig aufgenommen“ hervorhoben. Diese Dankbarkeitsbekundungen deuten darauf hin, wie wirksam die Politik der Pathologisierung der heimatlosen und staatenlosen Flüchtlinge zumindest bei älteren Gesprächspartnerinnen nach wie vor ist. Bischofs Ayvasians Zitat zeigt jedoch noch eine weitere Facette, die darauf hinweist, dass die viel zitierte Dankbarkeit auch zu einer sinnvollen Strategie werden kann, um eine „Nation im Exil“ auch aus einer rechtlich benachteiligten Position zu erhalten, denn: „Was gewinnen wir, wenn wir Feindschaft haben?“ 93

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Das Curriculum armenischer Schulen folgt dem der griechischen und beinhaltet zusätzlichen Unterricht in armenischer Sprache, Geschichte und Religion.

INSTITUTIONEN, DIFFERENZEN UND ZUGEHÖRIGKEITEN

Multilokale Beziehungen von Menschen in der Diaspora werden in der akademischen Debatte häufig als triadische Beziehungen beschrieben, zwischen a. global zerstreuten Gemeinschafen einer ethnischen Gruppe, b. ihren Residenzländern und c. den Territorien oder Ländern, die als Heimat- oder Herkunftsland gesehen werden (vgl. Vertovec 1997: 279; Safran 1991: 91ff.). Dies impliziert, dass die Beziehung Diaspora-Residenzland in Abhängigkeit zur Beziehung Herkunftsland-Residenzland gedacht wird. Ohne Zweifel sind Identifikationen von Menschen in der Diaspora in entscheidendem Maße von dieser Triade geprägt. Aber auch wenn die Beziehungen zwischen der jungen armenischen Republik und dem griechischen Staat als ausgesprochen gut gelten, ist das Konzept triadischer Netzwerke nicht ausreichend, um die komplexen Beziehungen zwischen den armenischen Paroikies und Griechenland zu erklären. Diese lassen sich erst analysieren, wenn wir das Verhältnis Griechenlands zur Türkei und zu anderen ethnischen Minderheiten in Griechenland berücksichtigen. In Griechenland werden verschiedene Gruppen von Menschen, die trotz ihrer Staatsbürgerschaft als Xeni (Fremde), Metanastes (Migranten) oder Prosfyges94 wahrgenommen werden, in Diskursen und Praxen von Zugehörigkeit zur und Ausgeschlossensein aus der nationalen griechischen Gemeinschaft hierarchisch positioniert.95 Diesen Prozess der hierarchischen Positionierung bezeichnet Avtar Brah (1996) als „differential racialization“. Nachkommen der griechischen Flüchtlinge von 1922 werden zwar nach wie als Prosfyges bezeichnet, an ihrer Zugehörigkeit zur griechischen Nation gibt es jedoch heute keinen Zweifel mehr. Muslime in Nordgriechenland gelten da94

95

Unter Prosfyges versteht man in erster Linie die griechischen und pontischen Flüchtlinge aus Kleinasien, die 1922/23 ins Land gekommen waren. Heute wird diese Bezeichnung auch für Einwanderer aus den Balkanländern und der ehemaligen Sowjetunion verwandt, in diesem Zusammenhang aber abwertend von Wirtschaftsflüchtlingen gesprochen. Der Terminus Prosfyges im Sinne der Flüchtlinge von 1922 ist heute jedoch positiv belegt. Diese Prozesse der Positionierung von Minderheiten sind erst in den letzten 10 Jahren zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Durch die Aktualität von Themenkomplexen wie Nationalismus und nationale Identität erschienen eine Reihe historischer und ethnologischer Arbeiten, die allerdings fast alle auf die slawo-makedonische Minderheit in Griechenland vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen Griechenlands mit Makedonien fokussiert sind (vgl. Blinkhorn/Veremis 1990; Danforth 1995; Gounaris u.a. 1997; Karakasidou 1997; Mackridge/Yannakis 1997). Die Arbeiten von Jutta Lauth-Bacas (1995) und Dorothea Schell (1996 a und b) dagegen bilden Ausnahmen, da sie sich mit der Konstruktion nationaler Identität auf den griechischen Inseln Lesbos und Samos auseinandersetzen. Dabei berücksichtigt Schell auch die Einwanderung von Albanern. Andere Minderheiten wie die Juden, Pomaken und Muslime in Thrakien sind bisher nur in wenigen Fällen zum Thema ethnologischer Untersuchungen geworden (vgl. Karakasidou 1993; Lewkovicz 1994). Eine Erforschung der Positionierung von Minderheiten, die Prozesse der „differential racialisation“ einbezieht, bleibt jedoch ein Forschungsdesiderat für die Zukunft.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

gegen trotz ihrer historisch längeren Präsenz in Griechenland und ihrer Staatsbürgerschaft als Xeni. Sie sind das signifikante Andere, gegen das griechische Identität abgegrenzt und verteidigt wird und gelten als 5. Kolonne des türkischen Staates (vgl. Karakasidou 1993).96 Die Beziehungsarbeit der armenischen Paroikia basiert daher zum einen auf der Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft mit den Griechen aufgrund der (gemeinsam) erlittenen Verfolgung und Vertreibung aus der Türkei und zum anderen auf dem ständigen Nachweis ihrer Loyalität. Ein zentrales Element in dieser Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft von Flüchtlingen, die gleichzeitig ein für die Integrität des griechischen Nationalstaates unbedrohliches ethnisches Anderssein ermöglicht, ist die Erinnerungsarbeit an den Genozid. Abschließend möchte ich betonen, dass die individuellen Konstruktionen von Zugehörigkeit zur armenischen bzw. griechischen nationalen Gemeinschaft sehr viel differenzierter waren und zum Teil auch von dem offiziellen Diskurs der Paroikia abwichen. Zwar rekurrierten zum Teil auch jüngere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf den Diskurs armenischer Dankbarkeit und griechischer Gastfreundschaft, gingen jedoch gleichzeitig selbstverständlich davon aus, dass sie auch Teil der griechischen Nation sind. Für sie ergab sich durch die gleichzeitige Identifikation mit armenischer und griechischer nationaler Identität kein Widerspruch, obgleich beide Identitäten in dominanten Diskursen als ausschließlich konstruiert werden. Ältere Gesprächspartnerinnen dagegen, die die meiste Zeit ihres Lebens als staatenlose Flüchtlinge in Griechenland gelebt hatten, sahen ihre griechische Staatsangehörigkeit häufig als eine bloße Formalie an, die nichts über ihre ethnische und nationale Identifikation aussagte. Ob sich Armenier der dritten und vierten Generation längerfristig mit dem rechtlich prekären Status eines loyalen Millets zufrieden geben werden, oder aber – beeinflusst durch Erfahrungen mit multikulturellen Konzepten anderer europäischer Länder – Rechte als ethnische oder kulturelle Minderheit einfordern werden, bleibt abzuwarten. Sicherlich wird dies in entscheidendem Maße von den Beziehungen Griechenlands und Armeniens zur Türkei abhängen. Denn „was gewinnen wir“, um die Worte von Bischof Ayvasian noch einmal aufzugreifen, mit einer offenen Konfrontation und der Forderung nach Minderheitenrechten, solange sich diese zumindest de facto auch durch die Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft von Griechen und Armeniern in Abgrenzung zum türkischen Anderen einfordern lassen? Im nächsten Kapitel werde ich analysieren, wie Armenier durch die ritualisierte Erinnerungsarbeit den Quantensprung schaffen, sich zugleich als Teil der griechischen nationalen Gemeinschaft und als ethnisch Andere zu inszenieren und wie sie mit diesen performativen Handlung auch ihre Position als de facto privilegierte Minderheit in Griechenland stärken. 96

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Während der Hochphase des Konfliktes Anfang der 1990er Jahre mit dem Nachbarstaat der Former Republic of Macedonia (FYROM) um den Namen Makedonien, hatten Makedonien und Aktivisten der slawophonen Minderheit diese Position kurzzeitig übernommen

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KOLLEKTIVE ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

Paradoxerweise ist es die Erinnerungsarbeit an den Genozid, eine Erfahrung absoluter existenzieller Bedrohung, durch die kollektive Identität und Gemeinschaft in der armenischen Diaspora entstehen. Durch diese Erinnerungsarbeit wird das Trauma des Genozids in ein sinnstiftendes und zukunftsweisendes Ereignis umgedeutet, dass als Referenzpunkt für kollektive und individuelle Identifikationen in Anspruch genommen werden kann. Außerdem (re)produziert die Erinnerungsarbeit die Beziehungen, durch die ein armenischer Diasporaraum entsteht. Armenische Erinnerungsarbeit an den Genozid findet in zwei Arenen und auf zwei Arten und Weisen statt: In der Öffentlichkeit der institutionalisierten Diasporagemeinde durch kollektive performative Handlungen, die ritualisiert sind; und im privaten Raum, indem Erinnerungserzählungen über den Genozid intergenerationell weitergegeben werden und sich Individuen gegenüber der ritualisierten Erinnerungsarbeit positionieren. Beide Arenen sind sich überschneidende soziale Räume, in denen sich individuelle und kollektive Erinnerungsprozesse vollziehen und zu Identitätsarbeit werden. In beiden Räumen werden jeweils unterschiedliche Vergangenheitsrepräsentationen hervorgebracht, die in einem komplexen, von Machtbeziehungen gekennzeichneten Verhältnis zueinander stehen und Fragen nach dem Verhältnis individueller und kollektiver Erinnerungs- und Identitätsarbeit aufwerfen. Mit diesen Fragen werde ich mich in diesem und dem nachfolgenden Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. In diesem Kapitel beschreibe ich zunächst performative Handlungen der kollektiven institutionalisierten Erinnerungsarbeit, die im öffentlichen Raum in den armenischen Paroikies und in Athen und Thessaloniki stattfinden. Dabei konzentriere ich mich auf die Handlungen, die Armenier als die wichtigsten Rituale des öffentlichen Genozidsgedenkens verstehen. Meine Analyse basiert in erster Linie auf teilnehmender Beobachtung der Genozidgedenkrituale in Athen und Thessaloniki 1996 und 1997. Außerdem ziehe ich Selbstdarstellungen armenischer Parteien und Presseberichte hinzu. Im Vordergrund stehen zwei Fragen: Wie produzieren die Rituale zum Genozidgedenken gleichzeitig ethnische Einheit nach außen und Hierarchien und Differenzen nach innen? Welche Beziehungen im Diasporaraum werden durch diese ritualisierten Handlungen gestaltet, bestätigt und verändert? Bevor ich mit der Analyse einzelner ritualisierter Handlungen beginne, beschreibe ich den historischen Kontext, in dem sich die Politisierung und Ritualisierung des Genozidgedenkens entwickelt hat. 129

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

5.1

Die Politisierung und Ritualisierung des Genozidgedenkens in der armenischen Diaspora in Griechenland

Der 50. Jahrestag des Genozids 1965 gilt als Wendepunkt im öffentlichen Umgang mit dem Genozidgedenken in der armenischen Diaspora und der Republik Armenien. Anlässlich dieses symbolhaften Datums wurde das Gedenken in der armenischen Diaspora und der Republik Armenien erstmals öffentlich gemacht und mit einer politischen Botschaft versehen, die sich auch an eine nicht-armenische Öffentlichkeit richtete (vgl. Dudwick 1994). Die Erlebnisgeneration des Genozids gedachte ihrer Leiden noch ausschließlich in den armenischen Kirchen der Diaspora. Mit dem Generationenwechsel in den armenischen Gemeinden veränderten sich sowohl die Art und Weise als auch die Orte des Gedenkens (vgl. Miller/Touryan Miller 1991). Armenier in der Diaspora gedachten der Opfer fortan nicht mehr nur in ihren Kirchen, sondern auch für andere sichtbar auf öffentlichen Plätzen. Die zentrale Motivation bestand nun auch darin, die Öffentlichkeit über den Genozid und das Hay Dat (die Armenische Frage)97 zu informieren. Unter Hay Dat versteht man heute die Forderung nach der Anerkennung des Genozids durch die Türkei und die Rückgabe der armenischen Gebiete in der heutigen Türkei. Auf diese Weise wurde das Gedenken an den Genozid fortan mit dem Engagement für die Armenische Frage identifiziert. Auch in Armenien kam es 1965 gegen den Willen der sowjetischen Regierung zu Protestkundgebungen (vgl. Jacoby 1998a: 130-140; 1998b: 216-217; Pattie 1997: 22-37). Mit der Politisierung und „Veröffentlichung“ des Genozidgedenkens war ein Prozess der transnationalen Institutionalisierung und Formalisierung verbunden, in dem Institutionen wie die Kirche und die Parteien von Anfang an eine zentrale Rolle spielten. Ein wichtiger Ausgangspunkt für diesen Prozess war eine Erklärung des Katholikos Vasgen I., in der er das Jahr 1965 zu einem Jahr der nationalen Trauer erklärte und vier Empfehlungen gab, wie das Genozidgedenken fortan zu realisieren sei: „In allen armenischen Kirchen sollen am 24. April religiöse Zeremonien und Gedenkfeiern abgehalten werden, in denen um Frieden und Auferstehung für die Seelen der Tausende von Opfern gebetet wird. In allen armenischen Kirchen soll vor dem heiligen Altar eine Lampe mit dem ewigen Licht angebracht werden, die der Erinnerung an die armenischen Opfer gewidmet ist.

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Wörtlich übersetzt bedeutet Hay Dat Armenisches Tribunal. Vielfach wird der Begriff heute, so auch von Armeniern in Griechenland, synonym mit Armenischer Frage verwendet, auch wenn darunter ursprünglich das Streben nach einer Verbesserung der Lebenssituation des armenischen Millets im Osmanischen Reich verstanden wurde (Jacoby 1998a: 144-145; 1998b: 215).

ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG In allen armenischen Gemeinden und Kolonien, die der armenischen Kirche angehören, und in Zusammenarbeit mit ausnahmslos allen armenischen Organisationen sollen Versammlungen in Form von nationalen Feiern, Vorträgen und literarischen Veranstaltungen für ein armenisches und nicht-armenisches Publikum abgehalten werden, die den April-Massakern gewidmet sind. Die armenischen kirchlichen Autoritäten, die nationalen Organisationen, historische, literarische und kulturelle Vereinigungen und die armenische Presse sollten sich ihrer überwältigenden Pflicht bewusst sein, die heilige Erinnerung der Armenier, ihrer kirchlichen und prominenten Schriftsteller und nationalen Helden, die während der Jahre des Großen Massakers zu Opfern wurden, in Wort und Tat wieder zu beleben, indem sie historische Quellen, Dokumente, Studien, Erinnerungen, literarische und künstlerische Werke armenischer und nicht armenischer Autoren publizieren.“ (zitiert nach Talai 1989:131-132)

Die Politisierung des Genozids muss als eine transnationale politische Strategie verstanden werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Formalisierung und Ritualisierung des Gedenkens in den einzelnen Diasporagemeinden gleichförmig verlief und von lokalspezifischen historischen Entwicklungen unberührt war. Im Gegenteil sorgte zum Beispiel die Gründung der Armenischen Nationalkomitees98 durch die Daschnaktsutiun 1965 auf Länderebene dafür, dass – analog zu ihren Prinzipien der „ideologischen Zentralisierung“ und „organisatorischen Dezentralisierung“ – politische Strategien und Handlungen auf die Situation in den lokalen Diasporagemeinschaften ausgerichtet werden konnte. Zwar ist das Genozidgedenken an die nicht-armenische Öffentlichkeit adressiert, konkurrierende armenische politische Eliten nutzen diese Form der Erinnerungsarbeit aber auch dazu, ihre Konkurrenz um Einfluss auf die Mitglieder der lokalen armenischen Gemeinden öffentlich auszutragen. Dabei bestehen keine einheitlichen Ansichten darüber, wer Anspruch auf die Organisation des kollektiven Gedenkens hat und welche Symbole dabei verwendet werden sollten (vgl. Bakalian 1994: 350-357; Pattie 1997: 2223; Talai 1989: 131-134). In Griechenland war die dominante Partei Daschnaktsutiun die treibende Kraft bei der Verwirklichung der oben genannten Forderungen zu einer institutionalisierten und ritualisierten Erinnerungsarbeit. Die von ihr anlässlich des Genozidgedenktages (epeteio tis genoktonias) alljährlich ausgerichteten Veranstaltungen (ekdiloseis) in den Paroikies von Thessaloniki und Athen können als ein „ritueller Komplex“ (Stachow 1995: 16) bezeichnet werden, der aus einer Vielzahl von aufeinander bezogenen Ritualen besteht, die sich wiederum 98

Die Gründung der Armenischen Nationalkomitees stand im Zusammenhang mit der Politisierung des Genozidgedenkens auf internationaler Ebene. Ihre Aufgaben bestanden im politischen Lobbying für die Armenische Frage. Die Funktionen dieses Komitees wurden von meinen Gesprächspartnerinnen häufig mit denen eines Außenministeriums verglichen. Obgleich es sich um eine parteilich gebundene Organisationsform handelt, erheben die Armenischen Nationalkomitees den Anspruch, die legitimen Repräsentanten der Interessen aller in der Diaspora lebenden Armenier zu sein (vgl. Interview Nr. 5, Sebuch Kasparian, 12.05.1996).

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aus unterschiedlichen ritualisierten Handlungen und Strategien zusammensetzen. Meine Analyse werde ich auf drei aufeinander bezogene ritualisierte Handlungen fokussieren, die Anhänger der Daschnaktsutiun als die Schlüsselelemente kollektiver Erinnerungsarbeit empfanden, und diese mit anderen Formen der Ritualisierung kontrastieren: x Die politische Zentralveranstaltung mit anschließender Prozession und Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten – sie findet an einem Sonntag vor oder nach dem 24. April statt – der formale Ablauf ist in Thessaloniki und Athen ähnlich, x das Gedenkgebet zur Erinnerung an die Opfer des Genozids, das in Thessaloniki in der armenischen Kirche und in Athen an einem Denkmal der armenischen Paroikia abgehalten wird x und die Demonstration mit anschließender Protestkundgebung (poreia), dessen Ziel in Thessaloniki das türkische Konsulat und in Athen die türkische Botschaft ist und die grundsätzlich am 24. April stattfindet. Diese performativen Handlungen sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Zwecken eingeführt worden. Manche Rituale, wie die Demonstrationen vor der türkischen Botschaft, können als transnationale rituelle Praktiken bezeichnet werden, da sie auch in anderen Diasporagemeinden ausgeführt werden (vgl. Pattie 1997: 20-23; Talai 1989: 132-133). Andere Strategien der Ritualisierung wie die Dentrofitevsi (Bäumepflanzen) in Thessaloniki sind ausschließlich auf lokaler Ebene zu finden.99 Das Gedenkgebet für die Opfer geht auf die Gedenkgottesdienste zurück, die unmittelbar nach dem Genozid einsetzten und zunächst in den armenischen Kirchen stattfanden. Die politische Zentralveranstaltung hat ihren Vorläufer in den Veranstaltungen der einzelnen Athener Gemeinden, die zentralisiert wurden und in einem großen Theater stattfanden. Wann diese Zentralisierung exakt einsetzte, ließ sich durch Gespräche nicht rekonstruieren. Vermutlich war dies allerdings bereits vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall. Die Veranstaltung war zunächst nur auf die Gemeinde bezogen und fand vermutlich bis nach dem Sturz der Junta 1974 ohne die Beteiligung griechischer Vertreter aus Politik und Militär statt. In manchen Jahren gab es Probleme mit der Genehmigung durch griechische Behörden, wie sich eine 76jährige Armenierin erinnerte: 99

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Es gibt noch eine Reihe weiterer performativer Handlungen im Rahmen des Genozidgedenkens wie z.B. das Bäumchenpflanzen für die Opfer des Genozids durch die Kinder der Paroikia, eine Blutspende für die Blutbank der Paroikia, das nächtliche Anbringen von Plakaten, die auf den Genozidgedenktag aufmerksam machen sollen, durch die Daschnak-Jugend, Konzerte des griechischen Symphonieorchesters unter der Schirmherrschaft des Kultur-vereins Hamaskain in Thessaloniki, ein Schwimmwettbewerb des Sportvereins Homenetmen in Athen. Diese werden allerdings im Gegensatz zu den hier im Vordergrund stehenden Ritualen nicht als zentral angesehen.

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„Das hing immer davon ab, wie die Griechen gerade mit den Türken konnten. Wenn sie es gut konnten, dann haben sie uns nicht gelassen. Dann kamen wir am Theater an und standen vor verschlossenen Türen.“ (Interview Nr. 80, 24.11.1997).

Die Prozession mit Kranzniederlegung fand 1965 anlässlich des 50jährigen Gedenktags erstmalig statt und steht in Zusammenhang mit der Politisierung und „Veröffentlichung“ des Genozidgedenkens in der gesamten armenischen Diaspora. Nach zehnjähriger Unterbrechung während der Junta (1967-74) wurde diese erst 1975 mit der politischen Zentralveranstaltung zeremoniell verknüpft und zum festen Bestandteil des rituellen Komplexes. Die Protestkundgebungen vor den türkischen Repräsentanzen in Griechenland wurde 1980 von der Jugendorganisation der Daschnak initiiert; ihr ging 1979 ein Hungerstreik vor dem Gebäude der UNO voraus. Sie ist die am stärksten politisierte performative Handlung, die vermutlich auf Vorbilder in anderen armenischen Diasporagemeinden zurückgeht und in Griechenland durch die Regierungszeit der Junta zeitlich verzögert einsetzte. Weitere Impulse für diese Politisierung kamen aus der Diaspora selber. In den späten 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre wurde der gewaltsame Kampf für die Anerkennung des Genozids zu einem wichtigen Thema in der armenischen Diaspora. Zwei Ereignisse beeinflussten diese transnationale Debatte: 1973 ermordete Kourken Yanikian, ein Überlebender, dessen Familie im Genozid umgebracht worden war, zwei Angestellte des türkischen Konsulates in Santa Barbara in Kalifornien. 1975 gründete eine Gruppe junger Männer im Libanon die ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) nach dem Vorbild der palästinensischen PLO. Dieses Ereignis entfachte erneut eine Diskussion um bewaffneten Widerstand in der Daschnak.100 Im Namen der Partei wurde ebenfalls eine Gruppe für den bewaffneten Kampf gegründet, die sich erst JCAG (Justice Commando of the Armenian Genocide) und später ARA (Armenian Revolutionary Army) nannte. Die ASALA und die JCAG/ARA blieben bis Mitte der 1980er Jahre aktiv, verübten Anschläge im Libanon, Europa, Amerika, Australien und der Türkei, bei denen 64 Menschen getötet und 300 verletzt wurden; und sie bekämpften sich auch gegenseitig. Kourken Yanikians Tat wurde von ihnen als Wiedergeburt des armenischen Kampfes gefeiert und der alte Mann als Fedai101 zum Helden stilisiert (Björklund 1991: 337; Tölölyan 1992). Der politische Arm der ASALA un100 In den Jahren 1919 bis 1923 ermordeten Angehörige der Operation Nemesis, einer Geheimorganisation von Daschnak-Aktivisten, führende Vertreter des Ittihadregimes, das für den Genozid verantwortlich war. 1922-1923 wurde der bewaffnete Kampf aus der Agenda der Partei gestrichen. Teile der Daschnak waren damit nicht einverstanden und eine rebellische Gruppe von Kadern wurde 1931-34 ausgeschlossen. Sie hatten die Rückkehr zu bewaffneten Aktionen oder zumindest zu gelegentlichem symbolischen Terror gefordert, da sie davon ausgingen, dass sonst keine Anerkennung des Genozids durchzusetzen wäre (Tölölyan 1991: 183-184). 101 Armenische Bezeichnung für Freiheitskämpfer im osmanischen Reich.

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terhielt ein Büro in Athen. Obwohl Armenier aus Griechenland nicht direkt in den gewalttätigen Kampf um die Anerkennung des Genozids involviert waren, hatten diese Ereignisse eine ernorme Signalwirkung auf die Diaspora in Griechenland. Vor allem junge Armenier identifizierten sich stark mit den „modernen Freiheitskämpfern“. Die Entstehung der ritualisierten Erinnerungsarbeit muss gleichzeitig in Zusammenhang mit der Politisierung der Jugend in Griechenland durch die Studentenbewegung gegen die Junta und mit der Lockerung des politischen Klimas nach dem Sturz der Junta gesehen werden. Dass sich Ritualisierungen auch heute durch politische Veränderungen in Griechenland verändern, zeigten die Veranstaltungen im April 1998. Die griechische Regierung hat 1997 den Genozid als Tatbestand und den 24. April als offiziellen Gedenktag anerkannt. 1998 übernahm die griechische Regierung offiziell die Schirmherrschaft der Genozidgedenkfeierlichkeiten. Seitdem sehen sich die Daschnak und Ramgavar in Athen gezwungen, die politische Zentralveranstaltung gemeinsam auszurichten. Der Komplex der Daschnak-Rituale eignet sich für eine tiefergehende Analyse armenischer Erinnerungsarbeit besonders gut: Erstens werden diese performativen Handlungen von den Anhängern der dominanten Daschnak als Schlüsselrituale angesehen, die in ihren Augen einer Gedenktradition zum 24. April entsprechen. Zweitens lassen sich an der Abfolge dieser Rituale besonders gut die Unterschiede im Grad der Öffentlichkeit und Politisierung nachvollziehen. Und drittens lässt sich damit analysieren, wie durch diese Handlungen gleichzeitig Zugehörigkeit zum griechischen Nationalstaat und eine kollektive armenische Identität hergestellt wird. Viertens wird auch deutlich, dass die Ritualisierung des Genozidgedenkens Differenzen innerhalb der armenischen Paroikies manifestiert und perpetuiert – wie z.B. die politische Spaltung zwischen der Daschnak und Ramgavar. Und fünftens waren es diese ritualisierten Handlungen, auf die sich meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, ob Daschnak, Ramgavar oder Chezok in den Interviews hauptsächlich und am emotionalsten bezogen. Diese Rituale provozierten unterschiedliche Reaktionen, waren Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden politischen Gruppierungen der armenischen Diaspora in Griechenland, aber auch durchaus innerhalb der Daschnak-Paroikia. Sie waren mit ihren expressiven ritualisierten Handlungen und kondensierten inhaltlichen Botschaften die dramatischen Höhepunkte in der Abfolge der Rituale, die zum Gedenken an den Genozid aufgeführt werden. Ich beginne nun meine Analyse mit dem ersten Teil des rituellen Komplexes, der politischen Zentralveranstaltung und der sich daran anschließenden Prozession zum Grabmal des unbekannten Soldaten. Da der zeremonielle Ablauf der Zentralveranstaltungen in Thessaloniki und Athen nahezu identisch war, konzentriere ich mich in erster Linie auf die ethnographische Beschreibung der Athener Veranstaltung. Diese kontrastiere ich dann mit performativen Handlungen der Ramgavar und der Migranten aus Armenien.

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ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

5.2

Die Politische Zentralveranstaltung: Performanzen armenischer Identität im griechischen Nationalstaat

Der zeremonielle Ablauf des 82. Jahrestag des Genozids begann am Sonntag, dem 20. April 1997, mit der zentralen politischen Veranstaltung in einem repräsentativen Theater in der Innenstadt Athens. Organisator der Veranstaltung war das politische Aktionskomitee (Armeniki Ethniki Epitropi) der Daschnaktsutiun. Am Eingang hatten die armenischen Pfadfinder Aufstellung genommen und begrüßten die Teilnehmenden mit einem militärischen Gruß. Das armenische Publikum bestand aus ca. 500 Personen: den führenden Aktivisten der Daschnak und ihrer Organisationen, aktiven Mitgliedern der Paroikia sowie wenigen Armeniern, die nur bei außergewöhnlichen Veranstaltungen in Erscheinung treten. Migranten aus der Republik Armenien nahmen bis auf wenige Ausnahmen nicht teil. Auch die Würdenträger der armenischorthodoxen Daschnak-Gemeinden sowie der armenisch-katholischen und armenisch-evangelischen Kirche waren anwesend. Der Botschafter Armeniens hatte lediglich seinen Stellvertreter geschickt, da er zu dieser Zeit zu einem offiziellen Besuch nach Zypern gefahren war. Seine Abwesenheit wurde allerdings von den Teilnehmenden im Kontext der damals herrschenden Spannungen zwischen der Daschnaktsutiun und der Regierungspartei Armeniens als ein offener Affront interpretiert. Später kursierte das Gerücht, der Botschafter habe angedroht erst dann wieder an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen, wenn sie von Daschnak und Ramgavar gemeinsam organisiert würden. Im Gegensatz zu Veranstaltungen, die in der Gemeinde stattfinden, war auch eine kleine Anzahl Griechen anwesend: Geladene Gäste, die entweder Vertreter der Parteien, des Militärs, Parlamentarier oder Akademiker waren. Sie saßen zusammen mit den Würdenträgern der armenischen Kirchen und den offiziellen Vertretern der Daschnak-Organisationen in der ersten Reihe, bis auf wenige Ausnahmen waren es Männer. Die armenischen Parteivertreter und die griechischen Ehrengäste bildeten den Kreis der aktiven rituellen Akteure dieser Veranstaltung. Zu Beginn der Veranstaltung wurde, wie jedes Jahr, erst die griechische und dann die armenische Nationalhymne gesungen. Diese Verknüpfung Griechenland und Armenien setzte sich auch im einzigen Saalschmuck fort und zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Veranstaltung: Das Rednerpult war von der griechischen und armenischen Fahne flankiert. Abwechselnd ergriffen Vertreter der Daschnak und ihrer Jugendorganisation sowie die griechischen Gäste das Wort. Die armenischen Redner und Rednerin sind jedes Jahr andere. Sie sehen ihre Aufgabe als Pflichterfüllung an, die sie als aktive Mitglieder der Partei von Zeit zu Zeit übernehmen müssen. Die Hauptrede dagegen wird grundsätzlich von einer in der griechischen Öffentlichkeit bekannten und einflussreichen Persönlichkeit (Akademiker, Politiker) gehalten, die vom Armenischen Nationalkomitee eingeladen wird. Der Inhalt der Rede ist dabei weniger von Bedeutung, als die Demonstration von Solidarität und Un135

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terstützung, die mit dem öffentlichen Auftritt verbunden ist und nach Meinung der Organisatoren eine größere Wirkung auf die griechische Öffentlichkeit hat, als die Auftritte armenischer Aktivisten. Dass dieses Mal der griechische Erziehungsminister Arsenis als Hauptredner verpflichtet werden konnte, wurde daher vom Aktionskomitee als großer politischer Erfolg gewertet. Dass dieser kurzfristig verhindert war und seinen Stellvertreter mit einer Grußbotschaft entsandt hatte, schmälerte diesen Erfolg keineswegs. Der Zweck seiner – nicht stattgefundenen – Rede, die öffentliche Demonstration seiner Unterstützung der armenischen Frage, wurde dennoch erfüllt. Neben Arsenis‘ Grußbotschaft wurden auch Solidaritätsbekundungen verschiedener Parlamentarier und Parteien verlesen. Inhaltlich unterschieden sich die Ansprachen der armenischen und griechischen Redner nicht voneinander. Sie drehten sich, wie auch die Ansprachen bei den politischen Zentralveranstaltungen in Thessaloniki 1996 und 1997, immer um die gleichen Themen: die Beweisführung der Existenz eines Genozids, die Anerkennung des Genozids durch die Türkei und andere Staaten und die Rückgabe der armenischen Gebiete in der heutigen Türkei. Durch die Reden wurde eine armenisch-griechische Schicksalsgemeinschaft konstruiert und immer wieder beschworen. Hauptsächlich indem eine historische Kontinuität hergestellt wurde, die verschiedene Ereignisse wie „1915 Genozid 1,5 Mio. Armeniern, 1916-1923 Genozid an 350.000 Pontiern, 1922 Entwurzelung des Griechentums aus Kleinasien, 1955 Vertreibung der Griechen aus Konstantinopel, 1974 Invasion auf Zypern, Heute ein neuer Genozid in Karabach“ (Flugblatt der Armenischen Jugend Griechenlands) zu einer logischen und zeitlichen Abfolge verband. Ein weiterer Bestandteil der Reden war die formale Gleichsetzung zwischen Holocaust und Genozid im Hinblick auf die Forderung nach Anerkennung der Massaker als Genozid durch die Türkei und andere Staaten. Das Verhältnis Bundesrepublik und Israel wurde als Idealtyp für eine zwischenstaatliche rechtliche und moralische Auseinandersetzung mit einem Völkermord dargestellt. Daran wurde das Verhältnis Armenien/Griechenland und Türkei gemessen. In die Konstruktion der armenisch-griechischen Schicksalsgemeinschaft wurden jedoch weder die Opfer der Shoah noch die anderer aktueller Genozide einbezogen. Obwohl die zentrale politische Veranstaltung in Thessaloniki meistens zum gleichen Zeitpunkt wie die Gedenkfeier der jüdischen Gemeinde Thessalonikis für die Opfer des Holocaust stattfindet, wurde – außer von den griechischen Medien, die über beide Ereignisse berichteten – während der Veranstaltungen keine Verbindung gezogen. Lediglich der Bürgermeister von Thessaloniki Kosmopoulos, der 1997 Hauptredner der politischen Zentralveranstaltung war, zog eine Verbindung zum lokalen Kontext Thessalonikis. Er betonte einerseits die multikulturelle Geschichte der Stadt und andererseits Thessalonikis Tradition als Zuflucht für Flüchtlinge. Seine Rede muss vor dem Hintergrund der Popularität von Multikulturalität für Thessalonikis Präsentation als Kulturhauptstadt Europas gesehen werden. Er beendete seine Rede verhältnismäßig schnell mit der Entschuldigung, auch die 136

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jüdische Holocaustgedenkfeier besuchen zu wollen. Dies interpretierten Mitglieder der Armenischen Jugend später erbittert als eine absichtsvolle und unlautere Konkurrenz der jüdischen Gemeinde um öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie unterstellten der jüdischen Gemeinde, dass diese ihren lokalen Gedenktag absichtsvoll parallel zur zentralen politischen Veranstaltung der armenischen Gemeinde gelegt habe. Diese Konkurrenz um Anerkennung und Öffentlichkeit – die in der offiziellen Gedenkfeier verschwiegen wurde – wurde in Gesprächen immer wieder thematisiert. Aus armenischer Perspektive ist die Frage nach Anerkennung für den „vergessenen Genozid“ auch deswegen so wenig erfolgreich, weil jüdische Organisationen und Lobbyisten mit ihrer Erinnerungsarbeit weltweit die öffentliche Wahrnehmung dominieren. Das entscheidende Kriterium für die Konstruktion einer armenischgriechischen Schicksalsgemeinschaft waren nicht strukturelle Ähnlichkeiten der Ereignisse an sich, sondern die erlittene Viktimisierung durch den gemeinsamen Feind Türkei.102 In der kollektiven Erinnerungsarbeit wurde niemals auf eine „human universelle“ Dimension des Genozids verwiesen (Zuckermann 1998: 21-23), also auf eine moralische Bedeutung, die über eine Viktimisierung durch die Türkei hinausging. Immer stand die „partikulare“ Forderung im Vordergrund, genozidale Praktiken der Türkei zu verhindern. Der gemeinsame Feind, die Türkei, wurde als panturkischer Aggressor und als primordiale Völkermörderin dargestellt. Zwar wurde in den Reden immer wieder hervorgehoben, dass nicht das türkische Volk an sich, sondern die damals wie heute politisch Mächtigen für die Durchführung und Verdrängung des Genozids verantwortlich zu machen sind. Rhetorisch wurde diese Differenzierung jedoch nicht aufgegriffen. Dies illustriert die folgende Tierfabel, die eine Vertreterin der Armenischen Jugend 1996 in Thessaloniki als rhetorische Figur ihrer Rede verwendete: „Eine Schildkröte und ein Skorpion wollen einen Fluss überqueren. Der Skorpion fragt die Schildkröte, ob sie ihn auf ihren Rücken nimmt, was diese bereitwillig tut. Sie haben das Ufer noch nicht erreicht, als der Skorpion die Schildkröte sticht und beide ertrinken. Im Totenreich fragt die Schildkröte den Skorpion, warum er das getan habe, da er sich doch damit selber geschadet hätte. Der Skorpion antwortet, er könne nichts dafür, das Stechen läge eben in seiner Natur.“ (Beobachtungsprotokoll Nr. 43, 04.05.1997)

102 Die Herstellung einer Verknüpfung des armenischen Genozids mit den Massakern an der griechischen Bevölkerung des osmanischen Reiches ist offenbar nicht auf Griechenland beschränkt, sondern findet sich z.B. auch auf der Webseite der Hellenic Electronic Organisation in den USA (siehe www.greece.org/ genocide/quotes). Dort wird nicht zwischen dem armenischen Genozid und der „kleinasiatischen Katastrophe“ differenziert, sondern beide Ereignisse als Genozid an der christlichen Bevölkerung bezeichnet. Neben historischen Dokumenten zeigt die Website historisches Bildmaterial, das auch in den Athener und Thessalonikier Veranstaltungen verwendet und bezeichnet dieses sehr allgemein als Abbildungen christlicher Opfer.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

In dieser Fabel werden die Griechen und Armenier durch die gutmütige, hilfsbereite Schildkröte und die Türken durch den hinterhältigen, bösartigen Skorpion verkörpert. Dieser ist für seine Taten nicht im Sinne eines selbst bestimmt handelnden Wesens verantwortlich zu machen, da er von Natur aus böse ist. Mit dieser primordialen Festschreibung auf die instinkthafte Bösartigkeit werden die Türken keineswegs aus ihrer Schuld den Griechen und Armeniern gegenüber entlassen. Vielmehr demonstriert sie, dass die Opfer auch über ihre physische Vernichtung hinaus – wie die Schildkröte – den Tätern moralisch überlegen sind und bleiben. Ein weiterer zentraler inhaltlicher Aspekt der Reden waren ständige Appelle, die Erinnerung an und den Kampf um Anerkennung nicht aufzugeben. Als adäquate Erinnerungsarbeit wurde nicht das passive Trauern um die Opfer, sondern der aktive Kampf propagiert. Während der Ansprachen wurden Dias an die Wand geworfen, die diese inhaltlichen Pole der Ansprachen Opfer/Leiden und Widerstand/Kampf illustrierten und eine visuelle Verbindung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart sowie eine territoriale Kontinuität zwischen den Herkunftsgebieten in der heutigen Türkei, der Diaspora und dem Heimatland Armenien herstellten. Historische Aufnahmen von den Deportationszügen, aufgeknüpften armenischen Würdenträgern, bis auf das Skelett abgemagerten Frauen und Kindern, Todesopfern der Massaker und Deportationsmärsche103 wechselten sich ab mit aktuellen Dias von den Demonstrationen in Athen (demonstrierende Kinder und Jugendliche, die Verbrennung der türkischen Fahne), den armenischen Kampf-Einheiten in Nagorno-Karabach, Abbildungen der Hauptstadt Armeniens mit dem Berg Ararat im Hintergrund, dem Genoziddenkmal in Jerewan, der Schlacht bei Sadarapat 1918104 sowie Karten, die das historische Westarmenien in der heutigen Türkei zeigten und Aufschluss über Orte, Routen und Zahlen der Massaker von 1915 gaben. Im Gegensatz zu Veranstaltungen und Aktivitäten in der armenischen Gemeinde, bei denen der Gebrauch der armenischen Sprache erwartet und auch eingefordert wird („du sprichst Armenisch, wir sprechen Armenisch, lasst uns Armenisch sprechen“ war z.B. auf Hinweisschildern im Club von Nemos Kosmos zu sehen), sprach man hier nur Griechisch. Das armenische Publikum war in den ritualisierten Ablauf der politischen Zentralveranstaltung nicht aktiv eingebunden. Ihre Rolle war die einer rezipierenden Zuhörerschaft, für ein Ereignis, das von Seiten der Organisatoren in erster Linie zur Aufklärung der griechischen Öffentlichkeit gedacht ist. Denn diese nehmen zwar nicht teil, werden aber indirekt über die Berichterstattung

103 Bei diesen Aufnahmen handelt es sich um das begrenzte historische Bildmaterial, das in unterschiedlichen Kontexten (politische Gedenkveranstaltungen, politische Broschüren, Websites armenischer Organisationen, Presseberichte akademische Bücher über den Genozid) transnational verwendet wird (vgl. Pattie 1997: 20). 104 In dieser Schlacht gegen die Türkei erkämpften Armenier die erste Unabhängigkeit Armeniens 1918-1921.

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in den griechischen Medien informiert. Für die armenischen Teilnehmenden bieten die politischen Zentralveranstaltungen dagegen inhaltlich wenig Neues. Die Prozession zum Denkmal des unbekannten Soldaten Nach Abschluss der politischen Zentralveranstaltung formierten sich die Anwesenden zu einer Prozession zum Denkmal des unbekannten Soldaten. Die zentralen Themen der Ansprachen waren nun als griffige Parolen auf den mitgeführten Plakaten zu lesen: „Wir werden nicht vergessen, nichts ist vergessen“, „Verurteilung der Türkei für den Völkermord an den Armeniern“, „Freiheit für das türkischbesetzte Armenien“, „Nieder mit dem Panturkismus“, „Gerechtigkeit für Karabach“. Sie wurden auf diese Weise auf die Straße und in die Öffentlichkeit getragen. Parolen wurden im Gegensatz zu der Protestkundgebung am 24. April nicht gerufen, denn in erster Linie wird diese Prozession als Ritual der Totenehrung und nicht als Ausdruck des politischen Protestes verstanden. Schweigend begab man sich zum Denkmal des unbekannten Soldaten an der Plateia Syntagmatos, dem zentralen Platz vor dem Regierungsgebäude in der Athener Innenstadt. Während die Pfadfinder sich zu einer Ehrenwache für die Toten formierten, wurde von einem älteren Gemeindemitglied ein Kranz niedergelegt. Wann und warum die rituellen Akteure, in diesem Falle die Athener Führungsspitze, sich entschlossen hatten, die als nationaler griechischer Ort definierte Plateia Syntagma in ihre Inszenierung einzubeziehen, konnte ich nicht eindeutig rekonstruieren. Einige meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner vertraten die Ansicht, dass der unbekannte Soldat schließlich keine Ethnizität habe. Andere hoben hervor, dass es bis 1982, als das armenische Genoziddenkmal in Nea Smyrni eingeweiht wurde, keinen anderen Ort gegeben habe, an dem eine angemessene Totenehrung hätte stattfinden können und es schließlich bei dieser Tradition geblieben sei. Möglicherweise blieb es aber bei diesem Ort, da dort die Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit zur griechischen Nation, ethnischer Eigenständigkeit und armenischer Identität besonders wirkungsvoll in Szene gesetzt werden konnte. Mit der symbolischen Handlung der Kranzniederlegung wird die OpferWiderstand-Verknüpfung, die bereits während der Zentralveranstaltung rhetorisch und visuell aufgebaut wurde, handelnd umgesetzt. Das Denkmal des unbekannten Soldaten ist ein Denkmaltypus, der nationalistische und militaristische Diskurse repräsentiert, in denen der gewaltsame Verlust des Lebens als ein sinnvolles und ehrenhaftes Opfer für das Wohl der Nation umgedeutet wird.105 Durch die Identifikation der Opfer mit dem unbekannten Soldaten 105 Dieser Denkmaltypus entwickelte sich in Europa während des 1. Weltkriegs. Durch die erstmalig verwendeten technischen Massenvernichtungsmittel stieg die Anzahl der verschwundenen, getöteten und nicht mehr identifizierbaren Soldaten sprunghaft an. Massengräber und symbolische Gräber wie das Grabmal des unbekannten Soldaten wurden zu einem neuen Denkmaltypus. Darüber hinaus bot dieser Denkmaltypus die Möglichkeit, das Trauma des

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

wird suggeriert, dass diese erstens im Kampf und zweitens für die armenische Nation im Sinne eines unabhängigen, wehrhaften Nationalstaates starben, den es weder zum Zeitpunkt des Genozids noch bei der Einführung dieser Gedächtnispraxis gab. Diese Totenehrung der Paroikia am Grabmal des unbekannten Soldaten ist eine transformatorische kollektiv ausgeführte Handlung, in der die wehrlosen Opfer (Frauen, Männer, alte Menschen, Kinder) des Genozids zu Märtyrern und Helden werden, denen als „männlich“ definierte Eigenschaften wie Wehrhaftigkeit und Kampfgeist zugeordnet sind. Durch diese heroisierende Erinnerungsarbeit wird das Trauma des Genozid in eine positiv verpflichtende, normative Erinnerung verwandelt, die für die Konstruktion von kollektiver Identität und Gemeinschaft in der Gegenwart in Anspruch genommen werden kann. Das Gedenkritual kann also auch als eine kreative und therapeutische Strategie begriffen werden, mit der das kollektive Trauma nachträglich sinnstiftend gedeutet und in eine kollektive Identität integriert wird. Auch die amerikanische Ethnologin Susan Pattie betont bei ihrer Analyse armenischer Genozidgedenkfeiern in London, dass armenische säkularisierte Nationalisten wie die Daschnak bei den von ihnen ausgerichteten Gedenkfeiern zentrale Symbole der christlichen Kirche nutzen. Die Opfer des Genozids würden heute als Märtyrer bezeichnet, allerdings nicht in einem christlichen, sondern in einem nationalistischen Sinne. Die Erlösung sei in diesem Kontext nicht durch die Aufopferung für Gott, sondern für die armenische Frage zu erreichen. Die Wiederherstellung der durch den Genozid zerstörten Würde könne durch die Aufopferung für die Aufgabe, die Diaspora oder das Heimatland wiederaufzubauen, geleistet werden (Pattie 1997: 230). Wie armenische Identität, die einerseits der normativen Erinnerung an den Genozid verpflichtet ist und andererseits der Ideologie der Daschnak entspricht, heute in der Diaspora in Griechenland von Männern und Frauen gelebt werden sollte, auch dies war Gegenstand der ritualisierten Handlungen, die am Grabmal des unbekannten Soldaten vollzogen wurden. Denn neben dem Gedenken und der Ehrung der Toten implizierten diese auch eine Ehrung der Lebenden und eine Handlungsanweisung für die Zukunft. Eine herausgehobene Rolle kommt den älteren Frauen und Männern zu, die den Kranz niederlegen. Im Gegensatz zu den armenischen Rednern bei der politischen Zentralveranstaltung, die aus Verpflichtung handeln, werden sie vom Armenischen Nationalkomitee aufgrund ihres Engagements für die Partei und/oder die Paroikia für diese ehrenvolle Aufgabe ausgewählt. Sie, die am Ende ihres Lebens stehen, werden ausgezeichnet und ihr Lebenswerk für „die armenische Sache“ damit indirekt zu einer exemplarischen Biographie gemacht, die jün-

soldatischen Massensterbens bildlich in ein heiliges Opfer für die Nation zu transformieren. Er hob die Leiden und Opfer des Individuums für die Nation hervor und ermöglichte durch die Abstraktion eine emotionale Distanzierung von dem Verlust geliebter Familienangehöriger (Kosseleck 1994: 15; Bartov 2000: 14-18).

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geren Mitgliedern der Paroikia als Beispiel für ihr gegenwärtiges und zukünftiges Handeln dienen soll. Mit der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten vollziehen Armenier in Athen eine öffentliche Aufführung armenischer Identität, die weniger ethnisch als national definiert ist, indem sie sich paradoxerweise einen öffentlichen Ort aneignen, der für den griechischen Nationalstaat und die Stadt Athen von zentraler symbolischer Bedeutung ist. Nationalstaatliche Ideologien, wie sie auch von griechischen Politikern und der Daschnaktsutiun vertreten werden, basieren auf der exklusiven Identifikation und Loyalität ihrer Mitglieder. Diasporen dagegen werden als soziale Formationen mit dualen nationalen Loyalitäten charakterisiert, die von nationalstaatlichen Regierungen häufig argwöhnisch als „5. Kolonie“ mit zweifelhafter Identifikation betrachtet werden. Die Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft angesichts des gemeinsamen Feindes Türkei wird mit der Kranzniederlegung fortgeführt. Denn die performative Handlung an diesem Ort impliziert eine Gleichsetzung armenischer Helden und Märtyrer mit griechischen Soldaten. Gleichzeitig wird mit dem Bezug zum Genozid, der wie die Kleinasiatische Katastrophe ist, auch eine Differenz zu den Griechen aufgebaut. Die Botschaft, die sich griechische und armenische Politiker im Rahmen der institutionalisierten Erinnerungsarbeit wechselseitig bestätigen, lautet „Ihr seid wie wir, wir sind wie ihr“. Das wie ist die Differenz des Genozids, die der Gemeinsamkeit „Opfer der Türken“ zu sein, innewohnt und gleichzeitig die Abgrenzung als „nationale Minderheit“ im griechischen Nationalstaat möglich macht, ohne von der Mehrheitsgesellschaft als Bedrohung aufgefasst zu werden. Darüber hinaus ermöglicht es eine Identifikation mit der Erinnerungsarbeit der Daschnaktsutiun für diejenigen Mitglieder der Paroikia, die sich gleichermaßen mit Griechisch- und Armenischsein identifizieren. Diese Interpretation erhärtet sich noch, werfen wir einen Blick auf die Gedenkrituale der jüdischen Gemeinde Thessalonikis für die Opfer des Holocaust. Erst 1997 wurde ein Denkmal für die Opfer des Holocaust in der Nähe des Hauptbahnhofs eingeweiht, bis dahin fand die Gedenkfeier ausschließlich in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde statt. Zwar nehmen an dieser Feier auch griechische Repräsentanten teil und auch dort dominieren die griechische und israelische Fahne den Saalschmuck, eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den Opfern des Holocaust und den griechischen Opfern der Deutschen Besatzungsmacht wird jedoch nicht hergestellt. Obwohl die jüdischen Gemeinden im Gegensatz zu den armenischen Paroikies in Griechenland den offiziellen Status einer religiösen Minderheit genießen, vermeidet die jüdische Gemeinde Thessalonikis jede öffentliche Zuschaustellung jüdischer Identität, die von Seiten der griechischen Öffentlichkeit als Widerspruch oder Einschränkung ihrer Identifikation als griechische Staatsbürger interpretiert werden könnte. Im Gegensatz dazu können sich Armenier aufgrund ihrer Viktimisierung als Armenier und Griechen in der Öffentlichkeit präsentieren.

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Im folgenden Abschnitt lenke ich meinen Blick nun auf die Frage, wie Beziehungen, individuelle Positionierungen innerhalb der armenischen Diaspora Griechenlands durch die ritualisierten Handlungen strukturiert werden. Ein Vergleich zwischen Daschnak und Ramgavar Unsichtbar für die griechische Öffentlichkeit, die laut Daschnak-Führung die zentrale Zielgruppe der politischen Gedenkveranstaltung ist, hatte das Ritual noch einen weiteren Adressaten: Die konkurrierende Partei der Ramgavar. Diese organisierte wie jedes Jahr bis 1998 am gleichen Tag und zur gleichen Stunde ebenfalls eine politische Veranstaltung, die allerdings einige Kilometer entfernt im Athener Stadtteil Nea Smyrni in der Nähe des Genozidsdenkmals stattfand. Im Gegensatz zu den ideologischen Differenzen zwischen den beiden Parteien, die sowohl von offiziellen Parteivertretern als auch von Anhängern der beiden Lager in Gesprächen immer wieder hervorgehoben und kommentiert wurden, wiesen die ritualisierten Inszenierungen überraschenderweise keine Unterschiede auf: Auch die Veranstaltung der Ramgavar wurde von einem Aktionskomitee (Komitee der Gerechtigkeit für die armenische Frage) ausgerichtet. Die Bezeichnung des Ramgavar-Aktionskomitees verwies ebenso wenig wie die des Daschnak-Komitees (Armenisches Nationalkomitee) auf die Nähe zu einer Partei und demonstrierte damit den Anspruch auf die Vertretung universeller und homogener armenischer Interessen. Wie bei der Veranstaltung der Daschnak gehörten griechische Repräsentanten zu den Ehrengästen und auch hier wurde die Hauptrede von einem griechischen Akademiker, einem Turkologen, gehalten. Der Inhalt und die Rhetorik der Reden war mit denen der Daschnak identisch. Es dominierten Topoi wie die Frage der Anerkennung des Genozids und Rückgabe der Gebiete, der gemeinsame Kampf der Griechen und Armenier gegen die Türkei und die Kontinuität einer genozidalen Praxis in der Türkei. Zur Visualisierung dieser Aussagen wurde zwar keine Diaschau gezeigt, dafür wurden die Besucher im Foyer vor dem Veranstaltungssaal von einer Photoausstellung empfangen, die aus den gleichen historischen Aufnahmen von Achim von Werthmüller bestand, die auch die Daschnak-Organisatoren verwendet hatten. Und auch diese Veranstaltung endete mit einer Prozession und Kranzniederlegung auf dem Platz vor dem Gebäude, an dem sich das Denkmal der armenischen Paroikia für die Opfer des Genozids befindet. Im Gegensatz zur Veranstaltung der Daschnak hatte die der Ramgavar jedoch deutlich weniger Publikum. Trotz der zeremoniellen und inhaltlichen Übereinstimmungen der Veranstaltungen beider Parteien, bei denen die Gemeindespaltung und Konkurrenz niemals Gegenstand öffentlicher Äußerungen waren, machte es für Armenier in Athen einen großen Unterschied an welcher Veranstaltung sie teilnahmen. Denn durch die Teilnahme an einer der Genozidveranstaltungen identifizierte sich eine Person oder Familie, zumindest öffentlich, mit einem der beiden politischen Lager.

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Dass öffentliche und persönliche Identifikation nicht unbedingt deckungsgleich sind, zeigt das Beispiel von Sosi: Sosi war 1997 Ende 20 und mit Sahakos verlobt. Während Sosi aus einer Ramgavar-Familie stammte, war Sahakos ein aktives Parteimitglieder der Daschnak und in seinen politischen Ansichten, nach Meinung seiner Verlobten, „fanatisch“.106 Sie selber sei von ihren Eltern nur zu einem Minimum an Identifikation mit armenischer Identität angehalten worden, dazu gehörte u. a. Armenisch zu lernen, eine armenische Schule zu besuchen und an den Feierlichkeiten zum Genozidgedenktag teilzunehmen. Mir gegenüber wurde die Beziehung der beiden von anderen Mitgliedern der Daschnak-Paroikia als positives (aber auch singuläres) Beispiel dafür dargestellt, dass die politische Spaltung für die heutige Jugend belanglos sei. Für Sosi führten die politischen Differenzen und Zuordnungen jedoch zu einem Konflikt. Die Daschnak-Freunde ihres Mannes hätten sich hier gegenüber eher abwartend verhalten und sie mit Witzeleien, wie „hier kommt die Feindin“, ausgeschlossen. Auch mit Sahakos habe sie zu Beginn heftige Auseinandersetzungen gehabt und um die richtige Version armenischer Geschichte gestritten. Seine Sichtweisen hätten ihr bisheriges Bild völlig durcheinander gebracht und auch ihre Eltern seien ihr keine Hilfe gewesen, da diese konträre Einstellungen vertreten hätten. Sosi löste diesen Konflikt ideologischer Positionen, indem sie sich dazu entschied Chezok (politisch neutral) zu werden. Zu April Santschorz wird in Athen jedoch eine öffentliche Identifikation gefordert, die keine Möglichkeit eines Rückzugs auf Neutralität offen lässt. Daher empfand Sosi es als sehr unangenehm, als sich an einem April Santschorz die Daschnak- und Ramgavar-Prozessionen in der Innenstadt Athens kreuzten. Die Daschnak seien auf dem Weg zu ihrer Demonstration vor der türkischen Botschaft gewesen, die Ramgavar wollten zum Grabmal des unbekannten Soldaten. Sosi hatte sich – den gesellschaftlichen Erwartungen an eine künftige Ehefrau entsprechend – dazu entschieden, zusammen mit Sahakos an der Daschnak-Demonstration teilzunehmen. In dieser Entscheidung war sie von ihrer Mutter bestärkt worden, die meinte, die Anderen würden ohnehin erwarten, dass sie der politischen Einstellung ihres Mannes folge. Als Sosi ihre Eltern mit den Anderen vorbeiziehen sah, wechselte sie kurz die „Fronten“ um diese zu begrüßen. Ihr Bemühen, sich sowohl als loyale Ehefrau als auch als loyale Tochter zu verhalten, wurde jedoch nicht wahrgenommen, sondern Angehörige beider Gruppen witzelten: „Du nimmst wohl überall teil“. Die Parteien Ramgavar und Daschnak machen sich mit ihrer jeweiligen Inszenierung des Genozidgedenkens öffentlichen Raum zu Nutze, um ihren Anspruch auf Autorität zu proklamieren und zu bestätigen. Der interne Konflikt um Einflussnahme wird öffentlich ausgetragen. Die „Gewinnerin“ ist die ohnehin dominante Daschnak, da sie sich u. a. mit den Demonstrationen me106 Die Charakterisierung einer Person als fanatisch hat im politischen Kontext nicht unbedingt eine negative Konnotation, z.B. bezeichnen sich überzeugte Daschnakzagan selber auch als Fanatiker.

