William Tyndale (1491-1536): Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung 3161503023, 9783161503023, 9783161585876

Der englische Theologe, Bibelübersetzer und Märtyrer William Tyndale gehört zu den großen Unbekannten in der Geschichte

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German Pages 525 [527] Year 2010

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1: Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525
1.1 Die Quellen zur Biographie Tyndales
1.2 Herkunft, Kindheit und Jugend
1.2.1 Das Geburtsjahr Tyndales
1.2.2 Die geographische Herkunft Tyndales
1.2.3 Der familiäre Hintergrund Tyndales
1.2.4 Tyndale als Spross einer Lollardenfamilie?
1.3 Tyndales Studienzeit
1.3.1 Tyndale in Oxford
1.3.2 Tyndale in Cambridge?
1.3.3 Tyndale als „Chantry Priest“
1.4 Little Sodbury
1.4.1 Hauslehrer in Gloucestershire
1.4.2 Die Auseinandersetzung mit dem Klerus und der Plan zur Bibelübersetzung
1.4.3 Begegnung mit Humanismus und Reformation: „talke of learned men, as of Luther and of Erasmus“
1.5 London
1.5.1 Die gescheiterte Bibelübersetzung: „my lord answered me, his house was full“
1.5.2 Tyndales Londoner Kontakte
1.6 Wittenberg
1.6.1 War Tyndale tatsächlich in Wittenberg?
1.6.2 Der Aufenthalt in Wittenberg
Kapitel 2: Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)
2.1 Biographische Hinführung
2.1.1 Die Drucklegung der Übersetzung des Neuen Testaments in Köln und Worms
2.1.2 Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments
Exkurs: Tyndale und Roye
2.2 Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526)
2.2.1 Tyndales Programm als Übersetzer
2.2.2 Tyndales Vorlagen: Zwischen Erasmus und Luther
2.3 Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)
2.3.1 Tyndales Aufnahme von Luther: Das Evangelium als „joyful tidings“
2.3.2 Tyndales Akzentuierung des verurteilenden Gesetzes
2.3.3 Tyndales Akzentuierung von Natur und Gnade
2.3.4 Tyndales heilsgeschichtliche Bündelung
2.4 Die Marginalien zum „Cologne Fragment“ (1525)
2.5 Der Anhang zum „Worms New Testament“: „Epistle to the Reader“ (1526)
2.6 „A Compendious Introduction, Prologue or Preface upon the Epistle of Paul to the Romans“ (1526/1527)
2.6.1 Historischer Hintergrund
2.6.2 Tyndales Aufnahme von Luthers Römerbriefvorrede
2.6.3 Tyndales Akzentuierung: Der Geist als Subjekt von Rechtfertigung und Heiligung
2.6.4 Tyndales Anhang: Die Einleitung zur Übertragung der „Kurtz begreiff und ordenung“ aus Luthers Vaterunserauslegung von 1519
2.7 Theologische Einordnung
2.7.1 Tyndales Abhängigkeit von Luther
2.7.2 Tyndales eigene Schwerpunktsetzung
2.7.2.1 „Evangelium und Gesetz“ statt „Gesetz und Evangelium“
2.7.2.2 „Geisttheologie“ statt „Kreuzestheologie“
2.7.2.3 Rechtfertigung als Heilung
Kapitel 3: Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)
3.1 Biographische Hinführung
3.1.1 Tyndale in Antwerpen
3.1.2 Entstehung und Rezeption von „Mammon“ und „Obedience“
3.2 „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)
3.2.1 Zum Charakter der Schrift
3.2.2 Tyndales Vorlage: Luthers Predigt über Lk 16,1–9 vom 17. August 1522
3.2.3 Aufbau der Schrift
3.2.4 Das Vorwort: „William Tyndale, otherwise called Hitchins, to the Reader“
3.2.5 Der rechtfertigungstheologische Einstieg
3.2.5.1 Erasmisch gesinnte Kleruskritik
3.2.5.2 Rechtfertigung durch Gesetz und Evangelium
3.2.5.3 „Lust to the Law“
3.2.6 Tyndales Aufnahme von Luthers Deutung der guten Werke
3.2.6.1 Rechter und falscher Glaube
3.2.6.2 Glaube und Geist
3.2.6.3 Gute Werke
3.2.6.4 Der Lohn der guten Werke
3.2.7 Tyndales Aufnahme von Luthers Auslegung des Gleichnisses
3.2.8 Tyndales eigene Ausführungen zum Gleichnis: Erwählungs- und gesetzestheologische Akzente
3.2.9 Tyndales Verständnis der guten Werke
3.2.9.1 Fasten, Beten, Almosen
3.2.9.2 Werke aus dem Glauben
3.2.9.3 Torheit der Welt – Weisheit der Schrift
3.3 „The Obedience of a Christian Man“ (1528)
3.3.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift
3.3.2 Das Vorwort: „William Tyndale otherwise called Hychins unto the reader“
3.3.3 Der Prolog: „The Prologue unto the book“
3.3.4 Über die Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten
3.3.4.1 Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten: Die Familie
3.3.4.2 Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten: das weltliche Rechtswesen
3.3.4.3 Von der falschen Macht des Papstes und der Rechtfertigung aus Glauben
3.3.5 Die Pflicht der Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot
3.3.5.1 Die Pflicht der familiären Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot
3.3.5.2 Die Pflicht der staatlichen Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot
3.3.5.3 Auseinandersetzung mit Bischof Fishers Kritik an der Reformation
3.3.5.4 Gegen den Ausschluss von Laien von der Herrschaft
3.3.6 Polemik gegen das Papsttum als Antichrist
3.3.7 Von falscher und richtiger Frömmigkeit
3.3.7.1 Die Missdeutung der Sakramente durch den Antichrist und ihre wahre Bedeutung
3.3.7.2 Elemente wahrer Frömmigkeit: Gebet und Schriftstudium
3.4 Theologische Einordnung
3.4.1 Soteriologische Schwerpunktsetzung
3.4.1.1 Rechtfertigung als Heilung durch den Geist der Liebe
3.4.1.2 Erwählungstheologische Akzente
3.4.1.3 Gesetzestheologische Akzente
3.4.1.4 Sakramentstheologische Aussagen
3.4.1.5 Das theologische Grundaxiom: Der liebende Gott
3.4.2 Schrifttheologische Schwerpunktsetzung
3.4.2.1 Die Schrift als Grundlage der Theologie
3.4.2.2 Die Schrift als Grundlage der Kirche und ihrer Ämter
3.4.3 Ethische Schwerpunktsetzung
3.4.3.1 Aufnahme und Akzentuierung der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers
3.4.3.2 Tyndale als Wegbereiter der „Royal Supremacy“?
3.4.3.3 Tyndale als theologischer Erbe der Lollarden?
Kapitel 4: Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530)
4.1 Biographische Hinführung
4.1.1 Tyndales Übersetzung des Pentateuch und die Situation der Evangelischen in England 1528–1530
4.1.2 Tyndales Reise nach Hamburg 1529
Exkurs: Tyndale und Coverdale
4.1.3 Die Veränderung der religionspolitischen „Großwetterlage“ in England 1529/1530 und Tyndales Rückkehr nach Antwerpen
4.1.4 Die Rezeption der Pentateuchübersetzung
4.2 Die Übersetzung des Pentateuch
4.2.1 Tyndales Hebräischkenntnisse
4.2.2 Tyndales Programm als Übersetzer und seine Vorlagen
4.3 Die Vorreden
4.3.1 „The Preface of Master William Tyndale that he made before the five books of Moses, called Genesis“ (1530)
4.3.2 „Prologues by William Tyndale shewing the use of the scripture, which he wrote before the five books of Moses“ (1530)
4.3.2.1 Genesis als Beispielbuch der Glaubenden
4.3.2.2 Glossar zur Genesis
4.3.3 „A Prologue into the second book of Moses, called Exodus“ (1530)
4.3.3.1 Mose als Pädagoge Gottes
4.3.3.2 Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament
4.3.4 „A Prologue into the third book of Moses called Leviticus“ (1530)
4.3.4.1 Das Einbezogenwerden in Gottes Geschichte: Zur Hermeneutik alttestamentlicher Texte
4.3.4.2 Zeichen und Sakramente
4.3.5 „The Prologue into the fourth book of Moses called Numeri“ (1530)
4.3.5.1 Selbstrechtfertigung als Grundsünde: Israel – Pharisäer – Rom
4.3.5.2 Menschliche Gelübde und Gottes Lohn: „Deserving“ oder „reward“?
4.3.6 „A Prologue into the fifth book of Moses called Deuteronomy“ (1530)
4.4 Das Jonabuch und seine Vorrede
4.4.1 Schrifthermeneutik
4.4.2 Jona als beispielhafter „friend of God“
4.4.2.1 Jona als Zögling göttlicher Pädagogik
4.4.2.2 Das Schicksal Jonas als Beispiel für Gottes Wirken in der Geschichte
4.5 Theologische Einordnung
4.5.1 Schrifthermeneutik
4.5.2 Aufnahme und Fortführung rechtfertigungstheologischer Schwerpunkte: Gottes väterliche Pädagogik
4.5.3 Praedestinatio und Providentia: Gottes Handeln in der Geschichte
4.5.4 Aussagen zum Sakraments- und Amtsverständnis
4.5.5 Zur These W.A. Clebschs von Tyndales „Rediscovery of the Law“
Kapitel 5: Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)
5.1 Biographische Hinführung
5.1.1 „A Call to England“
5.1.2 Zur Scheidungsproblematik Heinrichs VIII
5.1.3 Sir Thomas Mores „Dialogue Concerning Heresies“ (1528)
5.1.4 Die Rezeption von „Prelates“ und „Answer“
5.2 „The Practice of Prelates. Whether the King’s Grace may be separated from his queen because she was his brother’s wife“ (1530)
5.2.1 Zum Charakter der Schrift
5.2.1.1 „Prelates“ als reformatorische Revision der Geschichtsschreibung
5.2.1.2 Tyndales Selbstverständnis als Autor von „Prelates“
5.2.2 Tyndales Vorlagen
5.2.2.1 Tyndales Verwendung von Bartolomeo Platinas Papstgeschichte
5.2.2.2 Tyndales Rückgriff auf die Flugschrift „Vom alten und neüen Gott, glauben, und Lere“ (1521)
5.2.2.3 Tyndales Umgang mit den englischen Chroniken
5.2.3 Aufbau der Schrift
5.2.4 Das Vorwort: „William Tyndale to the Christian Reader“
5.2.5 Die Anfänge der kirchlichen Ämterordnung
5.2.5.1 Biblische Grundlegung: Ämter im Reich Christi
5.2.5.2 Konkretionen: Herrschaftsausübung und Dienste in der Gemeinde
5.2.6 Der Abfall der Papstkirche
5.2.6.1 Geschichtliche Entwicklungen
5.2.6.2 Folgen der Entwicklung der Papstkirche
5.2.7 Gegenwartsanalyse
5.2.7.1 Vorgeschichte: „An example of practice out of our own ch.ronicles“ und „By what craft the pope keepeth the emporer down“
5.2.7.2 „The practice of our time“
5.3. „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)
5.3.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift
5.3.2 Tyndales Vorwort an die Leser
5.3.3 Der Streit um die wahre Kirche
5.3.3.1 „What the church is“ – Tyndales Definition von „Kirche“
5.3.3.2 Wahre Kirche versus Papstkirche
5.3.3.3 Die vermeintlichen Häretiker als Blutzeugen der wahren Kirche
5.3.3.4 Die Amtsträger der wahren Kirche
5.3.4 Der Streit um Schrift und Tradition
5.3.5 Der Streit um Rechtfertigung und freien Willen
5.3.5.1 Der Glaube der Erwählten
5.3.5.2 Zum Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung
5.3.5.3 Die Frage nach dem freien Willen
5.3.6 Der Streit um die praxis pietatis
5.3.6.1 Der rechte Gottesdienst
5.3.6.2 Zur Genese des falschen Gottesdienstes
5.3.6.3 Zur Verehrung der Heiligen
5.4 Theologische Einordnung
5.4.1 Schriftverständnis
5.4.2 Kirchenverständnis und Erwählungsvorstellung
5.4.3 Tyndales Konkretion der Zwei-Regimenten-Lehre
5.4.4 Tyndales Geschichtsverständnis
5.4.5 Praktische Anwendung des Gesetzesverständnisses
5.4.6 Tyndales Glaubensbegriff
Kapitel 6: Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533)
6.1 Biographische Hinführung
6.1.1 „The Silent years“
6.1.2 Der Freund: John Frith
6.1.2.1 Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Frith
6.1.2.2 Friths Martyrium
6.1.2.3 Tyndales Briefe an Frith
6.2 „Pathway into the Holy Scripture“ (1532)
6.2.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift
6.2.2 Der veränderte Anfangsteil: Klarheit und Verständlichkeit der Schrift
6.2.3 Der neue Schlussteil: Gesetz und gute Werke
6.2.3.1 Die Befähigung zum Tun des Gesetzes
6.2.3.2 Tyndales Auslegung der Zehn Gebote
6.2.4 Vergleich „Cologne Fragment“ und „Pathway“
6.3 „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)
6.3.1 Zu Charakter, Aufbau und möglichen Vorlagen der Schrift
6.3.2 Der Prolog: Unterweisung der Getauften
6.3.2.1 Die Berufung durch die Taufe
6.3.2.2 Das Wissen um die Taufe und die Erkenntnis der Schrift
6.3.3 Neue Akzente in der Soteriologie (1 Joh 1–3)
6.3.3.1 Gemeinschaft mit Gott als Ziel der Schriftlektüre
6.3.3.2 Christologische Aussagen
6.3.3.3 Gottes „appointment“ und die Verpflichtung der Glaubenden auf das Gesetz
6.3.3.4 Werke als Früchte des Glaubens und Vergewisserung für die Erwählten
6.3.4 Theologie der Liebe (1 Joh 4 und 5)
6.4 „An Exposition upon the V. VI. VII. Chapters of Matthew“ (ca. 1532/1533)
6.4.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift
6.4.2 Tyndales Vorlage: Luthers Wochenpredigten über Mt 5–7 von 1532
6.4.3 Gottes Bund mit den Glaubenden
6.4.3.1 Titel und Prolog: Entfaltung des Bundesgedankens
6.4.3.2 Die Grundlagen der Bundesbeziehung: Das Vaterunser als Bundesgebet
6.4.4 Die Ethik des Bundes
6.4.4.1 Das „Bundesbuch“: Die Seligpreisungen als Grundlagen der Ethik
6.4.4.2 Das Gesetz innerhalb der Bundesbeziehung und die Rolle der Werke
6.4.4.3 Materiale Ethik: Vom Töten und Ehebrechen
6.4.4.4 Zwei-Regimenten-Lehre
6.5 Theologische Einordnung
6.5.1 Die Bundestheologie als reife Soteriologie Tyndales
6.5.1.1 Zur Herkunft von Tyndales Bundesvorstellung
6.5.1.2 Tyndales Bundestheologie – Intention und Umsetzung
6.5.2 Tyndales Bundesethik
6.5.2.1 Das Gesetz der Liebe
6.5.2.2 Die Wiederaufnahme der Zwei-Regimenten-Lehre
Exkurs: Tyndale als theologischer Ahnherr des Puritanismus?
Kapitel 7: „Lord, open the king of England’s eyes“ – Letzte, nachgelassene Werke und Martyrium (1534–1536)
7.1 Biographische Hinführung
7.1.1 Tyndales Leben im „English House“
7.1.2 Die Auseinandersetzung mit George Joye
7.1.2.1 Der Hintergrund des Konflikts
7.1.2.2 Tyndales Vorwort und Joyes Reaktion
7.2 Die Revision der Übersetzung des Neuen Testaments 1534 und 1535
7.2.1 Die Ausgabe des Neuen Testaments von 1534
7.2.2 Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments und die Ausgabe von 1535
7.3 Tyndales Vorwort: „W.T. unto the Reader“ (1534)
7.3.1 Zur Notwendigkeit eines Vorworts
7.3.2 Der Bund als Schlüssel zur Schrift
7.4 Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen
7.4.1 Luthers Vorreden zum Neuen Testament von 1522 als Vorlagen Tyndales
7.4.2 Tyndales Übersetzungen von Luthers Vorreden
7.4.3 Tyndales Ergänzungen zu Luthers Vorreden
7.4.3.1 Die Vorreden zum Römerbrief und zum Galaterbrief
7.4.3.2 Die Vorreden zum 1. und 2. Petrusbrief
7.4.4 Tyndales eigene Vorreden
7.4.4.1 Die Vorreden zu den Evangelien und zum 1. Korintherbrief: Exegetische Informationen
7.4.4.2 Die Vorrede zum Hebräerbrief
7.4.4.3 Die Vorrede zum Jakobusbrief
7.4.4.4 Marginalien zum Neuen Testament von 1534
Exkurs: Die Veränderungen in der zweiten Auflage des Pentatauch von 1534: Genesis als „Bundesbuch“
7.5 „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548)
7.5.1 Zu Entstehung und Aufbau der Schrift
7.5.2 Die Sakramente als Gottes Bundeszeichen
7.5.2.1 Die Bundeszeichen
7.5.2.2 Die Taufe als Eintritt in die Bundesbeziehung
7.5.2.3 Das Abendmahl als Zeichen für die Begründung der Bundesbeziehung im Opfer Christi
7.5.2.4 Tyndales Sakramentsverständnis
7.5.3 Tyndales Auslegung der Einsetzungsworte
7.5.4 Der Streit um die Präsenz Christi im Abendmahl
7.5.4.1 Die drei Parteien im Abendmahlsstreit
7.5.4.2 Geistliche oder leibliche Präsenz Christi?
7.5.4.3 Der Stellenwert der Abendmahlsdiskussion: Tyndales „Doctrine of Tolerance“
7.6 „The Testament of William Tracy Expounded“ (1535)
7.6.1 Zur Entstehung der Schrift
7.6.2 Tyndales Kommentar zu Tracys Testament
7.7 Theologische Einordnung
7.7.1 Die Grenzen der Bundestheologie Tyndales
7.7.2 Tyndales späte Sakramentstheologie
7.8 Tyndales Ende
7.8.1 Verrat und Gefangennahme
7.8.2 Vergebliche Bemühungen um Tyndales Freilassung
7.8.3 Tyndales Prozess und die Auseinandersetzung mit Jakobus Latomus
7.8.4 Tyndales Martyrium
7.9 Epilog: Tyndales Wirkung
Fazit: Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung – Tyndales theologisches Profil
Anhang
Literaturverzeichnis
Register
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William Tyndale (1491-1536): Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung
 3161503023, 9783161503023, 9783161585876

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I

Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Heinz Schilling (Berlin)

50

II

III

Arne Dembek

William Tyndale (1491–1536)

Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung

Mohr Siebeck

IV Arne Dembek, geboren 1975; Studium der Ev. Theologie in Wuppertal, Heidelberg und Edinburgh (GB); 2001–2004 Vikariat in Sankt Augustin; 2004–2008 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel und Pfarrer zur Anstellung in Wuppertal; 2009 Promotion und Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland; seit 2010 Pfarrer der Ev. Kirche der Pfalz.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-16-150302-3 / eISBN 978-3-16-158587-6 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2804 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg / N. aus der Bembo-Antiqua gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

V

In memoriam Monika Dembek (1949 –2002)

VI

VII

Vorwort Hinter den ehrwürdigen Mauern des New College der Universität von Edinburgh begegnete mir William Tyndale zum ersten Mal. Das Seminar von Prof. Dr. Jane Dawson zum Thema „British Reformations“ öffnete dem aus dem Mutterland der Reformation stammenden Studenten die Augen dafür, dass das reformatorische Gedankengut an den Grenzen der deutschen Lande nicht stehengeblieben war, sondern in einem Mann wie Tyndale weit darüber hinaus Wirkungen gezeitigt hat. Aus der Seminararbeit zu Tyndales „Wicked Mammon“ wuchs im Laufe meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent in Wuppertal die vorliegende Arbeit zu Tyndales Leben und seinem theologischen Werk, die im Sommersemester 2009 als Dissertation an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel angenommen wurde. Ermutigt und wegweisend begleitet wurde ich während der gesamten Zeit von meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hellmut Zschoch, der als theologischer Lehrer und Freund meine Freude an allem Englischen geteilt und mir mit Rat und Hilfe zur Seite gestanden hat. Ihm danke ich dafür von Herzen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. em. Dr. Manfred Schulze für die Erstellung des Zweitgutachtens, das insbesondere durch seine kritischen Anmerkungen hilfreich war. Herrn Prof. Dr. Martin Ohst danke ich für die Ermutigung zur Beschäftigung mit den „verrückten Engländern“ und hilfreiche Gespräche zu Tyndale und zur englischen Reformation. Für die Aufnahme in die Reihe SMHR bin ich den Herausgebern dankbar, namentlich Herrn Prof. Dr. Berndt Hamm und Herrn Prof. Dr. Volker Leppin. Beiden verdanke ich außerdem hilfreiche Hinweise für die Druckbearbeitung. Herrn Dr. Ziebritzki und dem Verlag Mohr Siebeck danke ich für die sorgfältige Betreuung des Buches, das dank eines Druckkostenzuschusses der VG Wort ermöglicht wurde. Dem Team der Hochschul- und Landeskirchenbibliothek Wuppertal gilt mein Dank für die unermüdliche Hilfe bei der Literaturrecherche, insbesondere bei den vielen Fernleihen aus dem englischsprachigen Bereich. Für das Lesen der Korrekturen danke ich den Freunden Ulrike Verwold und Dr. Volker Haarmann, der die Entstehung der Arbeit außerdem mit stetiger Ermutigung und Hilfe von Anfang an begleitet hat. Meinem Schwie-

VIII

Vorwort

gervater, Herrn Heinfried Ochel, bin ich sehr dankbar für die sorgfältige Durchsicht der Korrekturfahnen mit geübtem Lehrerblick. Last not least danke ich meiner Frau, Mirjam Dembek. Nicht nur für die Unterstützung beim Korrekturlesen, für viele hilfreiche Hinweise und Formulierungsvorschläge, sondern vor allem dafür, dass sie sich durch das ständige „Abtauchen“ ihres Gemahls in den tiefen „Brunnen der Vergangenheit“, durch seinen hohen Redebedarf in Sachen Tyndale, durch seine Frustrationen über Gliederungsfragen und Seitenumbrüche u.v.m. in ihrer Liebe zu ihm nicht hat entmutigen lassen. Ich widme dieses Buch dem Andenken an meine Mutter, die seine Entstehung nicht mehr erlebt hat, sich aber sicherlich sehr darüber gefreut hätte und es, da wo sie nun ist, gewiss auch tut. Ludwigshafen, im April 2010

Arne Dembek

IX

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   VII Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     1

Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   14 1.1 Die Quellen zur Biographie Tyndales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   14 1.2 Herkunft, Kindheit und Jugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   16



1.2.1 Das Geburtsjahr Tyndales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die geographische Herkunft Tyndales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Der familiäre Hintergrund Tyndales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Tyndale als Spross einer Lollardenfamilie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Tyndales Studienzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Tyndale in Oxford . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Tyndale in Cambridge?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Tyndale als „Chantry Priest“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Little Sodbury. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Hauslehrer in Gloucestershire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die Auseinandersetzung mit dem Klerus und der Plan zur Bibelübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Begegnung mit Humanismus und Reformation: „talke of learned men, as of Luther and of Erasmus“. . . . . . . . . . . . . . . 1.5 London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Die gescheiterte Bibelübersetzung: „my lord answered me, his house was full“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Tyndales Londoner Kontakte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 War Tyndale tatsächlich in Wittenberg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Der Aufenthalt in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   54 2.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Drucklegung der Übersetzung des Neuen Testaments in Köln und Worms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments. . . . . . . . . . . .     Exkurs: Tyndale und Roye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526) . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Tyndales Programm als Übersetzer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Tyndales Vorlagen: Zwischen Erasmus und Luther. . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525) . . . . . . . . 2.3.1 Tyndales Aufnahme von Luther: Das Evan­ge­lium als „joyful tidings“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Tyndales Akzentuierung des verurteilenden Gesetzes . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Tyndales Akzentuierung von Natur und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Tyndales heilsgeschichtliche Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Marginalien zum „Cologne Fragment“ (1525) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.6.1 Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Tyndales Aufnahme von Luthers Römerbriefvorrede . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Tyndales Akzentuierung: Der Geist als Subjekt von Rechtfertigung und Heiligung . . . . . . . . . . 2.6.4 Tyndales Anhang: Die Einleitung zur Übertragung der „Kurtz begreiff und ordenung“ aus Luthers Vaterunser auslegung von 1519 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Tyndales Abhängigkeit von Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2 Tyndales eigene Schwerpunktsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2.1  „Evan­ge­lium und Gesetz“ statt „Gesetz und        Evan­ge­lium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2.2  „Geisttheologie“ statt „Kreuzestheologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2.3  Rechtfertigung als Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  83   84

  54   57   61   62   62   66   68   69   71   74   77   79

2.5 Der Anhang zum „Worms New Testament“: „Epistle to the Reader“ (1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   81 2.6 „A Compendious Introduction, Prologue or Preface upon the Epistle of Paul to the Romans“ (1526/1527) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   83

  85   87   88   88   90   90   91   93

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    94 3.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Tyndale in Antwerpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Entstehung und Rezeption von „Mammon“ und „Obedience“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Zum Charakter der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Tyndales Vorlage: Luthers Predigt über Lk 16,1–9 vom 17. August 1522 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Das Vorwort: „William Tyndale, otherwise called Hitchins, to the Reader“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Der rechtfertigungstheologische Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.1  Erasmisch gesinnte Kleruskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.2  Rechtfertigung durch Gesetz und Evan­ge­lium . . . . . . . . . . . 3.2.5.3  „Lust to the Law“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Tyndales Aufnahme von Luthers Deutung der guten Werke . . . . . . . 3.2.6.1  Rechter und falscher Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2  Glaube und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.3  Gute Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.4  Der Lohn der guten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Tyndales Aufnahme von Luthers Auslegung des Gleichnisses . . . . . . 3.2.8 Tyndales eigene Ausführungen zum Gleichnis: Erwählungs- und gesetzestheologische Akzente . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9 Tyndales Verständnis der guten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.1  Fasten, Beten, Almosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.2  Werke aus dem Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9.3  Torheit der Welt – Weisheit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 „The Obedience of a Christian Man“ (1528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Das Vorwort: „William Tyndale otherwise called Hychins unto the reader“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Prolog: „The Prologue unto the book“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Über die Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten . . . . . . . 3.3.4.1  Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber         ihren Obrigkeiten: Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2  Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber        ihren Obrigkeiten: das weltliche Rechtswesen . . . . . . . . . . . 3.3.4.3  Von der falschen Macht des Papstes und der         Rechtfertigung aus Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Die Pflicht der Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.1 Die Pflicht der familiären Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

   94    94    99   102   102   103   106   108   109   109   111   112   112   112   113   114   116   117   118   120   120   121   122   123   123   126   129   130   132   134   137   140   140

XII

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3.3.5.2 Die Pflicht der staatlichen Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.3 Auseinandersetzung mit Bischof Fishers Kritik an der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.4 Gegen den Ausschluss von Laien von der Herrschaft . . . . . . 3.3.6 Polemik gegen das Papsttum als Antichrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7 Von falscher und richtiger Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.1 Die Missdeutung der Sakramente durch den Antichrist und ihre wahre Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.2 Elemente wahrer Frömmigkeit: Gebet und Schriftstudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Soteriologische Schwerpunktsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Rechtfertigung als Heilung durch den Geist der Liebe . . . . . 3.4.1.2 Erwählungstheologische Akzente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.3 Gesetzestheologische Akzente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.4 Sakramentstheologische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.5 Das theologische Grundaxiom: Der liebende Gott . . . . . . . . 3.4.2 Schrifttheologische Schwerpunktsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Die Schrift als Grundlage der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Die Schrift als Grundlage der Kirche und ihrer Ämter . . . . . 3.4.3 Ethische Schwerpunktsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1 Aufnahme und Akzentuierung der Zwei-Regimenten Lehre Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Tyndale als Wegbereiter der „Royal Supremacy“? . . . . . . . . 3.4.3.3 Tyndale als theologischer Erbe der Lollarden? . . . . . . . . . . . .

  141   142   146   147   150   151   160   162   162   162   166   167   169   170   172   172   174   176   176   179   180

Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . .   182 4.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   182

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4

Tyndales Übersetzung des Pentateuch und die Situation der Evangelischen in England 1528–1530 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   182 Tyndales Reise nach Hamburg 1529 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   185 Exkurs: Tyndale und Coverdale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   187 Die Veränderung der religionspolitischen „Großwetterlage“ in England 1529/1530 und Tyndales Rückkehr nach Antwerpen . . .   188 Die Rezeption der Pentateuchübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   190 4.2 Die Übersetzung des Pentateuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   191 4.2.1 Tyndales Hebräischkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   191 4.2.2 Tyndales Programm als Übersetzer und seine Vorlagen . . . . . . . . . . .   192 4.3 Die Vorreden   195 4.3.1 „The Preface of Master William Tyndale that he made before the five books of Moses, called Genesis“ (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . .   195

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4.3.2 „Prologues by William Tyndale shewing the use of the scripture, which he wrote before the five books of Moses“ (1530) . . . . . . . . . . . 4.3.2.1  Genesis als Beispielbuch der Glaubenden . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2  Glossar zur Genesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 „A Prologue into the second book of Moses, called Exodus“ (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1  Mose als Pädagoge Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2  Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament . . . . . . . . 4.3.4 „A Prologue into the third book of Moses called Leviticus“ (1530) . . 4.3.4.1 Das Einbezogenwerden in Gottes Geschichte: Zur Hermeneutik alttestamentlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.2 Zeichen und Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 „The Prologue into the fourth book of Moses called Numeri“ (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5.1 Selbstrechtfertigung als Grundsünde: Israel – Pharisäer – Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5.2 Menschliche Gelübde und Gottes Lohn: „Deserving“ oder „reward“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 „A Prologue into the fifth book of Moses called Deuteronomy“ (1530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das Jonabuch und seine Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Schrifthermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Jona als beispielhafter „friend of God“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.1 Jona als Zögling göttlicher Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.2 Das Schicksal Jonas als Beispiel für Gottes Wirken in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Schrifthermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Aufnahme und Fortführung rechtfertigungs theologischer Schwerpunkte: Gottes väterliche Pädagogik . . . . . . . . 4.5.3 Praedestinatio und Providentia: Gottes Handeln in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Aussagen zum Sakraments- und Amtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Zur These W.A. Clebschs von Tyndales „Rediscovery of the Law“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII   198   198   200   202   202   204   206   206   209   212   212   214   218   220   222   224   224   227   230   230   232   234   235   236

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   239 5.1

Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 „A Call to England“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Zur Scheidungsproblematik Heinrichs VIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Sir Thomas Mores „Dialogue Concerning Heresies“ (1528) . . . . . . . . 5.1.4 Die Rezeption von „Prelates“ und „Answer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  239   239   246   249   253

XIV

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5.2 „The Practice of Prelates. Whether the King’s Grace may be separated from his queen because she was his brother’s wife“ (1530) . . . . . . . . . . . . . . .   255 5.2.1 Zum Charakter der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1 „Prelates“ als reformatorische Revision der Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.2 Tyndales Selbstverständnis als Autor von „Prelates“ . . . . . . . 5.2.2 Tyndales Vorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Tyndales Verwendung von Bartolomeo Platinas Papstgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 Tyndales Rückgriff auf die Flugschrift „Vom alten und neüen Gott, glauben, und Lere“ (1521) . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3 Tyndales Umgang mit den englischen Chroniken . . . . . . . . . 5.2.3 Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Das Vorwort: „William Tyndale to the Christian Reader“ . . . . . . . . 5.2.5 Die Anfänge der kirchlichen Ämterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5.1 Biblische Grundlegung: Ämter im Reich Christi . . . . . . . . . 5.2.5.2 Konkretionen: Herrschaftsausübung und Dienste in der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Der Abfall der Papstkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6.1 Geschichtliche Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6.2 Folgen der Entwicklung der Papstkirche . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Gegenwartsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.1 Vorgeschichte: „An example of practice out of our own ch.ronicles“ und „By what craft the pope keepeth the emporer down“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.2 „The practice of our time“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531) . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Tyndales Vorwort an die Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Der Streit um die wahre Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 „What the church is“ – Tyndales Definition von „Kirche“ . . 5.3.3.2 Wahre Kirche versus Papstkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.3 Die vermeintlichen Häretiker als Blutzeugen der wahren Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.4 Die Amtsträger der wahren Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Der Streit um Schrift und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Der Streit um Rechtfertigung und freien Willen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5.1 Der Glaube der Erwählten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5.2 Zum Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung . . . . . 5.3.5.3 Die Frage nach dem freien Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6 Der Streit um die praxis pietatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6.1 Der rechte Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6.2 Zur Genese des falschen Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6.3 Zur Verehrung der Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Schriftverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Kirchenverständnis und Erwählungsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . .

  255

  255   257   258   258   259   261   263   264   267   267   268   269   269   274   276   276   279   289   289   293   294   294   299   301   302   305   309   309   312   314   319   319   321   322   325   325   328

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5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6

Tyndales Konkretion der Zwei-Regimenten-Lehre . . . . . . . . . . . . . . Tyndales Geschichtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Anwendung des Gesetzesverständnisses . . . . . . . . . . . . . . Tyndales Glaubensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV   329   330   331   333

Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   335 6.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   335

6.1.1 6.1.2

„The Silent years“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Freund: John Frith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.1 Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Frith . . . . . . . . . . . 6.1.2.2 Friths Martyrium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.3 Tyndales Briefe an Frith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 „Pathway into the Holy Scripture“ (1532) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Der veränderte Anfangsteil: Klarheit und Verständlichkeit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Der neue Schlussteil: Gesetz und gute Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.1 Die Befähigung zum Tun des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2 Tyndales Auslegung der Zehn Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Vergleich „Cologne Fragment“ und „Pathway“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Zu Charakter, Aufbau und möglichen Vorlagen der Schrift . . . . . . . 6.3.2 Der Prolog: Unterweisung der Getauften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.1 Die Berufung durch die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Das Wissen um die Taufe und die Erkenntnis der Schrift . . . 6.3.3 Neue Akzente in der Soteriologie (1 Joh 1–3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.1 Gemeinschaft mit Gott als Ziel der Schriftlektüre . . . . . . . . 6.3.3.2 Christologische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.3 Gottes „appointment“ und die Verpflichtung der Glaubenden auf das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.4 Werke als Früchte des Glaubens und Vergewisserung für die Erwählten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Theologie der Liebe (1 Joh 4 und 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  335   339   339   342   345   348   348   349   352   352   353   354   356   356   358   358   359   361   361   363   364   365   367

6.4 „An Exposition upon the V. VI. VII. Chapters of Matthew“ (ca. 1532/1533) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   369

6.4.1 Zu Charakter und Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   369 6.4.2 Tyndales Vorlage: Luthers Wochenpredigten über Mt 5–7 von 1532 .  370 6.4.3 Gottes Bund mit den Glaubenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   373 6.4.3.1  Titel und Prolog: Entfaltung des Bundesgedankens . . . . . . .   373 6.4.3.2  Die Grundlagen der Bundesbeziehung:         Das Vaterunser als Bundesgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   378 6.4.4 Die Ethik des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   381 6.4.4.1  Das „Bundesbuch“: Die Seligpreisungen als Grundlagen        der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   381

XVI

Inhaltsverzeichnis

6.4.4.2  Das Gesetz innerhalb der Bundesbeziehung und die        Rolle der Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4.3  Materiale Ethik: Vom Töten und Ehebrechen . . . . . . . . . . . . 6.4.4.4  Zwei-Regimenten-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Die Bundestheologie als reife Soteriologie Tyndales . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1.1  Zur Herkunft von Tyndales Bundesvorstellung . . . . . . . . . . 6.5.1.2  Tyndales Bundestheologie – Intention und Umsetzung . . . . 6.5.2 Tyndales Bundesethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.1  Das Gesetz der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.2  Die Wiederaufnahme der Zwei-Regimenten-Lehre . . . . . . .        Exkurs: Tyndale als theologischer Ahnherr des         Puritanismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  385   388   390   396   396   396   399   402   402   403   404

Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“ – Letzte, nachgelassene Werke und Martyrium (1534–1536) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   407 7.1 Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   407

7.1.1 7.1.2

Tyndales Leben im „English House“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auseinandersetzung mit George Joye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.1  Der Hintergrund des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.2  Tyndales Vorwort und Joyes Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Revision der Übersetzung des Neuen Testaments 1534 und 1535 . . . . . 7.2.1 Die Ausgabe des Neuen Testaments von 1534 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments und die Ausgabe von 1535 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Tyndales Vorwort: „W.T. unto the Reader“ (1534) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Zur Notwendigkeit eines Vorworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Der Bund als Schlüssel zur Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Luthers Vorreden zum Neuen Testament von 1522 als Vorlagen Tyndales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Tyndales Übersetzungen von Luthers Vorreden . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Tyndales Ergänzungen zu Luthers Vorreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3.1  Die Vorreden zum Römerbrief und zum Galaterbrief . . . . . . 7.4.3.2  Die Vorreden zum 1. und 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Tyndales eigene Vorreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4.1  Die Vorreden zu den Evangelien und zum        1. Korintherbrief: Exegetische Informationen . . . . . . . . . . . . 7.4.4.2  Die Vorrede zum Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4.3  Die Vorrede zum Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4.4  Marginalien zum Neuen Testament von 1534 . . . . . . . . . . . .        Exkurs: Die Veränderungen in der zweiten Auflage        des Pentatauch von 1534: Genesis als „Bundesbuch“ . . . . . . .