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dienwirksam in Szene setzte. Im Kontext der armenischen Gemeinde dient die Ritualisierung des Genozidgedenkens also auch der Fortschreibung der bestehenden Machtverhältnisse. Dennoch, so zeigt das Beispiel Sosis, sagt die öffentliche Identifikation einer Person nicht unbedingt etwas darüber aus, welche Identifikationsebene für diese Entscheidung maßgeblich war. Bei Sosis Entscheidung, sich der Daschnak-Seite anzuschließen, spielten multiple, sich überkreuzende Identifikationen als Tochter, als zukünftige Ehefrau, als Armenierin und Griechin, als ehemalige Ramgavar und heutige Chezok eine Rolle. Die waren zudem geschlechtsspezifisch, denn von einem Mann wäre eine Identifikation mit der politischen Ideologie seiner Frau niemals erwartet worden. Die hier analysierte Situation zeigt also, dass die Konstruktion von Identitäten abhängig von Kontexten und Situationen ist und sich gleichzeitig auf ethnische, politische, soziale und geschlechtsspezifische Dimensionen von Identität bezieht. In Thessaloniki dominiert die Daschnak die öffentliche Erinnerungsarbeit konkurrenzlos, da die Ramgavar dort institutionell nicht vertreten ist. Auch Anti-Daschnaks und Chezoks nehmen dort an den Daschnak-Veranstaltungen teil. Die ideologische Differenzlinie innerhalb der Paroikia wird damit nicht aufgehoben, sondern Anti-Daschnaks artikulieren ihren Protest, indem sie die Demonstration, die aus Perspektive der Daschnak die wichtigste Veranstaltung des rituellen Komplexes zum Genozidgedenken ist, boykottieren. Alternative Ritualisierungen haben weder die Ramgavar noch die Chezok entwickelt, sondern nur die Migranten aus Armenien. Alternative Ritualisierungen der Migrantinnen 1997 organisierten die „Zaungäste“ der Paroikia, Armenierinnen aus der Republik, die bislang zwar Adressatinnen aber kaum jemals Initiatorinnen von Veranstaltungen in der Paroikia waren, erstmals eine Genozidgedenkfeier, die sich deutlich von den Daschnak-Ritualen unterschied. Der Ort der Veranstaltung war der Parekordzagan, der schon seit einiger Zeit damit begonnen hatte, seine Räumlichkeiten jeden Sonntagnachmittag als Treffpunkt für armenische Migranten zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zu den DaschnakVeranstaltungen war diese Feierstunde auf ein armenisches Publikum ausgerichtet; es wurde ausschließlich Armenisch gesprochen. Zwar gab es auch hier Ansprachen der Ehrengäste – des armenischen Botschafters und des Priesters, die ebenfalls auf den normativen Charakter des Genozids für armenische Identität heute eingingen: So bezeichnete der Priester den Genozidgedenktag nicht nur als einen Tag der Trauer, sondern auch als einen Tag der Freude, da die Armenier immer noch nicht ausgestorben seien, sondern sich nach wie vor bemühten, ihre Identität zu bewahren. Daher sei der Genozidgedenktag auch ein Tag des Ansporns, diese Identität in der Zukunft auf die nachfolgenden Generationen zu übertragen. Im Gegensatz zu den Daschnak-Veranstaltungen, die den männlich definierten heldenhaften Kampf als normatives Identitätsmodell propagierten, wurde hier ein anderes Konzept von Identität aufgeführt: 144

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Die weiteren Programmpunkte wurden ausschließlich von Frauen und Mädchen bestritten, die Lieder vortrugen und Gedichte deklamierten. Alle Akteurinnen hatten in Armenien eine künstlerische Ausbildung genossen, daher wirkten ihre Darbietungen, obwohl das Programm spontan entstanden war, sehr professionell. Das Publikum bestand zum Großteil aus armenischen Migranten, allerdings waren auch einige Daschnak-Aktivisten gekommen und äußerten sich beeindruckt über die künstlerische Qualität der Veranstaltung. Diese spontane Genozidgedenkfeier wurde zwar im Vergleich zu den Veranstaltungen der Daschnak nicht als Ritual wahrgenommen, bestand aber aus einer Abfolge von ritualisierten Handlungen – wie z.B. das dramatische Deklamieren eines Gedichtes. Im Unterschied zu den Ritualisierungen der Diasporaarmenier, die auf nationale und militärische Strategien der Ritualisierung zurückgreifen, orientierten sich ihre Ritualisierungen an Performanzen von Hochkultur. Auch hier war die Aufführung armenischer Identität geschlechtsspezifisch definiert: Frauen traten als Hüterin und Übertragende von Kultur auf und erfüllten damit die ihnen von nationalstaatlichen Ideologien zugewiesene Aufgabe der kulturellen Reproduktion der Nation. Damit wurde eine Vorstellung von Identität in Szene gesetzt, die sich vom Konzept armenischer Identität in der Diaspora unterschied: Im Gegensatz zu den politisierten Gedenkveranstaltungen der Daschnak wurde „armenische Hochkultur“ zur Aufführung gebracht. Diese armenische Hochkultur war für Armenier aus der Diaspora und aus der Republik in Armenien lokalisiert. Indem Migrantinnen eine hochkulturelle Vorstellung „reiner“ armenischer Identität in Szene setzten, konnten sie ihre untergeordnete Position in der Paroikia für einen kurzen Moment in Überlegenheit verwandeln. Im folgenden Abschnitt wende ich mich dem zweiten Element des rituellen Komplexes zu, den Gedenkgottesdiensten am 24. April. Dabei konzentriere ich mich auf einen Aspekt der Rituale, der bislang noch nicht thematisiert wurde: Die Emotionalisierung durch ritualisierte Handlungen als eine Strategie, das Dilemma von Erinnerung und Vergessen zu lösen.

5.3

Das Dilemma von Erinnerung und Vergessen

Totengedenken in Thessaloniki: Die Verehrung der Knochenreliquie Die Veranstaltungen zum 24. April 1996 in Thessaloniki begannen mit einem Gedenkgottesdienst in der Armenischen Kirche. Schon Tage vorher waren die Mauern, die den Kirchhof von der Straße abtrennten sowie die Außenmauer der Kirche selber mit Plakaten geschmückt worden. Diese Forderungen, die denen in Athen entsprachen, waren auch auf den Bannern zu lesen, die später bei der Demonstration eingesetzt wurden. Damit wurde die Kirche, deren Vertreter sich selber als politisch neutral definieren, in die Inszenierung der Daschnak einbezogen und das Gebäude zu einer Fläche für deren politische

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Forderungen. An der nachfolgenden Demonstration nahm der Priester jedoch nicht teil. Als ich die Kirche betrat, wurde der Bezug zum Genozidgedenktag auf den ersten Blick offensichtlich: Im Mittelgang der Kirche, wo zu Ostern der Epitaph107 steht, war ein Gedenkschrein aufgestellt worden, der sofort den Blick der Betretenden einfing. Auf einem mit schwarzem Stoff umhüllten Tisch stand ein mit roten und weißen Nelken geschmücktes Marmorpodest, das von einem Miniaturobelisken aus schwarzem Marmor mit der Inschrift 24. April gekrönt war. Alle Personen, die vor mir die Kirche betreten hatten, steuerten dieses „Mikrodenkmal“ an, hielten davor inne, bekreuzigten sich und beugten sich dann hinunter, um einen Gegenstand zu küssen, den ich aus meiner Position an der Eingangstür zwar nicht erkennen konnte, aber für eine Ikone gehalten hatte. Beim Nähertreten schreckte ich zurück, denn mein Blick fiel nicht, wie ich erwartet hatte auf eine Ikone, sondern auf menschliche Knochen, die in einem gläsernen Schrein auf schwarzem Samt lagen. Bei den Knochen handelte es sich um die Gebeine von Opfern des Genozids, die von Mitgliedern der Paroikia anlässlich einer Reise nach Der-es-Zor im Jahr zuvor mitgebracht worden waren. Der Ort Der-es-Zor, einer der Endpunkte der Deportationen am Rand der syrischen Wüste, ist für Armenier ein ähnlich traumatischer Ort wie Auschwitz für die Opfer des Holocaust und ihre Nachfahren.108 Dort, so wurde mir von Teilnehmern der Reisegruppe berichtet, würde ein kurzes Scharren in der Erde genügen, um die Knochen der armenischen Opfer zu Tage zu fördern. Die Anordnung der Knochen erinnerte an die Zurschaustellung von Heiligenreliquien und unterstrich den Status der Genozidopfer als überirdische Helden und Märtyrer, die für eine heilige Sache, den Kampf um die Nation gestorben waren. Nachdem das Totengebet für die Opfer des Genozid begonnen hatte, hielten Mitglieder der armenischen Jugend eine Ehrenwache für die Toten. Dies war der emotional dichteste Moment der rituellen Inszenierung des Genozidgedenkens an diesem Morgen. Während die Atmosphäre bis zu diesem Moment von einer gewissen Unruhe geprägt war – leise Unterhaltungen wurden geführt, Neuankömmlinge betraten die Kirche, andere verließen ihre Plätze, herrschte plötzlich eine konzentrierte und bedeutungsvolle Stille, die nur von der dramatischen Stimme des Pfarrers durchschnitten wurde, der das Gebet für die Opfer des Genozids rezitierte.109 In einem regelmäßigen Rhythmus 107 Ein transportabler Altar, der das Grabmal Christi symbolisiert und zu Karfreitag in einer feierlichen Prozession um die Kirche getragen wird. 108 Im Gegensatz zu Ausschwitz war Der-es-Zor kein Konzentrationslager, das eine komplexe architektonische Struktur aufwies, sondern ein Sammelpunkt in der Wüste, an dem die Opfer der Deportationen ohne Unterkünfte dahin vegetierten. Heute steht dort eine Kirche, in der ebenfalls Gebeine der Opfer zur Schau gestellt sind. 109 Dieses Totengebet ist für die Opfer des Genozids geschrieben worden und wird in allen Kirchen der armenischen Diaspora am 24. April rezitiert.

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betraten jeweils zwei Paare – ein Mädchen und ein Junge – die Kirche und schritten in einem getragenen Tempo auf die Knochenreliquie zu. Dort angekommen verharrten sie das Denkmal flankierend in einer militärischen Haltung reglos. Der Eindruck einer militärischen Ehrenwachen wurde auch durch die Bekleidung der Jugendlichen verstärkt, alle trugen weiße Hemden bzw. Blusen, schwarze Hosen und einen schwarzen Trauerflor über dem Ärmel. Wie bereits bei der Kranzniederlegung für die Opfer am Grabmal des unbekannten Soldaten verweist die Ehrenwache für die Toten als Strategie der Ritualisierung auf den Kontext einer nationalen und religiösen Totenehrung. Ein Ritual nationaler Heldenverehrung wird an einen religiösen Ort – die Kirche, in einen religiösen Kontext – die heilige Liturgie – platziert und mit einer Praxis religiöser Heiligenverehrung – Reliquien – verbunden. Die wehrlosen Opfer des Genozids – materialisiert in den Knochen – werden auf diese Weise – wie bei der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten – zu Märtyrern gemacht, die im Dienst einer „höheren“ Sache, den Kampf für die Nation, gestorben sind.110 Damit ist auch die Totenehrung eine kollektiv ausgeführte Handlung der Transformation, mit der das Trauma des Genozids nachträglich sinnstiftend gedeutet und in eine kollektive, moralisch überlegene Identität integriert wird. Diese Umdeutung der Viktimisierung in eine positiv belegte Opferidentität wird nicht nur innerhalb der Paroikia inszeniert, sondern auch für die griechische Öffentlichkeit. Zwar gilt die Liturgie mit dem Totengedenken als der Teil des rituellen Komplexes, in dem explizit „nur für uns“ das Gedenken an den Genozid zelebriert werden soll, dennoch war die griechische Öffentlichkeit über die Medien auch an diesem Ritual beteiligt. Kamerateams lokaler und nationaler Fernsehsender filmten den Gedenkgottesdienst und vor allem die Knochenreliquie. Diese Sequenz wurde unter anderem in den Abendnachrichten eingeblendet, als über den Genozidgedenktag berichtet wurde. Die Reise nach Der-es-Zor, die Anfertigung der Knochenreliquie, ihre Einbindung in den rituellen Ablauf des Totengebetes und das Ritual der Ehrenwache sind Versuche, einen unmittelbaren Kontakt mit der Katastrophe von 1915 und ihren Opfern herzustellen. Denn mit dem Aussterben der Opfergeneration verblasst die Erinnerung an die Leiden der Genozidopfer und muss auf andere Art und Weise stabilisiert werden. Die Problematik des Vergessens war ein Thema, das meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen stark beschäftigte. Besonders offensichtlich wurde diese Angst vor dem Vergessen in Zusammenhang mit den Reflexionen über die intergenerationelle Übertragung der traumatischen Erinnerung. Häufig wurde darauf hingewiesen, dass mit dem Aussterben der Erlebnisgeneration die Erinnerung an den Genozid verblassen würde und wertvolles „Wissen“ verloren ginge. Takuhi Atamian, die als Kind immer wieder mit den traumatischen Erinnerungen ih110 Diese Verbindung militaristischer und christlicher Ritualisierungsstrategien ist nach Mosse (1990) auch ein typisches Merkmal des Kultes um die gefallenen Soldaten, der sich nach dem 1. Weltkrieg in vielen europäischen Ländern ausprägte.

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res Vaters und ihrer Großmutter konfrontiert wurde, was sie als sehr deprimierend empfand, sagte dazu: „Heute, wo ich älter bin und mehr über die Geschichte unseres Heimatlandes gelernt habe, sage ich: Ach wenn mein Vater noch leben würde, meine Großmutter und mir diese Geschichten erzählen würden und ich sie irgendwo aufschreiben könnte! Ich habe sie nicht aufgeschrieben. Und ich weiß das nur aus meinem kindlichen Gedächtnis, aus dem Gedächtnis. Ich meine, wenn sie jetzt noch leben würden, könnten sie uns viele Dinge erzählen. E, und wir sind die zweite Generation nach dem Massaker. (S. Sch: Ja, und es ist etwas verloren gegangen?) Ja auf jeden Fall. Denk mal, was wird mit der dritten, vierten Generation!? E, alle diese Erinnerungen beginnen zu verlöschen. Nicht vollständig, aber sie sind nicht mehr auf die gleiche Weise lebendig. Derjenige der sie gelebt hat, der ist nicht mehr, ich weiß das aus Erzählungen, von mir meine Kinder aus Erzählungen. Das ist nicht das gleiche.“ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 3)

Takuhi Atamian beklagt in dieser Interviewpassage nicht den Verlust des Wissens im Sinne historischer Kenntnisse. Wissen wird gleichgesetzt mit persönlichem Erleben und den damit verbundenen Emotionen und Affekten. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Forschungsgruppe an der Universität Hannover, die untersuchte, wie Erinnerungen an den Nationalsozialismus intergenerationell übertragen werden. Im Familiengespräch werde Geschichte zu den Themenkreisen Krieg, Gefangenschaft, Vertreibung nicht als „Wissen, sondern „als Gewissheit erzählt und angeeignet“ und damit emotional vermittelt. (Forschungsgruppe Tradierung von Geschichtsbewusstsein 2000: 5). Mit dem Tod der Überlebenden verblasst die emotionale Qualität des Ereignisse, die für eine Identifikation notwendig ist und muss durch Reisen an Gedächtnisorte wie Der-es-Zor und materialisierte Erinnerungsstücke wie die Knochen angeeignet und emotional aufgeladen werden. Der Transfer der Knochen ist aber auch eine kreative kommemorative Strategie, mit der die erinnerungsstabilisierende Funktion von Gedächtnisorten der Lebenssituation der räumlichen Zerstreuung entsprechend transloziert wird. Die Trauer um die Verstorbenen bekommt so eine portative Heimat. Die magische Bedeutung von Orten wie Der-es-Zor wird damit nicht aufgehoben, denn Der-es-Zor bleibt als Herkunftsort der Knochen bedeutsam. Gleichzeitig interpretiere ich diese Handlung auch als eine Strategie der Lokalisierung von Trauer. Denn den Knochen der Genozidopfer wird mit der Knochenreliquie und dem Obelisken – einem Symbol, das im christlichen Kontext für Grabstätten verwendet wird,111 in Thessaloniki ein symbolisches Grabmal geschaffen. Die ritualisierten Handlungen wie das Küssen der Knochenreliquie und die Ehrenwache sind der Diasporasituation angepasste Mnemotechnik, die das Dilemma von Erinnerung und Vergessen auflösen soll. Die Knochen von Genozidopfern sind ein expressives und dramatisches Erinnerungsmedium, mit 111 Der Obelisk war bereits in altägyptischen Trauerritualen ein zentrales Symbol. Aufgestellt neben den Pyramiden diente er außerdem als Sonnenuhr und symbolisierte damit, wie auch andere bekannte Trauersymbole wie z.B. der Immortellenkranz, gleichzeitig Tod und Wiedergeburt.

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dem einerseits (im Hinblick auf die griechische Öffentlichkeit) der Nachweis des Genozids geführt wird und das andererseits diejenigen, die noch nie in Der-es-Zor waren, emotionalisieren soll. Denn die viel diskutierte Gefahr des Vergessens bezieht sich nicht auf das Vergessen des Ereignisses an sich, sondern auf das Nachlassen der emotionalen Identifikation mit den Opfern. Diese Identifikation kommt in der körperlichen Handlung des Küssens, einem Gestus der Vereinigung zweier Körper, zum Ausdruck. Der Prozess der Dis-Identifikation wird, wie die vorherige Interviewpassage gezeigt hat, vor allem für die dritte und vierte Generation befürchtet. Daher wird die Ehrenwache als der aktivste und expressivste Bestandteil des „Knochen-Rituals“ von den Mitgliedern der Daschnak-Jugendorganisation durchgeführt. Sie, die von der Daschnak-Führung und anderen Mitgliedern der Paroikia als zukünftige Elite angesehen werden, erleben und verkörpern mit ihrer Handlung gleichzeitig die Identifikation und verehrende Verbindung der Jugend mit den Opfern des Genozids. Ähnlich wie bei der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten durch ausgewählte ältere Mitglieder der Paroikia stellen sie mit ihrer Handlung eine lebendige Verbindung zwischen einer normativen Vergangenheit und den moralischen Postulaten für die Zukunft her. Gleichzeitig hat die körperliche Praxis der militaristischen Ehrenwache eine disziplinierende Funktion für die Ausführenden und die Zuschauenden im Sinne der dominanten Daschnak-Ideologie. Der Daschnak-Jugend wird durch die körperliche Ausführung der Ehrenwache Disziplin, Loyalität zur Partei, Gruppenkonformativität und eine kämpferisch-soldatische Haltung körperlich eingeschrieben. Zugleich macht ihre körperliche Handlung diese Werte für alle am Ritual Beteiligten sichtbar. Während die Handlung des „Knochenküssens“ als verehrender, aber auch trauernder Gestus interpretiert werden kann, wird durch die Ehrenwache deutlich, dass Widerstand und Kampf die moralischen Paradigmata der Politik der Erinnerung sind. Wie bei der politischen Zentralveranstaltung und der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten wird auch hier der heroisierende Charakter der Gedächtnispraxis betont. Zugleich perpetuieren die ritualisierten Praktiken um die Knochenreliquie jedoch auch das unauflösbare Dilemma von Erinnerung und Vergessen. Zwar belegen die Knochen der Genozidopfer die Authentizität des Genozids und rufen Affekte und Emotionen hervor. Ihren appellierenden und erinnerungsstabilisierenden Charakter können sie aufgrund ihrer Materialität jedoch nur bedingt entfalten, denn die hervorgerufenen Emotionen und Affekte können den Kontakt zur traumatischen Erfahrung der Erlebnisgeneration nicht herstellen. Traumatische Erfahrungen sind durch Affekte/Emotionen geprägt, die so übermächtig in den Körper eingeschrieben sein können, dass sie sich einer sprachlichen und deutenden Bearbeitung entziehen. Während Erzählungen über traumatische Erfahrungen und die damit verbundenen sinnstiftenden Deutungen eine ermächtigende Wirkung haben können, entziehen sich Affek-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

te, die mit traumatischen Erinnerungen verbunden sind, der „Verfügungsgewalt des Einzelnen“ (Assmann 1999: 252). Traumatische Erinnerungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die damit verbundenen Affekte so übermächtig werden, dass sie eine Erinnerung zerschlagen und es zu einer Verdrängung des Erlebten kommt. Im Kontext des Freudschen Verständnisses ist Verdrängung nicht etwa mit Vergessen gleichzusetzen, sondern bezeichnet eine „besonders hartnäckige Form der Konservierung“ (Assmann 1999: 261). Dieses Verständnis von Verdrängung, so Aleida Assmann, habe der französische Philosoph Jean-François Lyotard zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Verbindung von Trauma und kollektiver Repräsentation gemacht. Während Freud den Zustand der Verdrängung als therapeutisch zu behandelnde Pathologisierung auffasste, stelle Lyotard die These auf, dass die Traumatisierung die einzig adäquate Form einer öffentlich-kollektiven Auseinandersetzung mit dem Holocaust sei.112 Architektonische und sprachliche Fixierungen seien Repräsentationen, die veränderbar, auslöschbar und damit eher Strategien des Vergessens seien. Die mit der Traumatisierung verbundenen Emotionen und Affekte, die nie zu einem „erinnerungsfähigen Symbol“ gemacht wurden, seien dagegen die „zuverlässigsten Stabilisatoren der Erinnerung“ (Assmann 1999: 261): „Durch eine Darstellung wird ein Inhalt in das Gedächtnis aufgenommen, und eine solche Einschreibung mag als guter Schutz gegen das Vergessen erscheinen. Ich glaube indes, dass eher das Gegenteil zutrifft. Nach gängiger Auffassung kann nur dasjenige vergessen werden, das aufgezeichnet wurde, denn nur was aufgezeichnet wurde, kann wieder gelöscht werden. Was dagegen mangels einer Aufzeichnungsfläche, mangels eines Ortes oder einer Dauer, in er die Aufzeichnung situiert werden könnte, nicht aufgezeichnet wurde – was also, da nicht synthetisierbar, weder in Raum noch in der Zeit der Herrschaft, weder in der Geographie noch in der Diachronie des seiner selbst gewissen Geistes einen Platz finden kann –, sagen wir: was kein möglicher Stoff von Erfahrung ist, da die Formen der Bildungen der Erfahrung, und sei sie unbewusst, die die sekundäre Verdrängung beibringt, dafür nicht tauglich und geeignet sind, kann mithin auch nicht vergessen werden. Es bietet dem Vergessen keinen Angriffspunkt und bleibt „nur“ als eine Affizierung präsent, von der man nicht weiß, wie sie qualifiziert werden könnte.“ (Lyotard 1988: 38).

Aleida Assmann bewertet Lyotards metaphorisches und kollektives Verständnis von Trauma als charakteristisch für den Paradigmenwechsel in der Gedächtnistheorie, der stark durch Debatten über die „Krise der Repräsentation“, vor allem im Bezug auf den Holocaust, beeinflusst ist. Dabei wird kritisiert, dass die öffentliche Repräsentation des Holocaustgedenkens in Form von Denkmälern und Gedenkstätten z.B. die Vergangenheit nicht etwa bewahre, sondern eine „Deckerinnerung“ hervorbringe, die dem Vergessen Vorschub leiste (Assmann 1999: 260-263). Andere Autoren kritisieren die politische und 112 Lyotard verwendet Trauma eher in einem metaphorischen Sinne als eine kollektive Form der Auseinandersetzung mit der kollektiven Gewalt des Holocausts und daher nicht für die konkreten Traumatisierungen von Holocaustüberlebenden (Assmann 1999: 262).

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ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

wirtschaftliche Instrumentalisierung des Holocaustgedenkens durch den Staat Israel und jüdische Organisationen in den USA (vgl. Finkelstein 2000; Segev 1995). In Anlehnung an Aleida Assmann kann Der-es-Zor als ein „auratischer Ort“ und die Knochenreliquie als ein auratischer Gegenstand bezeichnet werden. Diese sind „Nachfolge-Institutionen“ heiliger Orte/Gegenstände (Assmann 1999: 337-338). Die Wirkungskraft, die diesen Erinnerungsorten und -gegenständen zugeschrieben wird, erklärt sich aus ihrem „Status als Kontaktzone“, denn man erwartet, „dass sie einen Kontakt mit den Geistern der Vergangenheit herstellen“ (dies. 337). Nach Assmann, die sich dabei auf Benjamins Definition von Aura stützt, stellt das in Aura enthaltene Heilige nicht einen unmittelbaren Kontakt her, sondern verstärkt im Gegenteil die Erfahrung von Ferne und Fremdheit. Auratische Orte bzw. Gegenstände lassen uns die „unnahbare Ferne und Entzogenheit von Vergangenheit“ sinnlich wahrnehmen, sie verbinden „sinnliche Gegenwart mit historischer Vergangenheit“ (dies. 1999: 338). Dabei verdeutlicht gerade der Kontakt mit auratischen Orten/Gegenständen und das dabei mitschwingende Ferne- und Fremdheitsgefühl, dass sich vergangene Ereignisse immer mehr einer sinnlichen Wahrnehmung in der Gegenwart entziehen und die Identifikation in der Gegenwart und für die Zukunft dem Dilemma des Vergessens unterliegt. Dieses Dilemma wird den Angehörigen der Paroikia bei den alljährlichen Genozidgedenkfeiern in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Denn jedes Jahr verringert sich ganz offensichtlich die Anzahl der Diasporaarmenier, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen und sich damit öffentlich mit der Erinnerungsarbeit der Parteien identifizieren. Dass der Mitgliederschwund durch die Zuwanderung aus Armenien in der Zukunft aufgefangen werden könnte, ist für Armenier aus Athen und Thessaloniki nur ein schwacher Trost, zumal Armenier aus der Diaspora davon überzeugt sind, dass die Identifikation mit dem Genozid für Armenier aus der Republik nicht zentral ist. Vielmehr fragten sich viele meiner Gesprächspartnerinnen, ob nicht einer der Gründe für die ständig abnehmende Beteiligung, die sich auch bei anderen Gelegenheiten zeigte, darin lag, dass die öffentliche Erinnerungsarbeit der Daschnak immer mehr an Überzeugungskraft verloren hatte. Denn die emotionalisierende Wirkung, die das Ritual in Thessaloniki hatte, geht, wie ein Vergleich mit dem Totengedenken in Athen zeigt, nicht von allen Ritualen aus. Totengedenken in Athen: Aktive rituelle Akteure und passive Teilnehmende In Athen begann der Genozidgedenktag, der 24. April 1997, ebenfalls mit einer Gedenkfeier für die Toten, die jedoch signifikante Unterschiede zum Trauergottesdienst in Thessaloniki aufwies. Im Gegensatz zu Thessaloniki war der Ort der Feierlichkeit nicht die Kirche, sondern ein öffentlicher Platz im Athener Stadtteil Nea Smyrni. Nea Smyrni (Neu-Smyrna) wurde in den 1920er Jahren von griechischen Flüchtlingen aus Kleinasien gegründet. Die 151

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Flüchtlingstradition ist für die Repräsentation des Stadtviertels heute von zentraler Bedeutung. Dies wird auch durch ein monumentales Denkmal deutlich. Ein griechisch-orthodoxer Pope streckt die Hände flehend zum Himmel erhoben aus. Dieses Denkmal befindet sich auf der Seite des Platzes, die der Hauptstraße zugewandt ist. Auf der gegenüberliegenden Seite, die von der Straße aus nicht einsehbar ist, befindet sich von einer Grünanlage abgetrennt seit 1982 das Genoziddenkmal der armenischen Paroikia Athens. Das Denkmal besteht aus einer Bronzeglocke, die von einem für die armenische Kirchenarchitektur typischen Turm gekrönt ist. Auf der Vorderseite der Glocke befinden sich mehrere aufgeplatzte Öffnungen, die an Einschusslöcher erinnern sowie ein diagonal angebrachtes Schwert. Die Einschusslöcher, so erklärte mir der Präsident der armenischen Paroikia Griechenlands, mit dem ich das Denkmal zum ersten Mal besichtigte, symbolisieren die Verletzungen, die dem armenischen Volk durch den Genozid zugefügt wurden, das Schwert den Kampf gegen die Vernichtung armenischer Identität, den man früher wie heute zu führen habe. Die Glocke dagegen stehe für die Verkündigung des Unrechtes und der Kirchturm versinnbildliche den Glauben und die Kirche als Fundamente der armenischen Diaspora. Damit verweisen sowohl der Standort des Denkmals als auch seine künstlerische Gestaltung auf die zentralen Eckpfeiler der öffentlichen Erinnerungsarbeit, die in allen Teilen des rituellen Komplexes in Szene gesetzt werden: Die Verbindung zwischen „Kleinasiatischer Katastrophe“ und dem Genozid, die sich in der räumlichen Nähe der Denkmäler ausdrückt. Und die heroisierende Umdeutung der genozidalen Erfahrungen zu einem Kampf gegen die Zerstörung von armenischer Identität, die das Denkmal selber symbolisiert. In Thessaloniki waren religiöse und militaristische Strategien der Ritualisierung verbunden worden, wobei der Ort – die Kirche, der Veranstaltung den Charakter einer Trauerfeier mit politischen Elementen gab. Trotz der Anwesenheit von Fernsehteams wurde diese Veranstaltung von den Teilnehmenden als Trauerfeier „für uns“ wahrgenommen. In Athen dagegen verwiesen der Ort – ein öffentlicher Platz, der zwar durch das Genoziddenkmal zu einem armenisch definierten Ort in Athen geworden war, der Kreis der aktiven rituellen Akteure sowie Ablauf und Inhalte der weiteren Inszenierung auf den explizit öffentlichen und politischen Charakter dieser Veranstaltung. Zwar war auch hier kein griechisches Publikum anwesend, aber die musikalischen Einlagen wurden z.B. durch die Blaskapelle von Nea Smyrni übernommen. Zentrales Element dieser Veranstaltung waren, wie bei der politischen Zentralveranstaltung, Ansprachen griechischer und armenischer Würdenträger. Zunächst hielt der armenische Bischof eine Liturgie ab, die im Gegensatz zu den folgenden Reden äußerst kurz gehalten war. Die Vertreter der anderen christlichen Glaubensgemeinschaften waren zwar anwesend, blieben aber stumm. Die darauf folgenden Reden ähnelten in Ablauf und Inhalt den Ansprachen, die bereits bei der politischen Zentralveranstaltung gehalten worden waren. Die Eingangsrede hielt der Präsident der Armenischen Nationalversammlung Griechenlands auf Armenisch. Dies markierte den weniger hohen Grad an Öf152

ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

fentlichkeit im Gegensatz zur politischen Zentralveranstaltung, bei der alle Reden auf Griechisch gehalten worden waren. Anschließend sprach eine Vertreterin der Daschnak auf Griechisch und nutzte ihre Rede auch dazu, eine Kritik der Daschnaktsutiun an der damaligen Regierung der Republik Armenien zu formulieren: Da Armenien nur als demokratischer Staat eine Überlebenschance habe, gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass demokratische Grundsätze bald größere Anerkennung finden würde. Dies unterstrich sie mit mahnenden Blicken in Richtung der Botschaftsangehörigen, die als geladene Gäste an der Veranstaltung teilnahmen. Die Abschlussansprache wurde vom Bürgermeister Nea Smyrnis gehalten, der wiederum die Schicksalsgemeinschaft des armenischen und griechischen Volkes im Hinblick auf ihren gemeinsamen Feind, die Türkei thematisierte. Im Hinblick auf die Atmosphäre unterschied sich die Veranstaltung in Athen drastisch von der in Thessaloniki. Dort hatte während des Rituals der Ehrenwache eine dichte emotionale Atmosphäre geherrscht und alle Teilnehmenden waren durch das Küssen der Knochenreliquie zumindest partiell aktiv an der Zeremonie beteiligt. In Athen dagegen schien kein Funke zwischen den Handlungen der aktiven rituellen Akteure und den passiven Teilnehmenden überzuspringen. Ich hatte eher den Eindruck, dass diese die Veranstaltung als einen willkommenen Anlass betrachteten, Bekannte zu treffen und Neuigkeiten auszutauschen. Soweit ich in meinem unmittelbaren Umfeld beobachten konnte, schenkte niemand um mich herum den Reden viel Aufmerksamkeit oder kommentierte sie zumindest kritisch. So bemängelte ein Parteimitglied der Daschnak auf meine Nachfrage, wie denn die armenische Rede des Gemeindepräsidenten gewesen sei, die ich nicht verstehen konnte: Viel zu langatmig, das ganze Gerede über den Anlass sei überhaupt nicht nötig, es würde nur die Ernsthaftigkeit des Augenblicks stören und schließlich wüsste doch ohnehin jeder, warum man zusammengekommen sei. Eine „Ernsthaftigkeit des Augenblicks“ konnte ich – im Gegensatz zu Thessaloniki – während der ganzen Veranstaltung nicht spüren. Die Veranstaltung endete ziemlich abrupt. Abermals stimmte die griechische Blaskapelle einen Marsch an und versuchte sich in einer würdigen Formation zum Ausgang des Platzes zu begeben. Dies scheiterte allerdings daran, dass die Zuschauer unmittelbar nachdem das letzte Wort des Bürgermeisters verklungen, offenbar froh endlich aus ihrer passiven Zuhörerrolle befreit zu sein, sofort ihre Stehplätze verließen um Bekannte zu sehen oder vor dem Genoziddenkmal Erinnerungsphotos aufzunehmen. Dadurch kam es zu einem chaotischen Ineinanderlaufen, das in scharfem Kontrast zu dem strengen Reglement der bisherigen Veranstaltung stand. Diese Schlussszene wirkte wie eine Verkörperung der Misskommunikation zwischen Veranstaltern und Publikum, die während der ganzen Veranstaltung spürbar war. Der atmosphärische Unterschied zwischen Thessaloniki und Athen kann sicherlich auch darauf zurückgeführt werden, dass in Thessaloniki die Ritualisierungen um die Knochenreliquie zum ersten Mal durchgeführt worden waren, während die Veranstaltung in Athen einer jahrelangen Routine entsprach, 153

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die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner häufig als ermüdend kritisierten. Demgegenüber hatten die Demonstrationen, die ich im folgenden Abschnitt analysiere, trotz aller Routine nach wie vor eine emotionalisierende Wirkung auf die Anhänger der Daschnak und galten auch als Höhepunkte der ritualisierten Inszenierungen zum Genozidgedenken. In dieser performativen Handlung verdichten sich die Funktionen der Rituale – Inszenierung einer homogenen Nation im Exil bei gleichzeitiger Identifikation mit dem griechischen Staat, Perpetuierung der politischen Spaltung und Stärkung der Dominanz der Daschnak, körperliche Einschreibung der Ideologie der Daschnak und Emotionalisierung. An ihnen lässt sich außerdem zeigen, dass die Erfüllung aller dieser Funktionen den rituellen Akteuren einen komplizierten Balanceakt abverlangt, der lokalspezifische Unterschiede aufweist und, wie das Thessaloniker Beispiel, zeigt nur bedingt kontrollierbar und vorhersehbar ist.

5.4

Die Demonstrationen als kontrollierte Rebellionen?

Die heroisierende Praxis des Genozidgedenkens, durch die das Trauma des Genozids zu einer zukunftsweisenden normativen und sinnstiftenden Erinnerung für armenische Identität in der Gegenwart umgedeutet wird, ist charakteristisch für alle bisher analysierten ritualisierten Handlungen. In den Demonstrationen vor dem türkischen diplomatischen Vertretungen wird jedoch der zentrale Bestandteil der Daschnak-Ideologie – die Forderung nach aktivem und militantem Widerstand gegen das Vergessen – am deutlichsten in aktive Handlung umgesetzt. Gleichzeitig sind die Demonstrationen die Elemente des rituellen Komplexes, mit denen das höchste Maß an Öffentlichkeit erzielt wird. Sowohl in Thessaloniki und Athen führten die Demonstrationszüge durch die belebten Straßen der Innenstadt, die für diesen Zweck gesperrt wurden. Demonstrieren in Athen: Die perfekte Inszenierung einer kontrollierten Rebellion? Da der 24. April 1997 auf den Gründonnerstag fiel, kam es zu einer Veränderung der in armenischen Augen traditionellen Inszenierung. Der Demonstrationszug durch die Athener Innenstadt zur türkischen Botschaft wurde durch eine andere Strategie politischer Ritualisierung, einem Sit-in (kathistiki diamatyria) der armenischen Jugend vor der türkischen Botschaft, ersetzt. Diese Modifikation war nötig, da die griechische Öffentlichkeit, die eine der Zielgruppen des politischen Protestes ist, es als pietätlos und geschäftsschädigend empfunden hätte, wenn die Armenier an diesem Tag Parolen rufend durch die

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ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

Innenstadt gezogen wären.113 Öffentlichkeit wurde nicht nur durch die Aneignung von öffentlichem „griechischen“ Raum, sondern durch eine expressive und raumgreifende körperliche Praxis (Marschieren, lautstarker Protest, Rangeleien mit der griechischen Polizei) erzielt, die sich auffallend vom öffentlichen Verhalten während der anderen Rituale unterschied. An zwei Elementen des Rituals wird besonders deutlich, wie die armenischen Initiatoren mit in der griechischen Öffentlichkeit verständlichen dramaturgischen Effekten arbeiten, um sich medienwirksam in Szene zu setzen und wie griechische Medien und Polizei diese Inszenierung unterstützen. Das Sit-in der armenischen Jugend fand in einem Park gegenüber der türkischen Botschaft statt. Dieser Park war durch die üblichen Symbole wie griechische und armenische Fahnen, Photographien, Banner mit politischen Parolen vorübergehend zu einem armenischen Ort in der Innenstadt Athens geworden. Bis in die Nachtstunden hinein waren ständig wechselnde Kamerateams der Fernsehstationen und Journalisten der Athener Tageszeitungen präsent. Für sie inszenierten die 40 anwesenden Jugendlichen einen medienwirksamen politischen Protest: Sie stellten sich neben Stellwänden mit einer Karte auf, auf denen die Orte der Deportationen, die Zahlen der Opfer darstellte114 und Photographien von Genozidopfern dargestellt waren. Vor ihnen auf der Straße symbolisierte eine Kerzenformation die 1,5 Millionen Todesopfer. Über ihnen forderte ein Banner mit stacheldrahtsprengenden Fäusten „Freiheit für das türkisch besetzte Armenien“. In den Händen trugen sie Fackeln. Sobald das Auge der Kamera die Szene erfasst hatte, begannen sie, ihre Parolen zu rufen, die den Aufschriften der Plakate entsprachen, die sie in den Händen hielten. Eine der Parolen: „Feuer, Feuer, Feuer den Türken“ wurde dann symbolisch in die Tat umgesetzt: Ein männlicher Jugendlicher sonderte sich von der Gruppe ab und verbrannte die türkische Fahne. Wie jede Fernsehzuschauerin hatte ich die Handlung des Fahnenverbrennes im Zusammenhang mit Konflikten in aller Welt unzählige Male in den Abendnachrichten verfolgt. Sie war mir immer wie der spontane Ausdruck von kollektiver Empörung vorgekommen. An diesem Abend lernte ich, dass diese Handlung in Athen schon seit Jahren den Höhepunkt der Demonstrationen bildete. Sie erforderte Experten113 In Thessaloniki dagegen wurde am Vorabend des 23. April ein Fackelzug zum türkischen Konsulat veranstaltet. Diese unterschiedlichen Umsetzungen der Ritualpraxis der Daschnak-Partei auf lokaler Ebene korrespondierten mit den Bewertungen der rituellen Handlungen, die meine Gesprächspartnerinnen vornahmen. Die kollektive Erinnerungs- und Identitätsarbeit der Athener Paroikia bewerteten Armenier aus Thessaloniki als fanatischer und politisierter. Athener Armenier dagegen kritisierten die mangelnde Politisierung der Paroikia in Thessaloniki und werteten deren Demonstration als Folklore ab (vgl. Kapitel 4.1.2). 114 Diese Karte ist in der gesamten Diaspora bekannt. Sie wurde vom Armenian Case Comitee in Jerusalem entwickelt und ist in verschiedenen akademischen Publikationen zum Armenischen Genozid verwendet worden.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

tum – der Jugendliche war der „Zeremonienmeister“, der jedes Jahr mit diesem Amt betraut war – und eine sorgfältige Vorbereitung. Die Jugendlichen stellten die türkischen Fahnen selber her, da, wie sie mir erklärten, die gekauften sehr teuer und außerdem aus Polyester seien, das sich nicht so kamerawirksam abbrennen lasse. Vor dem Abbrennen der Fahne gab es außerdem Absprachen mit den Kamerateams und Journalisten, damit diese den medienwirksamen Augenblick einfangen konnten. Dieses expressive Bild spielte bei der Berichterstattung über das Genozidgedenken in Presse und Fernsehen eine zentrale Rolle. Am nächsten Morgen wurde das Publikum nach dem Gedenkgottesdienst in Bussen, eskortiert von griechischer Polizei, in die Nähe der türkischen Botschaft gebracht. Dort formierten sich die ca. 400 Armenier zu einem Demonstrationszug. Am Anfang der Straße, in der die türkische Botschaft liegt, wurde dieser von einer Einsatzgruppe der Polizei gestoppt. Der nun folgende Versuch eines Teils der Demonstrierenden, die Polizeikette zu durchbrechen und vor das Tor der türkischen Botschaft vorzudringen, wirkte wie eine wohl einstudierte Choreographie, in der jeder Akteur – die Demonstranten und die Polizei – seine Rolle sehr genau kannte und einhielt. In regelmäßigen Abständen – als Stichwort diente eine bestimmte Parole, die durch das Megaphon vorgegeben wurde – drängten etwa 30 männliche Angehörige der armenischen Jugend gegen die Plastikschutzschilder der Polizei an. Hinter ihnen standen weitere männliche und weibliche Teenager und verstärkten die Schubkraft dieser Konfrontation. Sie schienen bei dem Gedränge sehr viel Spaß zu haben, während die männlichen Jugendlichen in der ersten Reihe kämpferisch angespannte Mienen hatten. Zurückgedrängt wurden sie nicht etwa nur von der Polizei, sondern auch von jungen Männern (um die 30 Jahre alt), bei denen es sich um Parteimitglieder oder zumindest um aktive Mitglieder der Paroikia handelte. Diese standen den Demonstrierenden zugewandt noch vor der Polizeikette und sorgten gemeinsam mit dem Chef der Einsatztruppe der Polizei dafür, dass die Situation nicht eskalierte. Als ein armenischer Jugendlicher einen Polizeibeamten hitzig beschimpfte und dieser schon die Hand gegen ihn erhoben hatte, mischten sich einer der „Puffer“ und der Polizeichef sofort ein und verhinderten eine Eskalation dieses Konfliktes. Der „Sturm“ auf die türkische Botschaft wiederholte sich etwa 10 bis 15 Mal. Die griechischen Fernsehkameras filmten fast ausschließlich diese Szene. Die anderen anwesenden Demonstrierenden – Erwachsene und Kinder – waren an der Konfrontation mit der Polizei nicht aktiv beteiligt. Sie standen in einer lockeren Anordnung um die nach vorne drängenden Jugendlichen herum und stimmten zum Teil in die Parolen ein, die in regelmäßigen Abständen durch das Megaphon vorgegeben wurden. Durch den „Sturm auf die Botschaft“ wird das Herzstück der Erinnerungsarbeit und der politischen Ideologie der Daschnak – die Anknüpfung an den Mythos des armenischen Widerstandkämpfers (Fedai) – aufgeführt und körperlich eingeschrieben. Der „Sturm auf die Botschaft“ ist damit eine exemplarische Aufführung einer idealtypischen Konstruktion von Männlichkeit, die 156

ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

zwei generationsspezifische Aspekte enthält. Von den männlichen Jugendlichen wird eine offene Rebellion gegen das Unrecht erwartet, mit der sie ihrem Hass und ihren Aggressionen gegenüber der Türkei radikal und ohne diplomatische Rücksichten auf die guten Beziehungen zu Griechenland Ausdruck verleihen. Erwachsene Männer dagegen, die diese Lebensphase jugendlicher Rebellion bereits durchlaufen haben, sollten in der Lage sein, ihre Emotionen strategisch im Hinblick auf eine erfolgreiche Identitätspolitik in der Diaspora zu kontrollieren. Ihre Zwischenstellung zwischen armenischer Identitätspolitik einerseits und der Notwendigkeit guter Beziehungen zum griechischen Staat andererseits verkörpern sie im wahrsten Sinne des Wortes durch ihre ausgleichende räumliche Position zwischen armenischen Demonstranten und griechischer Polizei. Im Gegensatz zu anderen Bestandteilen des rituellen Komplexes ist die Türkei in Form ihrer Botschaft ebenfalls, wenn auch unfreiwillig, an diesem Ritual beteiligt. Das Gebäude war von einem hohen Metallzaun umgeben, wirkte abweisend, uneinnehmbar und menschenleer. Armenische Bekannte machten mich darauf aufmerksam, dass der türkische Geheimdienst ihren Protest dennoch genau durch die Überwachungskameras auf dem Dach der Botschaft und die Videokamera, die an einem der Fenster immer wieder sichtbar wurde, verfolgte. Die Personen, die diese Überwachungsgeräte bedienten, blieben jedoch unsichtbar. Bei mir löste das Wissen um diese unpersönliche Überwachung ein großes Unbehagen aus. Die Demonstration endete wie jedes Jahr mit der Verlesung einer Resolution,115 die dann von zwei Abgesandten der armenischen Jugend in Begleitung von zwei Polizisten am Tor der Botschaft angebracht wurde. Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, ging ich mit einigen armenischen Bekannten essen. Ausführlich wurde darüber diskutiert, dass die diesjährige Beteiligung wegen der Karwoche gering war und wer von den Gemeindemitgliedern nicht anwesend war. Auch ich wurde nach meinen Eindrücken befragt. Als ich vorsichtig formulierte, dass die Kundgebung auf mich wie eine Inszenierung für die Medien gewirkt habe, antwortet einer meiner Bekannten, ein Parteimitglied der Daschnak und des Armenischen Nationalkomitees, zufrieden: „Genau das sollte es auch sein.“ Natürlich ginge es bei den Kundgebungen vor allem darum, möglichst viel Medienpräsenz und 115 Diese Resolution umfasste 1996 folgende Forderungen: „1. Die Anerkennung und Verurteilung des Völkermordes an den Armeniern. 2. Die Rückgabe der ehemals armenische besiedelten Gebiete in der heutigen Türkei. 3. Der Stop der Bewaffnung von Azerbaidschan und der Behinderung der Friedensbemühungen, die zu einer gerechten Lösung der Forderungen im Nagorno-Karabach Konflikt führen sollen. 4. Der Stop der erstickenden Isolation von Armenien. 5. Der Stop der ständigen Herausforderung Griechenlands in Zypern und in der Ägäis.“

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damit Öffentlichkeit zu gewinnen. Im Übrigen würde er auch nicht im Traum daran glauben, dass die Türkei den Forderungen jemals stattgeben würde. Darum ginge es letztlich auch nicht in erster Linie, denn die Rituale zum 24. April und das Festhalten an der Armenischen Frage seien auch ein wichtiges Mittel, die Diaspora am Leben zu erhalten und armenische Identität auf die nachfolgenden Generationen zu übertragen. Die politische Zentralveranstaltung und die Kranzniederlegungen habe ich als ritualisierte Handlungen interpretiert, die durch Bezugnahme auf die Schicksalsgemeinschaft angesichts des gemeinsamen Feindes Türkei eine öffentliche Performanz armenischer Identität innerhalb des griechischen Nationalstaates möglich macht, die von der griechischen Mehrheitsgesellschaft nicht als Bedrohung aufgefasst wird. Bei den Demonstrationen vor den türkischen Repräsentanzen bedienen sich die Akteure zwar der gleichen symbolischen und rhetorischen Mittel wie bei den anderen Veranstaltungen. Sie implizieren aber, wie jede andere Form der politischen Demonstration auch, die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung, die dem erklärten Ziel, Solidarität bei der griechischen Bevölkerung zu wecken, zu wider laufen könnte. Ritualen wird eine dramatische Qualität zugesprochen, die bei den Akteuren emotionale Reaktionen hervorrufen (vgl. Kertzer 1988: 11). Im Vergleich zu den anderen Elementen des rituellen Komplexes habe ich die Demonstrationen als Situationen besonderer emotionaler Intensität wahrgenommen, da sie eine direkte Konfrontation mit dem griechischen Nationalstaat einerseits und mit dem türkischen Staat andererseits beinhalten. Das Rufen der Parolen – die immer militanter und hasserfüllter wurden, das Anstürmen gegen die Absperrungen durch die griechische Polizei, die Schutz und Barriere vor der türkischen Botschaft darstellen und der vergebliche Versuch, die mächtige Türkei in Form ihrer diplomatischen Vertreter, zu einer Reaktion zu provozieren, löst unterschiedliche und ambivalente Gefühle aus: Hass und Ohnmacht angesichts der übermächtigen und ignoranten Position der Türkei, die durch den vergeblichen „Sturm auf die Botschaft“ erlebt werden; Empörung und Verzweiflung angesichts der Indifferenz der nicht-armenischen Öffentlichkeit, die verkörpert in den griechischen Polizisten bei einer Konfrontation zwischen Armeniern und der Türkei, die Rechte der Täter und nicht der Opfer schützen; aber auch ein grausiges Schaudern bei der Vorstellung, die Türkei würde von ihrer üblichen Haltung abweichen und einen Dialog ermöglichen sowie Erleichterung darüber, dass sie auch dieses Mal nicht von der gewohnten Routine abweichen. In Athen wurde die Gefahr eines offenen Konfliktes durch die Einhaltung der vorgeschriebenen ritualisierten Rollen aller beteiligten Akteure (Demonstranten/Polizei) erfolgreich gebannt. Ein Vergleich mit der Demonstration in Thessaloniki zeigt, dass Rituale aufgrund der expressiven Mittel mit denen Emotionen hervorgerufen werden, trotz aller Formalisierungen und Routinisierungen auch immer die Möglichkeit zu unvorhersehbaren Veränderungen beinhalten. Darin liegt nicht nur das machtstabilisierende sondern auch machtverändernde Potential von Ritualen. Meine weitere Analyse wird ver158

ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

deutlichen, dass die Demonstrationen ein Potential zum offenen Konflikt mit dem griechischen Nationalstaat beinhalten, das im Gegensatz zur Inszenierung einer armenisch-griechischen Schicksalsgemeinschaft und Interessenharmonie während der anderen ritualisierten Handlungen stehen kann. Demonstrieren in Thessaloniki: Die Abweichung von der ritualisierten Inszenierung Am 24. April 1996 begann die Demonstration in Thessaloniki wie üblich nach dem Gedenkgottesdienst mit der Aufstellung der ca. 150 bis 200 Teilnehmenden. Im Gegensatz zu Athen verwandten Angehörige des Armenischen Nationalkomitees auf die Formation des Demonstrationszugs, der über eine der belebtesten Straßen der Innenstadt zum türkischen Konsulat führte, große Sorgfalt. Die Demonstration wurde von einer Gruppe Kinder der armenischen Schule angeführt, die armenische Fahnen in den Händen hielten. Ihnen folgten die Kinder der Daschnak-Kinderorganisation Baternakan, die Plakate trugen. Bei einem Großteil der Kinder handelte es sich um Migranten aus der Republik Armenien. Von dieser Kindergruppe räumlich etwas getrennt gingen die Angehörigen der Armenischen Jugend mit den von ihnen hergestellten Spruchbändern. Darauf folgten in einer lockeren Formation die erwachsenen Angehörigen der Paroikia. Auf dem Weg zur türkischen Botschaft wurden abwechselnd von zwei Angehörigen der Armenischen Jugend immer wieder Parolen skandiert, in die die Kinder einfielen, während sich die Erwachsenen nicht beteiligten. Wie ich bereits im Kontext der ritualisierten Handlung der Ehrenwache an der Knochenreliquie erläutert habe, hat die zentrale Rolle, die die Organisatoren den Kindern und Jugendlichen zugewiesen haben, eine erzieherische und symbolische Bedeutung: Ihre besondere Einbindung soll einerseits den Prozess der Dis-Identifikation der jüngeren Generation mit dem Genozidgedenken aufhalten und andererseits eine Verbindung zwischen einer normativen Vergangenheit und den damit verbundenen moralischen Postulaten für die Zukunft herstellen. An der letzten Querstraße in Sichtweite der türkischen Botschaft wurde der Demonstrationszug plötzlich und für die Demonstrierenden völlig unerwartet von der Absperrung einer Einsatztruppe der griechischen Polizei aufgehalten. Denn bisher war es üblich gewesen, dass die Demonstrierenden erst vor der Tür des Konsulates halt machten, um dort die Resolution mit dem Katalog der Forderungen zu verlesen und an die Tür zu heften. Im Gegensatz zu Athen, wo diese Konfrontation zwischen armenischen Demonstranten und der Polizei Bestandteil der Demonstrationsroutine war, veränderte sich die Atmosphäre in Thessaloniki durch diese Blockade spürbar. Zunächst versuchten die armenischen Demonstranten, allen voran die armenische Jugend, die Polizeisperre zu durchbrechen. Zwar kam es nicht zu körperlichen Auseinandersetzungen, aber die Stimmung wurde immer emotionaler. Die Parolen wurden immer heftiger und lauter skandiert, nun beteiligten sich auch Erwachsene. Während vor allem die ungefähr 20 Angehörigen der Armenischen Jugend, 159

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

die immer wieder gegen die Plastikschutzschilder der Polizei vordrängten, immer aufgebrachter wurden, versuchten der Vorsitzende der Paroikia und drei Mitglieder des Armenischen Nationalkomitees eine Einigung mit der Polizei zu treffen. Der Einsatzleiter der Polizei schlug vor, dass eine Gruppe von fünf Leuten passieren dürfe, was die armenischen Vertreter jedoch ablehnten. Obwohl sie sich offensichtlich um einen Ausgleich mit der Polizei bemühten, war auch ihnen die emotionale Anspannung anzusehen. Einer der Verhandelnden wandte sich zornig ab und rief dem Einsatzleiter erbost über die Schulter zu: „Auch ich bin schließlich griechischer Staatsbürger!“ Diese Szene wurde in den Abendnachrichten von ET3, einem nationalen Fernsehsender, übertragen. Nachdem die Verhandlungen schließlich gescheitert waren, hielt der Vorsitzende des Armenischen Nationalkomitees eine kurze Rede, in der er sein Unverständnis für diese Entscheidung ausdrückte und die gemeinsamen Interessen von Armeniern und Griechen im Bezug auf die Türkei hervorhob. Die Jugendlichen fassten die unnachgiebige Haltung der Polizei als Provokation auf. Als jedoch einer von ihnen begann, die Polizisten als Faschisten zu beschimpfen, schritt sofort ein älteres Mitglied der Paroikia ein und brachte ihn zur Räson. Die angespannte und aggressive Atmosphäre entspannte sich, nachdem verschiedene Lieder angestimmt wurden. Zunächst wurde ein griechisches Lied aus dem Befreiungskampf gegen die Türken gesungen, erst dann folgte ein armenisches Widerstandslied und die armenische Nationalhymne. Dieses gemeinsame Liedersingen wirkte de-eskalierend. Der Protest wurde fortgesetzt, ohne die guten Beziehungen zum griechischen Staat zu gefährden. Dies Beispiel zeigt jedoch, dass die Rituale auch ein komplizierter Balanceakt zwischen Aufbegehren und Widerstand gegen die Türkei, dem Werben um Solidarität in der griechischen Öffentlichkeit und einer Positionierung als ethnisch-nationale Minderheit in dem engen Rahmen sind, der von der öffentlichen Meinung und der Minderheitenpolitik des griechischen Nationalstaates vorgegeben wird (vgl. Kapitel 4). Rituale können durch ihre emotionalisierende Wirkung eine Eigendynamik entfalten, die nur bedingt planbar ist. Schäfer und Wimmer (1998: 10-13) weisen ritualisierten Handlungen eine „Zwischenstellung“ zu, da sie zugleich ermächtigend und entmächtigend auf die Beteiligten wirken. Denn ritualisierte Handlungen sind Prozesse, die Individuen zwar aktiv initiieren und planen, von denen sie gleichzeitig jedoch emotional erfasst werden. Dies lässt bei den Beteiligten den Eindruck entstehen, dass ihre Handlungen weitgehend vorgeschrieben sind und sich quasi von selbst vollziehen. Rituale sind also – wie die Demonstration in Thessaloniki zeigt – nicht bloße Mittel zum Zweck, die gemäß einer Intention ablaufen. Sondern im Prozess des Rituals entsteht eine Dynamik, die sich dieser Intention entziehen kann. In Thessaloniki konnte diese Dynamik durch das gemeinsame Singen de-eskaliert werden, die Rebellion gegen die übermächtige Türkei und die Ordnungshüter des griechischen Staates blieb ritualisiert.

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ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

5.5

Zum Zusammenhang von Ritualen, Diasporaraum und projektiven Erzählungen

In diesem Kapitel habe ich Rituale als ritualisierte performative Handlungen verstanden, mit denen Menschen ihre soziale Umwelt (re)produzieren. Mit ritualisierten Handlungen bewegt sich der menschliche Körper in einem durch Machtbeziehungen konstruierten Raum, in dem Beziehungen, Identitäten und kulturelle Konzepte denkend, fühlend und empfindend zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig konstituiert und verändert werden. Ich habe gezeigt, wie Armenier in Griechenland durch Rituale für den armenischen Diasporaraum zentrale Beziehungen herstellen und gestalten, zu signifikanten Anderen wie der Türkei, dem griechischen Staat, der griechischen Bevölkerung und auch zur armenischen Diaspora und der Paroikia. Die Feindschaft zur Türkei wird durch die Rituale wirkungsvoll inszeniert und bestätigt, sie wird öffentlich als primordiale Völkermörderin angeklagt und verurteilt. Gefühle wie Hass, Zorn und Ohnmacht angesichts der übermächtigen Position der Türkei, die eine Anerkennung des Genozids bis heute abwehrt, werden in Ritualen wie den Demonstrationen in expressive Handlungen umgesetzt und – durch das ohnmächtige Anrennen gegen verschlossene Türen – gleichzeitig erneuert. Obgleich es sich bei diesen Ritualen um symbolische, öffentliche Inszenierungen von Widerstand und Kampfgeist handelt, sind sie zugleich Rituale der Ohnmacht, da sie die Machtdifferenz zwischen der Türkei und der armenischen Diaspora nicht verändern. In der ritualisierten kollektiven Erinnerungsarbeit wird armenische Identität, vor allem im Sinne der Ideologie der dominanten Daschnak, medienwirksam inszeniert und im öffentlichen Raum des griechischen Nationalstaates zur Schau gestellt. Dabei verwenden Armenier symbolische und dramaturgische Mittel, die von der griechischen Öffentlichkeit als Identifikationsangebot verstanden werden können. Einige dieser Mittel, wie die Verwendung der griechischen Sprache, werden in anderen Kontexten, z.B. bei Veranstaltungen innerhalb der Gemeinde, sanktioniert. Die ethnische Differenz zwischen Armeniern und Griechen, die Armenier in anderen Situationen durchaus konstruieren, wird nivelliert angesichts eines stigmatisierten Anderen, der Türkei. An dieser gemeinsamen Abgrenzung zur Türkei sind griechische Akteure wie Politiker, Medien und Polizei aktiv beteiligt. Die griechische Öffentlichkeit bekommt eine mit nationalen und militärischen Symbolen in Szene gesetzte Inszenierung armenischer Identität präsentiert, die aber gleichzeitig zentrale Bestandteile der griechischen nationalen Identität – wie die Viktimisierung durch und den Widerstand gegen die Türkei – einschließt. Damit ermöglichen die Rituale eine öffentliche Inszenierung der armenischen Diaspora als „Nation im Exil“, die von der griechischen Mehrheitsgesellschaft nicht Bedrohung griechischer nationaler Integrität aufgefasst werden kann. Die Analyse der Demonstrationen als ritualisierte Rebellionen hat jedoch auch gezeigt, dass ritua-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

lisierte Handlungen durch ihre emotionalisierende Wirkung eine Eigendynamik entfalten können, die nur bedingt kontrollierbar ist. Die Rituale haben noch weitere zentrale Adressaten, die unsichtbar und meist unbenannt bleiben: andere armenische Diasporagemeinden in Griechenland und in anderen Ländern und die Republik Armenien. Durch die armenische Tageszeitungen, die offiziellen und inoffiziellen Kontakte der Gemeindemitglieder zu armenischen Gemeinden außerhalb Griechenlands und nach Armenien gewinnen sie eine Reichweite, die über die lokale Ebene hinausgeht. Auf diese Weise positionieren sich Armenier in Griechenland innerhalb der armenischen Transnation als „wahre Armenier“, die den moralischen Postulaten des Nicht-Vergessens und der Bewahrung armenischer Identität gerecht werden. In Kapitel 5.1 habe ich außerdem darauf hingewiesen, dass die einzelnen Elemente des rituellen Komplexes – wenn auch in unterschiedlicher lokalspezifischer Art und Weise – in der gesamten armenischen Transnation handelnd umgesetzt werden. Auch auf diese Weise wird eine kollektive Identifikation mit der armenischen Transnation hergestellt. Im Kontext der armenischen Paroikia Griechenlands werden durch die Rituale strukturelle und interpersonelle Differenzlinien und Machtverhältnisse perpetuiert. Die zum Teil lokalspezifisch unterschiedliche Umsetzung des rituellen Komplexes in performative Handlungen bestärkt die gegenseitigen Stereotypisierungen der Thessaloniker Armenier als „Identitäts-Folkloristen“ und der Athener Armenier als „politisierte Fanatiker“. Orchestriert werden die rituellen Handlungen von den religiösen und politischen Führern beider Paroikies. In Athen tragen die Ramgavar und Daschnaktsutiun ihren Konflikt um Autorität durch die kollektive Erinnerungsarbeit öffentlich aus und zwingen die Athener Armenier damit zu einer öffentlichen Identifikation mit einer der Parteien. In Thessaloniki behauptet die Daschnaktsutiun ihre dominante Position in der Paroikia. Die im Kontext der religiösen Institutionen dominante armenisch-orthodoxe Kirche erfüllt je nach lokalem Kontext eine mehr oder weniger bedeutende Rolle. Im Gegensatz dazu sind die politisch machtlosen und ihrem Selbstverständnis nach unpolitischen evangelischen und katholischen Kirchen von einer aktiven Mitgestaltung ausgeschlossen. Auf der interpersonellen Ebene dominiert die männliche politische Elite der Daschnak die performative Umsetzung der kollektiven Erinnerungsarbeit. Ihre Angehörigen weisen den männlichen und weiblichen Gemeindemitgliedern Aufgaben zu, die mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der Paroikia übereinstimmen: Männer sind führend aktiv in der Organisation und Durchführung der politischen Schlüsselrituale, während Frauen beim Bäumchenpflanzen die intergenerationelle Übertragung ethnischer Werte übernehmen und die karitative Blutspende organisieren. Den älteren Mitgliedern, deren Biographie als exemplarisches Leben im Einklang mit dem Askabahbanum (Nationsbewahrung) und der Praxis des Opferns gilt, und jungen Menschen wie die Daschnak-Jugend, die die Paroikia zukünftig führen soll, weist die Daschnak-Führung die Ausführung besonders expressiver ritualisierter Handlungen zu wie die Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Sol162

ERINNERUNGSARBEIT UND RITUALISIERUNG

daten und die Ehrenwache an der Knochenreliquie. Armenierinnen aus der Republik haben zwar mit ihrer Inszenierung armenischer Hochkultur erstens eine von der politisierten Erinnerungsarbeit der Daschnak abweichende Strategie der Ritualisierung gewählt und zweitens einen eigenen Raum in der Paroikia erkämpft. Dies entkräftet die Dominanzstrukturen in der Thessaloniker Paroikia jedoch nur für den Moment der Inszenierung. Am Beispiel von Sosi habe ich diskutiert, dass nicht nur die politische Identifikation mit einer der Parteien, sondern multiple Identifikationen bei der Entscheidung für die öffentliche Identifikation eines Individuums mit der Erinnerungsarbeit der Parteien eine Rolle spielen. Bei ihrer Entscheidung für die Erinnerungsarbeit der Daschnak und ihren in den Strukturen der Paroikia nicht vorgesehenen kurzen „Frontenwechsel“ waren gleichzeitig die Identifikation als künftige Ehefrau eines Daschnakzagan, Tochter eines Ramgavar und Armenierin wichtig. Für Kinder, die das erste Mal fahneschwenkend an der Demonstration teilnehmen oder für Jugendliche, die in bei der Konfrontation mit der Polizei das erste Mal in die erste Reihe aufrücken und deren Familien hat die institutionalisierte Erinnerungsarbeit möglicherweise auch die Funktion eines Initiationsrituals in eine andere Altersgruppe und in die nationale Gemeinschaft. Bis auf wenige Ausnahmen sind die ritualisierten Handlungen der institutionalisierten Erinnerungsarbeit politische Rituale, in denen die Ideologie des Askabahbanum und die Praxis des Opferns (re)produziert und körperlich eingeschrieben wird. Vor allem in Ritualen wie der Kranzniederlegung und der Ehrenwache an der Knochenreliquie wird das Trauma des Genozids heroisiert und eine Gemeinschaft mit Opfern des Genozids hergestellt. Diese werden in den Ritualen von wehrlosen Opfern zu nationalen Helden transformiert Das Trauma des Genozid wird auf diese Weise in eine positiv verpflichtende, normative Erinnerung umgedeutet, die für die Konstruktion von kollektiver Identität und Gemeinschaft in der Gegenwart und Zukunft in Anspruch genommen wird. Daher sind diese Rituale auch kreative und therapeutische Strategien, mit der das kollektive Trauma nachträglich sinnstiftend gedeutet werden kann. Khachig Tölölyan bezeichnet die armenische Diaspora als eine „textuelle Gemeinschaft (...), in der bestimmten mündlichen und schriftlichen Texten eine gemeinschaftskonstituierende Funktion zukommt“ (1993: 194). Diese Gemeinschaft wird nicht durch einen paradigmatischen Text und dessen Auslegung hergestellt, sondern durch ein Konglomerat unterschiedlicher zentraler Texte, die mündlich überliefert oder schriftlich fixiert sein können und eine gemeinsame Struktur sowie ein gemeinsames Vokabular besitzen. In seinem Verständnis von Text orientiert er sich an Mikhail Bakhtin Definition von Text „(...) als ein Gebilde mit offenen oder zumindest sehr durchlässigen Begrenzungen (in dem) von verschiedenen Institutionen und sozialen Gruppen erzeugte Diskurse, einem orchestralen Satz vergleichbar, aufeinander treffen, kollidieren und ein poly-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA phones Gefüge bilden, wobei die „Orchestrierung“ mehr oder weniger den gesellschaftlichen Elite-Gruppen überlassen ist.“ (Tölölyan 1993: 201)

Nach Khachig Tölölyan liegen den zentralen Texten, durch die Gemeinschaft in der armenischen Diaspora konstituiert wird, zwei spezifische Formen von Erzählmustern zugrunde, die er projektive Erzählung und regulative Biographie nennt. Inhaltlich beziehen sich beide Erzählmuster auf den Diskurs von Märtyrertum und „Geopfert-Werden“. Projektive Erzählungen werden als Erzählungen definiert, die neben der Geschichte auch „zukünftige Handlungen projektieren“, mit denen sich Subjekte in Übereinstimmung mit den kollektiven Werten identifizieren können. Regulative Biographien dagegen bezeichnen die Möglichkeit, die gewaltsam endende Lebensgeschichte eines Menschen zu einer projektiven Erzählung umzugestalten (1993: 203-204). In diesem Sinne sind die in der armenischen Diaspora omnipräsenten Erzählungen über den Genozid projektive Erzählungen, wobei „Der Diskurs des Geopfert-Werdens, der konstitutiv für die Erzählungen des Genozids ist, nicht das Paradigma ist, in dem spätere Handlungen ihren Ursprung haben; er ist vielmehr die Quelle, aus der einer sehr viel früher formulierten und überall anzutreffenden Erzählung neuer Zündstoff und frische emotionale Kräfte zuströmen, einer Erzählung, die den Stempel des religiösen Diskurses trägt.“ (Tölölyan 1993: 205)

Mit dieser Erzählung meint Tölölyan die Geschichte des Nationalhelden Vartan, der sich in der 2. Hälfte des 5. Jh. mit einer kleinen Schar Getreuer in einer aussichtslosen Schlacht der Übermacht des persischen Heeres stellte und einen heldenhaften Märtyrertod starb. Seine heroisierte Lebensgeschichte ist ebenso wie Erzählungen über den Genozid eine projektive Erzählung, die als Vorlage für aktuelle Schilderungen armenischen Heldentums und Selbstaufopferung wie den Kampf der ASALA in den 70er Jahren, den Kampf um die Enklave Nagorno-Karabach, aber auch den täglichen Kampf um die Bewahrung armenischer Identität bilden. Diese projektiven Erzählungen und regulativen Biographien werden in den Ritualen performativ umgesetzt. Rituale sind allerdings nur ein Kontext der Vermittlung neben Institutionen wie der Schule, den Kindergärten, der Kirche und der Familie. Im Gegensatz zu anderen Kontexten der Vermittlung besitzen sie jedoch eine besondere Effektivität. Denn damit werden Armenier und Armenierinnen, für die der Genozid eine historische Erfahrung ihrer Vorfahren ist, in besonderer Weise emotional gebunden. Im nächsten Kapitel werde ich unter anderem untersuchen, wie projektive Erzählungen und regulative Biographien auch die individuelle Erinnerungsarbeit strukturieren.

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6 INDIVIDUELLE ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG In diesem Kapitel verlasse ich die Perspektive einer teilnehmenden Beobachterin und werde zu einer Interpretin der individuellen Erinnerungsarbeit im privaten, familiären Raum. Ich gehe davon aus, dass es sich bei individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen um unterschiedliche, aber sich überkreuzende Ebenen handelt, die häufig in einem ambivalenten und spannungsgeladenen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Kapitel 1.2). Dieses komplexe Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerungs- und damit auch Identitätsarbeit werde ich exemplarisch an Interviewsequenzen analysieren, in denen meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über ihre Einstellungen zum Genozid reflektierten. Meine Interpretationen der Reflexionen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner erlauben nachträgliche Nahaufnahmen und Bewertungen von Elementen der ritualisierten kollektiven Erinnerungsarbeit, die mir als teilnehmender Beobachterin in der Situation selber nicht zugänglich waren. Damit knüpfe ich noch einmal an Fragen nach der emotionalisierenden Wirkung von Ritualen an, die mich schon im vorhergehenden Kapitel beschäftigt haben. Darüber hinaus liefere ich mit diesem Kapitel einen Beitrag zu der Frage, wie Erinnerungen an den Genozid intergenerationell übertragen werden. Dabei liegt mein Fokus nicht auf der Untersuchung unbewusster, psychischer Übertragungsprozesse zwischen den Generationen. Vielmehr geht es mir um die Analyse mehr oder weniger bewusster Beschwörungen der Erinnerung an den Genozid und ihrer intergenerationellen Übertragung (Antze und Lambek 1996: xiv-xv; vgl. Kapitel 1.2). Diese im privaten artikulierten Beschwörungen der Erinnerung an das Trauma von 1915 sind ebenso wie die kollektive ritualisierte Erinnerungsarbeit Identitätsarbeit, durch die kollektive Identität und Gemeinschaft in der armenischen Diaspora hergestellt wird. Die jeweiligen Bedeutungen, die mit dem Genozid in der individuellen Erinnerungs- und Identitätsarbeit verknüpft sind, werden nicht unverändert von einer Generation auf die nächste übertragen. Sie müssen zwischen den Familienmitgliedern ständig neu ausgehandelt werden. Diesen Prozess der sich in der Familie vollziehenden intergenerationellen Erinnerungsarbeit bezeichne ich in Anlehnung an Lena Inowlocki (1995) und Helma Lutz (1995) als Generationsarbeit. Sie gehen davon aus, dass einschneidende Veränderungen oder Krisen, wie sie zum Beispiel durch eine Migration ausgelöst werden, 165

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

zu einem Verlust von Alltagswissen und –handeln, dem so genannten Rezeptwissen, führen. Dies kann die intergenerationell konstituierte Identität der Familie in Frage stellen. Das Alltagswissen und – handeln muss der Situation der Migration angepasst neu entwickelt oder modifiziert werden. Diese gemeinsame Anstrengung von Eltern und Kindern den neuen Bedingungen der Migration angepasste familiäre Sinnkonstruktionen und Praktiken zu entwickeln, nennen sie Generationsarbeit. Zwar analysiere ich nicht die Erinnerungsarbeit der Erlebnisgeneration, sondern von Angehörigen der zweiten, dritten und vierten Generation, möchte das Konzept der Generationsarbeit jedoch übernehmen. Sicherlich ist davon auszugehen, dass die Veränderungen der sozialen Bedingungen zwischen der zweiten, dritten und vierten Generation weniger drastisch waren, als die Brüche, die durch Flucht und Vertreibung zwischen der Erlebnisgeneration und der zweiten Generation entstanden waren. Im Kapitel 3 über die historische Entwicklung einer armenischen „Nation im Exil“ habe ich gezeigt, dass auch die Lebensumstände der zweiten und dritten Generation von tief greifenden Veränderungen sowohl in der griechischen Gesellschaft (z.B. Besatzungszeit, Bürgerkrieg, Militärjunta) als auch in der armenischen Paroikia (Neghart, Kirchenspaltung, Auflösung der Ghettos, Übernahme der Staatsbürgerschaft, Politisierung und Veröffentlichung des Genozidge-denkens) geprägt waren, die sich zwar weniger abrupt vollzogen, das Verhältnis zwischen den Generationen aber nachhaltig beeinflusst haben. Bevor ich mit meiner Analyse beginne, gebe ich noch einige Informationen zum Kontext und zur Auswahl der Interviews sowie zur weiteren Struktur des Kapitels. Um das komplexe Verhältnis von kollektiver und individueller Erinnerungsarbeit zu untersuchen, wähle ich in diesem Kapitel einen personenzentrierten Ansatz: Ich analysiere Sequenzen aus Interviews, die ich mit einer oder mehreren Personen im privaten Kontext geführt habe. Diese Interviews fanden entweder bei meinen Interviewpartnerinnen und –partnern oder bei mir zu Hause statt. Bei den Interviews handelt es sich zum einen um halbstrukturierte Interviews, in denen meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner den Gesprächsverlauf zwar in unterschiedlichem Maße bestimmten, das Thema Genozid und ihre Einstellung zur Erinnerungsarbeit aber einer der vor mir vorgegebenen Themenkomplexe war. Zum zweiten sind es lebensgeschichtliche Interviews, in denen meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen den Genozid im Hinblick auf die Fluchtgeschichte ihrer Vorfahren und die Relevanz des Themas im familiären Dialog thematisierten. Um die dialogische Dynamik der Interviews und meine Einflussnahme als Interviewerin zu verdeutlichen, zitiere ich zum Teil längere Sequenzen. Schlüsselworte und – sätze, die ich in der Interpretation aufgreife, habe ich kursiv gesetzt. Ausgewählt habe ich die Interviewsequenzen nach folgenden Kriterien. Mein Ziel war es, ein möglichst weites Spektrum individueller Erinnerungsarbeit darzustellen. Mein Sample ist jedoch nicht repräsentativ für die internen Strukturen der Paroikies. Vielmehr ging es mir darum Reflexionen von Personen zu analysieren, die aus unterschiedlichen Sprechpositionen artikuliert 166

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

wurden. Unter Sprechpositionen verstehe ich, dass meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen aufgrund ihres Alters, Geschlechts, ihres sozialen und ökonomischen Hintergrund, ihrer Haltung zur Paroikia und zur Daschnak und den damit verbundenen unterschiedlichen Erfahrungshintergründen auch unterschiedliche Sichtweisen auf den Genozid entwickelten. Im letzten Kapitel wurde deutlich, dass die ritualisierte kollektive Erinnerungsarbeit von männlichen Daschnak-Aktivisten dominiert ist. Um zu zeigen, dass die Erinnerungsarbeit an den Genozid nicht nur für sie identitätsstiftende Bedeutung hat und Frauen eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Funktion in der Erinnerungs- und Identitätsarbeit haben, kommen hier überproportional viele Frauen zu Wort. Trotz der unterschiedlichen Sprechpositionen wiesen die Reflexionen eine ähnliche thematische Ordnung auf. Alle meine Interviewpartnerinnen und Interviewpartner reflektierten darüber, was der Genozid für ihre Identität als Armenier bedeutete. Damit äußerten sie auch gleichzeitig Zustimmung und Kritik an den Imaginationen kollektiver armenischer Identität, wie sie in der offiziellen Erinnerungsarbeit der Paroikia ausgedrückt wurden. Dabei entwarfen sie alternative Konstruktionen von Gemeinschaft, die zum Teil in einem widerständigen Verhältnis zu dominanten Diskursen in der Paroikia standen. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird jedoch deutlich werden, dass diese nicht die gleiche Reichweite und Autorität haben wie die offizielle kollektive Erinnerungsarbeit in der Paroikia. Reflexionen über die moralischen und politischen Konsequenzen des Genozids bildeten einen weiteren gemeinsamen Themenkomplex. Alle meine Gesprächspartnerinnen fragten sich x nach dem moralisch richtigen Verhältnis zu den Nachfahren der Täter, den Türken; x ob die offizielle Erinnerungsarbeit dem Genozidgedenken moralisch und politisch angemessen ist und x ob die Daschnaktsutiun in der beanspruchten Rolle einer legitimen Vertretung armenischer Interessen anzuerkennen oder zu kritisieren ist. Die weitere Struktur des Kapitels folgt Ähnlichkeiten der biographischen Positionen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. In den ersten drei Unterkapiteln analysiere ich Interviews mit Personen, die ledig waren und keine Kinder hatten. Sie waren, bis auf Ruben, Angehörige der dritten Generation und gehörten der Altersgruppe der bis zu 35jährigen an. Die in der Traumaforschung übliche Einteilung in eine Erlebnisgeneration, die als erste Generation bezeichnet wird und davon ausgehend in zweite bis vierte Generation war in Bezug auf eine Kategorisierung meiner Gesprächspartner- und Gesprächspartnerinnen problematisch. Die Erlebnisgeneration und damit alle nachfolgenden Generationen umfassten Personen, die unterschiedlichen Altersgruppen angehörten und daher auch unterschiedliche Erfahrungshintergründe hatten. Rubens Vater hatte die Deportationen als Kind erlebt, war also Angehöriger der Erlebnisgeneration, wodurch Ruben ähnlich wie Takuhi 167

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Atamian zur zweiten Generation gehörte. Ruben setzte sich im Hinblick auf sein Alter und seine Lebenssituation jedoch in Beziehung zu Angehörigen der dritten Generation. Eine Einteilung in Generationskategorien ist meiner Ansicht nach also nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig die Altersgruppenzugehörigkeit einer Person berücksichtigt wird. Kapitel 6.4 bildet eine Schnittstelle in der Struktur des Kapitels. Dort analysiere ich am Beispiel einer Familiendiskussion mit der Familie Kassapian, wie sich Generationsarbeit innerhalb der Familie vollzieht. Außerdem wird offensichtlich, dass für Armenuhi Kassapian die Auseinandersetzung mit dem Genozid zentral für ihre soziale Rolle als Mutter war. Diese Auseinandersetzung beschäftigte auch Takuhi Atamian (Kapitel 6.5) und Isabella Turoni (Kapitel 6.6), die ebenfalls aus einer biographischen Position als Angehörige der zweiten Generation und als Mütter sprachen. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Positionen in der Paroikia und starker Differenzen in Bezug auf die kollektive Erinnerungsarbeit der Daschnak identifizierten sich alle drei Frauen mit der ihnen von der Daschnak zugewiesenen Rolle als Verantwortliche für die Übertragung der Genoziderfahrung und damit für die kulturelle Reproduktion der armenischen Gemeinschaft im Exil. In diesem Zusammenhang wird deutlich werden, dass die individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit immer sowohl geschlechts- als auch generationsspezifisch strukturiert ist.

6.1

Lusine, Anusch und Shushan – Der Genozid als ein „großer Kopfschmerz“

Lusine (23 Jahre), ihre Schwester Anusch (18) und deren gemeinsame Freundin Shushan (18) gehörten zum Zeitpunkt unseres Gespräches zu dem kleinen Kreis jugendlicher Aktivisten der Paroikia Thessalonikis. Während Lusine ihr Studium bereits abgeschlossen hatte und berufstätig war, bereiteten sich Anusch und Shushan auf das Abitur vor. Alle drei hatten eine „idealtypische Sozialisation“ innerhalb der Institutionen der Paroikia durchlaufen: Als Kinder besuchten sie die armenische Schule und traten dann in den Baternakan (Kinderorganisation der Daschnak) und später in den Jerdazadats/Neolaia (Jugendorganisation der Daschnak) ein. Als Mitglieder der DaschnakJugendorganisation waren sie aktiv an der Gestaltung und Umsetzung der ritualisierten Erinnerungsarbeit beteiligt; Anusch war zum Zeitpunkt unseres Interviews sogar Vorsitzende des Jerdazadats und hatte in dieser Eigenschaft auf der politischen Zentralveranstaltung der Partei 1996 eine flammende Rede gehalten. Ihre Schwester Lusine hatte dieses Amt im Jahr zuvor vertreten. Dennoch bezeichneten sich die drei Freundinnen als chezok, politisch neutral. Sie beschrieben ihre Mitgliedschaft in einer parteilich gebundenen Organisation als das Resultat mangelnder Alternativen und betonten, dass sie eine parteipolitisch unabhängige Vereinigung bevorzugt hätten. Die enge Bindung der Schwestern Lusine und Anusch zu Shushan entstand bereits während ihrer Zeit in der armenischen Schule. Sie wurde ihrer 168

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Ansicht nach durch einen ähnlichen Familienhintergrund vertieft. Die jungen Frauen stammten aus interethnischen Ehen, ihre Mütter waren Griechinnen. Im Hinblick auf die politische Orientierung wiesen ihre Herkunftsfamilien jedoch Unterschiede auf. Lusines und Anuschs Vater war eingetragenes Mitglied der Daschnak. Allerdings rechneten seine Töchter ihm hoch an, dass er nicht „fanatisch“ sei und auch niemals versucht habe, sie zu „fanatisieren“. Shushans Vater dagegen, der bereits vor einigen Jahren verstorben war, war ein Anhänger der Ramgavar. Ihre Mütter, die eine enge Freundschaft verband, engagierten sich ebenfalls in der Paroikia, waren jedoch nicht parteilich gebunden. Beide Frauen wurden in der Paroikia als die „berühmten Ausnahmen der Regel“ angeführt, dass interethnische Ehen zwangsläufig zum Verlust armenischer Identität bei den Kindern führen müsse. Wie in Projekten nationaler und ethnischer Identitätspolitik üblich, sehen auch Armenier die Rolle von Müttern als zentral für die Weitergabe armenischer Identität und damit für den Fortbestand der armenischen Nation an. Da armenische Identität ohnehin als eine von der Assimilierung, dem weißen Genozid, bedrohte Identität gedacht wurde, standen vor allem diese „ethnisch nicht reinen“ Mütter unter einem besonderen Druck bei der Weitergabe ethnischer Werte und Normen. Unser Gespräch über den Genozid wurde im Rahmen eines längeren Interviews durch meine Frage nach dem Einfluss des Genozids initiiert.116 Lusine beantwortete diese Frage stellvertretend für die beiden anderen auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise: „Großes Kopfweh, vor allem in der Zeit des Aprils, wenn wir festlegen müssen, was wir tun wollen. (alle lachen)“ (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 39)

Lusines Antwort fällt aus dem Rahmen. Sie antwortet mit Ironie und spielt mit ihrer Antwort. Ich habe nach dem Einfluss des Genozids auf ihr Leben gefragt – eine Frage, die bei anderen – so auch später bei Lusine – eine längere Reflexion über ihre Identifikation mit dem Ereignis von 1915 anstieß. Hier bezieht sie ihre Antwort – wohlwissend, das dies eine Irritation auslösen wird – eben nicht auf diese Bedeutungsebene, sondern auf die Probleme, die ihr die Organisation der Gedenkveranstaltungen bereitet. Was von außen als eine mehr oder weniger unproblematische Gedenktradition erscheint, ist aus der Position von Lusine als Angehörige der Neolaia offenbar mit Entscheidungsproblemen und Ambivalenzen verbunden. Aus dem Satz „wenn wir festlegen müssen, was wir tun wollen“ spricht eine spannungsvolle, ambivalente Haltung gegenüber der ritualisierten Erinnerungsarbeit, für deren Gestaltung die jungen 116 Da das Interview eine lebhafte Gruppendiskussion war, fielen sich die Interviewpartnerinnen häufig gegenseitig ins Wort oder redeten gleichzeitig. Daher brechen Sätze in der Transkription dann mit (...) ab, wenn aus dem Stimmengewirr keine sinnvolle Aussage rekonstruiert werden konnte. Darüber hinaus hatte vor allem Shushan auch noch die Angewohnheit, ihre Sätze unbeendet im Raum stehen zu lassen, so dass ihre Aussagen häufig einen sehr vagen, flüchtigen Charakter haben.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Frauen mit verantwortlich sind. Gleichzeitig deutet sich hier auch ihre ambivalente Haltung zu einer Instanz an, die ihr Wollen und Tun beeinflussen kann. Diese ambivalente und spannungsvolle Haltung zog sich durch das ganze Interview. Lusines ironische Antwort und das Lachen der beiden anderen ist aber auch der Versuch einer emotionalen Distanzierung zu der belastenden Thematik des Genozids. Denn bis dahin war unser Gespräch lebhaft und häufig auch amüsant verlaufen. Die Frage nach dem Genozid bedeutete einen Bruch in der Leichtigkeit unseres Gesprächs. Nachdem die Mädchen gelacht haben, geht das Gespräch sehr ernsthaft weiter. Identifikation mit dem Genozid Jede einzelne bringt nun schnell ein Statement hervor, das ihre Identifikation mit den Genozid unter Beweis stellt und das Bedeutungsfeld Genozid umreißt. Die distanzierende, fast schon „ketzerische“ Wirkung des Lachens wird damit aufgehoben: Shushan: Anusch: Lusine: Susanne: Shushan: Anusch: Lusine: Anusch:

Das ist eine (unverständlich)117 Sache. Ja das ist das, was ich am einprägsamsten erinnere von der Geschichte. Ich weiß nur sehr wenig, aber das ist das offenkundigste. Ja, das ist das jüngste Ereignis. Glaubst Du, dass es etwas ist, was Dich am Armeniertum hält? Ja genau, es ist eine der wichtigsten Sachen für die wir kämpfen. Ja. Die Anerkennung des Genozids durch die Türken, wie das durch Deutschland geschehen ist, im zweiten Weltkrieg. Es ist schlimm, dass ich das sage, aber es ist eine Art und Weise, besser ein Mittel, ein sehr wahrhaftiges Mittel, um den anderen zu sagen, was sie Schlimmes gemacht haben. (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 39)

Der Genozid ist kein Kopfschmerz mehr, sondern all das, was er dominanten Repräsentationen zufolge sein sollte: Für Anusch ist er das einprägsamste Ereignis der armenischen Geschichte, das ihr am offenkundigsten die Essenz armenischer Geschichte und Identität vor Augen führt. Lusine sieht den Genozid als das jüngste Ereignis der armenischen Geschichte, also als das Ereignis, das ihr zeitlich am nächsten ist. Auch sie sieht dabei eine Ereigniskette vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen, in der der Genozid im Vergleich zu den anderen Kettengliedern eine besondere Position hat. Herausragende aktuellere Ereignisse wie das Erdbeben, die Unabhängigkeit Armeniens 1991 und der Krieg in Nagorno-Karabach sind offenbar weniger dazu geeignet die Essenz armenischer Geschichte zu symbolisieren als der Genozid. Die traumatischen Erfahrungen des Genozids sind für die jungen Frauen also der Referenzpunkt 117 Obgleich Shushans Statement unverständlich ist (siehe vorhergehende Anmerkung), ist es mir wichtig zu zeigen, dass alle drei eine Erklärung über ihr Verhältnis zum Genozid abgeben.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

armenischer Geschichte und Identität, auf den sich alle anderen Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart beziehen sollten. Gleichzeitig bietet der Genozid ihnen aber auch eine Handlungsorientierung für gegenwärtige und zukünftige kollektive Aktivitäten, die Armenischsein ausmachen. Diese kollektiven Handlungen sind für sie im Sinne der politischen Ideologie der Daschnak definiert. Für Shushan ist der Genozid „eine der wichtigsten Sachen für die wir kämpfen“. Lusine definiert diesen Kampf genauer als einen politischen Kampf um die legale „Anerkennung des Genozids durch die Türken“. Anusch dagegen bricht mit diesen Statements unproblematischer Identifikation. Denn in ihren Augen ist der Genozid, genauer gesagt, die öffentliche Beschwörung der Erinnerung an den Genozid, ein „Mittel, um den Anderen zu sagen, was sie Schlimmes gemacht haben“. Diese Anderen bleiben unbestimmt und generalisiert. Es sind eben nicht nur die Türken, sondern generell die Anderen, d.h. alle Nicht-Armenier, von denen Anusch ein Eingeständnis der Schuld erwartet. Gleichzeitig bleibt unklar, worin diese Schuld bzw. das Schlimme besteht. Wäre der Genozid das „Schlimme“, das anerkannt werden müsste, dann wäre die Berufung auf den Genozid kein Mittel zum Zweck. Vielmehr bezieht sich Anusch hier auf stereotype Selbst- und Fremddefinitionen armenischer kollektiver Identität und damit gleichzeitig auf stereotype Strukturierungen der Beziehungen zwischen Armeniern und Nicht-Armenier: Armenier sind die Opfer, denen von allen Anderen Schlimmes angetan wurde. Aber – und damit wird der Genozid für Anusch zum Mittel – werden Armenier überhaupt wahrgenommen, wenn nicht als Opfer, fragt sie sich. Ist eine Beziehung zu den Anderen überhaupt denkbar, die losgelöst ist von der Opferrolle und der Ohnmacht der Armenier einerseits und der Überlegenheit, Schuld und dem Mitleid der Anderen andererseits? Dieser Diskurs von Opfersein, Ohnmacht und Verrat durch die mächtigen Nationalstaaten durchzieht auch die armenische Historiographie. Er gehört ebenso untrennbar zur offiziellen Repräsentation armenischer Identität wie die Berufung auf den Genozid als Identifikationspunkt kollektiver Identität. Eng damit verbunden war zumindest bis zur Unabhängigkeit der Republik Armenien 1991 die von vielen Armeniern empfundene Diskrepanz zwischen ihrem Selbstverständnis als „Nation im Exil“ einerseits und der weltpolitischen Ordnung, die einen Nationalstaat Armenien nicht vorsah, andererseits. Gerade für meine älteren Gesprächspartner waren damit zum Teil auch bittere Erinnerungen an Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung verbunden, die sich aus ihrem problematischen Aufenthaltsstatus als heimatlose Flüchtlinge in Griechenland ergaben. Besonders aussagekräftig wird dieser Diskurs durch eine metaphorische Erzählung beschrieben, die in der gesamten armenischen Diaspora zirkuliert. Ebenso wie die Geschichte von Vartan und Erzählungen über den Genozid kann diese als projektive Erzählung verstanden werden, die Ereignisse in der Gegenwart deutet und in einen kausalen Zusammenhang mit Ereignissen und Erfahrungen der Vergangenheit bringt. Auf diesen Punkt komme ich später noch einmal zurück, wenn ich die Reaktionen der jungen

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Frauen auf das Eingreifen der griechischen Polizei während der Demonstration interpretiere. Die projektive Erzählung von Ohnmacht und Verrat lautet folgendermaßen: Im Jahr 1878 nahm der Patriarch des armenischen Millets im osmanischen Reich Khrimian an der Berliner Konferenz teil, um dort die armenischen Forderungen nach Reformen gegenüber den europäischen Großmächten zu vertreten. Den Misserfolg seiner Mission beschrieb er mit einer metaphorischen Erzählung: Die Konferenz in Berlin sei ein Harissa-Essen (armenisches Nationalgericht) gewesen, bei dem alle Gäste – damit meinte er die Gesandten der europäischen Großmächte – mit eisernen Löffeln gegessen hätten und nur er mit einem Löffel aus Papier. Besondere Aktualität hatte diese Metapher des eisernen Löffels für armenische Terroristen in den 1970er und 1980er Jahren. Am Beispiel dieser projektiven Erzählung wurde diasporaweit über die Legitimität von Terroranschlägen diskutiert. Die ASALA gab Mitte der 1980er Jahre in Athen und Beirut ein Magazin mit dem Namen Yergateh Sherep (eiserner Löffel) heraus (vgl. Tölölyan 1991: 175). Auch meine Gesprächspartner bezogen sich häufig explizit auf diese Metapher, um mir die Machtdifferenz zwischen der armenischen Diaspora bzw. dem wirtschaftlich schwachen armenischen Nationalstaat und den Anderen – den mächtigen Nationalstaaten – zu verdeutlichen. Wesentlich häufiger wurde dieser Diskurs von Ohnmacht und Verrat jedoch implizit artikuliert wie bei Anusch. Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs tauchte dieser Diskurs als unterliegender Text der Erzählungen immer wieder auf. Die drei Freundinnen steckten in ihren ersten kurzen Erklärungen den Rahmen für die weitere Diskussion über ihre Position zum Genozid und die ritualisierte Erinnerungsarbeit ab. Die zentralen Themen kündigten sich bereits in dieser kurzen Sequenz an: Ihre Erklärungen waren stark beeinflusst von den dominanten Diskursen der kollektiven Erinnerungsarbeit. Gleichzeitig hatten sie eine ambivalente und problematische Beziehung zur Daschnak. Auch das Gefühl von Ohnmacht und Verrat beschäftigte sie weiterhin. Außerdem wird bereits in dieser Eingangssequenz deutlich, dass der Genozid für die jungen Frauen in erster Linie ein politisiertes Thema ist. Im Gegensatz zu vielen anderen meiner Gesprächspartnerinnen war der primäre Übertragungskontext der Genoziderzählungen für sie nicht die eigene Familie, denn „sie hatten keine Verwandten, die das durchgemacht haben“, sondern die Paroikia. Bei Lusine und Anusch spielte außerdem noch eine Rolle, dass ihre Beziehungen zu den Großeltern väterlicherseits ohnehin gespannt waren, da diese die Heirat ihres Sohnes mit einer Griechin ablehnten. Ihre Identifikationen mit dem Genozid sind also in erster Linie durch Unterweisungen in der Paroikia bzw. Erzählungen über anonyme armenische Opfer und nicht über Familienangehörige hergestellt worden. Dennoch hat der Genozid für alle drei eine emotionale Sonderstellung.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Die emotionale Sonderstellung des Genozids Der Genozid ist nicht irgendein politisches Thema, sondern – wie Lusine es formuliert – „eines der wenigen Themen, die mich in Zorn geraten lassen“ (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 39). Für ihre Schwester Anusch ruft der Genozid dagegen die gegenteilige Emotion zu Zorn hervor, nämlich Trauer: „Es (der Genozid) erinnert Dich daran, gemeinsam zu trauern.“ (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 39). Sie stellt nicht die politische Dimension in den Vordergrund. Vielmehr empfindet sie den Genozid als Ereignis, das gemeinschafts- und identitätsstiftend wirkt, weil es bei allen Trauer auslöst. Diese Emotionen – Trauer und Zorn – die die jungen Frauen in Bezug auf den Genozid empfinden, sind wie emotionale Entsprechungen zu den Gegenpolen, die die Rede und ritualisierte Erinnerungsarbeit des Genozids bestimmen: Das ohnmächtige, sinnlose Leiden der Opfer, das zumindest in den Ritualen in ein heroisches Sich-Opfern und aktiven Widerstand umgedeutet wird. Auf emotionaler Ebene gehören Trauer und Zorn zusammen – Gefühle lassen sich jedoch nicht so ohne weiteres umkehren. Wie kommen diese Gefühle zustande und wie erklären mir Lusine, Anusch und Shushan diese emotionale Sonderstellung des Genozids? Lusine: Shushan: Lusine:

Anusch:

Lusine:

(...) etwas das wir schon sehr früh erfahren haben ... Ja genau, wir wissen nur sehr wenig, aber das wenige reicht, weil wir wissen dass 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen sind, dass sie uns einige Gebiete abgenommen haben (...) Allgemein lassen sie Dich das Thema nicht mit Ausgeglichenheit sehen, dass heißt, Shushan hat gerade gesagt, ums Leben gekommen. Ich denke, wenn das jemand anderer gesagt hätte, den hätte ich korrigiert, da hätte ich gesagt, massakriert worden, grauenvoll ermordet worden. Du verwendest bedeutungsvollere Worte, um das, was geschehen ist, hervorzuheben. Wenn Du darüber nachdenkst, dann schaudert es Dich. Als mein Vater mit einer Gruppe nach Der-es Zor gefahren ist, dort in der Wüste, wo sie sie haben sterben lassen, und er sagte, wir haben so in der Erde gemacht (führt wischende Handbewegung aus) und fanden Knochen. Cheee (Ausdruck des Entsetzens, Ekels) wenn ich das höre, das ist unvorstellbar, weißt Du, dass heißt, Deine Stimme zittert, wenn Du daran denkst. Und Du sagst, es ist ein Wunder, dass ich existiere. Und Du denkst das auch umgekehrt, weißt Du, wenn es den Genozid nicht gegeben hätte, dann wären unsere Vorfahren nicht nach Griechenland gekommen, dann hätten sie sich nicht kennen gelernt, sagen wir mal, dann wäre das, was geschehen ist nicht geschehen, also würde es mich nicht geben. Oder, sagen wir mal, wenn diese Dinge nicht geschehen wären, wäre ich dann ich, sagen wir mal, weißt Du, Du siehst das Thema mehr von Anfang an, Du verbindest es mit Dir und Deiner persönlichen Geschichte. (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 39-40)

Lusine weist darauf hin, dass ihre Identifikation mit dem Genozid schon früh einsetzte. Sie spricht nun nicht mehr nur für sich, sondern verwendet das kollektive „Wir“. Ob sie damit für ihre Schwester und Freundin spricht, für ihre 173

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Altersgruppe oder aber für die armenische Nation bleibt undeutlich. Shushan betont, dass der besondere Stellenwert des Genozids sich nicht aus dem „Wissen“ darüber ergebe. Denn das eigentliche Wissen über den Genozid sei gering. Das Wenige was man wissen muss, sind die zentralen Aussagen der kollektiven Erinnerungsarbeit: die symbolische Zahl der 1,5 Millionen Toten und der Verlust der Gebiete. Ausschlaggebend ist für Shushan, die ebenfalls aus der Position eines nicht näher definierten „Wir“ spricht, nicht das Wissen über den Genozid, sondern die Emotionen und Affekte, die mit dem Genozid verbunden sind. Mit Wissen meint sie ein gefühltes, emotionales Wissen um die Bedeutung des Genozid und nicht das Wissen um historische Fakten und Abläufe. Um den Genozid wissen ist also gleichbedeutend mit den Genozid fühlen. Lusine greift dies auf und weist darauf hin, dass sich für sie diese emotionale Dimension auch in der Rede über das Thema spiegelt. Denn über den Genozid könnte man nicht mit herkömmlichen, beliebigen und passiven Ausdrücken wie „ums Leben gekommen sein“ reden. Stattdessen müssten spezifische bedeutungsvollere Worte wie „massakriert, grauenvoll ermordet“ verwendet werden, die sowohl die Täterschaft der Türken bezeugen als auch auf die brutale, unmenschliche Praxis der Tötung aufmerksam machen. 1,5 Millionen Tote lassen Lusine das Thema nicht „mit Ausgeglichenheit“ sehen. Für Lusine ergibt sich diese spezifische Rede über den Genozid aus ihren Emotionen – ihre Worte spiegeln ihre Emotionen wider. Ich möchte jedoch argumentieren, dass die Art und Weise wie über den Genozid geredet wird, auch zu einer Emotionalisierung führt, indem spezifische emotionsgeladene Worte verwendet werden. In der Alltagsrede über den Genozid werden ebenso wie in der kollektiven Erinnerungsarbeit spezifische linguistische Kodes verwendet. Maurice Bloch (1989) hat die Bedeutung dieser Kodes im Zusammenhang mit Ritualen untersucht. Er argumentiert, das weniger das, was gesagt wird, bedeutsam für die Entfaltung von Ritualen als Machtmittel ist, als die Art und Weise, wie etwas gesagt oder ausgeführt wird. Diese Argumentation lässt sich auf die Rede über den Genozid übertragen. Anusch weist auf ein weiteres Mittel der Emotionalisierung hin: Die Reise in die Wüste nach Der-es-Zor, wo sich das Grauen des Genozids bis heute in den Knochen der Opfer materialisiert. Diese Reise habe ich im vorhergehenden Kapitel 5.4.1 ausführlich als eine kreative kommemorative Strategie analysiert, mit der vor allem Angehörige der jüngeren Generation affektiv und emotional an den Genozid gebunden werden sollen. Auch für Anusch wird das „Wissen“ (Fühlen) über das Grauen des Genozids besonders in der Erzählung ihres Vaters über seine Fahrt nach Der-es-Zor fassbar. Fühlbar wird das mit dem Genozid verbundene Gefühl des Grauens für Anusch durch das Bild der in der Wüste herumliegenden Knochen der Ermordeten. Dieses Bild ist für sie mit ihrer Existenz, ihrer Identität verbunden. Denn angesichts dieses konkreten Bildes des Völkermordes empfindet sie „es als ein Wunder, dass ich existiere“. Anusch, die zu Beginn der Interviewpassage explizit darauf hingewiesen hat, dass sie keinen familiären Bezug zum Genozid hat, identifiziert 174

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

sich und ihre Familie durch das konkrete Bild der Knochen völlig mit den Opfern des Genozids. Ihre Schwester Lusine greift dieses Gedankenspiel auf und setzt es in „umgekehrter Reihenfolge“ fort. Für sie ist ihre Existenz nicht ein Wunder trotz des Genozids, sondern paradoxerweise sieht sie den Völkermord als Grundlage für ihre Existenz und ihre Identität. Sie denkt, „wenn es den Genozid nicht geben hätte (....), würde es mich nicht geben“. Denn ohne den Genozid wären ihre Eltern nicht nach Griechenland gekommen, hätten sich also niemals kennen gelernt und sie wäre nicht geboren worden. Oder aber sie wäre zwar geboren worden, aber nicht sie selber, „wenn diese Dinge nicht geschehen wären, wäre ich dann ich?“. Obwohl Lusine das Gedankenspiel über ihre Existenz und den Genozid auf unterschiedliche Art und Weise weiterspinnt als Anusch, zeigen beide Überlegungen eine Gemeinsamkeit: Der Genozid ist für beide Mädchen ein existenzielles Ereignis. Denn obwohl es sich über 60 Jahre vor ihrer Geburt abgespielt hat, hat der Genozid ihre Existenz ganz konkret bedroht bzw. ermöglicht. Ihre emotionale Identifikation mit diesem Ereignis ist so stark, dass die Trennung zwischen Individuum, Familie und Nation einerseits und unterschiedlichen historischen Zeiten und geographischen Räumen andererseits aufgelöst wird. In Zusammenhang mit Lusines letzter Äußerung fragte ich danach, ob diese Verknüpfung von Genozid und persönlicher Geschichte nicht belastend und schwierig sei. Lusine sprach in Zusammenhang damit ein weiteres zentrales Thema an, das an mehreren Stellen des Interviews thematisiert wurde – die moralischen und politischen Konsequenzen, die sich aus dem Genozid ergeben. Damit eng verbunden ist einerseits das schwierige und ambivalente Verhältnis zur Türkei und andererseits die Frage nach der moralisch angemessenen und politisch wirkungsvollen Form von Gedenken und Protest. Imaginationen der Türkei zwischen Versöhnungs- und Bedrohungsphantasien Wie für alle meine Gesprächspartnerinnen waren auch für die drei jungen Frauen die Beziehungen zur Türkei ein dominantes Thema, das vor allem in Zusammenhang mit den moralischen und politischen Konsequenzen des Genozids ambivalent diskutiert wurde. Alle drei betonten immer wieder, dass sie keinerlei Hassgefühle gegen einzelne Türken hegen würden. Dabei beriefen sie sich auch auf die offizielle Linie der Daschnak, welche die türkische Regierung, nicht jedoch das türkische Volk für den Genozid bzw. die Leugnung verantwortlich machte. Ihre Äußerungen waren geprägt von den stereotypen Bildern der bedrohlichen Türken, die sich unersättlich Gebiete aneignen. Auch diese Bilder entsprachen den stereotypen Imaginationen der Türken als menschenverachtende, barbarische Völkermörder, die in der kollektiven ritualisierten Erinnerungsarbeit entworfen wurden (vgl. Kapitel 5.2). Andererseits äußerte Shushan jedoch auch Phantasien über die türkischen Anderen, die von einem Wunsch nach Kontakt, Austausch und Versöhnung geprägt waren. Die-

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se Phantasien standen der offiziellen Politik der Erinnerung, mit ihren kämpferischen Untertönen, diametral entgegen: Shushan:

Anusch: Shushan: Anusch: Shushan:

Anusch: Shushan: Anusch:

Shushan: Anusch: Lusine: Shushan:

(...) Aber auf jeden Fall ist es, weißt du, ich erinnere mich, wenn ich das sehe, jedes Jahr wenn wir losgehen (...), und wenn wir diese Sachen zurückfordern. Und ich habe mir wirklich vorgestellt, von klein auf habe ich mir das vorgestellt, dass sie eines Tages die Tür aufmachen und uns alles zurückgeben. Und wenn sie es auch nicht zurückgeben, dass sie einfach aufmachen und uns sagen (...) (fällt ihr ins Wort) ihr habt Recht und wir anfangen zu diskutieren. Aber ok. Das, was Du da sagst, ist mir noch nie eingefallen. Mir ist das sehr viele Male durch den Kopf gegangen und ich erinnere mich, dass ich jedes Mal sehe, es ist, als sehe ich irgendwelche Köpfe drinnen. Und ich hoffe immer, dass sie uns zu dieser Stunde die Tür öffnen. Wie ich schaudern würde, weiß ich nicht ... Ich fürchte das eher ein wenig, ich weiß nicht, Ich fürchte allgemein, fürchte ich den Krieg, das Wort Krieg ist mir sehr stark eingepflanzt, sehr sehr schlecht (...) Ich fürchte mich auch sehr (...) mir macht das alles Angst, mir macht das Angst, ich weiß nicht. Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die möchten, dass irgendetwas passiert, dass sie die Gelegenheit haben zu kämpfen, was weiß ich, irgendwie so, ich habe davor Angst. Ich glaube nicht, dass uns ein Krieg in Griechenland massakrieren würde. Bah (Ablehnung), das glaube ich auch nicht. Ok, das ist sehr (...) Ja sicher es kann schlimmer werden, aber ich glaube, wenn es wieder einen Krieg gibt, so wie es war, brennt Griechenland, absolut schrecklich (ena chali mavra). (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 41-42)

Shushans von der ritualisierten Erinnerungsarbeit abweichende Phantasien werden durch eine spezifische Handlungssequenz während der Rituale ausgelöst: In dem Moment, in dem der Katalog mit den Forderungen an die Tür des türkischen Konsulats in Thessaloniki angeschlagen wird, öffnet sich die Tür. Für Shushan impliziert diese Phantasie weniger die Erfüllung aller politischer Forderungen als das Einsetzen eines Dialogs, das heißt einer ersten Verständigung. Bestandteil ihrer Phantasie ist auch, dass sie sich die generalisierten Anderen – die Türken – als konkrete Menschen vorstellt. Hinter den mit Holzläden und Gardinen geschützten Fenstern des Konsulates, die kaum Einblick gewähren (sollen), meint sie einzelne Köpfe zu sehen, die zu Personen gehören, die ihr dann die Tür öffnen würden. Gleichzeitig scheut sie sich, diese Phantasien weiter zu spinnen. Denn die Vorstellung eines Kontaktes mit einzelnen Türken verursacht ihr ein Schaudern,118 das weniger ein wohliges als ein zurückschreckendes Schaudern ist. 118 Wie die meisten meiner Gesprächspartner war Shushan noch nie einem Türken oder einer Türkin begegnet. Ausnahmen bilden diejenigen, die aus Thrakien kommen, wo ein großer Teil der Bevölkerung der türkischen Minderheit

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Bei Anusch löst Shushans Phantasie eine diffuse Angst aus, die sie zunächst nicht konkret benennen kann und schließlich als eine Angst vor dem Krieg im Allgemeinen bezeichnet. Sie wechselt sehr abrupt von Shushans Phantasien der Versöhnung und Verständigung mit den türkischen Nachbarn zur Vorstellung einer Zerstörung Griechenlands durch die Türkei. Damit äußert sie eine Angst vor einem militärischen Übergriff der Türkei auf Griechenland, die zum Zeitpunkt meiner Feldforschung ein relevantes Thema in der griechischen Öffentlichkeit war. Unter anderem führten die von den griechischen Medien regelmäßig ausgestrahlten Bilder von Tiefflugübungen der türkischen Luftwaffe über griechisches Territorium, die auf diese Weise die griechische Lufthoheit verletzten sowie jeder Art von militärischer Machtdemonstration des als übermächtig empfundenen Nachbarn dazu, dass viele Menschen – ebenso wie Anusch – eine sehr konkrete Angst vor einem Krieg empfanden. Für Shushan selber und auch für Anusch sind die Versöhnungsphantasien zu bedrohlich. Diese Bedrohung ergibt sich nicht nur dadurch, weil sie der stereotypen Imagination des türkischen Anderen als bedrohlich, barbarisch und unmenschlich zuwiderläuft. Vielmehr kann mit Homi Bhabha argumentiert werden, dass Stereotype über den Anderen grundsätzlich ambivalent sind: „Stereotyping is not the setting up of a false image which becomes the scapegoat of discriminatory practices. It is a much more ambivalent text of projection and introjection, metaphoric and metonymic strategies, displacement, overdetermination, guilt, aggressivity; the masking and splitting of “official“ and phantasmatic knowledge to construct the positionalities and oppositionalities of racist discourse.“ (Bhahba 1994: 81-82)

Die Bedrohung durch die Versöhnungsphantasie verweist auch darauf, dass Schritte der Versöhnung die für die kollektive Erinnerungsarbeit charakteristische Struktur der Beziehung zwischen den Türken als primordialen Völkermördern und den Armeniern als unschuldige, moralisch überlegene Opfern in Fragen stellen würde. Aber auch Anuschs Zerstörungsphantasie, die auf den ersten Blick der kollektiven Erinnerungsarbeit eher entspricht, weist abweiGriechenlands angehört, und diejenigen, die längere Zeit oder häufiger im europäischen Ausland z.B. in Deutschland, England oder Belgien waren, wo es eine größere türkische Bevölkerung gibt. Ihre Schilderungen waren ebenfalls von Ambivalenz geprägt: Zum einen fühlten sie sich bedroht, zum anderen berichteten sie über die kulturellen Gemeinsamkeiten, die sie festgestellt hatten. Diese ambivalente Beziehung zwischen Ablehnung und Annäherung, Hass und dem Wunsch nach Versöhnung war auch charakteristisch für die Reaktionen meiner griechischen und armenischen Freunde nach dem Erdbeben in der Türkei im Sommer 1999. Es kam zu überwältigenden und spontanen Hilfeleistungen und öffentlichen Solidaritätsbekundungen mit den Opfern in der Türkei. Ich hatte den Eindruck, dass es Griechen und Armenier erleichterte ihre festgeschriebenen Rolle zu verlassen und einmal den bedrohlichen Feind in der Rolle des wehrlosen Opfers sehen und in die Rolle der Wohltäter schlüpfen zu können.