  407   409   409   412   415   415

  416   418   418   419   421   421   422   423   423   426   428   428   429   431   432   433

Inhaltsverzeichnis

XVII

7.5 „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   435

7.5.1 Zu Entstehung und Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Die Sakramente als Gottes Bundeszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2.1  Die Bundeszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2.2  Die Taufe als Eintritt in die Bundesbeziehung . . . . . . . . . . . . 7.5.2.3  Das Abendmahl als Zeichen für die Begründung         der Bundesbeziehung im Opfer Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2.4  Tyndales Sakramentsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Tyndales Auslegung der Einsetzungsworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Der Streit um die Präsenz Christi im Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4.1  Die drei Parteien im Abendmahlsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4.2  Geistliche oder leibliche Präsenz Christi? . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4.3  Der Stellenwert der Abendmahlsdiskussion:        Tyndales „Doctrine of Tolerance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 „The Testament of William Tracy Expounded“ (1535) . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Zur Entstehung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Tyndales Kommentar zu Tracys Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Theologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 Die Grenzen der Bundestheologie Tyndales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 Tyndales späte Sakramentstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Tyndales Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Verrat und Gefangennahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.2 Vergebliche Bemühungen um Tyndales Freilassung . . . . . . . . . . . . . . 7.8.3 Tyndales Prozess und die Auseinandersetzung mit Jakobus Latomus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.4 Tyndales Martyrium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.9 Epilog: Tyndales Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  435   436   436   439   441   442   444   446   446   447

  450   452   452   455   459   459   460   462   462   466   468   470   472

Fazit:  Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung – Tyndales theologisches Profil . . . . . . . . . . . . . . . . .   477 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   481 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   483 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   501

XVIII

1

Einleitung Die Geschichte der Christenheit im 16. Jahrhundert ist reich an bedeutenden Gestalten, die das Gesicht der christlichen Religion nachhaltig verändert und geprägt haben. Sie ragen heraus aus der Menge ihrer Zeitgenossen, sie faszi­ nieren als Menschen, Theologen und Gestalter immer noch oder immer wie­ der und laden ein, sich mit ihnen zu beschäftigen. Zwar ist neben diesen Fo­ kus auf die „Großen“ in der kirchenhistorischen Forschung der letzten Jahr­ zehnte zu Recht größeres Interesse und mehr Wertschätzung für die weniger deutlich sichtbaren Männer und Frauen getreten und damit ein Verständnis, das „Reformation“ nicht als Werk einzelner Glaubensheroen begreift, son­ dern als Bewegung, die auf vielen Schultern ruhte. Die Bedeutung und Faszi­ nation der Einzelgestalten bleibt jedoch davon unberührt. Sie in ihren Kon­ texten und jeweiligen Frontstellungen darzustellen, ist eine Aufgabe der kir­ chengeschichtlichen Forschung.1 William Tyndale (1491–1536) gehört zu jenen, die herausragen. Diese Fest­ stellung klingt zunächst verwunderlich, ist doch der Engländer (wie wahr­ scheinlich bezeichnenderweise keiner seiner Landsleute) als Protagonist der Reformation nicht im allgemeinen kirchengeschichtlichen Bewusstsein ge­ genwärtig. Der Grund dafür ist wohl, dass bei aller Ausdifferenzierung der reformationsgeschichtlichen Forschung der Blick über die Grenzen des eige­ nen nationalen, konfessionellen und sprachlichen Horizonts hinaus auch heute noch schwer fällt. Die Reformation in England wird – wenn man sie denn überhaupt als solche gelten lässt2 – im deutschsprachigen Kontext oft­ mals noch immer als historisches Kuriosum am Rande, ohne tiefergehende theologische Implikationen gesehen. Dies ist jedoch eine Verengung der Per­ 1  Vgl. Zschoch, Departed Shades, S. 24: „Damit hält sie [d.i. die kirchengeschichtliche Disziplin] fest, daß einerseits die Ursprünge des Christentums, beispielsweise ,das Evan­ge­ lium‘, nicht einfach feststehende Sachgrößen sind, sondern der stets neuen Auslegung und Aneignung im Zusammenhang konkreter Lebens- und Denkumstände bedürfen, daß an­ dererseits auch diese Kontexte der jeweiligen Gegenwart keine objektiven Fakten sind, sondern ihre Eigenart gerade in der Begegnung – oder der Konfrontation – mit dem An­ spruch des Christlichen gewinnen“. 2  Seebass, S. 219–223, vermeidet beispielsweise die Bezeichnung „Reformation“ und spricht statt dessen von der „Lösung der englischen Kirche von Rom“ (S. 219). Hau­ schild, S. 221, spricht mit Blick auf die 1520er Jahre von einer „etwas diffuse[n] evan­ gelische[n] Bewegung“.

2

Einleitung

spektive, die der Bedeutung der englischen Kirchengeschichte des 16. Jahr­ hunderts, auch mit Blick auf die weitere historische Entwicklung im angel­ sächsischen Sprachraum bis heute, nicht gerecht wird und die Sicht versperrt auf die Reformation als ein europäisches Phänomen mit weltweiter Wirkung, das sie zweifelsohne war.3 Die Beschäftigung mit Person und Werk William Tyndales bietet die Mög­ lichkeit, der Reformation als europäischem Ereignis auf die Spur zu kommen. Tyndale war der maßgebliche Kopf der evangelischen4 Bewegung im Eng­ land der zwanziger und frühen dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts. Seine Bi­ belübersetzung prägte die englische Sprache ähnlich nachhaltig wie Luthers Übertragung die deutsche, und seine aus der Beschäftigung mit dem Wort Gottes entstandenen theologischen Schriften waren die ersten und wichtigs­ ten englischsprachigen Dokumente reformatorischer Theologie. Tyndales Le­ ben lässt sich darum verstehen als „Leben mit der Heiligen Schrift“.5 Auch wenn seine Wirkung als Theologe aufgrund seines frühen Märtyrertodes und der Diskontinuität und Eigentümlichkeit der kirchlichen Reform und Refor­ mation in England begrenzt blieb, so ist doch ohne ihn die Entstehung des evangelischen Glaubens auf den britischen Inseln nicht denkbar. Anders als die Reformatoren auf dem Kontinent konnte sich Tyndale nicht aktiv in die Umgestaltung eines Kirchwesens einbringen. Von seinem Exil in den Niederlanden aus vermochte er lediglich durch sein Schrifttum auf die Entwicklungen in England Einfluss zu nehmen. Tyndale war gewissermaßen ein „Schreibtisch-Reformator“, der unter Zuhilfenahme der Schriften ande­ 3  Deutschsprachige Darstellungen der Reformation gehen zwar zurecht vom Aus­ gangsland der (lutherischen) Reformation aus, sie bleiben aber oft unnötig bei diesem Fo­ kus und nehmen die Entwicklung im Rest Europas als peripher wahr (bei Moeller nimmt die Darstellung der Entwicklung in England z.B. nur eine Seite ein; bei Zur Mühlen etwas mehr als drei Seiten). Englischsprachige Untersuchungen weisen eine größere europäische Weite auf, wie z.B. jüngst MacCullochs umfassende Studie (Mac­ Culloch, Reformation; auch in dt. Übersetzung vorliegend: Die Reformation 1490–1700, München 2008; vgl. dazu die kritische Würdigung durch Dorothea Wendebourg in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 13.10.2008). 4  Im Folgenden verwende ich für die Anhänger der Reformation in England bewusst die Bezeichnung „evangelisch“/„Evangelische“, um die Verbindung mit den Evangeli­ schen im übrigen Europa aufzuzeigen. Ich bin mir bewusst, dass der Terminus „evange­ lisch“ schon mit Blick auf die mitteleuropäische Reformation eine Vereinheitlichung im­ pliziert, die historisch zu differenzieren wäre (vgl. dazu die Debatte in: Bernd Hamm/ Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995). In der englischsprachigen For­ schung ist die Auseinandersetzung um die Begrifflichkeit noch ausgeprägter (vgl. z.B. MacCulloch, Cranmer, S. 2). Eine Bezeichnung zu finden ist jedoch unumgänglich und m.E. trifft „evangelisch“ am besten die Orientierung am „Evan­ge­lium“, die für die refor­ matorischen Autoren diesseits und jenseits des Ärmelkanals grundlegend war. 5  Greenblatt, S. 107, fasst Tyndales lebenslange Selbstbindung an die Schrift tref­ fend zusammen: „Tyndale’s life is a life lived as a project“ (Kursivierung im Original).

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3

rer reformatorischer Autoren seinen Landsleuten die Wahrheit des Evan­ge­ liums zugänglich machen wollte. Gerade dieser Umstand, dass Tyndale sich mit Schriften und Gedanken zeitgenössischer Theologen befasste und in sei­ nen Werken zu einer eigenen Synthese weiterentwickelte, macht ihn zu ei­ nem interessanten Forschungsobjekt. An seinem Beispiel lässt sich – zumin­ dest ansatzweise – nachvollziehen, welche Wege die neue Lehre von Mittel­ europa auf die britischen Inseln nahm. Der aus zentraleuropäischer Perspektive „Außenstehende“ Tyndale wird so zu einem Zeugen für die Rezeption ihrer theologischen Ansätze und macht die Reformation als europäische Bewe­ gung greifbar.

Forschungsschwerpunkte Mit dem Augenmerk auf Tyndale als Exponenten einer untereinander ver­ netzten reformatorischen Bewegung nimmt diese Arbeit eine Neubewertung seines theologischen Werkes vor, die aus mehreren Gründen geboten er­ scheint. Im deutschsprachigen Raum und vor allem auch aus einer deutschen theologischen und kirchenhistorischen Perspektive liegt noch keine Arbeit zur Theologie Tyndales vor.6 Die wenigen Bezugnahmen auf Tyndale in der deutschsprachigen Fachliteratur beziehen sich zumeist auf englischsprachige Darstellungen der 1960er Jahre, die heute aus verschiedenen Gründen über­ holt sind.7 Die englischsprachige Tyndaleforschung krankt umgekehrt oft daran, dass viele Autoren die Reformationsgeschichte außerhalb der briti­ schen Inseln nur unzureichend kennen und insbesondere von der Theologie Luthers nur stereotype und eindimensionale Vorstellungen haben.8 Schon Tyndales erster Biograph Robert Demaus hatte in seiner Studie von 1871 ge­ warnt: „The admirers of our great English translator have been justly indig­ 6  Mit (einzelnen Elementen) der Theologie Tyndales beschäftigen sich m.W. nur Ho­ leczek, S. 246–278 und Ohst, Tyndale, S. 143–153. Wie wenig über die Theologie der Protagonisten der Reformation in England bekannt ist, zeigt sich z.B. in der wenig präzi­ sen theologischen Einordnung Hauschilds: „Der in der Historiographie verwandte Be­ griff ‚Protestanten‘ passt für die Frühzeit auf solche Reformer, die eine Erneuerung der Kirche mit evangelischen Lehrinhalten forderten und dabei erasmianische Ideen mit Lu­ thers Lehren verbanden (später auch denen Zwinglis, Melanchthons und Bucers). Pro­ testan­tis­mus meint insofern eine spezifisch englische Position, die verschiedene theologi­ sche Konzeptionen umfasste“ (Hauschild, S. 222, Hervorhebung im Original). 7  Ein Tyndale-Artikel in der TRE existiert nicht (Tyndale wird dort nur im Art. Bi­ belübersetzung erwähnt). Die Artikel in RGG4 und EKL schweigen sich zu Tyndales Theologie weitgehend aus. 8  Dies gilt besonders für die 2006 von Ralph S. Werrell vorgelegte Untersuchung zur „Theology of William Tyndale“ (Werrell, Tyndale). Werrell kommt zwar das Verdienst zu, zum ersten Mal eine Gesamtschau der Theologie Tyndales versucht zu haben. Aller­ dings bestehen berechtigte Zweifel, ob dieser Versuch auch tatsächlich gelungen ist.

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nant at the ignorant misrepresentations which have sometimes treated him as a mere echo and parasite of his German contemporary; and in their zeal to maintain their hero’s originality, they have discarded ancient authority, and have denied that the two Reformers ever met. The motive for such a defence may be praiseworthy, but its wisdom is questionable […] this as an attempt to defend his [d.i. Tyndales] originality at the cost of his good sense“9. Zwei grundlegend unterschiedliche Richtungen in der Bewertung von Tyndales Theologie lassen sich in der Forschungslandschaft ausmachen, deren divergierende Urteile vor allem aus der unterschiedlichen Einschätzung sei­ nes Verhältnisses zur Theologie Luthers resultieren.10 Die ältere Forschung, deren Positionen von E.G. Rupp und J.E. McGoldrick auch in neuerer Zeit vertreten wurden, sah in den frühen reformatorischen Autoren Englands ein­ deutige Vertreter eines englischsprachigen Luthertums – „Luther’s English Connection“ heißt darum bezeichnender Weise der Titel der Monographie McGoldricks.11 Mit einem großteils sehr pauschalen Blick auf die theologi­ schen Zusammenhänge verstand man Tyndale als einen mit Luther in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden Vertreter einer Rechtfertigung allein aus Glauben. Seine Kontakte nach Wittenberg wurden – unter größter Strapazierung der historisch nachweisbaren Anhaltspunkte12 – entsprechend schwer gewichtet. Folge dieser Einordnung Tyndales als englischer „Luthera­ ner“ war eine Abnahme des Forschungsinteresses an seiner vermeintlich we­ nig originellen Theologie. Der erste, der sich nach Jahrzehnten forschungsgeschichtlicher Brache aufs Neue der Theologie der frühen Protestanten Englands zuwandte, war Wil­ liam A. Clebsch. Seine Untersuchung zu „England’s Earliest Protestants“13 (1964) hat die Forschung nachhaltig geprägt und beeinflusst die Sichtweise auf Tyndale in Lexikonartikeln und Kurzbiographien bis zum heutigen Tag.14 Clebsch hält die frühen Protagonisten der englischen Reformation für Theologen minderen Ranges, die – mit Ausnahme von Tyndales Bibel­ übersetzung – keine bleibend bedeutenden Werke verfasst haben. In der Be­ wertung ihrer Beeinflussung durch Luther vertritt Clebsch eine dezidiert von 9  Demaus, S. 120 f. Auch eine „Amerikanisierung“ Tyndales, wie sie A. A. Richardson, Bill of Rights, S. 25 f, vornimmt, wenn sie ihn zum geistigen Vorläufer der „Bill of Rights“ macht, fällt unter diese Kritik. 10  Einen Forschungsüberblick bietet Trueman, Legacy, S. 54 ff. Eine differenzierte Einordnung und Bewertung der gegenwärtigen Forschungslandschaft nimmt Collin­ son vor. 11  Vgl. Rupp, S. Patterns, 52–67; Ders., Six Makers, S. 20 f; Ders., Making of, S. 49 ff.75–82; McGoldrick, besonders S. 199 f. 12  S.u. 1.6. 13  Clebsch; vgl. zu Tyndale besonders S. 94–98.137–204.219–228. 14  Vgl. beispielsweise Dingel, S. 214 f.217, oder Ohst, Tyndale, S. 143, Anm. 17.

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der traditionellen Sichtweise abweichende Position.15 Er teilt – auch darin für kommende Forschergenerationen prägend – die Schaffenszeit Tyndales in drei verschiedene Phasen ein und entwirft folgendes Profil:16 War Tyndale in der ersten Phase von 1524–1529 als „Luther’s Protégé“ theologisch noch stark von dem Wittenberger beeinflusst, brachten die Jahre 1530–1532 eine theolo­ gische Neuorientierung, die Clebsch als „Rediscovery of the Law“ beschreibt und die schließlich beim reifen Tyndale zur Entwicklung einer „Theology of Contract“ führte. Unter dem Einfluss lollardischer Traditionen, des Huma­ nismus und der Theologie Luthers sowie später auch der oberdeutschen und schweizerischen Reformation entwickelte Tyndale demnach eine Theologie, die das Christentum neu als System der Belohnung und Bestrafung für mo­ ralisches Handeln verstand. Damit wurde er zum geistigen Wegbereiter der später als „Puritaner“ bekannt gewordenen Richtung in der englischsprachi­ gen Christenheit. Clebschs Arbeit besticht durch ihre Herangehensweise, mit der er versucht, Tyndales theologische Entwicklung anhand seiner Schriften nachzuzeichnen, anstatt – wie im englischsprachigen Raum vielfach üblich17 – durch (künst­ liche) Systematisierung eine „Theologie Tyndales“ zu abstrahieren. Dieser Zu­ gang ermöglicht es, Motive und Entwicklungen aufzuzeigen und ihre Verar­ beitung über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. Clebschs Analyse kann die Beziehungen Tyndales zur „kontinentalen“ Reformation an vielen Stellen aufgrund profunder Kenntnisse aufzeigen, in manchen Punkten bis hin zu direkten literarischen Abhängigkeiten. Seine Einteilung des theologi­ schen Werkes Tyndales in mehrere Phasen ist dabei hilfreich, weil sie ein klares Bild schafft. Man kann jedoch fragen, ob die schroffen Einschnitte, die Clebsch konstatiert, sich tatsächlich halten lassen. Da sich die wichtigsten theologi­ schen Leitmotive von Tyndales frühen Schriften an durchgängig finden las­ sen, ist m.E. anstatt von verschiedenen Phasen eher von einer konti­nuierlichen Weiterentwicklung seiner Theologie auszugehen. Das Problem der Darstellung Clebschs liegt in seiner stark wertenden Per­ spektive, die allzu sehr von seiner Wertschätzung der Theologie Luthers her entwickelt ist. Clebsch vermag die theologischen Überlegungen im englisch­ sprachigen Raum nicht als eigenständige Versuche einer reformatorischen Theologie zu würdigen. Indem er aber Tyndale und andere von vorneherein als Theologen minderer Qualität klassifiziert und ihr Werk allein als Bezug­ nahme auf bzw. Abgrenzung von Luther (und anderen kontinentalen Refor­ matoren) werten kann, verstellt er sich die Sicht auf die Originalität dieser 15  Die theologische Abgrenzung Tyndales von Luther und seine Einordnung als Ahn­ herr des Puritanismus hatte zuvor und in noch schärferer Form schon L.J. Trinterud he­ rausgestellt (vgl. Trinterud, Reappraisal und Ders., Puritanism, S. 39–43). 16  Vgl. zum Folgenden Clebsch, S. 137–204. 17  Vgl. z.B. Knox, Doctrine; McGoldrick; Trueman, Legacy; Werrell, Theology.

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theologischen Entwürfe. Clebschs Beobachtungen zum Verhältnis Tyndales zur Theologie Luthers mögen daher im Einzelnen durchaus ihre Richtigkeit haben. In seiner Gesamtschau jedoch, die Tyndales Theologie als fortschrei­ tenden „Abfall“ von der wahren Lehre des Wittenbergers hin zu einem durch­ weg negativ verstandenen puritanischen Moralismus versteht, werden sie Mittel zum Zweck. Es bleibt darum Aufgabe der Forschung, eine Bewertung der Theologie Tyndales vorzunehmen, die ohne „konfessionelle Brille“ ihre Möglichkeiten und Grenzen aufzeigt. In jüngster Zeit hat Carl R. Trueman eine bemerkenswerte Revision der von Clebsch geprägten Sichtweise auf Tyndale und andere „reformer“ vorge­ legt. In seiner umfangreichen Studie zur Soteriologie fünf reformatorischer Theologen aus England, unter ihnen Tyndale, kommt Trueman zu einer neuen, differenzierten Beurteilung ihrer Bezogenheit auf die Theologie vom Kontinent.18 „Luther’s Legacy“ – so der Titel der Untersuchung – lässt sich demzufolge auch im Werk Tyndales deutlich ablesen. Allerdings nicht in Form einer bloßen Übertragung der Theologie des Deutschen ins Englische, sondern vielmehr in ihrer eigenständigen Rezeption, die in Einzelheiten auch von Luther abweicht und neben ihm auch reformierte Theologen, wie Zwingli und Bucer, zu ihren Impulsgebern zählt. Inhaltlich ist die vorliegende Arbeit Truemans Forschung verpflichtet, zu­ gleich versucht sie jedoch durch einen anderen methodischen Zugang eine noch stärkere Fokussierung auf die Entwicklung von Tyndales Theologie und auf ihre historischen Kontexte zu erreichen. Trueman fasst die theologischen Aussagen der von ihm untersuchten Au­ toren unter gängige dogmatische Loci zusammen und nimmt von daher den Vergleich ihrer Positionen untereinander und mit der Theologie Luthers vor. Diese Systematisierung stellt m.E. eine Schwäche seines Ansatzes dar, denn weder Luther noch Tyndale haben ein stringentes theologisches System er­ 18  Truemans Arbeit unterscheidet sich wohltuend von der Untersuchung Werrells, der eine völlige theologische Unabhängigkeit Tyndales von Luther behauptet – eine Posi­ tion, die sowohl historisch als auch theologisch unhaltbar ist (man bedenke nur die Nut­ zung der Schriften Luthers durch Tyndale und die grundsätzliche Bedeutung der bahn­ brechenden Theologie des Wittenbergers für die Reformation insgesamt). Methodisch versucht Werrell, Tyndales Werk zu systematisieren, indem er in ein feststehendes dog­ matisches Gerüst Zitate einfügt, ohne ihren jeweiligen historischen und theologischen Kontext zu berücksichtigen. Seine Untersuchung gerät dadurch zu einer Kette von Be­ hauptungen und Belegstellen, die wenig Raum lässt für eine differenzierte theologische Analyse. Werrell wird damit weder Tyndale noch den Reformatoren, auf die dieser sich bezieht, gerecht. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist es, Tyndale als einen der größten Theologen der Christenheit – nahezu unabhängig von den Einflüssen anderer – herauszu­ stellen, der aufgrund seiner Trinitätslehre, der „ganzheitlich“ schöpfungsbezogenen An­ lage seiner Soteriologie und seiner Ethik der „Creation Familiy“ als der „moderne“ christ­ liche Denker für die Kirche von England zu gelten hat (vgl. besonders Werrell, Theo­ logy, S. 5 f).

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richten wollen, das sich z.B. im Abstraktum einer „Prädestinationslehre“ fas­ sen ließe.19 Eine nachträgliche Systematisierung ihrer Theologie schafft zwar eine – zum Verständnis hilfreiche – Klarheit, aber sie tut dies eben auch an den Stellen, an denen gar keine Eindeutigkeit vorhanden ist.

Der Ansatz der vorliegenden Untersuchung Indem ich Tyndales theologischen Werdegang anhand seiner Biographie und der Untersuchung seiner Schriften nachzeichne, versuche ich, Truemans de­ duktiver Analyse ein induktives Vorgehen an die Seite zu stellen. Tyndale soll als eigenständiger Theologe in den Blick genommen werden, der zwar in viel­ fältiger Weise auf andere zeitgenössische Autoren Bezug nahm, dabei aber sei­ ner Deutung des Evan­ge­liums für seine Landsleute ein theologisch zwar nicht immer widerspruchsfreies und stringentes, aber doch eindeutiges Profil gab. Auch dieser Ansatz birgt ein methodisches Grundproblem, das wohl nur unvollständig zu lösen ist: Um eine Einordnung der Theologie Tyndales in den Kontext der europäischen Reformation vornehmen zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, sich mögliche theologische Bezugspunkte vor Augen zu führen. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass uns nur in we­ nigen Fällen bekannt ist, welche Schriften anderer Theologen Tyndale zur Verfügung standen.20 Eindeutig nachweisbar ist Tyndales Verwendung einiger Lutherschriften, die ihm in deutscher oder lateinischer Fassung als Vorlage für seine eigenen Ausführungen dienten.21 Dabei unterlässt es Tyndale, – der in anderen Kon­ texten durchaus auf der Beachtung seines eigenen „Copyrights“ bestand22 –

19  Einen wenig beachteten Vorläufer hat Trueman in David B. Knox (Knox, Doctrine, S. 1–34), der bereits 1961 eine kluge, wenn auch z.T. verkürzte Zusammenfassung der Rechtfertigungslehre Tyndales bot. Die Neigung zur künstlichen nachträglichen Syste­ matisierung zeigt sich auch bei Heal, S. 313, die mit Bezug auf die frühen englischen „re­ former“ festhält: „None, except perhaps Frith [d.i. John Frith (1503–1533), s.u. 6.1.2], seem to have been theological systematizers by vocation: they were rather translators, evangelists, and controversialists, and in consequence they often appear in their doctrinal writings primarily as conduits for Continental ideology“. Man ist geneigt zu fragen: War nicht auch Luther weniger systematisierender Theologe, als vielmehr „translator“, „evan­ gelist“ und „controversialist“? 20  Dieser Umstand erklärt wohl auch die Divergenzen in der Bewertung seiner Theo­ logie in der Forschungsgeschichte, vgl. Leininger, S. 58: „One of the reasons for this dis­ parity among Tyndale scholars is that no one has sufficiently untangled the most impor­ tant question: when are we reading Tyndale and when are we reading Luther“. 21  S.u. 2.2–2.3, 2.6, 3.2, 4.4, 6.4.2, 7.4. Zur Verwendung anderer Quellen in „Prela­ tes“ s.u. 5.2.2. 22  Wie etwa in der Auseinandersetzung mit George Joye (s.u. 7.1.2).

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auf die von ihm genutzten Vorlagen zu verweisen.23 An vielen Stellen, die eine inhaltliche Nähe zu Luther aufweisen, lassen sich textliche Anleihen bei diesem aber auch gar nicht konkret nachvollziehen.24 Tyndales sprachliche Fähigkeiten und sein Aufenthalt am Rhein und spä­ ter in Antwerpen, also an zwei großen Handelsrouten, machen es darüber hinaus ohne weiteres denkbar, dass ihm eine Fülle weiterer verschiedenspra­ chiger Schriften von unterschiedlichen Autoren zur Verfügung stand. Auf­ grund der offenkundigen Fälle der Nutzung von Luthers Texten ist daher das gesamte theologische Werk Tyndales gleichsam dem Generalverdacht ausge­ setzt, Anteile und Anregungen aus Schriften anderer Autoren zu enthalten. Neben denen Luthers sind es vor allem die Positionen oberdeutscher Refor­ matoren, namentlich die Martin Bucers, die mit denen Tyndales inhaltliche Übereinstimmungen aufweisen, jedoch ohne dass sich eindeutige textlichen Anleihen Tyndales bei dem Straßburger nachweisen ließen. Mithilfe eines ak­ ribischen Textvergleichs diese „fremden“ Passagen in den Texten Tyndales zu identifizieren wäre das Desiderat für eine (noch zu leistende) große kritische Edition seiner Werke. Doch welche textlichen Vorlagen Tyndale auch immer zur Verfügung ge­ standen haben mögen, er hat es vermocht, die Gedanken anderer harmonisch in seine Schriften zu integrieren und sie damit zu einem Teil seiner eigenen Theologie zu machen. Auch als bloßer „Arrangeur“ der Theologie anderer – als der er notabene nicht zu verstehen ist – läge uns doch in Tyndales Schriften seine ureigenste Theologie vor. Deren Darstellung in ihrer Entwick­ lung und ihren jeweiligen historischen Kontexten ist das Ziel dieser Arbeit. In meiner Analyse fasse ich Tyndales theologische Schriften ihrer Inten­ tion, Gattung und Entstehungszeit entsprechend in sechs Gruppen zusam­ men.25 Seine Bibelübersetzungen werden dabei nur unter Berücksichtigung 23  Tyndales Übertragungen sind ihren Vorlagen zudem nicht streng verhaftet, viel­ mehr gilt für ihn: „Tyndale feels able to weave in and out of Luther, freely adding phrases, sentences or whole paragraphs while translating“ (Daniell, Biography, S. 149). 24  Leininger hat die berechtigte Frage aufgeworfen, „which Luther Tyndale uses“ (Leininger, S. 59, Hervorhebung im Original). Seiner These zufolge bezieht sich Tyn­ dale auf den „jungen“ Luther der Jahre 1518/1519 bis 1528, der selbst noch stark von Au­ gustin geprägt war, im Unterschied zum „späten“ Luther, der – unter dem Einfluss Me­ lanchthons – zu einem forensischen Verständnis der Rechtfertigung gelangt (vgl. a.a.O., S. 59 f). Die von vielen im Gefolge Clebschs wahrgenommene „Abkehr“ Tyndales von Luther um das Jahr 1530 (s.u. 4.5.5) führt Leininger darum auf dessen eigene theologi­ sche Weiterentwicklung nach 1528 zurück. Leiningers schematische Zuordnung theo­ logischer Inhalte auf bestimmte Lebensphasen wird Luther m.E. nicht gerecht (ich stimme Schwarz, Art. Luther, Sp. 573, zu, dass Luthers Theologie „von einer Schwel­ lenzeit an […] als eine im wesentlichen einheitliche Theol. betrachtet“ werden muss). Be­ rechtigt bleibt aber Leiningers Hinweis darauf, stets danach zu fragen, welche Luther­ texte Tyndale kennen konnte. 25  Für die einfachere Lektüre werde ich dabei längere englische und lateinische Zitate

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ihrer theologischen Implikationen kurz thematisiert.26 So nehme ich zunächst die im Umfeld der Übersetzung des Neuen Testaments 1525–1526 entstande­ nen Vorreden in den Blick (Kap. 2), in denen sich Tyndale noch stark an Lu­ thers Vorlagen orientiert. Seine beiden großen, programmatisch zu nennen­ den Schriften des Jahres 1528, „The Parable of the Wicked Mammon“ und „Obedience of a Christian Man“, werden im dritten Kapitel untersucht. Der Analyse der Schriften, die in den Jahren 1530–1533 aus der Beschäftigung mit dem Alten Testament entstanden sind, ist das vierte Kapitel gewidmet, das fünfte beschäftigt sich mit den umfangreichen polemischen Schriften der Jahre 1530–1531. Die hermeneutischen Schriften Tyndales mit einem bun­ destheologischen Akzent aus den Jahren 1531–1533 behandele ich im sechsten Kapitel und die im Kontext der zweiten Ausgabe des Neuen Testaments 1534 entstandenen Vorreden sowie nachgelassene Werke im letzten Kapitel. Diese Einteilung eignet sich m.E. wesentlich besser als eine rein an dogma­ tischen Loci (Trueman) oder an bestimmten Schaffensphasen (Clebsch) orien­ tierte Strukturierung dazu, die Kontinuitäten und Entwicklungen in Tynda­ les theologischem Wirken differenziert darzustellen. Vor den jeweiligen In­ terpretationen der Schriften versuche ich in biographischen Hinführungen Tyndales Lebensweg nachzuzeichnen und so eine Einordnung seiner Werke in ihren jeweiligen historischen Kontext und ihre spezifische Zielrichtung vorzunehmen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Texten Tyndales selbst, die hier erstmals einer deutschsprachigen Leserschaft vorgestellt und vor dem Hintergrund der Theologiegeschichte des 16. Jahrhunderts interpre­ tiert und eingeordnet werden sollen. Am Ende jedes Kapitels fasse ich in einer theologischen Einordnung die anhand der Texte gemachten Beobachtungen noch einmal in systematisierender Form zusammen. In meiner Darstellung versuche ich, Parallelen zwischen Tyndale und an­ deren Autoren aufzuzeigen, wo sie mir augenfällig erscheinen. Solche Motiv­ übereinstimmungen sind nicht ohne weiteres als Belege einer literarischen Abhängigeit zu werten, ihr wiederholtes Auftreten macht jedoch den Rück­ schluss auf eine Rezeption bestimmter theologische Inhalte durch Tyndale zumindest wahrscheinlich. Dieses Vorgehen ist bis zu einem gewissen Grad eklektisch. Es scheint mir jedoch mangels anderer Möglichkeiten der Texter­ schließung alternativlos zu sein. Aus der Vielzahl möglicher Referenzgrößen im Fließtext übersetzen und das Original in den Fußnoten zitieren. Wie bei jeder Überset­ zung geht dabei jedoch ein Stück der Originalität verloren. Deshalb mute ich dem Leser und der Leserin zu, mit „kleineren Portionen“ auch in englischer Sprache umzugehen. 26  Eine Untersuchung der Bibelübersetzung böte genügend Stoff für zahlreiche Stu­ dien. Leider hat sich bis dato noch niemand daran gewagt, Tyndales Übersetzung einem kritischen Vergleich mit den von ihm verwendeten Quellen und Hilfsmitteln, etwa Lu­ thers Übersetzung, zu unterziehen. Lediglich für einzelne biblische Texte liegen Unter­ suchungen vor, die jedoch nur einen begrenzten Einblick in Tyndales Übersetzungsarbeit bieten, z.B. Daniell, Peacocks; Popp, Tyndale und Luther.

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Tyndales konzentriere ich mich – neben Luther – auf Martin Bucer, zum ei­ nen, weil dieser in der Forschung immer wieder als hypothetischer „Kron­ zeuge“ der Theologie Tyndales genannt wird, ohne dass dies anhand der Quellen belegt würde. Zum anderen, weil Bucer m.E. in seiner Entwicklung große Analogien zu Tyndale aufweist: Im gleichen Jahr wie Tyndale geboren und in seinen späten Lebensjahren Zuflucht ausgerechnet in dessen Heimat findend, entwickelt sich auch Bucer vom frühen Anhänger Luthers zum ei­ genständigen Theologen, der sich doch – auch wenn er teil- und zeitweise in­ haltlich von Auffassungen Luthers abwich – stets als Bundesgenosse des Wit­ tenbergers verstand. Wie Tyndale war auch Bucer nicht an den theologischen Unterschieden innerhalb der reformatorischen Bewegung interessiert, son­ dern: „er suchte auch bewußt das Ganze über dem Besonderen, die Einheit über den Gegensätzen“27.

Die vorliegende Untersuchung im Kontext der Forschungen zur englischen Reformation Die Frage der theologischen Einordnung Tyndales berührt auch die Grund­ problematik der historischen und theologiegeschichtlichen Beurteilung der englischen Reformation insgesamt, einmal mit Bezug auf ihr Verhältnis zur Entwicklung der englischen Kirche im späten Mittelalter, zum anderen mit Blick auf ihr Einordnung in den Kontext der Reformation als Ganzer. So stellt sich die Frage, inwieweit die Geschehnisse im 16. Jahrhundert in Verbindung standen mit Lehre und Wirken John Wyclifs (ca. 1330–1384) und seiner Anhänger, den sogenannten „Lollarden“.28 Die Einschätzungen von Charakter, Größe und Wirkung der lollardischen Bewegung gehen in­ nerhalb der (kirchen-) historischen Forschung allerdings weit auseinander.29 In jüngerer Zeit hat Anne Hudson eine umfangreiche Quellenstudie vorgelegt, in der sie auf der Linie von A.G. Dickens den Spuren lollardischer Traditionen vom ausge­ henden 14. bis ins 16. Jahrhundert nachgeht.30 Der Titel „The Premature Reforma­ 27  Bornkamm, Bucer, S. 112. Ein detaillierter Vergleich der Gesamtwerke Tyndales und Bucers wäre wohl nur mithilfe elektronischer Texterschließung möglich. Bucers Werke, insbesondere die lateinischen Bibelkommentare der 1520er Jahre, die Tyndale womöglich gekannt hat, sind jedoch noch nicht einmal in Buchform ediert. 28  Zu Herkunft und Bedeutung des Begriffs vgl. Hudson, S. 2 ff; Rex, Lollards, S. xii. 29  Zur Diskussion vgl. Hudson, S. 1–6; Rex, Lollards, S. xi–xv. 30  Dickens, S. 46–62, meinte, den Einfluss der Lollarden bis ins 16. Jahrhundert ver­ folgen zu können und sah in ihnen die direkten Vorgänger und prägenden gedanklichen Vorläufer der frühen englischen „Reformatoren“, vgl. a.a.O., S. 61: „That Lollardy thus survived and contributed in some significant degree toward Protestant Reformation is a fact based upon massive and incontrovertible evidence“. Die Schwäche dieser Position

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tion“ weist auf ihren Befund hin: Die lollardische Lehre besaß deutliche Parallelen zu reformatorischen Positionen des 16. Jahrhunderts und ist aufgrund ihres inhaltlichen Programms als „frühreife Reformation“ zu bezeichnen. Sie konnte sich jedoch auf­ grund verschiedener Umstände, die Hudson im Einzelnen herausarbeitet, nicht zu ei­ ner ein ganzes Kirchwesen neu gestaltenden Reformation entwickeln. Durch die Ver­ bindung von Lollarden zur neuen reformatorischen Bewegung erhielt diese jedoch inhaltliche Impulse, die sich vor allem in der anti-römischen und anti-sakramentalis­ tischen Radikalisierung reformatorischer Positionen niederschlugen.31 In dieser Bewertung der von ihr zusammengetragenen Quellen muss man Hudson jedoch nicht folgen. Wie bei jeder verfolgten religiösen Bewegung, die im Untergrund existiert, ist auch bei den Lollarden die Einschätzung ihres tatsächlichen Einflusses bis zu einem gewisssen Grad spekulativ. Hudsons historische Belege für das fortdauernde Wirken von Lollarden im 16. Jahrhundert bestehen im Kern aus einer Reihe von Ein­ zelfällen, über die John Foxe in seinen „Acts and Monuments“ berichtet.32 Diese Bei­ spiele, die z.B. die Beziehungen einzelner Lollarden zu Anhängern der Reformation oder den gemeinsamen Besitz lollardischer und reformatorischer Schriften belegen, müssen nicht zwingend zu einem Bild zusammengesetzt werden, das die Lollarden als maßgebliche Impulsgeber der englischen Reformation darstellt. Nach meinem Dafür­ halten ist es ratsamer, die in den Quellen genannten Fälle als Einzelfälle zu betrachten, die zwar für Kontakte zwischen Lollarden und Anhängern der Reformation spre­ chen, jedoch nicht die ungebrochene Kontinuität zwischen den Nachfolgern Wyclifs und den Anhängern Luthers belegen.33 Mit Richard Rex sehe ich die Anhänger Wyc­ lifs im 16. Jahrhundert vor allem als Feindbild und Negativfolie für die anti-reforma­ torische Propaganda der Papstkirche und weniger als aktive Reformbewegung im Untergrund und Wegbereiter der Reformation.34 wird deutlich, wenn Dickens den angeblich so unbestreitbaren Einfluss der Lollarden in­ haltlich nicht näher beschreiben kann als mit: „in some significant degree“. 31  Mit Bezug auf Tyndale ist Hudson zwar skeptisch, was direkte Verbindungen zu Lollarden angeht (vgl. Hudson, S. 493 f), theologisch sieht sie jedoch in Tyndales Positio­ nen zur Bilder- und Heiligenverehrung, zum Purgatorium und in der ethischen Ausrich­ tung seiner Soteriologie Indizien für einen Bezug zum Lollardentum (vgl. a.a.O., S. 504: „In all of these matters Tyndale follows late Lollard radicalism“). Rex, Lollards, S. 116 f, hat diese Beweisführung aufgrund theologischer Motivübereinstimmungen zu Recht als unzulässige Schlussfolgerung von einem zeitlichen auf einen kausalen Zusammenhang (post hoc ergo propter hoc) kritisiert. 32  Foxe hatte freilich aufgrund der Anlage seines Geschichtswerkes ein Interesse da­ ran, eine ungebrochene Linie der „evangelischen Rechtgläubigkeit“ von Wyclif zur Re­ formation zu zeichnen, vgl. Rex, Lollards, S. 115; Ohst, Hagiographie, S. 279 ff. 33  Die Quellen geben eine soziologische Konvergenz zwischen Lollardentum und re­ formatorischer Bewegung, etwa in ihrer geographischen Verbreitung und sozialen Struk­ tur nicht her (vgl. Rex, Lollards, S. 115–131.133–139). Hinzu kommt, dass bei allen in­ haltlichen Parallelen zwischen den Anhängern Wyclifs und den frühen englischen Protes­ tanten die theologischen Unterschiede dennoch groß sind (a.a.O., S. 131 f). Insbesondere die auch für Tyndale so entscheidende Grunderkenntnis der Rechtfertigung allein aus Glauben lässt sich m.E. nicht aus der lollardischen Tradition herleiten (was auch Rex über­ sieht). 34  Vgl. Rex, Lollards, S. 119: „Some Lollards seem to have been drawn towards lead­ ing evangelicals, their books, and their sermons, but there is little if any sign that the evan­ gelical leaders made a special effort to contact their ‚forerunners’, nor that this contact was

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Für die Beschäftigung mit Tyndale ist darum mit einer gewissen Skepsis an die von verschiedenen Autoren explizit oder en passant behaupteten Bezüge zum Lollardentum heranzugehen.35 Zwar wird man nicht ausschließen kön­ nen, dass Tyndale mit den Positionen Wyclifs und seiner Anhänger vertraut war und ihnen – wie andere Reformatoren auch – zugestimmt hat. Auch mag er mit „aktiven“ Lollarden in Kontakt gestanden haben. Seine entscheidenden theologischen Impulse erhielt er jedoch von anderswoher: Aus Wittenberg, Straßburg und der Schweiz.36 Der Streit um den Einfluss der Lollarden ist gewissermaßen der historische Ausgangspunkt für die weitergehende Debatte37 um die Bewertung der eng­ lischen Reformation insgesamt und die zwischen „Traditionalisten“ und „Revisionisten“ umstrittene Frage, wie schnell und tiefgreifend reformato­ risches Gedankengut in England Fuß fassen konnte. Diese Kontroverse ist noch nicht zu Ende, auch wenn sich m.E. mit einer neuen For­ schergeneration ein Konsens herausbildet, der – stark vereinfacht – den „Revisionis­ ten“ Recht gibt in der Beobachtung, dass die Verwurzelung einer Mehrzahl der Men­ schen in der spätmittelalterlichen Religion größer war, als in der traditionellen Refor­ mationsgeschichtsschreibung angenommen. Die Reformation in England war von daher keine Volksbewegung, die sich auf einen von den Lollarden im Untergrund schon hundert Jahre vorgebildeten Antiklerikalismus stützen konnte. Die Evangelischen waren aber umgekehrt auch nicht so einflusslos und ihr Erfolg nicht in dem Maße historischen Zufällen unterworfen, wie die revisionistische Schule annahm. Ihre Zahl war klein, aber ihr Einfluss vergleichsweise groß, da sie wichtige Stellungen in der Gesellschaft und der Nähe des Königs besetzten und – nicht zuletzt – ihre Positionen wirksam publizistisch zu verbreiten verstanden. Insofern ist von ei­ ner wachsenden Zahl an reformatorisch gesinnten Christen auch schon vor den Regie­ rungsjahren Elisabeths I. auszugehen.