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chende Elemente auf. In der ritualisierten Erinnerungsarbeit werden projektive Erzählungen und regulative Biographien in Szene gesetzt, deren zentrale Elemente kämpferischer Widerstand und heldenhaftes Märtyrertum sind. Anusch dagegen macht die Vorstellung von Kampf einfach Angst. Das ambivalente Verhältnis zu Griechenland Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch die starke Identifizierung der jungen Frauen mit Griechenland. Die empfundene Bedrohung durch die Türkei richtet sich nicht spezifisch gegen Armenier und Armenien, sondern explizit gegen Griechenland. Während es bei Shushans Aussage, dass sie „für uns in Griechenland“ kein Massaker befürchtet, nicht deutlich wird, wen dieses „uns“ einschließt – ob nur die Frauen, die Armenier oder alle Menschen, befürchtet Anusch für ganz Griechenland etwas „absolut schreckliches“. Kurz vorher in unserem Gespräch hatten sich die Mädchen stark von Griechenland abgegrenzt, als sie darüber berichteten, wie der Demonstrationszug 1996 von der griechischen Polizei überraschend gestoppt und nicht zur Tür des türkischen Konsulates vorgelassen wurde (vgl. Kapitel 5.4.2): Shushan:

Anusch: Shushan: Anusch: Susanne: Shushan: Anusch: Shushan: Anusch: Shushan: Anusch:

(...) im April, wenn wir die Veranstaltungen machen, wir gehen jedes Mal zum türkischen Konsulat, und sie ließen uns nicht, ich war sehr wütend über diese Sache. Weil das der einzige Tag ist an dem wir, wir (...) (fällt ihr ins Wort) protestieren können Ja bravo, protestieren können und eine Erklärung abgeben können. Warum sie uns nicht gelassen haben? Ja. Das wissen wir nicht genau, einige sagen, haben gesagt (...) Interessen, Interessen (...) Nicht für die Armenier, für unterschiedliche Ereignisse, die jedes Mal passieren. Für Zypern zum Beispiel, und wenn wir protestieren, weißt Du, dann sind das kleine Umstände usw.; wenn das allgemeine politische Klima in ganz Europa ohnehin schon belastet ist, so umgehst Du z.B. (...) (fällt ihr ins Wort) Zum ersten Mal sind alle Kanäle, Fernsehsender dorthin gekommen, sie haben uns erwartet, daher haben sie es gewusst. Das macht das Thema dann natürlich besser verkäuflich, was weiß ich. Das ist vielleicht gut für uns für, das sie für uns Initiative ergreifen, aber genau sie haben uns erwartet. (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 40)

Wie ich im vorhergehenden Kapitel gezeigt habe, ist ein zentrales Element der öffentlichen Erinnerungsarbeit, dass eine Übereinstimmung armenischer und griechischer Interessen durch die Betonung der gemeinsamen Feindschaft mit der Türkei konstruiert wird. Die Herstellung einer Schicksalsgemeinschaft ermöglicht eine Performanz armenischer nationaler Identität, die vom griechischen Nationalstaat nicht als Bedrohung oder Loyalitätsbruch aufgefasst wird. Die von den Mädchen geäußerte Erbitterung drückt einerseits das Gefühl von 178

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Machtlosigkeit aus, denn sie wissen nicht, „warum sie uns nicht gelassen haben“ und andererseits von Verrat. Zwar wird von armenischer Seite alles getan um – zumindest öffentlich – keinen Dissens mit griechischen Interessen aufkommen zu lassen. Der griechische Nationalstaat dagegen nimmt keinerlei Rücksicht auf armenische Interessen, selbst dann nicht, wenn es sich – wie Shushan und Anusch es ausdrücken – um den „einzigen Tag im Jahr“ handelt, an dem Armenier öffentlich „protestieren“ und „eine Erklärung abgeben können“. Die letzten Sätze der Interviewpassage zeigen darüber hinaus, dass die Identifikation der Mädchen mit einer armenischen Opferidentität mit ambivalenten Emotionen und Überlegungen verbunden ist. So ist das Gefühl von Enttäuschung und Verrat durch den griechischen Nationalstaat besonders spürbar in Shushans Einwurf, dass erstmals alle Fernsehsender gekommen seien, um die Inszenierung armenischen Protestes, d.h. armenischer Stärke – zu dokumentieren. Anusch wirft ein, dass im Hinblick auf die Gesetze der Medienwelt eine Konfrontation mit der griechischen Polizei das „Thema verkäuflicher mache“. Während Shushan ihren Emotionen Ausdruck verleiht, argumentiert Anusch zunächst aus der Perspektive einer strategischen Identitätspolitik, die sich an den Gesetzmäßigkeiten der Mediengesellschaft orientieren muss, will sie erfolgreich sein. In der Mediengesellschaft werden nur diejenigen Ereignisse zu Nachrichten, die aufgrund ihrer Spektakularität erfolgreich um Sendezeiten und Headlines konkurrieren können. Eine protestierende armenische Minderheit, die in Konflikt mit der griechischen Polizei gerät, ist spektakulärer als eine geordnete und friedliche Demonstration. So bezeichneten die Verantwortlichen des Armenischen Nationalkomitees diese ungeplante Entwicklung der Demonstration mir gegenüber als einen „scheinbaren Rückschritt“, da die armenische Frage aufgrund der Auseinandersetzungen viel mehr Sendezeit in den Medien bekommen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzielt habe. Aber auch Anusch wechselt wiederum auf die emotionale Ebene indem sie sich auf Shushans Äußerung bezieht und bestätigt enttäuscht, „genau sie haben uns erwartet“. Das Verhältnis zur Daschnak zwischen Widerspruch und Anerkennung Im Zusammenhang mit der Demonstration vor dem türkischen Konsulat thematisierten die jungen Frauen abermals ihr Verhältnis zur Daschnak. An mehreren Stellen in unserem Gespräch hatten sie, trotz ihrer Mitgliedschaft in der armenischen Jugend, ihre Distanz zur Ideologie der Daschnak geäußert, sich als chezok (politisch neutral) bezeichnet und die Mittel kritisiert, mit denen die Daschnak ihre ideologische Vorherrschaft in der Paroikia behauptet. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Artikulation des Genozidgedenkens erkannten sie die Daschnak jedoch in deren Selbstbild als die legitime, widerständige und kämpferische Vertreterin der armenischen Sache an. Lusine fasste dies in folgende Worte:

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA „Die Art und Weise wie sie (die Daschnak) mit dem Problem (der Anerkennung des Genozids) umgehen und das Problem mit dem Wandel und damit, dass die Zeit vergeht. Ok, ich glaube die Daschnaktsutiun ist die Partei, die, was diese Sache anbelangt, den meisten Widerstand leistet. Das heißt, sie ist die Partei, die am meisten kämpft (...) sagen wir mal mit kämpferischeren Methoden und mit direkteren Methoden (kämpft sie für ) die Anerkennung des Genozids. Das heißt, die anderen Parteien sind da zurückhaltender, sie sagen, zu dieser Frage, um dieses Mal vorwärts zu kommen, lassen wir die Vergangenheit und alles andere.“119 (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 40)

Obwohl Lusine damit die dominante Stellung der Daschnak in der Identitätspolitik anerkennt, ist ihre Haltung gegenüber den Demonstrationen doch ambivalent, wie unsere weitere Diskussion zeigte: Susanne: Lusine: Anusch: Lusine: Anusch: Lusine: Shushan: Anusch: Shushan:

Ich erinnere mich daran, dass Ihr sehr heftige Worte gerufen habt. Ich war nicht da, aber ok allgemein (...) In diesen Augenblicken bist Du ein wenig (...) Das kann Dir dann schon mal in den Sinn kommen. Auch wenn ich mich daran erinnere, dass ich letztes Mal sehr gehemmt war, andere Male hat mir das nichts ausgemacht. Ich bin das immer, mir gefällt diese Art des Protestes nicht, und in Ordnung, ich gehe immer mit Mühe hin, (...) es gefällt mir nicht. Aber auf der anderen Seite gibt es nichts anderes. Ja. Ja, man müsste jetzt etwas anderes finden, das mehr (...) (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 42-43)

Wie ich bereits im vorhergehenden Kapitel geschildert habe, hatte ich Parolen wie "Feuer, Feuer den Türken", die während der Demonstrationen gerufen worden waren, als aggressiv empfunden. Die emotionale Atmosphäre, die sich durch die Weigerung der griechischen Polizei, die Demonstrierenden bis zur Tür vorzulassen, immer mehr steigerte, wirkte auf mich hysterisch und bedrohlich. Ich verstand damals nicht, woher die Unversöhnlichkeit und Aggressivität herrührten, die ich wahrzunehmen meinte und war vor allem über die Vertreter und Vertreterinnen des Armenischen Nationalkomitees empört. Sie wirkten auf mich wie emotional unberührte politische Strategen, die die Emotionen der Kinder und Jugendlichen für die Medienwirksamkeit des Hay Tad instrumentalisieren. Eine wichtige Rolle in meiner damaligen Einschätzung der Demonstration spielte sicherlich auch meine eher skeptische und ablehnende Haltung der emotionalisierenden Wirkung von Demonstrationen gegenüber, der ich mich selber nicht gerne aussetze. Daher formulierte ich mei119 Der Konflikt zwischen der Regierung Armeniens und der Daschnak-Partei entzündete sich u.a. an der Frage, ob die Türkei den Genozid anerkennen müsse, bevor Verhandlungen aufgenommen werden können. Die Daschnak lehnte Verhandlungen ohne vorherige Anerkennung rigoros ab, während die armenische Regierung in dieser Frage Zurückhaltung übte, da sie die Türkei dazu bewegen wollte, die Wirtschaftsblockade gegen Armenien aufzugeben. Die Ramgavar, als regierungsfreundliche Partei, vertrat ebenfalls diese Ansicht.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

ne Nachfrage nach den Demonstrationen als vorsichtiges Statement, um mir meine ablehnende Haltung nicht anmerken zu lassen, und war umso erstaunter über die ambivalenten Reaktionen der Mädchen. Anusch und Lusine vertreten die Ansicht, dass einem Worte wie „Mörder“, „verbrennt die Türken“ im Moment der konkreten Ausführung des Demonstrierens, das für sie eine sehr emotionsgeladene Handlung ist, „schon mal in den Sinn kommen können“. Dabei erwähnen beide nicht, dass die Parolen von einem Mitglied der armenischen Jugend über ein Megaphon auf eine sehr emotionale Art und Weise skandiert werden. Den jungen Frauen sind die bewusst in Szene gesetzten Elemente des Protestrituals anscheinend weder während der Demonstration noch zum Zeitpunkt unseres Gespräches bewusst gewesen. Sie fühlen sich durch die Kraft des Rituals emotional mitgerissen und handeln daher dementsprechend. Gleichzeitig räumt Anusch jedoch ein, dass sie sich das letzte Mal von der Macht der Emotionen nicht ohne weiteres packen lassen konnte, sie fühlte sich „gehemmt“. Und Lusine betont, dass sie die Demonstrationen, obwohl sie davon emotional ergriffen wird, ohnehin „nie gemocht hat“ und sie nur mit „Mühe“ daran teilnimmt. Diese ambivalente Haltung – sich mitreißen zu lassen einerseits und die Mühe, Hemmungen und Ablehnungen andererseits – verweist auf die Zwischenstellung von Ritualen. Ritualisierte Handlungen sind Prozesse, die von Subjekten einerseits aktiv initiiert werden, von denen Subjekte gleichzeitig aber auch (emotional) erfasst werden. Einerseits werden sie „erfunden“, geplant, inszeniert und ausgeübt, andererseits vollziehen sie sich quasi von selbst, so dass die Akteure – wie die Mädchen – den Eindruck haben, dass ihre Handlungen weitgehend vorgeschrieben sind. Rituale haben damit für das Subjekt gleichzeitig eine ermächtigende und entmächtigende Wirkung (vgl. Wimmer/Schäfer 1998: 10-13). Gleichzeitig verdeutlicht meine Diskussion, dass Rituale durch diese Zwischenstellung sowohl bei den aktiv Beteiligten als auch bei einer unbeteiligten Rezipientin wie mir ihre spezifische emotionalisierende Wirkung entfalten. Denn einerseits war für mich als teilnehmende Beobachterin nicht ersichtlich, dass Anuschs Expressivität während der Demonstration durch ihre Hemmungen beeinträchtigt war. Andererseits hatte ich den Eindruck, dass die Beteiligten sich völlig unbewusst von der Parteiführung instrumentalisieren ließen. Der menschliche Körper ist der Ort, an dem sich die Zwischenstellung von Ritualen entfaltet, um emotionalisierend zu wirken. Anusch und Lusine sind einerseits bewusst an Ritualen beteiligt und lassen sich gleichzeitig unbewusst und sogar gegen ihren eigenen Willen emotionalisieren, wie z.B. durch das Skandieren der Sprüche. Dies führt jedoch nicht dazu, dass sie zu willenlosen Marionetten werden, sondern setzt bewusste Agency (Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit) voraus. Bei aller geäußerten Kritik an der Art und Weise, wie politischer Protest artikuliert wird, kommt Shushan zu der resignierten Aussage, dass es schließlich keine Alternative zu dieser Protestform gebe. Lusine und Anusch bestätigen dies. Die Notwendigkeit eines politischen Protestes wird von den jungen Frauen nicht in Frage gestellt, mit der Art und Weise der Ritualisierung 181

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

sind sie jedoch nicht einverstanden. Auf meine Frage nach Alternativen antworteten sie: Politischer Protest zwischen Zwang und Verpflichtung Susanne: Alle drei: Lusine: Susanne: Lusine:

Anusch: Shushan: Anusch:

Shushan:

Anusch: Shushan:

Habt Ihr darüber nachgedacht? Ja, ja, Ja, wir als Neolaia (Jugendorganisation der Daschnak) müssen diese Demonstration organisieren. War das immer so, dass die Neolaia die Organisation der Paroikia war, die verpflichtet war, an diesem Tag etwas zu machen? Es gibt ein Komitee, ein Komitee das irgendwelche Sachen beschließt und diese Veranstaltungen sind natürlich mit irgendwelchen Arbeiten verbunden. Es sagt: Du machst das, sagen wir mal. Dieses allgemeine Komitee ist einfach für die Koordination verantwortlich. Zum Beispiel, das Armenische Blaukreuz macht die Blutspende, der Hamaskain wird einen Chor organisieren oder was auch immer. Und ok, weil wir in anderen Jahren auch andere Sachen ausprobiert haben, die nicht so erfolgreich waren. Und diese Demonstration, soweit ich weiß, weil ich war nicht hier, die war dieses Jahr erfolgreicher als in den Jahren zuvor, aber das liegt daran, dass das neue Blut der Armenier dazugekommen ist, die jetzt gekommen sind. Oder es kann auch daran liegen, dass wir gesehen haben, dass es im Moment kein anderes Mittel gibt. Aber im Allgemeinen hat die Demonstration als Protestform an Bedeutung verloren. Und wir wollten das nicht machen, aber (...) Bravo, wir wollten nicht. Aber die unseren, die haben uns diese Pflicht auferlegt. Das Schlimme ist, sagen wir mal, wir haben versucht uns eine andere Art und Weise des Protestes auszudenken, aber wir waren dieses Jahr nicht sehr erfolgreich damit. Ich meine, wenn wir entscheiden würden, dass wir diese Demonstration machen oder nicht, das würde schon gehen. Aber eigentlich haben wir keine anderen Ideen. Sie haben uns dazu bestimmt, weißt Du, diese Transparente und diese ganzen Sachen zu machen. Obwohl, an diesem Tag, da habe ich einen Mann gesehen, der Armenier ist, aber der hat eine Griechin geheiratet und der hat so viel demonstriert, er hat geschrieen usw. und normalerweise taucht er nirgendwo auf, noch nicht einmal in der Kirche usw. Wer war das? Der hat, glaube ich, gegenüber von uns an dieser Ecke ein Geschäft, Iourdjian, wie auch immer, aber ich sehe schließlich, dass auch diejenigen, die sich entfernt haben, wenn Du ihnen ein wenig anbietest, sofort (...) (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 42-43)

Die jungen Frauen erleben die Organisation der Demonstrationen als einen Zwang, dem sie sich, da er mit dem moralischen Postulat der Erinnerung an den Genozid verbunden ist, nicht entziehen können und als eine Pflicht, die ihnen vom (Armenischen National-)Komitee auferlegt wird. Dennoch wird die Rolle der Daschnak dabei ambivalent bewertet: Lusine charakterisiert das Komitee als eine Institution, die einerseits zwar die Legitimation besitzt, Be182

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

schlüsse zu fassen, die andere Organisationen der Paroikia umsetzen müssen, andererseits aber nur als Koordinatorin der Genozidgedenkverstaltungen fungiere. Die Demonstration als Form politischen Protestes empfindet sie einerseits als Zwang des ANK und andererseits als eine Artikulationsform, die sich bewährt hat, da sie – im Gegensatz zu anderen Protestformen, auf die Lusine nicht näher eingeht – nach wie vor „erfolgreich“ sei. Dennoch distanziert sich Lusine gleich in zweifacher Hinsicht von der politischen Praxis des Demonstrierens, da sie jede Verantwortung mit der Bemerkung, sie sei nicht dabei gewesen, von sich weist und außerdem zu der Bewertung kommt, dass Demonstrationen als Protestform „im Allgemeinen an Bedeutung verloren haben“. Mit dieser Einschätzung stand Lusine in der Paroikia nicht alleine: Auch andere Gemeindemitglieder und selbst Mitglieder der Führungsriege der Daschnak zweifelten an der Wirksamkeit von Demonstrationen als Mittel der politischen Mobilisierung in der Paroikia. Vertreter der Führungselite diskutierten dies auch vor dem Hintergrund der These eines Generationskonfliktes. Die Führungselite der Paroikia und ganz besonders das ANK setzte sich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung aus Personen zusammen, die während ihrer Mitgliedschaft in der armenischen Jugend in den 1970er/1980er Jahren die Veröffentlichung und Politisierung des Genozidsgedenkens aktiv gestaltet und die Demonstrationen als rebellische, widerständige Artikulation eines politischen Protestes eingeführt hatten. Ihre Jugendzeit war geprägt von einer schwärmerischen Identifikation mit der Studentenbewegung gegen die Junta, Prozessen der Entkolonialisierung, dem Kampf gegen die Diskriminierung der Schwarzen in den USA, den Aktivitäten der PLO gegen Israel und aber vor allem mit dem bewaffneten Kampf armenischer Terrorgruppen in den 1970er und 1980er Jahren. Aus ihrer Sicht war die heutige Jugend zu wenig kämpferisch und politisiert. Ein Mitglied des ANK sagte, sie sei zu „lax“ (xalari) und habe kein politisches Bewusstsein mehr. Während seine Generation für das Hay Tad gekämpft habe, sei die heutige Neolaia kaum zu Demonstrationen zu bewegen. Die Beurteilung der Jugend sowie der kollektiven Erinnerungsarbeit als politisiert war generationsspezifisch unterschiedlich. Denn diejenigen, die in den 1950er und frühen 1960er Jahre Mitglieder der armenischen Jugend waren, nahmen zwar ebenfalls einen Rückgang der Mobilisierungskraft von Demonstrationen wahr, führten dies jedoch nicht auf das mangelnde politische Bewusstsein der heutigen Jugend zurück. Im Gegenteil betonten sie immer wieder, dass die Ziele und Aktivitäten der heutigen Jugendorganisation politische seien, während die Neolaia zu ihrer Jugend eher eine soziale und kulturelle Vereinigung gewesen sei. Andere Mitglieder des ANK kritisierten ebenfalls das aus ihrer Sicht mangelnde politische Bewusstsein, sahen die Gründe jedoch in einer allgemeinen Entpolitisierung der Jugend in Europa, mit der auch griechische und andere Parteien zu kämpfen hätten. Sie verschoben das Problem aus der armenischen Paroikia auf eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz. Trotzdem die Demonstrationen augenscheinlich an Mobilisierungskraft verloren hatten, wurde 183

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

die prinzipielle „Richtigkeit“ von Demonstrationen als Mittel politischen Protestes zumindest mir gegenüber nicht in Frage gestellt. Dass Führungseliten allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen für die Des-Identifikation der Jugend mit der von ihnen propagierten Erinnerungsarbeit verantwortlich machten, kann als eine Strategie interpretiert werden, sich mit Fragen nach Legitimität und Wirkungsweise ihrer Politik nicht auseinandersetzen zu müssen. Im Gegensatz zu den Führungseliten sehen die Mädchen sehr wohl die Notwendigkeit eine andere Form des politischen Protestes zu etablieren. Gleichzeitig beklagen sie jedoch ihren mangelnden Einfallsreichtum und Erfolg: „Wir haben versucht uns eine andere Art und Weise des Protestes auszudenken, aber wir waren dieses Jahr nicht sehr erfolgreich damit.“, formuliert es Anusch.120 Während Lusine die Demonstration als Zwang und Pflicht charakterisiert, die ihnen von den Mächtigen der Paroikia auferlegt wird, sehen Anusch und Shushan mehr eigenen Entscheidungsspielraum. Diesen Handlungsspielraum wüssten sie jedoch nicht zu nutzen, weil „wir keine anderen Ideen haben“, wie es Shushan formuliert. Wie um sich selber zu bestätigen und zu beruhigen, dass die Demonstrationen nach wie vor ihren Zweck erfüllen, Armenier zur Identifikation mit armenischer Identität zu mobilisieren, erzählt Shushan eine Episode. Diese entspricht dem Topos des „verlorenen Sohnes“ und spielt auf den dominanten Diskurs der Assimilierung als weißen Genozids an: Ein Mann, der eigentlich alle Verhaltensweisen, die Armenisch-Sein ausmachen, aufgegeben habe – er ist mit einer „Griechin verheiratet, taucht normalerweise nirgendwo auf, noch nicht einmal in der Kirche“, bleibt durch die Handlung des Demonstrierens doch Armenier. Kurz vorher im Gespräch hatte Shushan – wie auch Anusch, noch betont, dass sie eigentlich gar nicht demonstrieren wollte und sich damit von der öffentlichen Erinnerungsarbeit distanziert. Mit der Geschichte des „verlorenen Sohnes“ dagegen geht eine positive Identifikation mit der Erinnerungsarbeit und vor allem auch ihrer Rolle als aktive Beteiligte an der Umsetzung und Gestaltung der Identitätspolitik im Sinne der Daschnak einher. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Shushan, trotz aller Kritik mit der Verantwortung für die Weiterführung der Erinnerungsarbeit positiv identifiziert, die der Jugend von der Daschnak zugewiesen wird. Diese letztendlich positive Identifikation der jungen Frauen mit der Erinnerungsarbeit der Daschnak lässt sich nicht auf bloßen Zwang und von außen auferlegte Verpflichtung reduzieren. Sie haben ein klares Bewusstsein für die Hierarchien innerhalb der Paroikia. So kritisieren sie unter anderem, dass es keine parteiunabhängige Jugendorganisation der Daschnak gibt und sie auf120 Im darauf folgenden Jahr modifizierten sie die Demonstrationen jedoch zu einem Fackelzug zum türkischen Postulat. Allerdings war diese Veränderung auch deswegen notwendig geworden, weil der 24. April auf den Gründonnerstag fiel und in der Innenstadt nicht demonstriert werden konnte. Darüber hinaus bleibt der Fackelzug eine ähnliche Ritualisierungsstrategie, denn er ist wie die Demonstrationen auch häufig Bestandteil politischer Rituale.

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grund mangelnder Alternativen quasi zur Mitgliedschaft gezwungen sind. Dieses Gefühl von Zwang – sie haben keine Alternative – empfinden sie gleichzeitig als ein Gefühl moralischer Verpflichtung. Zwar fühlen sie sich nicht unbedingt zur Loyalität der Partei gegenüber verpflichtet, schließlich bezeichnen sie sich sogar als politisch neutral (chezok). Alle drei haben jedoch ein Schlüsselprinzip der Ideologie des Askabahbanum verinnerlicht, dass armenische Identität in der Diaspora, die prinzipiell durch die Assimilation der Mehrheitsgesellschaft, den weißen Genozid bedroht ist, nur durch die Praxis des Opferns, hier durch das Engagement für die Paroikia, bewahrt werden kann. Daher engagieren sie sich in der Jugendorganisation der Partei. Ähnlich ambivalent ist ihr Verhältnis zu den Demonstrationen: Grundlegende Elemente der ritualisierten Erinnerungsarbeit – das was ich im vorhergehenden Kapitel als kodifizierte Bedeutungen bezeichnet habe – werden von den Mädchen als Selbstverständlichkeiten angesehen, mit denen sie sich positiv identifizieren. Sie empfinden es als selbstverständlich, dass armenische Identität und der Genozid untrennbar miteinander verbunden sind und auch, dass der Genozid ein Verbindungsglied einerseits zwischen historischen Zeiten und geographischen Räumen und andererseits zwischen Subjekt und Kollektiv ist. Der Genozid als Bindeglied Als ich zu Ende unseres Gesprächs fragte, ob die jungen Frauen die häufig geäußerte Vermutung teilen, dass die Unterstützung der Diaspora für Armenien den Genozid als zentralen Identifikationspunkt ablösen wird, argumentierten sie folgendermaßen: Lusine:

Shushan: Lusine:

Shushan:

Schau mal, das ist das, was ich vorher schon gesagt habe. Das hängt davon ab, sagen wir mal, auch in der Neolaia, ob du auf die Wirklichkeit reagierst, stärker, darauf, dass es ein Bedürfnis gibt. Also in Ordnung, sicher wird der Genozid ein ungelöstes Problem bleiben und niemand wird das jemals anzweifeln. Ja bravo, ich meine (...) Aber die erste Hauptsache, sagen wir mal, ist, dass wir den Armeniern helfen, die im Moment im freien Armenien leben. Weil, wenn wir ihnen nicht helfen, dann, also, mit der politischen Situation und mit der Situation die es mit Aserbaidschan gibt, dann kann es im Moment zu einem zweiten Problem kommen, das genau die gleiche Bedeutung hätte wie der Genozid vor 80 Jahren. Genau deswegen musst Du dem, was im Moment geschieht Bedeutung schenken ohne Deine Vergangenheit zu vernachlässigen, weil wenn Du sie vernachlässigst, dann vernachlässigt sie dich. Also wie soll ich denn sonst, wie könntest Du denn sonst einige Dinge fordern und sagen, bitte schön. Ausgehend von der Logik, dass das, was 80 Jahre vorher geschehen ist, wieder geschehen kann. Und das sind die Schäden, die damals entstanden sind und dies passiert jetzt. Weil es immer Parallelen gibt. Es gibt Dinge, die sich wiederholen. Ich glaube nicht, dass all das aufhören wird, ok, ich kann das jetzt nicht wissen, sagen wir mal, diese Veranstaltungen und dieser Protest.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Lusine:

OK, es kann sein, dass wir die Demonstration sein lassen, aber dann finden wir etwas anderes. Das heißt, wenn wir damit aufhören, dann werden wir etwas anderes finden. Das heißt, das wird sicher weitergehen, ich denke nicht, dass das aufhören wird. Ok, irgendwann werden wir durch das Internet alle darüber aufklären, was geschehen ist, aber das heißt nicht, dass wir dann nicht eine direktere Verbindung und eine direktere Art und Weise des Protestes haben müssen. (Interview Nr. 44, 08.11.1996, S. 45)

Aus dieser Passage wird deutlich, dass die Transformation des Trauma des Genozids in eine positiv verpflichtende, normative Erinnerung auch von den Mädchen als Modell der Sinnstiftung für gegenwärtige als auch zukünftige Erfahrungen dient. Der Genozid wird als ein grundlegendes Erfahrungsmodell angesehen, mit dem Ereignisse in der Gegenwart und Zukunft interpretiert werden können. Lusine argumentiert, dass die politische Situation in Armenien und Aserbaidschan zu einem „zweiten Problem“ werden kann, dass „die gleiche Bedeutung hätte, wie der Genozid vor 80 Jahren“. Aus dieser Beurteilung gegenwärtiger Ereignisse auf der Grundlage der Genoziderfahrung folgt für sie eine moralische Verpflichtung zur Erinnerungsarbeit, zur Beschäftigung mit der Vergangenheit. Gleichzeitig empfindet sie diese Vergangenheit als Grundlage für die eigene Identität, „weil wenn Du sie vernachlässigst, dann vernachlässigt sie Dich“. Daraus schließt sie, dass die Erinnerungsarbeit an den Genozid – die vom Paradigma politischer Aufklärung ausgeht – weitergehen muss, auch wenn andere Formen des Protestes wie das Internet gefunden werden können. Aber selbst dann wird es eine „direktere Verbindung“ in Form von Demonstrationen geben müssen, weil erst in diesen Momenten des konkreten ritualisierten Handelns der Genozid als Bindeglied emotional erfahrbar wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Mädchen wie selbstverständlich mit den kodifizierten Bedeutungen der ritualisierten Erinnerungsarbeit identifizieren. Auf diese Weise überkreuzen sich ihre individuelle Erinnerungsarbeit, die durchaus eine Kritik an den Ritualisierungen impliziert, ständig mit der kollektiven Erinnerungsarbeit. Zwar verspüren sie ein Unbehagen, dass sie jedoch aufgrund mangelnden Wissens über und Zugang zu anderen Ideologien und Handlungsweisen nicht in Form von alternativen Praktiken der Erinnerung artikulieren können. Ausdrücken können sie, wie so viele andere, nur ihre Kritik an der Daschnak und den vor ihr favorisierten Ritualisierungsformen. Gleichzeitig identifizieren sie sich mit ihrer Rolle als Zukunft der Paroikia, die ihnen von der Daschnak im Rahmen der kollektiven Erinnerungsarbeit zugewiesen wird.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

6.2 Ruben: Erinnerungsarbeit eines Dissidenten Ruben, den ich bereits der Einführung vorgestellt habe, war zum Zeitpunkt unseres Interviews 35 Jahre alt, ledig und hatte sich aus einer aktiven Mitgliedschaft in der Paroikia zurückgezogen. Er thematisierte den Genozid erstmals zu Beginn unseres ersten Interviews mit einer Schilderung der historischen Entwicklung, die zur Entstehung einer armenischen Diaspora in Griechenland geführt hatte. Dabei gelang es ihm, die Familiengeschichten seiner Eltern, die Geschichte der Armenier in Griechenland, die Ereignisse des Genozids sowie verschiedene wissenschaftliche Erklärungsansätze zum Genozid kunstvoll zu verknüpfen. Diese kunstvolle Verknüpfung wird in der folgenden längeren Interviewsequenz deutlich: „Die Familie meiner Eltern, um darauf zurückzukommen, die waren wie wir gesagt haben, in Afyon, und in Bursa meine Mutter. Meine Mutter war noch nicht geboren worden; mein Vater allerdings war (19)12 geboren, wahrscheinlich, (19)12 meine ich, (19)12 stand in seinen Papieren, es kann auch sein, dass er (19)13 geboren wurde. Als (19)15 der Plan mit der Umsiedlung, der deportation [sic!]121 geschah, war mein Vater ein oder zwei Jahre alt. Die Umsiedlung dieser ganzen Bevölkerung West-Kleinasiens, wie die Griechen Ionien nennen, geschah. Es wurde der Befehl ausgegeben, dass die Armenier gehen sollen, dass sie all ihren Besitzt dort lassen sollten und so weiter. Sie hatten nicht das Recht, etwas zu verkaufen und das erste Mal in der Geschichte war der Plan der Jungtürken organisierter mit folgender Bedeutung: Das Konvertieren zum Islam war verboten. Während der vorhergehenden armenischen Massaker, die 1890, 1903 in Adana und an anderen Orten der Türkei geschahen waren sie erlaubt: Alle, die wollen, können Muslime werden und entkommen. Sie entkamen den Massakern. Diesmal war der Befehl der Regierung, dass die Umsiedlung auch diejenigen betraf, die Muslime werden würden. Das heißt, Konvertierungen zum Islam waren verboten. Das war, sagen wir mal, der endgültige Plan dem niemand entkommen sollte, so wie es beim jüdischen Genozid nicht erlaubt war, Christ zu werden. Das heißt es folgte racial [sic!] Gründen, auch in dem Fall (Holocaust S. Schwalgin) war es rassisch, und im Fall der Armenier war es racial [sic!]. Ich habe das Buch von Morgenthau, Henry Morgenthau, der Botschafter der Vereinigten Staaten in Konstantinopel war. Als dieser Befehl herauskam, das war im April (19)15, dass die Armenier umgesiedelt werden sollten, ging er und diskutierte mit Talaat122 in dessen Büro. Talaat sagte ihm ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen, dass – und das hat mich sehr beeindruckt, obwohl ich schon wusste, aus welchen Gründen das geschah, das, was Talaat sagte, war, dass die Armenier auf Kosten der Türken sehr reich geworden sind und ‚das wir sie nicht mehr wollen‘. Das Ziel ist, das sie verschwinden. Und das war natürlich auch der Grund für den Genozid an den Juden. Der tiefergehende Grund war folgender: Schauen Sie, Menschen wie die Jungtürken oder wie in Hitlerdeutschland, die immer und überall auf der Welt zu finden sind, das heißt, wenn sich die Gelegenheit ergibt, die Voraussetzung ist der Nationalismus von Seiten des Volkes, das die Mehrheit ist. Beim Beispiel der Türkei, in der damaligen 121 Die Verwendung von englischen Begriffen ist typisch für Rubens Rede und wurde im Transkript beibehalten. 122 Mehmed Talaat gehörte als Großwesir und Innenminister neben Ismail Enver und Ahmed Dschemal zum Führungstriumvirat der jüngtürkischen Regierung und war einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid (vgl. Gust 1993: 147-148)

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA Zeit hatten die Türken ein ausgeprägtes nationalistisches Bewusstsein entwickelt, sie hatten aufgehört, sich als Osmanen zu fühlen, das heißt einem Staat mit vielen Völkern und vielen Religionen zugehörig, das war eine Art Amerika in der damaligen Zeit. Jeder konnte etwas werden und im osmanischen Reich gab es sogar armenische Minister, (...) In der damaligen Zeit war das entscheidende, dass die Türken anfingen, dass sie einen ökonomischen Widerstand gegen die Christen entwickelten, das heißt, die türkischen Händler, die türkischen Industriellen der damaligen Zeit wollten die Christen nicht mehr, sie wollten, dass sie verschwinden. Die Gelegenheit ergab sich 1915 für die Armenier und später 1919 bis 1921 geschah der Genozid an den Griechen, wo die Griechen aus dem Pontos und aus Kleinasien gezwungen wurden zu gehen. Das Ergebnis war, dass die Türken eine Türkei ohne Christen gewannen. Das heißt, sie gewannen eine Türkei mit Türken. Die Wahrheit ist, dass ihre Wirtschaft in den ersten Jahren etwas litt, aber schließlich schafften sie es. Das Ergebnis ist heute, dass die ganze türkische Wirtschaft sich in türkischen Händen befindet. So gelang es der türkischen Bourgeoisie sich der fremden Bourgeoisie zu entledigen und die Wirtschaft in ihre Hände zu bekommen. Dasselbe geschah in Hitlerdeutschland. Sie haben damals eine Ideologie gefunden und sie sich auf die Fahnen geschrieben, die Juden für immer los zu werden, das war sozusagen das Endstadium. (...). Das heißt, es fand sich eine Ideologie, ein ganzes Volk wurde für eine Minderheit aus ökonomischen und strategischen Gründen ausgerottet.“ (Interview Nr. 1, 22.04.1996, S. 6-8)

Rubens Reflexionen und Analysen des Genozids sind in mehr als einer Hinsicht ungewöhnlich. Seine Ausführungen weisen Referenzen zur wissenschaftlichen Literatur über den Genozid auf. Ruben bezieht sich in obenstehendem Interviewauszug auf das Buch von Henry Morgenthau, dem USBotschafter im Osmanischen Reich zur Zeit des Genozid, das als eine der historischen Quellen über den Genozids gilt. Darüber hinaus analysiert er die Ereignisse des Genozids aus der Perspektive multipler Erklärungsansätze, die auch in der wissenschaftlichen Literatur zum Genozid diskutiert werden: Ruben vergleicht den Genozid immer wieder mit dem jüdischen Holocaust. Auch in der ritualisierten Erinnerungsarbeit werden Genozid und Holocaust gleichgesetzt, um die politischen Forderungen nach Anerkennung zu untermauern, gleichzeitig wird jedoch die Partikularität des Genozids betont (vgl. Kapitel 5.2). Ruben dagegen betont bei seinem Vergleich zwischen dem Holocaust und dem Genozid eher die Gemeinsamkeiten und nicht die Einzigartigkeit des Genozids. In mehreren Interviewpassagen verweist er mit historischer Detailkenntnissen auf die Verknüpfungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der jungtürkischen Regierung. Diese Verknüpfung wurde zwar auch von meinen anderen Gesprächspartner hergestellt, jedoch waren Rubens Ausführungen mit historischem Detailwissen verknüpft. Er vergleicht die Ideologien, die sowohl von den Nationalsozialisten als auch von den Jungtürken entwickelt worden waren, um die Voraussetzungen für die Akzeptanz eines Völkermordes zu schaffen und vertritt die Ansicht, dass beiden rassistische und nationalchauvinistische Motivationen zugrunde lagen. Ähnliche Vergleiche werden auch von der komparatistischen Genozidforschung angestellt (vgl. Dabag 1998). Während in der neueren akademischen Literatur zum Genozid jedoch multiple Erklärungsansätze diskutiert werden, favorisiert Ruben eine monokausale, materialistische Erklärung. Holocaust wie Genozid sind seiner An188

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

sicht nach auf ökonomische Motivationen zurückzuführen, obgleich Ideologien ein zentrales Mittel waren, um diese Völkermorde umzusetzen. Ruben versierten und detaillierten Erklärungen zum Genozid ist anzumerken, dass er sich intensiv mit der Literatur zum Genozid auseinandergesetzt hatte. Er unterhielt ein privates Archiv, bestehend aus Zeitungsausschnitten, Artikeln aus wissenschaftlichen Zeitschriften, populär- und wissenschaftlichen Büchern (armenische, griechische, englische, französische, türkische) zu verschiedenen Themenkomplexen, wie z.B. Armenier in Griechenland, Armenische Kultur, Minderheiten in Griechenland und auch dem armenischen Genozid. Während meine anderen Gesprächspartner ihre Informationen über armenische Themen hauptsächlich aus in Griechenland herausgegebenen armenischen Zeitungen (Azat Or, Nor Aschat) oder Broschüren der politischen Parteien bzw. aus Veranstaltungen in der Paroikia bezogen, hatte sich Ruben über einen längeren Zeitraum intensiv mit der in den USA herausgegebenen englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschrift Armenian Review, den AGBU-Mitteilungen, und auch türkischen Zeitschriften und Büchern auseinandergesetzt. Darüber hinaus hatte er zum Thema Genozid auch einige der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen gelesen. Mit den Leugnungsthesen der Türkei war er im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Paroikia also aus den Ausführungen türkischer Historiker vertraut, denn im Gegensatz zu meinen anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern sprach Ruben unter anderem auch türkisch. Rubens herausragende sprachliche Fähigkeiten – er sprach neben Griechisch, Armenisch, Türkisch, Englisch und Französisch – sind nicht nur bedingt durch sein Elternhaus und seine Schullaufbahn. Wie einige andere Armenier auch hatte er eine amerikanische Privatschule besucht, danach ein Studium begonnen, jedoch nicht beendet und war zum Zeitpunkt unseres Interviews als Angestellter beschäftigt. Seine Sprachkenntnisse und sein Wissen über armenische Kultur und Geschichte hatte er sich in erster Linie autodidaktisch angeeignet. Wie so viele Armenier der 1. Generation sprachen seine Eltern untereinander zwar Türkisch, wollten diese Sprache jedoch nicht an die Kinder weitergeben und redeten mit ihren Kindern Griechisch. Ruben hatte seinen passiven türkischen Wortschatz, den er durch Zuhören bei den Gesprächen seiner Eltern und Großeltern aufgeschnappt hatte, im Selbststudium systematisch erweitert, indem er unbekannte Worte im Lexikon nachschlug und sich später mit türkischer Literatur und Lyrik auseinander setzte. Ähnlich verfuhr er mit dem Armenischen. Im Gegensatz zu vielen anderen Armeniern in seinem Alter – die wenig Alltagspraxis der armenischen Sprache haben – konnte er daher sowohl armenische Literatur und Zeitungen lesen, sich flüssig unterhalten und Übersetzungen anfertigen; darüber hinaus kannte er sich mit den etymologischen Herleitungen vieler Worte aus. Seine um wenige Jahre ältere Schwester dagegen konnte nach Rubens Angaben weder Türkisch noch Armenisch sprechen, da sie sich nie für diese Sprachen interessiert hatte. Welche herausragende emotionale Bedeutung für Ruben mit der jeweiligen Sprache, vor allem dem Türkischen, verbunden war und in welcher Be189

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ziehung dies zu seiner Identifikation mit armenischer Identität, der Paroikia sowie der öffentlichen Praxis des Genozidgedenkens stand, macht der folgende Interviewauszug deutlich: Die türkische Sprache als Totengedenken Ruben:

Susanne: Ruben:

Susanne: Ruben:

E, jetzt mit meiner Mutter, nachdem mein Vater gestorben ist, damit hat das Türkische bei uns zu Hause aufgehört, jetzt reden wir nur noch Griechisch. Das ist die Gewohnheit, die wir zu Hause haben und sicherlich, sehr, sehr selten reden wir auch etwas Armenisch, aber die Fremdsprache, die ich am häufigsten rede ist das Türkische. Das heißt, es kann sein, dass ich zu meiner Mutter sage, dass das Licht ausgegangen ist, ausgegangen sage ich dann absichtlich auf Türkisch. Damit ich die Tradition meiner Familie aufrechterhalte. Das ist, sagen wir mal ein Rückruf vergangener Zustände. Und für mich, weißt Du, ist das Türkisch eine Sprache, die ich als heilig bezeichnen würde, weil es die Sprache meiner Familie ist. Das hat eine sehr große Bedeutung, auch wenn Deutsch die Sprache Hitlers war, hört es doch nicht auf die Sprache der Juden zu sein, die in Israel leben und aus Deutschland kommen, Deutsch ist die Sprache, die ihre Eltern gesprochen haben. Das ist die wärmste Sprache der Welt. Wenn ich türkisches Radio höre, dann kann es sein, dass ich es nicht wegen der Nachrichten höre, manchmal lege ich mich selber rein, weißt Du, weil ich sage, ich möchte Nachrichten hören, oder besser Türkisch lernen, nein, ich möchte Türkisch hören (zärtliche Stimme), weil es mich an meine Großmutter, an meinen Vater erinnert, das ist eine Art Totengedenken. (...)Das ist wie ein ständiges Totengedenken, reminding, memory of my ancestors [sic]. Ja, memory [sic!]. Und diese Rolle spielt das Armenische nicht. Das hat eine große Bedeutung, dies spielt das Armenische nicht, ich betone das extra. Armenisch ist meine Muttersprache, mit der Sprache habe ich gelernt in der Welt zu sprechen, aber die Sprache meiner Familie hat für mich eine größere Bedeutung als das Armenische. Wenn ich Armenisch höre, dann erinnere ich mich mehr an meine Herkunft, aber nicht an meine Eltern. Das Türkische erinnert mich an meine Eltern. Und es interessiert mich nicht, ob ich Türkisch aus dem Mund von Saul, oder eines Juden, eines türkischen Soldaten höre, das interessiert mich nicht. Ja sicherlich. Mich interessiert nur, dass es die gleiche Sprache ist, die meine Eltern gesprochen haben. Und für mich hat das eine größere Bedeutung. Also, wann sprechen Sie Armenisch (Ruben wendet sich wieder meinem Frageleitfaden zu)123: Also, mit den Gleichaltrigen, die Armenisch können, reden wir Griechisch, wenn wir uns in der Kirche treffen. Wenige sprechen Armenisch untereinander. E, zu Hause mit meinen Eltern, ich hab e, ich habe Dir gesagt, sehr selten. Mit armenischen Freunden nur, wenn sie kein Griechisch können, mit denen die Griechisch können, mit allen Verwandten, mit meinem Schwager (einem

123 Das erste Interview mit Ruben war eines der ersten Interviews, das ich während der Feldforschungs führte. Da ich in Bezug auf mein Sprach-vermögen noch etwas unsicher war, hatte ich zu meiner Unterstützung einen ausformulierten Frageleitfaden dabei. Diesen beantwortete Ruben mit der für ihn charakteristischen Akribie und Autodidaktik.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Susanne: Ruben:

fanatischen Daschnak), sogar mit unserer Schwägerin aus Armenien sprechen wir Griechisch. Ja? Es ist einfacher. (...) Das Armenische hat als Alltagssprache nachgelassen. Das ist eine Sprache, die bei bestimmten Gelegenheiten gesprochen wird und es ist eine Sprache, die man kennen muss, es ist, wie heißt es doch gleich, obligation to learn Armenian [sic!]. Aber darüber hinaus ist es keine Sprache, die man täglich spricht. (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 15-17)

Rubens Identifikationen mit den unterschiedlichen Sprachen stehen in mehrfacher Hinsicht in einem starken Gegensatz zu den dominanten Diskursen in der Paroikia. Sie beinhaltet eine vielschichtige Kritik an essentialistischen Konzepten zum Zusammenhang von Sprache und Identität, wie sie in der Paroikia, aber auch in der akademischen Literatur vertreten werden. Dass die erste Generation als erste Sprache Türkisch sprach und dadurch innerhalb der Familie eine hybride Sprachsituation entstand, wie sie auch Ruben beschreibt (Griechisch als Alltagssprache, Türkisch als Sprache der Eltern, Armenisch als Muttersprache), erzählten viele meiner Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen. In Kapitel 3.1 habe ich die zentrale Bedeutung von armenischem Schulen und armenischem Sprachunterricht für die Bildung einer „Nation im Exil“ dargestellt. Aufgrund des hohen Stellenwertes armenischer Sprachfähigkeit für das in der Paroikia dominierende Konzept armenischer Identität wurde diese Situation jedoch in der Regel als ein Kuriosum bzw. ein defizitärer Zustand charakterisiert, der damit gerechtfertigt wurde, dass in den Herkunftsgegenden der Flüchtlinge kein gutes Bildungssystem existiert habe und Armenisch verboten worden war.124 So erzählte zum Beispiel der 70jährige Mardiros Atamian über seinen Vater: Atamian: Susanne: Atamian:

Er konnte nur Türkisch, auch Armenisch, aber er hat sich nicht getraut, Armenisch zu reden. Erst später, als meine Schwester heiratete und Kinder hatte, hat er mit den Kindern Armenisch geredet. Aber mit Ihnen Türkisch? Türkisch (erzählt weiter über den beruflichen Werdegang des Vaters...) Kein Armenier der damaligen Zeit konnte Griechisch. Und selbst die Griechen, die aus Kaissaria usw. kamen, aus Gegenden, in denen die türkische Sprache dominierte und wo sie die griechische, die armenische Sprache verboten haben. (...) (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 18-19)

Herr Atamian sprach daher als Kind im Elternhaus Türkisch, in der Schule Armenisch und lernte Griechisch zunächst von Altersgenossen auf der Straße. Im Gegensatz zu Ruben empfand er diese hybride Sprachsituation innerhalb der Familie jedoch als belastend, auch weil türkischsprachige Armenier einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt waren. Der öffentliche Gebrauch der 124 Hier muss angemerkt werden, dass es hierfür keine historische Evidenz gibt. Armenisch wurde im Osmanischen Reich gesprochen und auch unterrichtet, wenn es auch lokale Unterschiede gab.

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türkischen Sprache wurde sowohl in der armenischen Schule als auch in der griechischen Öffentlichkeit sanktioniert. Herr Atamian identifizierte sich, ebenso wenig wie meine anderen Gesprächspartner, in deren Elternhäusern Türkisch gesprochen wurde, positiv mit der türkischen Sprache und erwähnte auch niemals, über türkische Sprachkenntnisse zu verfügen. Bei der Erziehung seiner Kinder legten er und seine Frau großen Wert auf den Erwerb armenischer Sprachkenntnisse. Und Herr Atamian bildete hier keine Ausnahme. Viele meiner Gesprächspartner der ersten und zweiten Generation verfügten über zumindest rudimentäre Türkischkenntnisse. Allerdings wurde dies mir gegenüber niemals bewusst als Fähigkeit erwähnt, sondern zumeist in völlig anderen Zusammenhängen deutlich. Ein weiteres Beispiel: Satenig Hagopian, 72, war eine meiner engsten Bezugspersonen während der Feldforschung in Athen. Sowohl in ihrer Herkunftsfamilie als auch mit ihrem Mann und den Kindern hatte sie Armenisch gesprochen. Dass Satenig durchaus auch Türkisch verstand, wurde mir erst klar, als wir im August 1999 gemeinsam vor dem Fernseher saßen und die Liveübertragung des türkischen Fernsehens über das Erdbeben in Istanbul verfolgten. Zu meinem großen Erstaunen griff Satenig mit sichtlichem Vergnügen und emotionaler Bewegtheit türkische Worte auf, wiederholte und übersetzte sie und begann sich an weitere Worte und Phrasen zu erinnern. Auf meine erstaunte Frage, woher sie denn Türkisch könne, antwortete sie, in ihrer Generation könne eigentlich jeder Armenier etwas Türkisch sprechen, auch in der armenische Sprache gebe es ja viele türkische Ausdrücke wie z.B. Inschallah. Sie persönlich habe Türkisch durch ihre Arbeit als Sozialarbeiterin bei dem armenischen Hilfswerk Gülbenkian gelernt, da ihre Klientel noch in den 1950er Jahren zu einem nicht geringen Teil türkischsprachig gewesen. Trotz der offensichtlich positiven Erinnerung, die sie mit den türkischen Worten verband, hätte sie ihre Türkischkentnisse niemals so wie Ruben erwähnt. Für Ruben ist die türkische Sprache mit der privaten Sphäre des Elternhauses verknüpft. Diese Verknüpfung steht in einem expliziten Gegensatz zum Armenischen, das er als seine öffentliche Sprache bezeichnet, da Armenisch die Sprache sei, mit der er gelernt habe „in der Welt zu sprechen“. Ruben nimmt damit eine scharfe Trennung zwischen der privaten Familiensprache Türkisch und der öffentlichen Herkunftssprache Armenisch, die er auch als seine Muttersprache bezeichnet, vor. Zärtliche, familiäre Gefühle sind für ihn jedoch nicht mit der Muttersprache verbunden, sondern mit dem Türkischen. Die türkische Sprachpraxis – das Sprechen und Hören – sind für ihn gleichzeitig „wie ein ständiges Totengedenken, reminding, memory of my ancestors“, also eine lebendige Verbindung zu seinem verstorbenen Vater und den Großeltern. Im Gegensatz zu meinen anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für die eine Identifikation mit der Herkunftsfamilie auch über die Weitergabe von Erinnerungserzählungen an den Genozid hergestellt wurde (vgl. Kapitel 6.3, 6.4, 6.5, 6.6), ergibt sich diese emotionale Identifikation für Ruben aus der türkischen Sprachpraxis. Gleichzeitig verweigert er sich in diesem Aspekt seiner individuellen Identitätsarbeit auch einer Gleich192

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

setzung von Familie und Nation. Diese Identifikation war für meine anderen Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen bedeutsam und wird auch in der kollektiven Erinnerungs- und Identitätsarbeit gefordert. Ruben erteilt durch seine positive Identifikation mit der Türkischen Sprache dem Anspruch der Daschnak, die familiäre Erziehung im Sinne ihrer Ideologie der ethnischen Reinheit bestimmen zu können, eine klare Absage. Er stellt Werte und Gefühle, die er dem Familiären, Intimen, Privaten zuordnet, über das von der Daschnak vertretene Konzept von Armenischsein, das im öffentlichen wie privaten die ständige Performanz einer reinen armenischen Identität im Sinne eines Opfers für die heilige Nation fordert. Ruben bezeichnet jedoch nicht die armenische Nation als heilig, sondern die türkische Sprache, weil sie die Sprache der Familie ist. Auf diese Weise vertritt Ruben selbstbewusst das Recht, seine individuelle Identität unabhängig von dem Anspruch der Daschnak auf die Definitionsmacht armenischer Identität definieren zu können. Er verwehrt sich damit einer Durchdringung des Privaten durch die öffentliche Ideologie der Daschnak. Während die Daschnak postuliert, dass die ungeteilte Identifikation eines Individuums der Nation gehören sollte, stellt Ruben die Identifikation mit seiner Familie an die erste Stelle. Im Gegensatz zur Daschnak-Ideologie, die die Familie als Keimzelle ansieht, in der die zentralen Werte von Armenischsein (re-)produziert werden sollten, betont Ruben jedoch die ideologische Unabhängigkeit der Familie. Ruben kritisiert mit seinem beharrlichen Postulat einer positiven Identifikation mit dem Türkischen jedoch nicht nur die dominanten Diskurse der Daschnak und der anderen Armenier. Gleichzeitig ist damit ein Widerstand gegen die Folgen der genozidalen Praktiken des jungtürkischen Regimes verbunden. Besonders deutlich wird dies in der Parallele, die aufbaut, als er über die berechtigte Identifikation der Juden aus Deutschland mit der Deutschen Sprache spricht: „(...) auch wenn Deutsch die Sprache Hitlers war, hört es doch nicht auf die Sprache der Juden zu sein, die in Israel leben und aus Deutschland kommen. Deutsch ist die Sprache, die ihre Eltern gesprochen haben. Das ist die wärmste Sprache der Welt.“ Ruben artikulierte seinen Widerstand durch das selbstbewusste Beharren bzw. Aneignen des Türkischen als seine Sprache trotz des Genozids von 1915: „Das Türkische erinnert mich an meine Eltern. Und es interessiert mich nicht, ob ich Türkisch aus dem Mund von Saul, oder eines Juden, eines türkischen Soldaten höre, das interessiert mich nicht.“ Mit diesem Beharren auf dem Türkischen verstößt er abermals gegen gängige normative Bewertungen innerhalb der Paroikia. Denn dort wird Widerstand in Form einer demonstrativen, öffentlichen Ablehnung und negativen Bewertung aller Praktiken und Attribute gefordert, die als Türkisch definiert werden. Rubens ungewöhnliche widerständige Haltung setzt sich auch in seinem Verhältnis zu Armenien und der Türkei als geographische Identifikationspunkte fort:

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Die Türkei als persönliche Heimat „Wenn ich in diesem Moment eine Reise in einem Wettbewerb gewinnen würde und sie würden mir sagen, ich könnte einen Monat hinfahren wo immer ich hin wollte, ich könnte mir ein Land aussuchen: ‚Suche Dir das Land aus, wo Du hin willst.‘ Die meisten würden weit entfernte Länder nennen, exotische. Ich würde die Türkei nennen. Ich möchte die Türkei kennen lernen, wenn es sein muss auf dem Rücken eines Kamels. Ich möchte sie bereisen. Das ist das Land, dem ich mich am nächsten fühle, das mir am nächsten ist. Ich kann Dir sagen, ich liebe auch Armenien als Land meines Volkes, es ist die Heimat meines Volkes, aber es ist nicht meine Heimat. Das heißt, meine Familie, die Wurzeln meiner Familie – ich möchte die Heimat meines Vaters kennen lernen, die Heimat meiner Mutter. Das würde sich für mich wärmer anfühlen, als wenn ich Jerewan in Armenien sehen würde.“ (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 14).

Ruben erkennt Armenien als Heimat im Sinne eines ethnisch definierten geographischen Territoriums an, das die Heimat seines Volkes darstellt. Die Türkei bezeichnet er jedoch als seine persönliche Heimat, da dies die Heimat seiner Familie sei. Heimat beinhaltet für Ruben also zwei unterschiedliche Konzepte: Zum einen ist Heimat ein Ort, der aufgrund gelebter Erinnerungen der Familie zur Heimat wird. Zum anderen ist Heimat ein abstrakt-politisches Konzept im Sinne eines nationalstaatlich definierten Territoriums, das die Heimat eines Volkes ist. Damit widerlegt und bestätigt Ruben die dominanten Konzepte von Heimat der Daschnak gleichzeitig. Er bestätigt das Heimatkonzept der Daschnak, indem er deren nationalistische Sichtweisen einer notwendigen Übereinstimmung von Identität, Territorium und Sprache aufgreift – Armenien ist die Heimat seines Volkes und Armenisch seine Muttersprache. Er betont die Bedeutung des Armenischen als Merkmal ethnischer Identität und verweist dabei auf den Identitätsdiskurs der Daschnak, indem er den Spracherwerb als eine (nationale) Verpflichtung bezeichnet: „it is an obligation to learn Armenian.“ Gleichzeitig ist die Türkei seine persönliche Heimat, die Heimat seines Vaters, seiner Mutter, „das Land, dem ich mich am nächsten fühle, mir am nächsten“. Diese emotionale Bindung steht im krassen Gegensatz zur offiziellen Daschnak-Ideologie den Auffassungen meiner anderen Gesprächspartner, für die die Türkei ein bedrohliches feindliches Territorium ist. Sie bezogen sich auf ihre Herkunftsorte in der Türkei lediglich im Sinne einer abstrakten politischen Forderung nach Rückgabe der westarmenischen Territorien. Eine positive Identifikation mit den Herkunftsorten der Familien in der Türkei war damit jedoch für die allermeisten nicht verbunden. Vielmehr war die nationalstaatliche Ideologie der Daschnak, die Armenien als Herkunftsort und Heimat definierte, so erfolgreich, dass Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen, die in Rubens Alter waren, kaum über Erinnerungen ihrer Vorfahren an deren Herkunftsorte in der Türkei erzählten.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Laufbahn eines Dissidenten Ruben hatte aufgrund seines Bücher-Wissens und aufgrund seiner Sprachkenntnisse und abweichenden Ansichten zu Identität und Heimat einen marginalisierten Status in der Paroikia. Er verstand sich als politischer Oppositioneller, als Dissident. Als erklärter Gegner der Daschnak verglich er deren dominante Position in der Paroikia mit einem diktatorischen Regime: Ruben: Susanne: Ruben:

Ich glaube nicht (an die Daschnak), ich war niemals Mitglied, noch nicht einmal in der Neoloai. Die Daschnak hier in Thessaloniki, so könnte man es sagen, ist eine Diktatur. Hier in Thessaloniki. In der Paroikia? In der Paroikia ist sie eine Diktatur. Sie ist ein, sagen wir mal, totalitarian government [sic!)]. Totalitarian (sic) mit der Bedeutung, dass sie alle Bereiche abdeckt, das heißt alle Vereine, die wir haben, sind Daschnak. (Interview Nr. 1, 22.04.1996, S. 15)

Zwar hatte sich Ruben jahrelang im Kulturverein der Paroikia, dem Hamaskain, engagiert und zeitweilig sogar das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden versehen. Selbst für das ANK, das sich als eine Art Außenministerium der Daschnak versteht, hatte Ruben Übersetzungen gemacht. Sein Verhältnis zu den die Paroikia dominierenden Personen war jedoch immer konfliktreich gewesen, was Ruben darauf zurückführte, dass sie ihn aufgrund seiner abweichenden politischen Haltung ablehnten und als Dissidenten ansahen: „Sie wussten, dass ich kein Daschnak bin und machten mir das Leben schwer. As dissident [sic]“ (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 18). Sein Wissen und seine herausragenden Sprachkenntnisse sind seiner Meinung gleichzeitig eine Quelle der Bewunderung, des Neids und des Misstrauens für die Anderen. Einerseits wollten die Führungspersönlichkeiten der Paroikia den Zugriff auf seine Sprachkenntnisse nicht verlieren. Andererseits geriet Ruben immer wieder in Konflikte mit anderen Mitgliedern der Paroikia, weil er öffentlich von der Daschnak abweichende Meinungen vertrat und auf diesen, wie er selber meinte, fanatisch beharrte. Die Konflikte, die aus diesen abweichenden Meinungen entstanden, beschrieb er folgendermaßen: Ruben:

Ich hatte ständig das Genörgel, dass ich nicht Daschnakzagan bin. Das kam ständig durch. Das Ergebnis war: ‚Der Ruben kennt vieles, er kennt viele Sprachen, er scheint uns sehr nützlich und ist nicht Daschnakzagan.‘ Das hat sie sehr gestört. Und es ist nicht nur der Fall, dass ich kein Daschnakzagan bin, ich bin auch noch fanatischer Nicht-Daschnakzagan. Ich meine, ich gehe nicht und machen ihnen ihre Arbeiten kaputt. Aber ich bin fanatisch in meinen Meinungen, ich erkenne ihre Daschnakzagan-Ideologie nicht an, weder in Bezug auf die Türkei, noch in Bezug auf den Genozid, noch in Bezug auf den Nationalismus, noch in Bezug auf das eine oder andere. Ich habe meine eigene Meinung und bin in dieser Meinung fanatisch. Es kann nicht sein, dass wir im Chor sind und ein armenisches Volkslied hat das Wort gousch, was das türkische Wort kousch ist. Ich habe das erklärt, sie kannten das Wort nicht. Sie fragten: ‚Was heißt

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Susanne: Ruben:

Susanne: Ruben:

gousch?‘ Niemand wusste das und ich kann Türkisch, ich verstand, dass es das Wort kousch ist. (Er erklärt die sprachliche Verwandlung von kousch zu gousch). Als ich das erklärte, da hat zunächst mal die Jugend gelacht. Das ist die Ansicht von Kultur, die sie haben. Das heißt, alles Türkische ist dumm, es ist, es hat keinen Wert. Wenn Du ein Kulturverein bist und Du redest mit 99% und fragst sie nach der türkischen Kultur und sie sagen Dir, dass die ein barbarisches Volk sind. Das akzeptiere ich nicht, das akzeptiere ich nicht. Ich kann da nicht mitmachen, wenn Du ein Kulturverein bist, dann muss man davon ausgehen, dass Du jede Kultur schätzt. Jede Kultur! Du kannst nicht ein Mensch des Geistes sei und die Kultur der anderen nicht schätzen. Das geht nicht, das geht nicht. Ja sicherlich. Oder anders gesagt, so wie die Tutsi und Hutu, wie der eine den anderen massakriert, wollen sie so verkommen (im Sinne von moralisch verkommen)? Und selbst wenn die Türken – aber die Türken, sagt man, die haben unsere Kultur zerstört und jetzt, sagt man, wollen sie uns von der Landkarte auslöschen, uns endgültig zerstören. Ok, das tun die Türken, aber müssen wir das gleiche tun? Nein, sicherlich nicht. Aber ich hatte diese, und ich erinnere mich, sie haben damals gelacht, und die erste Vorsitzende stand auf und sagte: ‚Das stimmt nicht, Ruben, das stimmt nicht.‘ Ihr Mann, der kann etwas Türkisch und sie ist nach Hause gegangen und er hat ihr gesagt, dass es ein türkisches Wort ist, aber sie konnte nicht – resentment! [sic!]. Sie konnte das nicht akzeptieren, dass es möglich ist, dass es in einem armenischen Volkslied ein türkisches Wort gibt. Warum soll es das nicht geben? Warum soll das nicht möglich sein? Als wenn wir eine Kultur hätten, die nichts wert ist, als wenn wir sagen würden, die andere Kultur ist high [sic!], als wenn wir etwas riskieren würden, als wenn wir einen Komplex fühlen müssten. Die armenische Kultur muss gegenüber der türkischen keinen Komplex fühlen. (...) (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 21-22)

Ruben interpretiert seinen Konflikt mit den anderen Gemeindemitgliedern, der zu seinem völligen Rückzug aus der Paroikia führte, als einen ideologischen Konflikt, den man aber auch gleichzeitig als einen Machtkampf bezeichnen könnte. Im Gegensatz zu meinen anderen Gesprächspartnern verfügte Ruben über den Zugang zu und das Interesse an Wissen über armenische Fragestellungen und Themen, das von den Anhängern der Daschnak weder kontrolliert werden konnte noch geteilt wurde. Dies machte Ruben in seiner individuellen Identitätsarbeit einerseits unabhängig von den dominanten Diskursen der Daschnak, da er sich auf andere Wissenssysteme berufen konnte, führte andererseits aber zu seiner marginalen Stellung innerhalb der Paroikia. Als Konsequenz des ständigen „Genörgels“ der Anderen, hatte er sich aus der Paroikia zurückgezogen und behielt sein „Wissen“, dass die Daschnak gerne in ihrem Sinne eingesetzt hätten für sich. Bedenkt man den hohen Stellenwert, den die Praxis des Opferns persönlicher Ressourcen für die Daschnak und andere Mitglieder der Paroikia hatte, so kam seine Verweigerung sich in der Paroikia zu engagieren, in deren Augen einer öffentlichen Dis-Identifikation mit der Paroikia einerseits und armenischer Identität andererseits gleich. Rubens mul196

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tiple, komplexe Identifikationen mit verschiedenen Sprachen und Heimatländern können dabei als Schlüssel für seine im Vergleich zur Paroikia marginalen und widerständigen Einstellungen und Reflexionen über den Genozid, die offizielle Erinnerungsarbeit und den Autoritätsanspruch der Daschnak und sein Verhältnis zur Türkei gesehen werden. Für Ruben ergaben sich aus dem Genozid grundsätzlich andere Konsequenzen als diejenigen, die die Daschnak propagierte: „Ich erkenne ihre Daschnakzagan-Ideologie nicht an, weder in Bezug auf die Türkei, noch in Bezug auf den Genozid, noch in Bezug auf den Nationalismus, noch in Bezug auf das eine oder andere.“ Das Verhältnis zur Türkei Andere Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen beschrieben ihr Verhältnis zur Türkei als kompliziert und eher von Hass und Ressentiments geprägt. Ruben dagegen konnte seine positive Identifikation mit türkischer Sprache, Kultur und der Türkei als Heimat seiner Eltern einerseits und seine Verurteilung der Türkei für den Völkermord mühelos vereinbaren. In Übereinstimmung mit anderen Armeniern vertrat er die Meinung, dass die Türkei den Genozid anerkennen und Entschädigung zahlen sollte. Und auch er bezog sich dabei auf die Entschädigungspraxis Deutschlands dem israelischen Staat gegenüber als einem Idealtyp. Im Gegensatz zu den Forderungen der Daschnak hielt Ruben die Forderungen nach Gebietsrückgaben allerdings für unrealistisch und wirkungslos: „Ich bin nicht der Ansicht, dass die Gebiete eine Lösung bieten. Die Gebiete bieten keine Lösung. Wenn die Armenier wieder dort an diesem Ort leben würden, dann wäre es nicht ausgeschlossen, dass sie sich nach 1.000, 2.000 Jahren wieder ausdehnen würden. Armenien war noch nie ein großer Staat, es war mal klein, groß, wieder klein, wieder groß. Die Geschichte ist so.“ (Interview Nr. 1, 22.04.1996, S. 15)

Ruben hielt es für Armenien am wichtigsten, dass es Frieden mit der Türkei gibt. Damit stellte er sich gegen die Politik der Daschnak, die der armenischen Regierung vorwarf, keine richtige Haltung gegenüber der Türkei zu vertreten. Gleichzeitig hielt es auch Ruben wie meine anderen Gesprächspartner für fragwürdig, ob es gelingen würde, mit der Türkei Frieden zu halten: „Wie kannst Du mit der Türkei Frieden schließen? Die Türkei ist eine Diktatur. Und sie ist schon viele Jahrzehnte eine Diktatur, es hat niemals einen demokratischen Staat gegeben. Auch in der Zeit, in der sie Demokratie hatten, gab es Diktatur. Wir würden sagen, dass die Türkei eine Diktator im Stil Mussolinis, Hitlers ist. Sie ist ein nationalistischer Staat. Sie ist wie der nazistische Staat. Sie hat die so genannte pantürkische Ideologie. E, die ganze Geschichte has been distorted by the turkish historians [sic!]. So wie die nazistische Geschichtsschreibung distorted [sic!] war, so wie zur Zeit Stalins die ganze Geschichte distorted [sic!] war. Der eine war ein Verräter, der andere war ein Verräter, der eine ein Feind, der andere ein Feind und so weiter. Auch die heutige Türkei ist so. Die Türkei wird den Genozid nur dann aner-

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA kennen und ihre Politik ändern, wenn sie irgendwann ein demokratischer Staat wird.“ (Interview Nr. 1, 22.04.1996, S. 15)

Die Ressentiments anderer Armenier gegenüber der Türkei, die sich darin äußerten, dass die Türkei als primordiale Völkermörderin und die Türken als Barbaren repräsentiert wurden, hielt Ruben wie er im vorhergehenden Zitat ausführte für moralisch verwerflich. Diejenigen, die Ressentiments gegenüber der Türkei äußerten, verhielten sich in seinen Augen nach denselben unmoralischen Prinzipien wie die Völkermörder: „Ok, das tun die Türken, aber müssen wir das gleiche tun?“ Darüber hinaus sah Ruben Ressentiments, wie er am Beispiel des Konfliktes im Kulturverein um das Wort gousch beschrieben hatte, als emotionale Reaktionen, die eher von einem pathologischen und komplexgeladenen Verhältnis zeugen als von Widerstand gegen den Genozid und seine Auswirkungen. Für dieses komplexbehaftete Verständnis der türkischen Kultur, das sich in Abwertung äußere, hatte er keinerlei Verständnis: „Die armenische Kultur muss gegenüber der türkischen keinen Komplex fühlen.“ Aufgrund seiner oppositionellen Haltung der Daschnak gegenüber akzeptierte Ruben diese keineswegs in ihrer Rolle als legitime Autorität für den Kampf um Anerkennung des Genozids. Vielmehr warf er der Partei vor, den Genozid zur Erhaltung ihrer eigenen Machtposition zu instrumentalisieren: Ruben:

Susanne: Ruben:

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Das Armenische Nationalkomitee kann ich Dir sagen, macht überhaupt nichts. Und das sage ich nicht aus Fanatismus, weil es ein Daschnak Komitee ist, das sage ich aus folgendem Grund: Das haben übrigens auch schon die Kommunisten gesagt, die Armenier in Armenien, dass die Daschnak mit dem armenischen Genozid politische Spekulation betreibt. Genau das macht sie! Das heißt, was ist diese ganze Energie des Nationalkomitees hier denn? Sie gehen ins Fernsehen, sie wollen ein vorteilhaftes Thema bringen, ein Thema das ihnen advantage sic!] bringt, das ist der Genozid. Wer sonst würde uns bei [diesem Thema zuhören? Wir setzen uns nicht hin um eine richtige Kritik zu machen. Wir sind eine rechte Partei, die ohnehin keine richtige politische Analyse machen kann. Dass Amerika der Türkei heute hilft, den Genozid zu verleugnen, das wagen wir niemals zu sagen. Wir haben einfach ein Thema, über das wir die halbe Wahrheit sagen. Weil wenn wir die ganze Wahrheit sagen würden, dann würden wir es uns verscherzen. Wenn wir sagen würden, dass Frankreich der Türkei hilft oder das Amerika der Türkei hilft oder der oder jener der Türkei hilft, dann wirst Du zum Bösen. Außerdem gehören wir als Partei ohnehin zum rechten ideologischen Kosmos. Auch wenn wir einen Namen haben, ein sozialistisches Label, die Daschnak, und die ganzen anderen Anstrengungen, die wir unternehmen, sind public relations. Ich glaube, dass das ganze Nationalkomitee public relations für sich selber macht, in dem sie ins Radio, ins Fernsehen gehen. So denkst Du das? (...) Das Thema des Genozids ist wie ein Instrument? Ja, Instrument für public relations usw. Für den Zionismus ist es sehr einfach jede Politik zu machen, die ihnen gefällt, indem sie sagen, sie massakrieren uns, rettet uns, sie massakrieren uns, sie massakrieren uns. Aber wenn wir solche Verbrechen in Palästina, solche Verbre-

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG chen im Libanon oder solche Verbrechen hier und dort begehen, dann zählt das nicht. Hilft uns, wir sind arm. So wird es zum Instrument. (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 85-87)

Ruben spricht der Daschnak die Fähigkeiten ab, eine korrekte politische Analyse durchführen zu können. Ähnlich wie die jungen Frauen im Abschnitt vorher bezieht auch er sich auf die Sichtweise, die Armenien als ewiges Opfer und Spielball der Interessen der Großmächte ansieht: „Hilf uns, wir sind arm.“ Allerdings geht er im Gegensatz zu den drei Freundinnen davon aus, dass die Daschnak diese Position der Ohnmacht zusätzlich verstärke, weil sie ihre Machtposition in der Diaspora nicht verlieren will. Ruben wirft der Daschnak vor, dass sie ähnlich wie die Zionisten in Israel, die Opferidentität der Armenier, d.h. den Genozid missbrauche und instrumentalisiere, um daraus eigene politisches Kapitel schlagen zu können. Aufgrund seiner ablehnenden Haltung der Daschnak gegenüber verurteilte er auch die ritualisierte kollektive Erinnerungsarbeit als „Hooligan-Aktivitäten“, die Forderung nach der Anerkennung des Genozid eher in politischen Misskredit bringen: „Früher bin ich gegangen. Allerdings wie, ich bin auch zu den Demonstrationen beim Konsulat gegangen, aber nicht immer. Die gefielen mir nicht. Die gefallen mir nicht, dort hin zu gehen und zu brüllen: ‚Türken Faschisten, Mörder!‘ Oder türkische Fahnen zu verbrennen. Ich will das nicht. Ich sehe das als eine sehr niedrige Handlung, die Fahne Anderer zu verbrennen. Weil die Türken für diese Fahne gekämpft haben. Wenn ich Türke wäre und sehen würde, wie Andere meine Fahne verbrennen, was würde ich sagen? Welchen Hass sie auch immer haben mögen, das heißt, wenn ich sehe, was im Mittleren Osten passiert, wo die Araber die israelische Fahnen verbrennen oder die Israelis die arabischen Fahnen. Für mich sind das Fußballmenschen. Die PAOK125 verbrennt die Fahne von Aris, und Aris die Fahne von PAOK. Das sind Hooligan-Aktivitäten! Ich stimme damit nicht überein. Und ich kann nicht, mit der Art und Weise, wie ich denke und mit den Ideen, die ich habe, kann ich nicht hingehen und mit denen vor dem türkischen Konsulat eine Veranstaltung machen. Mit Leuten, die türkische Fahnen verbrennen. Die sind fanatisch. Ich fühle nicht, dass wir auf der gleichen Wellenlänge liegen. Und weil die ganzen Veranstaltungen von den Daschnak veranstaltet werden, ich will mich nicht zu ihrem Mitstreiter machen, das will ich nicht.“ (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S.62)

Die Abwehr einer Identifikation mit dem Genozid Allerdings entwickelte auch Ruben keine alternativen Vorschläge zur Demonstrationspraxis der Daschnak. Während des Interviews wurde lediglich deutlich, dass er wissenschaftliche Ansätze, die die Leugnungsthesen türkischer Historiker widerlegen, als eine der wenigen wirksamen Mittel ansieht, auf lange Sicht eine Anerkennung des Genozids zu erzielen. Wissen im Sinne objektivierbaren, wissenschaftlichen und analytisch verwertbaren Wissens spielte bei Rubens Verhältnis zum Genozid eine herausragende Rolle. Sein Wissen über den Genozid hatte er in erster Linie aus Büchern. Obwohl seine 125 PAOK und ARIS sind die bekanntesten Fußballvereine Griechenlands.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Eltern zu den Deportierten gehört hatten und damit durchaus als Opfer des Genozids bezeichnet werden könnten, war der Genozid im Gegensatz zu den positiven Erinnerungen an die Herkunftsorte in der Türkei kein dominantes Thema intergenerationeller Übertragung in der Familie gewesen: Ruben:

Susanne: Ruben:

Susanne: Ruben:

Susanne: Ruben:

Nein, von meinen Eltern habe ich nichts erfahren, weil meine Eltern während des Genozids nicht viel durchgemacht haben. Wie ich Dir bereits auf den anderen Kassetten (während unseres ersten Interviews) erzählt habe. Durch das Lesen, durch das Lesen. Nur? Nur, weil meine Eltern über die Türken niemals böse Worte (mavra logia) gesagt haben, ich habe von meinen Eltern keine bösen Worte über die Türken gehört. Sicher, sie haben erzählt, dass sie den Genozid verübt haben usw., aber selbst meine Großmutter sagte über die Türken, die bösen Türken seien sehr böse und die guten seien sehr gute Menschen. Das heißt, dass es gute Türken gibt. (hakt nach:) Sie hat nie über Details gesprochen? Nein, sie sagte mir, was sie durchgemacht haben, aber meine Eltern haben mich niemals fanatisiert. Außerdem kommt hinzu, dass ich keine sehr engen Verwandten habe, die während des Genozid gestorben sind. Hast Du nicht? Das heißt, meine Großmutter hatte einige Cousins usw. die starben. Aber sagen wir mal, mein Großvater ist nicht gestorben, keiner meiner Großväter, keine meiner Großmütter ist während des Genozids gestorben. Ich meine, mein Schwager aus Athen da ist der Bruder des Großvaters gestorben. E, das führt so zu seinem größeren Hass. Aber ich habe keinen sehr nahe stehenden Menschen, der während des Genozid starb. Sie konnten sich retten, ich weiß nicht wie, aber sie konnten sich retten. Das ist ein Unterschied. (Interview Nr. 3, S. 05.05.1996, 47-48)

Als ich Ruben danach frage, welche Rolle der Genozid als Identifikationspunkt für sein Leben heute spiele, macht er einen gelangweilten, ärgerlichen Eindruck. Wie folgender Interviewauszug zeigt, beharre ich allerdings auf der Frage nach der Bedeutung des Genozids. Obwohl ich Ruben in seinen Ausführungen über die Daschnak und deren Instrumentalisierung des Genozids im Prinzip zustimmt, kann ich im Bezug auf Israel nicht bei diesem Thema bleiben. Ich befürchte, dass er eine anti-israelische Position einnehmen könnte und dass ich mich gezwungen fühlen könnte, dieser eine ausgewogenere Position entgegenzusetzen. Ich dagegen will mich mit Ruben nicht über den IsraelPalästinakonflikt auseinander setzen, sondern über seine persönliche Identifikation mit dem Genozids reden. Genau dies verweigert Ruben jedoch: Susanne: Ruben: Susanne: Ruben:

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Aber was bedeutet, welche Bedeutung hat der Genozid für Dich? Welche Bedeutung er hat? Das ist ein historisches Ereignis. Ich verstehe nicht, welche Bedeutung es haben sollte. Ist es etwas, was Dich heute beschäftigt? Nein, ich stehe weder mit dem Thema auf, noch gehe ich jeden Tag damit schlafen. Ich habe über dieses Thema gelesen, das, was ich gelesen habe, reicht. Aber ich setze mich nicht jeden Tag hin um zu le-

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Susanne: Ruben:

Susanne: Ruben:

sen. Gibt es etwa in meinem Alter andere Leute, die von morgens bis abends Bücher lesen? Du redest nicht mit Deiner Mutter über das Thema? Aber meine Mutter weiß doch auch nicht mehr als ich. Auch mein Vater wusste nicht mehr als ich. Da ich Bücher lese, weiß ich mehr als sie. Das heißt, dass ist nicht mit den Juden zu vergleichen, wo die nachfolgende Generation die Nachkommen der Opfer sind. Verstehst Du? Das ist anders. (Ich lasse nicht locker und bohre noch einmal nach:) Neulich habe ich mit jemandem in der Gemeinde gesprochen, der sehr in diesem Thema drin war, weil sie Verwandte hatten, die 12 Jahre alt waren .. (unterbricht mich ungehalten): Aber ich habe dir gesagt, dass meine Eltern dabei waren, aber sich retten konnten. Wir haben nicht, in unserer Verwandtschaft ist es nicht dazu gekommen, dass wir Menschen haben die gestorben sind, es ist nicht dazu gekommen. Aber selbst wenn es Leute geben würde, die gestorben sind, das würde an meinen Ideen auch nichts ändern. Was soll ich machen. Soll ich jeden Tag mit diesem Thema aufstehen und schlafen gehen? Muss man krank sein. So wie Hitler oder die Nazis krank waren sagen wir mal mit dem Thema der Zukunft Deutschlands? (...) –Ich habe so etwas nicht. Wie wir uns vor den Türken retten können? Für mich ist das irrational, für mich ist das compulsive [sic!], eine, wie heißt das, obsession [sic!], obsessive [sic!], ich kann nicht unter diesem Thema leben. Ich sehe dieses Thema viel kühler. Viel kühler. Und wie ich das so sehe, ich sehe, dass die Genozide auch jetzt passieren. In Tschetschenien geschieht etwas Tragisches. In Kurdistan geschieht etwas Tragisches. . Und der gesamte Westen schließt die Augen. (er fährt fort über die wirtschaftlichen Interessen der Großmächte und Großkonzerne zu reden) (Interview Nr. 3, 05.05.1996, S. 87)

Ruben will sich auf eine persönliche Diskussionsebene in Bezug auf das Thema Genozid nicht einlassen, er sehe das Thema „viel kühler.“ Damit wird auch hier die Bedeutung deutlich, die Ruben analytischem Wissen im Bezug auf den Genozid zuweist. Darüber hinaus verwehrt sich Ruben hier einer pathologisierenden Zuschreibung meinerseits. Ich will Ruben, als Angehörigen der 2. Generation und Kind von Genozidopfern, eine persönliche Identifikation mit diesem Thema zuschreiben und gehe dabei davon aus, dass der Genozid ein Gegenstand der intergenerationellen Übertragung in der Familie gewesen sein muss. Ruben empfindet diese Zuschreibung meinerseits als pathologisierend, und setzte sich dagegen zur Wehr, indem er mich provozierend fragte, ob man sich ständig mit diesem Thema beschäftigen müsse: „Was soll ich machen. Soll ich jeden Tag mit diesem Thema aufstehen und schlafen gehen?“ Dies bewertet er jedoch als eine „obsession“, eine pathologische Störung. Auch mit dieser Abwehr einer emotionalen Identifikation mit dem Genozid verweigert sich Ruben den Forderungen kollektiver Erinnerungs- und Identitätsarbeit und manifestiert damit seine Positionierung als Dissident der Paroikia. Den zentralen emotionalen Stellenwert, den der Genozid für viele meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, so auch für Serine im 201

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

folgenden Kapitel, in der Identifikation mit der Herkunftsfamilie hatte, weist er der türkischen Sprachpraxis und der Türkei als Herkunftsland der Eltern zu.

6.3 Serine – „Das kommt mir vor wie ein großes Theater“ Serine war eine der wenigen aus Armenien stammenden Migrantinnen, die ich im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Interviews über ihre Einstellung zum Genozidgedenken befragt habe. Zum Zeitpunkt unseres Interviews war Serine (32) bereits seit drei Jahren in Thessaloniki und teilte sich mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder eine Wohnung. Ihre Schwester lebte mit ihrem Mann und den beiden halbwüchsigen Kindern ebenfalls in Thessaloniki. In Jerewan hatte Serine erfolgreich und mit viel Freude als Grundschullehrerin gearbeitet. Zum Zeitpunkt unseres Interviews war sie über ihre berufliche und persönliche Situation deprimiert und in Bezug auf ihre Zukunftsperspektiven in Griechenland desillusioniert. Sie beaufsichtigte als schlechtbezahltes Kindermädchen ein behindertes Kind. Als undokumentierte Migrantin sah sie keine Möglichkeit, einen Job zu finden, der ihr nicht nur das notwendige Auskommen eingebracht, sondern auch ihren Qualifikationen entsprochen und eine berufliche Entwicklung geboten hätte. Von der Paroikia in Thessaloniki war sie – wie die meisten Migrantinnen und Migranten – enttäuscht und verletzt über die entgegengebrachte Ablehnung und die stereotypisierten Vorurteile der Armenier aus der Diaspora (vgl. Kapitel 4.2.2). Letztere gingen davon aus, dass das mangelnde politische und nationale Bewusstsein für das Genozidgedenken und seine Relevanz für armenische Identität eine der zentralen Differenzen zwischen ihnen und „den Anderen“ aus der Republik Armenien seien. Serine wiederum bewertete die kollektive Erinnerungsarbeit in der Diaspora vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der Erinnerungsarbeit in der Republik Armenien: Serine: Susanne: Serine:

Ich weiß nicht, meine Meinung ist, dass das alles Theater ist. Das kommt nicht von Herzen. Wie findest Du das denn? Schwierig, ich glaube, dass es schwierig ist. Ich glaube nicht, dass es Theater ist Weißt Du, mir gefällt das nicht. Für uns Armenier ist der 24 April kein Festtag, das ist, wie soll ich sagen, dass ist kein Tag zum Feiern, wir feiern nicht. (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 25)

In der offiziellen Erinnerungsarbeit der Diaspora wurden die Demonstrationen als adäquater Ausdruck eines notwendigen politischen Bewusstseins angesehen. Der dabei zur Schau gestellte Kampfgeist galt als angemessener emotionaler Ausdruck des Genozidgedenkens. Die jungen Frauen hatten die Wirksamkeit der Demonstrationen als Mittel politischen Protestes zwar angezweifelt, schrieben ihnen dennoch eine authentische und starke emotionale Wirkung zu. Selbst Ruben, der die ritualisierte Erinnerungsarbeit der Daschnak als eine einzige public relation-Veranstaltung für die Partei charakterisierte, 202

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

hatte die Emotionalität der Demonstrierenden zwar als fanatisch und hooliganesk kritisiert, ihre gefühlsmäßige Authentizität jedoch nicht angezweifelt. Vielmehr distanzierte er sich mit seinem analytischen Zugang zum Genozidgedenken gerade von dieser Emotionalität. Serine dagegen sieht die Demonstrationen nicht als politischen Protest, sondern als ein einziges „Theater“. Durch den Ausdruck Theater macht sie deutlich, dass sie weder die politischen Forderungen ernst nehmen, noch die nach außen getragene Emotionalität als authentische Empfindungen anerkennen kann. Sie kritisiert die Emotionen nicht nur als vorgetäuscht, sondern auch als falsche emotionale Reaktion, die der Erinnerungsarbeit an ein traumatisches Ereignisse nicht angemessen sei. Ihrer Ansicht nach sollte eine kollektive Erinnerungsarbeit folgendermaßen aussehen: Serine:

Susanne: Serine:

Susanne: Serine:

Susanne:

Dieser Tag ist in Armenien ein sehr tragischer Tag, ist kein Fest. Dieser Tag ist immer, auch in den Schulen, an diesem Tag ist Dein Herz schwarz, Deine Augen sind nur voller Tränen. Weil Du weißt, wie viele Millionen Menschen sie umgebracht haben. Und wir in Armenien verbringen den Tag so. Hier tun sie das nicht. Das ist nicht nur so, wir werden zum türkischen Konsulat gehen und schreien, nein. Nein, viel mehr mit einem schwarzen Herzen und Du erinnerst dich an die Geschichte. Natürlich haben wir das nicht durchgemacht, aber ich erinnere die Geschichte. Ja, mein Großvater war von dort, wie die Menschen geflohen sind, wie der Genozid war, was es war, wie es war. So ist dieser Tag. Es ist dort nicht mit den politischen Forderungen verbunden, die sie hier stellen? Nein, es ist dort so, wie Du den 1. November in Deutschland beschrieben hast. So. So ein Tag ist dieser Tag. Du machst Dir Sorgen, Du bist bedrückt und denkst daran, an die Geschichte. Ich erinnere die Geschichte an diesem Tag viel mehr. Jetzt erinnere ich mich natürlich jeden Tag, aber .. (verblüfft) Du erinnerst Dich jeden Tag? Ja, jetzt wo ich in einem fremden Land bin, und wenn Du Zeit hast. Ich habe viel Zeit mit Eleni (dem Kind, das sie betreut), weißt Du, deswegen möchte ich da auch nicht bleiben. Und Du erinnerst Dich immer, dass die Armenier die unglücklichsten Menschen der Welt sind. Weil die Armenier ein sehr schlimmes Leben durchmachen. Warum sind sie überall? In Frankreich, Deutschland, der Schweiz und in Amerika, warum? Wegen einem guten Leben geht niemand weg, ist es nicht so? Ihr Deutschen, seid ihr nicht die meisten Deutschen in Deutschland? Ist es nicht so, sind nicht die meisten Russen in Russland, die meisten Deutschen in Deutschland, die Georgier in Georgien? Aber die Armenier sind überall, weil wie das Leben auch geht, die Armenier haben immer Probleme, daher gehen sie überall hin. Und jetzt wir. Wer weiß? Es kann sein, wenn wir nicht zurückkehren und die Dinge dort schlechter werden, dann werden wir nicht zurückkehren und verloren gehen. Ist es nicht so. Daher. Und daran erinnere ich mich immer, aber dieser Tag ist noch mehr, das will ich sagen, es ist kein Fest. Es ist ein schwarzer Tag, an dem alles wie ein Film an Dir vorüberzieht. Nicht wie ein Traum. Wie ein Film zieht es an deinen Augen vorbei. Siehst Du auch Bilder?

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA Serine:

Ja, alles, Wie jetzt. Ich sehe diesen Tag nicht, für mich ist das nur Geschichte, aber wenn du irgendwohin gehst, weinen alle. Aber jetzt sind natürlich nur noch sehr wenige Menschen am Leben aus dieser Zeit. Sehr wenige, es sind die Großmütter, Großväter, wir Jungen sind jetzt in der Überzahl. Aber als meine Großmutter und mein Großvater noch lebten, für meinen Großvater war das, ich weiß nicht, was für ein Tag. Er hat immer ab dem Morgen geweint. Er erinnerte sich an alles, wie sie geflohen sind, wie seine Familie umgebracht wurde, sein Bruder, seine Schwester. So, verstehst Du, und das hat er uns erzählt. Der Großvater hat geweint, meine Mutter, alle im Haus haben wir geweint. Deswegen sage ich Dir das. Das, was ich von meinem Großvater gehört habe, das läuft wie ein Film an mir vorbei, er war klein und hatte zwei kleine Geschwister, wie sie geflohen sind. Über die Berge und durch den Wald, das ist es. (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 24-25)

Serine identifiziert sich mit der öffentlichen Erinnerungsarbeit in Armenien, die durch Trauer und stilles Gedenken an die Geschichte und die Toten gekennzeichnet sei. Sich zu sorgen, sich bedrückt zu fühlen und zu weinen seien die angemessenen emotionalen Reaktionen an diesem „tragischen, schwarzen Tag“. Serine bezeichnet mit diesem eher passiven Leiden und dem stillen, tränenreichen, in sich gekehrten Totengedenken eine kollektive Erinnerungsarbeit als angemessen, die im krassen Gegensatz zur heroisierenden, politisierten kollektiven Erinnerungsarbeit der Paroikia steht. Denn die Ritualisierungen dieser Erinnerungsarbeit zielen gerade darauf ab, die traumatischen Erfahrungen passiven Leidens und Trauer in aktiven, heldenhaften Widerstand zu transformieren. Serine nimmt die öffentliche, kollektive Erinnerungsarbeit in Armenien und die Generationsarbeit in ihrer Familie als kohärent war. In der öffentlichen Erinnerungsarbeit sieht sie die Erinnerungen und Gefühle artikuliert, von denen ihr Großvater, ein Angehöriger der Erlebnisgeneration, am 24. April im privaten Kreis der Familie überwältigt wurde. Dabei stand die Trauer um die verlorenen Geschwister und Eltern im Vordergrund. Seine Erinnerungserzählungen sind es, die für Serine die historische Geschichte des Genozids anschaulich machen und in Bilder übersetzt, die „wie ein Film an Deinem Auge vorbeiziehen“. Wie ich es weiter unten auch für Takuhi Atamian und Isabella Turoni beschreiben werde, ist die Erinnerung an den Genozid für Serine auch gleichzeitig eine Erinnerung an die intime Situation der intergenerationellen Übertragung von Erinnerungen und Gefühlen in ihrer Familie und an ihren bereits verstorbenen Großvater. Ähnlich wie für Ruben das Hören und Sprechen der türkischen Sprache ein Totengedenken an seinen Vater ist, ist für Serine der Genozidgedenktag auch ein Gedenktag an ihren Großvater. In der ritualisierten Erinnerungsarbeit wird das Trauma des Genozid in eine positiv verpflichtende, normative Erinnerung verwandelt, die für die Konstruktion von kollektiver Identität und Gemeinschaft in der Gegenwart in Anspruch genommen wird. Serine kritisiert diese heroisierende Gedenkpraxis als ein „Theater“ und identifiziert sich mit einer trauernden, passiven Erinnerungsarbeit, die jedoch für sie eine ähnliche Wirkungsweise hat wie die Ritualisierungen für die Diasporaarmenier. 204

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Seitdem sie in Griechenland lebt, sei ihre Identifikation mit den Genozid stärker geworden: „Jetzt erinnere ich mich natürlich jeden Tag (...) Ja, jetzt wo ich in einem fremden Land bin.“ Die Geschichte des Genozids und damit die Erinnerungserzählungen ihres Großvaters, die diese abstrakte Geschichte mit Bildern füllt, haben für sie den Stellenwert einer projektiven Erzählung. Diese projektive Erzählung des Genozids wird zu einem Referenzsystem, mit dem sie ihre gegenwärtigen Erfahrungen als undokumentierte Migrantin in Griechenland deutet und konzeptualisiert. Damit generalisiert Serine, wie auch der dominante Diskurs über Diaspora, den Genozid als die exemplarische Erfahrung der armenischen Diaspora, der alle noch so unterschiedlichen Erfahrungen von Migration gleichen: „Und Du erinnerst Dich immer, dass die Armenier die unglücklichsten Menschen der Welt sind. Weil die Armenier ein sehr schlimmes Leben durchmachen. Warum sind sie überall? In Frankreich, Deutschland, der Schweiz und in Amerika, warum? Wegen einem guten Leben geht niemand weg, ist es nicht so?“ Die positiven und emanzipatorischen Motive und Erfahrungen, die sie auch mit ihrer Migration nach Griechenland verbindet und an anderen Stellen des Interviews durchaus äußert, werden hier negiert. Indem Serine ihre aktuelle Migrationsituation mit dem Genozid vergleicht, wird ihre persönliche Erfahrung zu einer exemplarischen Erfahrung armenischer kollektiver Identität. Dieser Prozess der Überkreuzung persönlicher und kollektiver Erfahrungen äußert sich auch in ihrer Rede: Spricht Serine vorher noch explizit von ihrer Erinnerung und ihrer Migration, generalisiert sie im nächsten Satz, redet über die Armenier als ein Volk und verwendet schließlich das kollektive Wir. Dabei bezieht auch sie sich auf den dominanten Diskurs des weißen Genozids im Sinne einer Erosion von Identität: „Und jetzt wir. Wer weiß? Es kann sein, wenn wir nicht zurückkehren und die Dinge dort schlechter werden, dann werden wir nicht zurückkehren und verloren gehen.“ Aus der Perspektive der Diasporaarmenier wird Serine jedoch ein Bewusstsein von Diaspora abgesprochen. Ihre Migrationerfahrung wird von diesen als „ökonomische Migration“ charakterisiert und damit als eine Erfahrung klassifiziert, die im Sinne ihrer nationalen Ideologie nicht als erzwungenes Exil, sondern als Landesverrat bewertet wird. Obwohl Serine die heroisierende Gedenkpraxis der Diaspora als „Theater“ abwertet, war es ihr – für mich überraschenderweise – dennoch wichtig, daran teilzunehmen: „Sicherlich, die drei Jahre, die ich jetzt hier bin, bin ich gegangen. Auch dieses Jahr war ich dort, hast Du mich nicht gesehen? Ich bin von Zoi (ihre Arbeitgeberin) weggegangen, einen Tag vorher habe ich zu ihr gesagt: ‚Zoi, morgen ist ein solcher Tag und wenn Du mich nicht gehen lässt, dann verlasse ich Dich für immer. Ob Du morgen zu tun hast oder nicht, das hat keine Bedeutung. Du musst herkommen, damit ich gehen kann.‘ Ich bin nicht in die Kirche gegangen, sondern habe an der Ecke auf die Demonstration gewartet. Und meine Mutter und mein Cousin ist auch von der Arbeit gekommen und meine Nichte und mein Neffe.“ (Interview Nr. 24, 07.09.1996, S. 26-27)

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Die öffentliche Identifikation mit der kollektiven Erinnerungsarbeit ist für Serine so bedeutsam, dass sie sogar die Kündigung ihrer Arbeitgeberin riskiert hätte, wenn diese sie nicht hätte gehen lassen. Ihre Teilnahme an der Demonstration lässt sich auch als ein emanzipatorischer Akt der Selbstbehauptung gegenüber der Arbeitgeberin werten, der sie im Vorfeld deutlich zu verstehen gab, dass deren individuelle Bedürfnisse an diesen Tag hinter dem nationalen Gedenktag zurückstehen müssen. Indem Serine die Notwendigkeit zur öffentlichen Demonstration vor persönliche Interessen stellt, folgt sie einer zentralen Forderungen der Daschnak, diesen Tag als nationalen Gedenktag zu begehen. Die Überkreuzung individueller und kollektiver Erinnerungsarbeit durch die intergenerationelle Übertragung von Erinnerungserzählungen wird abermals in der Generationsarbeit der Familie Kassapian deutlich.

6.4

Familie Kassapian – Der Genozid erhält uns als Armenier!?

Zur Familie Kassapian gehörten die Mutter Armenuhi (Ende 40), der Sohn Tavit (20 Jahre) und ihre Tochter Ani (18 Jahre). Herr Kassapian war einige Jahre vorher nach langer Krankheit gestorben. Armenuhi führte zum Zeitpunkt unseres Gesprächs das Schuhgeschäft weiter, das sie jedoch kurz danach aufgab. Ani hatte nach ihrem Schulabschluss der Mutter im Geschäft geholfen und überlegte nun, welche berufliche Laufbahn sie einschlagen wollte. Tavit studierte Wirtschaftswissenschaften. Er war aktives Mitglied in einem der Vereine der Paroikia – dem Homenetmen. Armenuhi und Ani besuchten zwar Veranstaltungen in der Gemeinde, waren aber selber nicht aktiv. Armenuhi hätte es gerne gesehen, wenn ihre Kinder Mitglied in der armenischen Jugend gewesen wären. Aber Ani hatte sich dort immer als Fremdkörper gefühlt. Zum einen, weil sie der politischen Ideologie der Daschnak eher neutral gegenüberstand, zum anderen weil sie die Jugendorganisation als eine geschlossene Clique wahrnahm. Tavit dagegen hatte seinen Platz im Homenetmen gefunden. Als erklärter Anti-Daschnak und Parteienfeind war der Homenetmen für ihn als politisch neutraler Verein in der Paroikia Thessalonikis der einzige Ort, an dem er sich ein Engagement vorstellen konnte. Um die Interviewauszüge angemessen zu kontextualisieren, möchte ich kurz die interpersonelle familiäre Dynamik während des Gesprächs beschreiben. Armenuhi dominierte das Gespräch. Wenn ich eine neue Frage oder einen neuen Punkt anschnitt, dann antwortete meist sie zuerst. Armenuhi war auch die einzige, die mir Gegenfragen stellte oder meine Meinung zu bestimmten Themen einforderte. Tavit und Ani dagegen musste ich meist direkt ansprechen, um auch ihre Meinung zu hören. Tavit vertrat dann in der Regel sehr emotional eine Gegenposition zu seiner Mutter. Ani war sehr zurückhaltend. Selbst wenn ich sie direkt ansprach, schloss sie sich meist der Meinung ihrer Mutter oder ihres Bruders an. Sie formulierte nur sehr selten einen eige206

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

nen oder gar abweichenden Standpunkt. Diese innerfamiliäre Dynamik beeinflusste nicht nur die Art und Weise, wie gesprochen wurde, sondern auch die inhaltlichen Aussagen. Tavits emotional vorgetragene Gegenpositionen z.B. lassen sich auch als deutliche Abgrenzungsversuche gegen den Einfluss seiner Mutter werten. Anis zurückhaltendes Verhalten deute ich auch als Versuch, die emotionale Dynamik zwischen Mutter und Bruder zu neutralisieren bzw. zu harmonisieren. Der Genozid in der intergenerationellen Übertragung Bereits zu Beginn des Gesprächs kommt die Rede auf den Genozid. Armenuhi beginnt das Interview, indem sie zunächst über die Herkunftsorte ihrer Eltern in der Türkei erzählt und dann über die beruflichen Erfolge und Niederschläge nach der Flucht nach Griechenland und der späteren Migration nach Kanada126 berichtet. In diesem Zusammenhang frage ich sie, ob ihre Eltern Opfer oder Zeugen des Genozids (martyras tis genoktonias) gewesen seien: „E, Opfer waren sie nicht, meine Eltern. Sie waren zwei, drei Jahre alt, als sie hierher kamen. Aber meine Großmutter erklärte es mir. Ich lebte zusammen mit einer meiner Großmütter, ich erinnere mich an sie sehr gut. Ich war 12, 13 Jahr alt, als sie starb. Sie war nach Kanada gekommen und hat mir davon erzählt. Ich erinnere mich daran und wenn ich das sage, dann schaudert es mich immer noch, wie sie ihre Brüder verloren hat. Es sind erschütternde Geschichten, nur die Großmütter haben das gesehen. Aber von der Großmutter an meine Mutter, meine Mutter hat es dann mir erzählt. Ich bemühe mich, aber mit der Zeit, weißt Du, wird es immer mehr verfälscht. Es wird verfälscht. Ich bemühe mich, es ihnen zu erzählen, was sie durchgemacht haben, wie die Türken die Kinder massakriert haben, die Mütter, die ihnen Milch gaben. Das habe ich von meiner Großmutter gehört, aber noch mehr von meiner Mutter. E, und sie erzählten das, weißt Du, mit Tränen in den Augen. Und das erhält uns. Wirklich, ich glaube, dass uns das erhält, der Genozid, der geschehen ist, der erhält uns. Zumindest fühle ich das so.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 4)

Ähnlich wie für Serine ist der Genozid für Armenuhi in erster Linie mit den Erinnerungserzählungen innerhalb der Familie verknüpft. Während sich Serine auf ihren Großvater und ihre Mutter bezog, sind für Armenuhi die Großmutter und die Mutter die Schlüsselfiguren der intergenerationellen Übertragung der Genoziderfahrung. Die Großmutter gehörte zur Erlebnisgeneration. Zwar wird in der Interviewpassage nicht deutlich, ob die Großmutter Deportationen und Massaker am eigenen Leib erfahren hat, sie scheint jedoch Augenzeugin der Ermordung ihrer Brüder gewesen zu sein. Armenuhi generalisiert die Erinnerungserzählungen der Großmutter als den zentralen Mechanismus, mit dem Erinnerungen an den Genozid übertragen werden, indem sie sagt: „Es sind erschütternde Geschichten, nur die Großmütter haben das gesehen.“ 126 Armenuhi war zwar in Thessaloniki geboren worden, jedoch in Kanada aufgewachsen. Als junges Mädchen kehrte sie in den 1960er Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Thessaloniki zurück. Zum Zeitpunkt des Interviews fühlte sie sich nach wie vor als Fremdkörper in der Paroikia.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Armenuhi weist damit den Erinnerungserzählungen der Großmütter für die intergenerationelle Weitergabe der Identifikation mit dem Genozid und mit armenischer Identität eine bedeutendere Rolle zu als der Vermittlung im Rahmen der institutionalisierten Erinnerungsarbeit. Nicht die ritualisierten Handlungen, die gemeinsam mit anderen Armeniern in der Paroikia durchgeführt werden, sind ihrer Ansicht nach zentral, sondern die Erzählungen in der Privatheit der Familie. Dabei betont Armenuhi vor allem die Bedeutung der Beziehung zwischen der Erlebnisgeneration und der dritten Generation. Viele meiner Gesprächspartner wuchsen – wie Armenuhi – zusammen mit den Großeltern auf. Für Armenier in Griechenland stellt Familie einen hohen Wert dar. Die Bedeutung enger Familienbeziehungen gilt vielen als ein spezifisches kulturelles Merkmal der Abgrenzung zu den Griechen. Ich konnte jedoch in der alltagspraktischen Umsetzung dieser Beziehungen zwischen griechischen und armenischen Familien keinen Unterschied feststellen. In beiden ist das Band zwischen Enkeln und Großeltern häufig sehr eng, da die Mütter, in deren Verantwortungsbereich die Kindererziehung fällt, häufig berufstätig sind. Die Großeltern, vor allem die Großmütter, übernehmen traditionell einen Großteil der Kinderbetreuung. Daher verbringen die Enkelkinder häufig mehr Zeit mit den Großeltern als mit ihren Eltern. Außerdem leben drei Generationen oft unter einem Dach oder in räumlicher Nähe zueinander, was unter anderen auch auf die gesellschaftliche Relevanz der Mitgift zurückzuführen ist.127 Allerdings führt das nicht zwangsläufig dazu, dass Angehörige der dritten Generation durch die Großeltern das erste Mal mit Erfahrungserzählungen oder Geschichten über den Genozid konfrontiert werden. Manche berichteten, dass ihre Großeltern zwar matyres tis genoktonias (Opfer bzw. Zeugen des Genozids) gewesen seien, jedoch aus unterschiedlichen Motiven niemals oder nur mit sehr ausgewählten Personen darüber gesprochen hätten. Einige Angehörige der Erlebnisgeneration wollten die schmerzhafte Erfahrung durch die Erzählung nicht zurückholen, andere ihre Kinder und Enkel nicht damit belasten. Abgesehen davon gibt es auch Familien, in denen es keinen familiären Bezug zum Genozid gibt – wie z.B. bei den jungen Frauen in Kapitel 6.1 – und in denen die Identifikation mit dem Genozid in erster Linie über die institutionalisierte Erinnerungsarbeit geschaffen wird. Zu ähnlichen Ergebnissen wie Armenuhi kommen auch Touryan-Miller und Miller (1991) in ihrer Studie über die intergenerationelle Übertragung in den USA. Auch sie heben hervor, dass die Beziehung zwischen der ersten und dritten Generation zentral für die emotionale Identifikation der dritten Genera127 In Griechenland spielt die Mitgift in Form einer Wohnung oder eines Hauses, das vorzugsweise an das Elternhaus der Braut angebaut wird, nach wie vor eine große Rolle (Gemkow 1993; Hirschon 1998: 117ff.). Obgleich meine Gesprächspartnerinnen betonten, dass für Armenier im Gegensatz zu den Griechen die proika (Mitgift) niemals eine notwendige Voraussetzung für die Eheschließung gebildet hätte, war es allgemein üblich, dass vor allem die Eltern der Braut eine Mitgift aufbrachten.

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tion mit dem Genozid sei. Sie führen dies ebenfalls in erster Linie auf das armenische Verwandtschaftssystem zurück, in dem der Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln eine besondere Bedeutung zugewiesen würde. Zweitens heben sie die mediierende Rolle der Eltern, also der zweiten Generation hervor, da die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln stark von Kontakthäufigkeit und räumlicher Nähe abhinge, die durch die Eltern gefördert würde (1991: 226-32). Die am Beispiel von Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren entwickelten stereotypen Reaktionsmuster der intergenerationellen Übertragung lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Armenier übertragen. Diese gehen davon aus, dass die Erlebnisgeneration wie gelähmt gewesen und damit beschäftigt gewesen sei, ihren zerstörten Lebenszusammenhang wieder aufzubauen. Ihre Kinder verhielten sich gegenüber dem Trauma der Eltern ignorant, assimilierten sich und bauten ein neues Leben im Residenzland auf. Die Enkelkinder schließlich identifizierten sich wieder stärker emotional mit den Erfahrungen der Großeltern. Sie verspürten nicht nur Interesse, sondern auch Wut sowie den Wunsch sich stärker zu engagieren. Susan Pattie dagegen kommt in ihrer vergleichenden Ethnographie über Armenier in London und Zypern zu dem Ergebnis, dass diese unterschiedlichen Reaktionsmuster nicht generationsspezifisch seien, sondern eher die Bandbreite an Reaktionen innerhalb einer Generation spiegeln würden (Pattie 1997:18). Sie hebt hervor, dass die intergenerationelle Übertragung innerhalb der Familie für die Identifikation der dritten und vierten Generation mit den Genozid von unterschiedlicher Relevanz sein kann. Außerdem geht sie davon aus, dass die meisten Angehörigen der dritten und vierten Generation nicht durch Erinnerungserzählungen in der Familie, sondern durch publizierte Biographien, politische Literatur, Filme, Photographien und Veranstaltungen in den communities mit dem Genozid in Berührung gekommen sind. Leider beschreibt Pattie sowohl die Generationsarbeit innerhalb der Familie als auch die Übertragungsprozesse in der community nur kurz (Pattie 1997: 18ff). Tendenziell lassen sich jedoch ihre Ergebnisse auch auf die Mechanismen intergenerationeller Übertragung bei Armeniern in Griechenland übertragen, denn auch diese sind nicht durch stereotyp unterschiedliches Verhalten der Angehörigen der einzelnen Generationen geprägt. Armenuhi definiert die Frauen und ihre Geschichten als die zentralen Akteurinnen in der intergenerationellen Übertragung der Erinnerung: „Aber von der Großmutter an meine Mutter, meine Mutter hat es dann mir erzählt.“ Diese Erinnerungsarbeit über die weibliche Linie besteht neben Geschichten über die erlebten traumatischen Erfahrungen aus Erzählungen, in denen ganz generell das passive Leiden der wehrlosen Opfer – der massakrierten Kinder und ihrer wehrlosen Mütter – im Vordergrund steht. Damit grenzt sie sich von der öffentlichen Politik der Erinnerung ab, in der aktive, männlich konstruierte Widerstandshandlungen im Vordergrund stehen. Touryan-Miller und Miller (1991) dagegen gehen von den Erfahrungen ihrer männlichen Gesprächspartner aus und beschreiben, dass die intergenerationelle Übertragung der Genoziderfahrung über die männliche Linie verläuft. 209

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Armenuhi macht zwischen der individuellen Erinnerungserzählung ihrer Großmutter und den generalisierten Erzählungen ihrer Mutter keinen Unterschied. Zwar haben die Erzählungen unterschiedliche Akteure und Inhalte – die Großmutter erzählte über ihre individuelle traumatische Erfahrung der Ermordung ihrer Brüder, die Mutter über anonyme armenische Frauen und Kinder, die von den Türken massakriert wurden. Jedoch stellt für Armenuhi die Augenzeugenschaft der Großmutter an sich keinen Wert dar. Wichtiger als Augenzeugenschaft – also als die faktischen Inhalte der Erzählung – ist die emotionale Art und Weise, mit der sowohl die Großmutter als auch die Mutter ihre Geschichten schilderten. Denn beide erzählten sie „(...) mit Tränen in den Augen.“ Damit weisen ihre Erzählungen ein ähnliches Chronotop128 auf, das durch Emotionalität gekennzeichnet ist. Während für juristische und historische Kontexte auf Augenzeugenschaft ausgerichtete Chronotope wichtig sind, da dort die zeitliche und räumliche Abfolge einer Erzählung relevant ist, ist für Armenuhi die emotionale Qualität der Erzählung zentral. Über diese Gemeinsamkeit der emotionalen Qualität durchdringen sich Erzählungen über individuelle und kollektive traumatische Erfahrungen und werden so unterschiedslos. Miller und Miller-Touryan (1991) argumentieren, dass die Familie und die familiäre Erinnerungsarbeit der primäre Sozialisationskontext für eine Identifikation mit dem Genozid sei. In sozialen Institutionen wie z.B. der Schule würden familienspezifische Erinnerungen dann generalisiert. Für Armenuhi dagegen artikuliert die spezifische Leidensgeschichte ihrer Familie die generalisierte kollektive armenische Geschichte und umgekehrt. Beide Arten von Erinnerungen – die persönliche der Großmutter und die kollektive der Mutter – stützen sich in Bezug auf ihre inhaltliche Botschaft an Armenuhi gegenseitig. Die Botschaft, die Armenuhi empfängt, lautet, dass die emotionalen, verstörenden und erschütternden Geschichten über die Vernichtung einzelner Familienmitglieder oder ein armenisches Kollektiv, „uns“, die armenische Nation erhält: „Wirklich, ich glaube, dass uns das erhält, der Genozid (...) erhält uns.“ Daher sind die emotionalen Erzählungen der Frauen für Armenuhi nicht nur familienspezifisch wichtig, sondern von zentraler nationaler Bedeutung: Denn die von den Frauen erzählten Geschichten über den Versuch der absoluten Vernichtung und die durch die Erzählung übertragenen Emotionen erhalten armenische Identität und Gemeinschaft. Die traumatische Erinnerung an den Gemeinschaft zerstörenden und bedrohenden Genozid wird damit zu einer Identität und Gemeinschaft stiftenden Kraft umgedeutet. Diese kreative Umdeutung traumatischer Ereignisse in sinn- und gemeinschaftsstiftende Erinnerungen ist – wie ich im vorhergehenden Kapitel herausgearbeitet habe – auch charakteristisch für die ritualisierte Erinnerungsarbeit. Auch die Genozid-Gedenkrituale sind Handlungen, die zum einen emotionalisieren und zum anderen identitäts- und gemeinschaftsstiftend wirken. Beides, die Erinnerungsarbeit in der Familie und die öffentliche Erinnerungsarbeit, sind kreative und therapeutische Strategien. Mit ihnen werden persönliche und/oder kollek128 Den Begriff des Chronotops habe ich in Kapitel 1.2 erläutert.

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tive Traumata nachträglich sinnhaft gedeutet und in eine positiv verpflichtende, normative Erinnerung verwandelt, die für die Konstruktion persönlicher und kollektiver Identität in der Gegenwart in Anspruch genommen werden kann. Dennoch gibt es zwischen Armenuhis Auffassung der familiären und öffentlichen Erinnerungsarbeit auch bemerkenswerte Unterschiede. Die ritualisierte Erinnerungsarbeit hat einen heroisierenden Charakter. In den politisierten ritualisierten Handlungen, die Elemente militaristischer Ritualisierungsstrategien aufgreifen, werden die Opfer des Genozids zu Märtyrern gemacht, die im Kampf für eine heiligen Sache, die armenische Nation, ihr Leben gelassen haben. Es sind also transformatorische kollektiv ausgeführte Handlung, in denen die Opfer des Genozids zu Märtyrern und Helden werden, denen als „männlich“ definierte Eigenschaften wie Wehrhaftigkeit und Kampfgeist zugeordnet sind. Die kodifizierte Bedeutung der institutionellen Erinnerungsarbeit – ihre inhaltliche Botschaft – lautet: heroischer Kampf. Für Armenuhi dagegen lautet die inhaltliche Botschaft der intergenerationellen Erinnerung in erster Linie passiver Schmerz, der über die weibliche Linie übertragen wird: „Ich glaube, meine Großmutter hat es meiner Mutter erzählt, die hat den Genozid erlebt, wie die Massaker geschahen, meine Mutter mir. So haben wir das erhalten, so haben wir uns als Armenier erhalten. Wir haben einen großen Schmerz, den wir durchgemacht haben.“ (Interview Nr. 41, S. 48).