Vor diesem Hintergrund markiert Tyndales Wirken nach meiner Einschät­ zung den Anfang einer reformatorischen Bewegung in England, die inhalt­ lich in engster Beziehung zur Reformation auf dem Kontinent stand. An sei­ nem Werk lässt sich exemplarisch zeigen, dass die Reformation England nicht especially helpful to their mission. It is certainly not possible to maintain that Lollardy had no connections at all with English Protestantism. However, it can be shown that the claim that Lollardy contributed to the rise of Protestantism remains implausible“. 35  Für Tyndale wird v.a. von Smeeton, Lollard Themes, geltend gemacht, er habe ent­ scheidende Anregungen von lollardischer Seite, etwa aus seiner Herkunftsregion (s.u. 1.2.4) oder durch seine Londoner Freunde (s.u. 1.5.2) erhalten (zu Smeetons These insge­ samt s.u. 3.4.3.3). 36  Diese These stützt sich auf die tatsächlich nachweisbare Rezeption von Schriften Luthers, die greifbarer Anhaltspunkt für die Rezeption anderer Autoren ist. Tyndales Theologie lässt sich gut ohne Bezugnahme auf lollardisches Gedankengut erklären, je­ doch nicht ohne den Einfluss kontinentaleuropäischer Reformatoren. 37  Zur grundsätzlichen Problematik vgl. O’Day. Zum aktuellen Stand der Debatte vgl. Ingram, S. 129–161.

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nur früh erfasste, sondern auch, dass die Schriften der mitteleuropäischen Re­ formatoren dort rezipiert und in eigenständige theologische Entwürfe einge­ arbeitet wurden, die einer – der Unterdrückung durch die Obrigkeit trotzen­ den – kleinen Gemeinde evangelischer Christenmenschen als Orientierung dienten. Die englische Reformation ist nicht einfach gleichzusetzen mit der (in der Tat zwiespältigen) Religionspolitik Heinrichs VIII., sondern weist eine eigenständige theologische Tradition auf, die sie – enger als dies heute auf beiden Seiten des Ärmelkanals vielfach gesehen wird – mit der Reforma­ tion in Mitteleuropa verbindet. Sie ist darum neu zu bewerten als Teil des eu­ ropäisches Phänomens „Reformation“, das in William Tyndale einen wieder neu zu entdeckenden originellen Theologen besaß.

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Homo Doctus, Pius et Bonus1 – Tyndales Lebensweg 1491–1525 1.1  Die Quellen zur Biographie Tyndales „The building up of the life of Tyndale demands care“2 – Diese Mahnung, die Tyndales Biograph J.F. Mozley 1937 seinem Werk voranstellte, gilt noch heute. Auch siebzig Jahre nach Mozley – und zehn Jahre nach David Daniells großer Tyndale-Biographie3 – hat jeder, der sich mit dem Leben Tyndales be­ schäftigt, nur eine Handvoll an Quellenmaterial zur Verfügung. Von Tyndale selbst sind – neben den sehr spärlichen autobiographischen Aussagen in seinen Schriften – nur zwei Briefe an seinen Freund John Frith (1503–1533) und ein Brief aus seiner Haft in Vilvoorde erhalten.4 Bei seinen Zeitgenossen findet er ebenfalls nur in wenigen Briefwechseln Erwähnung.5 1  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1230. 2  Mozley, S. V. 3  Die 1994 pünktlich zum 500. Geburtstag Tyndales

(zu Tyndales tatsächlichem Geburts­jahr s.u. 1.2.1) erschienene Biographie des Londoner Anglisten David Daniell (Daniell, Biography) trug entscheidend zum Wiedererwachen des Interesses an Person und Werk Tyndales bei. Daniell selbst steht bis heute als Autor, Herausgeber und Ehren­ vorsitzender der „Tyndale Society“ im Zentrum des weltweiten „Tyndale-Betriebs“. Seine Biographie hat ihre Stärken im Bereich der Darstellung des Sprachschöpfers Tyn­ dale. Ihre Schwächen liegen jedoch in der Beurteilung des Theologen, die nur am Rande und sehr pauschal vorgenommen wird. Insgesamt ist Daniells Biographie über weite ­Strecken (und stärker als er selbst eingesteht) der Lebensbeschreibung Tyndales von James F. Mozley aus dem Jahr 1937 verpflichtet, die Robert Demaus’ Biographie von 1871 ab­ löste. Das von Mozley zusammengetragene und geordnete Material ist bis heute für je­ den, der sich mit Tyndale beschäftigt, von unschätzbarem Wert. 4  Die Briefe an Frith finden sich bei Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1231 f (vgl. PS 1, S. liii–lvi); der handschriftlich erhaltene lateinische Brief Tyndales aus Vil­ voorde ist bei Mozley, S. 333 ff zitiert. Ein weiterer Brief, den Tyndale dem „keeper of the castle“ (vgl. Foxe, Acts and Monuments, 1570, Book 8, S. 1230) zur Aushändigung an Thomas Poyntz übergeben hat, ist verschollen, vgl. McCutcheon, S. 244; s.u. 6.1.2.3 und 7.8.4. 5  Etwa im Briefwechsel Stephen Gardiners (vgl. Stephen Gardiner, Letters, hg. v. J.A. Muller, Cambridge 1933) oder in den Werken von John Fisher (vgl. Fisher). Zu nennen sind auch die Briefe von Cromwells Agenten Stephen Vaughan (in: Letters and Papers, For­ eign and Domestic, of the Reign of Henry VIII, hg. v. J.S. Brewer, J. Gairdner, R.H. Brodie u.a., 21 Bde., London 1862–1932). Möglicherweise beziehen sich auch Martin Luther und Heinrich VIII. in ihrem Briefwechsel der Jahre 1525–26 indirekt auf Tyndale (s.u. 1.6.1).

1.1  Die Quellen zur Biographie Tyndales

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Zwar geben insbesondere die theologischen Gegner Tyndales biographische Hinweise, diese sind jedoch gerade aufgrund ihrer negativen Voreingenom­ menheit nur mit Vorsicht zu genießen.6 Bisweilen lassen Einträge in Regis­ tern und Verzeichnissen auf Stationen im Leben Tyndales schließen, jedoch nie völlig eindeutig.7 So bleiben diejenigen, die seinen Lebensweg nachvollziehen wollen, vor al­ lem auf ihre „Vorgänger“ angewiesen, auf jene Chronisten des 16. Jahrhun­ derts, die ihrerseits – Jahrzehnte nach seinem Tod – die ersten Lebensbeschrei­ bungen Tyndales verfasst haben. Das von ihnen zusammengetragene Material und ihre Aussagen zum Leben Tyndales sind die Hauptorientierungspunkte für jede Tyndale-Biographie. Allen voran ist hier die Darstellung in den „Acts and Monuments“ von John Foxe zu nennen, die in mehreren Ausgaben vor­ liegen.8 Foxe’ Lebensbeschreibung ist getragen vom hagiographisch-histori­ ographischen Interesse des Autors, der die von ihm beschriebene Geschichte der (englischen) Christenheit als fortwährende Auseinandersetzung begreift, in der die Märtyrer als Blutzeugen für die Sache Christi kämpfen und ster­ ben. Seine Darstellung ist darum als Quelle einer Rekonstruktion der Biogra­ phie Tyndales mit einer gewissen Skepsis zu behandeln. Dennoch ist Foxe – wie Martin Ohst zuletzt überzeugend nachgewiesen hat9 – durchaus auch als Historiker ernstzunehmen, dem es mithilfe des umfassenden von ihm zusam­ mengetragenen Materials gelingt, Charakterstudien seiner Protagonisten zu zeichnen, auf die sich jede biographische Darstellung stützen kann und muss. Neben Foxe geben auch die englischen Chroniken von John Bale und Edward Halle (zumindest summarisch) zeitnah Auskunft über den Lebenslauf Tyn­ dales.10 Insgesamt lassen die Quellen allerdings nur einen begrenzten Einblick in die Biographie Tyndales zu. Bestimmte Stationen seines Lebensweges bleiben im Dunkeln und ermöglichen dem Biographen nur die – mit einem gewissen Maß an begründeter Spekulation verbundene – Rekonstruktion. Das histori­ sche Bild, das in dieser Arbeit gezeichnet werden soll, kann somit zwar Kon­ turen von Tyndales Lebensweg und Persönlichkeit ausmachen, es bleibt dabei aber weitgehend auf die nachträglich überlieferten Zeugnisse angewiesen.

6  Zu nennen sind hier vor allem Johannes Cochläus (zitiert bei Mozley, S. 58 ff) und Sir Thomas More (vgl. z.B. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 288,12–25). 7  S.u. 1.2–1.4 und 1.6. 8  Zum Tyndale-Bild in den unterschiedlichen Ausgaben der „Acts and Monuments“ vgl. Betteridge, S. 218. 9  Vgl. Ohst, Hagiographie, besonders S. 283 ff; vgl. Daniell, Biography, S. 4 f. 10  John Bale, Illustrium Maioris Britanniae Scriptorum… Summarium (1548) (zitiert bei Brown, S. 39 f), Edward Halle, The Union of the Two Noble and Illustre Famelies of York and Lancaster (1548) (zitiert bei Brown, S. 37 ff).

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

1.2  Herkunft, Kindheit und Jugend 1.2.1  Das Geburtsjahr Tyndales Die ersten Lebensjahrzehnte Tyndales liegen weitgehend im Dunkeln. Er selbst berichtet – bis auf eine einzige Anekdote11 – nichts über seine Kindheit und Jugend. Die Biographen sind daher auf die eher spärlichen Informatio­ nen angewiesen, die sich zum einen aus Einträgen in Diözesan- und Univer­ sitätsregistern entnehmen lassen und die zum anderen in den Chroniken, vor allem bei John Foxe, zu finden sind. Weder Tyndales Geburtsjahr noch sein Herkunftsort und Ausbildungsgang sind in all diesen Quellen, bis auf wenige Fixdaten, sicher bezeugt. Umso weniger Verlässliches lässt sich daher über den familiären Hintergrund und die frühe religiöse Prägung Tyndales sagen.12 Die erste sichere biographische Spur, die Tyndale hinterlassen hat, ist der Eintrag im Oxforder Universitätsregister vom 13. Mai 1512, demzufolge ein „Willelmus Hychyns“ in Magdalen Hall die notwendigen Disputationen zur Erlangung des Grades eines Baccalaureus Artium durchlaufen hat. Für densel­ ben „Willelmus Hochyns“ (die Schreibweise des Nachnamens variiert) ist auch die Promotion zum Magister Artium am 2. Juli 1515 belegt.13 „Hychyns“, „Hochyns“ oder „Hutchins“ ist der zweite Familienname, den Tyndale selbst gelegentlich verwendet hat.14 Um Tyndales Geburtsjahr zu bestimmen, hat man vom Datum der Erlan­ gung des Baccalaureusgrades zurückgeschlossen: Da der akademische Grad eines Magisters nicht vor der Vollendung des 20. Lebensjahres abgelegt wer­ den konnte, ergibt sich ein Geburtsdatum nicht später als das Jahr 1495. Moz­ ley vermutet daher: „perhaps 1494 is as probable a date as any“15. Aus einer Bemerkung bei Foxe16 wurde zudem gefolgert, dass Tyndale bereits als Kind von zwölf Jahren 1506 nach Oxford kam, wo er vor dem Studienbeginn auch 11  Vgl. Obedience, PS 1, S. 149 (PC, S. 19, besonders Anm. 133); vgl. Mozley, S. 8 f; Daniell, Biography, S. 12 f. 12  Dies muss mit Nachdruck festgehalten werden angesichts der immer wieder vorge­ tragenen Behauptung, Tyndale sei in lollardischem Milieu aufgewachsen; vgl. z.B. Smee­ ton, Lollard Themes, S. 39–42; Werrell, Theology, S. 17 f; A. Richardson, Quarrell, S. 49. 13  Vgl. Oxford University Archives, NEP/supra/Register G „Register of Congrega­ tion 1505–17“, f. 145v: 13 May 1512, zitiert bei Brown, S. 27 (hier auch weitere Er­ wähnungen Tyndales im Universitätsregister, vgl. a.a.O., S. 26–33); vgl. Mozley, S. 12; Daniell, Biography, S. 22. 14  Tyndale verwendet diesen zweiten Familiennamen z.B. im Vorwort von Mammon, PS 1, S. 37 und Obedience, PS 1, S. 131 (PC, S. 3, besonders Anm. 3); vgl. Mozley, S. 5 f; Daniell, Biography, S. 9; Brown, S. 9. 15  Mozley, S. 1; vgl. Daniell, Biography, S. 9. Zur Datierung der Geburt Tyndales in den Biographien vor Mozley, vgl. Brown, S. 24 f. 16  Vgl.Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224: „WIlliam Tyndall the fayth­ full Minister and constant Martyr of Christ, was borne about the borders of Wales, and

1.2  Herkunft, Kindheit und Jugend

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noch einen Teil seiner schulischen Ausbildung erhielt.17 Die Chronik von Halle lässt diesen Umstand unerwähnt, während Bale von einem Studium Tyndales in Oxford „ab adolescente“18 ausgeht. Gegen ein Studium des Kna­ ben William an der Lateinschule von Magdalen Hall wie auch gegen sein Ge­ burtsdatum um das Jahr 1495 sprechen die Einträge im Diözesanregister der Diözese Hereford, die A.J. Brown 1996 veröffentlicht hat.19 Für den 10. Juni 1514 ist hier die Weihe eines „Willelmus Hychyns, Herefordensis diocesis“20 zum Subdiakon vermerkt. Derselbe wurde am 24. März 1515 in St Paul’s in London zum Diakon und am 7. April in der Kirche St Thomas Acon, eben­ falls in London, zum Priester geweiht.21 Für die Identifizierung dieses „Hy­ chyns“ mit dem Oxford-Absolventen spricht neben der Namensgleichheit vor allem die Angabe des akademischen Grades und der Herkunftsdiözese („in artibus baccalaureus Herfordensis“): „Since the records of the university do not contain any reference to another William Hychyns or Tyndale during this period, it is virtually certain that these entries all relate to one individual, William Tyndale alias Hychyns or Hutchins, the future Bible translator“22. Nimmt man die so nachgewiesene Priesterweihe Tyndales als zweites ent­ scheidendes Fixdatum für die Chronologie seiner Biographie hinzu, lässt sich das Geburtsdatum 1494 nicht halten. Nach dem kanonischen Recht konnte nur derjenige zum Priester geweiht werden, der bereits im 25. Lebensjahr war.23 Tyndale kann also nicht später als 1491 geboren worden sein.24 Nimmt man 1491 als Geburtsjahr an, so war Tyndale kein Knabe mehr, als er 1508 sein artistisches Studium in Oxford aufnahm, sondern im normalen studenti­ brought vp from a child in the Vniuersitie of Oxford, where he by long cōtinuaunce grew vp“. 17  Magdalen Hall umfasste sowohl eine „Grammar School“, als auch ein UniversitätsCollege und ermöglichte somit einen Ausbildungsgang, der Schule und universitäre Bil­ dung miteinander verband; vgl. Mozley, S. 12 f; Daniell, Biography, S. 22–27. 18  Zitiert bei Brown, S. 39. 19  Brown, S. 12, nimmt hier einen Hinweis Mozleys auf, den dieser in seiner Biogra­ phie von 1937 „At the eleventh hour“ (Mozley, S. 21, Anm.*) angefügt hat und der den­ noch den ihm nachfolgenden Biographen keiner weiteren Nachforschung wert war (vgl. z.B. Daniell, Biography, S. 56). Erst Rex, New Light, S. 153, Anm. 28, nimmt die auf Mozleys Hinweis basierenden Erkenntnisse Browns positiv auf. 20  Hereford, County Record Office, MS AL 19/12 (zitiert bei Brown, S. 13). 21  Vgl. London, Guildhall Library, MS 9531/9, f. 180r (zitiert bei Brown, S. 16; zur Identifizierung mit dem Subdiakon Hychyns vgl. auch a.a.O., S. 18 f). 22  Brown, S. 18. 23  Vgl. Hinschius, S. 18. 24  Natürlich bestand damals auch die Möglichkeit einer Ausnahme von der kirchen­ rechtlichen Regel; ein päpstlicher Dispens diesbezüglich ist jedoch in keinem Eintrag er­ wähnt und von daher mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen (vgl. Brown, S. 24 f). Auch Mozley scheint nach der Fertigstellung seiner Biographie diesen Zeitraum als wahrscheinlicher angesehen zu haben, vgl. Campbell, S. 97 (besonders Anm. 1).102.

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schen Durchschnittsalter von 17 Jahren;25 den ersten Abschluss hätte er dem­ nach mit 21, den Magister mit 24 Jahren erworben. In dieses Lebensjahr fiel – biographisch nachvollziehbar – auch seine Priesterweihe. 1.2.2  Die geographische Herkunft Tyndales Ebenso ungewiss wie der Zeitpunkt der Geburt Tyndales ist sein Geburts­ ort. Auch hier sind es nur Indizien, die Rückschlüsse zulassen, Tyndale selbst hat keine Informationen darüber preisgegeben. Aus den biographi­ schen Angaben bei Halle und Foxe erfahren wir, dass Tyndale „upon the borders of Wales“26 geboren wurde. Diese Angabe erlaubt freilich Speku­ lationen über eine ganze Reihe möglicher Grafschaften und eine noch ­größere Zahl konkreter Herkunftsorte. Mozley lässt Tyndale in der Nähe des Örtchens Stinchcombe in Gloucestershire zur Welt kommen und gibt als Beleg eine nicht näher bestimmte „strong and unbroken local tradition“27 an, die eine Familie mit dem Doppelnamen Tyndale/ Hutchins in dieser Gegend bezeugt. Auch Daniell geht von einer Herkunft Tyndales im „Stinchcombe area“28 aus. Tatsächlich sind die Namen „Hutchins“ und „Tyndale“ in dieser Gegend auf halbem Weg zwischen Gloucester und Bristol für das ausgehende 15. und beginnende 16. Jahrhundert bezeugt. Konkrete Angaben zu näheren Ver­ wandten Tyndales, den Eltern etwa, lassen sich jedoch aufgrund der vorhan­ denen Quellen nicht machen.29 Aufgrund der Verbreitung des Namens lässt sich lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine Herkunft Tyndales aus dieser Ecke Gloucestershires festhalten.30 Gegen die Verortung Tyndales in der Gegend um Stinchcombe spricht – wie Brown mit Recht bemerkt – die Angabe im Ordinationseintrag: „Wil­ lelmus Hychyns, Herefordensis diocesis“. Brown plädiert daher für eine Ab­ stammung Tyndales aus der Grafschaft Herefordshire, oder dem Teil Glou­ cestershires, der zur Diözese Hereford gehörte.31 25  Der Status des hochbegabten, früh entwickelten „Wunderkindes“, den manche Bio­ graphen (z.B. Moynahan, S. 5) Tyndale aufgrund der Notiz bei Foxe gerne andichten, lässt sich nicht aufrecht erhalten; fraglich ist auch, ob Tyndale diese Zuschreibung über­ haupt nötig hat. 26  Zitiert bei Brown, S. 37; vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 524, vgl. Brown, S. 40 f. 27  Mozley, S. 1. 28  Daniel, Biography, S. 10. 29  Bei den Quellen handelt es sich vor allem um Besitzangaben der örtlichen Gerichts­ akten („court rolls“) vgl. Mozley, S. 1 f; Daniell, Biography, S. 9 f. 30  Vgl. dazu kritisch Brown, S. 9. 31  Vgl. a.a.O., S. 21 ff; auch Mozley hält das für möglich (Mozley, S. 21; Anm.*). Rex, New Light, S. 149, folgt zwar in seiner Analyse weitgehend Brown, bleibt aber, was den Herkunftsort Tyndales betrifft, bei Stinchcombe.

1.2  Herkunft, Kindheit und Jugend

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Angesichts dieser disparaten Indizienlage erscheint mir schwierig, ein Ur­ teil über den tatsächlichen Geburtsort Tyndales zu fällen. Am Ende lässt sich wohl doch nur die eingangs erwähnte, ungefähre geographische Herkunfts­ angabe, „on the borders of Wales“, festhalten. 1.2.3  Der familiäre Hintergrund Tyndales Zur Familie Tyndales finden sich Angaben von Zeitgenossen. Sein vermut­ lich älterer Bruder Edward wird von niemand Geringerem als dem Bischof von London, John Stokesley (ca. 1475–1539), in einem Brief vom Januar 1533 an Cromwell erwähnt: Dem „brother to Tyndale the arch-heretic“32 solle nach Möglichkeit eine herrenlose Farm in der Grafschaft nicht zuer­ kannt werden, sondern einem von Stokesleys eigenen Leuten. Dem Brief ist darüber hinaus zu entnehmen, dass Edward Tyndale als „under-receiver of the lordship of Berkeley“33, d.h. als „crown steward“, mit der Verwaltung königlicher Liegenschaften in der Grafschaft betraut war. Edward Tyndale ist zudem von 1516 an als Besitzer der Hurst Farm beim Örtchen Slym­ bridge, nördlich von Stinchcombe, bezeugt.34 Er gehörte somit zu den ein­ flussreichsten Bewohnern der Grafschaft, „a significant man in Glou­cester­ shire“35. Ein weiterer Bruder Tyndales, John, war nach dem Zeugnis von Foxe offensichtlich als Kaufmann in London tätig.36 Aus diesen bekannten Fakten aus dem Leben der Brüder Tyndales lassen sich Rückschlüsse auf den sozialen Status der Familie Tyndale ziehen: Wahr­ scheinlich handelt es sich bei ihr um wohlhabende und angesehene Leute: „a family which included reasonably wealthy merchants and landowners, and they, with the Church, were the holders of local power“37. Für Tyndales Her­ kunft aus solchen Kreisen spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, dass diese Familie in der Lage war, ihm eine umfassende Schulbildung und das Studium in Oxford zu ermöglichen.

32  Zitiert bei Mozley, S. 4. Brown, S. 10, zieht die Identifizierung durch Stokesley in Zweifel; dagegen spricht jedoch die anzunehmende genaue Kenntnis Stokesleys von den familiären Verhältnissen Tyndales und der Situation in Gloucestershire, vgl. auch Daniell, Biography, S. 10. 33  Mozley, S. 4; vgl. Daniell, Biography, S. 10 f. 34  Dies lässt sich möglicherweise als weiterer Beleg für das „Stinchcombe area“ als Herkunftsort der Tyndales anführen, s.o. 1.2.2. 35  Daniell, Biography, S. 11. 36  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1185; vgl. Mozley, S. 170 ff. 37  Daniell, Biography, S. 11.

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1.2.4  Tyndale als Spross einer Lollardenfamilie? Angesichts dieser Quellenlage zur Herkunft Tyndales ist es erstaunlich, dass zahlreiche Autoren Tyndale als den Spross einer großen lollardischen Tradi­ tion bezeichnet haben. Gloucestershire wird von ihnen als Ort eines lebendi­ gen lollardischen Erbes ausgemacht, das auch Tyndales Kindheit und Jugend beeinflusst habe,38 selbst wenn Tyndale sich an keiner Stelle seiner Schriften als Anhänger Wyclifs bezeichnet.39 Demgegenüber haben jüngere Studien gezeigt, dass der Einfluss lollardi­ scher Gruppen in Gloucestershire ebenso gering war wie anderswo.40 Anstatt in Tyndale darum – ohne konkrete Belege – den Erben der Tradition des eng­ lischen „Dissentertums“ von Kindheit an zu sehen, ist es wahrscheinlicher anzunehmen, dass sich seine Kindheit und Jugend im Rahmen des religiösen „mainstream“41 abspielte. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass Tyn­ dale sich mit Abschluss seines Studiums für das Priesteramt entschied – ein Schritt, den ein überzeugter Anhänger Wyclifs wohl kaum getan hätte.42 Die Versuchung, sich die Kindheit und Jugend Tyndales in bunteren Far­ ben auszumalen als hier geschehen, ist angesichts dieser spärlichen Quellen­ lage groß, und mancher Biograph mag ihr darum auch erlegen sein. Darauf soll hier jedoch verzichtet werden. Den einzig legitimen, aber versteckten Hinweis auf seine Kinderzeit und das Leben in seiner Familie gibt Tyndale möglicherweise selbst: Um seiner Leserschaft das wechselseitige Verhältnis von Gott und Menschen anschaulich vor Augen zu führen, wählt Tyndale in seinem ganzen Werk immer wieder Metaphern, die dem Bereich der Familie entnommen sind. Sie stellen das Miteinander von Eltern und Kindern durch­ weg als von Achtung und Respekt geprägt dar, vor allem aber – auch wenn es um Ungehorsam und Züchtigung geht – von Liebe.43 Man möchte glauben, dass diese Bilder Tyndales aus eigener Erfahrung genommen sind.

38  So am stärksten wohl Smeeton, Lollard Themes, S. 39 ff; aber auch Brown, S. 22 f. Werrell, Trevisa, S. 22, weiß sogar – wenn auch ohne Belege – dass Tyndale „as a boy“ Werke John Trevisas gelesen hat (zur grundsätzlichen Frage nach dem Einfluss Wyclifs und der Lollarden zur Zeit Tyndales s. Einleitung). 39  Trueman, Legacy, S. 41: „Had Tyndale been influenced at all by Lollardy, it is sur­ prising that he does not acknowledge this even in a symbolic sense. Instead, at one point, where such acknowledgement might have been expected, he is careful to reject any notion that he was influenced in his Bible translation by any predecessors“; vgl. Epistle to the Rea­ der, PS 1, S. 390 ff. 40  Vgl. Litzenberger, S. 28 f; Rex, New Light, S. 145–148; Collinson, S. 78 ff. 41  Rex, New Light, S. 146. 42  S.u. 1.3.3. 43  Z.B. Mammon, PS 1, S. 107; Exposition Matthew, PS 2, S. 9; W.T. unto the Reader, PS 1, S. 475.

1.3  Tyndales Studienzeit

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1.3  Tyndales Studienzeit 1.3.1  Tyndale in Oxford Tyndale begann sein Studium – wie wir gesehen haben – 1508 in Oxford als Student des Magdalen College (heute Hereford College).44 Die Auskünfte seiner ersten Biographen über die Studienzeit in Englands ältester Universität sind offensichtlich bereits im Lichte von Tyndales späterem Lebensweg als sprachkundiger Bibelübersetzer geschrieben. So schreibt John Bale, Tyndale habe in seiner Oxforder Zeit neben dem Lateinischen auch das Griechische studiert.45 Foxe erweitert diese Aussage noch, indem er neben der Kunde der alten Sprachen Tyndales intensives Bibelstudium hervorhebt.46 Von Tyndale selbst erfahren wir nicht, wann und wo er seine Kenntnisse in den alten Sprachen erworben hat. Konkrete Äußerungen zu seiner Studien­ zeit finden sich ebenso wenig, abgesehen von gelegentlichen kritischen Be­ merkungen zur Hochschultheologie und zum Studienwesen.47 Dennoch könnten die Aussagen von Bale und Foxe durchaus Wahres über Tyndales Studienzeit enthalten. Das klassische artistische Studium mit trivium und quadrivium, das Tyndale ohne Zweifel erfolgreich absolviert hat, sah die Lektüre der Bibel zwar nicht vor, es ist jedoch nicht undenkbar, dass Tyndale aus eigenem Interesse und in eigener Regie auch das Studium der Vulgata be­ trieben hat.48 Seine abfällige Beschreibung des Oxforder Studienbetriebs aus dem Jahr 1530, die insbesondere die Abschottung des Schriftstudiums von den Studenten durch die „heidnische Gelehrsamkeit“ („heathen learning“) in den Artes mit ihren „falschen Prinzipien“ („false principles“49) kritisiert, könnte ein später Affekt gegen die Beschränkungen sein, die ihm selbst in Oxford auferlegt wurden. Dass ein Student wie Tyndale möglicherweise Zweifel an der Sinnhaftig­ keit des mittelalterlichen Studiensystems hegte und auf eigene Faust auch die Bibel zur Hand nahm, ist insbesondere gut vorstellbar vor dem Hintergrund 44  Zur Geschichte des College und zu „Tyndale’s Oxford“ vgl. Daniell, Biography, S. 22–32. 45  „bonas literas abunde hausit, Graece et Latine peritus“, zitiert bei Brown, S. 39. 46  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224: „where he by long cōtinuaunce grew vp, and increased as wel in the knowledge of tounges, and other liberall Artes, as especially in the knowledge of the Scriptures: whereunto his mynde was singu­ larly addicted“. 47  Vgl. Obedience, PS 1, S. 315 (PC, S. 167 f); Prelates, PS 2, S. 291, Exposition St John, PS 2, S. 206; Answer, IW 3, S. 180,28 ff. 48  Zu den Inhalten des artistischen Studiums in Oxford vgl. Smeeton, Lollard Themes, S. 43 f. Ein griechisches Neues Testament kann Tyndale für den in Frage kommenden Zeitraum noch nicht zur Verfügung gestanden haben, da Erasmus’ „Novum Instrumen­ tum“ erst 1516 erschien (vgl. Daniell, Biography, S. 40). 49  Prelates, PS 2, S. 291.

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eines in diesen Jahrzehnten auch in England wachsenden humanistischen Geistes. Magdalen College war einer der ersten Orte in Oxford, an dem das „new learning“ des Humanismus Fuß fassen konnte. In Magdalen lehrte der erste Oxforder Griechisch-Dozent, William Grocyn (1446–1519), am Col­ lege graduierte der spätere Kardinal und Lordkanzler Thomas Wolsey (ca. 1473–1530), ebenso wie der führende englische Humanist und Dekan von St Paul’s John Colet (1466–1519).50 Colet hatte die akademische „Szene“ Englands nachhaltig durch seine 1496–1499 in Oxford gehaltenen Vorlesungen zum Römerbrief in Aufre­ gung versetzt – ein erstes Fanal für den Humanismus auf der Insel.51 Als Stu­ dent in Oxford freilich kann Tyndale Colet nicht mehr begegnet sein,52 mög­ licherweise aber dem späteren Londoner Bischof John Stokesley (1530–1539), der während Tyndales Studienzeit als Lehrer zum „staff“ des College gehört haben könnte.53 Tyndale erwähnt Colet jedoch an einer Stelle seiner „Answer“ an Sir Thomas More (1478–1535), um dessen Lobpreis auf den Londoner Bi­ schof Richard Fitzjames (1506–1522) mit bitterer Ironie zurückzuweisen: „Er hätte sogar den alten Dekan Colet von St Paul’s zum Häretiker gemacht, da­ für dass er das Paternoster ins Englische übertragen hat, hätte nicht der [Erz] Bischof von Canterbury dem Dekan geholfen“ 54. Obwohl dieser Verweis auf den „Dean“ von St Paul’s nur sehr knapp ist, gibt er dennoch Aufschluss über Tyndales Haltung zu Colet und zum humanistischen Ansatz insgesamt. Tyn­ dale zeichnet Colet gegenüber More gewissermaßen als „at least the dim out­ line of a predecessor“ 55, der – wie er selbst – aufgrund seiner Übersetzung eines biblischen Textes angegriffen wurde.56 Tyndale sieht sich folglich in der Tradition eines Humanisten wie Colet, wenn er die Übersetzung der Heili­ gen Schrift ins Englische zu seiner Lebensaufgabe macht.57 50  Vgl. Knox, Doctrine, S. 101 ff; Smeeton, Lollard Themes, S. 44 f; zu John Colets Ox­ forder Römerbriefvorlesungen vgl. Daniell, Biography, S. 32–37. 51  Vgl. Mozley, S. 15 f; Reventlow, S. 52 ff; Campbell, S. 18–26. 52  Eine Begegnung mit Colet könnte allerdings 1515 bei Tyndales Weihe zum Diakon stattgefunden haben, die ja in St Paul’s stattfand (vgl. Brown, S. 19 ff). Tyndale selbst schweigt jedoch dazu. 53  Zur Rolle Stokesleys im Zusammenhang mit Tyndales Gefangennahme 1535 s.u. 7.8.1. 54  Answer, IW 3, S. 168,28 ff: „yet he wold haue made the old deane Colet of paules an heretyke, for translatynge the Pater noster in englyshe, had not the bysshope of canter­ bury holpe the deane“; vgl. dazu auch Anm. 28. 55  Ryan, S. 31. 56  Die Frage, ob Tyndales Behauptung eines Häresievorwurfs an Colet historisch zu­ treffend ist, diskutiert mit überzeugenden Argumenten Ryan und kommt zu dem Ergeb­ nis: „Tyndale probably recalled quite accurately“ (ebd.). 57  Eine Bemerkung in der „Answer to More“ macht dies besonders deutlich und gibt zugleich Aufschluss darüber, auf wessen Seite Tyndale möglicherweise schon in Studien­ zeiten in der Auseinandersetzung zwischen scholastischer Hochschultheologie scotisti­ scher Prägung und der humanistischen Studienreform Partei ergriffen hat: „Remembir

1.3  Tyndales Studienzeit

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Auch wenn das intellektuelle Klima an Englands ältester Universität sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in Richtung eines an den antiken Quellen orientierten Studiums zu verschieben begann, war in der Ausbildung selbst – nach Tyndales eigenem Urteil – noch wenig von der befreienden Kraft der Arbeit an originalen Quellen zu spüren: „Tyndale’s occasional re­ marks about the education he received in his years at Oxford make it sound dusty and barren, as mostly it probably was“58. Im Rückblick findet Tyndale bittere Worte für den universitären Betrieb, in denen er insbesondere die ge­ lehrten Streitigkeiten und ihre spitzfindigen, aber in Wahrheit absurden Ar­ gumente aufs Korn nimmt: „Einmal war ich Zeuge einer theologischen Doktoratsdisputation, bei welcher der Opponent den gleichen Grund [Tyndale bezieht sich auf die zuvor von ihm beschrie­ bene Bereitschaft zum Leiden als Zeichen für den wahren Glauben] anführte, um zu beweisen, dass eine Witwe mehr Verdienste habe als eine Jungfrau. Er behauptete, ­erstere erleide größeren Schmerz, weil sie einst auch die Freuden der Mutterschaft er­ fahren habe. Ego nego, domine doctor, antwortete der Respondent, denn auch wenn die Jungfrau die Freuden nicht selbst erfahren habe, wären diese doch in ihrer Vorstellung ungleich größer gewesen und darum sei sie noch stärker betroffen, leide also unter der größeren Versuchung und dem größerem Schmerz“59.

In solcherlei Gelehrsamkeit erkennt Tyndale 1528 nicht anderes mehr, als das in 1 Tim 6,3 ff beschriebene Verhalten der aufgeblasenen Lehrer, die nicht bei den „wholesome words of our Lord Jesus Christ“ 60 bleiben, sondern überflüs­ sigen Streit um Worte austragen. Im Rückblick sieht Tyndale den spätmittelalterlichen Universitätsbetrieb mit den Augen dessen, der in der Schule des Humanismus andere Erkennt­  

ye not how with in this .xxx. yeres and ferre lesse / and yet dureth vn to this daye / the olde barkynge curres dunces disciples and like draffe called scotistes / the childern of dar­ kenesse / raged in euery pulpyt agenst Greke, Latine and Hebrue / and what sorow the scolemastirs that taught the true Latine tonge had with them / some betynge the pulpyt with their fists for madnesse and roringe out with open and fominge mouth / that if there ware but one tirens or virgill [d.i. Terenz und Vergil] in the world and that same in their sleues, and a fire before them / they wold burne them therin / though it shuld cost them their liues / affirmynge that all good lerninge decayed and was vtterly lost sens men gaue them vn to the Latine tonge?“ (Answer, IW 3, S. 75,8–19); vgl. Mozley, S. 16; Daniell, Biography, S. 52 f. 58  Daniell, Biography, S. 30; vgl. Tyndales kritische Bemerkungen zum Umgang mit der Bibel im Studium, Prelates, PS 2, S. 291. 59  Obedience, PS 1, S. 315 (PC, S. 167 f): „I was once at the creating of doctors of divi­ nity, where the opponent brought the same reason to prove that the widow had more me­ rit than a virgin; because she had greater pain, forasmuch as she had once proved the ple­ asures of matrimony. Ego nego, domine doctor, said the respondent. For though the virgin have not proved, yet she imagineth that the pleasure is greater than it is indeed, and there­ fore is more moved, and hath greater temptation and greater pain“. 60  A.a.O., S. 315 (PC, S. 168).

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nismuster gelernt hat, als die der via antiqua oder via moderna.61 Dieser Para­ digmenwechsel spiegelt sich inhaltlich auch in Tyndales Schriftauslegung, die explizit Abstand nimmt vom vierfachen Schriftsinn und sich – ganz hu­ manistisch – an der wörtlichen Bedeutung des Textes orientiert.62 Das Erbe der Scholastik wird abgetan zugunsten des unverbildeten Zugangs zu den Quellen. Wie viele Reformatoren seiner Generation – Luther, Bucer und Barnes sind hier tatsächlich eher Ausnahmen – hat Tyndale mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Theologie studiert, hierin mit Sicherheit zumindest keinen akademischen Grad erworben.63 Foxe erwähnt in der 1570er Ausgabe der „Acts and Mo­ numents“ im Zusammenhang mit Tyndales Interesse an der Schrift („where­unto his mynde was singularly addicted“ 64) allerdings, dass Tyndale privat („priuely“) andere Studenten in „einigen Portionen der Theologie“ („some parcell of Diuinitie“) unterwiesen habe, „indem er sie Erkenntnis und Wahr­ heit der Schrift lehrte“ 65. Aus dieser Bemerkung von Foxe auf eine theologi­ sche Ausbildung Tyndales schließen zu wollen, wäre aber sicherlich gewagt, zumal in der Ausgabe von 1563 noch nichts über eine theologische „Lehrtätig­ keit“ Tyndales vermerkt ist. Es ist jedoch durchaus gut vorstellbar, dass der am Studium der Schrift interessierte Graduierte Tyndale – über das Bibelstudium an der artistischen Fakultät hinaus66 – mit anderen gemeinsam in der Bibel las und die sich dabei notwendigerweise stellenden theologischen Fragen mit den Kommilitonen diskutierte. Tyndales eigene Schriften jedenfalls lassen auf profunde theologische Kenntnisse ihres Autors schließen.67 Foxe bemerkt in seiner 1570er Ausgabe, dass auch Lebenswandel und Charakter Tyndales von den Wertmaßstäben der Heiligen Schrift geprägt waren: „[Tyndales] Verhaltensweisen und seine conversatio entsprachen dieser [d.i. der Schrift] in einer Weise, dass alle, die ihn kannten, ihn als einen Mann von tugendhaf­ tester Verfassung und von untadeliger Lebensführung ansahen“ 68. 61 

Zur Situation an der Universität Oxford vgl. die Aufsätze von Fletcher und Lytle. 62  Vgl. z.B. Obedience, PS 1, S. 303–331 (PC, S. 156–180), s.u. 3.3.7.2. In seiner strikten Ablehnung der allegorischen Schriftauslegung divergiert Tyndale freilich auch von Eras­ mus, wie A. Richardson, Quarrell, S. 57 f, aufzeigt. 63  Ein Doktorgrad wäre wohl von Tyndale selbst wie von seinen Gegnern kaum uner­ wähnt gelassen worden. 64  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224. 65  Ebd.: „instructing them in the knowledge and truth of the Scriptures“. 66  S.u. 1.6.2. 67  Vgl. Trueman, Legacy, S. 37. 68  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224: „Whose maners also and cōuersatiō being correspōdent to the same, were such that all they which knew hym, ­reputed and estemed hym to bee a man of most vertuous disposition, and of life ­vnspotted“.