Im Gegensatz zur institutionalisierten Erinnerung, in der armenische Identität und Gemeinschaft auch über die gemeinsame Durchführung ritualisierter Handlungen erzeugt wird, steht für Armenuhi die sinnstiftende Wirkung von Erzählungen im Vordergrund. Die zentrale Bedeutung von Erzählungen für die Konstruktion von Gemeinschaft und Identität ist im Zusammenhang mit der Bildung von Nationalstaaten vielfach untersucht worden. Dabei wird vor allem die Rolle von – meist männlichen – Eliten und Intellektuellen bei der Produktion und Artikulation dieser Erzählungen hervorgehoben (vgl. Gellner 1983; Anderson 1991; Hobsbawm 1990; Suny und Kenndey 1999; Tölölyan 1999). Nicht zuletzt geht es auch in diesem Buch um die Frage, welche Rolle Institutionen und Eliten bei der Konstruktion von Gemeinschaft in der Diaspora spielen. Und auch im Fall der armenischen Diaspora sind die Institutionen von meist männlichen Eliten geprägt. Feministische Wissenschaftlerinnen dagegen haben darauf hingewiesen, dass in nationalen Projekten die Familie als Keimzelle nationaler Identifikation fungiert und vor allem Frauen für die Übertragung ethnischer Werte verantwortlich gemacht werden (vgl. Yuval-Davis 1997). Armenuhi identifiziert sich mit dieser Sichtweise, indem sie die privaten Erzählungen der Frauen als den zentralen Kontext sieht, in dem die Identifikation mit dem Genozid und armenischer Identität hergestellt wird.

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Nachdem Armenuhi deutlich gemacht hat, dass die intergenerationelle Übertragung der traumatischen Genoziderfahrung für sie den Kern armenischer Identität ausmacht, frage ich Ani und Tavit nach ihrer Meinung: Susanne: Ani: Tavit: Armenuhi: Tavit: Armenuhi: Susanne: Tavit: Armenuhi:

Susanne: Ani: Tavit: Armenuhi:

Und wie seht Ihr das? Ok, irgendwie so, was weiß ich. Ok ... (an mich gewandt): Siehst Du, von Generation zu Generation. Ok, es verliert, von einer Generation zu Generation verliert es. Ich meine das anders. (versucht zu vermitteln): Vielleicht weil es für Euch nicht mit persönlichen Erfahrungen verbunden ist? Das erscheint uns ziemlich weit weg, was weiß ich. Das hat verloren. Hier in Griechenland sind wir wenige Parees und daher ist es verloren gegangen. Ich glaube nicht, dass es etwas mit Parees zu tun hat. Der große Fehler war, Susanna, damals war meine Mutter krank, es gab letztes Jahr einen Ausflug. E, dort in die Türkei, nein, Der-es-Sor, ja. Ich wollte sehr (gerne mitfahren), aber meine Mutter war krank und kam ins Krankenhaus. Ich hätte zumindest die Kinder schicken sollen. Nein, aber Tavit hatte Prüfungen, was weiß ich, irgendwie so. E, ich glaube dieser Ausflug hätte ihnen sehr geholfen. Ich habe das sehr bereut. Und ihr? Ja, ich wäre gefahren. Gut, aber ich weiß nicht. Wie, wir wissen nicht, wir hatten einfach anderes zu tun und mein Mann, so wie der war und der kam gerade aus dem Krankenhaus. Aber manchmal und jetzt, wo ich das erzähle, denke ich und sage, er hätte fahren sollen, sie hätten es dann besser verstanden, sie hätten es dann besser gefühlt, sie hätten es gefühlt. (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 4-5)

Tavit und Ani antworten zunächst ausweichend auf meine Frage. Ani will ihr Verhältnis zum Genozid offensichtlich nicht weiter erklären. Sie schließt sich mehr oder weniger der Position ihrer Mutter an. Tavit kommt zunächst nicht weiter als bis zu einer scheinbaren Bestätigung der Position seiner Mutter, als Armenuhi ihn auch schon unterbricht. Sie sieht in den eher halbherzigen Antworten ihrer Kinder eine Bestätigung ihrer These, dass sich die Identifikation mit dem Genozid in der Familie von Generation zu Generation fortsetzt. In dem sie auf eine gelungene intergenerationelle Erfahrung verweist, präsentiert sich Armenuhi gleichzeitig mir gegenüber als eine erfolgreiche Mutter. Tavit jedoch widerspricht seiner Mutter. Zwar äußert er zunächst mit seinem ok scheinbare Zustimmung. Gleichzeitig grenzt er sich dann jedoch radikal von der Position seiner Mutter ab. Er argumentiert, dass die Übertragung der Erinnerung „von Generation zu Generation verliert“. Diesen Verlust einer Identifikation mit dem Ereignis begründet er zum einen mit der zeitlichen Distanz, denn „das erscheint uns ziemlich weit weg.“ Auch Tavit spricht nun nicht mehr nur in seinem Namen, sondern verwendet das kollektive „uns“, das jedoch, wie bei den Interviewausschnitten anderer Personen, unspezifisch bleibt. Zum anderen führt er den Verlust der Identifikation auf die mangelnde 212

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Größe der Paroikia in Griechenland zurück. Damit unterminiert er die Zentralität, die seine Mutter der Familie als Keimzelle der Übertragung ethnischer Identität zuspricht. Tavit kritisiert Armenuhi mit seiner Gegenposition nicht nur inhaltlich. Im Hinblick auf ihre Sohn-Mutter-Beziehung beinhaltet Tavits lapidarer Satz einen zweifachen Angriff auf Armenuhis Integrität als Mutter. Erstens negiert er die Bedeutung der Mutterrolle für die Übertragung ethnischer Identität, indem er die Paroikia als primären Ort der Übertragung ansieht. Wie stark sich Armenuhi mit der mütterlichen Verantwortung für die Übertragung ethnischer Identität identifiziert, wurde bereits deutlich. Zweitens grenzt er sich auf diese Weise massiv von seiner Mutter ab, indem der ihren Einfluss herunterspielt. Implizit teilt Tavit seiner Mutter auf diese Weise auch mit, dass er unabhängig von ihr Armenier sein kann. Armenuhi nimmt Tavits Versuch, ihre Argumentation und ihren Einfluss zu untergraben, nicht widerspruchslos hin. Inhaltlich argumentiert sie, dass der Verlust der Erinnerung und damit der Identifikation nicht auf die Größe der Paroikia zurückzuführen sei. Gleichzeitig gibt sie aber auch zu, dass die Familie als Übertragungsort auf Dauer nicht ausreichend sein kann, um eine emotionale Bindung an die traumatischen Erinnerungen zu gewährleisten. Für Armenuhi sind die Geschichten ihrer Großmutter und Mutter noch präsent. Sie befürchtet jedoch, dass diese mit der zeitlichen Distanzierung verfälscht werden und von ihr nicht mehr mit der gleichen emotionalen Kraft an ihre Kinder weitergegeben werden können. Armenuhi identifiziert sich mit der ihr zugeschriebenen Rolle als Verantwortliche für die Übertragung von Erinnerungen und Identität. Und sie trägt schwer an dieser Verantwortung. Sie spürt eine gewisse Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Bedrohung, der ihre Erinnerung durch Verfälschung ausgesetzt ist. Diese Verfälschung ist in ihren Augen eine unaufhaltsame Konsequenz der voranschreitenden Zeit: „Ich bemühe mich, aber mit der Zeit, weißt Du, wird es immer mehr verfälscht.“ Als eine Möglichkeit, diese Bedrohung zu entschärfen, sieht Armenuhi die Reise nach Der-es-Zor, den Endpunkt der Deportationen. Die Elemente der ritualisierten Politik der Erinnerung, wie sie von der Paroikia seit Jahr und Tag durchgeführt werden, erwähnt sie allerdings nicht. Die Reise nach Der-es-Zor habe ich im vorhergehenden Kapitel als einen Versuch interpretiert, einen unmittelbaren Kontakt mit der Katastrophe von 1915 und ihren Opfern herzustellen. Indem Armenuhi sich von diesem Ausflug eine Hilfe verspricht – „ich glaube, dieser Ausflug hätte ihnen geholfen“, wird wiederum sehr deutlich, was sie für den Kern des zu übermittelnden Wissens über den Genozid hält: Für sie geht es um eine Übertragung von Gefühlen des Schmerzes, der Ohnmacht, des Grauens. Diese Gefühle können von der heutigen Generation „verstanden“, „gefühlt“ werden, indem man sich an den Ort begibt, an dem sich Schmerz, Grauen und Vernichtung durch die Knochen der Opfer auch noch 70 Jahre später materialiseren. Auf der Beziehungsebene geht Armenuhi gar nicht erst auf Tavits Provokation ein, ihr jeden Einfluss auf die Identifikation ihrer Kinder abzusprechen. Obgleich sie Tavit inhaltlich sogar zum Teil zustimmt, verteidigt sie ihre 213

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Kompetenz als Mutter und ihre Vorstellung von armenischer Identität: „(...) und jetzt, wo ich das erzähle, denke ich und sage, er hätte fahren sollen, sie hätten es dann besser verstanden, sie hätten es dann besser gefühlt, sie hätten es gefühlt.“ Vor allem Tavit ist jedoch von ihren Argumenten nicht zu überzeugen. Auf meine Frage, ob er denn gefahren wäre, antwortet er ausweichend: „Gut, aber ich weiß nicht“. Armenische Identität zwischen Genozid und Armenien Die Auseinandersetzung zwischen Armenuhi und Tavit setzt sich im weiteren Verlauf des Interviews fort. In der nächsten Sequenz erläutert Tavit, was er anstelle des Genozids für den Referenzpunkt armenischer Identität und Gemeinschaft hält: Tavit:

Susanne: Tavit: Armenuhi: Tavit: Armenuhi: Tavit:

Susanne: Armenuhi: Tavit: Armenuhi: Susanne: Tavit: Armenuhi:

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Es ist passiert, was passiert ist. Das ist jetzt 100 Jahre her, jetzt gibt es ein unabhängiges Armenien, jetzt ist die Gelegenheit, dass etwas mit dem unabhängigen Armenien passiert. Es ist die Gelegenheit, wir müssen jetzt alle dafür kämpfen und Ende. Und der Genozid, der war, ok, der wird nicht vergessen, aber das ist nicht mehr so wie vorher, als es keine Gelegenheit gab. Es ist jetzt ein freier Staat, es gibt einen Minister, eine Regierung und auch wir müssen jetzt unsere Energien dafür geben. Für Dich ist Armenien jetzt ... (fällt mir ins Wort) Das ist es, das ist, alles andere ist ok ... (fällt ihm ins Wort) Und wie soll das gehen, wie willst Du ihnen helfen, nur mit dem Flugzeugen, die Du schickst? Nein, eigentlich, wenn Du Armenier bist, dann gehst Du dorthin und Ende. Aber wer tut das schon? (wird zunehmend emotionaler, seine Stimme wird verächtlich) Ja das ist, das ist es. Du siehst es doch jetzt in der Paroikia. Ja, Armenier, dann geh dorthin, um dort ein wenig zu leben. Geh dorthin um zu sehen, wie Du Armenien unterstützen kannst. Hast Du Dein Leben hier gemacht? Wenn nicht, gehe dorthin um zu leben. Sag mir nicht, so, ich bin Armenier. Dann geh dorthin um zu leben. Dort gibt es am Tag keinen Strom, also wer geht? Nur im April, an den Tagen des Genozids, rennt die Jugend und alle anderen. Sie bringen sie zum Rennen unsere Parteien, unsere Parteien. Ja, aber unserer Parteien! Aber wenn die Türken sagen würden, nehmt die Gebiete, die Erde, wer würde dorthin gehen, um dort zu leben, sag mir das? Ich habe das jetzt gesagt, ok, so ist das. Jetzt gibt es einen unabhängigen Staat. Jetzt dürfen da nicht mehr die Parteien sein, weißt Du. ‚Ich bin das, ich bin jenes‘. Das geht nicht! Jetzt bist du Armenier. Es gibt jetzt ein freies Armenien. Alle müssen dort ins freie Armenien gehen, und Ende. Aber Du siehst nicht, das dies auch geschieht? (nun ebenfalls wütend geworden) Würdest Du das tun? Einen Moment mal. Ich kann das machen, ich kann das machen. Das sind Worte. Das ist sehr schwierig. Aber Du könntest Dir vorstellen in Armenien zu leben? E, das könnte ich, ja sicherlich. Ja in der Theorie.

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 5-6)

Für Tavit ist der Genozid ein Ereignis der Vergangenheit, das keine Relevanz für seine Gegenwart und Zukunft hat. Er identifiziert sich mit dem unabhängigen Armenien. Er konstruiert eine Art Konkurrenzverhältnis zwischen dem Genozid und dem Heimatland Armenien als konkurrierende Referenzpunke und Problemfelder, für die Energie aufgebracht werden muss. Seiner Ansicht nach hat jedoch Armenien seit der Unabhängigkeit oberste Priorität, denn „jetzt ist die Gelegenheit, dass etwas mit dem unabhängigen Armenien passiert.“ Diese primäre Identifikation mit Armenien fordert Tavit für alle Armenier: „Es ist die Gelegenheit, wir müssen jetzt alle dafür kämpfen und Ende.“ Dabei konstruiert Tavit, wie im dominanten Diskurs der Diaspora üblich, Armenien als einen bedrohten Staat, der nur durch Hilfeleistungen aus der Diaspora überlebensfähig sein kann. Auch er definiert die Rolle der Diaspora als einer Unterstützerin des Nationalstaates Armeniens. Das Verständnis von Diaspora als durch den Genozid erzwungenes Exil, wie es für seine Mutter relevant ist, spielt für ihn keine Rolle mehr. Und Tavit geht sogar noch einen Schritt weiter. Eigentlich hat die Diaspora seit der Existenz eines unabhängigen Nationalstaates für ihn die Existenzberechtigung verloren, denn „wenn Du Armenier bist, dann gehst Du dorthin und Ende“. Armenuhi dagegen ist von der patriotischen Erklärung ihres Sohnes nicht überzeugt. Sie fällt ihm immer wieder mit kritischen Kommentaren und provozierenden Zwischenfragen ins Wort: „Aber wer tut das schon?“. Damit stellt sie auch seine Haltung zu Armenien in Frage. Tavit jedoch fühlt sich durch Armenuhis Einwand nicht in Frage gestellt. Er nutzt Armenuhis Provokation geschickt, um seinerseits eine fundamentale Kritik an der Paroikia, den Parteien und der ritualisierten Erinnerungsarbeit zu formulieren. Da niemand aus der Paroikia nach Armenien gegangen sei, stellt er deren Armenischsein in Frage. Die ritualisierte Erinnerungsarbeit an den Genozid kritisiert er als eine bequeme Art und Weise, armenische Identität in der Diaspora zur Schau zu stellen ohne große Mühen auf sich nehmen zu müssen. Denn „nur im April an den Tagen des Genozids rennt die Jugend und alle Anderen. Sie bringen sie zum Rennen unsere Parteien, unsere Parteien.“ Tavits Kritik beinhaltet mehrere Ebenen und hat unterschiedliche Adressaten. Erstens wirft er der Partei und den Mitgliedern der Paroikia in Thessaloniki vor, mit dem Genozid und den Gedenkfeierlichkeiten ein bequemes Alibi gefunden zu haben, um armenische Identität in der Diaspora ohne große Mühe in Szene zu setzen. Zweitens spricht er Armeniern in Thessaloniki eine selbstbewusste armenische Identität ab, da sie sich von den Parteien „zum Rennen“ bringen, also manipulieren lassen. Drittens artikuliert er eine fundamentale Kritik an der Daschnak und ihrer Politik.129

129 Tavit spricht von „die Parteien“. Er bezieht sich damit zum einen auf die Parteienspaltung im Allgemeinen und zum anderen auf die Daschnak als dominante Partei in Thessaloniki. Als Angehöriger des Homenetmen ist Tavit

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In Thessaloniki sind die Daschnak-Führung und viele Mitglieder der Paroikia sehr stolz auf die kollektive Erinnerungsarbeit an den Genozid. Tavit jedoch würdigt diesen Aktivismus nicht als ernsthaftes politisches Engagement. Vielmehr unterstellt er, dass die Daschnak das Genozidgedenken als Alibi verwendet und sich damit ihrer Verpflichtung gegenüber dem „neuen Armenien“ entzieht. Darüber hinaus spricht er den Parteien sogar jede weitere Existenzberechtigung ab, da es nun einen freien armenischen Nationalstaat gibt. Dabei verwendet er Argumente, die lange Zeit das Herzstück der Daschnak-Ideologie ausgemacht haben. Wie in Kapitel 3.1 beschrieben war für die Daschnak der Kampf für einen unabhängigen armenischen Nationalstaat neben dem Kampf um die Anerkennung des Genozids jahrelang ein primäres Ziel. Die Diaspora sollte nur solange existieren, bis das Ziel eines unabhängigen Nationalstaates erreicht worden wäre, dann sollten alle Armenier aus dem Exil in ihre Heimat zurückkehren. Die Daschnak ist durch die ersehnte Unabhängigkeit Armeniens paradoxerweise in eine tiefe Sinnkrise gestürzt worden. Denn die tragenden Säulen ihrer Selbstdefinition – der Kampf um die Unabhängigkeit Armeniens und die Vorstellung von Diaspora als vorübergehendes Exil bis zur „Rückkehr“ in ein unabhängiges Armenien – sind ins Wanken geraten. Auch Anhänger der Daschnak hatten bereits mit einer Neudefinition von Diaspora als Stütze Armeniens und Mediatorin zwischen dem „Heimatland“ und dem Residenzland begonnen. In der offiziellen Parteilinie spiegelte sich dieser Definitionswandel zum Zeitpunkt unseres Interviews jedoch noch nicht wider (vgl. Kapitel 3.5). Tavit als erklärter Anti-Daschnak benutzt also eine ideologische Forderung der Daschnak – das Postulat der Rückkehr nach Armenien – um die Partei zu kritisieren und ihr die Existenzberechtigung abzusprechen. Armenuhi, die sich selber auch nicht als Daschnakzagan sieht, widerspricht diesem harschen Urteil Tavits energisch. Denn dieser hat im Prinzip auch ihr Armenischsein in Frage gestellt, da sie den Genozid für den wichtigsten Referenzpunkt armenischer Identität hält und ihren Kindern schließlich keine Rückkehr nach Armenien predigt. Armenuhi wiederum dreht den Spieß um und meldet nun ihrerseits Zweifel an Tavits Identifikation mit Armenien an. Sie unterstellt ihm, die Theorie der Rückkehr mit der Praxis zu verwechseln. Daraufhin sieht sich Tavit gezwungen, zu einer längeren Rede anzusetzen, um sein Leben im Exil zu rechtfertigen. Trotz aller vorherigen harschen Kritik an der Daschnak bezieht er sich nun wiederum auf einen ihrer zentralen Identitätsdiskurse: Armenisch sein heißt Opfer bringen! „Ich sage, ich bin jetzt 23 Jahre alt. In 10, 15 Jahren habe ich irgendeine Position, dann habe ich irgendwelche Möglichkeiten, das heißt eine ökonomische Basis, die ich ihnen mitbringen könnte. Warum nicht? Ich könnte gehen. Ich sehe das nicht, es Chezok (neutral), was in Thessaloniki gleichbedeutend mit Anti-Daschnak ist (vgl. Kapitel 4.2).

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG ist nur, jetzt bin ich 23 Jahre alt und weiß nichts, ich studiere noch. Wie soll ich dahin gehen, was soll ich ihnen bringen? Wenn jemand dorthin geht, dann muss er Erfahrung haben, etwas wissen, um ihnen zu helfen. Ich bin 23 Jahre alt, wie soll ich dahin gehen? Für mich ist es zu früh. Es gibt andere, die, weißt Du, die ganze Regierung von Armenien, alle Minister sind aus der Diaspora. Da ist einer aus Amerika, ein Wirtschaftsminister, die hatten alle sehr gute Beziehungen dort in Amerika, mit Fabriken, andere Menschen, 50, 60 Jahre alt, die haben alles aufgegeben, sind aufgestanden und nach Armenien gegangen. Und haben sich dort zurechtgefunden. Die opfern sich dort auf, damit ein gutes Armenien entsteht. Schluss, das ist es! Und wenn ich einmal, sagen wir mal, wenn ich älter bin und eine gute Position habe, dann mache ich das.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 6)

Zuvor hat Tavit eine Identitätsvorstellung postuliert, die das Leben in der Diaspora als moralisch zweifelhaft abgewertet und mit einer mangelnden Identifikation mit Armenisch-Sein gleichgesetzt hat. Da Armenuhi ihm nun unterstellt, großspurige Theorien zu vertreten, die er nicht in die Praxis umsetzen kann, muss er sich rechtfertigen. Dabei entwickelt er eine Strategie, die von vielen meiner Gesprächspartner, darunter auch Daschnak-Anhänger, verwendet wurde, um ihr Leben in der Diaspora zu rechtfertigen. Kernstück dieser Rechtfertigungsstrategie ist der Bezug auf den dominanten Identitätsdiskurs der Daschnak, dass Armenisch sein in erster Linie bedeutet, Opfer zu bringen. Dabei ist Opfer sowohl im Sinn von sich opfern aber auch im Sinne von Gabe zu verstehen. Tavit beschreibt sich in seiner Rechtfertigungsrede als Person, die im Moment noch nicht in der Lage ist, Armenien eine angemessene Gabe zu bringen. Er ist noch in der Ausbildung, hat weder berufliches Knowhow, das er in den Dienst der Nation stellen, noch eine ökonomische Basis, die er einbringen könnte. Er ist noch zu jung, zu unerfahren, denn „Wenn jemand dorthin geht, dann muss er Erfahrung haben, etwas wissen, um ihnen zu helfen.“ Trotz Tavits Kritik an der Daschnak vertritt er Armenien gegenüber die gleiche paternalistische und ambivalente Haltung, wie sie auch von der Daschnak propagiert wird. Einerseits ist er der Auffassung, dass Identität und Gemeinschaft an einen – im Sinne der nationalstaatlichen Ideologie definierten – Ort, den Nationalstaat Armenien, gebunden ist. Der unabhängige Nationalstaat Armenien erscheint damit als der einzige Ort, an dem „wahres“ Armenischsein möglich ist und an den „richtige“ Armenier gehen sollten. Andererseits geht Tavit jedoch, ähnlich wie die Daschnak, paradoxerweise davon aus, dass Armenier in der Diaspora, die aufgrund ihres Lebens im Exil eigentlich keine reine armenische Identität haben können, die Qualitäten und Fähigkeiten mitbringen um dem gefährdeten armenischen Nationalstaat zu einer dauerhaften Existenz zu verhelfen. Die Daschnak begründet die Überlegenheit von Diasporaarmeniern in erster Linie ideologisch: Die potentielle ethnische Reinheit Armeniens sei durch die erzwungene Zugehörigkeit zur Sowjetunion verunreinigt worden. Die Daschnak dagegen habe sich trotz der erschwerten Bedingungen des Exils durch ständiges Engagement (Opferbringen) bemüht, die Essenz armenischer Identität zu erhalten und ist daher eher geeignet armenische Politik zu dominieren. Tavit argumentiert eher mit ökonomischen und technologischen Differenzen. Armenien ist auf die ökonomische und technologische 217

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Unterstützung und das Knowhow der Diaspora angewiesen. Bedürftig und unterlegen ist der Nationalstaat aus beiden Perspektiven. Darüber hinaus bezieht sich Tavit in seiner Argumentation auf ein weiteres konstitutives Elemente der dominanten Daschnak-Ideologie: den Mythos des Widerstandskämpfers. Tavit entwirft in seiner oben zitierten Rechtfertigungsrede den Idealtypus eines armenischen Helden. Diesen Heldentypus baut er in einer späteren Interviewpassage noch weiter aus, als er ausführlich über einen Armenier aus Amerika spricht, der Wirtschaftsminister in Armenien geworden ist: „Seine Familie ist in Amerika geblieben, er ist nach Armenien gegangen und er ruft sie an. Er hat darüber nachgedacht nach Amerika zu fahren und die Kinder zu holen. Er ruft sie an. Er ist Wirtschaftsminister, glaube ich! Und dieser Mensch, es gab mal einen Dokumentarfilm, es ist nicht nur einer, das gibt es viel. Das heißt, mit einem Ofen (verbringt) er den ganzen Winter, er macht ihn an, macht in an, friert, deckt sich mit seiner Jacke zu, um in den Nächten nicht zu frieren. Das ist es! (schreit fast) Wenn Du Armenier sein willst, dann ist es das und Ende. Jetzt gehörst Du dazu!.Jetzt sagen sie, es ist auch der Genozid‘. Vor 80, 90 Jahren, ist das geschehen, ok, das ist Geschichte. Es ist vorbei. Jetzt ist das Thema, dorthin zu gehen, dort etwas beizutragen, jetzt! So viele Jahre haben sie gesagt: Wir wollen ein freies Armenien. Da ist es, das freie Armenien. Da! Frei! Es ist klein, aber jetzt sollten sich alle vereinen, damit aus dem Land etwas wird. Weil Armenien ein Land ist das nur Feinde um sich herum hat, die Türkei von dort, Azerbaidschan von der anderen Seite. Es gibt niemanden, der Armenien hilft. Du musst jetzt gehen, die Kräfte müssen vereint werden, sie müssen das mit den Parteien lassen, ich bin von der Partei, ich bin von der anderen, diese Idiotien. Wir müssen alle zusammen für diese Sache kämpfen und Ende. Das hörst Du in der Paroikia nicht. In der Paroikia sind alle (lacht abwertend), deswegen will ich mit denen nichts zu tun haben. Ich bin nur in diesem Sportverein und sonst nichts.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 7)

Tavits Helden sind Männer mit Macht, Geld und Einfluss, die es in ihrem Residenzland, den mächtigen USA, geschafft haben. Sie entsprechen ganz dem Mythos des amerikanischen Selfmademan. Dennoch lassen sie alles hinter sich – ihre sicheren, einflussreichen beruflichen Positionen, ein gutes Einkommen, ihre Familien, ein bequemes, angenehmes Leben – um in höchsten politischen und administrativen Positionen den entbehrungsreichen Kampf für die Existenz Armeniens aufzunehmen.130 Tavits Helden erinnern an die armenischen Fedai (Widerstandskämpfer) des 19. Jahrhundert, die die Ideologie und die ritualisierte Erinnerungsarbeit der Daschnak heute noch zentral sind. Ähnlich wie die Fedai sind sie bereit, ihr Leben und ihr persönliches Glück in den Dienst der armenischen Nation zu stellen. Zwar kämpfen sie nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit politischem und ökonomischem Knowhow. Aber wie die soldatischen Fedai sind sie bereit ein beschwerliches und gefährliches Leben auf sich zu nehmen. Schließlich gehen sie in ein Land, in dem

130 An dieser Stelle muss betont werden, dass es sich bei der „Rückkehr“ einer Diasporaelite de facto um wenige Einzelbeispiel handelte und viele von ihnen nach kurzer Zeit Armenien wieder den Rücken kehrten.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

ein Ausnahme- und Belagerungszustand herrscht. Es gibt weder Strom noch Heizung und Armenien ist von allen Seiten eingekreist und bedroht. Tavit entwirft in seiner Rechtfertigungsstrategie die regulative Biographie eines „ökonomischen Helden“. Inhaltlich entspricht diese rhetorische Figur den dominanten Diskurse des männlich definierten heldenhaften Märtyrertums und Widerstands, des Geopfert-Werden und Sich-Opfern ausgerichtet. Diese Diskurse sind bestimmend für die in der armenischen Diaspora omnipräsenten projektiven Erzählungen und regulativen Biographien über den Genozid. Und noch ein weiteres inhaltliches Element der projektiven Erzählungen über den Genozid perpetuiert Tavit unbewusst mit seiner regulativen Biographie: Die Vorstellung einer grundsätzlich bedrohten armenischen Identität und Nation, deren Beziehungen zu anderen Staaten durch das Gefühl von Ohnmacht und Verrat geprägt ist. Diese Vorstellung ist in der projektiven Erzählung über das Harissa-Essen enthalten, auf die sich auch die jungen Frauen in unserem Gespräch über den Genozid bezogen haben (vgl. Kapitel 6.1). Tavit artikuliert in Abgrenzung zu seiner Mutter Armenuhi eine Vorstellung von armenischer Identität und Gemeinschaft, die durch das zukunftsgerichtete Ideal eines prosperierenden armenischen Nationalstaates und die regulative Biographie „ökonomischer Helden“ aus der Diaspora verkörpert wird. Für Armenuhis Artikulation von armenischer Identität ist die Beschwörung der Vergangenheit, des Genozids zentral. Am 24. April, dem Genozidgedenktag, dies betont sie nochmals zu Ende des Gesprächs, fühlt sie am stärksten, dass sie Armenierin ist: „An diesem Tag fühle ich mich mehr als Armenierin. Wenn ich weine.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 48) Diese Beschwörung der Vergangenheit und der Gefühle wie Trauer und Schmerz sind für ihre Identifikation als Armenierin so existenziell, dass sie davon ausgeht, ihre Kinder müssten dies ebenso fühlen. Tavit grenzt sich mehrfach vehement gegen diese vergangenheitsorientierte Identitätskonzeption seiner Mutter ab, so auch nochmals gegen Ende des Interviews. „Dieser Tag ja, der Genozid ja. Aber ich habe das satt, diese Vergangenheit. Ich sehe, die macht mich so. Wir müssen mit der Zukunft sein, dort, und Ende. Das ist noch mal eine Gelegenheit. Wenn diese Gelegenheit verstreicht, sind wir am Ende.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 48)

Und ebenso wie sich Armenuhi besonders am 24. April mit Armenischsein identifiziert, ist Tavits Identifikation seit der Existenz eines unabhängigen armenischen Nationalstaates stärker geworden: „Als es noch kein freies Armenien gab, da habe ich mich nicht so gefühlt. Jetzt fühle ich mich mehr als Armenier und identifiziere mich mehr mit Armenischsein, sicherlich.“ (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 49)

Der Vergangenheit, dem Genozid, dagegen spricht Tavit eine besondere identitäts- und gemeinschaftsstiftende Wirkung ab: „Es ist auch der Genozid vor 80, 90 Jahren, das ist geschehen, ok, das ist Geschichte. Es ist vorbei.“ Die 219

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ideale armenische Gemeinschaft, mit der er sich identifizieren möchte, beschwört weder die Vergangenheit des Genozids herauf, noch ist sie von Parteiideologien beeinflusst. Und diese ideale armenische Gemeinschaft lokalisiert er in Armenien und nicht in der Diaspora, auch wenn sie aus Diasporaarmeniern besteht. Mit der lokalen Gemeinschaft der Paroikia Thessalonikis dagegen kann er sich nicht identifiziere. Sie besteht für ihn aus DaschnakGesteuerten und ewig Gestrigen, die der Vergangenheit, dem Genozid, hinterherlaufen. Auf lokaler Ebene fühlt er sich nur dem Homenetmen zugehörig, der als einziger Verein in Thessaloniki eine explizite Anti-Daschnak-Haltung vertritt. Trotz aller Kritik an der Daschnak perpetuiert Tavit jedoch mit seiner Vorstellung der idealen armenischen Gemeinschaft und des wahren armenischen Helden die zentralen Elemente der projektiven Erzählungen über den Genozid. Diese sind auch für die kollektive Erinnerungsarbeit bestimmend: das Paradigma einer bedrohten armenischen Identität, männlich definiertes Märtyrertum und Widerstand, die Umdeutung von wehrlosem GeopfertWerden zu heroischem Sich-Opfern. In diesem Sinne ist selbst für Tavit die Beschwörung der traumatischen Erinnerung an den Genozid also nicht Vergangenheit sondern hochaktuell. Denn die Sinnkonstruktionen der sozialen Praxis der Erinnerung an den Genozid sind auch für ihn Erklärungsmuster, mit denen er die Gegenwart und Zukunft beurteilt. Das Verhältnis zur ritualisierten Erinnerungsarbeit Zum Ende des Interviews diskutierte ich mit der Familie Kassapian ihre Einstellungen zur institutionalisierten Erinnerungsarbeit. In der Analyse dieser Gesprächssequenzen wird deutlich, dass Tavits ablehnende Haltung der Daschnak doch ambivalenter ist, als im bisherigen Gespräch deutlich wurde. Vorher haben wir über die Teilnahme der einzelnen Familienmitgliedern an den Aktivitäten der Paroikia geredet. Bei meiner Frage nach ihrer Einstellung zur institutionalisierten Erinnerungsarbeit greife ich die zuvor geäußerte Kritik nochmals auf: Susanne: Ani: Tavit: Ani: Tavit: Armenuhi: Tavit: Armenuhi:

220

Ihr habt gesagt, dass ihr generell mit den Demonstrationen zum 24. April nicht übereinstimmt? Was weiß ich, kann sein, dass es gute Ergebnisse hat. Nein, nur um zu schreien, unsere Parteien, unsere Parteien (gehe ich da nicht hin). Ich sagte: Ich will nicht. Das bewegt nichts. Und mit Fanatismus kannst Du ohnehin nicht viel erreichen. Ich gehe nicht zu dieser Gedenkfeier . (alarmiert) Warum gehst Du da nicht hin? Ok, nur zu den Demonstrationen, die ruhig verlaufen (damit meint er die politische Zentralveranstaltung und die Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten). Gut, das ist ein anderer Rock, aber Du gehst. Es ist nicht so, dass Du nicht hingehst. (Alle reden durcheinander) (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 46)

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Ani äußert sich, wie auch sonst während des Interviews, gleichzeitig zustimmend und ambivalent. Sie will nicht ausschließen, dass die politisierten Gedenkrituale der Daschnak politisch erfolgreich sind. Als Tavit jedoch seine bereits zuvor geäußerte Kritik, die Parteien würden das Genozidgedenken nur für ihre Zwecke ausnutzen, bekräftigt, bestätigt sie ihn, indem sie der Daschnak eine fanatische Politik unterstellt. Der Vorwurf von Fanatismus wurde von Mitgliedern der Paroikia, die der Daschnak kritisch oder ablehnend gegenüber standen, häufig geäußert. Vor allem die Demonstrationen vor der türkischen Botschaft wurden von Chezok und Anti-Daschnak als Inbegriff des Fanatismus der Daschnak empfunden. Wir erinnern uns noch an Ruben, der diese Demonstrationen als „hooliganesk“ bezeichnete. Interessanterweise bezeichneten sich auch viele Daschnak-Anhänger als fanatisch – als fanatische Daschnakzagan oder als fanatische Armenier. Sie deuteten den Vorwurf von Fanatismus auf diese Weise von einer pejorativen Fremdzuschreibung zu einer positiv Selbstdefinition um. Die Mitglieder der Familie Kassapian empfinden die Daschnak auf jeden Fall als fanatisch ohne damit jedoch eine positive Bewertung zu verbinden. Dennoch reagiert Armenuhi alarmiert, als Tavit behauptet, er würde die Genozidgedenkfeierlichkeiten nicht besuchen. Obgleich Armenuhi keine unkritische Befürworterin der Daschnak ist, ist es ihr an dieser Stelle des Gesprächs sehr wichtig, dass Tavit mir gegenüber seine Teilnahme an den verschiedenen Veranstaltungen zum 24. April klarstellt. Tavit, der sonst seiner Mutter gerne widerspricht, kommt ihrer Aufforderung erstaunlich kooperativ nach und erläutert sein Verhältnis zur institutionalisierten Erinnerungsarbeit differenzierter. Wie viele Anti-Daschnak und/oder Chezok nehmen Tavit und Ani an der politischen Zentralveranstaltung mit anschließender Prozession zum Grabmal des unbekannten Soldaten und am Gedenkgottesdienst teil. Sie gehen jedoch nicht zur Demonstration vor dem türkischen Konsulat, da diese Art von politischer Artikulation für sie der Inbegriff des Fanatismus der Daschnak ist. Offenbar ist es für Mutter und Sohn jedoch wichtig, sich trotz aller Kritik an der Daschnak nicht pauschal von den Genozidgedenkfeierlichkeiten zu distanzieren. Dies zeigt auch, dass die Teilnahme an den Genozidgedenkfeierlichkeiten innerhalb der Paroikia normativ belegt ist. Eine Nicht-Teilnahme wird nicht etwas als Artikulation von politischem Protest oder Opposition gegen die Positionen der Daschnak aufgefasst, sondern als öffentliche Dis-Identifikation mit der armenischen Paroikia und armenischer Identität. Für Armenuhi, die ihre Rolle als Verantwortliche in der Übertragung ethnisch definierter Werte sehr ernst nimmt, wäre eine Nicht-Teilnahme ihrer Kinder gleichbedeutend mit einem öffentlichen Eingeständnis, dass ihre Erziehung gescheitert ist. Und selbst für Tavit wäre eine komplette Nicht-Teilnahme trotz aller Kritik an der Daschnak undenkbar. Auf diese Weise wird wiederum deutlich, wie die Daschnak ihre dominante Stellung in der Paroikia von Thessaloniki behaupten kann. Dominant bleibt die Partei nicht, weil die Mitglieder der Paroikia von ihrer politischen Ideologie überzeugt sind, sondern weil sie alle institutionellen Schnittstellen dominiert. 221

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Dabei stimmen weder Armenuhi noch Tavit mit einer der zentralen Forderungen der Daschnak-Gedenkfeiern, der Forderung nach Rückgabe der armenischen Gebiete, überein. Tavit: Ani: Tavit: Armenuhi:

Susanne: Alle drei: Armenuhi: Susanne: Armenuhi: Susanne: Armenuhi: Susanne: Armenuhi: Susanne:

Ani: Armenuhi:

222

Ach, das mit den Gebieten. Das ist nicht ausgeschlossen. Sie fordern, dass sie zurückgegeben werden. So was hat mir einmal jemand erzählt, meine Mutter hat mir das gesagt. Als meine Mutter aus Kanada kam (in den 1950er Jahren), hatte ihre Schwester noch alle Papiere aufbewahrt. Sie hatten dort (in der heutigen Türkei) viel Grundbesitz, sehr großen Grundbesitz. Und meine Tante hatte alle Papiere aufbewahrt. Meine Mutter sagt zu ihr: ‚Warum hast Du das alles aufbewahrt? Verbrenne das doch.‘ Da sagte eine Daschnakzagan in ihrem Alter. ‚Nein‘, sagt sie, ‚wenn das zur Verhandlung kommt, dann brauchen wir diese Papiere, (die beweisen), dass wir Grund und Boden dort hatten.‘ Aber sie sagen das mit soviel Fanatismus, die glauben diese Sache. Welche Verhandlung soll es denn noch geben? So viele Jahre später. Eine Verhandlung um den Grundbesitz wiederzubekommen! Und meine Mutter sagt zu ihr, es war auch noch eine Verwandte von uns, in meinem Alter: ‚Aide‘, sagt sie, ‚willst Du uns auf den Arm nehmen, was sind das für Dummheiten, das ist vorbei.‘ Sie glauben nicht, dass das eines Tages geschehen könnte? Nein. Das ist so viele Jahre nicht passiert. Susanna, gibt es Menschen die das noch immer glauben? Vor Jahren hat sie das geglaubt. Du redest doch im Moment mit so vielen, glauben sie diese Sache nach wie vor? Das ist eine schwierige Frage. E, ich bin nicht sicher, ich glaube nicht dass sie das mit der Absicht sagen, um es zu glauben, ich glaube ... (fällt mir ins Wort) Sie können das nicht glauben. Vielleicht, ich glaube es ist eine Art Traum, eine Art Weg mit diesem Thema umzugehen, das glaube ich... Damit es nicht in Vergessenheit gerät. Ja, mehr eine Art und Weise, als ein Glaube ... Sie können das nicht glauben. Aber es ist eine Art und Weise, vielleicht wie ihr als Familie, gut, auch für Euch hat der Genozid einen Einfluss. Aber Du, Tavit, sagtest: ‚Jetzt haben wir eine Zukunft.‘ Ich glaube, es gibt Menschen, die schauen mehr zurück. Ja, zurück. Sie beharren nicht auf diesen Ansichten, weil sie glauben, dass sie zurückgehen. Sie beharren darauf, weil sie glauben, dass uns das als Armenier erhält. Diese Art und Weise erhält uns als Armenier. Irgendwie muss man sich erhalten und so werden sie gehalten. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. (an mich gewandt) Glaubst Du, das ist richtig? Ich kann nicht sagen, ob es richtig ist. Meine Großmutter hat es meiner Mutter erzählt, die hat den Genozid erlebt, wie die Massaker geschahen, meine Mutter mir. So haben wir das erhalten, so haben wir uns als Armenier erhalten. Wir haben einen großen Schmerz, den wir durchgemacht haben. Wir haben, weißt Du, der Feind, der hält uns, die Türkei ist der Feind, das wird uns als Armenier erhalten, wir haben einen gemeinsamen Feind. So denke ich das. Aber ob das richtig ist, weiß ich nicht. (Interview Nr. 41, 04.11.1996, S. 46-47)

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Nur Ani hält es zunächst nicht für ausgeschlossen, dass die Türkei der Forderung nach Rückgabe der Gebiete nachkommen könnte. Armenuhi dagegen findet diese Forderung völlig absurd und untermauert dies mit einer Geschichte über eine entfernte Verwandte, die nach wie vor die Urkunden über den Grundbesitz in der Türkei für den Fall einer Verhandlung aufbewahrt. Die Daschnakzagan-Verwandte erscheint in dieser Geschichte als eine unrealistische Fantastin, deren politische Verbohrtheit und Fanatismus nur als Dummheit bezeichnet werden können. Armenuhi gibt diese Geschichte als die Erzählung ihrer Mutter wieder und zitiert deren Reaktion zum Teil in wörtlicher Rede. Die Familie der Mutter hatte offenbar selber Grundbesitz in der Türkei, jedoch hatte sich die Mutter mit dem Verlust der Gebiete abgefunden und die Papiere verbrannt. Die Mutter hat hier den überlegenen Status einer Augenzeugin und Angehörigen der Erlebnisgeneration, da sie den Verlust ebenso erlebt hat wie die Daschnakzagan. Indem Armenuhi die Worte der Mutter verwendet, wiegt ihr Urteil über die fanatische Verbohrtheit der Daschnak umso vernichtender. Soviel unrealistische Fantasterei scheint Armenuhi sehr zu beschäftigen, denn sie erkundigt sich bei mir noch einmal ausdrücklich danach, ob die Daschnak wirklich an die Rückgabe der Gebiete glauben. Sie spricht mich als „Expertin“ über die Daschnak an und ich antworte ihr als „Expertin“. Indem wir also die Motive und Beweggründe der Daschnak analysieren und uns beide gemeinsam von ihnen distanzieren, versichern wir uns unserer Sympathien füreinander und unserer Haltung zur Erinnerungspolitik an den Genozid. Denn beide wollen wir nicht zu den Fanatikern gehören, als die wir die Daschnak vorher dargestellt haben. Gemeinsam versuchen Armenuhi und ich dann, die Beweggründe zu analysieren, die die Daschnak für ihre Gebietsforderungen haben. Gemeinsam charakterisieren wir diese politische Forderung als eine spezifische Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Thema. Armenuhi sieht sich dadurch in ihrer bereits zu Beginn des Interviews entwickelten These bestätigt. Nicht nur die intergenerationelle Übertragung des Genozid innerhalb der Familie wirkt gemeinschafts- und identitätsstiftend. Sondern auch das Beharren der Daschnak, das charakteristisch für die institutionalisierte Politik der Erinnerung in Thessaloniki ist, denn „diese Art und Weise erhält uns als Armenier“. Armenuhi hebt damit wiederum die Unterschiede zwischen der individuellen und kollektiven Erinnerungsarbeit auf. Zunächst redet sie distanziert von „sie“, die für „uns“ sprechen und verbindet dann die Beharrung der Daschnak mit der Weitergabe der Geschichten über den Genozid in der Türkei. Als verbindend betont sie vor allem einen gemeinschaftsstiftenden Aspekt, den sie bisher noch nicht erwähnt hat: Die gemeinsame Feindschaft aller Armenier zu den Türken. Und sie fragt sich und mich, ob es eigentlich richtig ist, Gemeinschaft und Identität auf die Erinnerung an ein traumatisches Ereignis wie den Genozid und Feindschaft zurückzuführen. Mit der Frage nach der moralischen Richtigkeit dieser Art von Erinnerungsarbeit ist sie nicht alleine, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde. 223

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

6.5

Takuhi Atamian – Die Zwischenstellung der 2. Generation

Takuhi Atamian war zum Zeitpunkt unseres Interviews Anfang 60 und gehörte der zweiten Generation an. Schon als junges Mädchen begann sie sich, angeregt durch ihre Mutter und ihren Vater, aktiv in den Vereinen der Paroikia zu engagieren. Dabei lernte sie später auch ihren Mann kennen. Dieser war zum Zeitpunkt unseres Interviews Vorsitzender der armenischen Paroikia Griechenlands. Takuhi Atamian stand, wie ihr Ehemann, der Daschnaktsutiun nahe, war jedoch kein offizielles Parteimitglied. Takuhis aktives Engagement in der Paroikia nahm nach ihrer Heirat zunächst ab, da sie ganztags berufstätig war und zwei Töchter hatte. Seitdem sie in Rente gegangen ist und ihre Töchter erwachsen sind, hat sie ihre aktive Arbeit wieder aufgenommen und war Kassenwartin des Gabuit Hatch Griechenlands. Die ältere Tochter (33) ist mit einem Armenier aus dem Libanon verheiratet und wird kurze Zeit später Mutter. Die jüngere Tochter (25) lebt noch zu Hause, ist schon längere Zeit mit jemandem aus der Paroikia liiert und arbeitet als Lehrerin. Takuhis Eltern hatten beide als Kinder die Flucht nach Griechenland erlebt. Ihre Großmutter mütterlicherseits, die im Haushalt der Familie lebte, war während des Genozids deportiert worden. Takuhis Reflexionen über den Genozid, die sie im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Interviews äußert, spiegeln ihre Stellung zwischen den Generationen wider. Sie setzt sich aus zwei widerstreitenden biographischen Positionen mit dem Genozid auseinander. Zum einen spricht sie aus der Perspektive eines Kindes von Eltern, die durch Flucht und Vertreibung traumatisiert waren, zum anderen aus der Perspektive einer Mutter, die sich für die intergenerationelle Übertragung der Erinnerung an ihre Kinder verantwortlich fühlte. Für Takuhi ist die Genozidthematik mit Erinnerungen an ihre Kindheit verknüpft. Diese war stark geprägt durch die Geschichten, die der Vater und die Großmutter über ihre traumatischen Erfahrungen erzählten: Takuhi:

Susanne: Takuhi:

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Wir (ihre beiden Brüder und sie) haben uns am Abend um dieses Kohlebecken versammelt und sie haben uns Geschichten erzählt, meine Großmutter, mein Vater. Und damals haben uns diese Geschichten ermüdet. Immer das gleiche, das gleiche, das gleiche! Das heißt, es waren immer Geschichten über die Flucht, den Genozid? Immer, immer! Aber sie hatten ja keine andere Geschichte. Ja, und welche Strapazen sie durchgemacht haben, die Massaker, die stattfanden, die Vertreibung, wie sie gelaufen sind, wie man sie auf der Straße geschlagen hat, wie sie durch die Wüste kamen. E, meine Großmutter erzählte mir, dass sie Gold im Strumpf versteckt hatte und der Strumpf ein Loch bekam und das Gold anfing, dort heraus zu rollen. Und als sie sich bückte, um es aufzuheben, hat ein Türke sie geschlagen und gesagt: Los, weiter. Solche Geschichten, sagen wir mal. Mein Vater hat uns immer solche Geschichten erzählt. Und damals, wir waren kleine Kinder, das hat uns etwas ermüdet, weil es alles deprimierend

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG war. Und wir sagten: ‚Muttergottes, lass uns mal etwas anderes hören!‘ (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 3)

Takuhi beschreibt, dass sie die Geschichten über den Genozid und die Vertreibung in ihrer Kindheit als omnipräsent, monoton, bedrückend und deprimierend empfunden hat. Indem sie mir schildert, wie die Erinnerung an den Genozid in ihrem Elternhaus weitergegeben wurde, erinnert sich Takuhi gleichzeitig an ihre Situation als kleines Kind, das den verstörenden Geschichten der Erwachsenen ohnmächtig ausgeliefert war. Aus dieser Position eines kleinen Kindes heraus kritisiert Takuhi ihre Eltern und die Großmutter dafür, dass diese Kinder und Enkelkinder überfordert und nicht vor ihren traumatischen Erinnerungen in Schutz genommen hätten. Gleichzeitig verteidigt Takuhi diese jedoch auch, indem sie hervorhebt, dass sie schließlich „keine andere Geschichte“ gehabt hätten. Obgleich Takuhi ihre Gefühle von Ohnmacht und Überforderung gegenüber den traumatischen Erinnerungen in unserem Gespräch nur kurz ansprach, lässt sich vermuten, dass sie sich dafür verantwortlich fühlte, ihre Eltern und ihre Großmutter für deren Leiden zu entschädigen. Zumal Takuhi in anderen Gesprächen auch immer wieder betont, dass sie im Gegensatz zu ihren zwei Brüdern die Verantwortung für die Pflege ihrer Mutter, für die Übertragung von Familienerinnerungen und, ganz allgemein, für die Weitergabe armenischer Identität an ihre Kinder trägt. Takuhis ausgeprägte Verantwortung kann zum einen auf ihre Position als Tochter zurückgeführt werden, die analog zur traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung innerhalb der Familie für die Pflege der Eltern verantwortlich gemacht wird. Zum anderen kann Takuhis Position in der Familie in Anlehnung an Dina Wardi auch als Erinnerungskerze beschrieben werden. Den Begriff der Erinnerungskerze prägte Dina Wardi (1992) auf der Grundlage ihrer therapeutischen Arbeit mit Nachkommen von Holocaustüberlebenden. Nach Wardis Beobachtungen gab es in jeder Familie ein Kind, das als Verbindung zu den in der Vergangenheit getöteten Verwandten gesehen und dem die Verpflichtung des Gedenkens auferlegt wurde. Leider nimmt Wardi keine geschlechtsspezifische Analyse dieses Phänomens vor so dass unklar bleibt, ob eher Töchter oder auch Söhne zu Erinnerungskerzen werden. Takuhis Identifikation mit der ihr auferlegten Verpflichtung des Gedenkens wird besonders deutlich in den Passagen unseres Gesprächs, in denen sie aus ihrer Position als Mutter (und kurze Zeit später auch Großmutter) über die Genoziderinnerungen ihrer Vorfahren reflektiert. Die Identifikation mit der Verpflichtung zur Weitergabe der Erinnerung an den Genozid ist für Takuhi, wie für die meisten anderen meiner Gesprächspartnerinnen, identisch mit dem Konzept des Askabahbanum. Askabahbanum – das Herzstück der Ideologie der Daschnaktsutiun – bezeichnet die Bewahrung armenischer Identität im Sinne einer nationalen Identität. Gleichzeitig ist Askabahbanum auch eng verknüpft mit der moralischen Forderung des Opferns, da davon ausgegangen wird, dass armenische Identität in der Diaspora nur mit persönlichen Opfern weitergegeben werden kann. Die Familie ist, neben der Paroikia, der zentrale 225

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Ort und das soziale Netzwerk in dem die Weitergabe von armenischer Identität erfolgen sollte. Dementsprechend wird die Gründung einer armenischen Familie, im Sinne einer Eheschließung zwischen ethnisch homogenen Partnern, von Männern als auch Frauen erwartet und gilt als eines der zentralen Opfer, die für das Askabahbanum erbracht werden sollten. Die Reproduktion der Werte und Normen, die als spezifisch armenisch angesehen werden, im Rahmen der familiären Sozialisation der Kinder wird jedoch in erster Linie als frauenspezifische Aufgabe betrachtet. Vorbildliche Mutterschaft war für die meisten meiner Gesprächspartnerinnern und -partner daran zu messen, ob die Kinder sich in der Paroikia engagierten, die armenische Sprache beherrschten, armenische Ehepartner wählten oder zumindest am Genozidgedenktag und anderen hohen Feiertagen an einer der Veranstaltungen teilnahmen. Dies wurde auch schon bei Armenuhi deutlich. Takuhi versteht sich selber, im Gegensatz zur Generation ihrer Mutter, als eine emanzipierte Frau. Im Vergleich zu anderen Frauen ihrer Generation verfügt sie über eine qualifizierte Ausbildung. Diese ermöglichte ihr, eine Anstellung am amerikanischen Stützpunkt zu finden, die im Vergleich zu anderen beruflichen Tätigkeiten in der nationalen Ökonomie Griechenlands überdurchschnittlich gut bezahlt wurde. Zeitweilig kam sie in weit größerem Maße für das Familieneinkommen auf als ihr Ehemann, der sich langsam eine Existenz als selbständiger Geschäftsmann aufgebaut hatte. Für sie waren jedoch Fragen nach der Weitergabe von Identität in einem wesentlich stärkeren Maße relevant als für ihren Mann. Takuhi identifiziert sich gleichzeitig mit dem Kind, das den traumatischen Erinnerungen der Erwachsenen wehrlos ausgeliefert ist, mit der Rolle der Tochter, die im Sinne der „Erinnerungskerze“ die Verpflichtung zur Übertragung der Genoziderinnerung hat und mit der Rolle der Mutter, die ihre Kinder in Übereinstimmung mit dem Askabahbanum erziehen soll und will. Der Widerstreit, der sich aus diesen unterschiedlichen Positionen ergibt, wird besonders gut an einer der Geschichten deutlich, die Takuhi von ihrem Vater als erinnerungswürdig übernommen hat und mir erzählt. Das Thema dieser Geschichte ist das moralische Postulat des Askabahbanum – die Bewahrung armenischer Identität – und deren Weitergabe von der Mutter an das Kind. Die regulative Biographie des Vaters Takuhi:

Susanne: Takuhi:

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Damals als mein Vater im Internat war, kam seine Mutter und sagte ihm: ‚Ich bitte Dich um eine Sache‘. Sie selber würde mit seiner Schwester fliehen. Er hatte nämlich auch eine Schwester. Ihre Spuren haben sich verloren und mein Vater (hat) ein ganzes Leben lang nach ihr gesucht. Er wusste nicht, ob sie noch lebt, auch nicht, ob seine Mutter noch lebt. Die haben sich niemals wieder gesehen. Das heißt, sie sind alleine geflohen? Sie flohen und mein Vater blieb in der Schule. Und als sie ging, küsste sie ihn, verabschiedete sie ihn und sagte: ‚Ich bitte Dich um eine Sache. Wechsele Deinen Glaube nicht! Werde nicht vom Christen zum Muslim! Ich gebe Dir einen Segen und einen Fluch. Die Milch, die ich

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG Dir gab, die gönne ich Dir nicht, wenn Du Muslim wirst, Du bleibst Christ!‘ Er war damals ein Kindchen, eingesperrt in einer Schule. (hier folgt eine längere Sequenz über die physische Stärke des Vaters) Ja er war sehr stark. Bevor sie aus der Schule flohen, kamen die Türken. Es gab dort einen Ofen und sie sagten ihm: ‚Siehst Du dort den Ofen, der gerade heiß wird? Wir werden dich dort hineinstecken. Du wirst Türke werden.‘ Und er sagt: ‚Steckt mich ruhig darein‘, sagt er. ‚Ich werde nicht zum Türken‘, sagt er. Solche Geschichten erzählte uns mein Vater. (Interview Nr. 86, 18.12.1997, S. 2-3)

In dieser Geschichte treffen die widerstreitenden Positionen, aus denen Takuhi ihre Haltung dem Genozid gegenüber reflektiert, aufeinander. Dem Vater wird von der Großmutter ein Versprechen abverlangt, das grauenhaft erscheint. Gesteigert wird dieses Grauen dadurch, dass es sich um den letzten Besuch der Mutter vor der Flucht handelt und sie ihr Kind niemals wieder sehen wird. Anstatt ihr Kind über diese Trennung hinweg zu trösten, droht die Mutter mit dem Entzug ihrer mütterlichen Liebe, wenn der Sohn seine armenischen Identität aufgibt und Türke bzw. Muslim wird. Ethnische und religiöse Identität werden hier als Synonyme verwendet. Die Großmutter Takuhis erfüllt damit die Rolle, die nationale Ideologien mit Mütterlichkeit verbinden, in exemplarischer Weise: Lieber will sie ihr Kind tot sehen, als ihrer Aufgabe, der kulturellen Reproduktion der Nation, nicht gerecht zu werden. Aber auch der Vater von Takuhi handelt entsprechend den projektiven Erzählungen der armenischen Diaspora: Er hält der Androhung der Türken, ihn zu verbrennen stand. Er ist bereit, sein Leben für das Ideal armenischer Identität zu opfern. Im Gegensatz zu den namenlosen Opfern des Genozids, die im Rahmen der kollektiven Erinnerungsarbeit zu Märtyrern und Helden der armenischen Nation werden, kam der Vater mit dem Leben zwar davon. Seine private Lebensgeschichte hat für Takuhi jedoch ebenso den Status einer regulativen Biographie wie die Lebensgeschichten nationaler Helden, die ihr Leben für das Wohl der Nation opferten. Dadurch wird abermals deutlich wie sich private und öffentliche Erinnerungserzählungen zum Genozid überschneiden. Im Hinblick auf ihre eigene Erziehungspraxis bietet diese projektive Erzählung des Vaters Takuhi jedoch keinen Ausweg aus ihrem Dilemma. Einerseits hält sie es für notwendig, die Erinnerung an den Genozid an ihre Kinder weiterzugeben. Diese Aufgabe empfindet sie jedoch als besonders prekär, da mit jeder Generation ein Verlust der Erinnerung einhergehe. Ihr Dilemma von Erinnerung und Vergessen habe ich bereits in Kapitel 5.3 ausführlich beschrieben. Andererseits will sie ihre Kinder vor den bedrückenden Gefühlen bewahren, die sie als Kind gequält haben. Darüber hinaus kritisiert Takuhi auch, dass diese Art von Geschichten ihr negatives Verhältnis zur Türkei geprägt hätten. Das Verhältnis zur Türkei: Die Sehnsucht nach Normalität Takuhi:

Ja es hat uns bedrückt. Mich persönlich, weil ich kann nur für mich sprechen, e, das gleiche, und das gleiche und das gleiche. Und es gibt

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TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Susanne: Takuhi:

einen Moment, in dem Du sagst: ‚Mein Gott, (lass mich) etwas Erfreuliches hören!‘ Wir haben ständig diese Sachen gehört. Das gibt Dir in Deinem kindlichen Alter zu verstehen, der Türke ist so. Du siehst den Türken anders. Jetzt wo ich älter bin, sehe ich, dass das auch ein Volk ist. Ok, wie jedes Volk hat es seine Fehler gemacht. Sicherlich, für mich ist die Türkei insofern schuldig, dass sie das Massaker nicht anerkennt. Wie Deutschland es anerkannt hat. Und wenn sie das anerkennen würde, ich glaube, dann würde die Geschichte sich normaler entwickeln. Das wäre dann viel einfacher. Dann würde sich die Beziehung möglicherweise etwas verbessern? Ja, und Armenien braucht in diesem Moment vielleicht auch die Türkei. Weil das ihre einzige Grenze ist, an der sie raus können, um Handel zu treiben. Und die heutigen Regierungen, die tun natürlich einige Schritte auf der politischen und diplomatischen Ebene. Dort geschehen Annäherungen, sagen wir mal. Aber das Volk, wir, die wir mit dieser Mentalität aufgewachsen sind, wir haben den Türken gegenüber noch immer eine gewisse Distanz, wir können das nicht akzeptieren. Weil wir zur Diaspora geworden sind, ohne es zu wollen. Meine Eltern, die wollten nicht auswandern. Die wollten Armenien nicht verlassen. Die wurden gezwungen, es zu verlassen. Die armenische Diaspora ist keine freiwillige. Sie entstand aus Not, mit Zwang. (Interview Nr. 86, S. 18.12.1997, 3-4)

Im Gegensatz zur kollektiven Erinnerungsarbeit, in der es um Fragen der Anerkennung von Schuld und der Rückgabe von Territorien geht, spricht aus Takuhis Reflexion, ähnlich wie in der Versöhnungsphantasie von Shushan, die Sehnsucht nach Normalität. Darüber hinaus sympathisiert sie auch mit der pragmatischen Haltung der damaligen armenischen Regierung, die trotz der Proteste der Daschnak versucht hatte, die Beziehungen zur Türkei zu verbessern. An dieser Stelle des Interviews verlässt sie die Eben der persönlichen Argumentation und spricht nun aus der Position des armenischen Volkes in der Diaspora, das mit einer antitürkischen Haltung aufgewachsen sei. An dieser Stelle wird wiederum deutlich, dass die Identifikation mit dem Schicksal der Eltern zu einer Identifikation mit der armenischen Nation im Exil wird und umgekehrt (vgl. 6.1). Takuhi, die sonst immer wieder betont, dass ihre Heimat Griechenland sei und die sich sehr klar gegen eine Auswanderung nach Armeniern ausspricht, konzeptualisiert an dieser Stelle Diaspora ausschließlich als einen negativen Zustand des erzwungenen Exils. Mit der Analyse des Interviews mit Isabella Turoni komme ich nun zum Ende meiner Darstellung individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit. Ebenso wie bei Takuhi ist auch Isabellas individuelle Erinnerungsarbeit von der Rolle einer Erinnerungskerze geprägt.

6.6

Isabella Turoni – Das Erbe: Der Hass auf die Türken

Isabella Turoni gehört ebenso wie Armenuhi Kassapian und Takuhi Atamian der zweiten Generation an. Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist sie Ende 50, hat drei erwachsene Kinder und ist verheiratet. Wie Armenuhi und Takuhi 228

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

identifiziert auch sie sich mit der Rolle einer Erinnerungskerze (Wardi 1992). Auch sie fühlte sich aufgrund ihrer starken Identifikation mit ihrer Mutter verpflichtet, das Gedenken an den Genozid weiterzuführen. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten stellt Isabella Turoni im Sample meiner Interviewpartnerinnen eine Ausnahme dar. Im Gegensatz zu den anderen Personen hat sie niemals engere Beziehungen zur Paroikia unterhalten und war niemals Mitglied in einem der Vereine. Der Politik der Daschnak, die sie als fanatisch empfand, steht sie kritisch gegenüber. Ihre Identifikation mit armenischer Identität ist in einem viel stärkeren Maße durch die intergenerationelle Übertragung im Kontext der Familie entstanden als dies bei meinen anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern der Fall war. Daher stelle ich ihren biographischen Hintergrund hier ausführlicher dar. Isabella Turoni hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Identifikation mit Armenischsein, ihre Einstellungen zu armenischer Identität und zum Genozid sind in erster Linie durch die Einstellungen und Erzählungen ihrer Mutter geprägt worden. Da Isabella in einer armenisch-katholischen Familie groß wurde und die Mutter darüber hinaus überzeugte Daschnak-Gegnerin und Anhängerin des Parekordzagans war, hat Isabella zu keinem Zeitpunkt engere Beziehungen zur Paroikia. Isabella fühlt sich als Armenierin im Sinne einer nationalen Zugehörigkeit. Ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche als transnationale religiöse Institution ist für ihre Identität ebenso zentral. Da es keine armenisch-katholische Kirche in Thessaloniki gibt, besucht die Familie von Isabella die griechisch-katholische Kirche. Als Kind besuchte Isabella eine katholische Schule, die von französischen Nonnen geleitet wurde. Dies verstärkte erstens ihre Identifikation mit dem katholischen Glauben. Zweitens bedeutet der Besuch der katholisch-französischen Schule für Isabella auch die Zugehörigkeit zu einer westlich geprägten, fortschrittlichen und kosmopolitischen Welt der französischen Kultur. Außerhalb der Familie und des kleinen Kreises armenischer Freunde, hat Isabella niemals ein armenisches Umfeld und kaum Kontakte zu anderen Armeniern. Und auch ihre Kontakte zu gleichaltrigen Griechen waren zumindest während der Schulzeit stark eingeschränkt. Auch wenn Isabella dies selber nicht erwähnt, trennte sie nicht nur die religiös-kulturelle Differenz von anderen armenischen und griechischen Gleichaltrigen. Darüber hinaus gab es auch einen klassenspezifischen Unterschied. Bereits unmittelbar nach der Flucht ging es ihrer Herkunftsfamilie im Vergleich zu anderen Flüchtlingen verhältnismäßig gut, da der Großvater, die Vertreibung antizipierend, vorher Geld nach Griechenland transferiert hatte. Der Besuch der französischen Privatschule deutet darauf hin, dass die Familie auch danach nie zum Flüchtlingsproletariat gehört hatte. Ihre Eheschließung verstärkt die Identifikation mit der katholischen Kirche noch. Die ebenfalls katholische Familie ihres Mannes stammt ursprünglich aus Italien. Da Griechenland während des 2. Weltkriegs zunächst von italienischen und später deutschen Truppen besetzt war, waren sie während und nach dem Krieg aufgrund ihrer italienischen Herkunft diskriminiert worden, 229

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obwohl sie formal spanische Staatsbürger waren. Dies führte dazu, dass ihr Mann und dessen Familie auf einen nicht-griechischem Freundeskreis bezogen waren. Im Gegensatz zu ihrem Mann, so betont sie mehrfach während des Interviews, erlebte sie in ihrem Elternhaus eine größere Offenheit dem griechischen Umfeld gegenüber. Gleichzeitig hebt sie hervor, dass sie sich dennoch nicht als Griechin fühlt: „(Meine Mutter) brachte uns bei, den Ort zu achten, an dem wir leben. Aber wir wussten immer, dass wir Fremde waren. Wir wussten das, aber wir hatten immer große Achtung vor Griechenland.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 2) Griechenland ist für sie ein Land, dem sie Achtung entgegen bringt, weil es ihr und ihrer Familie das Gastrecht gewährt hat Zwar sei sie mit vielem in Griechenland nicht einverstanden, zum Teil sprach sogar etwas Verachtung aus ihren Worten, als Gast habe sie jedoch nicht das Recht, ihre Meinung laut zu äußern. Mit ihrer Heirat hat Isabella die spanische Staatsangehörigkeit ihres Mannes angenommen. Diese hätte sie schon längst gegen die griechische eintauschen können, sah dazu jedoch keinerlei Veranlassung. Rechtlich hätten sich dadurch mittlerweile keinerlei Vorteile ergeben, denn beide Ländern gehören zur Europäischen Union. Und an ihrer inneren, psychischen Haltung, eine Fremde zu Gast in Griechenland zu sein, hätte die Übernahme der Staatsangehörigkeit ohnehin nichts geändert. Isabella ist es besonders wichtig zu betonen, dass sie sich zwar als Armenierin fühlt, ihre Mutter jedoch niemals fanatisch oder chauvinistisch im Bezug auf ihre armenische Herkunft gewesen sei und dementsprechend auch ihre Kinder niemals fanatisiert habe. Obwohl Isabella es niemals explizit ausspricht, impliziert die starke Betonung der nicht-fanatischen Haltung ihrer Mutter eine moralische Wertung in Bezug auf die Konzepte von Armenischsein, wie sie von der Paroikia nach außen vertreten werden. Die Offenheit ihrer Mutter ist für sie Ausdruck eines positiven Kosmopolitanismus und einer aufgeklärten Haltung. Die Paroikia dagegen nimmt sie als geschlossen und ghettoartig war. Dies drückt sich für sie in Fanatismus und Rückwärtsgewandtheit aus. Und es ist ihr wichtig, sich auch mir gegenüber, dagegen abzugrenzen. Isabella hat diese nicht-fanatische Haltung ihrer Mutter übernommen und ihre Kinder zu Offenheit erzogen. Dies verdeutlich sie während des Interviews mit einer Erzählung über ihre Tochter, die ein internationales Kolleg besucht hat: „Und das erste, was sie mir schrieb um mir von ihrem Leben dort zu erzählen, war: ‚Ich danke Ihnen131, dass Sie mir eine Erziehung gegeben haben, mit der es mir leicht fällt, in dieser sehr gebildeten Umgebung zu leben.‘ Sie spricht drei Sprachen und war offen. Sie war durch nichts fanatisiert worden. Weil ich, vielleicht ist das auch ein Erbe, die eine Sache, die meine Mutter hasste und in der sie fanatisch war, 131 In bürgerlichen Familien in Griechenland war es zum Teil noch bis in die 1970er Jahre hinein üblich, dass Kinder ihre Eltern siezsten. Das Sie, dass Isabella hier selbstbewußt verwendet, verweist an dieser Stelle auch nochmals auf die Klassendifferenz zu anderen Armeniern.

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ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG waren die Türken. Das ist eine Tatsache. Und das haben wir von dort übernommen.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 12)

In diesem Zitat wird deutlich, dass Fanatismus für Isabella Turoni eine äußerst negative Konnotation hat. In unserem Gespräch hebt sie immer wieder hervor, dass ihre Mutter ihr zwar durchaus einen Bezug zur armenischen Identität vermittelt und sie dies auch bei ihren Kindern fortgesetzt habe. Dies geschah jedoch ohne Fanatismus und Abschottung. Ihre Erzählung über den Erfolg dieses Erziehungskonzeptes der Offenheit und des Kosmopolitanismus kontrastiert sie mit einer Einschränkung: Den Hass ihrer Mutter auf die Türken. Susanne: Isabella:

Susanne: Isabella:

Aber sie war kein Opfer des Genozids von 1915? Den Genozid hat sie nicht genau mit ihrer eigenen Haut gespürt, aber sie haben den Vater in die Verbannung (exoria – Deportation) geschickt. Die Familie hatte Strapazen durchzustehen, sehr viele Menschen gingen verloren. Und vielleicht weil sie ein sehr sensibler und intelligenter Mensch war, wusste sie über diese Dinge sehr gut Bescheid. Sie hat darüber erfahren, sie lebten ja während jener Jahre in Smyrna. Und dort hatte das ja nicht die gleichen Auswirkungen wie auf dem Land. Es war nicht, es war nicht ihre persönliche Erfahrung, sagen wir mal, aber sie war betroffen mit der Bedeutung, dass sie sehr viel hörte, wie diese Sache diskutiert wurde. Und sie wusste sehr viel und viele Details. Gegen die Türken hatte sie einen schrecklichen Hass, einen schrecklichen Hass. Und das kann auch jeder verstehen. Sicherlich An eine Begebenheit erinnere ich mich immer, die charakteristisch ist. Als ich in der ersten Klasse des Gymnasiums war, 12 Jahre, kam der türkische Premierminister zu einem offiziellen Besuch nach Thessaloniki. Sie hatte alle Schulen von Thessaloniki an der Vassilisis Olgas132 aufgestellt und hatten jedem Kind abwechselnd eine griechische und eine türkische Fahne gegeben. Wie das jetzt gekommen ist, dass sie mir eine türkische Fahne gegeben haben?! Wir wohnten in einem Haus, unser Haus war auf der hinteren Seite eines Gebäudes, das auf der Vassilisis Olgas stand und man konnte durch einen Garten gehen und kam dann auf die Vassilisis Olgas. Und auf einmal sehe ich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, unsere Schule lag in der Nähe, ungefähr gegenüber von unserem Haus, und sie hatten uns dort aufgestellt, die ersten Klassen zogen sich bis zum Flughafen hin. Und ich sehe meine Mutter, die ganz rot geworden ist und die mir von weitem Zeichen macht. Sie wollte, dass ich die Fahne aus meinen Händen weg werfe. Sie sagt mir: ‚Ich bin verrückt geworden, als ich alle diese Fahnen mit dem Halbmond sah‘, sagt sie. ‚Und du hältst auch eine‘, sagt sie. ‚Ich bin verrückt geworden‘, sagt sie. Und sie macht mir Zeichen, aber ich als Kind habe das nicht verstanden. Bis sie kam: ‚Schmeiße diese Fahne aus deiner Hand weg! Halte diese Fahne nicht!‘ Das ist mir sehr stark in Erinnerung geblieben, sehr stark. (Interview Nr. 39, 31.1996, S. 12-13)

Isabella Turonis problematisiert die Kategorie des „martyras tis genoktonias“ (griech.: Zeuge/Opfer des Genozids). Ihre Mutter hatte keine gelebte Erfahrung des Genozids, in dem Sinne, dass sie in Smyrna nicht persönlich von den 132 Strasse, die vom Stadtzentrum zum Flughafen führt.

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Deportationen und Massakern betroffen war. Dennoch bezeichnet Isabella Turoni sie als Zeugin und Opfer des Genozids. Carolin Nordstrom (1997: 117118) beschreibt in ihrer Ethnographie über den Bürgerkrieg in Mozambique die Auswirkungen öffentlich ausgeführter Gewalt. Gewalterfahrungen machen nicht nur diejenigen, die Gewalt unmittelbar physisch und psychisch ausgesetzt sind. Sondern öffentliche Gewalt entwickelt ihre terrorisierende Wirkung gerade auch über die Erzählungen darüber. Isabellas Mutter wurde auch nicht durch das unmittelbare Durchleiden der Deportationen traumatisiert. Zu einer Zeugin bzw. einem Opfer des Genozids wurde sie vielmehr durch die darüber zirkulierenden Erzählungen und die Auswirkungen auf einzelne Familienmitglieder. „Martyras tis genoktonias“ ist also keineswegs eine eindeutige, sondern eine sehr relationale Kategorie. Ruben zum Beispiel lehnte diese Kategorisierung für seine Eltern, die als Kinder an den Deportationen teilnehmen mussten, als pathologisierend ab (vgl. Kapitel 6.2). Isabella dagegen bezeichnet ihre Mutter als Opfer des Genozids in dem Sinne, dass sie von den Erzählungen der Gewalt beeinflusst war. Diesen Hass ihrer Mutter auf die Türken hat Isabella Turoni als Kind sehr eindringlich zu spüren bekommen. Die Eindringlichkeit dieses Ereignisses spiegelte sich auch in der lebendigen Art und Weise wider, in der Isabella die Episode mit den türkischen Fahnen schildert. Durch Erzählungen und Kindheitserlebnisse haben sich die negativen Gefühle der Mutter den Türken gegenüber auf Isabella übertragen. Sie identifiziert sich voll und ganz mit der Rolle einer Erinnerungskerze (Wardi 1992), indem sie sich dafür verantwortlich fühlt, die Genoziderzählungen ihrer Mutter zu bewahren und an ihre Kinder zu übertragen. Auch den Hass auf die Türken empfindet sie als ein Erbe, das sie auch heute weder abschütteln kann, noch will. Wardi hat das Konzept der Erinnerungskerze ursprünglich für Holocaustüberlebende und ihre Kinder entwickelt. Isabellas Beispiel zeigt, dass sich dieses Konzept auch auf Übertragungsprozesse in Familien anwenden lässt, die nicht im Sinne einer gelebten Erfahrung traumatischer Ereignisse zu den Opfern gerechnet werden können. Die Identifikation nachfolgender Generationen mit traumatischen kollektiven Erfahrungen ist emotional nicht zwangsläufig stärker, wenn es eine erlebte Gewalterfahrung im Sinne des Erlebens physischer Gewalt in der ersten Generation gegeben hat. Vielmehr wird deutlich, dass auch Erzählungen und nicht nur die ontologischen Erfahrungen zentral für intergenerationelle Übertragungsprozesse und eine Identifikation nachfolgender Generationen mit traumatischen kollektiven Erfahrungen sind. Ob diese Erzählungen sich auf Familienangehörige beziehen oder generell auf die Nation, scheint für die Identifikation nicht unbedingt ausschlaggebend zu sein. Die Reise in die Türkei Besonders stark ist Isabella mit ihrem Erbe, dem Hass auf die Türken konfrontiert, als sie mit armenischen Freunden eine touristische Reise in die Türkei unternimmt. Dass eine Türkeireise an sich für andere Armenier schon mo232

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ralisch zweifelhaft und ein Verrat an armenischer Identität und dem Andenken des Genozids gewesen wäre, ist ihr nicht klar. Da sie kaum Kontakte zu anderen Armeniern hatte, weiss Isabella nicht, dass sie mit dieser Reise im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Paroikia eine extreme Ausnahme darstellt. Als Vergleichsgröße wählt auch nicht Armernier, sondern die Griechen, die zu Einkaufsfahrten in die Türkei fahren. Diesen wirft sie (Konsum-)Vergessenheit vor, während sie aufgrund ihres Erbes, den Hass auf die Türken, die Reise nicht genießen konnte: „Wir hatten eine schreckliche Ablehnung, wir wollten nicht mal ein grünes Blatt nehmen, etwas in der Türkei kaufen. Wir müssen fanatisiert sein, wir müssen in uns etwas sehr Schweres tragen, weil ich entsprechend überhaupt nicht verstehen kann wie alle diese Ausflüge von den Griechen stattfinden können, die dorthin fuhren und alles gut und schön fanden. Ich bin schon rein charakterlich nicht so nachgiebig. Ich vergesse nicht, aber ich verzeihe, im Allgemeinen. Im Bezug auf sie (die Türken), weil ich weiß, dass es eben generell diese Zeit damals war. Ich nehme das auf persönlichem Niveau so, dass meine Familie Strapazen durchmacht, um bis heute Bestand zu haben (kratai). Jetzt sind die drei Kinder des Bruders meiner Mutter nach vielen Strapazen, die sie durchgemacht haben, sind sie nun in Los Angeles. Dort gibt es die Entfremdung (allotriosi). Sie haben es geschafft und sind gegangen (aus Armenien migriert). Sie sind hierher gekommen. Meine Mutter hat ihnen sehr geholfen. Sie wollten sie so gerne kennen lernen. Meine Mutter hat ihnen sehr geholfen, damit sie ein bißchen Geld zusammensparen konnten. Das war für sie notwendig, um die Tickets zu kaufen und wegzugehen. Sie hatten irgendwelche Verwandten, was weiß ich, sie haben es geschafft und leben dort, es ist gut, in Ordnung. Aber dort gibt es auch die Entfremdung. Solange sie hier sind, ich weiß nicht, ich weiß nicht wie sich die Zukunft der Paroikia entwickelt. Und ich weiß nicht, wie lange sie es schaffen, dort armenisch zu leben, sagen wir mal.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 14)

Isabella sieht ihre Reise vor allem als Beleg dafür, dass der Hass ihrer Mutter sich ungehindert auf sie übertragen konnte. Ich dagegen möchte argumentieren, dass Isabellas Reise vielmehr ein Beleg dafür ist, dass bei Übertragungsprozessen innerhalb der Familie Gefühle und Erinnerungen nicht ohne Transformationen weitergegeben werden. Isabellas Mutter hatte es nicht ertragen können, ihre kleine Tochter in mitten ihrer Schulklasse die türkische Fahne schwenken zu sehen. Isabella selber kann schon eine Reise in die Türkei unternehmen, auch wenn sie sich dort nicht wohlfühlt. Ihre anti-türkische Haltung ist für Isabella mit ambivalenten Gefühlen behaftet. Einerseits charakterisierte sie sich selber als fanatisiert. Andererseits paßt das Gefühl von Hass und Fanatismus nicht zu ihrem Selbstbild von Offenheit und Kosmopolitanismus und ihrem christlichen Ideal von Verzeihen. Erklären und rechtfertigen kann sie diesen Hass und Fanatismus vor sich selber, da sie diese Gefühle als eine Einstellung charakterisiert, die auf einer persönlichen Erfahrung basieren. Die persönliche Betroffenheit resultiert aus ihrer starken Identifikation mit den Erzählungen ihrer Mutter über den Genozid und deren Flucht nach Griechenland. An dieser Stelle wird wiederum deutlich, dass ereignisgeschichtliche Chronotope, die zwischen Genozid und Kleinasiatischer Katastrophe strikt unterscheiden, für Erinnerungserzählungen der Er233

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lebnisgeneration keine Relevanz haben müssen. Denn Isabella, deren Mutter mit der Kleinasiatischen Katastrophe nach Griechenland kam, fühlt sich durchaus als ein Opfer des Genozids, da sie sich mit den Auswirkungen des „weißen Genozids“ konfrontiert sieht. Damit bezieht sie auf die Ideologie des Askabahbanum. Allerdings verwendet sie eine andere Sprache, was wiederum ihre Entfernung von der Gemeinde ausdrückt. Armenier, die aktive Mitglieder der Paroikia sind, bezeichnen diesen Prozess nicht als allotriosi (Entfremdung), sondern als afomoiosi (Assimilation) bzw. als apomakrinsi (Entfernung). Interessanterweise befürchtet sie diese Entfremdung nicht für sich und ihre Familie, sondern für Verwandte, die aus Armenien in die USA ausgewandert sind. Auch Isabella Turoni identifiziert sich wie die anderen Mütter, Armenuhi und Takuhi, mit der Verantwortung für die Übertragung ethnisch definierter Identifikation und Kultur. Indem sie ihren Kindern die Erinnerungen ihrer Mutter an den Genozid weitergegeben hat, hat sie aus ihrer Sicht die Essenz armenischer Identität übertragen. Auch für Armenuhi und Takuhi war die Übertragung der Genoziderfahrung an ihre Kinder vor allem in Sinne einer emotionalen Identifikation zentral. Allerdings sahen beide auch noch andere Merkmale und Verhaltensweisen als notwendig an, wie z.B. Armenisch sprechen zu können, sich in der Paroikia zu engagieren und zumindest zu den Genozidgedenkveranstaltungen zu gehen. Isabella Turonis Kinder, die nichts davon tun, können aus der Perspektive von Armenuhi und Takuhi sowie vieler anderer Gemeindemitglieder durchaus als Beispiele für die „Sogkraft“ des weißen Genozids genannt werden. Isabella dagegen vertritt ein Konzept armenischer Identität, das unabhängig von der Paroikia ist. Für sie ergibt sich die Identifikation mit einer armenischen Nation aus ihrer Identifikation mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Vorfahren. Diese sich überkreuzende Identifikation mit der Nation und Familie wird wie bei vielen meiner Gesprächspartnerinnen auch bei Isabella in einem unspezifischen Gebrauch des kollektiven „Wir“ deutlich: „Wir haben eine lange Geschichte. Ich weiß nicht, auch wenn mein Urteil über die Türken auf persönlichen Erfahrungen basiert. Ich weiß nicht, was ich machen würde, sagen wir mal. Ich glaube nicht, dass ich gleichgültig wäre, wenn ich einen Türken sehen würde, der leidet und ich könnte ihm irgendwie helfen. Das würde ich nicht unterlassen, weil er Türke ist. Bis dahin würde es nicht gehen. Aber dass ich sie nicht mag, dass ich sie nicht mag, das ist sicher.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 14)

Gleichzeitig zeigt dieser Interviewauszug nochmals, wie ambivalent Isabellas Gefühle gegenüber den türkischen Erzfeinden sind. In ihr scheint sich ein innerer Kampf zwischen verschiedenen moralischen Prinzipien zu abzuspielen: Einem partikularistischen Prinzip, das die Erfahrung des Genozids in den Vordergrund rückt und Unversöhnlichkeit impliziert. Und einem universalistischen Prinzip, welches das christliche Ideal von Verzeihung und die moralische Forderung beinhaltet, dass die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen 234

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für ein universales humanistisches Prinzip der Nächstenliebe keine Rolle spielen sollte. Diese moralische „Zwickmühle“ beschäftigte nicht alleine Isabella, auch Takuhi und Aremuhi hatten sich mit der Frage nach der moralischen Richtigkeit ihres Hasses auf die Türken auseinandergesetzt. Das Verhältnis zu den Türken In der weiteren Auseinandersetzung mit ihrem Verhältnis zur Türkei bezieht sich Isabella auf einen Diskurs moralischer Überlegenheit über die Türkei, wie er auch von der Daschnak im Rahmen der ritualisierten Erinnerungsarbeit vertreten wird. Ausgangspunkt ihrer nun folgenden Erzählung ist die Erinnerung an eine Ausstellungseröffnung, bei der sie in der Nähe eines Türken saß: „Ich habe irgendwann mal auf einer Ausstellung einen Türken gehört. Wenn Du an einem Tisch sitzt, dann bemühst Du Dich ja, eine kultivierte Diskussion zu führen. Und der sagte zu den Griechen, es gebe zwischen den zwei Ländern einen grundlegenden Unterschied: ‚Die Griechen sind 10 Millionen intelligente Menschen mit 500 Dummen, die sie regieren. Die Türken sind 40 Millionen Bauern (im Sinne von Idioten, griech.: vlaches) und wählen 500 Intelligente, um sie zu regieren.‘ Und ich denke, das ist sehr wahr. Darüber hat der Mann nachgedacht, das hat er nicht einfach so gesagt. Sie haben eine sehr gute Außenpolitik, das ist der Unterschied. Vielleicht kann ich das nicht beurteilen, aber aufgrund der Tatsache, dass sie ein großer Markt sind, aufgrund des einen oder anderen. Sie sind wie wütende Kinder, die machen was sie wollen und niemand wagt es ihnen zu sagen: ‚Benehmt ihr Euch jetzt anständig! Sonst werdet ihr bestraft.‘ Für sie gab es noch niemals eine Strafe. Ich kann mich nicht erinnern. Soweit ich die Geschichte kenne, gab es das noch nie. Im Gegenteil, kaum machen sie irgendwelche Dummheiten, rennen auch schon alle, um sie zu streicheln und ihnen zu sagen: ‚Macht Euch keine Sorgen, dass wir Euch schimpfen könnten.‘ Nach so vielen Jahren gibt es da etwas Eindeutigeres als den Genozid an den Armeniern? Um ihn anzuerkennen, um ihn wie auch immer anzuerkennen? Aber selbst wenn sie das auf dem Papier anerkennen würden, würden sie doch wieder das sagen, was ihnen in den Kram passt. Ich meine, was ist denn mit den Juden passiert. Vom ersten Moment an haben wir alle geglaubt, dass die Juden Recht haben und alle anderen Unrecht. So sehr, dass der Punkt gekommen ist, an dem Du sagst: ‚Also Kinder, lasst uns doch auch mal etwas anders sehen,‘ sagen wir mal. Es sind die Tatsachen, die dich berühren.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 15)

Die Türken werden auf eine primordiale, instinkthafte Bösartigkeit festgeschrieben. Isabella vergleicht sie mit rückständigen Bauern und wütenden Kindern, die aufgrund ihrer Mentalität nicht anders handeln können. Dies zeigt sich in der Metapher, die sie von dem türkischen Abgesandten übernommen hat. Dass auch ein ethnischer Türke seinen Landsleuten eine rückständige, unterlegene Mentalität bescheinigt, erhöht die Authentizität und Autorität von Isabellas Aussage. Darüber hinaus ist ihre Aussage von der „Konkurrenz“ geprägt, die häufig in einem Vergleich von Holocaust und Genozid mitschwingt. Auch in Isabella Erzählsequenz ist der Subtext, der einer projektiven Erzählung der Machtlosigkeit Armeniens und der Diaspora, der sich mit der Vorstellung der „Konkurrenz“ zwischen den machtlosen Armeniern und den mächtigen Juden diskursiv verknüpft. Gleichzeitig zeigt sich auch eine 235

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

positive Identifikation Isabellas mit Griechenlands Opferidentität. Griechenland/Griechen und Armenien/Armenier werden als moralisch überlegen konzeptualisiert. Sie sind es, die zur Moderne gehören (Intelligenz), während die Türkei/Türken mit Kindern und bäuerlichen Idioten verglichen werden. Obgleich sich Isabella in ihrem Verhältnis zur Türkei im diskursiven Rahmen der Paroikia bewegt, wird am Beispiel ihrer Einstellung der Daschnak gegenüber abermals ihre Dis-Identifikation mit der Paroikia und der ritualisierten Erinnerungsarbeit deutlich. Isabella Turoni hat der Daschnak gegenüber eine deutlich distanzierte Position. Die ständige Hervorhebung ihres offenen, nicht fanatisierten Erziehungsmodells impliziert gleichzeitig eine Kritik an der Identitätsarbeit der Daschnak, die ihrer Ansicht nach auf Geschlossenheit und Fanatisierung basiert. Als ich Isabella nach ihrer Einstellung in Bezug auf weitere Elemente des Hay Tad frage, wie die Rückgabe der armenischen Gebiete, zollt sie der Daschnak, wenn auch widerwillig Anerkennung dafür, den Genozid nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ihre Anerkennung äußert sie jedoch nicht als eine persönliche Meinung, sondern gibt sie als die Meinung einer armenischen Freundin wieder, die sich innerhalb der Paroikia engagiert: „Wenn ich manchmal mit Mariella spreche, sie akzeptiert die Daschnak, weil, wie sie sagt, sie es sind, die dem Vergessen Widerstand leisten. Das heißt, sie lassen es nicht zu, dass es vergessen wird. Diese ganzen Organisationen gehen auf ihre Initiative zurück. E, ja. Ja, das müssen wir akzeptieren. Es kann sein, dass diese ganze Sache auch ihre Hinterhältigkeit hat und dass es sie in erster Linie interessiert, die Dinge in Armenien in ihre Hände zu nehmen, auch das ist eine Wahrheit.“ (Interview Nr. 39, 31.10.1996, S. 14-15)

Nachdem sie, etwas widerwillig die Leistung der Daschnak in Bezug auf das Genozidgedenken akzeptiert, formuliert sie jedoch sogleich ihr Misstrauen der Partei gegenüber, diese könnte den Genozid nur für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren. Zusammenfassend zeigt Isabellas Beispiel zweierlei. Obwohl die Paroikia als Übertragungsort für ihre Identifikation als Armenierin keinerlei Rolle gespielt hat, ist auch Isabellas individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit von zentralen Elementen kollektiver Erinnerungs- und Identitätsarbeit, wie der Ideologie des Askabahbanum, beeinflußt. Offenbar erreichen diese in der diasporischen Öffentlichkeit zirkulierenden Bedeutungen auch Personen, die weder in die Paroikia eingebunden sind noch sich mit der Paroikia identifizieren. Übertragungsmöglichkeiten sind, wie in Isabellas Beispiel, Erzählungen von und Gespräche mit anderen Armeniern und auch Printmedien. Darüber hinaus wird an Isabellas Beispiel überaus deutlich, das die individuelle Identifikation mit Armenischsein mit multiplen Identifikationen einher gehen kann, die in dominanten Konzepten armenischer Identität nicht eingeschlossen sind wie Isabellas Identifikation mit einer transnationalen katholischen Glaubensgemeinschaft. Für Isabellas individuelle Identitätsarbeit ist die Identifikation mit ihrer Herkunftsfamilie, vor allem ihrer Mutter und deren Erzählungen 236

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

über den Genozid entscheidend. Für ihr Gefühl von Zugehörigkeit zu einer armenischen Nation im Exil braucht sie weder die Akzeptanz noch das Gefühl von Zugehörigkeit zur Paroikia. Damit stellt sie jedoch in meiner auf die Paroikia konzentrierten Forschung eine Ausnahme dar (vgl. Kapitel 2).

6.6

Zum Zusammenhang von kollektiver und individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit

In diesem Kapitel habe ich mich mit zwei zentralen Fragestellungen auseinandergesetzt. Zum einen habe ich mich gefragt, wie sich kollektive und individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Armeniern in Griechenland gegenseitig bedingen und beeinflussen. Ich habe die persönlichen Wissens- und Sinnkonstruktionen der individuellen Erinnerungsarbeit meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner herausgearbeitet und zu den öffentlich legitimierten Wissens- und Sinnkonstruktionen der offiziellen kollektiven Erinnerungsarbeit in Beziehung gesetzt. Daran wurde auch deutlich, wie meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in ihren individuellen Reflexionen über den Genozids armenische Gemeinschaft und Identität konstruieren und in welchem Verhältnis diese individuelle Identitätsarbeit zur kollektivierenden Identitätsarbeit im Sinne der dominanten Ideologie der Daschnak steht. Zum zweiten lag der Interessenschwerpunkt dieses Kapitels auf der Frage, wie die Erinnerungsarbeit an den Genozid im Rahmen der Familie intergenerationell übertragen wird. In Anlehnung an Lena Inowlockis Konzept der Generationsarbeit (1995) bin ich davon ausgegangen, dass Erzählungen über den Genozid nicht eins zu eins von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Vielmehr werden die Bedeutungen, die dem Genozid zugeschrieben werden, zwischen den Generationen ausgehandelt. Daher ist das übertragene „Wissen“ über den Genozid einer ständigen Transformation unterworfen. Aus der Auseinandersetzung mit diesen beiden zentralen Fragestellungen ergeben sich folgende Einblicke in das Verhältnis von kollektiver und individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der armenischen Diaspora Griechenlands. Die individuellen Wissens- und Sinnkonstruktionen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wiesen bei allen Unterschieden ständige Überkreuzungen mit kollektiven Wissens- und Sinnkonstruktionen auf. Alle wechselten während ihrer Reflexionen fortwährend unbewusst die Sprechposition. Häufig verwendeten sie zunächst die 1. Person Singular um ihre persönliche Einstellung zu erläutern und sprachen dann im Namen eines nicht näher bestimmten „Wir“ weiter. Ob dieses „Wir“ die während des Interviews Anwesenden, eine Peer Group, die Herkunftsfamilie, die Paroikia, die armenische Transnation oder auch alle diese Kategorien gleichzeitig einschloss, blieb unbestimmt. Gerade diese Unbestimmtheit des „Wir“, in dessen Namen meine Gesprächspartnerinnen ihre individuellen Ansichten artikulierten, verweist darauf, dass Identitäten durch multiple, sich überkreuzende Ebenen von

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Zugehörigkeit und Identifikation konstituiert sind, die uns nicht immer jederzeit bewußt sein müssen. Dass sich die persönliche Identifikation mit dem Genozid als eine Identifikation mit der Familie einerseits und der Armenischen Nation andererseits ständig vermischen, zeigte sich ebenfalls in fast allen Interviews. Für viele Gesprächspartnerinnen (Serine, Takuhi, Armenuhi, Isabella) war die Identifikation mit dem Genozid in erster Linie mit einer Erinnerung an Familienmitglieder verbunden. Sie identifizierten sich durch die individuellen lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen ihrer Eltern und Großeltern mit armenischer Identität, die als Opferidentität konzeptionalisiert war. Gleichzeitig waren diese individuellen Erinnerungserzählungen mit Erzählmustern der regulativen Biographie und der projektiven Erzählungen strukturiert, die in der gesamten armenischen Diaspora zirkulieren und auch in der ritualisierten Erinnerungsarbeit in Szene gesetzt wurden. Takuhi gab eine Erinnerungserzählung ihres Vaters wieder, in der der Vater als Kind den Türken in die Hände fällt und sich als heldenhafter Märtyrer verhält. Bei Armenuhi formierten sich die Erinnerungserzählungen der Großmutter über persönliche traumatische Erlebnisse und die Erzählungen der Mutter über anonymes kollektives Leiden zu einer identischen inhaltlichen Aussage. Maßgeblich war für sie, dass die Erzählungen eine emotionale Identifikation der nachfolgenden Generationen mit dem Genozid und armenischer Identität ermöglichen. Auch in diesen im Privaten erzählten Erinnerungen geht es also um eine Transformation des Genozidtraumas zu einem Referenzpunkt für armenische kollektive Identität, die als positive, moralisch überlegene Opferidentität konzeptionalisiert ist. Im Unterschied zur institutionalisierten Erinnerungsarbeit gab es in der individuellen Erinnerungsarbeit einiger Gesprächspartnerinnen jedoch gleichzeitig auch Brüche in dieser Transformation des ohnmächtigen Opferseins in heroisches Opferbringen für die Nation. Für Armenuhi bestand das authentische Wissen über den Genozid in der Übertragung des Leidens. Die Essenz armenischer Identität bedeutete für sie auch eine Erfahrung von Schmerz und die Übertragung dieser Schmerzerfahrung. Anusch betonte den Aspekt der gemeinsamen Trauer als sinn- und gemeinschaftsstiftend. Erfahrungen von Schmerz und Trauer werden dagegen in der kollektiven ritualisierten Erinnerungsarbeit zugunsten eines heroischen Opfer- und Widerstandsdiskurses, der ganz im Sinne der ideologischen Positionen der Daschnak ist, marginalisiert. Bei Lusine und Anusch verhielt es sich umgekehrt. Sie identifizierten sich und ihre Familien durch projektive Erzählungen über das kollektive, anonyme Leiden armenischer Opfer, die ihnen in der Paroikia vermittelt wurden, mit einer armenischen Nation. Beide Mädchen dachten ihre persönliche Existenz und Identität in Abhängigkeit zu einem historischen Ereignis, das über 60 Jahre vor ihrer Geburt stattgefunden und ihre Vorfahren nicht unmittelbar betroffen hatte. Auch ihr Beispiel zeigt, dass die Grenzen zwischen Subjekt/Kollektiv und Familie/Nation in der individuellen Erinnerungsarbeit ständig verwischt und aufgehoben werden. Darüber hinaus wird dadurch deutlich, wie in der individuellen Erinnerungsarbeit, ähnlich wie bei der Verehrung der 238

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

Knochenreliquie (vgl. Kapitel 5.3.1), zeitliche, und räumliche Dimensionen überbrückt werden und eine Gemeinschaft mit den Opfern des Genozids hergestellt wird. Dies wurde auch an Serines Reflexionen deutlich. Serine identifizierte sich durch ihre Migrationerfahrung in Griechenland stärker mit der Genoziderfahrung ihrer Vorfahren und armenischer Identität als vor der Migration. Gleichzeitig konzeptualisierte und bewertete sie ihr individuelles Migrationsprojekt auf der Folie der Genoziderfahrung ihrer Vorfahren als erzwungenes Exil und sich selber als typische tragische Vertreterin der armenischen Nation. Dass ihr Migrationsprojekt eigentlich einmal als kurzfristige, abenteuerliche Reise und unter den Vorzeichen der persönlichen Weiterentwicklung begonnen hatte, spielte dabei keine Rolle mehr. Auch die Wissens- und Sinnkonstruktionen über den Genozid an sich, die meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner entwickelten, waren in vielerlei Hinsicht mit denen der kollektiven Erinnerungsarbeit identisch. Wie bereits deutlich wurde, hoben fast alle hervor, dass für sie Wissen über den Genozid nicht das faktische oder historisch exakte Wissen bedeutete, sondern es um die Übertragung von emotionalem Wissen und emotionaler Identifikation ging. Außerdem perpetuierten sie in ihrer individuellen Erinnerungsarbeit die in der Paroikia dominante Ideologie des Askabahbanum und die Praxis des Opferbringens. Bis auf Ruben und Tavit erkannten alle die Zentralität des Genozids sowohl für die individuelle Identität als auch für eine kollektive armenische Identität an. Die fortwährende Beschwörung und praktische Umsetzung des moralischen Postulates des Nicht-Vergessens im Privaten wie in der Öffentlichkeit der Paroikia, sahen sie als Essenz armenischer Identität an. Aber es gab auch alternative und widerständige Wissens- und Sinnkonstruktionen. Für Tavit war der Genozid ein Ereignis der Vergangenheit, dass nicht in die Gegenwart und Zukunft reichen sollte. Er entwarf ein Konzept von armenischer Identität, das ohne eine Beschwörung der Vergangenheit auskommen und sich stattdessen auf eine „goldene Zukunft“ des Nationalstaates Armenien berufen sollte. Auch diese „goldene Zukunft“ sollte durch das heldenhafte und persönliche Opfer einiger Auserwählter gesichert werden. Tavits Vorstellung von Armenien als bedrohtem Nationalstaat spiegelt, bei aller Ablehnung der Ideologie der Daschnak, deren dominanten Diskurs einer bedrohten armenischen Identität wider. Und auch Tavit sah einen Ausweg aus der Bedrohung in der Praxis des Opferbringens. Er entwickelte für seine Helden Biographien, die der von der Daschnak favorisierten regulativen Biographie des armenischen Widerstandskämpfers, des Fedai, entsprach. Auch seine Helden waren männlich und, ebenso wie die Fedai, opferten sie ihr persönliches Leben für die Existenz der armenischen Nation. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit ihren ökonomischen Ressourcen und ihrem beruflichen Knowhow kämpften. Rubens Wissenskonstruktionen dagegen fielen ebenso wie seine Konstruktionen von armenischer Gemeinschaft und Identität aus dem Rahmen. Das Wissen über den Genozid, das er für relevant hielt, orientierte sich an den Prinzipien historiographischer Faktizität und wissenschaftlicher Analysen. 239

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Dabei favorisierte er vor allem marxistisch-materialistische Ansätze. Zwar erkannte er die historische und politische Relevanz des Genozids an, lehnte den Genozid als zentralen Identifikationspunkt jedoch ab. Obgleich die Eltern die Deportationen als Kinder erlebt hatten, spielte, laut Ruben, die fortwährende Beschwörung der Erinnerung an den Genozid keine Rolle für die Generationsarbeit in der Familie. Im Gegensatz zu den anderen Gesprächspartnerinnen war für Ruben nicht die Erinnerung an den Genozid, sondern der türkische Hintergrund der Familie bedeutsam. Bei Ruben löste die türkische Sprache Erinnerungen an den toten Vater und Gefühle von Heimat, Familie und Vertrautheit aus. Diese positive Identifikation mit der türkischen Sprache machte ihn zu einem Dissidenten in der Paroikia. Vergleicht man die Bedeutung des Genozids für Ruben mit der für Isabella, wird außerdem deutlich, dass es Erzählungen sind, durch die in der intergenerationellen Übertragung eine emotionale Identifikation mit dem Genozid hergestellt wird. Dabei ist es für die emotionale Identifikation nicht unbedingt relevant, ob über eine erlebte Erfahrung erzählt wird oder die Erzählungen auf Hörensagen basieren. Isabella, die kaum Kontakt zur Paroikia hatte, identifizierte sich mit dem Genozid und mit armenischer Identität ausschließlich durch die Erzählungen ihrer Mutter. Im Gegensatz zu Rubens Eltern hatte ihre Mutter den Genozid nicht persönlich erlebt, sondern wusste darüber nur durch die Erzählungen Anderer. Öffentliche, kollektive Gewalt entfaltet ihre terrorisierende und traumatisierende Wirkung eben nicht nur bei denjenigen, die unmittelbar physisch oder psychisch betroffen sind, sondern auch durch Zeugenschaft und Erzählungen (Nordstrom 1997). Isabellas Mutter identifizierte sich emotional sehr stark mit dem Genozid und übertrug dies als die Essenz armenischer Identität an ihre Tochter. Dies manifestierte sich bei Isabella zum einen darin, dass sie ganz entgegen ihrer sonstigen weltoffenen, christlichhumanistischen Einstellung in sich einen „fanatischen Hass“ gegen die Türken spürte. Zum anderen sah Isabella auch ihr persönliches Leben und das ihrer gesamten Familie von den Auswirkungen des Genozids beeinflusst und unter die Vorzeichen eines Kampfes um die Bewahrung von Identität gesetzt. Im Gegensatz zu Ruben nahm sie daher sowohl für ihre Mutter als auch für sich selber die Kategorie „Opfer des Genozids“ in Anspruch. Ruben dagegen, dessen Eltern faktisch „Opfer des Genozids“ waren, lehnte diese Bezeichnung für sich und seine Eltern als pathologisierend ab. Für ihn kam die ständige Beschwörung der Erinnerung an den Genozid, die für andere armenische Familien wie Isabellas so relevant war, einer Obsession gleich. Daran wird auch deutlich, dass die Kategorie „Opfer des Genozids“ eine relationale Kategorie ist. Eine Identifikation hängt erstens nicht von der erlebten Erfahrung, sondern von Erzählungen darüber ab. Und diese Kategorie wird zweitens mit unterschiedlichen Bewertungen verbunden, die wie im Fall von Isabella positiv oder wie im Fall von Ruben negativ sein können. Ebenso widerständig wie Rubens Wissens- und Sinnkonstruktionen waren seine Vorstellungen von Gemeinschaft. Während meine anderen Gesprächspartnerinnen – bis auf Tavit – in ihrer individuellen Erinnerungsarbeit eine 240

ERINNERUNGSARBEIT UND INTERGENERATIONELLE ÜBERTRAGUNG

armenische Leidensgemeinschaft konstruierten, tat Ruben dies nicht. Er identifizierte sich allenfalls mit einer transnationalen armenischen Gemeinschaft von Intellektuellen und Wissenschaftlern, die über den Genozid forschen. Allerdings waren in den individuellen Reflexionen über den Genozid nicht nur Konstruktionen von Gemeinschaft enthalten, sondern sie verwiesen auch auf Spaltungen und Differenzen. Ruben sah sich als von der lokalen armenischen Gemeinschaft isolierter, ungeliebter Dissident, dessen intellektuelle Fähigkeiten nicht anerkannt wurden. Die Mitglieder der Familie Kassapian betonten ihren ideologischen Abstand zu den Daschnakzagan der Paroikia. Serine identifizierte sich mit der armenischen Republik und grenzte sich gegen die Diaspora ab. Was alle trotzdem verband war, dass sie sich in ihrer Identifikation mit Armenischsein doch alle auf die Paroikia bezogen und sich eine Anerkennung ihrer Positionen wünschten. Nur Isabella definierte ihre Zugehörigkeit zur armenischen Nation völlig unabhängig von den Bewertungen durch die Paroikia. Ihr Beispiel zeigt, dass weder die Identifikation mit dem Genozid noch mit einer dominanten kollektiven Identitätsarbeit an die Paroikia gebunden sein muss. Für Isabella spielte die Paroikia als Übertragungsort armenischer Identität überhaupt keine Rolle. Vielmehr war ihr soziales Umfeld außerhalb der Familie durch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und, während ihrer Kindheit zur katholischfranzösischen Schule, geprägt. Hinzu kam, dass die Mutter, die so bestimmend für ihre Identifikation mit armenischer Identität war, eine erklärte Gegnerin der Daschnak war. Dennoch zeigten Isabellas Reflexionen Überschneidungen mit der in der Paroikia dominanten Ideologie des Askabahbanum. Außerdem zeigt Isabellas Beispiel, dass die Zugehörigkeit zu einer armenischen „Nation im Exil“ mit multiplen Identifikationen einhergehen kann, die in dominanten Konzepten armenischer Identität nicht eingeschlossen sind. Zugehörigkeit zur armenischen Nation wird im dominanten Diskurs der Daschnak einerseits als exklusive nationale und ethnische Identität definiert, die andererseits eine Identifikation mit der griechischen Nation nicht ausschließt. Darüber hinaus sind nicht nur formale sondern aktive Zugehörigkeit zur Paroikia ein bestimmendes Merkmal armenischer Identität. Auf Isabella Turoni traf beides nicht zu. Ihre Identifikation als Armenierin ergab sich in erster Linie durch ihre Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie und die Erzählungen ihrer Mutter. Dabei bezog sie sich weder auf den armenischen Nationalstaat noch auf armenische Territorien. Um sich als Armenierin zu fühlen, brauchte sie auch nicht das Gefühl von Zugehörigkeit zur noch die Akzeptanz der Paroikia und lehnte auch eine Identifikation mit der griechischen Nation ab. Während in dominanten Diskursen Armenisch-Sein in der Regel mit Mitgliedschaft in der armenisch-orthodoxen Kirche gleichgesetzt wird, fühlte sich Isabella gleichzeitig einer katholischen Glaubensgemeinschaft zugehörig, die allerdings nicht national definiert ist. Bisher habe ich vor allem auf das Identische zwischen der individuelle Erinnerungs- und der ritualisierten Erinnerungsarbeit verwiesen. Es gab jedoch auch erhebliche Differenzen. Keine der Interviewpartnerinnen und Inter241

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

viewpartner – egal ob pro oder Anti-Daschnak – empfand die ritualisierte Erinnerungsarbeit der Daschnak als angemessen. Dabei gingen die Reaktionen von offener Ablehnung wie bei Ruben, der diese als hooliganesk bezeichnete und Tavit, dem zuviel geschrieen wurde, über Serine, die sie als unangemessenes Theater ansah bis zu den drei jungen Frauen, die, wenn auch widerwillig, teilnahmen und sogar an der Organisation mitwirkten. An ihrem Beispiel wurde darüber hinaus deutlich, dass Rituale durchaus auch eine emotionale Wirkung auf diejenigen entfalten, die ihnen kognitiv ablehnend gegenüberstehen. Zu den wichtigsten politischen Forderungen der Daschnak – die Anerkennung des Genozids durch die Türkei einerseits und die Rückgabe der westarmenischen Gebiete andererseits – waren die Einstellungen ebenfalls ambivalent. Die Forderung nach Rückgabe der Gebiete hielten im Prinzip alle für unrealistisch und zum Teil sogar für lächerlich. Die Forderung nach Anerkennung des Genozids war jedoch sogar für erklärte Anti-Daschnaks moralisch notwendig und richtig. Zur Daschnak hatten die meisten ein ambivalentes oder sogar offen ablehnendes Verhältnis: Selbst die jungen Frauen, die Mitglieder der DaschnakJugendorganisation waren, kritisierten die Partei. Während sie jedoch den Kampf der Daschnak für die Anerkennung des Genozid anerkannten, unterstellten andere wie Ruben, Tavit und auch Isabella, dass die Partei den Genozid nur instrumentalisiere, um ihre eigene Machtposition in der Paroikia zu stärken. Bei aller Kritik an der ritualisierten Erinnerungsarbeit und ihrer politischen Überzeugungskraft entwickelten aber selbst die stärksten Kritiker der Daschnak während unserer Interviews keine alternativen Formen kollektiver Erinnerungs- und Identitätsarbeit. Im Gegenteil, selbst die individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit entschiedener Parteigegner wie Ruben und Tavit war durch die kollektive Erinnerungs- und Identitätsarbeit der Daschnak beeinflusst. Und selbst Armenuhi, die die intergenerationelle Übertragung armenischer Identität durch die Erinnerungs- und Identitätsarbeit innerhalb der Familie zum Teil höher bewertete als die im Kontext der Paroikia, sah diese nicht als eine Alternative zur kollektiven Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der Paroikia. Im Gegenteil sie identifizierte sich mit der geschlechtsspezifischen Rolle als Reproduzierende armenischer Identität und Kultur, die ihr im Rahmen der Ideologie des Askabahbanum zugewiesen wird. Und sie hätte es als Scheitern ihrer Erziehungskompetenz verstanden, hätten ihre Kinder sich nicht durch ihre Teilnahme an der ritualisierten Erinnerungsarbeit für die Paroikia sichtbar mit armenischer Identität identifiziert. Dies verweist wiederum auf die zentrale Rolle, die die öffentliche Identifikation mit der Paroikia für die individuelle Identifikation mit armenischer Identität hat. In dieser Zentralität der Paroikia für die individuelle Identifikation liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum die Daschnak, trotz aller Kritik, ihre dominante Position in der Paroikia behaupten konnte. Weitere Gründe werden auch in der nun folgenden zusammenfassenden theoretischen Diskussion der empirischen Ergebnisse deutlich. 242

7

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

In dieser Arbeit habe ich am Beispiel der armenischen Diaspora in Thessaloniki und Athen untersucht, wie Menschen in einer Situation der räumlichen Zerstreuung Identität und Gemeinschaft herstellen. Meine ethnographischen Beschreibungen und Analysen in den einzelnen Kapitel gingen von drei zentralen Fragestellungen aus: Erstens der Frage nach den Erzählungen und performativen Handlungen, mit denen Armenier in Griechenland Erinnerung und Identität schaffen, zweitens der Frage nach dem Verhältnis der individuellen und kollektiven Erinnerungs- und Identitätsarbeit zueinander und drittens der Frage, was an armenischer Identitäts- und Erinnerungsarbeit diasporaspezifisch ist. In diesem abschließenden Kapitel greife ich die wichtigsten Ergebnisse der einzelnen Kapitel noch einmal auf und diskutiere sie in Bezug auf ihre Relevanz für eine Theorie zu Diaspora. Und ich gehe auch darauf ein, was sich aus dieser Ethnographie über den spezifischen Fall der armenischen Diaspora hinaus für die Erforschung kollektiver Traumata ableiten lässt. Zunächst rufe ich noch einmal die zentralen Punkte des Diasporakonzeptes in Erinnerung, mit dem ich armenische Erinnerungs- und Identitätsarbeit analysiere. Im Gegensatz zu typologisierenden Konzepten, die Diaspora anhand von charakteristischen Kriterien von anderen sozialen Formationen abgrenzen (Cohen 1997: 180-196; Safran 1991: 83-90; Tölölyan 1996: 12-16; Vertovec 1997: 278-281), bin ich bewusst von einer offenen Konzeption von Diaspora ausgegangen. Das zentrale Kriterium, mit dem Diaspora zum „paradigmatisch Anderen des Nationalstaates“ (Tölölyan 1991a: 5) wird, ist die spannungsgeladene Gleichzeitigkeit multipler und transnationaler Bindungen zu unterschiedlichen Orten, die durch häufig widersprüchliche Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen entstehen. Welche dieser Bindungen und Erinnerungen ausgewählt werden, um zu Referenzpunkten kollektiver Identifikationen zu werden, dies ist das Ergebnis von Aushandlungen innerhalb der Machtstrukturen einer Diaspora und einer mehr oder weniger bewussten Identitätsarbeit. Wie jede Nation ist auch jede Diaspora keine primordiale, sondern eine „vorgestellte Gemeinschaft“ (Anderson 1991). Diejenigen, die dazugehören wollen oder sollen, konstituieren diese Gemeinschaft durch kollektive und individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit. Und/oder sie identifizieren sich zumindest partiell mit der Erinnerungs- und Identitätsarbeit, durch die andere eine Vorstellung dieser Gemeinschaft schaffen. Dabei ist die Partizipation einzelner Individuen an der kollektiven Erinnerungs- und Identitätsarbeit beeinflusst von ihrer sozialen Positionierung in Bezug auf sich überkreuzende Kategorien wie Geschlecht, Alter, Klassenzugehörigkeit, politische Vorlieben etc., die von Machtverhältnissen abhängig ist. 243

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

Diese für mein Verständnis von Diaspora zentralen Aspekte hat Avtar Brah (1996: 178-210) in ihrem Konzept des diaspora space berücksichtigt. In Anlehnung an Avtar Brah fasse ich Diaspora daher als einen konkurrenzgeladenen Raum auf, der durch soziale, kulturelle und ökonomische Beziehungen entsteht und in dem gleichzeitig konkrete Orte zu Referenzpunkten für diese Beziehungen werden. Dementsprechend wurde in meiner Arbeit das diasporaspezifische armenischer Identitäts- und Erinnerungsarbeit herauskristallisiert, indem ich untersucht habe, welche Beziehungen durch kollektive und individuelle Identitäts- und Erinnerungsarbeit entstehen und welche Orte dabei zu Referenzpunkten werden. Meine Untersuchungseinheiten waren nicht nur die in Thessaloniki und Athen lokalisierten Diasporagemeinden, sondern auch der private Raum armenischer Familien. Beide Arenen, die Öffentlichkeit der Paroikies und die Privatheit der Familie, sind keine sich gegenseitig ausschliessenden, sondern sich überkreuzende soziale Kontexte, in denen sich armenische Erinnerungs- und Identitätsarbeit vollzieht. In der nun folgenden abschließenden Diskussion gehe ich auf meine Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen zu Diaspora ein, die mich beim Schreiben dieser Ethnographie begleitet haben, fülle sie mit meinen empirischen Ergebnissen und stelle die Aspekte heraus, die sich daraus für eine Theorie zu Diaspora ergeben.