1.3  Tyndales Studienzeit

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Dafür, dass Foxe hier kein hagiographisch verzeichnetes Bild der Person Tyndales zeichnet, spricht die Tatsache, dass auch Tyndales „Erz-Gegner“, Sir Thomas More, seinem Opponenten durchaus positive Charaktereigenschaf­ ten zuschreibt.69 Tyndale zeigt sich in seinen Schriften tatsächlich – bei aller Schärfe der Auseinandersetzung – nie als unfairer literarischer Gegner und stets als ein Mann mit einem hohen ethischen Anspruch an sich selbst – Um­ stände, die ihn später, verbunden mit einer gewissen Gutgläubigkeit anderen gegenüber, umso leichter in die Arme seines Verräters trieben.70 1.3.2  Tyndale in Cambridge? Die nächste biographische Station Tyndales, von der Foxe berichtet, ist Cam­ bridge, wo Tyndale in der Kenntnis des Wortes Gottes weiter gereift sei.71 Foxe ist jedoch der einzige, der Tyndales Aufenthalt in der kleineren engli­ schen Universitätsstadt bezeugt (und auch dies erst ab der 1570er Ausgabe der „Acts and Monuments“). Tyndale selbst erwähnt Cambridge nicht. Für einen Aufenthalt Tyndales in Cambridge, der sinnvollerweise in den Zeitraum zwischen dem Erwerb des Magistergrads bzw. der Priesterweihe 1515 und dem Aufenthalt in Little Sodbury 1522 datiert werden müsste, spre­ chen vor allem inhaltliche Argumente: In Cambridge hätte Tyndale Zeit und Muße gehabt, sich intensiver mit dem Studium der alten Sprachen und der heiligen Schrift zu befassen.72 1520 wurde der Griechischlehrstuhl, an dem Erasmus selbst 1511–1514 gelehrt hatte, mit Richard Croke (ca. 1489–1558) wiederbesetzt.73 Das Klima an der Universität war offener für humanistische Einflüsse als in Oxford, und auch Luthers Schriften kursierten schon früh in der Stadt am River Cam.74 Cambridge war darum möglicherweise ein at­ traktives Ziel für einen aufgeschlossenen bibelinteressierten Scholaren. 69  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 28,21–25: „mayster Wyllyam Huchyn / otherwyse called mayster Tyndall / who was (as men say) well knowen or he wente ouer ye see / for a man of ryght good lyuyng / studyous & well lerned in scrypture / & in dyuers places in england was very well lyked & dyd gret good with prechyng“. In diesem Licht erscheint auch das Zeugnis von Tyndales Ankläger in der Überschrift dieses Kapitels umso glaubwürdiger. 70  S.u. 7.8.1. 71  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224: „further ripened in the knowledge of God’s word“. In der 1563er Ausgabe berichtet Foxe (Acts and Monuments, 1563, S. 518) sogar: „The saide Maister Tyndall being learned & which had bene a studēt of diuinitie in Cambridge, and hadde therein taken degree of schole“. Dieser Hinweis findet sich jedoch nicht mehr in den späteren Ausgaben, so dass davon auszugehen ist, dass Foxe sich hier selbst korrigiert hat, vgl. dazu auch Rex, New Light, S. 149. 72  Vgl. Trueman, Legacy, S. 45; A. Richardson, Quarrel, S. 58, besonders Anm. 57; Popp, Tyndale, S. 275 f. 73  Vgl. Bietenholz/Gunderson, S. 359 ff. Daniell, Biography, S. 51, setzt Crokes Rückkehr nach Cambridge bereits 1518 an; vgl. auch Trueman, Legacy, S. 45. 74  Tyndale hätte, wäre er zwischen 1515 und 1522 in Cambridge gewesen die erste

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

Die Gruppe derjenigen, die an der aktuellen theologischen Diskussion um Luther interessiert waren, traf sich – so berichtet Foxe – in der White Horse Tavern und wurden aufgrund ihrer Lektüre aus Deutschland stammender Schriften auch „Little Germany“ genannt. Die Liste der in diesem intellektu­ ellen Zirkel Versammelten liest sich bei einigen Reformationshistorikern wie das „Who-is-Who“ der englischen Reformation (Tyndale, Barnes, Cover­ dale, Latimer, Cranmer, Frith, Ridley, Parker u.a.).75 Doch so verlockend es auch scheint, sich alle diese zukünftigen Reformatoren, Kirchenführer und Märtyrer in lebhaftem Diskurs vorzustellen, ist die Idee doch wohl eher das Produkt retrospektiver Verklärung. Es fehlen schlicht die Belege dafür, dass sich die genannten Personen jemals zur gleichen Zeit in Cambridge aufgehal­ ten haben, noch dazu – wie Daniell ironisch bemerkt – „never mind together in the snug of a Tudor pub“76. Von einer Zugehörigkeit Tyndales zu dieser illustren Runde berichtet jedenfalls auch Foxe nichts. Auch ein Aufenthalt Tyndales in Cambridge generell wird von einigen Forschern angezweifelt.77 Gerade die Singularität des Hinweises bei Foxe und seine inhaltliche Unbestimmtheit – Tyndales angebliches „Wachsen in der Erkenntnis Gottes“ – machen eine Cambridge-Phase in der Biographie Tyndales fraglich. Sein Name taucht in den Matrikelregistern der Universität aus den Jahren um 1520 nicht auf;78 ebenso wenig berichten Tyndales Zeitge­ nossen, wie etwa Bale, Barnes u.a., ihm in Cambridge begegnet zu sein. Ins­ besondere der Chronist Bale, der in Cambridge studierte, hätte von einem Aufenthalt Tyndales dort Kenntnis haben müssen. Wie so oft bleibt die Rekonstruktion der Biographie Tyndales auch hier „guesswork“. Wo genau Tyndale die Jahre zwischen seiner Graduierung in Oxford und der folgenden biographischen Station in Little Sodbury verbracht hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nach meiner Auffassung wiegen die inhaltlichen Gründe für einen Aufenthalt in Cambridge, vor allem die Beein­ flussung durch den Humanismus,79 etwas stärker als die schwache Bezeugung durch die Quellen. Eine Studienphase Tyndales dort ist daher m.E. anzuneh­ men.

Verbrennung der Schriften des Reformators auf englischem Boden Ende des Jahres 1520 miterleben können – ein Indiz dafür, wie zahlreich die Lutherschriften in der Stadt kur­ siert haben müssen, vgl. Daniell, Biography, S. 49 f. 75  Besonders Dickens, S. 102–105, räumt dieser Versammlung große Bedeutung ein. In seinem Gefolge spielt die „White Horse Tavern Group“ in vielen Darstellungen der englischen Reformation eine herausragende Rolle. 76  Daniell, Biography, S. 50; vgl. Trueman, Legacy, S. 10. 77  Vgl. Rex, New Light, S. 148 f; auch Daniell, Biography, S. 49–54, bleibt skeptisch. 78  Vgl. Rex, New Light, S. 148. 79  Vgl. Trueman, Legacy, S. 45 ff; s.u. 1.4.3.

1.3  Tyndales Studienzeit

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1.3.3  Tyndale als „Chantry Priest“ Die Frage nach dem, was Tyndale im Anschluss an seine Studienzeit in Ox­ ford (und Cambridge), also etwa im Zeitraum um 1520, getan haben mag, wird durch eine interessante biographische Spur erhellt, auf die Richard Rex gestoßen ist.80 Im Jahr 1522 findet sich der Eintrag eines „William Tyndale, clerk“ auf dem zweiten Platz der Liste des „military fiscal survey“ von Glou­ cestershire als Einwohner der Siedlung Breadstone im Vale of Berkeley.81 Der zweite Platz nach dem „landlord“, in diesem Fall Sir Adrian Fortescue, ist in solchen Listen üblicherweise für den örtlichen Geistlichen vorgesehen. Bread­ stone war zu Beginn des 16. Jahrhunderts keine eigenständige Gemeinde, sondern besaß lediglich eine Stiftungskapelle („chantry chapel“). Der auf der Liste aufgeführte „William Tyndale“ muss also Inhaber dieser Stiftungs­ pfründe gewesen sein, ein sogenannter „chantry priest“. Im Diözesanregister des Bistums Worcester fand Rex einen weiteren Hin­ weis auf Tyndale. Vom Februar 1524 an bekleidete ein gewisser Nicolaus Ast­ ley das Priesteramt in Breadstone; sein Vorgänger im Amt wird hier mit „Do­ mini Willelmi Tyndale alias Hewchyns“82 angegeben. Die Vermutung, dass es sich bei dem so Bezeichneten um den Bibelübersetzer handelt, liegt nahe. Der angegeben Zeitpunkt des Amtsantritts von Astley stimmt mit der wahr­ scheinlichen Chronologie der Biographie Tyndales überein.83 Problematisch ist allerdings, dass im Registereintrag vermerkt ist, Astleys Vorgänger sei „per mortem“ aus dem Amt geschieden. Doch hier ist Rex zuzustimmen, der feststellt: „It is far more likely that a scribe in the diocesan registry mistook or was misinformed about the reason for the vacancy at Breadstone than that there were two clergymen in Gloucestershire in 1522 both called William Tyndale alias Hutchins“84. Zu vermuten ist, dass Tyndale den Posten in Bread­ stone zeitgleich mit seiner Stellung in Little Sodbury85 aufgab, um nach Lon­ don zu gehen: „He may not formally have resigned, in which case he may have been presumed dead either in genuine error or for administrative convenience“86. Es kann also als wahrscheinlich gelten, dass Tyndale um das Jahr 1520 herum eine Pfründe als „chantry priest“ im Vale of Berkeley inne­ 80  81  82 

Vgl. Rex, New Light, S. 148–154. Vgl. a.a.O., S. 149; Brown, S. 22. Eintrag aus: Worcestershire Record Office, Worcester Registry 9 (i), 41; zitiert bei Rex, New Light, S. 150. 83  Vgl. a.a.O., S. 151, s.u. 1.3. 84  Ebd. 85  S.u. 1.4. 86  A.a.O., S. 151 f. Auch die Tatsache, dass ein früherer Eintrag im Diözesanregister aus den 1490er Jahren einen weiteren „William Hechens“ nennt, spricht nicht gegen die Identifizierung des 1524 genannten mit dem Übersetzer Tyndale, da dieser Name für die ersten beiden Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts nicht mehr als Inhaber der Stelle in Breads­ tone nachgewiesen werden kann, vgl. a.a.O., S. 152 f; s.u. 1.5.

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

hatte. Als terminus a quo muss dabei seine Priesterweihe am 7. April 1515 gel­ ten; terminus ad quem ist wahrscheinlich das Jahr 1524. Für die Biographie des Theologen Tyndale ist dieser Umstand vor allem darum von Interesse, weil er Tyndale als Schützling eines Adligen ausweist, dessen altgläubige Gesinnung nicht in Zweifel steht. Sir Adrian Fortescue, der Tyndale mit der Pfründe Breadstone bedachte, wurde 1539 als Gegner der henrizianischen Religionspolitik hingerichtet. Sein Kontakt zu Tyndale rührt möglicherweise schon aus dessen Kindheit und Jugend her, da Fortes­ cue auch über Landbesitz in Tyndales Heimatregion verfügte. Aber auch zwi­ schen Oxford und London könnte Tyndale dem Lord, dessen Hauptsitz Stonor Park an der Verbindungsstraße beider Städte lag, begegnet sein: „What more natural than that William Tyndale, a rising scholar in search of a patron, should have introduced himself to a powerful local gentleman, who was also a landowner in his native region?“87 Das aufgrund seiner umfangreichen Bibliothek zu vermutende Bildungs­ interesse des Adligen könnte für Fortescue seinerseits ein Beweggrund gewe­ sen sein, den Nachwuchskleriker Tyndale mit einem einträglichen Posten in die eigenen Dienste zu stellen und ihn so zu fördern.88 Wie Rex überzeugend ausführt, fällt es angesichts dieses Befundes – der Priester Tyndale im Dienste eines Adligen, der sich später gegen die Loslösung der englischen Kirche von Rom stellt – schwer, einen lollardisch geprägten Hintergrund und theologi­ sche Grundhaltung beim jungen Tyndale zu behaupten.89

1.4  Little Sodbury 1.4.1  Hauslehrer in Gloucestershire Möglicherweise von Cambridge aus führte Tyndales Weg um 1522 zurück in seine Heimat Gloucestershire, wo er im Hause von Sir John Walsh in Little Sodbury eine Stellung als Hauslehrer („scholemaster“90) antrat.91 Foxe stellt diesen Aufenthalt Tyndales ausführlich dar und beruft sich dafür in der 1563er Ausgabe ausdrücklich auf einen Zeitzeugen, den Tyndales erster neuzeitlicher Biograph Robert Demaus – allgemein anerkannt – als Richard Webb aus dem

87  88 

A.a.O., S. 154. Vgl. a.a.O., S. 155 f. Die Pfründe diente wohl der finanziellen Unterstützung Tyn­ dales, dass er auch vor Ort pastoral tätig war, ist eher unwahrscheinlich. Zur Rolle Forte­ scues als desjenigen, der Tyndale in London weiterempfiehlt s.u. 1.5.1. 89  Vgl. a.a.O., S. 156. 90  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224. 91  Vgl. Mozley, S. 22–36; Daniell, Biography, S. 54–79.

1.4  Little Sodbury

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benachbarten Chipping Sodbury identifiziert hat.92 Die biographische Dar­ stellung von Foxe kann also einen hohen Grad an Verbindlichkeit beanspru­ chen. Sie wird z.T. von Tyndale selbst verifiziert, wenn er im Vorwort zu sei­ ner Pentateuchübersetzung von 1530 seine Motivation zur Bibelübersetzung darstellt und darin auch auf seine Zeit in Gloucestershire Bezug nimmt.93 Zunächst wirkt Tyndales Rückkehr nach Gloucestershire allerdings unge­ wöhnlich. Warum zog es den aufstrebenden Gelehrten zurück in die Pro­ vinz? Was ließ ihn keine der sonst üblichen Karrieren an der Universität, in der Kirche oder im Staatsdienst anstreben?94 Die Gründe für die Rückkehr in die Heimat werden in der Forschung dis­ kutiert. Daniell vermutet, dass Tyndale bewusst eine Stellung annahm, die ihm genug Freiraum ließ, seinen eigentlichen Plan, die Übersetzung des Neuen Testaments, in Ruhe und in gesicherten Verhältnissen anzugehen.95 Dies setzt allerdings voraus, dass Tyndale bereits mit diesem festen Vorhaben nach Little Sodbury kam. Die Ausführlichkeit, mit der Foxe seinen Aufent­ halt dort beschreibt und Tyndales eigene Anspielung auf diese Jahre legen da­ gegen nahe, dass der Plan zur Übersetzung der Schrift erst in Gloucestershire heranreifte. Die Zeit in Little Sodbury war für Tyndale darum tatsächlich die „crucial phase in his career“96. Es ist deshalb naheliegender, der Erklärung Mozleys zu folgen, der Tynda­ les Interesse an einer Hauslehrerstelle in der Provinz ganz handfest begrün­ det: „a man must live […] A tutorship in Gloucestershire would offer him a refuge and an honourable livelihood; he could teach his little pupils godliness and sound learning, and he would be free to preach as opportunity arose“97. Die Stellung bei der Familie Walsh könnte für Tyndale also schlicht – neben seiner Pfründe als „chantry priest“ by Sir Adrian Fortescue – eine willkom­ mene (zusätzliche) Sicherung seines Lebensunterhalts bedeutet haben. Zu der Position bei den Walshs, die zu den wohlhabenden und einflussrei­ chen Adelsfamilien der Grafschaft gehörten, dürfte Tyndale seine Familie, möglicherweise sein Bruder Edward, verholfen haben. Sir John war überdies verheiratet mit Anne Poyntz, einer entfernten Verwandten jenes Thomas Poyntz, der Tyndale in seiner Antwerpener Zeit und insbesondere während seines Prozesses 1535–36 freundschaftlich verbunden war.98 Das Ehepaar 92  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 517 f; Vgl. Demaus, S. 66 f; Mozley, S. 26; Daniell, Biography, S. 61 f. 93  Vgl. Preface Genesis, PS 1, S. 394–397; s.u. 4.3.1. 94  Vgl. Smeeton, Lollard Themes, S. 50: „Tyndale’s move at this point is an enigma which has never been satisfactorily explained“; vgl. auch C.H. Williams, S. 5 f. 95  Vgl. Daniell, Biography, S. 59. 96  C.H. Williams, S. 8. 97  Mozley, S. 22. 98  Zum Hintergrund der Familie und insbesondere zu Sir John Walsh vgl. Mozley, S. 23 f; Daniell, Biography, S. 54 f; Rex, New Light, S. 156 f. Smeeton, Lollard Themes,

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hatte mehrere Kinder, die zum Zeitpunkt des Eintreffens Tyndales in Little Sodbury 1522 noch relativ jung gewesen sein müssen. Foxe berichtet lapidar, Tyndale sei der „scholemaster“ 99 dieser Kinder gewesen. Seine Tätigkeit dürfte daher vor allem im Unterrichten der wesentlichen Inhalte des Lateini­ schen sowie der Arithmetik und anderer zeitgenössischer Bildungsinhalte be­ standen haben.100 Darüber hinaus berichtet Foxe an anderer Stelle, Tyndale habe sich auch als Prediger im nahen Bristol hervorgetan.101 Diese Informa­ tion sticht insofern heraus, da sonst von einer Predigttätigkeit Tyndales oder von anderen priesterlichen Aufgaben in Little Sodbury (wo zum Anwesen auch eine Familienkapelle gehörte) keine Rede ist. Tyndale hat bei der Fami­ lie Walsh offensichtlich eine reine Lehrtätigkeit ausgeübt, an anderem Ort je­ doch auch als Prediger gewirkt.102 Das Predigen kann daher nur als von Tyn­ dale selbstgewählte Tätigkeit verstanden werden. Möglicherweise hatte er sich auch schon einen gewissen Ruf als „Bibelkenner“ erworben, der Einla­ dungen zum Predigen nach sich zog. Daniell bemerkt zurecht: „We would give much to know about those preachings“103. Doch leider ist außer der Bemerkung bei Foxe nichts darüber bekannt. Die Tatsache, dass Tyndale sich möglicherweise auch als Prediger hervortat, könnte darauf hindeuten, dass er sich bewusst von der gängigen Praxis des Klerus seiner Zeit absetzte. Menschen die Schrift in der Predigt auszulegen – aus Foxe Angaben ist zu schließen, dass Tyndale „open-air“, also wohl zu größeren Mengen, sprach104 – entsprach nicht dem so oft (auch von Tyndale selbst) kritisierten Klerikerbild, wohl aber dem Anspruch der Huma­ nisten.105 Dieser Schluss aus der Notiz über Tyndales Predigttätigkeit berührt sich mit einer auch sonst in der Little-Sodbury-Zeit greifbaren inhaltlichen Neuorientierung Tyndales, die besonders in seinen Auseinandersetzungen mit dem lokalen Klerus aufscheint. S. 51, vermutet bei John Walsh eine (lollardisch geprägte) reformorientierte Einstellung, gibt aber selbst zu, dass die Argumente, die er dafür anführen kann, nicht mehr sind als „small hints“. In Übereinstimmung mit dem Bericht von Foxe ist dagegen mit Rex, New Light, S. 159, festzustellen: „Tyndale did not find heresy in Gloucestershire. He brought it“; s.u. 7.1.1 und (zu Poyntz) 7.8.2. 99  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224. 100  Vgl. Mozley, S. 24. 101  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225. 102  Vgl. Daniell, Biography, S. 56–59. Daniell geht freilich davon aus, dass Tyndales Predigttätigkeit schon ganz von seiner Übersetzungsarbeit am Neuen Testament geprägt war. 103  A.a.O., S. 56. Einen Überblick über Tyndales Predigttätigkeit, der jedoch biswei­ len historisch spekulativ bleibt, bietet Smeeton, Pastoral Care, S. 262–266. 104  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225; Daniell, Biography, S. 56 f. 105  Vgl. Seebass, S. 65 f.

1.4  Little Sodbury

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1.4.2  Die Auseinandersetzung mit dem Klerus und der Plan zur Bibelübersetzung Das Haus von Sir John und Lady Anne war gastfreundlich und bot dem jun­ gen Hauslehrer Gelegenheit, sich nicht nur mit seinen Arbeitgebern, sondern darüber hinaus mit „allerlei Äbten, Dekanen, Archidiakonen, mit anderen di­ versen Doktoren und mit großen Pfründen versehenen Männern“106 auszu­ tauschen. Offensichtlich hatten die theologischen Streitfragen der Zeit auch in der englischen Provinz Aufmerksamkeit erregt und wurden im Hause Sir Johns lebhaft diskutiert. Foxe berichtet von „talke of learned men, as of Lu­ ther and of Erasmus: Also of diuers other controuersies and questions vpon the Scripture“107. Bei diesen Unterredungen muss sich Tyndale – als Gelehr­ ter unter seinesgleichen – dadurch hervorgetan haben, dass er die Argumente der anderen durch den Hinweis auf die Schrift zu widerlegen pflegte. Folgt man Foxe’ Darstellung, so ist der Hauslehrer Tyndale bei diesen Gelegenhei­ ten den anwesenden geistigen Lokalgrößen auf Dauer wohl zu nahe getreten: „Auf die Dauer wurden sie es leid und hegten einen heimlichen Groll gegen ihn in ihren Herzen“108. Auch Tyndales Arbeitgeber nahmen die Art und Weise, wie sich der Leh­ rer ihrer Kinder in die Gespräche mit ihren Gästen einbrachte, offensichtlich nicht unkritisch hin. Es gelang Tyndale jedoch, sie von der Richtigkeit seiner Argumente zu überzeugen.109 In der Folge nahmen daher – wie Foxe berich­ tet – die Einladungen nach Little Sodbury an die Kleriker ab.110 Doch der Konflikt mit der örtlichen Priesterschaft zog schon bald größere Kreise, als die „Doctorly Prelates“111 versuchten, Tyndale bei den lokalen kirchlichen Behörden als mutmaßlichen Häretiker zu verleumden.112 Der widerborstige Standesgenosse musste sich bei einer Versammlung des Diöze­ sanklerus vor Erzdiakon John Bell, dem Kanzler des Bischofs, für seine Posi­ tionen verantworten und berichtet im Vorwort zu seiner Pentateuchübertra­ gung selbst Folgendes von diesem Verhör: „Und tatsächlich, als ich vor den Kanzler kam, bedrohte er mich aufs Ärgste, be­ schimpfte mich, behandelte mich wie einen Hund, und legte mir die Anschuldigung gegen mich vor, für die sich aber kein Ankläger fand (denn es ist dort nicht üblich, ei­

106  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224: „sondry Abbots, Deanes, Arch­ deacons, w[i]t[h] other diuers Doctors & great beneficed mē[n]“. 107  A.a.O., S. 1225. 108  Ebd.: „at length they waxed wery, & bare a secret grudge in their hartes agaynst hym“. 109  S.u. 1.4.3. 110  Vgl. ebd; Mozley, S. 28. 111  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225. 112  Vgl. Preface Genesis, PS 1, S. 394 f; vgl. auch Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225.

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

nen Ankläger zu bestellen), und das, obwohl alle Priester des Bezirks an diesem Tag zugegen waren“113.

Auch Foxe zufolge konnte Tyndale im Verhör nichts Häretisches zur Last gelegt werden: „Und so entschwand Meister Tyndale nach diesen Verhören – aus ihren Händen fliehend – nach Hause und kehrte erneut zu seinem Herrn zurück“114. Trotz dieses für Tyndale positiven Ausgangs des Konflikts gehört das un­ mittelbare Erlebnis klerikaler Ignoranz und Verschlagenheit zu den prägen­ den Erfahrungen in Tyndales Biographie, die seine Einstellung zum Klerus maßgeblich geprägt hat. Seine eigene Schilderung der Ereignisse macht dies deutlich: „Als ich aber in dem Landstrich, in dem ich war, so in Bedrängnis geriet, dass ich nicht länger dort bleiben konnte […], dachte ich bei mir selbst: All das muss ich erleiden, weil die Landpriester so ungelehrt sind. Gott selbst weiß, sie sind von einer völlig un­ wissenden Sorte, die nicht mehr vom Lateinischen zu Gesicht bekommen hat, als in ihren Brevieren und Messbüchern steht, die manche von ihnen sogar kaum lesen können“115.

Tyndale sieht in der mangelnden Bildung die Ursache für das Vorgehen seiner Standesgenossen gegen ihn. In diesen Worten klingt – neben dem auch Jahre später noch spürbaren Ärger Tyndales – auch ein tiefes Bedauern mit, denn die Unwissenheit des Klerus verstand Tyndale zugleich auch als Ursache für die Unkenntnis der Laien – ein Zustand, den er selbst mit seiner Überset­ zungsarbeit zu bekämpfen suchte. Tyndale kommt daher auf seine eigenen negativen Erfahrungen mit dem Klerus in einem Zusammenhang zu spre­ chen, in dem er seiner Leserschaft seine Motivation zur Übersetzung der Hei­ ligen Schrift darlegen will: „Welches einzig mich dazu bewegte, das Neue Testament zu übersetzen. Weil ich aus eigener Erfahrung erkannt hatte, dass es unmöglich wäre, die Laien in der Wahrheit zu gründen, es sei denn dadurch, dass die Schriften ihnen klar in ihrer Muttersprache 113  Preface Genesis, PS 1, S. 395: „And indeed, when I came before the chancellor, he threatened me grievously, and reviled me, and rated me as though I had been a dog, and laid to my charge whereof there could be none accuser brought forth, (as there manner is not to bring forth the accuser) and yet all the priests of the country were the same day there“; vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225; Mozley, S. 29 ff; Da­ niell, Biography, S. 74–79. 114  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225: „And thus M. Tyndall after those examinations escapyng out of their handes, departed home and returned to his mas­ ter agayne“. 115  Preface Genesis, PS 1, S. 394: „For when I was so turmoiled in the country where I was, that I could no longer dwell there […], I this-wise thought in myself: This I suffer because the priests of the country be unlearned; as God it knoweth, there are a full igno­ rant sort, which have seen no more Latin than that they read in their portesses and missals, which yet many of them can scarcely read“.

1.4  Little Sodbury

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vor Augen geführt würden, so dass sie den Fortgang, die Ordnung und die Bedeutung des Textes sehen könnten“ 116.

Der enge Zusammenhang zwischen eigener Negativerfahrung und neuer Le­ bensaufgabe ist in diesen Zeilen mit Händen zu greifen. Zugleich wird hier ein Charakterzug Tyndales deutlich, der sich auch in anderen Schriften im­ mer wieder findet, nämlich seine Kompromisslosigkeit gegenüber für falsch erachteten Positionen und offensichtlichem Machtmissbrauch. Mozley bringt diesen Wesenszug Tyndales treffend auf den Punkt: „he could not bring himself to make terms with the ignorance and bigotry around him“117. Zusammenfassend erscheint Tyndales Aufenthalt in Little Sodbury tat­ sächlich in mehrfacher Hinsicht entscheidend für seinen weiteren Lebensweg. Hier bildete sich zum ersten Mal die grundlegende Front heraus, die sein Le­ ben bestimmen sollte: Der einzelne Gelehrte im Gegenüber zum ignoranten Klerus. Zugleich nötigte ihn offensichtlich gerade diese Frontstellung zu ei­ ner entschlossenen Parteinahme zugunsten der humanistisch-reformatori­ schen Option, die ihn auch weiterhin prägte. Sie wird im Folgenden noch näher zu betrachten sein.118 Schließlich war wohl ebenfalls während der Zeit in Little Sodbury Tyndales Entschluss gereift, seinen Beitrag zur Verände­ rung der kirchlichen Missstände dadurch zu leisten, dass er den Laien eine Bi­ bel in ihrer Sprache an die Hand gab und ihnen so ermöglichte, auch ohne den ignoranten Klerus mit der Wahrheit des Wortes Gottes zu leben. 1.4.3  Begegnung mit Humanismus und Reformation: „talke of learned men, as of Luther and of Erasmus“119 Inwiefern war nun Tyndales Position in der Auseinandersetzung mit dem Landklerus von Gloucestershire schon von humanistischem oder reformato­ rischem Geist bestimmt? Aufschluss darüber gibt eine Episode, die Foxe über­ liefert. Nachdem sich Kleriker bei den Walshs über den diskussionsfreudigen Hauslehrer beschwert hatten, wurde dieser demnach von der Herrin des Hau­ ses, Lady Anne, mit folgenden Worten zur Rede gestellt: „Nun (sagte sie), da wäre ein Doktor, der hundert Pfund ausgeben könnte und ein an­ derer mit zweihundert und noch ein anderer mit dreihundert Pfund zur Verfügung – und welchen vernünftigen Grund, denkst du, gibt es, dass wir dir mehr glauben soll­ ten als ihnen?“ 120 116 

Ebd.: „Which thing only moved me to translate the new Testament. Because I had perceived by experience, how that it was impossible to establish the lay-people in any truth, except the scripture were plainly laid before their eyes in their mother-tongue, that they might see the process, order, and meaning of the text“. 117  Mozley, S. 31. 118  S.u. 1.4.3 und 1.4.4. 119  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225. 120  Ebd.: „Well (sayd she) there was such a Doctor which may dispend a C. l. and an

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Tyndale reagierte auf diese Infragestellung seiner Autorität klugerweise nicht direkt, sondern setzte auf ein anderes Mittel, um seine Herrschaft von der Richtigkeit seiner Positionen zu überzeugen. Er übersetzte seinen Arbeitge­ bern das „Enchiridion Militis Christiani“ des Erasmus ins Englische.121 Und tatsächlich zeigte die Lektüre durch die Hausherren die beabsichtigte Wir­ kung: „Nachdem sie [d.i. Sir John und seine Gattin] dieses [d.i. die Übersetzung des „Enchi­ ridion“] gelesen und geprüft hatten, wurden die gelehrten Prälaten nicht mehr so häu­ fig ins Haus geladen, und wenn sie kamen, so fehlte es ihnen doch an der festlichen Stimmung und Haltung, die sie zuvor an den Tag gelegt hatten“122.

Vorausgesetzt, der Bericht von Foxe entspricht den Tatsachen, dann ist die Wahl des „Enchiridion“ als „Überzeugungshilfe“ „a choice not without con­ siderable significance for a correct understanding of Tyndale’s intellectual development“123. Die Episode macht zunächst deutlich, dass Tyndale mit dem Werk des großen Humanisten vertraut war. Anzunehmen ist, dass er bereits in Oxford oder (noch wahrscheinlicher) in Cambridge mit den Schriften des Eras­ mus in Berührung gekommen war und diese offensichtlich positiv rezipiert hatte.124 Das humanistische Credo „ad fontes“ sollte Tyndale wenig später mit seiner Bibelübersetzung aus den Ursprachen mustergültig umsetzen und sich dabei auch auf das „Novum Instrumentum“ des Erasmus von 1516 stützen.125 Foxe legt Tyndale sogar jene immer wieder zitierten Worte in den Mund, die stark an Erasmus’ „Paraclesis“ zum „Novum Instrumentum“ erinnern: „Falls Gott ihm Leben schenke, würde er, noch bevor viele Jahre verstrichen seien, ei­ nem Jungen, der den Pflug zieht, größere Kenntnis der Schrift vermitteln, als er [d.i. der Papst] sie besitzt“126. other. ij. C. l. and an other. iij. C. l. and what? were it reason, thinke you, that we should beleue you before them?“. 121  Zu dieser ersten Übersetzungsarbeit Tyndales vgl. Daniell, Biography, S. 64–74. Die erste gedruckte englische Ausgabe des „Enchiridion“, das – 1503 erstmals erschienen – ab 1518 eine weite Verbreitung in ganz Europa fand, stammt aus dem Jahr 1530. Daniell will die Identität dieser Ausgabe mit der Übersetzung Tyndales, die offensichtlich in mehreren Abschriften existiert haben muss, nicht ganz ausschließen. A. Richardson, Quarrel, S. 51, Anm. 21, führt weitere Befürworter dieser These an. Sie selbst hält die Übersetzerschaft Tyndales allerdings aufgrund des „dull English“ der Übersetzung von 1530 für unwahrscheinlich. 122  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225: „after they had read and well perused the same, the Doctorly Prelates were no more so often called to the house, neither had they the cheare and countenaunce whē they came, as before they had“. 123  Trueman, Legacy, S. 10. 124  Eine vergleichende Studie zu Erasmus, Tyndale and More hat Campbellvorgelegt, in der er sich aber vor allem auf das Verhältnis von More und Erasmus konzentriert. 125  Vgl. Daniell, Biography, S. 59 ff; A. Richardson, Quarrel, S. 48 f.; Holeczek, S. 250. 126  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225: „if God spared hym life, ere

1.4  Little Sodbury

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Auch in Tyndales eigenen Schriften lassen sich durchaus Punkte finden, in de­ nen er Erasmus verpflichtet ist und inhaltlich mit ihm übereinstimmt: So weiß er sich mit Erasmus einig in seiner Kritik an der scholastischen Theolo­ gie, wie dieser sie vor allem im „Lob der Torheit“ (1511) formuliert hat.127 Auch die Kleruskritik des Erasmus, für deren Berechtigung Tyndale in Glou­ cestershire anschauliche Beispiele aus seiner unmittelbaren Umgebung vor Augen hatte, ist ein Punkt der Übereinstimmung. Möglicherweise hat auch der ethische Akzent in der „Philosophia Christi“128 des Erasmus Tyndale in seiner eigenen Betonung der Heiligung des christlichen Lebens nachhaltig geprägt.129 Sieht man allerdings Tyndales Schriften im Zusammenhang, wird rasch deutlich, dass die frühe Hochschätzung des Erasmus im Laufe seiner weite­ ren theologischer Entwicklung nachlässt bzw. sich sogar ins Gegenteil ver­ kehrt.130 Hier ist neben der unterschiedlichen Bewertung klassischer (heidni­ scher) Texte und der Haltung zur Allegorese131 als Methode der Schriftausle­ gung vor allem ein grundlegender theologischer Dissens in der Hermeneutik biblischer Texte zu nennen.132 Während Erasmus im Neuen Testament vor many yeares he would cause a boy that driueth the plough to know more of the Scripture, then he did“; vgl. Erasmus, Paraclesis (1516), Ausgewählte Schriften 3, S. 14: „Utinam hinc ad stivam aliquid decantet agricola“; vgl. dazu Reventlow, S. 62; A. Richard­ son, Quarrel, S. 53; Mozley, S. 33 f; Daniell, Biography, S. 79; Greenblatt, S. 106; Holeczek, S. 251. Moynahan gibt seiner populärwissenschaftlichen Biographie den Titel: „William Tyndale. If God spared my life“. 127  Vgl. Erasmus, Mwr6aV ErkÒmion sive Laus Stultiae, Ausgewählte Schriften 2, S. 1–211. A. Richardson, Quarrel, S. 48 f, nimmt an, dass Tyndale Erasmus möglicher­ weise durch diese höchst populäre Schrift kennengelernt hat, s.o. 1.3.1. 128  Vgl. Lohse, Erasmus, S. 59 f. 129  Dies ist besonders gegenüber denjenigen anzumerken, die Tyndales „Moralismus“ aus einer lollardischen Prägung ableiten wollen, vgl. z.B. Smeeton, Lollard Themes, S. 255; Ohst, Tyndale, S. 150. 130  Gegen John K. Yost, der die These vertreten hat, Tyndale sei zeitlebens Humanist bzw. „a protestant advocate[s] of humanist reform“ (Yost, Humanist Origins, S. 168) ge­ blieben (schon diese Definition lässt zurückfragen, ob nicht alle Reformatoren auch An­ wälte für Anliegen des Humanismus gewesen sind). Yost versucht, inhaltliche Überein­ stimmungen Tyndales mit humanistischen Autoren aufzuzeigen, etwa im Verständnis der religiösen Rituale als Zeichen oder der Kritik am Papsttum. Seine Kriterien sind je­ doch so pauschal, dass der Nachweis einer bleibenden humanistischen Prägung misslingt. Allein Tyndales Lutherrezeption und die damit verbundenen theologischen Kernthemen sprechen für eine über Erasmus hinausgehende theologische Entwicklung Tyndales (s.u. 2.2.2 und 2.7.1). 131  Gegen Yost, Fathers, S. 9, der behauptet: „Tyndale did not reject the use of allegory in scriptural interpretation, but he cautioned the reader against its dangers and urged res­ traint in its use“, vgl. Obedience, PS 1, S. 307 (PC, S. 160): „The greatest cause of which captivity and the decay of the faith and this blindness wherein we now are, sprang first of allegories“. 132  Vgl. A. Richardson, Quarrel, S. 53 ff; DeCoursey, Bible-reading, S. 159–162; Reventlow, S. 60 f.

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

allem auf Christus als die Verkörperung ethischer Werte, die der Christen­ mensch anstreben, ja denen er sich ganz hingeben soll, abhebt, ist Tyndales Ansatzpunkt ein gänzlich anderer.133 Für ihn geht es nicht in erster Linie um „christliche Tugenden als Mittel auf dem Weg der Einkehr und Nachfolge“134, es ist vielmehr das rechtfertigungstheologisch gedachte Heilsgeschehen in Christus, das im Zentrum der Schrift, eben des „Neuen Testaments oder Bun­ des, der mit uns geschlossen wurde durch Gott im Blut Christi“135, steht. Tyn­ dale ist hier viel näher bei Luther und anderen Reformatoren zu verorten als in der Tradition des Erasmus. Mit dieser Abkehr von Erasmus, die sich in den kommenden Jahren herausbilden wird, steht Tyndale nicht allein, sondern vollzieht vielmehr eine Entwicklung nach, die auch bei anderen „biblischen Humanisten“136 in ähnlicher Weise anzutreffen ist. Der theologische Graben zwischen dem Humanistenfürsten und dem Wittenberger Reformator, der in der literarischen Fehde um das Jahr 1525 seine endgültige Zuspitzung fand, prägt auch Tyndales eigenes Verhältnis zum Humanismus.137 Aus der Tatsache, dass Tyndale 1522 das „Enchiridion“ als Wegweiser für ein wahrhaft christliches Leben an seine Arbeitgeber weitergibt, lässt sich je­ doch schließen, dass dieser inhaltliche Dissens in Little Sodbury noch nicht bestand.138 Es ist eben keine Schrift Luthers, die Tyndale überträgt, obwohl sich auch Luthers Freiheitsschrift von 1520 als Einführung in das Christen­ tum – freilich mit einer deutlich anderen Akzentsetzung als bei Erasmus – ge­ eignet hätte.139 Der Hauslehrer von Little Sodbury sieht im „Handbüchlein“ 133  Vgl. Erasmus, Enchiridion (1518), Ausgewählte Schriften 1, S. 168–181; vgl. A. Richardson, Quarrel, S. 52 f; DeCoursey, Bible-reading, S. 157 f. 134  Lohse, Erasmus, S. 64. 135  W.T. unto the Reader, PS 1, S. 468: „new Testament, or covenant made with us of God in Christ’s blood“; dazu ausführlich s.u. 7.3. 136  Augustijn, S. 121. Augustijn, S. 126 f, nennt Melanchthon, Spalatin, Bugenha­ gen, Jonas, Bucer und Capito. Von Zwingli ist eine Aussage überliefert, der in seiner en­ gen Verknüpfung der Namen Luther und Erasmus an Foxes Aussage zu Tyndales „table talk“ in Little Sodbury erinnert: „Ceterum Luther doctis omnibus Tyguri probatur et Erasmi compendium“ (Zwingli, Brief an Beatus Rhenanus vom 22. Februar 1519, Z VII, CR 94, S. 139,15 ff), vgl. Trueman, Legacy, S. 46. 137  Richardson ist darum nicht zuzustimmen, wenn sie schreibt: „The question of where Tyndale’s loyalties lay, as between Erasmus and Luther, is somewhat complicated“ (A. Richardson, Quarrel, S. 61). Ungeachtet der theologischen Übereinstimmungen zwischen Tyndale und Luther, von denen noch die Rede sein wird (s.u. 5.3.5.3), ist allein angesichts der zustimmenden Verwendung von Luthertexten in Tyndales eigenen Schrif­ ten eine Bemerkung wie: „Never in his career did Tyndale say that Luther was right and Erasmus wrong“ (a.a.O., S. 62), nicht nachzuvollziehen. 138  Vgl. Trueman, Legacy, S. 46. 139  Luthers Schriften kursierten in England etwa seit dem Jahr 1520, in dem bereits ihre erste öffentliche Verbrennung in Cambridge stattfand (vgl. Dickens, S. 103; Elton, Luther, S. 121 ff; eine gute knappe Zusammenfassung der Lutherrezeption in England in den beginnenden 1520er Jahren bietet Atkinson, S. 677 ff). Tyndale ist möglicherweise schon im Studium in Cambridge mit Werken Luthers in Berührung gekommen (vgl.

1.4  Little Sodbury

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des Erasmus eine gültige Zusammenfassung des christlichen Glaubens, die er übersetzt und weiterempfiehlt.140 Dass auch Luther von Foxe als Gesprächs­ thema am herrschaftlichen Tisch genannt wird, kann darum nur bedeuten, dass Tyndale zu diesem Zeitpunkt auch Luther „along Humanist lines“141 verstand, als einen weiteren Exponenten für ein „geläutertes verinnerlichtes Christentum“142 wie das des Erasmus. Das eigentliche „Kennenlernen“ der Positionen Luthers und eine erste Differenzierung zwischen Erasmus und dem Wittenberger hat daher wahrscheinlich erst in London stattgefunden, als Tyndale besseren Zugang zu Luthers Schriften bekam und näheren Umgang mit dessen Sympathisanten pflegte.143 Erste Anzeichen einer Transformation von Tyndales theologischem Stand­ punkt über die Kleruskritik eines Erasmus hinaus zeigen sich möglicherweise aber schon gegen Ende seiner Zeit in Gloucestershire. Foxe berichtet von ei­ nem Gespräch Tyndales mit einem Gelehrten, „der früher ein alter Kanzler eines Bischofs gewesen war, ein altvertrauer Bekannter Meister Tyndales, den er zudem sehr schätzte“144. Dieser alte Gelehrte, den Mozley als William La­ timer (gest. 1545) identifiziert hat,145 konfrontiert Tyndale erstmals mit der­ jenigen kirchenkritischen Identifizierung, die ihn stark prägen sollte, denn er fragt: „Weißt du denn nicht, das der Papst eben jener Antichrist ist, von dem die Schrift spricht?“146 Am Ende von Foxe’ Darstellung der Little-SodburyZeit ist es dann Tyndale selbst, der im Zusammenhang mit dem oben zitierten Wort vom „Jungen, der den Pflug zieht“ bekennt: „Ich widersetze mich dem Papst und all seinen Gesetzen“ 147. Mögen diese Begebenheiten, von denen Foxe erzählt, auch nicht historisch überprüfbar sein, so spiegelt der Bericht möglicherweise doch die geistige Entwicklung Tyndales von einer humanistisch motivierten Kleruskritik zur radikalen Abkehr von der Papstkirche. Zum eigentlichen Movens dieser Ent­ Trueman, Legacy, S. 46). Halle schreibt in seiner Chronik, Tyndale habe schon in Oxford zum eigenen Schriftstudium Luthers Schriften herangezogen (zitiert bei Brown, 38) – eine anachronistische Datierung, da Luther erst 1517 an die Öffentlichkeit trat, als Tyn­ dale Oxford schon zwei Jahre verlassen haben dürfte, vgl. dazu Smeeton, Lollard Themes, S. 45. Auch Tyndales Vorliebe fürs Predigen setzt „noch keine reformatorische Überzeu­ gung im Sinne Luthers“ (Holeczek, S. 251) voraus. 140  Vgl. Demaus, S. 69–77; Holeczek, S. 251. 141  Trueman, Legacy, S. 46. 142  Lohse, Erasmus, S. 62. 143  S.u. 1.5.2. 144  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225: „that had ben an old Chauncel­ lour before to a Byshop, who had ben of old familiar acquayntance with M. Tyndall and also fauored hym well“. 145  Vgl. Mozley, S. 32; Daniell, Biography, S. 77; McConica, Latimer, S. 301 ff. 146  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225: „do you not know that the Pope is very Antichrist, whom the Scripture speaketh of?“. 147  Ebd.: „I defie the Pope and all hys lawes“.

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wicklung wurde dabei in den kommenden Jahren das Vorhaben, das als das wichtigste Ergebnis der entscheidenden Phase in Little Sodbury anzusehen ist: Tyndales Plan zur Übersetzung der Heiligen Schrift.148

1.5  London 1.5.1  Die gescheiterte Bibelübersetzung: „my lord answered me, his house was full“ 149 In den Auseinandersetzungen mit dem lokalen Klerus war in Tyndale der Ent­ schluss gereift, die Heilige Schrift dürfe nicht den ignoranten Kirchenmän­ nern vorbehalten sein, sondern müsse allen Menschen zugänglich gemacht werden.150 Mit diesem Plan nahm er Abschied von John Walsh und seiner Fa­ milie und wandte sich im Jahr 1523 nach London,151 wo er sich in dem seit ei­ nem Jahr im Amt befindlichen Bischof Cuthbert Tunstall (1474–1559)152 einen Förderer seines Vorhabens erhoffte.153 In der Wahl des Londoner Bischofs als möglichem Mäzen zeigt sich erneut die humanistische Prägung Tyndales zu diesem Zeitpunkt, denn er selbst nennt Erasmus als geistigen Urheber dieser Idee: „Als ich daran dachte, kam mir der Bischof von London in Erinnerung, den Eramus (dessen Zunge aus kleinen Mücken große Elefanten zu machen versteht und der jeden über die Sterne erhebt, der ihm ein kleines Stipendium verschafft), unter anderem in seinen Anmerkungen zum Neuen Testament außerordentlich rühmt für seine große Gelehrsamkeit. Damals dachte ich, wenn ich in den Dienst dieses Mannes treten könnte, wäre ich glücklich“154.

Tatsächlich war Tyndale nicht nur an der logistischen und finanziellen Unter­ stützung durch den Humanistenfreund Tunstall interessiert. Bei einem Bi­ schof die Genehmigung für eine Übersetzung der Bibel einzuholen, war un­ umgänglich, da der Gebrauch (und natürlich die Herstellung) von englischen 148  149  150  151 

Vgl. Holeczek, S. 257 f. Preface Genesis, PS 1, S. 396. Vgl. Holeczek, S. 251 f. Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1225 f, zur Datierung vgl. Wal­ ter, S. xxv. 152  Vgl. McConica, Tunstall. 153  Vgl. Mozley, S. 39–44; Daniell, Biography, S. 83–87. 154  Preface Genesis, PS 1, S. 395: „As I this thought, the bishop of London came to my remembrance, whom Erasmus (whose tongue maketh of little gnats great elephants, and lifteth up bove the stars whosoever giveth him a little exhibition,) praiseth exceedingly, among other, in his Annotations on the New Testament, for his great learning. Then thought I, if I might come to this man’s service, I were happy“; vgl. A. Richardson, Quarrel, S. 59.

1.5  London

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Bibeln 1408 im Zuge der Zurückdrängung der Lollardenbewegung durch die „Oxford Constitutions“ mit der Todesstrafe bedroht war.155 Um Zugang zu Tunstall zu bekommen, wandte sich Tyndale zunächst an Sir Henry Guildford, einen Höfling, den er nach eigenen Angaben „durch die Bekanntschaft mit meinem Herren“156 kennenlernte. Rex hat überzeugend nachgewiesen, dass Tyndale mit dem „Herren“ wohl nicht Sir John Walsh, sondern Sir Adrian Fortescue meinte.157 Tyndale legte Guildford zum Erweis seiner Fähigkeiten als Übersetzer eine Übertragung einer „Oratio“ des Iso­ krates vor.158 Auch dieses „Gesellenstück“, mit dem Tyndale den Adligen (und den Bischof) überzeugen wollte, zeugt von seiner humanistischen Über­ zeugung: „for Tyndale to be offering a word of Isocrates is for him to be showing himself to be going back to the fountainhead of a system of rhetoric thought of as a main source of virtue“159. Guildford unterstützte Tyndales Anliegen, sprach bei Tunstall vor, ließ Tyndale einen Brief an den Bischof schreiben und in dessen Haushalt ab­ geben,160 doch gelang es nicht, Tunstall als Förderer für eine Bibelüberset­ zung zu gewinnen. Tyndale selbst berichtet: „Woraufhin mein Herr [d.i. Tunstall] mir antwortete, sein Haus sei voll, er habe mehr als genug und mir riet, in London zu suchen, wo es an Dienststellungen nicht mangeln werde“ 161.

Aus dieser Schilderung der Absage Tunstalls geht nicht hervor, ob Tyndale selbst mit dem Bischof gesprochen hat, oder ob ihm diese abschlägige Ant­ wort nur übermittelt wurde. Sie muss ihn jedenfalls sehr getroffen haben, 155  Verschiedene Synoden hatten im Hoch- und Spätmittelalter die Verbreitung von Übersetzungen der Heiligen Schrift in der Volkssprache untersagt, um vermeintliche Häresien abzuwehren. So geschehen etwa durch die Regionalsynode in Toulouse 1229, die im Gefolge der Katharerkreuzzüge häretische Übersetzungen und Predigten verhin­ dern wollte. Ähnliche Beschlüsse gab es 1234 in Tarragona für Spanien (vgl. Seckler, Sp. 1515 f). In England hatte die 1408 in Oxford abgehaltenen Synode ein Verbot volksspra­ chiger Bibeln erlassen, vgl. Zwink, Entdeckung, S. 288; Holeczek, S. 253; Rex, Lollards, S. 75 f; Daniell, Biography, S. 96; Zschoch, Mittelalter, S. 251 f. (Bis heute ist die Verbrei­ tungserlaubnis für volkssprachige Bibeln in der röm.-kath. Kirche eingeschränkt, vgl. Canon 825 des CIC von 1983). 156  Preface Genesis, PS 1, S. 395: „through the acquaintance of my master“. Smeeton, Lollard Themes, S. 54 f, besonders Anm. 118, versucht mithilfe einer von Guildford 1530 ins Parlament eingebrachten Liste mit Beschwerden über den Klerus seine lollardische Gesinnung nachzuweisen. Die angeführte Kleruskritik allein reicht jedoch für eine solche Einordnung nicht aus, da sie nicht zwingend ein lollardisches Spezifikum darstellt. 157  Vgl. Rex, New Light, S. 156 ff. 158  Vgl. Daniell, Biography, S. 87–90.391 (Appendix C). 159  A.a.O., S. 88. 160  Vgl. Preface Genesis, PS 1, S. 395. 161  A.a.O., S. 396: „Whereupon my lord answered me, his house was full; he had more than he could well find; and advised me to seek in London, where he said I could not lack a service“.

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denn sein Urteil über den Bischof fällt an anderer Stelle harsch und – bezogen auf das Verhalten Tunstalls 1523 – wohl auch ungerecht aus,162 denn er be­ schreibt ihn als „stillen Saturn, der selten spricht, jedoch täglich auf und ab geht, Unheil ausheckt und sich ausmalt; ein duckmäuserischer Heuchler, ge­ macht, um sich zu verstellen“163. 1530 kann Tyndale jedoch auch in dieser Enttäuschung Gottes Vorsehung am Werke sehen: „Gott aber (der das Innere der Heuchler kennt) sah, dass ich verführt worden und dass dieser Ratschlag nicht der nächsten Schritt auf dem Weg zu meinem Ziel war. Und darum ließ er mich keinen Gefallen finden in den Augen meines Herrn [d.i. Tun­ stall]“164.

1.5.2  Tyndales Londoner Kontakte Mit seinem Plan, den Bischof für eine Bibelübersetzung zu gewinnen, war Tyndale gescheitert, doch er fand bald Unterstützung von anderer Seite. Sein eigener Bericht über den Aufenthalt in London fällt – wie gewohnt – spärlich aus und bezeugt vor allem seine zunehmende Abneigung gegen seine klerika­ len Standesgenossen,165 Foxe jedoch berichtet vom Kontakt mit einem gewis­ sen Humphrey Monmouth.166 Dieser Monmouth oder Mummuth wird von Foxe an anderer Stelle des „Book of Martyrs“ vorgestellt, da er 1528 unter dem Verdacht, ein Anhänger Luthers zu sein und Tyndale sowie andere eng­ lische Ketzer unterstützt zu haben, im Tower gefangengesetzt und von Sir Thomas More verhört worden war.167 In einem bewegten Leben, das ihn bis nach Rom und Jerusalem geführt hatte, war der reiche Stoffhändler offen­ 162  Wie Holeczek, S. 253 f und Daniell, Biography, S. 84 ff, aufzeigen, hatte Tunstall für seine Ablehnung einer Förderung Tyndales gute Gründe und war dem jungen Gelehr­ ten gegenüber gewiss nicht unfreundlich. 163  Prelates, PS 2, S. 337: „still Saturn, that so seldom speaketh, but walketh up and down all day musing and imagining mischief, a ducking hypocrite, made to dissemble“. Diese Beschreibung könnte evtl. auf eine direkte Begegnung Tyndales mit Tunstall hin­ deuten, sie ist in ihrer Schärfe aber wohl vor allem dadurch begründet, dass Tunstall als Bischof von London maßgeblich für die Verbrennung von Tyndales „New Testament“ im Oktober 1526 verantwortlich war – für Tyndale ein ungeheures Sakrileg, vgl. Daniell, Biography, S. 175. 164  Preface Genesis, PS 1, S. 395 f: „But God (which knoweth what is within hypocrites) saw that I was beguiled, and that that counsel was not the next way unto my purpose. And therefore he gat me no favour in my lord’s sight“. 165  Vgl. a.a.O., S. 396: „And so in London I abode almost a year, and marked the course of the world and heared our praters, (I would say our preachers,) how they boasted them­ selves and their high authority; and beheld the pomp of our prelates, and how busy they were, as they yet are, to set peace and unity in the world“. 166  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1226: „And therfore findyng no place for his purpose within the realme, & hauyng some ayde and prouision, by Gods prouidēce ministred vnto him by Humphrey Mummoth“. 167  Daher ist es nur zu verständlich, wenn Tyndale es 1530 vermeidet, nähere Anga­ ben über seine Londoner Zeit zu machen, vgl. Walter, S. xxii.

1.5  London

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sichtlich zu einem Kritiker der Papstkirche und später zu einem überzeugten Anhänger der Reformation geworden.168 Sein Testament aus dem Jahr 1537 gibt Zeugnis von seiner evangelischen Gesinnung.169 Foxe’ Bericht von der Aussage Monmouths enthält wertvolle Informatio­ nen über dessen Verhältnis zu Tyndale.170 Im Verhör gibt Monmouth frei­ mütig zu, Tyndale kennengelernt zu haben, als dieser in der Londoner Kirche St Dunstan’s in the West predigte.171 Die Predigten Tyndales sind – wie schon 168  Smeeton, Lollard Themes, S. 56 f macht Monmouth zu einem Kronzeugen angebli­ cher Kontakte Tyndales ins lollardische Milieu (ähnlich auch Ohst, Tyndale, S. 144 f). Der Nachweis einer Verbindung des Londoner Kaufmanns zum Lollardentum ist jedoch schwach. Als entscheidender Beleg dient Smeeton der bloße Hinweis darauf, dass auch Lollarden mitunter einen höheren sozialen Status und wichtige gesellschaftliche Positio­ nen – Monmouth war in späteren Jahren auch einer der Londoner Sheriffs – innehaben konnten. Verlässlicher sind dagegen die Informationen, die uns von Foxe überliefert sind, nämlich das Monmouth 1528 unter dem Verdacht, „an aduauncer of all Martin Luthers opinions“ (Foxe, Acts and Monuments, 1570, Book 8, S. 1133) zu sein, verhaftet und ver­ hört wurde. Ausdrücklich wird hier der reformatorische – nicht lollardische – „Irrglaube“ der Rechtfertigung allein aus Glauben genannt. Monmouth selbst verteidigt seine Ortho­ doxie in einem Brief an Wolsey (vgl. Brigden, S. 108 f). Auch sein überliefertes Testa­ ment zeugt sogar nach Ohsts Einschätzung davon, dass Monmouth ein „strikter Anhän­ ger der reformatorischen Richtung in der englischen Kirche“ (Ohst, Tyndale, S. 144) war. Sehr viel wahrscheinlicher als die Konstruktion einer Verbindung Monmouths zum Lol­ lardentum ist daher m.E., dass er (evtl. humanistisch geprägt) früh zum Befürworter der reformatorischen Vorgänge auf dem Kontinent wurde. Gegen einen lollardischen Hinter­ grund Monmouths sprechen zudem seine Reiseziele: Rom und Jerusalem (vgl. Mozley, S. 47 f). Foxe identifiziert Monmouth als jenen reichen „scripture man“, den Hugh Lati­ mer in einer Predigt 1555 als Beispiel christlicher Rechtschaffenheit und Nächstenliebe darstellt (vgl. Foxe, Acts and Monuments, 1570, Book 8, S. 1134; vgl. Mozley, S. 44 f; Da­ niell, Biography, S. 104 f). Die Anekdote könnte auch auf eine an einem ethischen Chris­ tentum orientierte humanistische Prägung Monmouths hinweisen. 169  Vgl. Mozley, S. 50. 170  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1133 f; vgl. Walter, S. xxiiif; Mozley, S. 44–50; Daniell, Biography, S. 102–107. 171  Die Tatsache, dass diese Kirche drei Meilen vom Wohnort Monmouths entfernt lag, hat Anlass zur Vermutung gegeben, dass sie womöglich ein Ort reformorientierter Predigt war und von Monmouth möglicherweise darum besucht wurde. Auch eine per­ sönliche Bekanntschaft Monmouths mit dem damaligen „rector“ der Kirche, Thomas Green, der ebenfalls Mitglied der Kaufmannsgilde war, ist vorstellbar (vgl. Daniell, Bio­ graphy, S. 104). Mozley, S. 45, gibt an, dass Tyndale möglicherweise mithilfe verwandt­ schaftlicher Beziehungen von Lady Walsh zu Thomas Green zum Prediger an St Dunstan’s gemacht worden sein könnte, hält aber auch eine persönliche Bekanntschaft Tyndales mit Green aus Oxford- oder Cambridge-Zeiten für denkbar. In einem persönlichen Gespräch am 25.6.2008 hat Martin Ohst mir gegenüber die Frage aufgeworfen, warum Tyndale nach der Abfuhr bei Bischof Tunstall nicht die Unterstützung anderer kirchlicher oder adliger Gönner gesucht habe. Die Tatsache, dass er sich danach ausgerechnet von Kaufleu­ ten unterstützen ließ, wertet Ohst als Indiz für eine antiklerikale und womöglich lollar­ disch geprägte Gesinnung Tyndales. Die Frage ist sicherlich bedenkenswert, m.E. lässt sie sich jedoch auch ohne Rückgriff auf lollardische Bezüge klären. Zum einen war Tunstall als Londoner Diözesanbischof schlicht zuständig für ein in London durchgeführtes Über­ setzungsunternehmen. Einen anderen bischöflichen Gönner hätte Tyndale nur in Hof­

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die aus seiner Zeit in Gloucestershire – nicht erhalten. Monmouth, der wohl Abschriften der Predigten besessen hat, gibt in seinem Verhör an, diese, wie auch andere Schriften Tyndales,172 verbrannt zu haben, nachdem sie offiziell verboten worden waren.173 Unter dem Eindruck des Gehörten entschloss sich Monmouth offensicht­ lich, den Priester Tyndale zu unterstützen, nachdem dieser ihm vom Schei­ tern seiner Bemühungen um eine Kaplanei beim Londoner Bischof berichtet hatte: „[Monmouth,] der ihn zur gleichen Zeit für ein halbes Jahr in sein Haus aufnahm, wo besagter Tyndale wie ein guter Priester lebte (wie er [d.i.Monmouth] sagte): studie­ rend am Tag und in der Nacht. Er aß auf eigenen Wunsch nicht mehr als durchweichtes Fleisch und trank stets nur ein einziges kleines Bier. Nie wurde er im Haus in Leinen­ kleidern gesehen, im ganzen Zeitraum, in dem er dort lebte“174.

Monmouth zeichnet das Bild Tyndales als eines Priesters, der sich für den Kaufmann offensichtlich wohltuend vom Negativbild eines Klerikers unter­ schied. Außerdem beschreibt er einen Mann, der ganz in Konzentration auf seine Aufgabe lebte, nämlich: „at his book“. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei diesem „Buch“, über dem Tyndale Tag und Nacht brütete, um das kreisen finden können, zu denen er – trotz seiner adligen Gewährsleute – möglicherweise keinen Zugang hatte. Tyndales persönliche Enttäuschung über das Verhalten Tunstalls, das ja in den späteren Bemerkungen noch nachklingt, könnte zwar den (seit der Zeit in Little Sodbury) latenten Antiklerikalismus noch befördert haben. Dieser ist aber nicht notwendig Kennzeichen einer lollardischen Prägung. Schließlich weise ich darauf hin, dass nach dem Bericht von Foxe nicht Tyndale aktiv im Kreis der Kaufleute nach Förde­ rern gesucht hat, sondern er umgekehrt von Monmouth „entdeckt“ wurde, vgl. dazu Brigden, S. 106 f. 172  Wie Cooper, S. 325 ff, nachweist, befand sich unter den verbrannten Schriften möglicherweise auch die Übertragung eines lollardischen Traktats von Tyndales eigener Hand, die Cooper 1997 im Nachlass von John Foxe gefunden hat. Der „Notable discourse for having the Bible in English in the time of Thomas Arundel Abp of Cant“. verbindet Tyndale mit einem weiteren Londoner Kaufmann namens George Constantine, der eben­ falls für seine reformerische Gesinnung bekannt war (vgl. a.a.O., S. 327). Dass Tyndale derartige lollardische Traktate in zeitgenössisches Englisch übertragen hat, legt sich auf­ grund ihrer Thematik (Bibelübersetzung) nahe und muss nicht notwendig einen lollardi­ schen Hintergrund Tyndales belegen; sie waren aufgrund ihres Inhalts schlicht: „vital to the cause of reformation“ (ebd.). 173  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1133; Walter, S. xxiv; Moz­ ley, S. 49; Daniell, Biography, S. 105. Monmouth versucht sich auf diese Weise offen­ sichtlich als unbescholtenen Bürger darzustellen – „The tone of the appeal was one of plead­ing ignorance“ (Smeeton, Lollard Themes, S. 57). 174  Foxe, Acts and Monuments (1570),Book 8, S. 1133: „Who the same tyme tooke hym into hys house for halfe a yeare, where the sayd Tindall lyued (as hee sayd) lyke a good Priest, studying both night and day. He would eate but sodden meate, by his good will, nor drinke but smal single beare. He was neuer sene in that house to weare lynen about him, all the space of his beyng there“.

1.5  London

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„Novum Instrumentum“ des Erasmus handelte, dessen Übertragung ins Eng­ lische er nun dank der Unterstützung Monmouths angehen konnte.175 Obwohl er mit der Übersetzung beschäftigt war, ist dennoch davon auszu­ gehen, dass Tyndale im Haushalt seines weltgewandten Gönners wichtige Impulse für seine weitere theologische Entwicklung empfing. „In this house Tyndale would have excellent opportunities of hearing what was going on in the world, and of learning the thoughts and opinions of men in general“176. Monmouth selbst erwähnt in seinem Verhör, dass Tyndale finanzielle Unter­ stützung nicht nur von ihm selbst, sondern auch „of some other men“177 emp­ fing. Insbesondere ein Kaufmann der hansischen Handelskolonie in London, dem „steelyard“ („Stahlhof“)178, namens Hans Collenbeke, wird genannt.179 Diese Erwähnung des Deutschen ist insofern interessant, als sie auf den weite­ ren Lebensweg Tyndales verweist: Ein Kontakt mit deutschen Kaufleuten könnte Tyndales Reise nach Hamburg 1524 vorbereitet haben. Von ihnen könnte er mit Schriften Luthers näher vertraut gemacht worden sein, insbe­ sondere mit Luthers deutscher Übersetzung des Neuen Testaments, dem „Septembertestament“180 von 1522. Deutsche Kaufleute waren aus erster Hand über das Reformationsgeschehen informiert und in der Lage, verbo­ tene Schriften nach England zu importieren. Bei den Händlern des Steelyard könnte Tyndale nicht zuletzt auch erste Kenntnisse in der deutschen Sprache erworben haben – Voraussetzung für den Umgang mit Luthers September­ testament, das für ihn zum wichtigen Hilfsmittel der eigenen Übersetzung werden sollte.181 Die von Monmouth erwähnte größere Zahl finanzieller Unterstützer Tyn­ dales hat zu der Vermutung Anlass gegeben, Tyndale sei von einer Gruppe reformorientierter englischer Händler geradezu beauftragt worden, auf dem Kontinent eine Bibelübersetzung anzufertigen.182 Auch wenn sich die ge­ 175  176  177  178  179  180  181  182 

Vgl. Daniell, Biography, S. 106. Mozley, S. 47. Zitiert bei Walter, S. xxiv. Vgl. Daniell, Biography, S. 106. Vgl. Walter, S. xxiv; Mozley, S. 46; Brigden, S. 109. WA.DB 6; S. 2–412. Vgl. Rupp, Six Makers, S. 18. Vgl. Daniell, Biography, S. 106 f; s.u. 2.2.2. In der Literatur taucht als Bezeichnung der Unterstützer Tyndales auch der Name „Christian Brethren“ auf (vgl. Rupp, Making of, S. 6–14; Ders., Six Makers, S. 18; Di­ ckens, S. 106; Smeeton, Lollard Themes, S. 54). Wer genau sich hinter dieser ominösen Gruppe verbirgt, deren Bezeichnung changiert (vgl. Hudson, S. 482 f), ist nicht eindeu­ tig festzustellen. Hudson, S. 482, hält es zwar für sicher, dass Menschen mit lollardi­ schem Hintergrund an der Verbreitung reformatorischer Schriften beteiligt waren, mit Bezug auf die „Christian Brethren“ stellt sie jedoch fest: „What is less certain is that the term ‚Christian Brethren’ designates a recognizable group, let alone an organization. The evidence for such particularity appears very slight“. Auch Brigden geht von einer ge­ mischten Zusammensetzung der als von Foxe als „scipture men“ bezeichneten Gruppe

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nauen Hintergründe der Kontakte Tyndales zu den Londoner Kaufmanns­ kreisen nicht mehr eruieren lassen, zeigen doch die Bemerkung Monmouths sowie Tyndales spätere Kontakte im „English House“ in Antwerpen,183 dass er in London wohl die Verbindungen geknüpft hat, die ihm sein späteres Le­ ben im Exil ermöglicht haben. Darüber hinaus ist Holeczek zuzustimmen, wenn er schreibt: „Da es erheblicher finanzieller Mittel bedurfte, das NT auf eigene Rechnung illegal drucken zu lassen und die Auflage auf geheimen Wegen nach England zu übermitteln, über die Tyndale nicht selbst verfügen konnte, darf man mit Sicherheit sagen, daß Tyndale ohne geldliche Unter­ stützung und ohne die Bereitstellung entsprechender Transportmittel und -wege kaum seine Übersetzung publizieren und in England hätte verbreiten können“184. Nimmt man an, dass sich Tyndale in den Monaten in London intensiver mit Texten Luthers und reformatorischer Theologie beschäftigt hat, stellt sich die Frage, ob es bei ihm so etwas wie eine „reformatorische Wende“ ge­ geben hat, die aus dem Bibelhumanisten einen Anhänger der Reformation im Sinne Luthers machte. Von Tyndale selbst erfahren wir nichts über seine mög­ liche Beschäftigung mit Luther.185 Lediglich sein weiterer Lebensweg, der ihn aus England aufs europäische Festland und möglicherweise nach Witten­ berg führte, lässt darauf schließen, dass ihn in London auch die Schriften Lu­ thers beschäftigt haben mögen. Von Tyndales Rezeption einiger dieser Schriften in seinen eigenen Werken her, erscheint es wahrscheinlich, dass er im Zeitraum zwischen 1523 und 1525 vom Bibelhumanismus des Erasmus zu einer stärker theologisch akzentuierten Kritik an den kirchlichen Missstän­ den gekommen ist. Luther als der Übersetzer des Neuen Testaments ins Deut­ sche könnte für ihn in jedem Fall ein „role model“ für sein eigenes großes Projekt gewesen sein. aus (vgl. Brigden, S. 107). Sie sieht in der gemeinsamen Begeisterung für das reformato­ rische Anliegen das verbindende Element der Gruppe (vgl. vgl. Brigden, S. 109–118). Insgesamt ist wohl der bewusst vage gehaltenen Einschätzung Smeetons zu folgen, der schreibt: „Exactly how the active Lollards, humanist intellectuals, Christian brethren and ‚Lutherans‘ mingled in London escapes the modern historian, but somehow Tyndale found in London those sympathetic to his position“ (Smeeton, Lollard Themes, S. 54). 183  S.u. 3.1.1 und 7.1.1. 184  Holeczek, S. 255. 185  Tyndales Aussagen zur „Konversion“ als „Umkehr zu Gott“ bleiben sehr allge­ mein (vgl. W.T. unto the Reader, PS 1, S. 477, dazu auch Marshall, S. 26–29). Der Einfluss Luthers auf seine Theologie ist eines der Hauptthemen der Tyndaleforschung. Das Spek­ trum ihrer Beantwortung reicht von der Behauptung, Tyndale wäre „Luther’s Protégé“ (Clebsch, S. 137; dagegen explizit Werrell, Theology, S. 15 f) gewesen, bis zur vehe­ menten Bestreitung jeglicher Beeinflussung durch Luther. Der Frage nach dem Verhältnis der Theologie Tyndales zu der Luthers wird daher im Einzelnen noch anhand der Quellen nachzugehen sein.

1.6  Wittenberg

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Im Austausch mit seinen Londonern Freunden und Förderern muss Tyn­ dale spätestens im Frühjahr 1524 zu dem Entschluss gekommen sein, dass er die Bibelübersetzung im heimatlichen England nicht würde durchführen können.186 Er sah sich veranlasst, die Heimat zu verlassen und das Vorhaben im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation weiter zu verfolgen: „[Ich] verstand, das am Ende nicht nur im Palast des Bischofs von London kein Platz war, um das Neue Testament zu übersetzen, sondern das es vielmehr in ganz England keinen Ort dafür gab“187. Daniell bringt die in dieser Aussage ver­ steckte Gemütslage Tyndales treffend auf den Punkt: „From now on he had German thoughts“188.

1.6  Wittenberg 1.6.1  War Tyndale tatsächlich in Wittenberg? Im April 1524 verließ Tyndale England und schiffte sich auf den Kontinent, wahrscheinlich nach Hamburg, ein.189 Die nächste sichere biographische Spur stammt aus dem Sommer des Jahres 1525, als er in Köln mithilfe Wil­ liam Royes190 die Herausgabe des Druckes seiner Übersetzung des Mat­ thäusevangeliums überwachte. Der Zeitraum dazwischen liegt im Dunkeln. Einige Quellen deuten darauf hin, dass Tyndale im Jahr zwischen seiner An­ kunft in Deutschland und der ersten Drucklegung seiner Bibelübersetzung einige Zeit in Wittenberg verbracht haben könnte. Foxe berichtet: „Nach seiner ersten Abreise aus dem Königreich, führte ihn seine Reise in fernere Teile Deutschlands, wie nach Sachsen, wo er sich mit Luther und anderen gelehrten Männern aus dieser Region besprach“191.

Diese Darstellung ist verschiedentlich in ihrer Historizität angezweifelt wor­ den, da sie bezüglich der Intensität der Kontakte Tyndales mit Luther und den Wittenbergern etwas zu konstruiert erscheint.192 Allerdings verlässt sich die Tyndaleforschung auch sonst weitgehend auf die Darstellung von Foxe, so 186  187 

Vgl. Mozley, S. 47 f; Daniell, Biography, S. 106 f. Preface Genesis, PS 1, S. 396: „[I] understood at last not only that there was no room in my lord of London’s palace to translate the new Testament, but also that there was no place to do it in all England“. 188  Daniell, Biography, S. 107. 189  „Hamborough“ wird von Monmouth im Verhör erwähnt, vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1133. 190  S.u. 2.1 Exkurs: Tyndale und Roye. 191  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1226: „At his first departing out of the realme, hee tooke hys iourney into the further partes of Germany, as into Saxonie, where he had conference with Luther and other learned men in those quarters“. 192  Vgl. Walter, S. xxvf; Daniell, Biography, S. 298 f.

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dass die von ihm berichtete Tatsache eines Besuches von Tyndale in Witten­ berg nicht per se aufgrund der möglicherweise hagiographischen Intention negiert werden sollte. Neben Foxe bezeugen darüber hinaus auch die Gegner Tyndales, Johannes Cochläus (1479–1552)193 und Sir Thomas More, Tyndales Aufenthalt in Wit­ tenberg. Man wird ihren Zeugnissen sicherlich auch die Intention unterstel­ len müssen, Tyndale mit dem „Erzhäretiker“ Luther in Verbindung zu brin­ gen, doch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie auf einem historischen Sachverhalt basieren.194 So stellt More in seiner Attacke auf Tyndales „New Testament“ fest: „zur Zeit der Abfassung seiner Übersetzung war besagter Hutchins bei Luther in Wit­ tenberg und setzte einige Glossen an den Rand, bestimmt für die Ausbreitung dieser unerfreulichen Sekte […] das Bündnis zwischen Luther und ihm ist ein wohlbekann­ tes Ding und öffentlich zugegeben von jenen, die hier gefangengenommen und verur­ teilt wurden wegen ihrer von diesen beiden stammenden Häresie“195.

Der Kämpfer gegen die „sect“ der Lutheraner geht also von einem Aufenthalt Tyndales in Wittenberg aus und behauptet – mit dem Anspruch auf allge­ meine Anerkennung („a thing well known“) – ein „Bündnis“ („confederacy“) Tyndales mit Luther. Tyndale nimmt zu dieser Unterstellung eines Bundes mit Luther in seiner „Answer to Sir Thomas More’s Dialogue“196 Stellung, indem er lapidar festhält: „Und wo er [d.i. More] behauptet, Tyndale sei im Bund („confederatt“) mit Luther, ist dies nicht wahr“197. Genau genommen stellt Tyndale hier nur fest, dass er nicht als bloßer „Bundesgenosse“ Luthers gesehen werden will, sondern als eigenständiger Theologe.198 Hinzu kommt, dass Tyndales gefährdete Lebenssituation die Bestreitung von Mores Vor­ wurf geradezu überlebensnotwendig machte. Darum ist es bemerkenswert, dass Tyndale an dieser Stelle nicht über die Verneinung eines Bündnisses mit Luther hinausgeht. Mores zweite Behauptung, er sei in Wittenberg gewesen, weist er nicht von sich. Statt dessen machen seine zahlreichen Zurückweisun­

193  Vgl. Guenther, Cochläus, S. 321–322; Keen, S. 369 ff; zu Cochläus Bericht über Tyndale in Wittenberg vgl. Mozley, S. 58 ff, s.u. 2.1.1. 194  Vgl. Daniell, Biography, S. 299. 195  More, Dialogue (1528), CWM, 6/1, S. 288,12–23: „at the tyme of this translacyon that Hychens was wyth luther in Wyttenberge / & set certayne glosys in the mergent / framed for the settynge forthe of the vngracyous secte […] the confederacye betwene Lu­ ther and hym / is a thynge well knowen and playnly confessed / by suche as haue ben taken and conuycted here of heresye comynge frome thens“; vgl. Walter, S. xxvi. 196  S.u. 5.3. Im Folgenden abgekürzt mit „Answer“. 197  Answer, IW 3, S. 148, 21 f: „And when he sayth Tindale was confederatt with Lu­ ther that is not trueth“; vgl. dazu auch a.a.O., S. 367 ff, Anm. 148/22. 198  Vgl. Mozley, S. 52; Daniell, Biography, S. 299; Haas, Simon Fish, S. 125 ff.

1.6  Wittenberg

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gen von Mores Kritik an Luther deutlich, dass er auch als selbständiger Theo­ loge mit Luther in den meisten Punkten übereinstimmt.199 Mozley, der als stärkster Befürworter eines Aufenthalts Tyndales in Wit­ tenberg gelten muss, belegt seine Position vor allem mit einem Eintrag im Wittenberger Universitätsregister, das für den 27. Mai des Jahres 1524 einen „Guillelmus Daltici ex Anglia“200 aufführt. Es ist der einzige englische Stu­ dent, der sich in diesem Jahr immatrikulierte und sein Name findet sich in unmittelbarer Nähe zum Eintrag eines Matthias von Emersen aus Hamburg (30. Mai 1524). Letztgenannter ist der Neffe der Margarete von Emersen, bei der sich Tyndale – Foxe zufolge201 – 1529 aufhielt. Mozley schließt daraus, dass es sich bei jenem „Guillelmus Daltici“ um Tyndale handeln könnte. „Daltici“ wäre – nimmt man an, dass der Abschreiber des Registers „ci“ statt „n“ notiert hat – in der Grundform „Daltin“ ein Anagramm von „Tindal“ („Tyndale“).202 Als Beleg dafür, dass eine solche Verschleierung des Eigenna­ mens durchaus üblich war, nennt Mozley den Eintrag von Robert Barnes (1495–1540) von 1533, der sich in Wittenberg als „Antonius Anglus“ vor­ stellte und von Luther und Melanchthon auch mit diesem Namen angeredet wurde.203 Mozley führt darüber hinaus an, dass sich in einem Eintrag vom 10. Juni 1525 im Matrikelregister auch „Guihelmus Roy ex Londino“, also Tyndales späterer Mitarbeiter William Roye,204 finden lässt. Die beiden könnten sich also erstmals in Wittenberg begegnet sein, möglicherweise wurde Roye Tyn­ dale dorthin von den Londoner Freunden zur Unterstützung bei der Überset­ zungsarbeit hinterhergeschickt.205 Mozleys Identifizierung des Matrikeleintrags mag man als „waghalsige Deutung eines rätselhaften Eintrags“206 bezeichnen, doch sprechen durchaus auch inhaltliche Gründe dafür, dass sich Tyndale nach seiner Ankunft auf 199  Der Index von Tyndales Answer (IW 3, S. 470) führt über zwanzig Nennungen ­Luthers auf. 200  Schon Demaus (Demaus, S. 116–122) hatte gute Gründe für einen Aufenthalt Tyndales in Wittenberg angeführt. Mozley, S. 53, geht darüber hinaus dem Hinweis im Matrikelregister nach, auf den schon Preserved Smith 1921 hingewiesen hatte (P. Smith, S. 422), ohne ihn weiterzuverfolgen. Mozley folgen in der Annahme eines Aufenthalts Tyndales in Wittenberg: H.M. Smith, S. 287 ff; Campbell, S. 107; Holeczek, S. 255 f; Smeeton, Lollard Themes, S. 58; Trueman, Legacy, S. 12. Zur Authentizität des Doku­ ments vgl. Trueman, Legacy, S. 12, Anm. 13. Explizit gegen einen Aufenthalt Tyndales in Wittenberg argumentiert Rupp, Six Makers, S. 18. Auch Daniell, Biography, S. 298 ff, bleibt skeptisch, vgl. dazu aber Popp, Tyndale, S. 282 f. 201  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1227. 202  Vgl. Mozley, S. 53. 203  Vgl. WA.B 6, S. 175 ff; dazu auch Mozley, S. 53. 204  S.u. 2.1 Exkurs: Tyndale und Roye. 205  Vgl. Mozley, S. 56. 206  Ohst, Tyndale, S. 144.