7.1

Diaspora als soziale Formation vs. Diasporaraum

In Kapitel 3 Von einer „Nation im Exil“ zu einer diasporischen Minderheit wurden Erinnerungserzählungen über die Geschichte der Paroikies in Athen und Thessaloniki analysiert. Der Fokus lag auf Erinnerungserzählungen offizieller Repräsentanten beider Paroikies, die mit individuellen lebensgeschichtlichen Erinnerungserzählungen kontrastiert wurden. Einerseits habe ich dadurch den historischen Kontext für das weitere Verständnis dieser Ethnographie geschaffen, andererseits habe ich die Erzählungen als Identitätsarbeit interpretiert. In den dominanten repräsentativen Erinnerungserzählungen entwarfen meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die kohärente Geschichte einer homogenen armenischen „Nation im Exil“, für deren Mitglieder ethnische Solidarität, Loyalität und Opferbereitschaft dem politischen Projekt der Nationsbewahrung (Askabahbanum) gegenüber sowie die Rückkehrvision in einen armenischen Nationalstaat zentral waren. Diese am Idealtyp eines souveränen Nationalstaates orientierte Vorstellung von Diaspora, mit der Armenier und Armenierinnen, wenn auch gebrochen durch die Ereignisse der Unabhängigkeit Armeniens 1991 (siehe Kapitel 3.5), bis heute ihre Beziehungen zu Griechenland und Armenien imaginieren, weist Übereinstimmungen mit William Safrans (1991) Kriterienkatalog von Diaspora als soziale Formation auf. William Safrans Diasporakonzept geht vom Idealtyp der jüdischen Opferdiaspora aus, die bis in die späten 1960er Jahre als paradigmatisch für den 244

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

Begriff Diaspora galt. Zentral ist die Verbindung von Diaspora mit der negativ konnotierten Vorstellung einer traumatischen Zerstreuung und eines erzwungenen Exils. Dementsprechend geht Safran davon aus, dass eine Diaspora dann entsteht, wenn ein Kollektiv von Menschen durch äußeren Zwang zerstreut wird, wobei die Zerstreuung linear von einem Kern ausgeht. Als weitere Definitionskriterien nennt er, zweitens die Bewahrung einer kollektiven Erinnerung, einer Vision oder eines Mythos über das ursprüngliche Heimatland; drittens das Gefühl, der Residenzgesellschaft nicht wirklich anzugehören; viertens die Vorstellung, daß ursprüngliche Heimatland sei die eigentliche Heimat verbunden mit dem Wunsch nach Rückkehr, sobald die Umstände dies erlauben; fünftens die hohe Bereitschaft zur Bewahrung und Prosperität dieses Heimatlandes beizutragen und sechstens den Erhalt aktiver Beziehungen zum Heimatland und die Bedeutung, die der Identifikation mit dieser Beziehung für den Fortbestand der Gemeinschaft in der Diaspora zugeschrieben wird (Safran 1991: 83-84). Auf den ersten Blick beschreiben diese Kriterien die konstitutiven Elemente der dominanten armenischen Erinnerungserzählung über die Geschichte der Paroikia perfekt. In der Auseinandersetzung mit meinem Datenmaterial wurde jedoch deutlich, dass Safrans Diasporakonzept nicht greift, wenn es um die Analyse von Prozessen der Gemeinschafts- und Identitätsbildung in der armenischen Diaspora geht. Das Trauma des Genozids als konstituierendes Ereignis für die Entstehung von Diaspora und das moralische Postulat des Nicht-Vergessens als identitätsstabilisierende soziale Handlung sind zentrale Bestandteile der Erinnerungserzählungen. Der Vergleich zwischen den offiziellen Erzählungen über die Geschichte der Paroikies und den lebensgeschichtlichen Erzählungen in Kapitel 3 zeigen, dass es nicht das Trauma des Genozid allein war, das zur Flucht nach Griechenland führte. Im Gegensatz zu den offiziellen Erinnerungserzählungen wird in den lebensgeschichtlichen Erzählungen keine singuläre Zerstreuungsursache genannt, sondern von einer Verkettung traumatischer Ereignisse wie Deportationen, Vertreibungen und Verfolgungen berichtet. Diese mehrfachen Traumatisierungen können nur in armenischen und griechischen Historiographien und repräsentativen Erinnerungserzählungen deutlich getrennt voneinander als Genozid und Kleinasiatische Katastrophe benannt werden, bilden aus der Perspektive lebensgeschichtlicher Erzählungen jedoch ein Kontinuum von Traumatisierungen. Zwar liegt der Fokus meiner Arbeit auf der Analyse der Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Angehörigen der 1922 entstandenen Diaspora. Punktuell bin ich jedoch auch auf die Differenzen zwischen Diaspora- und Republikarmeniern eingegangen. So habe ich die je nach Herkunft unterschiedlichen Einstellungen zum homing desire, zur ritualisierten Erinnerungsarbeit und zur individuellen Erinnerungsarbeit an den Genozid verglichen (Kapitel 4.2, 5.3, 6.3). Diese Vergleiche werfen ein differenziertes Licht auf die von den dominanten Institutionen entworfene Vorstellungen einer erzwungenen Vertreibung als dem einzig legitimen Entstehungsmotiv der armenischen Diaspora. Migrantinnen und Migranten aus der Republik haben Armenien in erster Linie 245

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

aus ökonomischen Gründen verlassen. Diasporaarmenierinnen und -armenier bewerten deren Migration als freiwillig und, entsprechend der dominanten nationalistischen Ideologie des Askabahbanum, als illoyale Fahnenflucht dem Heimatland gegenüber. Diese Abwertung diente ihnen einerseits als Legitimation dafür, Migrantinnen und Migranten von einer Zugehörigkeit zur Diaspora auszuschließen. Andererseits konnten sie auf diese Weise ihre Imagination von Armenien als Hort reiner armenischer Identität aufrechterhalten und auch die kulturellen und sprachlichen Differenzen mit der Republik Armenien ausblenden. Außerdem wird durch den Diskurs der Fahnenflucht die ökonomisch und rechtlich prekäre Situation der Republikarmenier als Menschen ohne Papiere nivelliert. Aus der Perspektive der Migranten dagegen war die ökonomisch motivierte Migration eine Zwangsmigration, die sie – wie die Migrantin Serine – auf der Vorlage der historischen Erfahrung des Genozids reflektierten. William Safrans Kriterienkatalog, der erzwungene Migration als Entstehungsgrund für Diaspora ansieht, ist kritisiert und unter anderem von Robin Cohen (1997: 180-184) und Steve Vertovec (1997: 278) durch den Aspekt der freiwilligen Migration erweitert worden. Die oben erwähnte Auseinandersetzung darüber, welche Formen von Migrationen legitimiert werden können, zeigt jedoch, dass selbst diese Erweiterung problematisch bleibt. Dafür möchte ich drei Gründe nennen. Erstens verstellt sie den Blick dafür, dass die Einteilung in erzwungene und freiwillige Migration eine problematische Praxis der Festschreibung bleibt, da sie häufig unbewusst die Perspektive der Mächtigen in Bezug auf die Regulierung von Einwanderung perpetuiert. So wird Migration aus ökonomischen Gründen aus der Perspektive der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als freiwillig und damit als nicht asylberechtigt definiert. Diesen dominanten Diskurs greifen Diasporaarmenier auf, wenn sie die Migration der Republikarmenier als Fahnenflucht abwerten, und verknüpfen ihn mit ihrer Ideologie des Askabahbanum. Dagegen empfinden diejenigen, die versuchen, Zugang zur Festung Europa zu bekommen, Migration als Zwang, wenn ihnen die strukturellen Bedingungen keine anderen Möglichkeiten der Existenzsicherung lassen. Ich gehe davon aus, dass die Betonung der Genoziderfahrung als Entstehungsursache und als dem zentralen Identifikationspunkt in der armenischen Diaspora auch vor dem Hintergrund dieser globalen Bewertungspraxis gesehen werden muss. Zweitens geht auch die Erweiterung um den Aspekt der freiwilligen Migration weiterhin von Idealtypen aus und berücksichtigt nicht, dass selbst die Diasporen, die sich wie die jüdische und armenische allgemein anerkannt als „Opferdiaspora“ repräsentieren (Cohen 1997: 42, 55; Chaliland/Rageau 1995; Dabag und Platt 1993: 117; Marienstras 1991; Safran 1991: 84; Tölölyan 1996: 3), analysiert man die historischen Prozesse genauer, niemals reine Formen darstellen. Vielmehr sind sie grundsätzlich durch vielfältige Migrationsfaktoren gekennzeichnet. Selbst Robin Cohen, der in seinem Buch „Global Diasporas: An Introduction“ (1997) den Versuch unternimmt, das empirische Phänomen Diaspora in die fünf Kategorien "classical victim-diaspora, trade-, 246

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

labour, imperial und cultural diaspora" zu unterteilen, wendet selbstkritisch ein, dass seine Kategorien nicht statisch zu verstehen sind, da eine Gruppe häufig im Laufe ihrer Entwicklungen mehreren Kategorien gleichzeitig zugeordnet werden könne. Cohen definiert die armenische Diaspora in erster Linie als Opferdiaspora, räumt aber ein, dass sie gleichzeitig auch dem Typus der Händlerdiaspora entspricht (Cohen 1997: 42, 55). Mein dritter und wichtigster Kritikpunkt an Versuchen der Festschreibung von Diasporen auf einen Entstehungsgrund ist, dass nicht berücksichtigt wird, dass die Fokussierung auf eine spezifische Migrationerfahrung – wie im vorliegenden Fall dem Genozid – als zentraler Bestandteil von kollektiver und individueller Erinnerungs- und Identitätsarbeit zu werten ist. In Kapitel 5 und 6 dieses Buches wurde überaus deutlich, welche Erinnerungsarbeit notwendig ist, um die kollektive Identifikation mit der Genoziderfahrung als identitätsstabilisierendem Faktor aufrechtzuerhalten und der Gefahr des Vergessens zu entrinnen. Diese Arbeit in Form von Erzählungen und performativen Handlungen und nicht die Entstehungsursache per se führt dazu, dass sich eine heterogene Gruppe von Menschen als eine Gemeinschaft in der Diaspora sieht. Wie heterogen diese Gruppe von Menschen ist, die sich als Paroikia empfindet, ist ausführlich in Kapitel 4 „Ein Armenier: eine Kirche; zwei Armenier: eine Schule; drei Armenier: drei Parteien! – Institutionen, Differenzen, und Zugehörigkeiten diskutiert worden. In Kapitel 5 Kollektive Erinnerungsarbeit und Ritualisierung habe ich gezeigt, wie durch spezifische Strategien der Ritualisierung, die aus religiösen, nationalistischen und militaristischen Elementen bestehen, die traumatisierten, wehrlosen Opfer von 1915 zu Märtyrern und wehrhaften Helden umgedeutet werden. Durch diese Umdeutugen scheinen sie als Märtyrer, die im Dienste einer höheren Sache – für den Fortbestand der armenischen Nation – gestorben sind. In diesen Transformationsritualen wird die Sinnlosigkeit des Genozids von 1915 in eine sinnstiftende Erfahrung umgedeutet, die von Armeniern und Armenierinnen heute für die positive Identifikation mit einer kollektiven armenischen Identität in Anspruch genommen werden kann. Gleichzeitig hat sich in diesem Kapitel die zentrale Rolle von Institutionen für die kollektive Erinnerungs- und Identitätsarbeit in der armenischen Diaspora erneut bestätigt (vgl. Kapitel 3 und 4). Es sind die von armenischen Institutionen, wie der dominanten Daschnak-Partei, vertretenen Konzepte essentialistischer armenischer Identität, von Diaspora als „Nation im Exil“, die Ideologie des Askabahbanum (Nationsbewahrung) und die Praxis des Opferbringens (Kapitel 1.5), die von allen Akteurinnen und Akteuren der Gemeinde durch performative ritualisierte Handlungen in Szene gesetzt, bestätigt und emotionalkörperlich eingeschrieben werden. Gleichzeitig versichern sich Armenier und Armenierinnen in Momenten des ritualisierten Handelns darüber, dass es, obwohl sie ihre hybride Diasporaidentität als defizitär wahrnehmen, auch eine armenische Identität gibt, die sie über zeitliche und territoriale Grenzen hinweg mit einer armenischen Gemeinschaft verbindet. Diese Gemeinschaft schließt nicht nur die ausführenden Akteurinnen und Akteure der Rituale ein, 247

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

sondern Armenier in aller Welt und selbst die Opfer des Genozids von 1915. Es sind diese ritualisierten Handlungen, mit denen Gemeinschaft einerseits empfunden, bestätigt und gleichzeitig produziert wird. Zugleich sind die Rituale auch Momente, in denen Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft und die zentrale Rolle der Institutionen für die Erinnerungsund Identitätsarbeit perpetuiert werden. Dass die Definitionsmacht dominanter Institutionen wie der Daschnak über Vorstellungen von Diaspora, Gemeinschaft und Identität nicht unwidersprochen hingenommen und internalisiert werden, zeigen meine Analysen in Kapitel 6 Individuelle Erinnerungsarbeit und Intergenerationelle Übertragung. In diesem Kapitel habe ich mich mit der individuellen Erinnerungsarbeit im privaten Kontext auseinandergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass sich selbst Aktivistinnen und Aktivisten nicht kritiklos mit der Daschnak und der von ihr dominierten institutionalisierten Erinnerungsarbeit identifizieren konnten, obwohl sie aktiv an deren kollektiver Erinnerungsarbeit beteiligt waren. Im Gegenteil, es war ihnen durchaus bewusst, dass die Partei die Erinnerungsarbeit an den Genozid instrumentalisiert, um ihre dominante Position in der Paroikia zu legitimieren.Trotz ihres kritischen Bewusstseins entwickelten sie dennoch keine alternativen Politiken der Erinnerungsarbeit. Und selbst die härtesten Kritiker bezogen sich in ihren individuellen Sinn- und Wissenskonstruktionen über den Genozid immer wieder auf die dominanten Konzepte armenischer Identität, Diaspora, die Ideologie des Askabahbanum und die Opferpraxis, die in den Ritualen aufgeführt und eingeschrieben wurden (Kapitel 6.7). An diesem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen institutionalisierter und individueller Erinnerungsarbeit, das von einer Gleichzeitigkeit von Identifikation und Differenzen geprägt war, zeigt sich, auf welche Weise Prozesse der Gemeinschaftsbildung in der Diaspora von Machtstrukturen gekennzeichnet sind. Denn trotz aller Kritik war die Position der Daschnaktsutiun in der armenischen Diaspora Griechenlands hegemonial geblieben: Erstens, weil sie bis auf wenige Ausnahmen alle zentralen Institutionen der diasporischen Öffentlichkeit beherrschte und zweitens weil sie diese Institutionen nutzte, um ihre Vorstellungen von Identität und Gemeinschaft zu verbreiten und durchzusetzen. An dieser Stelle wird offensichtliche, welche bedeutende Rolle Institutionen und ein kleiner Kreis von Aktivistinnen und Aktivisten im Prozess der Gemeinschaftsbildung in der Diaspora spielen. Denn sie produzieren, reproduzieren und verbreiten eine spezifische Vorstellung von Gemeinschaft und mobilisieren eine heterogene Gruppe von Menschen dazu, sich mit diesen Vorstellungen zu identifizieren. Als nicht haltbar erwies sich auch Safrans Definitionskriterium, einer linearen Zerstreuung ausgehend von einem Kern. Dies habe ich vor allem in Kapitel 3 und 4 herausgearbeitet: In den lebensgeschichtlichen Erzählungen der zweiten Generation waren es die konkreten Herkunftsorte im osmanischen Reich, die als Ausgangspunkt der Zerstreuung genannt wurden. In den offiziellen Erinnerungserzählungen über die Geschichte der Paroikia dagegen wurden diese konkreten Herkunftsorte mit dem Begriff „Westarmenien“ um248

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

schrieben, der im Zusammenhang mit der Politisierung des Genozidsgedenkens in den 1960er Jahren seine politische Bedeutung entfaltete. Das Heimatland dagegen, als dessen Bestandteil die „Nation im Exil“ gesehen wurde und auf das sich der Rückkehrwunsch der Diasporaarmenier bezog, wurde im Verlauf der historischen Entwicklung der armenischen Diaspora immer weniger mit dem Herkunftsort und dem politisieren Konstrukt westarmenische Territorien als mit der Vision und ab 1991 mit der Realität eines armenischen Nationalstaates gleichgesetzt. Und schließlich hatten Armenierinnen und Armeniern aus der Diaspora und der Republik deutlich unterschiedliche Vorstellungen von Heimat, auch wenn sie sich dabei auf ein und denselben geographischen Raum – die heutige Republik Armenien – bezogen. Ein Kern im Sinne der Existenz eines eindeutig territorial verorteten Herkunftslandes lässt sich in diesen vielfältigen Vorstellungen zu Herkunftsorten und Heimatland nicht ausmachen. An dieser Stelle wird nochmals deutlich, dass der Begriff des Heimatlandes als analytischer Begriff problematisch ist. Denn am Beispiel der armenischen Diaspora konnte ich zeigen, dass Heimat- und Herkunftsland erstens nicht deckungsgleich sind, in der historischen Entwicklung einer Diaspora zweitens unterschiedliche Orte als Heimat- und/oder Herkunftsland verstanden werden können und es drittens durchaus konkurrierende Konzepte von Heimat geben kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Vorstellung eines Kern, von dem aus sich eine Diaspora linear zerstreut als auch der Begriff Heimatland/Herkunftsland problematisch sind. Denn sie implizieren primordiale und essentialistische Vorstellung von Gemeinschaft, die durch gemeinsame ethnische Herkunft verbunden und territorial verortet ist (vgl. Anthias 1998). Diese Vorstellung verstellt den Blick dafür, dass der kollektive Bezug sowohl auf eine Migrationsursache als auch auf einen Ort, der als Heimat angesehen wird, durch kollektive Erinnerungs- und Identitätsarbeit geschaffen werden muss. In diesen Prozessen werden einige Erfahrungen und Erinnerungen hervorgehoben und andere marginalisiert. Ich habe daher die hier kritisierten Definitionskriterien einer Konzeption von Diaspora als soziale Form vermieden und anstelle dessen mit einer offenen Konzeption von Diaspora als konkurrenzgeladenem sozialen Raum gearbeitet. Dies ermöglichte die Analyse armenischer Konzepte von Diaspora als zentrale Erinnerungs- und Identitätsarbeit und damit als soziale Handlungen, mit denen Identität und Gemeinschaft in der Diaspora geschaffen werden. Um Identitätsprozesse in der Diaspora angemessen zu untersuchen, muss also zwischen Konzepten von Diaspora unterschieden werden, die von den Gemeinschaften selber produziert und verbreitet werden und den akademischen Konzepten, mit denen wir diese Prozesse analysieren wollen. Ich verstehe Diaspora im Sinne armenischer Selbstrepräsentation daher als einen Begriff, der aus unterschiedlichen Sprechpositionen je nach Kontext und Gegenüber (relational und kontextuell) mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt werden kann. Dabei sind die Bedeutungskonstruktionen, die individuell und kollektiv vorgenommen werden, natürlich nicht beliebig. Sondern sie sind erstens abhängig 249

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

von den materiellen, sozio-ökonomischen, kulturellen Netzwerken, durch die der diaspora space entsteht; zweitens von dem Gegenüber, für das Diaspora definiert wird; drittens von dem individuellen Erfahrungshintergrund, vor dem einzelne Akteure Diaspora definieren. Bei jeder Untersuchung von Menschen in einer Situation der räumlichen Zerstreuung sollten daher folgende Fragen berücksichtigt werden: Wie und von wem wird Diaspora als historische Erfahrung und Vorstellung von Gemeinschaft definiert? Auf welche Erfahrungen greifen diese Definitionen von Diaspora zurück und welche Erfahrungen werden dabei ausgespart? Wie wird Diaspora als historische Erfahrung definiert? Ändern sich diese Definitionen je nach Kontext und Gegenüber? Denn die kritische Bewertung von Safrans Kriterienkatalog hat gezeigt, dass Konzeptionen von Diaspora, die auf den ersten Blick dominante emische Konzepte von Diaspora und Gemeinschaft beschreiben, nicht geeignet sind, um die Komplexität von Identitätsprozessen in der Diaspora angemessen zu analysieren. Die Gefahr von Typologisierungen und Kategorisierungen besteht darin, dass dominante emische Konzepte unkritisch perpetuiert werden und vor allem die zentrale Bedeutung, die Machtbeziehungen für Identitätsprozesse in der Diaspora haben, aus dem Blick gerät. Gleichzeitig lenkt meine offene Definition von Diaspora den Blick auch darauf, dass traumatische Ereignisse ihre intergenerationelle Relevanz als kollektive Identifikationspunkte nicht nur durch unbewusste Übertragungsprozesse, sondern auch durch bewusste Identitäts- und Erinnerungsarbeit entfalten. Ich denke, in diesem Ergebnis meiner Analyse armenischer Identitäts- und Erinnerungsarbeit steckt zugleich auch der Beitrag dieser Ethnographie zur Untersuchung kollektiver Traumata. Dies möchte ich nun näher erläutern.

7.2

Ethnologische Aspekte einer Untersuchung kollektiver Traumata

Bislang ist die Erforschung kollektiver Traumata von (sozial)psychologischen Perspektiven und einer Fokussierung auf Psychopathologien bei Holocaustüberlebenden und ihren Nachkommen dominiert gewesen. Ein besonders einflussreiches psychologisches Konzept zur Behandlung von Holocaustopfern, das unter dem Begriff Survivor Syndrom bekannt wurde, war in den späten 1950er Jahren von William Niederland entwickelt worden. Es beeinflusste die wissenschaftliche Forschung und die therapeutische Praxis der 1960er und 1970er Jahre ebenso nachhaltig das Konzept der Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD) die 1980er Jahren (vgl. Young 1995). Das Survivor Syndrom wird heute selbst aus der Perspektive der traditionellen Psychiatrie kritisiert, da es die vielfältigen und kreativen Reaktionsmöglichkeiten von Überlebenden negierte, eine heterogene Gruppe homogenisierte und gleichzeitig pathologisierte. Die Opfer des Holocaust wurden auf ein spezifisches psychisches Krankheitsbild festgeschrieben, das den Blick auf die kreativen Strategien der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen versperrte (vgl. Bergmann-Jucovy 250

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

1995: 31-33; Robben und Suárez-Orozco 2000: 16; Platt 1995; Rosenthal 1995). Auch die „Unfähigkeit“ über das erlebte Trauma zu sprechen und um tote Verwandte zu trauern, wurde als kennzeichnend für das Survivor Syndrom angesehen. Zum Beispiel wurde die Praxis als pathologisch eingestuft, Kinder, die nach dem 2. Weltkrieg geboren worden waren, nach im Holocaust ermordeten Familienangehörigen zu benennen. Auch in der armenischen Paroikia in Griechenland waren Namensgebungen, die an im Genozid verstorbene Verwandte erinnerten, üblich. Von meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern wurde dies jedoch nicht als Indiz für eine nicht bewältigte Trauer angesehen, sondern als bedeutende Handlung „wider das Vergessen“. Als Kritik am Survivor Syndrom entwickelte Dina Wardi (1992) in ihrer therapeutischen Arbeit das Konzept der Erinnerungskerze, das ich in Kapitel 6 ebenfalls für die Analyse intergenerationeller Übertragung angewandt habe. Dina Wardi argumentierte, dass jüdische Überlebende Kindern aufgrund der erlebten Vernichtung eine zentrale Bedeutung beimaßen. Sie würden zu Symbolen des Sieges über die Zerstörung durch den Holocaust. In jeder Familie gebe es ein Kind, das als Verbindung zu den in der Vergangenheit getöteten Verwandten gesehen und dem die Verpflichtung des Gedenkens auferlegt werde. Damit ist nach Wardi auch der Wunsch verbunden, die ausgelöschte erweiterte Familie und die verlorene Gemeinschaft zu restaurieren sowie jüdische kulturelle Traditionen zu übertragen. Mit den Aufgaben einer „Erinnerungskerze“ identifizierten sich in meinem Sample Frauen der zweiten Generation. Dies ist auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Paroikia zurückzuführen, die in erster Linie Müttern die Rolle zuweist, Ethnizität im Rahmen der Familie zu übertragen. Vor allem am Beispiel von Isabella Turoni ist offensichtlich geworden, dass für die Identifikation mit der familiären Position der Erinnerungskerze nicht nur die intergenerationelle Übertragung des erlebten Traumas relevant ist. Vielmehr ist es die intergenerationelle Weitergabe der Erzählungen über traumatische Ereignisse, die bei meinen Gesprächspartnerinnen zu einer Identifikation mit dieser Rolle führte (Kapitel 6.5-6.7). Im Gegensatz zu William Niederland pathologisierte Dina Wardi das Bedürfnis nach einer „lebendigen Verbindung zu den Toten“ nicht als Unfähigkeit zu Trauern, sondern wertete es als kreative, zukunftsweisende Strategien einer Verarbeitung des Traumas. In diesem Sinne habe ich die Ritualisierungen der kollektiven Erinnerungsarbeit und Weitergabe regulativer Biographien innerhalb der Familie als transformative Handlungen interpretiert, mit denen die Sinnlosigkeit des Genozids sinnstiftend umgedeutet wird und dies als therapeutische Strategie bezeichnet (Kapitel 5 und 6). Die im Vergleich zu Studien über Holocaust-Opfern wenigen Untersuchungen, die sich mit Erinnerungen von Genozidüberlebenden beschäftigen, sind deutlich von einer Kritik und Abgrenzung zum Konzept des Survivor Syndroms gekennzeichnet. So argumentieren Mihran Dabag und Kristin Platt, die Erinnerungen von Genozidüberlebenden dokumentiert und analysiert ha251

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

ben, für die Anerkennung und Berechtigung der als pathologisch eingestuften Reaktionen von Überlebenden als „normale Reaktionen“ auf einen absoluten Bruch. Problematisch an ihren Studien ist jedoch, dass sie die sozialen und politischen Bedingungen des Erinnerns kaum einbeziehen. Darüber hinaus setzen sie sich nicht mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Erinnerungsarbeit auseinander, sondern konzeptualisieren die armenische Diaspora als eine quasi natürliche Erinnerungsgemeinschaft der Opfer und ihrer Nachfahren (Dabag 1996; 1999; Platt 1995; 1998a; 1998b; Dabag und Platt 1995). Auch gegen diese essentialistischen Sichtweisen auf die armenische Diaspora wende ich mich mit meiner Analyse armenischer Erinnerungs- und Identitätsarbeit. Der Ethnologe Robben und der Psychologe Suárez-Orozco (2000: 24) kritisieren meiner Ansicht nach zu Recht, dass psychologische Ansätze den Begriff kollektives Trauma bisher nicht über eine rein quantitative Bezeichnung der Traumatisierung einer Gruppe von Menschen im Gegensatz zur individuellen Traumatisierung eines Individuums hinausgeführt haben. Ihrer positiven Bewertung des Konzept des „gewählten Traumas“ (chosen trauma) von Vamik Volkan (1997: 36-49; 1999: 73f.) kann ich jedoch nicht zustimmen. Der Psychoanalytiker Volkan entwickelte das Konzept des „gewählten Trauma“ zur Analyse ethnischer und nationaler Konflikte. Robben und Suárez-Orozco bewerten es als einen bedeutenden Beitrag zum konzeptuellen Verständnis der Beziehung von Traumata und Gesellschaft. Ich vertrete dagegen die Ansicht, dass Volkans Konzept die Pathologisierung der Opfer fortsetzt und darüber hinaus primordiale Vorstellungen einer Opfergemeinschaft schürt, die keineswegs dazu geeignet sind, die komplexen sozialen und politischen Prozesse ethnischer Konflikte zu erhellen. Volkan versteht unter gewählten Traumata „(...) die geistige Repräsentanz von einem Ereignis, das dazu führte, dass eine Großgruppe, die durch eine andere Gruppe schwere Verluste hinnehmen musste, dahin gebracht wurde, dass sie sich hilflos und als Opfer fühlte und eine demütigende Verletzung miteinander zu teilen hatte.“ (Volkan 1999: 73).

Er betont, dass mit dem Begriff die traumatischen Auswirkungen von kollektiver Gewalt auf die Opfer keineswegs geleugnet oder verharmlost werden solle und dass damit auch keine Entlastung der Täter verbunden sei. Der Terminus „Wahl“ beziehe sich einzig und allein auf die Art und Weise, wie eine soziale Gruppe, die zu Opfern kollektiver Gewalt wurde, dieses Ereignis kollektiv erinnert und zu einem zentralen Identifikationspunkt macht. Damit formuliert Volkan zwar eine auch für meine Arbeit zentrale Fragestellung. Seinen psychoanalytischen Erklärungsansatz halte ich jedoch aus mehreren Gründen für problematisch. Volkans Konzept kann keineswegs erklären, wie eine traumatische Erfahrung, die zwar nicht von allen Angehörigen einer Gruppe erlebt wurde, zu einem kollektiv gewählten Trauma wird. Zum einen überträgt Volkan intrapsychische Prozesse der Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen auf kollektive Prozesse der Identitätsbildung. Er führt die unbewusste „Wahl“ auf die Unfähigkeit der Erlebnisgeneration zurück, „nach 252

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

der Erfahrung eines geteilten traumatischen Ereignisses über die Verluste zu trauern“ und bewertet dies als Zeichen dafür, „dass es der Gruppe nicht gelungen ist, eine narzisstische Verletzung und Demütigung wiedergutzumachen“ (Volkan 1999: 73). Damit pathologisiert dieser Erklärungsansatz die Opfer von traumatischen Erfahrungen kollektiver Gewalt ebenso wie das Konzept des Survivor Syndroms. Der kollektive Umgang mit diesem Ereignis wird ausschließlich im psychiatrischen Referenzrahmen als psychisches Unvermögen definiert und als krankhafte Abweichung bewertet. Ich argumentiere dagegen, dass die öffentliche Berufung auf ein Trauma auch eine kreative, heilende Strategie der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung sein kann. Zweitens unterscheidet Volkan nicht zwischen der intergenerationellen Übertragung von gelebten traumatischen Erfahrungen und den Prozessen, die dazu führen, dass sich eine heterogene Gruppe von Menschen, die diese Erfahrung durchaus unterschiedlich erlebt und verarbeitet haben oder eben gar nicht erlebt haben, dennoch mit einer auf eine spezifische Weise strukturierten Erinnerung daran identifizieren. Da Volkan zwischen Mechanismen von individueller und kollektiver Erinnerung und den Prozessen ihrer intergenerationellen Übertragung nicht differenziert, ist sein Erklärungsansatz drittens ungeeignet, die komplexen Beziehungen, die ich hier für das Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Erinnerung herausgearbeitet habe, wahrzunehmen und zu erklären. Aber erst die sorgfältige Analyse dieses komplexen Zusammenspiels kollektiver und individueller Erinnerungsarbeit erklärt meiner Ansicht nach, wie „gewählte Traumata“ instrumentalisiert werden können, um nationale Identitäten zu konsolidieren und politische Ambitionen zu legitimieren. Sicherlich kann keineswegs bestritten werden, dass es intergenerationelle Übertragungsprozesse traumatischer Erfahrungen gibt, die unbewusst verlaufen und nachhaltige Auswirkungen auf die Psyche nachfolgender Generationen haben. Der Psychologe Dan Bar-On (1997) und die Soziologin Gabriele Rosenthal (1999) zum Beispiel haben eindrucksvoll beschrieben, wie traumatische Erfahrungen von Holocaustopfern und –tätern in Form von Familiengeheimnissen unbewusst auf die Kinder und Enkel übertragen werden. Sie untersuchen intergenerationelle Übertragungszusammenhänge aus der Perspektive psychologischer Fragestellungen, verwenden aber Interpretationsansätze der soziologischen Biographieforschung. Der Fokus ihrer Untersuchung ist auf das Individuum und familiäre Übertragungszusammenhänge von traumatischen Erinnerungen gerichtet, die durch Verweise auf die kollektive Praxis der Erinnerung in Israel jedoch kontextualisiert werden. Die Analyse dieser familiären Übertragungsprozesse können jedoch nicht auf interpersonelle und öffentliche Beschwörungen traumatischer Erfahrungen übertragen werden, die dann zu positiv umgedeuteten kollektiven Identifikationspunkten werden. Ich denke jedoch, dass sich ethnologisch orientierte Ansätze, die wie diese Ethnogrpahie auf die öffentliche und familiäre interpersonelle Übertragung traumatischer Erfahrungen fokussiert sind mit psychologischen Ansätzen, die eher stille und unbewusste Übertragungsprozesse untersuchen, ergänzen könnten. Fruchtbar ist dies jedoch nur, wenn erstens eine Verbindung zwischen in253

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

dividuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen hergestellt und zweitens Erinnerung nicht nur als psychischer Vorgang sondern auch als eine soziale und politische Handlung begriffen wird. Darüber hinaus sollte eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit kollektiven Traumatisierungen keine pathologisierenden Zuschreibungen oder moralischen Bewertungen vornehmen, sondern sich in erster Linie darauf konzentrieren zu beschreiben und zu analysieren, warum eine Gruppe von Menschen, wie Angehörige der armenischen Diaspora in Griechenland, ein traumatisches Ereignis nicht vergessen will. Diese interdisziplinäre Herangehensweise könnte dann sicherlich auch einen wichtigen Beitrag zu der Frage leisten, welche sozialen, politischen und psychischen Voraussetzungen notwendig wären, damit sich aus individuellen und kollektiven Verarbeitungsstrategien keine Potentiale für erneute Gewalt ergeben. Nach diesen Ausführungen über die Bedeutung dieser Ethnographie für die Untersuchung kollektiver Traumata komme ich auf meine Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen zurück. Ich diskutiere nun die Bedeutung von Lokalität, Sesshaftigkeit und Territorialität für Identitätsprozesse in der Diaspora. 7.3

Mobilität und Transnationalität vs. Sesshaftigkeit und Territorialität

In allen Kapiteln ging es mir darum, die Beziehungen und Orte herauszuarbeiten, die für die multiplen Identifikationen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bedeutsam waren. Dabei bin ich von zwei sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden Prozessen von Verortung ausgegangen: Verortung durch Imagination und Verortung durch gelebte Erfahrung. Unter Verortung verstehe ich in Anlehnung an Gupta und Ferguson (1992: 8) den Prozess, in dem einem Ort Bedeutung zugewiesen wird. Diese Bedeutung ergibt sich aus einem Zusammenspiel zwischen der Einbindung des Ortes in ein System hierarchisch strukturierter Räume und der kulturellen Konstruktion des Ortes, an dem einerseits Zugehörigkeit konkret erfahren wird und der andererseits Gemeinschaft, Heimat und ganz allgemein Zugehörigkeit symbolisiert. Meine analytische Unterscheidung in zwei Prozesse der Verortung impliziert ausdrücklich keine Dichotomisierung zwischen Imaginationen und alltäglicher Erfahrung. Vielmehr beeinflussen sich Imaginationen und Alltagserfahrungen gegenseitig. Denn die Art und Weise wie Armenier ihre Verortung in Griechenland oder Armenien erfahren, ist auch durch ihre emotionalen Bindungen an das imaginierte Heimatland Armenien geprägt und umgekehrt. Gerade diese Gleichzeitigkeit beider Prozesse reflektiert das Bewusstsein von „Multi-Lokalität“, das in der theoretischen Debatte als „Diasporabewusstsein“ oder „Zustand von Diasporisierung“ beschrieben wird (vgl. Anthias 1998; Clifford 1994; Gilroy 1993; Safran 1991).

254

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

Vor allem in Kapitel 3 und 4 sind die zentralen multiplen Beziehungen und Orte diskutiert worden, die für meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen den Diasporaraum bildeten: Beziehungen zu den lokalen Paroikies in Athen und Thessaloniki, zu Athen und Thessaloniki als Orte der Ansiedlung, zu Griechenland als Residenzland, zu den konkreten Herkunftsorten im osmanischen Reich, zu den westarmenischen Territorien, zur heutigen Türkei, zu Armenien, zu Orten, in denen Verwandte und Freunde von Griechenland aus migriert waren, zum Libanon als Zentrum daschnak-orientierter Identitätspolitik. Diese multilokalen Beziehungen von Menschen in der Diaspora werden in der akademischen Debatte häufig als triadische Beziehungen (Vertovec 1997: 279; Safran 1991: 91ff.) beschrieben, zwischen a. global zerstreuten Gemeinschaften einer ethnischen Gruppe, b. ihren Residenzländern und c. den Territorien oder Ländern, die als Heimat- oder Herkunftsland gesehen werden. Unzweifelbar war diese Beziehungstriade auch für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sehr relevant. Dennoch wurde offensichtlich, dass die Figur der Triade zu kurz greift, um die komplexen Beziehungsnetzwerke angemessen zu beschreiben. Denn die Beziehungen zwischen der armenischen Diaspora und Griechenland hängen im entscheidenden Maße auch von deren wechselseitigen Beziehungen zur Türkei und von der Positionierung der armenischen Diaspora gegenüber anderen ethnischen Minderheiten in Griechenland ab (Kapitel 4.3). Darüber hinaus sagt die Figur der Triade nichts über die Qualität der Prozesse von Verortungen aus, die jedoch notwendigerweise einbezogen werden muss, um die multilokalen Beziehungen von Menschen in der Diaspora angemessen zu analysieren. Einerseits ist es gerade die Gleichzeitigkeit der Prozesse von Verortung durch Imagination und gelebte Erfahrung, die Beziehungen von Armeniern und Armenierinnen zu einem spezifischen Ort prägen. Diese Gleichzeitigkeit ist vor allem in Kapitel 3.2 und 3.4 bei meiner Analyse des Diskurs über die Ghettos deutlich geworden. In den Erinnerungserzählungen über die Ghettos und ihre Auflösung zeigte sich, dass mit diesen Orten zugleich bittere Erfahrungen von sozialer Marginalisierung und Diskriminierung und positive Erfahrungen von Solidarität und Gemeinschaft verbunden waren. Darüber hinaus wurden die Ghettos auch als von der griechischen Residenzgesellschaft abgeschlossene armenische Territorien imaginiert, in denen eine armenische „Nation im Exil“ und eine reine armenische Identität vor den schädlichen Einflüssen der Assimilation geschützt werden konnten. In diesem Sinne waren die Erinnerungserzählungen Identitätsarbeit, die Gemeinschaft und Identität in der Diaspora (re)produzierten. Der Vergleich der konfligierenden Vorstellungen, die Diaspora- und Republikarmenierinnen und -armenier über das Heimatland Armenien haben (Kapitel 4.2), zeigte darüber hinaus, dass Beziehungen zu spezifischen Orten eher durch Imagination bzw. gelebte Erfahrung von Lokalität geprägt sein können als andere. So waren Vorstellungen von Diasporaarmenierinnen und – armeniern über die Heimat Armenien in erster Linie von politisch motivierten Imaginationen geprägt, die von den zentralen armenischen Institutionen, allen 255

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

voran der Daschnak, (re)produziert und verbreitet wurden. An diesen Imaginationen konnten in der Regel auch konkrete Erfahrungen einer Reise nach Armenien nichts verändern. Im Gegensatz dazu standen bei Republikarmenierinnen und -armeniern eher gelebte Erfahrungen im Vordergrund, auch wenn diese vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Migrationserfahrungen in Griechenland nostalgisiert wurden. Meiner Ansicht nach verweisen diese Unterschiede auf weitere wichtige Punkte, die in der akademischen Debatte um Diaspora nicht genügend berücksichtigt werden. Sie betreffen den Zusammenhang zwischen Diaspora und Transnationalismus. Im Rahmen eines Vergleichs der internen Differenzlinien der armenischen Diaspora in Griechenland und der alevitischen Diaspora in Deutschland haben Martin Sökefeld und ich (2000) darauf hingewiesen, dass Diaspora keineswegs mit transnationaler Gemeinschaft gleichgesetzt werden kann. Wie in dieser Ethnographie immer wieder deutlich wurde, entstandt Zugehörigkeit zur armenischen Diaspora für meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in erster Linie durch gelebte Erfahrung in der lokalen Paroikia und durch institutionalisierte und familiäre Beziehungen zu anderen Armeniern in Griechenland. Im Gegensatz dazu hatten Erfahrungen grenzüberschreitender Mobilität und individuelle transnationale Beziehungen einen deutlich untergeordneten Stellenwert. Es waren vor allem Angehörige der erstens und zweiten Generation, die Beziehungen zu aus Griechenland ausgewanderten Verwandten und Freunden aktiv pflegten, während diese Kontakte für Angehörige der jüngeren Generation eine eher untergeordnete Rolle spielten und oftmals mit dem Tod älterer Familienmitglieder ganz abbrachen. Miller und Slater (2001) beschreiben am Beispiel von Trinidad, dass transnationale Beziehungen im Zeitalter der Globalisierung durch technische Möglichkeiten wie das Internet an Intensität und Bedeutung gewinnen können. Auch dies ließ sich für die armenische Diaspora in Griechenland zum Zeitpunkt meiner Forschung nicht bestätigen. Denn denjenigen, die Beziehungen zu Verwandten und Freunden über große räumliche Distanz und territoriale Grenzen hinweg gepflegt haben, standen moderne Kommunikations- und Transportmittel noch nicht zur Verfügung. Die jüngere Generation dagegen, für die der Umgang mit dem Internet selbstverständlicher ist, haben eine deutlich schwächere oder gar keine Bindung zu Verwandten und Freunden, die für ihre Eltern und Großeltern trotz Migration emotionale Bezugspersonen geblieben waren. Außerdem spielen Migration und transnationale Mobilität bei in Griechenland lebenden Armeniern im Vergleich zu den 1920er bis 1950er Jahren, man denke nur an die Migrationswellen von Griechenland nach Armenien, in beide Amerikas und nach Europa, kaum noch eine Rolle. Trotz verbesserter Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten ist im Gegenteil ein deutlicher Rückgang privater transnationaler Beziehungen von Generation zu Generation zu beobachten. Eine Ausnahme spielt Bildungsmigration, die bei jungen Armenierinnen und Armeniern einen ähnlich hohen Stellenwert hat wie bei griechischen Altersgenossen. Ob und in welchem Ausmaß

256

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

zum Beispiel Armenien ein Zielland für Bildungsmigration werden könnte, war zum Zeitpunkt meiner Feldforschug noch nicht absehbar. Wie vor allem in Kapitel 4 deutlich wurde, sind es vor allem die Institutionen der Paroikies, die in ein Netzwerk transnationaler institutionalisierter Beziehungen zu anderen armenischen Diasporagemeinden und zu Armenien eingebunden sind. Für Armenier, die in der Paroikia und ihren Vereinen entsprechende hierarchische Positionen einnahmen, waren daher transnationale Beziehungen wichtiger als für diejenigen, die sich nicht aktiv in der Paroikia engagierten. Dieses institutionalisierte Netzwerk profitierte natürlich von verbesserten technologischen Möglichkeiten wie Fax und Internet. So nutzen armenische Printmedien wie die Tageszeitung Azat Or und das Magazin Armenika armenische Datenbanken, um ihre Leserschaft über Vorgänge in Armenien und in der armenischen Diaspora anderer Länder zu informieren. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass zumindest die jüngere Generation auch das Worldwideweb zunehmend als Medium der Repräsentation armenischer Identitätspolitik entdecken wird. Seit einiger Zeit existiert zum Beispiel eine Website, auf der sich an die Daschnak gebundene Institutionen präsentieren (http://www.armenians.gr/english/index1024_en.html). Dennoch, wie meine Analyse in Kapitel 6.1.5 gezeigt hat, können selbst Angehörige der jungen Generation sich nicht vorstellen, dass die gelebte Erfahrung von armenischer Diaspora in Form der aktiven Teilhabe an der lokalen Paroikia durch das Internet ersetzt werden könnte. Parallel zu diesen erweiterten Möglichkeiten einer globalisierten Repräsentation lokaler armenischer Identitätsarbeit ist auch eine Aufwertung von Lokalität in dem Sinne zu beobachten, dass die Präsentation lokaler Diasporageschichte(n) vor allem in der Zeitschrift Armenika immer mehr an Bedeutung gewinnt (vgl. Kapitel 3.6). Ich fasse nun die zentralen Aspekte zusammen, die sich aus meinem Konzept von Diaspora als Diasporaraum ergeben haben:

7.4

Diaspora als Diasporaraum

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass transnationale Beziehungen und grenzüberschreitende Mobilität für Mitglieder einer Diaspora eine sehr unterschiedliche Rolle spielen können und mit unterschiedlichen Mitteln erhalten und gepflegt werden. Für die armenische Diaspora in Griechenland können – wie Martin Sökefeld und ich auch im Rahmen unseres Vergleichs (2000) diskutiert haben – zwei Modi transnationaler Beziehungen unterschieden werden: Transnationale Beziehungen im Sinne sozialer Beziehungen und im Sinne der Teilhabe bzw. des Zugangs zu einem transnationalen diskursiven Raum. Deutlich wurde, dass für die überwältigende Mehrheit von Armenierinnen und Armeniern in Thessaloniki und Athen in erster Linie transnationale Beziehungen im Sinne einer Teilhabe an einem diskursiven transnationalen Raum bedeutsam sind. Ihre Verortung in einem globalen armenischen transnationalen Raum ist stark beeinflusst durch die Repräsentationspolitiken der Institutio257

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

nen, die mit ihrer Identitäts- und Erinnerungsarbeit diesen Raum dominieren. In Bezug auf konkrete Praktiken von Mobilität und Sesshaftigkeit unterscheiden sie sich jedoch nicht signifikant von Angehörigen der griechischen Residenzgesellschaft. Dies bringt mich zu meinen letzten Punkt, der Bedeutung von Lokalität und Sesshaftigkeit für Identitätsprozesse in der Diaspora. Vor allem Khachig Tölölyan (2000a; 2000b) hat kritisiert, dass die Debatte um Diaspora von einer Dichotomisierung zwischen Menschen in der Diaspora als mobil und Angehörigen des Nationalstaates als sesshaft geprägt ist. Damit hat er auf die entscheidende Bedeutung von Sesshaftigkeit und Lokalität bei Menschen in der Diaspora hingewiesen, die auch in meiner Arbeit sehr deutlich wurde. Diese zentrale Bedeutung von Lokalität für Identitätsprozesse in der Diaspora konnte ich nur durch meine methodische Vorgehensweise einer Multi-Sited-Ethnography herausarbeiten (Kapitel 2). In den einzelnen Kapiteln habe ich immer wieder auf lokalspezifische Unterschiede in der Erinnerungs- und Identitätsarbeit zwischen den beiden Paroikies hingewiesen: In Kapitel 3 ging es um die lokalen Unterschiede in den dominanten Geschichtserzählungen. In Kapitel 4 wurden lokalspezifische Unterschiede der Strukturierung hervorgehoben. Außerdem habe ich Unterschiede der lokalen Identitätspolitiken der Daschnak analysiert, die mit dem Motto „Ideologische Zentralisierung, organisatorische Dezentralisierung“ der Gleichzeitigkeit von lokalen und transnationalen Beziehungen Rechnung trugen. In diesem Zusammenhang wurde auch das spannungsgeladene hierarchisierte Verhältnis beider Paroikies offensichtlich. In Kapitel 5 schließlich sind lokalspezifische Unterschiede in der Umsetzung der global bestimmten politisierten kollektiven Erinnerungsarbeit an den Genozid verdeutlicht worden. Bereits im Zusammenhang mit meiner Diskussion über die Gleichzeitigkeit der Prozesse von Verortung durch gelebte Erfahrung und Imagination ist deutlich geworden, dass Identitätsprozesse in der armenischen Diaspora in entscheidendem Maße von einer Identifikation mit den lokalen Institutionen abhängen. In diesem Zusammenhang habe ich in Kapitel 3 und 4 immer wieder auf die Bedeutung von Sesshaftigkeit und Territorialität hingewiesen. Sesshaftigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Institutionen, die in der armenischen Diaspora Griechenlands eine wichtige identitätsstiftende und identitätsstabilisierende Funktion haben. In der zentralen Bedeutung, die diesen Institutionen zugewiesen wurde, wird gleichzeitig auch ein Bedürfnis nach Territorialisierung deutlich. Im Vergleich zu Nationalstaaten sind die Möglichkeiten territorialer Kontrolle in der Diaspora äußerst beschränkt. Das Beispiel der armenischen Diaspora zeigt jedoch, dass ein Kernelement nationalstaatlicher Ideologie, das von der eindeutigen und kontrollierbaren Verortung kollektiver Identität ausgeht, auch bei Menschen in der Lebenssituation räumlicher Zerstreuung nicht zwangsläufig seine Wirksamkeit verlieren muss. In diesem Sinne kann die armenische Diaspora Griechenland sicherlich nicht als das „paradigmatisch Andere des Nationalstaates“ angesehen werden, denn wie ich im Verlauf dieser Ethnographie immer wieder zeigen konnte, sind dominante Konzepte von 258

ASPEKTE EINER THEORIE ZU DIASPORA

Gemeinschaft und Identität und auch die soziale Praxis kollektiver Identitätsarbeit von nationalistischen und militaristischen Elementen gekennzeichnet. Ohne Zweifel haben theoretische Ansätze wie Stuart Halls Konzept von Diaspora als Metapher für hybride Identitätsprozesse entscheidende und fruchtbare Anstöße für die Konzeptionalisierung von Identität gehabt. Stuart Hall benutzt den Begriff Diaspora im Gegensatz zu William Safran nicht als Synonym für eine spezifische historische Erfahrung, sondern als Metapher, mit der Prozesse der Hybridisierung von Identität umschrieben werden können: „Ich benutze den Begriff hier metaphorisch und nicht im wörtlichen Sinne: Ich verstehe uns nicht als zerstreute Stämme, deren Identität nur im Verhältnis zu einem gelobten Heimatland gesichert werden kann, und die unter allen Umständen, und sei es, dass sie andere Völker ins Meer treiben, in ihre Heimat zurückkehren müssen. Diese Vorstellung entspricht der imperialistischen und hegemonialen Form von ‚Ethnizität‘. Wir kennen das Schicksal des palästinensischen Volkes, das unter einem solchen rückwärtsgewandten Konzept von Diaspora leiden musste, und wir wissen von der Mittäterschaft des Westens (meine Hervorhebung). Das Verständnis der Diaspora-Erfahrung, um das es mir geht, wird nicht von Essenz und Reinheit bestimmt, sondern von der Anerkennung notwendiger Heterogenität und Verschiedenheit; von einem Konzept von ‚Identität‘ das mit und von – nicht trotz – der Differenz lebt, das durch Hybridbildung lebendig ist. Die Identitäten der Diaspora produzieren und reproduzieren sich ständig aufs Neue, durch Transformation und Differenzen.“ (Hall 1994: 41)

Auch ich habe Stuart Halls Ansatz für mein Verständnis von Identität und Diaspora aufgegriffen (Kapitel 1.2). So habe ich in allen Kapiteln auf die Heterogenität und die Differenzen innerhalb der armenischen Diaspora hingewiesen, die in der dominanten kollektiven Identitäts- und Erinnerungsarbeit weg geredet wurden. Gleichzeitig ist jedoch deutlich geworden, dass meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, ebenso wie das palästinensische Volk im obigen Zitat von Stuart Hall, unter einem „rückwärtsgewandten“ essentialisierenden Konzept von Diaspora „litten“, welches auf die Beschwörung der Erinnerung an den Genozid fixiert war. Und auch sie „wussten von der Mittäterschaft des Westens“, der – wie sie immer wieder erbittert betonten – 1915 einen Genozid an der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich nicht verhindert hatte und heute seinen Einfluss nicht geltend macht, um den Nachfolgestaat Türkei zu einer Anerkennung dieses Verbrechens zu zwingen (Kapitel 1.4). Obgleich Hybridisierung von Identität sicherlich eine Alltagserfahrung meiner Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen war, fanden sie bis auf Nootropia (Mentalität) (Kapitel 1.5) kaum Worte und Konzepte, um diese Erfahrung positiv zu artikulieren. Das zeigten auch die Konflikte um Zugehörigkeit von Armeniern aus interethnischen Ehen zur Paroikia (Kapitel 4.2). Nur sehr wenige konnten, wie meine 17jährige Gesprächspartnerin Anusch, die gleichzeitige Identifikation mit Armenisch- und Griechischsein selbstbewusst lachend als erfolgreiches Konzept: „Es gefällt mir, zwei Stücke vom Kuchen zu essen!“. Aber auch Anusch war aktives Mitglieder der Daschnak-Neolaia und „opferte“ sich, ebenso wie die anderen auf, um der Ideologie des Askaba259

TRAUMA, ERINNERUNG UND IDENTITÄT IN DER ARMENISCHEN DIASPORA

banum (Nationsbewahrung) und der Praxis des Opferns gerecht zu werden und die Vorstellung einer Essenz armenischer Identität zu kreieren. Jonathan Friedman (1997) kritisiert meiner Ansicht nach zu Recht, dass Prozesse der Hybridisierung und Kreolisierung in der akademischen Literatur häufig als eine privilegierte Form von Identitätsprozessen und Subjektpositionen bewertet werden. In diesem Zusammenhang steht auch der Bedeutungswandel von Diaspora als erzwungenes Exil zu einem kreativen Gegenmodell, das die Hegemonie des Nationalstaates destabilisiert (Tölölyan 1996). Friedman dagegen sieht Prozesse von Identifikationen als eine Praxis, die an spezifische soziale Kontexte gebunden ist. Der Kontrast zwischen hybriden und essentialisierten Identifikationen sei daher ein Kontrast sozialer Positionen. Keinesfalls dürften Konzepte hybrider Identitäten jedoch als normatives Argument benutzt werden, um essentialisierte Identifikationen Anderer als rückständig zu verurteilen. Vielmehr müsse zwischen der Anerkennung der Existenz hybrider kultureller Diskurse und Praktiken und ihrer positiven Bewertung unterschieden werden, wie auch Floya Anthias betont (2001: 627-629). Nicht zuletzt auch deswegen, weil hybride kulturelle Formen nicht notwendigerweise progressiver und weniger ausschließend als andere sein müssen. Wenn wir Identitätsprozesse von Menschen in der Diaspora beschreiben und analysieren wollen, ist es also weder sinnvoll mit typologisierenden und festschreibenden Konzepten zu arbeiten, noch davon auszugehen, dass Prozesse der Diasporisierung zwangsläufig ausschließlich von Mobilität und Transnationalität gekennzeichnet sind und destabilisierende Effekte auf die Hegemonie des Nationalstaates haben müssen. Ich denke, diese Ethnographie hat gezeigt, dass Diaspora dann zu einem sinnvollen Konzept wird, um Identitätsprozesse in der Diaspora zu untersuchen, wenn wir uns auf eine Analyse der multiplen Beziehungen und Prozesse von Verortung einlassen, durch die der Diasporaraum konstituiert wird. Dabei sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass diese Beziehungen von Machtstrukturen geformt sind. Erst dann wird deutlich, dass Mobilität und Sesshaftigkeit, lokale und transnationale Identifikationen, Prozesse der Hybridisierung und Ethnisierung keine sich ausschließenden Kategorien sind, sondern vielmehr ihr komplexes Zusammenspiel die Gleichzeitigkeit multipler Beziehungen eines Diasporaraums beschreibt. Gerade in dieser Vorgehensweise – der Vorsicht vor festschreibenden oder gar bewertenden Konzepten bei gleichzeitiger Fokussierung auf die ethnographische Beschreibung und Analyse konkreter Praktiken von Erinnerungs- und Identitätsarbeit – liegt auch das Potential ethnologischen Vorgehens, das für eine Untersuchung von kollektiven Traumatisierungen und ihrer intergenerationellen Verarbeitung fruchtbar gemacht werden kann.

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