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dem Kontinent zunächst nach Wittenberg gewandt hat.207 Kaum ein anderer Ort in Europa dürfte für einen der Reform der Kirche zugewandten, huma­ nistisch gebildeten Akademiker eine größere Attraktivität besessen haben als gerade diese Stadt.208 Hier bestand für Tyndale nicht nur die Möglichkeit, sich aus erster Hand über die neuen Lehren Luthers zu informieren und seine eigenen Überzeugungen im Gespräch mit anderen zu reflektieren. Witten­ berg bot dem Engländer auch die Möglichkeit, seine Kenntnisse in den alten Sprachen, die er für die Übersetzungsarbeit benötigte, zu erweitern. Neben Melanchthon als Kapazität im Griechischen, standen auch ein Lehrer für das Hebräische zur Verfügung, bei denen Tyndale gelernt haben könnte.209 Auch seine Deutschkenntnisse könnte er bei seinem Aufenthalt in Wittenberg ver­ tieft haben. Nimmt man also an, sein erster Weg habe den englischen Gelehrten tat­ sächlich ins Kursächsische geführt, lassen sich auch weitere historische Remi­ niszenzen mit ihm in Verbindung bringen. So vermutet Mozley den Einfluss Tyndales hinter Bugenhagens „Epistola ad fideles in Anglia“ (1525)210 und ebenso, dass Tyndale jene Quelle sei, die Luther in einem Brief an Heinrich VIII. vom 1. September 1525 erwähnt, in welchem er schreibt, dass ihm „aus verlässlicher Quelle“ („quod fide dignis testibus didici“) zugetragen worden sei, das Buch Heinrichs gegen ihn stamme nicht aus der Feder des Königs, sondern aus der des „monstrum et publicum odium Dei et hominum, Cardi­ nalis Eboracensis“211, d.i. Kardinal Thomas Wolsey (ca. 1475–1530). In der Tat wäre Tyndale als einziger Engländer in Wittenberg ein verlässlicher In­ formant für diesen „Insider-Tipp“ gewesen, den Luther aus Rücksicht auf dessen Wohlergehen wohl auch bewusst nicht namentlich zitiert hätte. Je­ doch lässt sich überzeugend nachweisen, dass Luther die (Fehl-)Information über Heinrichs Haltung zur evangelischen Sache von Christian II. von Däne­ mark erhalten hat.212 Heinrich VIII. selbst scheint allerdings von einer Ver­ 207  208  209 

Vgl. dazu auch Popp, Tyndale, S. 284 ff. Vgl. Zwink, Verwirrspiel, S. 3 f. Matthäus Aurogallus (1490–1543) lehrte von 1521 an als Hebräisch-Professor; vgl. Popp, Tyndale, S. 283; Nieden, S. 44; Daniell, Biography, S. 298 f. 210  Vgl. Vogt, S. 97 ff; Leder, Bugenhagen Pomeranus, S. 29. Mozley, S. 53, geht davon aus, dass Tyndale nach neun bis zehn Monaten in Wittenberg im April 1525 nach Ham­ burg zurückkehrte, um dort weitere zehn Pfund als Unterstützung von Monmouth abzu­ holen, die dieser in seinem Verhör erwähnt. Das hier ebenfalls erwähnte „little treatise“ sei Bugenhagens Epistel gewesen; im Anschluss an die Stippvisite nach Hamburg sei Tyn­ dale für weitere fünf Monate nach Wittenberg zurückgekehrt; vgl. dazu auch Vogt, S. 94 ff, Holeczek, S. 256, Anm. 44. 211  WA.B 3, S. 563; zur Korrespondenz Luthers und Heinrichs VIII. in den Jahren 1525–27 vgl. Brecht, Luther II, S. 334 ff. 212  Luthers Informationen über den englischen König erreichten ihn wohl über Spala­ tin, der von Christian in einem Brief unterrichtet worden war und Luther darum bat, Heinrich gegenüber Entgegenkommen zu zeigen (vgl. die Briefe Luthers an Spalatin vom

1.6  Wittenberg

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bindung seines Untertanen Tyndale zu Luther auszugehen, denn er schreibt in seiner Antwort nach Wittenberg aus dem Jahr 1526, dass er Kunde habe von: „ein oder zwei abgefallenen Brüderlein, die aus meinem Reich geflohen sind und sich als Verräter am Glauben Christi bei dir in Ausschweifung und Begierde suhlen“213. Bei diesen beiden „fraterculi“ könnte es sich durchaus um Tyndale und Roye handeln,214 die dem König aufgrund ihrer Bemühun­ gen um eine englische Bibelübersetzung aufgefallen sein könnten.215 Geht man davon aus, dass der zu diesem Zeitpunkt noch in Sachen „Rechtgläubig­ keit“ eifrige Heinrich in der Regel gut informiert war über die Vorgänge auf dem Kontinent, so ist der Passage durchaus einiges historisches Gewicht zu­ zuschreiben. Insgesamt jedenfalls macht die Summe der angeführten Indizien in Kombination mit den inhaltlichen Argumenten einen Aufenthalt Tyndales in Wittenberg wahrscheinlich.216 1.6.2  Der Aufenthalt in Wittenberg Doch wie soll man sich nun diesen Aufenthalt Tyndales in der Universitätsund Residenzstadt an der Elbe vorstellen? Die Monate, die Tyndale dort ver­ bracht haben könnte (etwa vom Mai / Juni 1524 bis zum Juli / August 1525), waren für die Wittenberger Reformation eine bewegte Zeit: Von Oberrhein und Schwarzwald aus begannen sich im Sommer 1524 die Aufstände der Bauern in Süddeutschland und schließlich auch bis nach Thüringen aus­ 15. Mai 1525, WA.B 3, S. 500 f und vom 21. Juni, WA.B 3, S. 540). Luther verfasst am 1. September tatsächlich einen Brief an Heinrich (WA.B 3, S. 562–565), in dem er den Kö­ nig um Verzeihung bittet und einen öffentlichen Widerruf anbietet. Heinrich reagiert jedoch mit einem hämischen Antwortschreiben („Literarum inuictissimus princeps“, WA.B 12, S. 67–94), aufgrund dessen sich Luther zur Reaktion genötigt sieht In „Auf des Königs zu England Lästerschrift Titel Martin Luthers Antwort“ von 1527 (WA 23,2, S. 2–37) weist er selbst auf seinen „Informanten“ hin: „Desselbigen gleichen mein gnedi. Herr König Christiern, König zu Denemarck macht mich guter hoffnung so wol des kö­ nigs zu Engelland halben, das ich gleich dunete“ (a.a.O., S. 31; vgl. Brecht, Luther II, S. 334). 213  WA.B 12, S. 77: „unus aut alter apostata fraterculus, qui e regno meo profugi et a fide Christi transfugae in luxu et libidine uoluptuantur apud te“; vgl. besonders S. 93, Anm. 11 214  Roye war ein ehemaliger Franziskanermönch, was möglicherweise den „fratercu­ lus“ erklären könnte, wenn man annimmt, dass sein Begleiter Tyndale von Heinrichs Quellen ebenfalls für einen Mönch gehalten wurde. 215  Cochläus scheint die Drucklegung von Tyndales NT-Übersetzung in Köln an die englischen Autoritäten berichtet zu haben, vgl. Mozley, S. 65 f; S.u. 2.1.1. 216  Trueman, Legacy, S. 12, der ebenfalls von einem Aufenthalt Tyndales in Witten­ berg ausgeht, bemerkt zurecht, schon die ersten Seiten des 1525 gedruckten „Cologne Fragment:“ „are quite enough to reveal the profound influence which contact with Luther had had on Tyndale“. Auch wer einen Aufenthalt Tyndales in Wittenberg bestreitet, wird diese entscheidende geistige Beeinflussung Tyndales durch Luther anerkennen müssen (vgl. z.B. Ohst, Tyndale, S. 144 f).

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zubreiten. Erst am 15. Mai 1525 schlug die Fürstenkoalition das Bauernheer Thomas Müntzers vernichtend bei Frankenhausen.217 Brad S. Gregory hat zurecht darauf hingewiesen, dass Tyndale die mit dem Bauernkrieg sichtbar einsetzende und in den kommenden Jahren zunehmende Aufspaltung der re­ formatorischen Bewegung wahrgenommen haben muss.218 Eine weiteres Auseinanderdriften ist zur gleichen Zeit in einem anderen Be­ reich wahrnehmbar. Die theologischen Differenzen zwischen Luther und Eras­ mus führten aufgrund von Erasmus’ Schrift „De libero arbitrio diatribe“219 vom September 1524 und Luthers Antwort „De servo arbitrio“220, erschie­ nen am 31. Dezember 1525,221 zu einer endgültigen Trennung zwischen dem Humanistenfürsten und dem Reformator. Auch dieser Vorgang dürfte den einstigen Erasmus-Bewunderer Tyndale nicht kalt gelassen haben. Schließlich fällt auch Luthers endgültiger Abschied von der Mönchskutte und seine Hei­ rat mit Katharina von Bora im Juni 1525 in die Zeit von Tyndales Aufenthalt in Wittenberg – ein Vorgang, der weit über das Private hinaus als Politikum betrachtet wurde.222 Schon der Hinweis auf diese drei Ereignisse macht deutlich, dass Tyndale während seines knappen Jahres in Wittenberg Protagonisten der Reforma­ tion begegnete, die stark eingebunden waren in politische und theologische Auseinandersetzungen.223 Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich sein Auf­ enthalt in der von Foxe beschriebenen Weise als intensiver theologischer und philologischer Diskurs mit den theologischen Größen der Stadt gestaltete.224 217  218 

Vgl. Seebass, S. 132–137; Brecht, Luther II, S. 172 ff. Gregory, S. 183 f, findet gerade in Tyndales Übertragung der einschlägigen Stel­ len in den Paulusbriefen, die zur Einheit der Christen mahnen, Belege für die Wahrneh­ mung zunehmender Divergenzen im reformatorischen Lager; Tyndales eigene Bemü­ hungen um eine einheitliche Auslegung der Schrift sollten dem möglicherweise entge­ genwirken. 219  Vgl. Brecht, Luther II, S. 210–220. 220  WA 18, S. 600–787. 221  Vgl. Brecht, Luther II, S. 220–231; Brecht macht deutlich, dass Luther auch schon in den Monaten zuvor von der Streitfrage umgetrieben wurde, aber aufgrund der anderen politischen und privaten Ereignisse des Jahres 1525 nicht früher an einer schriftlichen Re­ aktion arbeiten konnte. 222  Mozley, S. 56, Anm.*: „It is likely that Tyndale was at Wittenberg at the time of Luther’s marriage on June 13“; vgl. Brecht, Luther II, S. 199 f; Zschoch, Katharina, S. 154 f. 223  Zu erwähnen wäre hier außer den genannten Ereignissen auch noch die Auseinan­ dersetzung mit Karlstadt, die Luther von seiner Reise nach Thüringen im August 1524 an bis zur Abfassung seiner Schrift „Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament“ (WA 18, S. 62–125.134–214), deren zweiter Teil Anfang 1525 erschien, in­ tensiv beschäftigte, vgl. Brecht, Luther II, S. 158–172; Schwarz, Luther, S. 166–169; Leppin, S. 209–220. 224  Dazu H.M. Smith, S. 288: „It is probable that, what with his politics and his ho­ neymoon, he [d.i. Luther] had little time to be interested in the projects of an unknown scholar“.

1.6  Wittenberg

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Seine Kontakte zu Luther und Melanchthon blieben wohl eher im Rahmen dessen, was ein Student an der immer beliebter und darum größer werdenen Wittenberger Universität erwarten konnte.225 Über das Normalmaß an pro­ fessoraler Zuwendung hinaus dürfte dem englischen Besucher kaum beson­ dere Aufmerksamkeit geschenkt worden sein. Foxe’ idyllisches Bild vom zu­ künftigen „Apostle of England“226 im Gespräch mit den Größen der deut­ schen Reformation ist wohl eher als Zeichen der Bewunderung des Autors für Tyndale zu deuten, als dass es den historischen Tatsachen entspricht.227 Immerhin könnte Tyndale als eingeschriebener Student auch ohne den di­ rekten Umgang von der theologischen Expertise der Wittenberger profitiert haben. Luther las seit dem Sommersemester 1524 wieder an der Theologi­ schen Fakultät über die kleinen Propheten.228 Melanchthon wirkte noch bis 1526 an der artistischen Fakultät, war aber – im Wintersemester 1523/1524 zum Rektor gewählt – vor allem mit den Vorbereitungen für die Reform der Universität befasst.229 Bugenhagen – seit 1523 Wittenberger Stadtpfarrer230 –, dessen exegetische Vorlesungen ab 1523 in die Universität verlegt wurden,231 las 1524 den Psalter und 1525 den Römerbrief.232 Wären die Wittenberger Kontakte Tyndales intensiver gewesen, so hätten sie sich auch in den kommenden Jahren aufrecht erhalten lassen, wie das Bei­ spiel von Tyndales Landsmann Robert Barnes zeigt. Der ehemalige Oxforder Augustinerprior und Doktor der Theologie wurde – nach seiner Flucht aus England233 – herzlich empfangen und im Haus Johannes Bugenhagens gast­ freundlich aufgenommen. Bald war er auch mit Luther und Melanchthon be­ 225  Tyndale muss auch als Ausländer in Wittenberg nicht unbedingt aufgefallen sein, betrug die Einwohnerzahl (ohne Universitätsangehörige) doch geschätzte 2500 Men­ schen (2821 Menschen hat man für das Jahr 1530 berechnet, vgl. Junghans, S. 63); auch an der Leucorea ist angesichts von 400–600 Hörern in den Vorlesungen Luthers und Me­ lanchthons (vgl. Junghans, S. 77) nicht von einem „intensiven Kennenlernen“ von Do­ zenten und Studenten auszugehen. 226  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224. 227  Vgl. Daniell, Biography, S. 298. 228  Vgl. Brecht, Luther II; S. 241, S.u. 4.4. 229  Vgl. Scheible, Melanchthon, S. 38 ff; Ders., Universitätsreform, v.a. S. 138 ff. 230  Vgl. Leder, Stadtpfarramt, S. 183 ff. 231  Vgl. Nieden, S. 46; Gummelt, S. 192 ff. 232  Vgl. Nieden, S. 47; Gummelt, S. 195, erwähnt darüber hinaus, dass Bugenhagen zur Jahreswende 1524/1525 „mit einer Vorlesung zum Hiobbuch und mit der Auslegung des 2. Königebuches beschäftigt“ war. 233  Barnes wurde am 11. Februar 1526 als lutherischer Ketzer in Wolseys großer antilutherischer Demonstration am St Paul’s Cross in London als bußfertiger Sünder vorge­ führt, anschließend blieb er fünf Monate in Haft und lebte danach zwei Jahre lang als „free prisoner“ im Arrest des Augustinerklosters in London; einer erneuten Inhaftierung entzog er sich durch Vortäuschung eines Selbstmordes durch Ertrinken und die Flucht auf den Kontinent; vgl. Lusardi, S. 1382–1387.

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Kapitel 1:  Homo Doctus, Pius et Bonus – Tyndales Lebensweg 1491–1525

kannt und häufiger Gast bei den Tischgesprächen im Augustinerkloster.234 Barnes’ Bekenntnis vor seinem Martyrium 1540 in London zirkulierte schon bald nach seinem Tod in Wittenberg, wo es übersetzt und von Luther mit ei­ nem Vorwort versehen wurde.235 Eine vergleichbare Nähe zu den Wittenberger Reformatoren findet sich bei Tyndale nicht. So wird beispielsweise sein Tod 1536 in keinem Briefwechsel Luthers oder Melanchthons erwähnt.236 Möglicherweise war Tyndale von sei­ ner Persönlichkeit her introvertierter und weniger kontaktfreudig. Er selbst beschreibt sich in seinem zweiten Brief an den Freund John Frith einmal als „ohne Gunst in den Augen der Menschen, stumm, roh, langweilig und schwer von Begriff“237. Es ist aufgrund dieser Aussage zu vermuten, dass Tyndale nicht allzu viel am Umgang mit Menschen gelegen war und seine Zeit in Wit­ tenberg statt dessen ausgefüllt war mit der Arbeit an der Übersetzung des Neuen Testaments, für die er hier zahlreiche Anregungen erhielt.238 Auch zeitlich dürfte ihn diese Tätigkeit überaus in Anspruch genommen haben, so dass fraglich ist, wie sehr Tyndale tatsächlich am akademischen Leben teil­ genommen haben kann. Als er im Sommer 1525 von Wittenberg aus gen Wes­ ten aufbrach, führte er vermutlich eine vollständige Übersetzung des Neuen Testaments mit sich.239 Die Fertigstellung seiner Übersetzung des Neuen Testaments erklärt auch den raschen Aufbruch aus Wittenberg.240 Tyndale war offensichtlich daran gelegen, das Wort Gottes in englischer Sprache möglichst schnell auch einer Leserschaft zugänglich zu machen. Ein Druck der Übersetzung in Witten­ berg war dafür ungünstig, da er zu weite Transportwege nach England be­ deutet hätte und die Stadt zudem ein allzu offensichtlich „häretischer“ Druck­ ort war. Sinnvoller war eine Drucklegung in einem religiös „unverdächti­ 234  Vgl. WA.TR 2, S. 2285b.; WA.TR 4, S. 4081.4104.4133.4151.4331.5068; WA.TR 5, S. 6037. 235  WA 51, S. 445–451. 236  Der Humanist Hermannus Buschius (gest. 1534, vgl. Guenther, Buschius), der Tyndale 1526 in Worms begegnete, erwähnt in einem Brief vom 11. August 1526 an Ge­ org Spalatin Tyndales Sprachbegabung, jedoch in einer Weise, die nicht darauf schließen lässt, dass Tyndale in Wittenberg größere Bekanntheit genoss, vgl. A. Richardson, Quarrel, S. 46, Anm. 3; Holeczek, S. 272, Anm. 106; H.M. Smith, S. 292, Popp, Tyn­ dale, S. 280 f. 237  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1232: „without grace in the sight of mē, specheles and rude, dull and slowe wytted“. Diese Selbstbeschreibung im Brief an John Frith dient sicherlich auch dazu, den gefangenen Frith seelisch aufzubauen (vgl. ebd.: „your parte shalbe to supplye that lacketh in me“), doch wird die Wahrhaftigkeit dieser Selbsteinschätzung dadurch nicht bestritten, s.u. 6.1.2.3. 238  Vgl. H.M. Smith, S. 288. 239  Vgl. Mozley, S. 56 f; Daniell, Biography, S. 108 f. 240  Gegen Smeeton, Lollard Themes, S. 58, der die Kürze von Tyndales Wittenberg­ aufenthalt als Indiz seiner inhaltlichen Distanz von Luther versteht.

1.6  Wittenberg

53

gen“ westlichen Handelszentrum mit guten Transportmöglichkeiten über den Ärmelkanal. Hamburg, obwohl als Seehafen ideal und Tyndale auch schon bekannt, schied aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt noch wenig fortgeschrittenen Druckkultur aus. „In the end Tyndale decided to make trial of Cologne, which was on the waterway of the Rhine and near to the great book-market of Frankfort“ 241. In Köln findet sich also die nächste sichere bio­ graphische Spur Tyndales und zugleich sein erstes erhaltenes schriftliches Zeugnis.

241 

Mozley, S. 57.

54

Kapitel 2

Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526) 2.1  Biographische Hinführung 2.1.1  Die Drucklegung der Übersetzung des Neuen Testaments in Köln und Worms Ausgerechnet der erklärte Gegner Luthers und der Reformation Johannes Dobeneck, genannt Cochläus, ist es, von dem wir Näheres über Tyndales Aufenthalt in Köln erfahren. In drei unterschiedlich langen Zeugnissen gibt Cochläus, der zur fraglichen Zeit aufgrund öffentlicher Proteste aus seiner Stellung als Dekan am Liebfrauenstift in Frankfurt am Main über Mainz nach Köln geflohen war, Bericht über seine Begegnung mit Tyndale und Roye im Sommer 1525.1 Cochläus zeichnet das Bild Tyndales als Mitglied einer luthe­ rischen Verschwörung, die danach trachtet, auch England und namentlich König Heinrich VIII. (1491–1547) für die Reformation zu gewinnen. Bugen­ hagens Brief an die Engländer2 und Luthers Schreiben an den König (gemeint ist der Brief vom 1. September)3 waren – wie Cochläus schreibt – schon ver­ fasst, als „two English apostates“4 daran gingen, beim Kölner Drucker Peter Quentell eine Übersetzung von Luthers Neuem Testament für den englischen (Schwarz-)Markt zu drucken.5 1  Aus den Jahren 1533 und 1538 sind zwei kurze Darstellungen erhalten; ein ausführ­ licher Bericht findet sich in der 1549 – also 24 Jahre nach den Ereignissen selbst – verfass­ ten „Historia Lutheri: das ist, kurtze Beschreibung seiner Handlungen und Geschrifften … erstlich in Latein durch Johannem Cochlaeum … und jetzo auß dem Latein ins Teutsch gebracht durch Johann Christof Hueber. Ingolstadt 1582 (VD 16: C 4280). Vgl. Mozley, S. 57 f; Daniell, Biography, S. 109 f. 2  Epistola Ioannis Bugenhagij Pomerani ad Anglos (1525), CWM 7, S. 393–405 (Appendix A). Vgl. dazu auch Manley, xvii –xxx; vgl. auch More, A learned Epistle by Sir Thomas More, That Famous and Eloquent Man, In which he replies With no less wit than piety To the Letter of John Pomeranus, A Man of no small reputation Among Protestants (1568), CWM 7, S. 1–105 (erstmals erschienen 1526). 3  S.o. 1.6.1. 4  Zitiert bei Mozley, S. 58. 5  Cochläus nennt den Namen des Druckers nicht; für die Identifizierung mit Quentell sprechen einerseits das Druckbild und die Tatsache, dass 1525/1526 auch weitere lutheri­ sche Schriften über seine Druckerpresse liefen, vgl. Mozley, S. 61 f.

2.1  Biographische Hinführung

55

Cochläus schildert ausführlich, wie er diesem Treiben auf die Schliche kam und es ihm gelang, das Vorhaben Tyndales und Royes zu vereiteln: Der Druck des Neuen Testaments – von englischen Kaufleuten bei einer geplan­ ten Stückzahl von 3000 Exemplaren finanziert – war schon bis zum Bogen „K“ (also dem zehnten Bogen) fortgeschritten, als Cochläus durch Kontakte mit örtlichen Druckern davon erfuhr. Er wurde daraufhin beim Kölner Rats­ herren Hermann von Rinck vorstellig, der beim Rat ein Verbot der Fortset­ zung des Drucks erwirkte. Beide, Rinck und Cochläus, schrieben sogleich Briefe nach England, sowohl an den König selbst, als auch an Kardinal Wol­ sey und Bischof John Fisher (ca. 1469–1535), um vor der heimlichen Infiltra­ tion der Insel mit häretischen Druckerzeugnissen zu warnen.6 Tyndale und Roye konnten wohl nur noch einen Teil der bereits gedruckten Seiten an sich bringen, als sie vor dem Zugriff der von Cochläus aufgestachelten kölnischen Behörden rheinaufwärts nach Worms fliehen mussten.7 Cochläus kommen­ tiert: „Hierauff flohen die zwen verloffne Englische Münch mit den getruckten Quarten [Quartbögen] dem Rhein nach auffwärts nach Wormbs, da nun der gemeine Mann mit viler unsinnigkeit das Lutherische Euangelium angenommen, dauon das fürge­ nommene Werck durch ein andern Trucker daselbs zuuollenden“ 8.

Dieses als „Cologne Fragment“9 bezeichnete erste Übersetzungswerk Tynda­ les galt lange als verschollen, bis es im Jahre 1834 – zusammengebunden mit einer Schrift Oekolampads – bei einem Londoner Buchhändler wieder auf­ tauchte. Erhalten geblieben sind die Übersetzung des Matthäusevangeliums bis zum 22. Kapitel samt Marginalien, sowie Tyndales Einleitung zur Über­ setzung des Neuen Testaments. Das Exemplar, das sich heute im Britischen Museum befindet, ist ein Druck im Quartformat mit den Bögen „A“ bis „H“ (nicht „A“ bis „K“ wie Cochläus behauptet). Die Titelseite ist nicht erhalten; es existiert aber ein Holzschnitt, der den Evangelisten Matthäus zeigt.10 6 

Vgl. Holeczek, S. 256; Daniell, Biography, S. 110 f.; H.M. Smith, S. 289 f; Rinck blieb auch weiterhin ein entschiedener Gegner Tyndales s.u. 4.1.1. 7  H.M. Smith, S. 290, geht davon aus, dass Tyndale und Roye auf den Transport von vermutlich 3000 Druckexemplaren durch teilweise anti-reformatorisches Territo­ rium verzichtet haben und stattdessen in Worms zunächst neu anfingen, das Neue Testa­ ment drucken zu lassen; die Kölner Druckstöcke könnten von den englischen Händlern, die für sie bezahlt hatten, eingefordert und nach England geholt worden sein; was erklä­ ren würde, dass schon Exemplare des Matthäusevangeliums („Cologne Fragment“) vor dem Wormser Neuen Testament in England kursierten, vgl. a.a.O., Anm. 2.; Mozley, S. 347–352 (Appendix C). 8  Zitiert bei Zwink, Entdeckung, S. 298. 9  S.u. 2.3. 10  Abgedruckt bei Moynahan, S. 67. Derselbe Holzschnitt wurde von Quentell 1526 auch für den Matthäuskommentar des Rupert von Deutz verwendet (vgl. Mozley, S. 61).

56

Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Worms, wie Köln freie Reichsstadt,11 war – anders als die nördlichere Me­ tropole – spätestens seit Luthers Erscheinen vor dem dortigen Reichstag 1521 der Reformation zugetan und hatte die evangelische Predigt eingeführt.12 „Der Rat nutzte die sich herausbildende reformatorische Opposition gegen den altgläubigen Klerus, um eigene politische Interessen gegen den Bischof und die Regelungen der Pfalzgrafenrachtung zu mißachten“13. In Worms befand sich zwischen 1518 und 1529 die Druckwerkstatt Peter Schöffers d.J. (ca. 1475/1480–1547), Sohn des Mainzer „Druckpioniers“ Peter Schöffer d.Ä. (ca. 1430–ca. 1502), in der vor allem Werke humanistischer und reformato­ rischer Autoren gedruckt wurden.14 Schöffer wird aber auch der Drucker ei­ ner wachsenden täuferischen Gemeinde um Jacob Kautz, der seit 1524 in und um Worms predigte.15 Es gibt keine Hinweise, dass Tyndale während seines Wormsaufenthalts mit Täufern in Berührung kam, seine Einstellung zur Kin­ dertaufe blieb zeitlebens eine andere.16 Zeuge täuferischen Wirkens wurde er jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit. In Worms konnte Tyndale seine erste vollständige Übersetzung des Neuen Testamentes ungestört von altgläubigen Interventionen drucken lassen. 1526 erschien bei Schöffer das sogenannte „Worms New Testament“17. In einer Auflage von 6000 Exemplaren im Oktavformat als „pocket bible“ gedruckt,18 enthält dieses Neue Testament im Gegensatz zum „Cologne Fragment“ kein Vorwort und auch keinerlei Marginalien. Lediglich am Ende erlaubt sich Tyndale in einer kurzen „Epistle to the Reader“19, seine Leserschaft direkt anzusprechen.

11 

Zur Geschichte von Worms im Spätmittelalter und den Anfängen der Reformation dort vgl. Todt, S. 23–26.28–35. 12  Vgl. a.a.O., S. 28–32. 13  A.a.O., S. 33. In der vom Pfalzgrafen vermittelten sog. „Rachtung“ hatte die Stadt 1519 wesentliche ihrer Freiheitn zugunsten des Bischofs eingebüßt (vgl. a.a.O., S. 26). 14  So u.a. Schriften Luthers, Melanchthons und Oekolampads (ein Verzeichnis der Drucke aus Schöffers Wormser Jahren bietet Zorzin, S. 198–206; vgl. auch Todt, S. 27). Schöffer verlegte seine Druckwerkstatt 1530 nach Straßburg und zog 1539 weiter nach Basel und schließlich 1541 nach Venedig (zur Biographie vgl. Zorzin, S. 179–187). 15  1527 geht der Rat gegen Kautz vor und verweist ihn der Stadt; im Januar 1528 wer­ den weitere Täufer ausgewiesen, gefangengesetzt und zum Abschwören bewegt (vgl. Todt, S. 39). Von 1527 an (also erst nach Abschluss des Druck des „Worms New Testa­ ment“) druckt Schöffer (anonym) Schriften täuferischer Autoren, etwa Hans Dencks oder Balthasar Hubmaiers. Zorzin, S. 189–194, weist nach, dass Schöffer zwar möglicher­ weise Sympathien für täuferisches Gedankengut hatte, dies aber vor der Öffentlichkeit verbergen konnte. 16  S.u. 3.3.7.1; 6.3.2; 7.5.2.2. 17  Vgl. Daniell, Biography, S. 134–142. 18  Zur ungewöhnlichen Größe der Auflage vgl. Daniell, S. Biography, 187 f. 19  S.u. 2.5.

2.1  Biographische Hinführung

57

Vom „Worms New Testament“ waren bis 1996 nur zwei Exemplare be­ kannt.20 In diesem Jahr jedoch wurde in der Württembergischen Landes­ bibliothek in Stuttgart ein weiteres, vollständig erhaltenes Exemplar des „Worms New Testament“ gefunden, sogar mit einem (bisher unbekannten) Titelblatt.21 Der Titel von Tyndales erster vollständiger Übersetzung des Neuen Testaments lautet: „Das Neue Testament, wie es aufgeschrieben und zur Niederschrift bestimmt wurde durch jene, die es gehört haben, denen unser Retter Jesus Christus befohlen hat, es al­ ler Kreatur zu predigen“22.

Dieser Titel geht vermutlich auf eine niederländische Vorlage zurück, die Tyndale in Köln kennengelernt haben könnte.23 Dass sein Name nicht auf dem Titelblatt vermerkt ist, begründet Tyndale selbst an anderer Stelle mit dem „Ratschlag Christi, der die Menschen ermahnt (Mt 6), ihre guten Werke heimlich zu tun“24. 2.1.2  Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments Das „Worms New Testament“ versetzte die englischsprachige Leserschaft erstmals in die Lage, das Neue Testament in „clear, everyday, spoken, English“25 zu lesen und zu verstehen. Tyndale war seinem erklärten Ziel, auch „dem Jungen am Pflug“ („a boy that driveth the plough“) die Lektüre der Heiligen Schrift zu ermöglichen, ein großes Stück näher gekommen.26

20  Ein im Textbestand vollständiges Exemplar (der ursprünglichen Auflage von 6000 Stück) aus der Bibliothek des Baptist College in Bristol erwarb die British Library 1994 mit Unterstützung des National Heritage Memorial Fund und zahlreicher privater Spen­ der aus Anlass des 500. Geburtstags Tyndales für den sensationellen Preis von mehr als einer Million britischer Pfund (vgl. Zwink, Verwirrspiel, S. 5 f). Neben diesem Exemplar, dem das Titelblatt fehlt, war nur ein weiteres, um viele Blätter dezimiertes, Fragment in der Bibliothek der Londoner St Paul’s Cathedral bekannt. 21  Zur bewegten Geschichte dieses Druckes vgl. Zwink, Entdeckung, S. 299–308. 22  „The newe Testame(n)t as it was written/and caused to be writte(n)/by them which herde yt. To whom also oure saveoure christ Jesus commaunded that they shulde preache it vnto al creatures“; Titelblatt abgedruckt bei Moynahan, S. 81. Zum impliziten theo­ logischen Programm dieses Titels vgl. Zwink, Entdeckung, S. 308 f; s.u. 2.2.1. 23  Zwink weist auf die erste niederländische Übersetzung des Neuen Testaments von 1524 hin, die folgenden Titel besitzt: „DAt nieuwe Testament. welc is dat leuende woert Goods / wtghesproken doer onsen salichmaker IESUS Christus / dye welcke was God ende mensch / beschreuen doer ingeuen des heyligen geests / vanden heyligen Apostelen ende Euangelisten / ende is dye wet der gracien / der liefden / ende des barmherticheyts / met groter naersticheyt ouergeset ende gheprent in goede plattenduytsche… Delft : Cornelis Heynrick 1524“ (a.a.O., S. 309). 24  Mammon, PS 1, S. 37: „counsel of Christ, which exorteth men (Matt. vi) to do their good deeds secretly“. 25  Daniell, Biography, S. 135. 26  S.o. 1.4.3.

58

Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Wie sich Tyndales Übersetzungen der Jahre 1525/1526 in England verbrei­ tet haben, ist in der Forschung umstritten. Offensichtlich kursierten schon bald nach Erscheinen des „Worms New Testament“ zwei verschiedene Fassun­ gen neutestamentlicher Texte in englischer Sprache. Sowohl bei Foxe als auch in einigen zeitgenössischen Briefen sowie bei Tyndales späterem literarischen Gegner George Joye (ca. 1495–1553) finden sich Belege dafür, dass neben der Quartausgabe aus Worms auch eine größere Version, die das Matthäusevan­ gelium (und evtl. auch das Markusevangelium) umfasste, also vermutlich das „Cologne Fragment“, im Umlauf war.27 Während einige Forscher aus diesem Grund annehmen, Tyndale habe in Worms zunächst den in Köln abgebro­ chenen Druck des Matthäusevangeliums zu Ende geführt, bevor er sich an die Drucklegung des „Worms New Testament“ machte, argumentiert Moz­ ley überzeugend dagegen:28 Wahrscheinlicher ist es demzufolge, dass Tyn­ dale die Kölner Druckfahnen einige Zeit vor dem gesamten Neuen Testament nach England schickte – „being unwilling to lose his labour on the Cologne fragment“29. Fest steht, dass Tyndales Übersetzungen in England eine rasche und für die altgläubige Seite bedrohliche Verbreitung fanden.30 Die Reaktion der eng­ lischen Obrigkeiten auf die Bibelübersetzung fiel negativ aus.31 Möglicher­ weise war der Zeitpunkt für die Veröffentlichung der Übersetzung des Neuen Testaments mit Blick auf die staatliche und kirchliche Führung besonders un­ günstig, denn die Ereignisse auf dem Kontinent, insbesondere die Aufstände der Bauern 1525, hatten die englische Wahrnehmung der Reformation in Deutschland 1526 noch zusätzlich eingetrübt.32 Zur ohnehin Luther-feind­ lichen Haltung des Königs und des englischen Klerus kam nun eine verstärkte Identifikation der Reformation mit Aufruhr und Unordnung.33 Eine Bibel­ übersetzung, noch dazu eine, die als aus dem Umfeld Luthers stammend wahr­ genommen wurde, konnte in diesem Klima nur auf Ablehnung von offizieller Seite stoßen.

27  28  29  30 

Mozley, S. 347–352, dokumentiert diese Berichte im Appendix C. Vgl. z.B. H.M. Smith, S. 290; dagegen Mozley, S. 70–74. Mozley, S. 73 f. Wie Mozley, S. 110, es bedeutungsschwer, aber durchaus zutreffend formuliert „The battle begins“. Zur Verbreitung des „New Testament“ durch Tyndales Londoner „Netzwerk“ vgl. auch Brigden, S. 159 f. 31  Vgl. dazu auch die Kapitel bei Clebsch zu „England’s Initial Repudiation of ­Luther“ (S. 11–23) und „New Aggressions and Defenses, 1525–1526“ (S. 24–41). 32  Auch Clebsch, S. 148 sieht diesen Zusammenhang in der Predigt John Fishers vom Februar 1526, verbindet ihn aber fälschlich mit dem Täuferreich von Münster 1534/1535: „Fisher depicted the doctrine of justification by faith as inevitably developing anarchism of the kind displayed by Münzer’s followers in the Münster revolt of 1525“. 33  Vgl. H.M. Smith, S. 293–298.

2.1  Biographische Hinführung

59

Ein Beispiel für die Kritik, auf die Tyndales Übersetzung im englischen Klerus stieß, ist der Brief von Robert Ridley, einem Onkel von Nicholas Rid­ ley, dem späteren „Oxford Martyr“ und Kaplan von Bischof Tunstall, vom 24. Februar 1527 an seinen „Kollegen“ Henry Gold, den Kaplan Erzbischof Warhams.34 Bemerkenswert ist hier zum einen, dass Ridley Tyndale und Roye als „manifest Lutherans“ wahrnimmt, mit „daily and continual com­ pany and familiarity with Luther and his disciples“35. Zum anderen kritisiert Ridleys die vermeintliche Fehlerhaftigkeit der Übersetzung, die er an einzel­ nen Wortübertragungen – vor allem an den Vokabeln „church“, „penance“ und „charity“ – festmacht.36 Ridleys Kritik ist damit typisch für die Vor­ würfe, denen sich Tyndale nach Erscheinen des „New Testament“ in England ausgesetzt sah, denn sie alle richteten sich gegen die der Übersetzung inhären­ ten lutherischen Häresien und die angebliche Fehlerhaftigkeit der Übertra­ gung. Am 24. Oktober 1526 erließ Bischof Tunstall eine Verfügung,37 in der er die Erzdiakone seiner Diözese London zur Konfiszierung aller auffindbaren Kopien der Tyndale-Übersetzung binnen dreißig Tagen aufforderte. Ihr Be­ sitz wurde unter Androhung der Exkommunikation verboten. Erzbischof Warham folgte am 3. November mit einer beinahe gleichlautenden Anord­ nung für die gesamte Kirchenprovinz. Als sichtbares Zeichen gegen die „un­ true translations“38 fanden öffentliche Verbrennungen der Übersetzung und weiterer häretischer Schriften statt, die bekannteste davon am St Paul’s Cross in London. Hier, wo am 11. Februar desselben Jahres Robert Barnes und an­ dere öffentlich Buße tun und ihren häretischen Aussagen abschwören muss­ ten, erklärte Bischof Tunstall nun in seiner Predigt, er habe in der Übertra­ gung mehr als zweitausend Fehler gefunden (was sicherlich möglich ist, wenn man Tyndales Übersetzung aus dem griechischen Original mit der Vulgata vergleicht). Tyndale haben diese Verbrennungen des „New Testament“ offensichtlich sehr getroffen. Seine Fassungslosigkeit wirkt noch nach, wenn er 1530 in sei­ ner Schrift „The Practice of Prelates“39 schreibt: „He [d.i. Tunstall] burnt the new Testament, calling it Doctrinam peregrinam, ‚strange learning‘“ 40. Nicht die Vernichtung der eigenen Übersetzungsleistung stellt für Tyndale dabei 34  Vgl. Mozley, S. 350 f (Appendix C); eine detaillierte Analyse des Briefes bietet Holeczek, S. 272–278; vgl. auch H.M. Smith, S. 296. 35  Mozley, S. 350 f. 36  Vgl. Mozley, S. 89–98; Clebsch, 143 f; ähnlich argumentiert auch Thomas More gegen Tyndales Übersetzung s.u. 5.3.1. 37  Zitiert bei Mozley, S. 115. 38  Daniell, Biography, S. 175. 39  S. u. 5.2. Im Folgenden abgekürzt mit „Prelates“. 40  Prelates, PS 2, S. 337.

60

Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

das Unfassliche dar, sondern vielmehr die Schändung des Wortes Gottes durch die Ignoranz des englischen Klerus.41 Doch gerade diese öffentlichen Maßnahmen gegen die Übersetzung des Neuen Testaments machen deutlich, wie hoch englische Kirchenvertreter die „Gefährdung“ der Öffentlichkeit durch sie einschätzten. Das „Worms New Testament“ und auch das „Cologne Fragment“ waren augenscheinlich „book[s] that found a ready market“42 mit einer wachsenden Leserschaft. Be­ reits im November 1526 erreichten „Piratendrucke“ aus Antwerpen England, denen weitere folgen sollten.43 Den Bemühungen der englischen Bischöfe zum Trotz, fanden immer mehr Exemplare der Übersetzung ihre Leserschaft auf der Insel, vor allem in den geistigen Zentren Cambridge, Oxford und Lon­ don.44 Die Übersetzung Tyndales bereitete damit den Boden für die Verbrei­ tung weiteren reformatorischen Schrifttums, wie Holeczek richtig feststellt: „Das überragende Ereignis in diesem Zusammenhang ist die englische Bi­ belübersetzung Tyndales nicht zuletzt deswegen, weil es die verschiedenen Gruppen und Richtungen, denen allen ein entschiedener Biblizismus eigen war, miteinander zu verbinden vermochte. So bot das englische New Testa­ ment die Möglichkeit, die Lollarden an die reformatorische Bewegung heran­ zuführen und dem städtischen Bürgertum mittels der lutherischen Formel der ‚sola scriptura‘ auch andere reformatorische Ideen nahezubringen“45. Umso verständlicher, dass die kirchlichen Obrigkeiten von 1527 an verstärkt gegen Besitzer häretischer Texte vorgingen, wie zahlreiche Schicksale, von denen Foxe berichtet, belegen.46 Doch diese harte Haltung gegen die Sympathisanten der Reformation blieb nicht unwidersprochen. Tyndales Übersetzung war nur die erste Veröf­ fentlichung aus den Reihen derer, die für eine Reform der Kirche auch in England stritten. Ihr folgten Schriften anderer Engländer im Exil, unter den ersten auch die von Tyndales Mitarbeiter William Roye.47

41  42  43 

Vgl. Daniell, Biography, S. 192 f. Mozley, S. 118. Vgl. a.a.O., S. 118 f. Juhász, S. 107 f, Daniell, Copyright, S. 94, C.H. Williams, S. 112 f. Verantwortlich für die Drucke, die in den Jahren 1531 und 1533 neu aufgelegt wurden, waren v.a. der Antwerpener Drucker Christophell van Endhoven (alias Rure­ mond) und später dessen Witwe. Die nicht von Tyndale autorisierten Ausgaben führten 1534 zum Konflikt mit George Joye, s.u. 7.1.2. 44  Vgl. Mozley, S. 120. 45  Holeczek, S. 270 f. 46  Wie z.B. im Fall von Tyndales Freund und Förderer Humphrey Monmouth (s.o. 1.5.2); vgl. Mozley, S. 120 ff. 47  Zum reformatorischen Schrifttum insgesamt vgl. Clebsch, besonders die Kapitel 13 „Protestant Translators and Propagandists“ (a.a.O., S. 229–251) und 14 „Progress at Home: Books and Men“ (a.a.O., S. 252–276).

2.1  Biographische Hinführung

61

Exkurs: Tyndale und Roye William Roye,48 ein ehemaliger observanter Franziskanermönch des Klos­ ters Greenwich, war gemeinsam mit Tyndale in Wittenberg immatrikuliert und ihm möglicherweise von seinen Freunden und Förderern in London zur Unterstützung dorthin nachgesandt worden.49 Er begleitete Tyndale nach Köln und Worms, wo er ihn nach der Drucklegung des „New Testament“ verließ und sich nach Straßburg wandte. Hier tat er sich mit einem weiteren englischen Exulanten, seinem Ordensbruder Jerome Barlowe, zusammen, der zuvor auch Tyndale in Worms aufgesucht hatte.50 In Straßburg verfasste Roye einen „Brief Dialogue between A Christian Father and his Stubborn Son“ 51, die Übersetzung eines lateinischen Traktats und – als Co-Autor Bar­ lowes – ein Spottgedicht auf Kardinal Wolsey. „Burial of the Mass“ 52, ge­ druckt 1528 in Straßburg, war eine polemische Schmähung des obersten eng­ lischen Geistlichen, die es insbesondere auf seine Maßnahmen gegen die eng­ lische Bibelübersetzung abgesehen hatte:53 „burning God’s word, the holy testament“ 54 lautet der als Kehrvers wiederkehrende Vorwurf. Dass derar­ tige Polemik die Gegnerschaft des englischen Klerus noch verstärkte, ver­ wundert nicht. Angesichts dieser Zuspitzung und der Tatsache, dass er selbst für den Autor der Schrift gehalten wurde,55 sah Tyndale sich genötigt, sich von seinem ehe­ maligen Mitarbeiter Roye zu distanzieren. Das Vorwort zu seiner Schrift „Parable of the Wicked Mammon“ 56 widmet sich zu großen Teilen der Ab­ rechnung mit dem früheren Amanuensis: Roye sei ein Mann von zweifelhaf­ ten Eigenschaften („a man somewhat crafty“ 57) der insbesondere den Verlo­ ckungen des Geldes allzu schnell erliege.58 Allein die Tatsache, dass er einen Helfer für die Arbeit mit der Übersetzung brauchte, habe ihn zur Zusam­ 48  Zu Royes Leben und Werk vgl. Rupp, Making of, S. 52–61; Clebsch, S. 229–240; Knox, Doctrine, S. 35 ff. 49  S.o. 1.6.1. 50  Vgl. Mammon, PS 1, S. 38, besonders auch Anm. 2. 51  Der Verfasser des gegen die Messe gerichteten lateinischen „Inter patrem Christia­ num et filium contumacem Dialogus Christianus“ ist unbekannt; vgl. Mammon, PS 1, S. 39 f, Anm. 3; Mozley, S. 122; Daniell, Biography, S. 143 f. 52  Nach der Anfangszeile auch unter dem Titel „Rede me and be not wroth“ bekannt geworden, vgl. Rupp, Making of, S. 55 f. 53  Das Gedicht schildert in Anlehnung an den Prozess Jesu das Vorgehen gegen die Übersetzung mit Wolsey in der Rolle des Pilatus und Tunstall als Kaiphas, vgl. die Aus­ züge in Mammon, PS 1, S. 39 f, Anm. 3 und bei Mozley, S. 113 f. 54  Mozley, S. 113. 55  Vgl. Mammon, PS 1, S. 41, Anm. 1; Mozley, S. 122. 56  S.u. 3.2.4. 57  Mammon, PS 1, S. 37. 58  A.a.O., S. 38: „As long as he had no money, somewhat I could rule him; but as soon as he had gotten him money, he became like himself again“.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

menarbeit mit Roye bewegen können.59 Tyndale will auch Jerome Barlowe ausdrücklich vor Roye gewarnt haben, als dieser ihn in Worms aufsuchte.60 Solchermaßen auf Distanz gegangen, grenzt sich Tyndale anschließend auch explizit vom Spottgedicht seiner beiden Landsleute ab und verweist mit Pau­ lus darauf: „The servant of the Lord must not strive, but be peaceable unto all men, and ready to teach, and one that can suffer the evil with meekness, and that can inform tham that resist; if God at any time will give them repentance for to know the truth“61 (2 Tim 2,24 f).

Tyndale war offensichtlich nicht an einer Zuspitzung der Situation in Eng­ land interessiert, wie sie die Polemik Royes und Barlowes heraufbeschwor. Zwar war auch er, wie sich ebenfalls im Prolog zu „Mammon“ zeigt,62 ge­ schockt von den Verbrennungen des Neuen Testaments, und auch er konnte seine Kritik am englischen Klerus durchaus polemisch formulieren. Sein vor­ rangiges Interesse galt jedoch zeitlebens der Verbreitung des Wortes Gottes in der für alle verständlichen Muttersprache. Um dieses Zieles willen war er zu Kompromissen bereit.63 Aus der Erfahrung mit Roye zog Tyndale darum für seine weiteren Schriften die Konsequenz, auch mit seinem Namen für seine Worte einzustehen. Fortan erschienen seine Werke mit seinem Namenszug auf dem Titelblatt.

2.2  Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526) 2.2.1  Tyndales Programm als Übersetzer Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, Tyndales Übersetzungen kritisch zu würdi­ gen.64 In unserem Zusammenhang kann Tyndales „New Testament“ nur summarisch bedacht werden, mit einem Fokus auf die für die Darstellung sei­ ner Theologie relevanten Zusammenhänge. Dabei stehen das „Programm“ des Übersetzers Tyndale und sein Rückgriff auf Luthers Übersetzung im Mittelpunkt. Der letztgenannte Aspekt weist bereits voraus auf die im An­ 59  Vgl. ebd.: „When that was ended, I took my leave, and bade him farewell for our two lives, and (as men say) a day longer“. 60  Vgl. ebd.; diese Bemerkung Tyndales ist zugleich der einzige sichere Hinweis da­ rauf, dass er sich tatsächlich in Worms aufhielt. 61  A.a.O., S. 40 f. 62  Vgl. a.a.O., S. 43 f. 63  Wie etwa in den Verhandlungen mit dem königlichen Agenten Stephen Vaughan über eine mögliche Rückkehr nach England (s.u. 5.1.1). 64  Ausführliche, wenngleich auch etwas einseitige, Würdigungen der Übersetzungs­ leistung Tyndales finden sich bei Mozley, S. 75–109 und Daniell, Biography, S. 111– 149.

2.2  Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526)

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schluss zu analysierenden Texte Tyndales, die er als Einleitungen seiner Über­ setzung beigegeben hat und die ebenfalls von Schriften Luthers Gebrauch machen. Die Bewertung der Leistung Tyndales als Übersetzer ist innerhalb der For­ schung weniger umstritten als seine Bedeutung als Theologe. Weithin wird die prägende Rolle seiner Übertragungen großer Teile der Bibel für die Ent­ wicklung der englischen Sprache anerkannt.65 Meist wird auch Tyndales Selbständigkeit als Übersetzer herausgestellt und die Qualität der von ihm gefundenen Übertragungen aus dem Urtext gepriesen.66 Es fehlt jedoch bis­ her ein umfassender Textvergleich der Tyndale zur Verfügung stehenden Übersetzungen und Hilfsmittel mit seiner Übertragung, der deren Origina­ lität eindeutig nachweisen könnte.67 Von Tyndale selbst erfahren wir nicht, mithilfe welcher Mittel und Me­ thoden er das Neue Testament übersetzt hat. Lediglich die Maßstäbe, an de­ nen er jede Übersetzung messen lassen will, teilt er seiner Leserschaft im Vor­ wort des „Cologne Fragment“ mit, indem er sie auffordert: „meine Arbeit zu bewerten und zu gewichten, und das mit Milde; und wenn sie Stel­ len finden sollten, an denen ich den wahren Sinn der [Ur-]Sprache oder die Bedeutung der Textstelle nicht erfasst, oder nicht den passenden englischen Ausdruck gefunden habe, mögen sie es selbst in die Hand nehmen, es zu verbessern“ 68.

„Mit diesen drei Begriffen, die man auch als Stufen im Prozeß des Bibelüber­ setzens verstehen kann, hat Tyndale selbst einige wichtige Gesichtspunkte für die künftige Bewertung seiner Übersetzung gegeben: Genaues Erfassen des fremdsprachigen Textes, Verstehen der theologischen Aussage, genaue Wie­ dergabe des verstandenen Textes mit treffenden englischen Worten“ 69. Da­ 65  Selbst Clebsch, S. 141, kann die Bibelübersetzung als „Tyndale’s great achieve­ ment“ würdigen. 66  Beispielhaft für eine beinahe schwärmerische Darstellung der Übersetzungsleis­ tung Tyndales ist Daniells Analyse der NT-Übersetzung von 1525/1526 (Daniell, Bio­ graphy, S. 111–149). Leider ist Daniells Vergleich der Übersetzungen Tyndales und Luthers von seinen schwachen Deutschkenntnissen geprägt, wie Popp, Green Horse, S. 144 f, ein­ drücklich nachweist. 67  Zu den Problemen eines solchen Unterfangens vgl. Holeczek, S. 258. Eine gute Zusammenfassung dieser Problematik bietet auch Popp, Tyndale und Luther, S. 312 ff. 68  Die Vorrede des „Cologne Fragment“ ist von Tyndale in einer erweiterten Form als „Pathway into the Holy Scripture“ 1532 erneut veröffentlicht worden (s.u. 6.2). Die Aus­ gabe der Parker Society fasst beide Schriften unter dem genannten Titel als „kritische“ Edition zusammen. Im Folgenden zitiere ich sie daher als Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 7–28, hier a.a.O., S. 7, Anm. 1: „to consider and ponder my labour, and that with the spirit of meekness; and if they perceive in any places that I have not attained the very sense of the tongue, or meaning of the scripture, or have not given the right English word, that they put to their hands to amend it“. 69  Holeczek, S. 266 f. Zur linguistischen Dimension der Übersetzung vgl. Cum­ mings, Tyndale’s grammar und Clark, Norm and licence. Insbesondere Cummings stellt die

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rüber hinaus reflektiert er seine Übersetzungsarbeit nicht. Auch Tyndales Nachwort an die Leserschaft schließt lediglich mit dem Verweis auf seine In­ tentionen („of a pure intend, single and faithfully, I have interpreted it“70) und dem Hinweis auf die Vorläufigkeit seiner Übertragung. Spätere Äußerungen zu einzelnen Übersetzungsfragen geschehen im Kontext kontroverstheolo­ gischer Schriften und lassen zwar Rückschlüsse auf Tyndales Griechisch­ kenntnisse zu, schweigen jedoch zu seinem konkreten Vorgehen beim Über­ setzen.71 Nur an zwei Stellen finden sich Aussagen zum theologischen Programm der Übersetzung: Die Titelformulierung lenkt das Augenmerk auf die Ursprüng­ lichkeit des Textes: „Das Neue Testament, wie es ausgeschrieben wurde und zur Niederschrift bestimmt wurde durch jene, die es gehört haben“72. Der Le­ serschaft wird hier eine Übertragung vorgelegt, die sich auf die münd­liche Botschaft der ersten Zeugen beruft, welche gehört und niedergeschrieben worden ist.73 Tyndales Bezugsgröße sind die Apostel und Evangelisten selbst, nicht die Institution der Papstkirche. Seine Quelle ist darum auch nicht die Vulgata, sondern das griechische Neue Testament. Dieser Rückbezug auf die älteste Überlieferungsschicht und damit auf denjenigen, der selbst die Verkündigung seiner Botschaft an alle Völker be­ fohlen hat, wird im zweiten Teil der Titelformulierung noch deutlicher, in der Tyndale auf den Taufbefehl Jesu (Mt 28,18 ff) Bezug nimmt: „Denen un­ ser Retter Jesus Christus befohlen hat, es aller Kreatur zu predigen“74. Der Anspruch hinter dieser Aussage ist enorm: Es ist Christus selbst, auf den sich Tyndale als „Auftraggeber“ seiner Übersetzung beruft, denn nichts anderes als die in Mt 28,19 befohlene Verkündigung des Evan­ge­liums geschieht seines  

theologische „Tiefendimension“ der Übersetzungstätigkeit Tyndales heraus (Cummings, Tyndale’s grammar, S. 43: „For in the proliferation of tongues, how can he know that God always says the same thing?“) und macht darauf aufmerksam, wie sehr sich dessen Prob­ lembewusstsein diesbezüglich zwischen 1525 und 1534 vertieft hat: „In Tyndale’s biblical translations are thus to be found exercises of minute discrimination in the language of theology and the theology of language“ (a.a.O., S. 44). 70  Epistle to the Reader, PS 1, S. 390. 71  Vgl. z.B. die Entgegnung auf Mores drittes Buch in Answer, IW 3, S. 133,1–170,21 (s.u. 5.3.1). 72  „The newe Testame[n]t as it was written / and caused to be writte[n] / by them which herde yt“; zitiert bei Zwink, Entdeckung, S. 308 (Kursivierung von mir); s.o. 2.1.1. 73  Vgl. WA 10,1, S. 17,9–12 (Kirchenpostille 1522): „Und Euangeli eygentlich nitt schrifft, ßondern mundlich wort seyn solt, das die schrifft erfur truge, wie Christus und die Apostel than haben; Darumb auch Christus selbs nichts geschrieben, ßondern nur ge­ redt hatt, und seyn lere nit schrifft, sonder Euangeli, das ist ein gutt botschafft odder vor­ kundigung genennet hatt, das nitt mit feddernn, ßondern mit dem mund soll getrieben werden“. 74  „To whom also oure saveoure Christ Jesus commaunded that they shulde preache it vnto al creatures“, zitiert bei Zwink, Entdeckung, S. 308.

2.2  Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526)

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Erachtens in der vorgelegten Übersetzung.75 Mit dem Taufbefehl ist die Ver­ kündigung des Wortes Gottes an alle Welt, eben auch an die Laien, legiti­ miert. Es bedarf keiner kirchlichen Lehr- und Vermittlungsinstanz, denn das Wort Gottes in der Schrift legt sich selbst aus (sui ipsius interpres). „Das radikale Vorgehen der Herren Fisher, Wolsey und More wird jetzt noch ver­ständ­ licher“76. Auch die kurze Aussage Tyndales zur theologischen Intention seiner Über­ setzung aus dem Prolog des „Cologne Fragment“ gibt Zeugnis von dem An­ spruch, der hinter dem Vorhaben steht. Die Übersetzung sei verfasst: „for your spiritual edifying, consolation, and solace“77, sie soll also auf direktem Weg genau das bewirken, was die Papstkirche allein durch ihre Heilsvermitt­ lung ermöglicht sah. Zugleich ist es bemerkenswert, wie sehr dabei die Person des Übersetzers (dessen Name nicht einmal genannt wird) hinter dem Anlie­ gen verschwindet. Tyndale selbst versteht sich als bloßes Werkzeug Gottes, das ganz der Sache Gottes und seiner Gemeinde dient:78 „Denn wir haben die Gaben Gottes nicht nur für uns selbst erhalten, oder um sie zu verbergen, sondern um sie zu verwenden zur Ehre Gottes und zur Ehre Christi sowie zur Erbauung der Gemeinde, die der Leib Christi ist“ 79.

Angesichts dieser offen zutage liegenden Intention und Kraft der Heiligen Schrift liegt es Tyndale ferne, die Beweggründe, die ihn zur Übersetzung veranlassten, genauer zu benennen. Für ihn ist es offensichtlich, dass die Über­ setzung der Schrift und das Licht der Erkenntnis, das von ihr ausgehen soll, der Erleuchtung all derer dienen, die noch im Dunkeln wandeln müssen: „Die Gründe, die mich zur Übersetzung veranlassten, seien, so dachte ich, für andere so nachvollziehbar, dass ich sie nicht einzuschärfen bräuchte. Ja, ich hielt es für über­ flüssig, denn wer ist so blind zu fragen, warum das Licht jenen aufleuchten soll, die im Dunkeln wandeln, wo sie nichts als straucheln können und wo das Straucheln gleich­ zusetzen ist mit der ewigen Verdammnis“ 80. 75 

Greenblatt, S. 96, weist auf diese grundsätzlich neue Qualität für das religiösen Bewusstsein hin: „translation is not the imposition of an intermediary between God’s word and man but just the opposite – the tearing aside of a veil of deceit in order to present the text in full immediacy“. 76  Zwink, Entdeckung, S. 308. Tatsächlich ist die Frage nach der Legitimität einer nicht durch die Kirche sanktionierten Übersetzung eine der Hauptstreitfragen in der Aus­ einandersetzung zwischen More und Tyndale, s.u. 5.3.4. 77  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 7, Anm. 1. 78  A.a.O., S. 8, Anm. 2: „it had pleased GOD to put in my mind, and also to give me grace to translate this fore-rehearsed New Testament into our English tongue“. 79  Ebd.: „For we have not received the gifts of God for ourselves only, or for to hide them; but for to bestow them unto the honouring of GOD and Christ, and edifying of the congregation, which is the body of Christ“. 80  Ebd.: „The causes that moved me to translate, I thought better that other should imagine, than that I should rehearse them. Moreover, I supposed it superfluous, for who is

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Tyndale versteht seine Übersetzung also im Kontext des Heilsgeschehens: Nur vom Wort Gottes selbst her kann der Mensch die Erleuchtung erfahren, die ihn nicht in die Verdammnis führt. Die Schrift stellt für Tyndale also schon in seiner ersten Veröffentlichung das Zentrum des Heilsgeschehens dar und rückt damit an die Stelle der Kirche als Vermittlerin des Heils. 2.2.2  Tyndales Vorlagen: Zwischen Erasmus und Luther Was lässt sich nun dennoch über die Entstehung von Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments sagen, die seinen Worten zufolge durch ihr Licht die Dunkelheit und durch ihre Wahrheit jede Lüge zerstört?81 Es ist davon auszu­ gehen, dass Tyndale das griechische Neue Testament des Erasmus, das 1525 in der mittlerweile dritten Überarbeitung von 1522 vorlag, zur Grundlage sei­ ner Übertragung machte.82 Darüber hinaus kann als sicher gelten, dass ihm auch Luthers Übersetzung zur Verfügung stand,83 ebenso die Vulgata. Ange­ sichts der sprachlichen Begabung Tyndales ist außerdem nicht auszuschließen, dass er auch weitere Übersetzungen verwendet hat.84 In welchem Maße Tyndale jeweils das griechische Neue Testament des Erasmus bzw. dessen lateinische oder Luthers deutsche Übersetzung für seine Übertragung heranzog, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Holeczek fasst den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: „Es gibt Stellen, die von einer naiv-unkritischen Übernahme der Luther-Version zeugen, wie es Wen­ dungen gibt, die eigentlich nur dem griechischen Text des Erasmus entstam­ men können“85. so blind to ask why light should be shewed to them that walk in darkness, where they can­ not but stumble, and where to stumble is the danger of eternal damnation“. 81  Vgl. ebd.: „light destroyeth darkness […] verity reproveth all manner lying“. 82  Vgl. Mozley, S. 83 f; Holeczek, S. 264. Auffällig ist hier allerdings, dass Tyndale im Vorwort zum „Cologne Fragment“, anders als in seinem Vorwort zur revidierten NTÜbersetzung 1534, nicht explizit von einer Übersetzung aus dem Griechischen spricht, vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 7, Anm. 1; W.T. unto the Reader, PS 1, S. 468. 83  Nach der ersten Ausgabe im September 1522, erschien Luthers Übersetzung bereits im Dezember in zweiter Auflage und wurde in den folgenden Jahren an verschiedenen Orten nachgedruckt. 84  Clebsch, S. 142, nennt die Übertragungen von Faber Stapulensis ins Französische; daneben wäre auch an niederdeutsche oder ältere englische Übertragungen zu denken; vgl. Mozley, S. 83 f. 85  Vgl. Holeczek, S. 264, Anm. 73. Zwink, Verwirrspiel, S. 19 f, hat darauf hinge­ wiesen, dass Tyndale bisweilen auch Fehler der Lutherbibel in seine Übersetzung über­ nimmt (etwa bei der Übertragung von Lk 2,19, wo Tyndale den Druckfehler der Jahre 1522–1526, die das griechische „sumb2llousa“ mit „bewiget“ statt „beweget“ wieder­ geben, mit „pondered“, also „wiegen“ übersetzt); teilweise folgt Tyndale auch da dem Griechischen, „wo er besser Luther gefolgt wäre“ (a.a.O., S. 19), wie bei der Übersetzung von Offb 6,8, in der Tyndale den apokalyptischen Reiter anstatt auf einem „fahlen Pferd“ (Luther) auf einem „grünen Pferd“ sieht (vgl. dazu Popp, Green Horse, S. 137 f; für weitere Beispiele vgl. Dies., Tyndale und Luther, S. 314 f).

2.2  Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments (1525/1526)

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Die Bewertung der sprachlichen Abhängigkeit Tyndales von Luther fällt darum sehr unterschiedlich aus und verläuft m.E. stark entlang nationaler Grenzen. Während die englische Forschung weitgehend Tyndales Eigenstän­ digkeit herausstellt,86 ist die deutschsprachige eher geneigt, stärkere Anleihen bei Luther anzunehmen.87 Dem tatsächlichen Sachverhalt werden beide Sicht­ weisen nicht gerecht. Zwink ist darum zuzustimmen, wenn er schreibt, das Problem sei „so vielschichtig, dass es weder mit den Instrumenten des engli­ schen Nationalismus, noch mit deutscher Überheblichkeit und Stolz auf den überragenden Luther, sondern nur durch akribische Textvergleiche der Vor­ lagen in den betreffenden Sprachen“88 zu lösen sei. Wirft man einen Blick auf die äußere Gestalt des „Cologne Fragment“, so fällt allerdings auf, dass – mit Ausnahme der Titelformulierung – vieles an Luthers „Septembertestament“ von 1522 erinnert: Wie in Luthers Überset­ zung ist auch in der Kölner Übertragung das Inhaltverzeichnis der biblischen Bücher auf der Rückseite des Titelblattes zu finden. Noch aufschlussreicher ist die Tatsache, dass Tyndale auch in der Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften der Vorlage Luthers folgt. Hebräer-, Jakobus- und Judasbrief sowie die Offenbarung des Johannes erscheinen erst hinter den Petrusbriefen, erhal­ ten keine Zählung und „werden sogar mit einem Durchschuß von den refor­ matorisch akzeptierten Büchern abgesetzt“ 89. Tyndale hat – möglicherweise durch seine Londoner „Auftraggeber“ unter Zeitdruck – versucht, aus der parallelen Lektüre der ihm zur Verfügung ste­ henden Versionen rasch eine zufriedenstellende englische Übertragung des Neuen Testaments anzufertigen.90 Er selbst gesteht die Offenheit seines Werks 86 

Vgl. exemplarisch Daniell, Biography, S. 112: „The heart of the matter, however, is Tyndale’s own“; eine Ausnahme bildet hier Clebsch, dessen Geringschätzung Tyndales sich auch in seiner Bewertung des Übersetzers wiederspiegelt, wie der folgende Vergleich deutlich macht „Tyndale the translator resembled the proverbial cow grazing several ­pastures but giving her own milk“ (Clebsch, S. 142). 87  Vgl. Zwink, Verwirrspiel, S. 19; Holeczek, S. 262–270, besonders S. 263: „wichtig ist, was sich ziemlich sicher feststellen läßt, daß Tyndale, wie seine Vorrede und seine An­ merkungen zeigen, die Bedeutung der von ihm übersetzten biblischen Texte im gleichen Sinne wie Luther verstand und persönlich auch davon überzeugt war, daß dieser in seiner Version und den Anmerkungen die wahre Bedeutung der Evangelien herausgebracht hatte“. 88  Zwink, Verwirrspiel, S. 19 89  Ebd.; gegen Daniell, Biography, S. 120, der in der Tatsache, dass Tyndale in seinem Prolog zum „Cologne Fragment“ Luthers Ausführungen zu den ntl. Büchern aus der Vorrede zum „Septembertestament“ nicht übernimmt, eine Distanzierung Tyndales von Luther erkennen will; dagegen spricht, dass Tyndale dessen Anordnung der Bücher in der revidierten Ausgabe des NT 1534 beibehält, vgl. TNT, S. 19; Mozley, S. 63. 90  Clebsch, S. 142 f: „his New Testament was neither a mere English rendition of Luther’s German nor a direct and completely independent rendering of the Greek text into English“.

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für zukünftige Revisionen jedenfalls eindeutig zu, wenn er im Nachwort zum „Worms New Testament“ schreibt: „Bewerte es als etwas, das noch nicht seine vollkommene Form hat, sondern das vor der Zeit geboren wurde; eben eher als etwas Begonnenes, denn als etwas schon Beendetes“ 91.

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525) Die Vorrede zu den 1525 in Köln bei Peter Quentell veröffentlichten Kapiteln von Tyndales Übersetzung des Matthäusevangeliums beginnt mit einer kur­ zen Einleitung92 und besteht im ersten Teil aus einer Übertragung der „Vor­ rhede“ Luthers zum „September Testament“ 93 von 1522, genauer gesagt ih­ res Anfangsteils, in dem Luther eine Definition des Begriffes „Evan­ge­lium“ vornimmt. Anders als Luther vertieft Tyndale den Evan­ge­liumsbegriff nicht weiter, sondern widmet sich im zweiten Teil des „Prologue“ – gemäß der von Luther vorgegebenen Zuordnung von „Evan­ge­lium und Gesetz“94 – der Thematik des Gesetzes, die er selbständig entfaltet. Luthers Darlegung, „wilchs die rechten und Edlisten bucher des newen testaments sind“ 95, übernimmt Tyndale nicht. Mit der Einleitung will Tyndale seiner Leserschaft erklären, wie sie das Zeugnis des Neuen Testaments theologisch einzuordnen und zu verstehen hat:96

91  Epistle to the Reader, PS 1, S. 390: „Count it as a thing not having his full shape, but as it were born before his time, even as a thing begun rather than finished“. 92  S.o. 2.2.1. 93  WA.DB 6, S. 2–10 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522). Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 8, Z. 6 f.15 ff-10, Z. 23, entspricht weitgehend WA.DB 6, S. 2,15–6,10. 94  WA.DB 6, S. 2,23–4,11 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522). 95  WA.DB 6, S. 10,7–35 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522, Kursivierung im Origi­ nal). 96  Holeczek zufolge bedient sich Tyndale in seiner Vorrede aus den dogmatischen Aussagen der Römerbriefvorrede Luthers von 1522 (s.u. 2.6.2). Er belegt dies jedoch nur mit dem – von Luther auch an zahlreichen anderen Stellen verwendeten – Begriff des „Herzensgrundes“ („low bottom and ground of the heart“, Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 10, vgl. Holeczek, S. 260, Anm. 59). In der Tat finden sich keine direkten Übertra­ gungen von Textpassagen der Römerbriefvorrede Luthers im „Cologne Fragment“. Zur Intention Tyndales hält aber auch Holeczek fest: „indem Tyndale in enger Anlehnung an Luthers Vorrede zum Römerbrief den Lesern das Verständnis Luthers von Gesetz und Evan­ge­lium, von Gnade und Werkheiligkeit als die wesentliche Botschaft des NT nahe­ bringt, bestimmt er ihr Vorverständnis für die Lektüre“ (a.a.O., S. 260).

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)

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„Um euch bestimmte Punkte in Erinnerung zu rufen, nämlich: Was die Bedeutung der Worte ‚Altes Testament‘, ‚Neues Testament‘, ‚Gesetz‘, ‚Evan­ge­lium‘, ‚Moses‘, ‚Christus‘, ‚Natur‘, ‚Gnade‘, ‚Werke‘, ‚Glaube‘, ‚Taten‘, ‚Vertrauen‘ sei“ 97.

Mit diesen Begriffen spannt Tyndale den weiten Bogen einer Theologie der Rechtfertigung, die er im Folgenden darzustellen versucht, indem er sich im ersten Teil dem Begriff „Evan­ge­lium“ zuwendet und sich dafür der Worte Luthers bedient.98 Im zweiten Teil erläutert Tyndale die Rolle des Gesetzes und seines rechten Verständnisses.99 Daran schließt sich eine von den Begrif­ fen „Natur“ und „Gnade“ und damit von der Theologie Augustins her ent­ worfene Interpretation des Themas an.100 Am Schluss bündelt Tyndale seine Gedanken in einer ausführlichen Zusammenfassung, welche die Rechtferti­ gung des Menschen in den Kontext der Heilsgeschichte einzeichnet.101 Tyn­ dale arbeitet also auf diese Weise in seinem Prolog alle eingangs genannten Themen ab und versucht so, der englischen Leserschaft ein „dogmatisches Grundgerüst“ zum Verständnis des Neuen Testaments an die Hand zu ge­ ben.102 2.3.1  Tyndales Aufnahme von Luther: Das Evan­ge­lium als „joyful tidings“ 103 Zu Beginn seiner Ausführungen zum „Evan­ge­lium“ greift Tyndale Luthers Definition des Alten und des Neuen Testaments auf, die das Alte Testament als Buch des Gesetzes und seiner (Nicht-) Erfüllung und das Neue Testament als Buch der Verheißung und des in ihr gründenden (Nicht-) Glaubens ver­ steht.104 Darauf aufbauend übernimmt Tyndale auch Luthers Deutung des 97  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 8: „to put you in remembrance of certain points, which are, that ye well understand what these words mean; the Old Testament; the New Testament; the law; the gospel; Moses; Christ; nature; grace; working and believing; deeds and faith“ (bei den letzten vier Begriffen stößt die dt. Übersetzung an die Grenzen des im Vergleich zum Englischen geringeren Wortschatzes); vgl. WA.DB 6, S. 2,4–11 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522); dazu auch Blanke, S. 263. Daniell, Biography, S. 124–127, versucht den rhetorischen Aufbau des Prologs anhand der genannten Begriffe darzustellen, wird damit aber m.E. dem theologischen Gedankengang Tyndales nur teil­ weise gerecht. 98  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 8–10, s.u. 2.3.1. 99  Vgl. a.a.O., S. 10–14, s.u. 2.3.2. 100  Vgl. a.a.O., S. 14–17, s.u. 2.3.3. 101  Vgl. a.a.O., S. 17–23, s.u. 2.3.4. 102  Hierbei ist hervorzuheben, dass die Einleitung Tyndales für viele seiner Leserin­ nen und Leser wahrscheinlich der erste Kontakt nicht nur mit den Worten des Neuen Tes­ taments, sondern auch mit ihrer reformatorischen Deutung war, vgl. Holeczek, S. 260. 103  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 8. 104  Vgl. ebd., vgl. WA.DB 6, S. 2,16–21(Vorrede zum Neuen Testament, 1522): „gleych wie das allte testament ist eyn buch, darynnen Gottis gesetz vnd gepot, da neben die ge­ schichte beyde dere die selben gehallten vnd nicht gehallten haben, geschrieben sind, Also ist das newe testament, eyn buch, darynnen das Euangelion vnd Gottis verheyssung da­ nebe auch geschichte beyde, dere die dran glewben und nit glewben, geschrieben sind“.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Begriffs „Evan­ge­lium“.105 Dieses ist zu verstehen als göttliches Wort von Christus als dem wahren David.106 Durch ihn werden alle in der Sünde ge­ fangenen Menschen von ihren Sünden erlöst und zur Gemeinschaft mit Gott befreit.107 In diesem Zusammenhang wird das „Testament“ in seinem ursprünglichen Wortsinn als „Verfügung eines Sterbenden“ auf die Übereignung der Ver­ dienste des sterbenden Christus an die Glaubenden übertragen: „Christus selbst befahl und bestimmte vor seinem Tod, dass dieses Euangelion, Evan­ ge­lium oder frohe Botschaft in aller Welt verkündigt und damit allen Glaubenden seine Wohltaten gegeben werden sollen“108.

Christus selbst steht im Zentrum, „er ist gegenwärtig im Evan­ge­lium als Zu­ sage und Gabe, unterschieden vom Gesetz“109. Diese gute Nachricht des in Christus pro nobis geschehenen Heils, das der Glaube erfasst, findet sich – ungeachtet der eingangs vorgenommenen grund­ sätzlichen Unterscheidung der beiden Bibelteile als Bücher des Gesetzes bzw. der Verheißung – sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament, wie Tyn­ dale in Anlehnung an Luther unter Anführung von Röm 1,1–3, Gen 3,15 und 22,18 sowie Gal 3,16 und Joh 11,25 f weiter ausführt. Während Luther diese biblischen Belege im Folgenden noch um weitere Verweise (2 Sam 7,12–14; Mi 5,1; Hos 13,14) ergänzt, um anschließend erneut auf die Bedeutung des „Evan­ge­liums“ zurückzukommen, lässt Tyndale an dieser Stelle Luthers Vor­ lage hinter sich und kommt im zweiten Teil seiner Einleitung auf das Gesetz zu sprechen. Unabhängig von Luther, aber doch dessen Zuordnung von „Ge­ setz und Evan­ge­lium“ verpflichtet, formuliert Tyndale nun mit eigenen Wor­ ten.110  

105  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 8 f; WA.DB 6, S. 2,23–4,11 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522). 106  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 9: „of Christ the right David“; vgl. WA.DB 6, S. 4,5 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522): das Wort „von eynem rechten Dauid“. 107  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 9: „loosed, justified, restored to life and saved, brought to and reconciled unto the favour of God, and set at one with him again“; vgl. WA.DB 6, S. 4,7 ff (Vorrede zum Neuen Testament, 1522): „on yhr verdienst erloset, rechtfer­ tig, lebendig vnd selig gemacht hat, vnd da mit zu frid gestellet, und Gott wider heym bracht“; vgl. Trueman, Legacy, S. 87 f: „Christ’s work is thus the basis for the restoration of man’s moral abilities“. 108  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 9: „even so Christ before his death commanded and appointed that such Evangelion, gospel, or tidings should be declared throughout all the world, and therewith to give unto all that believe, all his goods“; vgl. WA.DB 6, S. 4,15–18 (Vorrede zum Neuen Testament, 1522): „Also hatt auch Christus fur seynem ster­ ben befolhen und bescheyden, solchs Euangelion nach seynem todt, aus zuruffen ynn alle wellt, vnd damit allen, die do glewben, zu eygen geben alles seyn gutt“. 109  Bayer, S. 75. 110  Dem Duktus des „Prologue“ folgend müsste man hier korrekterweise von der Reihenfolge „Evan­ge­lium und Gesetz“ sprechen; s.u. 2.7.2.1.

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)

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2.3.2  Tyndales Akzentuierung des verurteilenden Gesetzes Das Gesetz stellt für Tyndale im Anschluss an Joh 1,17 insofern den Wider­ part des Evan­ge­liums dar, als es dem Menschen seine Unfähigkeit zum Guten vor Augen führt: „Das Gesetz (dessen Diener Mose ist) wurde uns gegeben zur Erkenntnis unserer selbst […] Das Gesetz verdammt uns und unsere Taten“111. Das Gesetz hat diese Wirkung, weil es vom Menschen das Unmög­ liche fordert, nämlich: „perfect love, from the bottom and ground of the heart“112, also etwas, das kein Mensch von sich aus hervorbringen kann. In­ dem es den Menschen dieser Unfähigkeit überführt und verdammt, bereitet das Gesetz den Boden für den Freispruch von eben dieser Verdammnis, den der Mensch in Christus erfahren kann.113 Die Annahme des durch die Ver­ dienste Christi erworbenen Freispruchs vom verdammenden Urteil des Ge­ setzes im Glauben ermöglicht ihm die Befreiung zum Leben und beruft ihn zur Gotteskindschaft im Geist: „In the gospel, when we believe the promises, we receive the spirit of life“.114. Der usus elenchticus gehört für Tyndale also – wie für Luther115 – notwendig zum befreienden Evan­ge­lium hinzu, ja er ermöglicht erst die Annahme der Gnade in Christus durch die Glaubenden: „the law and the gospel may never be separate“116. Doch wo es Luther gerade auf die klare und eindeutige Unterscheidung beider Größen ankommt,117 steht für Tyndale eher ihre Bezogenheit aufeinander im Rahmen des Recht­ fertigungsgeschehens im Vordergrund. Mehr als die begriffliche und inhalt­ 111  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 10: „The law (whose minister is Moses) was g­ iven to bring us unto the knowledge of ourselves […] The law comdemneth us and all our deeds“. 112  Ebd. 113  Vgl. a.a.O., S. 11. 114  Ebd. 115  Vgl. WA 7, S. 23,24–24,20 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520): „Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, dass ihm nun angst wird, wie er dem Gebote Genüge tut, weil ja doch das Gebot erfüllt sein oder er verdammt sein muss, dann ist er recht gedemütigt und zunichte geworden in seinen ei­ genen Augen. Er findet nichts in sich, wodurch er gerecht werden könnte. So kommt da­ rauf das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage [= promissio] und spricht: […] glaube an Christus“ (zitiert nach Bayer, S. 54 f). 116  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 11, vgl. Luthers Auslegung zu Gal 3,24 (WA 2, S. 528,15–529,19, Galaterkommentar, 1519); vgl. Ebeling, Sp. 514; Althaus, Theologie, S. 223 f. Beide, Gesetz und Evan­ge­lium, finden sich, wie Tyndale erneut betont, darum sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament wieder (vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 11 f; vgl. WA.DB 8, S. 12,16 f, Vorrede zum Alten Testament, 1523: „also sind auch ym alten testament neben den gesetzen, etliche verheyssungen vnd gnaden spruche“). 117  An der Fähigkeit, beide Größen zu unterscheiden, hängt für Luther bekanntlich „die gesamte Schrift und die Erkenntnis der ganzen Theologie“, vgl. z.B. WA 7, S. 502,34 f, (Ennarationes epistolarum et euangeliorum, quas postillas vocant, 1521): „pene universa scriptura totiusque Theologiae cognitio pendet in recta cognitione legis et Euangelii“; vgl. auch Althaus, Theologie, S. 218; Lohse, Theologie, S. 284 f.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

liche Differenzierung interessiert ihn die subjektive Rezeption des göttlichen Anspruchs und Zuspruchs. Vor dem Hintergrund der Doppelstruktur von Gesetz und Evan­ge­lium macht Tyndale nämlich im folgenden Abschnitt der Vorrede drei unterschiedliche Verhaltensweisen aus, mit denen Menschen lex und promissio begegnen können. Hier ähneln Tyndales Ausführungen denen Luthers in seiner „Vorrede zum Alten Testament“ (1523), in der auch Luther drei Typen des Umgangs mit dem Gesetz beschreibt.118 Da sind zum einen diejenigen, die glauben, sich durch ihre guten Werke selbst rechtfertigen zu können, indem sie sich um die äußerliche Befolgung der Gebote bemühen. Sie verkennen dabei, dass es nicht mit einem bloßen Tun des Gebotenen getan ist, sondern das Gesetz darüber hinaus auch seine vollständige innere Bejahung fordert, die der Mensch zu leisten nicht im­ stande ist. Den vermeintlich (Werk-) Gerechten kann Tyndale darum vorhal­ ten: „Sie verhüllen das Gesicht des Mose mit einem Schleier [2Kor 3,13] und erkennen nicht, wie das Gesetz der Liebe aus dem Grunde des Herzens bedarf “ 119. Die Folge ist ein gestörtes Gottesverhältnis, in dem der Mensch das anklagende Gesetz verwünscht und – anstatt ihm die Ehre zu geben – Gott wie einen Tyrannen hasst.120

Eine andere Gruppe bemüht sich erst gar nicht um die Einhaltung der gött­ lichen Gebote, sondern nimmt sich alle Freiheiten heraus, mit dem Verweis: „God is merciful, and Christ died for us“121. Auch dieses libertinistische Ver­ ständnis des Evan­ge­liums lehnt Tyndale ab, denn: „Die genusssüchtige Person [ist] wie ein wollüstiges Schwein, fürchtet weder Gott in seinem Gesetz, noch ist sie dankbar für seine Verheißungen und seine Barm­her­ zigkeit“122.

Beide Interpretationen, die werkorientierte und die libertinistische, entspre­ chen nicht dem in der Schrift bezeugten Glauben, den Tyndale definiert als: 118  Vgl. WA.DB 8, S. 26,3–23 (Vorrede zum Alten Testament, 1523): Für Luther gibt es diejenigen, die „das gesetz horen vnd verachten“ (3), andere, „die es angreyffen mit eyge­ ner krafft zu erfullen on gnade“ (7) und es zwar äußerlich einzuhalten trachten, jedoch den wahren Sinn nicht verstehen, es bildlich „mit einer Decke verhüllen“ (Ex 34,29 ff/ 2 Kor 3,13), und es gibt schließlich diejenigen, „die Mosen klar on decke sehen“ (14) und sich der überführenden Wirkung des Gesetzes bewusst sind. Tyndale ändert in seiner Darstel­ lung die Reihenfolge der drei „Rezeptions-Typen“, indem er die äußerlichen Befolger des Gesetzes den Verächtern voranstellt. Bei letzteren bringt Tyndale – anders als Luther – als Motiv für die Verachtung des Gesetzes die Berufung auf Christus ins Spiel, wehrt also ge­ wissermaßen eine antinomistische Tendenz ab. 119  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 12: „They set a vail on Moses’ face and see not how the law requireth love from the bottom of the heart“. 120  Vgl. a.a.O., S. 13: „hateth him as a tyrant“. 121  A.a.O., S. 12. 122  A.a.O., S. 13: „the sensual person, as a voluptuous swine, neither feareth God in his law, neither is thankful for his promises and mercy“.

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)

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„ein Geschenk Gottes, dass den Sündern gegeben wird, nachdem ihnen das Gesetz auferlegt wurde und ihre Gewissen an den Rande der Verzweiflung und in Höllen­ angst gebracht hat“123.

Der dritten Gruppe schließlich wird in der Krisis, in die das Gesetz den Men­ schen treibt, wahrer Glaube von Gott geschenkt, der nicht ohne Konsequen­ zen bleibt: „Sie haben jenen rechten Glauben, stimmen dem Gesetz zu, das gerecht und gut ist […] und haben Freude am Gesetz (dessen ungeachtet, dass sie es aufgrund ihrer Schwä­ che nicht erfüllen können)“124.

Für den wahrhaftig Glaubenden gewinnt das Gesetz nicht dadurch eine posi­ tive Bedeutung, dass er es vollständig erfüllen kann. In der Kraft des Glau­ bens kann er jedoch erkennen, dass es gut und gerecht ist und sich daran er­ freuen. Aus diesem Grund bemüht er sich fortan darum, den Forderungen des Gesetzes Genüge zu tun, auch wenn ihm die Befähigung dazu weiterhin fehlt. Im Unterschied zum Ungläubigen vermag er jedoch nun mithilfe des ihm von Gott geschenkten Geistes um Stärkung zu bitten.125 Auf diese Weise stimmt der Glaubende dem Gesetz von ganzem Herzen zu und gibt dem Ge­ ber des Gesetzes die Ehre.126 In seiner Beschreibung der Konsequenzen aus dem Rechtfertigungsge­ schehen entfernt sich Tyndale also in seiner Wortwahl von Luther. Während letzterer in seinen Darstellungen des Lebens der durch den Glauben in Chris­ tus Gerechtfertigten im Umgang mit dem Begriff „Gesetz“ vorsichtig bleibt und den Begriff „Gebot(e)“ vorzieht,127 ist „law“, verstanden als „Gesetz im Herzen“, für Tyndale offensichtlich unproblematisch. Man gewinnt sogar 123 

Ebd.: „a gift of God; and is given to sinners, after the law hath passed upon them, and hath brought their consciences unto the brim of desperation and sorrows of hell“. 124  Ebd.: „They that have this right faith, consent to the law, that is righteous and good […] and have delectation in the law (notwithstanding that they cannot fulfill it for their weakness)“. 125  Vgl. ebd.: „And the Spirit, that is in them, crieth to God night and day for strength and help, with tears (as saith Paul) that cannot be expressed with tongue“ (Röm 8,26). 126  Vgl. a.a.O., S. 14: „He believeth the promises, and ascribeth all truth to god: thus everywhere, justifieth he God, and praiseth God“; vgl. Luthers Deutung von Gal 3,24 f, WA 2, S. 528,26–36 (Galaterkommentar, 1519): „Deinde, ubi pueri ad haereditatem per­ venerunt, intelligentes, quam utilis fuerit paedagogus, iam incipiunt diligere quoque et laudare officium paedagogi damnareque seipsos, quod non libentes et volentes obtem­ perarint, nunc vero sine paedagogo sua sponte faciunt hilariter, quae sub paedagogo no­ lentes faciebant et inviti: ita nos fide acquisita, quae vera est haereditas nostra Abrahae et semini eius promissa intelligentes, quam sancta salubrisque sit lex, quam faeda vero cupi­ ditas, iam legem diligimus, laudamus et mire probamus, rursum cupiditates nostras eo magis damnamus et vituperamus, quo magis lex ipsa placet, et nunc hilariter et libenter facimus, quod ignorantibus tunc nobis salubris lex vi et terrore extorquebat foris, et tamen intus extorquere nequivit“. 127  Vgl. Lohse, Theologie, S. 293 f.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

den Eindruck, dass die Zustimmung der Glaubenden in den im Gesetz be­ kundeten Willen Gottes für Tyndale tatsächlich der Zielpunkt des Rechtfer­ tigungsprozesses ist: „Der Christenmensch stimmt dem Gesetz zu: Dass es gerecht ist. Und er rechtfertigt Gott im Gesetz, indem er bekennt, dass Gott, welcher der Autor des Gesetzes ist, ge­ recht und rechtschaffen ist“128.

Mit der Behauptung einer großen inhaltlichen Differenz zu Luther muss man hier jedoch trotz der unterschiedlichen Terminologie vorsichtig sein,129 denn auch für Luther bedeutet das Sein im Glauben, in aller Angefochtenheit, ge­ genüber dem Leben im Unglauben, Veränderungen. Glaube bringt notwen­ dig Früchte hervor, denjenigen, „der zu Christus gerufen wird, der diesem Rufe glaubt und als Glaubender in Christus geborgen ist, trifft dieses inhalt­ lich selbe Gebot als evangelischer Zuspruch“130. Auch wenn Luther den Ter­ minus „Gesetz“ eher selten im Zusammenhang mit dem Leben der Glauben­ den nennt, unterscheidet sich sein Verständnis inhaltlich nicht allzu sehr von dem, was Tyndale beschreibt.131 2.3.3  Tyndales Akzentuierung von Natur und Gnade Nachdem Tyndale die drei Typen menschlichen Umgangs mit dem Wort Gottes in Gesetz und Evan­ge­lium unterschieden hat, macht er einen neuen Ansatz, um die Bezogenheit beider Größen aufeinander zu beschreiben, die­ ses Mal aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive. Hier ist seine Bezugsgröße darum augenscheinlich Augustin,132 dem er in seiner Argumentation über 128 

Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 13: „The right christian man consenteth to the law that it is righteous, and justifieth God in the law; for he affirmeth that God is righteous and just, which is the author of the law“; vgl. Trueman, Legacy, S. 92: „Thus the goal of salvation is the total sanctification of the believer“; vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 90,30 ff: „Wer also glaubt, würt selig und versůcht den tod nimerme, halt das gebott gottes und thůt sein willen“; vgl. dazu Koch, S. 25 f. 129  Den Unterschied zu Luther machen stark: Trinterud, Reappraisal, S. 27; Smee­ ton. Lollard Themes, S. 148 ff; Werrell, Theology, S. 15 f. 130  Joest, S. 133, vgl. WA.DB 7, S. 20,2–5 (Römerbriefvorrede, 1522): „Darumb ist dise freyheyt eyn geystliche freyheyt, die nicht das gesetze auffhebt, sondern dar reicht, was vom gesetz gefodert wirt, nemlich, lust vnd lieb, damit das gesetz gestillet wirt, vnd nicht mehr zu treyben vnd zu foddern hat“. 131  Vgl. WA 6, S. 207,26–29 (Von den guten Werken, 1520): „Alszo einn Christen mensch, der in diser zuvorsicht gegen got lebt, weisz alle ding, vormag alle dingk, vor­ misset sich aller ding, was zu thun ist, und thuts alles frolich und frey, nit umb vil guter vordinst unnd werck zusamlen, szondern das yhm eine lust ist got alszo wolgefallen“; vgl. Joest, S. 132: „Freiheit vom Gesetz ist nicht Gesetzlosigkeit, sondern Liebhaben des Ge­ setzes“; s.u. 2.7.2.1. 132  Möglicherweise auch ein durch Bucer vermittelter Augustinismus, vgl. Müller, S. 33 f.

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)

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weite Strecken folgt (damit bleibt jedoch auch Luther sein theologischer Ge­ währsmann). Mit dem Sündenfall Adams, der für Tyndale ganz im Sinne Augustins mit der Empfängnis „vererbt“ wird,133 beginnt der Abfall von Gott, der alle Men­ schen zu „Erben der Vergeltung Gottes“134 macht. Von Gott getrennt stehen sie darum unter der Herrschaft Satans und sind in ihrem Innersten verdorben, „voll von dem natürlichem Gift, aus dem alle sündigen Taten erwachsen“135. Die Fähigkeit, diese eigene Verfasstheit wahrzunehmen, wird dem Menschen erst mit der Gabe des Gesetzes ermöglicht, denn dieses erst macht ihm seine Sündigkeit offenbar, so dass er die Verdammnis seiner selbst durch Gott er­ kennt.136 Das Gnadenhandeln Gottes in Jesus Christus greift nun in diesen endlosen Kreislauf des Bösen ein und gibt den Söhnen und Töchtern Adams einen neuen Grund: „Aus Gnade (das heißt aus Gunst) sind wir aus Adam, dem Grund alles Übels, heraus­ gerissen und aufgepropft auf Christus, der Wurzel alles Guten“137.

In Christus hat Gott die von ihm Erwählten schon vor aller Zeit geliebt und führt sie darum nun mithilfe der Predigt des Evan­ge­liums wieder ihrer ur­ sprünglichen Bestimmung zu, indem er sie mit dem Geist Christi erfüllt.138 Diese Geistesgabe ist verbunden mit der inneren Hinwendung zu Gott und 133  Zu Augustin vgl. Seeberg, S. 504 ff; vgl. auch WA 2, S. 100,34–105,27 (Auslegung Vaterunser deutsch, 1519). 134  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 14: „heirs of the vengeance of God“; vgl. Bu­ cer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 48,17–49,15. Vgl. auch Knox, Doctrine, S. 22 f. 135  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 14: „full of the natural poison, whereof all sinful deeds spring“; vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 50,1–4: „Dem teüffel haben wir gefolget und gott veracht, darumb seind wir auch in den verkerten synn geben, das wir niemant nutz koenden sein, sonder so vil an uns gelegen menigklich schaden zůfuegen und uns die ewig verdamnüß“. 136  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 14. Tyndale kann hier auch – in der negativen Verkehrung – das Bild des Baumes (Mt 7,18) benutzen, der schlechte Früchte hervor­ bringt, weil er ein schlechter Baum ist. Das Sein bestimmt die Taten und nicht umge­ kehrt, vgl. WA 7, S. 32,4–34 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520); vgl. dazu auch Trueman, Legacy, S. 90. 137  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 14: „By grace (that is to say, by favour) we are plucked out of Adam, the ground of all evil, and graffed in Christ, the root of all good­ ness“; vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 61,23 ff: „so folget nun ye gewisßlich, das der glaub allein vermag, uns von uns abzyehen und gott dem vatter als kinder zů überge­ ben“. 138  Die Frage nach dem Verständnis der „Erwählung“ bei Tyndale ist in der Forschung viel diskutiert und wird an anderer Stelle noch eingehender zu untersuchen sein (z.B. 3.2.8 und 3.4.1.2). Grundsätzlich lässt sich für Tyndale, wie auch für Luther, mit Trueman (Trueman, Legacy, S. 86; vgl. dazu auch die wohlwollende Kritik von Leininger, S. 58 f) feststellen: „predestination does not function as a theological axiom but is rather a deriva­ tive of previously established doctrines which it in turn supports“.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

dem Geschenk des Glaubens, das die Erwählten befähigt, dem Gesetz von Herzen zuzustimmen und nach seiner Erfüllung zu trachten.139 Es fällt auf, dass die Begriffe „Glaube“, „Gnade“, „Geist“ und „Liebe“ in diesem Zusammenhang als aufs engste miteinander verbundene Elemente ei­ nes alle einschließenden Prozesses erscheinen. Sie sind Teile einer einzigen dynamischen Bewegung, in der Gott seine Auserwählten führt. Hierin äh­ nelt Tyndales Darstellung dem Gedankengang Augustins, in dem laut See­ berg „der göttliche Liebeswille in der Seele so wirksam wird, daß der mensch­ liche Wille sich von ihm zum Guten beleben und bewegen lässt. Die Begriffe Gnade, Geist, Liebe bezeichnen also wesentlich dasselbe. Sie bedeuten einer­ seits das Wirken des erlösenden Gotteswillens in der Seele und andererseits das durch dieses gewirkte neue geistliche Leben des Menschen“140. Insbesondere die Rolle des Geistes als Initiator der Verwandlung des Glau­ benden ist bei Tyndale möglicherweise stärker hervorgehoben als bei Lu­ ther.141 Ebenso wie Augustin ist hier freilich auch Bucer ein möglicher Kron­ zeuge für Tyndales heilsgeschichtliche Verortung des Rechtfertigungsge­ schehens.142 Neben der Betonung der Pneumatologie ist insbesondere die Deutung des Christusereignisses als restitutio der Gottebenbildlichkeit vor dem Sündenfall, die Tyndale hier vollzieht, auch bei Bucer zentral.143 139  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 15: „consent to the law, and love it inwardly in our heart, and desire to fulfil it, and sorrow because we cannot“; vgl. WA.DB 7, S. 6,12–14 (Römerbriefvorrede, 1522): „Aber das gesetz erfullen ist, mit lust und lieb seyn werck thun und frey on des gesetzs zwang Gotlich und wol leben, als were keyn gesetz oder straff, Solche lust aber freyer liebe, gibt der heylige geyst ynß hertz“. Vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 61,25–28: „Alsdann, so wir wore kinder worden seind, můsß unser hoechster fleiß sein, disem unserm aller liebsten und guetigisten vatter zů wilfaren und in allen dingen seinem gesatz noch leben“. 140  Seeberg, S. 521. 141  Vgl. Trueman, Legacy, S. 90 ff, besonders 90, Anm. 33. 142  Zu Bucers Augustin-Rezeption vgl. Stephens, Bucer, S. 17 f. Freilich finden sich auch bei Luther Aussagen über den Geist, der den Glauben wirkt und die Liebe „ausschüt­ tet“ (vgl. z.B. WA 6, S. 206,28–30, Von den guten Werken, 1520: „dieser glaub bringet alszo bald mit sich die liebe, frid, freud unnd hoffnung. Dann wer got trawet, dem gibet er szo bald seinen heiligen geist“; WA 6, S. 515,29–33, De Capitivtitate Babylonica Ecclesiae, 1520: „Ad hanc fidem mox sequetur sua sponte dulcissimus affectus cordis, quo dilatatur et im­ pinguatur spiritus hominis (haec est charitas, per spiritum sanctum in fide Christi donata), ut in Christum, tam largum et benignum testatorem, rapiatur fiatque penitus alius et no­ vus homo“). Doch Luthers Akzent bei der Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens liegt nicht auf der pneumatologischen Dimension (in Luthers Freiheitsschrift taucht der Begriff „Geist“ nicht einmal auf!). Ihm geht es stärker um das „Ergreifen“ Christi durch den Glaubenden, in dem der Glaube selbst zur zentralen Größe im Rechtfertigungsge­ schehen wird, vgl. Schwarz, Art. Luther, Sp. 578: „Der Glaube ergreift für den Sünder die ihm zugesagte Gerechtigkeit Christi. Darin ist L.s Rechtfertigungslehre zentriert“. 143  Vgl. Koch, S. 22 ff; Müller, S. 17 ff (besonders a.a.O., S. 17, Anm. 10); Stephens, Bucer, S. 65 f.

2.3  Das Vorwort zum Neuen Testament („Cologne Fragment“, 1525)

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Als ob Tyndale das Problem einer derartigen terminologischen Unschärfe bewusst gewesen wäre, ist es ihm – im Anschluss an die Darstellung der heils­ geschichtlichen Rettung des Menschen – wichtig zu betonen, dass es allein der Glaube an Christus ist, der vor Gott gerecht macht, nicht etwa Liebe oder gute Werke. Denn auch wenn diese eng mit dem wahrhaftigen Glauben ver­ bunden sind, bleiben sie doch auf das Gesetz bezogen und nicht auf die Ver­ heißung, auf die der Glaube sich bezieht.144 2.3.4  Tyndales heilsgeschichtliche Bündelung Tyndale beendet die Vorrede, indem er das bisher Gesagte in einen heilsge­ schichtlichen Kontext stellt.145 Erneut setzt er beim Fall Adams ein, der die Menschheit „in die Gefangenschaft und Fesselung unter dem Teufel“146 führt. Die Folgen benennt er nun mit besonderem Nachdruck: Hass, Bosheit, Gewalt, Unkeuschheit und Weltzugewandtheit sind die Ausdrucksformen der Verlorenheit an das Böse,147 die erst das Gesetz zutage treten lässt.148 Mit der Gabe des Gesetzes durch Mose wird diese Bosheit des menschlichen We­ sens offenbar als Unfähigkeit zur Gesetzeserfüllung.149 Erst durch Christus wird die Gefangenschaft überwunden, indem dieser Gottes Zorn auf sich nimmt und so die Menschen mit Gott versöhnt.150 Die Art und Weise, wie diese Annahme des Menschen durch Gott zu ver­ stehen ist, erläutert Tyndale nun in einer von den vorangegangenen Schilde­ rungen abweichenden Terminologie. In Anlehnung an Augustin (bzw. Bu­ cer) spricht er hier von der „Rückgabe“ des durch den Sündenfall verlorenen Geistes, welcher den Menschen befähigt, die Fesseln des Satan zu lösen.151 144  145 

Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 15. Vgl. a.a.O., S. 17: „Here shall ye see compendiously and plainly set out the order and practice of every thing afore rehearsed“. 146  Ebd.: „into captivity and bondage under the devil“. 147  Vgl. ebd.: „With what poison, deadly, and venemous hate hateth a men his enemy!“ 148  Vgl. zu Bucers ähnlicher Auffassung Stephens, Bucer, S. 93–97. 149  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 18: „we can neither see nor feel what mi­ sery, thraldom, and wretchedness we are in, till Moses come and wake us, and publish the law. […] then beginneth the conscience to rage against the law, and against God […] For it is not possible for a natural man to consent to the law, that it should be good, or that God should be righteous which maketh the law“. 150  Vgl. a.a.O., S. 19: „his meekness and fulfilling of the uttermost point of the law, appeased the wrath of God; brought the favour of God to us again“. 151  Vgl. ebd.: „to rule, govern, and strength us, and to break the bonds of Satan“; vgl. Seeberg, S. 521 f u. 530: „Die Ausrüstung mit der Kraft das Gute zu wollen und zu tun, diese Umwandlung des Menschen (per gratiam reparata natura, sp. et litt. 27, 47) ist im Zu­ sammenhang der augustinischen Gedanken der eigentliche Effekt der Gnade“; vgl. auch Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 60,1–4: „Dann Christus Jhesus unser heyland ist der, durch den wie alle ding geschaffen seind, also hat gott gefallen durch yn auch alle ding wieder zů bringen und in ire erste ordnung, in die sye geschaffen seind, stellen“.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Diese Wiederherstellung der supralapsarischen Integrität des Menschen voll­ zieht sich an den Erwählten durch die Predigt des Evan­ge­liums: „For when the evangelion is preached, the Spirit of God entereth into them which God had ordained and appointed unto eternal life“152.

Durch den Geist werden die Glaubenden befähigt, das Gesetz als Gottes gu­ ten Willen anzuerkennen und in ihrem Handeln nach seiner (immer unvoll­ kommen bleibenden) Erfüllung zu streben, „even as a sick man desireth to be whole“153. Die Rechtfertigung ist für Tyndale somit der Beginn eines „Neuen Seins“ in Christus, in dem das Gesetz wieder eine Rolle als Richtschnur für das Leben der Glaubenden einnimmt (tertius usus legis).154 Christus selbst hat für die Gerechtfertigten darum eine doppelte Funktion: Er ist einerseits der Versöhner und Erlöser, der durch sein Blut („bloodshedding“155) den neuen Zustand der Glaubenden erst stiftet. Zum anderen ist er darüber hinaus auch selbst „ein Beispiel zur Nachahmung“ („an example to counterfeit“156), also derjenige, dem Christenmenschen nachstreben kön­ nen und sollen.157 Diese Nachfolge macht Tyndale – hier wieder ganz bei Lu­ ther – an Christi Liebeshandeln fest, das der Glaubende ja im Rechtferti­ gungsgeschehen auch an sich selbst erfahren hat: „By faith we receive God, and by love we shed out again“158. Aus dankbarer Liebe gegenüber dem, der sich aus Liebe zu ihnen selbst geopfert hat, sollen die Christen ihr Verhalten an ihm ausrichten: „So doth a Christian man freely all that he doth; considereth nothing but the will of God, and his neighbour’s wealth only“159. 152  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 19, vgl. Augustin: „intrinsecus incrementum dat diffundendo caritatem in cordibus nostris per spiritum sanctum“, zitiert bei Seeberg, S. 530 (sp. et litt. 25, 42). 153  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 19; vgl. das bei Luther negativ verwendete Bild: WA.DB 7, S. 21,29 f (Römerbriefvorrede, 1522): „Gleich wie ein Krancker nicht leyden kan, das man von jm foddere lauffen vnd springen vnd andere wercke eines Gesunden“. 154  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 20, vgl. WA.DB 7, S. 19,35 f (Römerbriefvor­ rede, 1522): „Die gnade machet vns aber das Gesetze lieblich, So ist denn keine suende mehr da, vnd das Gesetz nicht mehr wider vns, sondern eines mit vns“. 155  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 19. 156  A.a.O., S. 20. 157  Vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 60,8–13: „Und das, so sye glauben in Christum, das ist, im gaentzlich vertruwen, er hab sye durch sein blůt wider in suen und gnad des vatters gestelt und also folgend durch sein geist wider auch gegen allen creaturen erstlicher ordnung nach, die dann ist wie obgemelt menigklich nützlich und verstendig sein einem yeden nach seiner empfengklicheit uffgericht“. 158  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 20. Im Verständnis der Dialektik von Gesetz und Evan­ge­lium befindet sich Tyndale in größerer Nähe zu Luther als zu Bucer, vgl. Ste­ phens, Bucer, S. 68. 159  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 21; vgl. WA 7, S. 35,20–36,10 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520).

2.4  Die Marginalien zum „Cologne Fragment“ (1525)

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Mit dieser ethischen Konsequenz aus dem Rechtfertigungsgeschehen kommt Tyndale zum Abschluss noch einmal auf das Eingangsthema, Gesetz und Evan­ge­lium, zu sprechen. Wo das Gesetz Bewusstsein für die Sünde geschaf­ fen und dem Menschen die eigene Selbstbezogenheit vor Augen geführt hat, kann das Evan­ge­lium ihn verwandeln und untrennbar mit Gott vereinen (Röm 8,35 ff). 160 So kann Tyndale den Prolog schließen:  

„That we desire to follow the will of God, it is the gift of Christ’s blood […] unto whom belongeth the praise and honour of our good deeds, and not unto us“161.

2.4  Die Marginalien zum „Cologne Fragment“ (1525) Im „Cologne Fragment“ von 1525 ist der Text des Matthäusevangeliums durch zahlreiche Marginalien erläutert, die – ebenso wie die Vorrede – dazu dienen, der englischen Leserschaft bei der Erschließung des Textes zu helfen. Sie beziehen sich jeweils auf einzelne Verse und enthalten entweder Wort- und Begriffserklärungen, oder im engeren Sinne theologische Erläuterungen zu den Aussagen des Textes.162 Die Begriffserklärungen sollen die Leser – über die Erläuterung unbekannter Ausdrücke hinaus – mit der Welt vertraut ma­ chen, aus der diese Begriffe stammen, d.h. mit den Sitten und Gebräuchen Palästinas.163 Tyndale bietet also in gewisser Weise exegetisches Hintergrund­ wissen in Form einer „Erklärungsbibel“. Die darüber hinausgehenden theologischen Erläuterungen im engeren Sinne sollen der Leserschaft bei der Interpretation des Gelesenen helfen, in­ dem sie es in bestimmte theologische Parameter fassen. Die theologische Grundaussage, die Tyndale im Matthäusevangelium immer wieder entdeckt, ist die reformatorische Rechtfertigungslehre. Tyndale bedient sich dazu der Marginalien Luthers, die er großteils wörtlich übernimmt.164 Er ergänzt sie jedoch auch durch eigene Anmerkungen, in denen sich bestimmte eigene Mo­ tive wiederfinden, die schon in der Vorrede erkennbar waren.165 So stellt Tyndale in seinen eigenen Erläuterungen noch einmal die Rolle Christi als des Retters heraus, der die Menschen um seinetwillen, nicht etwa um ihrer eigenen Verdienste willen erlöst. Das Reflexionszitat Jes 7,14 (Mt 1,23) nimmt 160  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 21: „how the law is the key that bindeth and damneth all men, and the evangelion looseth them again“. 161  A.a.O., S. 23. 162  Vgl. Holeczek, S. 261. 163  Tyndale erklärt beispielsweise, dass die Heuschrecken, von denen sich Johannes der Täufer in der Wüste ernährt, nicht mit den heimischen englischen „grasshoppers“ zu ver­ wechseln sind (Mt 3,4); für weitere Beispiele vgl. Daniell, Biography, S. 118. 164  Eine bestimmte Tendenz, welche Aussagen Luthers er integriert und welche nicht, lässt sich dabei m.E. nicht erkennen, vgl. ebd. 165  Vgl. Holeczek, S. 261 f.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

er zum Anlass, die enge Verbindung Gottes mit Christus herauszustellen: Christus bringt den Menschen Gott. Wo er ist, da ist auch Gott zu finden. Wo Christus nicht ist, ist auch Gott nicht.166 Im Glauben an den in Christus prä­ senten Gott erfährt sich der Christenmensch in der Welt als angefochten und doch zugleich auf wunderbare Weise von Gott vor Übel bewahrt.167 Die Ge­ richtspredigt des Täufers (Mt 3,9) nimmt Tyndale zum Anlass, die alleinige Bezogenheit auf Christus auch im Hinblick auf die praxis pietatis seiner Zeit einzufordern: „Setze dein Vertrauen allein auf Gottes Wort und nicht auf Abraham! Lass die Heili­ gen ein Beispiel für dich sein, aber nicht Grund deines Vertrauens und deiner Zuver­ sicht, denn dann machst du aus ihnen Christus!“168.

Einen weiteren Akzent legt Tyndale in seinen Anmerkungen auf die Folgen des Rechtfertigungsgeschehens für die Glaubenden. Rechtfertigung um Christi willen geht für ihn einher mit der Gewissheit der Errettung, denn die Glaubenden werden im Herzen versichert, dass sie Gottes Kinder sind, in de­ nen der Heilige Geist wirkt.169 Auf dieser Linie kann er zu Mt 12,35–37 an­ merken, dass die äußerlichen Werke die innere Verfassung eines Menschen bezeichnen können und ihm so Gewissheit zu schenken vermögen, freilich ohne ihn zu rechtfertigen: „Wie die Frucht erklärt, welcher Baum es ist, aber ihn weder gut noch schlecht macht“170. Für Tyndale wie für Luther ist das „Herz“ des Glaubenden die entschei­ dende Größe, in der sich die Veränderung zeigen muss. Nicht äußerliche „Werke der Pharisäer“ entsprechen Gottes Willen (Mt 5,20 und 5,29), „but Christ requireth goodness of the heart“171. Die Veränderung im Herzen ist für Tyndale gekennzeichnet von der freien Befolgung des göttlichen Willens: 166  167 

Vgl. Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 227. Vgl. Tyndales Erklärung zum Kindermord in Bethlehem (Mt 2,18) a.a.O., S. 228; vgl. dazu auch die Marginalie Luthers in WA.DB 6, S. 20 (Neues Testament, 1522). 168  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 228: „Put your trust in God’s word only, and not in Abraham. Let saints be an ensample unto you, and not your trust and confidence: for then ye make Christ of them“. 169  Vgl. Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 228: „that we are God’s sons, and that the Holy Ghost is in us“; vgl. Bucer; Summary (1523), BDS 1, S. 90,6–9: „Dann wir sollen also gesichert sein seins gůten vaetterlichen willens gegen uns, das wir on allen zweiffel seyen, was wir yn bitten, wir werden auch solchs von ym entpfahen und nehmen“. 170  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 233: „as the fruit declareth what the tree is, but maketh it neither good nor bad“; vgl. auch die Bemerkung zu Mt 16,28, a.a.O., S. 234. 171  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 229; vgl. WA.DB 6, S. 28 (Neues Testament, 1522): „Christus aber foddert des herzen fromheyt“; ähnlich auch die Anmerkung zur Warnung vor dem Abfall (Mt 5,29), zu der Tyndale erklärt, das von Christus geforderte „Ausreißen“ sei spirituell zu verstehen als Tötung der Lüste und Begierden „in the heart“ (Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 229; vgl. WA.DB 6, S. 30, Neues Testament, 1522: „das ist, wenn der augen lust getodtet wirt ym hertzen vnnd abethun“).

2.5  Der Anhang zum „Worms New Testament“: „Epistle to the Reader“ (1526)

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Der Gerechtfertigte „worketh freely for love’s sake only“ 172 (Mt 6,22). Auch hier betont Tyndale in Übereinstimmung mit Luther, indem er dessen be­ rühmte Formulierung aus der Freiheitsschrift (1520) aufnimmt: „So ist ein Christenmensch frei in allen Dingen, die ihn selbst betreffen, er bezeugt je­ doch Achtung und unterwirft sich allen Menschen um seines Bruders willen, um sei­ nem Bruder zugleich zu dienen“173.

Einen „Sonderfall“ der Nachfolge Christi behandelt Tyndale in einer der aus­ führlichsten Anmerkungen: Das Schlüsselwort an Petrus (Mt 16,17 f) legt er mit Luthers Worten als Zusage Christi auf das Bekenntnis des Petrus und da­ mit auf das Bekenntnis eines jeden Glaubenden hin aus und präzisiert in eige­ nen Worten: „Then is every christian man and woman Peter“174. Entspre­ chend erinnert auch seine Randnotiz zu Mt 18,18 an die Übertragung der Schlüsselgewalt an die ganze Gemeinde: „Note here, All bind and loose“175.  

2.5  Der Anhang zum „Worms New Testament“: „Epistle to the Reader“ (1526) Auch die kurze Ansprache an die Leserschaft, die Tyndale an seine Ausgabe des Neuen Testaments von 1526 anhängt, will den Lesenden die theologi­ schen Parameter vor Augen führen, mit deren Hilfe sich der Text des Neuen 172  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 230: , vgl. die von Tyndale übernommene Anmerkung Luthers zur Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Mt 19,21), a.a.O. S. 235. 173  A.a.O., S. 234: „So is a Christian Man free in all things, as pertaining to his own part; yet payeth he tribute, and submitteth himself to all men for his brother’s sake, to serve his brother withal“; vgl. WA 7, S. 20,1–4 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520). Den Weg der Nachfolge beleuchtet Tyndale in seiner Übertragung der Anmer­ kung Luthers zu Mt 9,15 auch unter dem Aspekt des Leidens. Er unterscheidet dabei zwei Formen, einmal die vom Menschen selbstgewählten Leiden (als Beispiele führt er u.a. die Mönchsgelübde an), die Gott ablehnt, zum anderen die von Gott selbst stammenden Lei­ den, welche die Glaubenden erdulden müssen, sie finden vor Gott Wohlgefallen, vgl. Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 231; WA.DB 6, S. 44 u. 46, Neues Testament, 1522). 174  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 234; vgl. WA.DB 6, S. 76 (Neues Testament, 1522). Möglicherweise eingedenk der politischen Brisanz dieser Interpretation mit Blick auf das Papsttum, fügt Tyndale im Anschluss zum ersten und einzigen Mal verschiedene Referenzgrößen an, um seine Position zu stützen, vgl. Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 234: „Read Bede, Austin, and Hierome on the manner of loosing and binding […] Read Erasmus’ Annotations“. Die Brisanz dieser Aussage verkennend, wundert sich Da­ niell, Biography, 118: „Neither Tyndale nor Luther, whom he greatly expands, take the opportunity of doing what a modern reader might expect, and at least comment on the importance of that text for the Roman Church“. Zugleich nutzt Daniell die Gelegenheit, das Bild eines gelehrt argumentierenden Tyndale gegen das des „open anti-clerical and anti-papal“ (a.a.O., S. 119) Luther auszuspielen, was angesichts des Textbefundes in WA.DB 6, S. 76 kaum haltbar ist. 175  Marginalien Cologne Fragment, PS 2, S. 235 (Kursivierung von mir).

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Testaments sinnvoll erschließen lässt.176 Auch hier ist es die Rechtfertigung im Sinne Luthers, die für Tyndale den Schlüssel zur Schrift liefert, allerdings formuliert er hier erstmals ohne direkte Textanleihen bei Luther. Wer sich der Schrift mit „pure mind“ und „single eye“ 177 (Mt 6,22) zu­ wendet, erkennt in ihr Christus und das Evan­ge­lium von der Rechtfertigung durch sein Blut als Mitte der Schrift. Christus steht für die Sünder ein, so dass Zorn und Vergeltung, die die Schrift dem Ungläubigen androht,178 sie nicht mehr treffen können, obwohl sie in ihren Herzen Gottes Gesetz nicht fol­ gen. Zur Wahrnehmung dieser biblischen Botschaft gibt Tyndale seiner Leser­ schaft die Unterscheidung von Gesetz und Evan­ge­lium als hermeneutischen Schlüssel an die Hand.179 Das Gesetz fordert, während das Evan­ge­lium ver­ gibt – beide bedingen darin einander: „Denn ohne das Gesetz könntest du nicht wissen, was das Evan­ge­lium bedeutet, ebenso wie du Vergebung und Gnade nicht erkennen könntest, außer eben, wenn das Gesetz dich verurteilt und dir deine Sünde vorhält“180.

Die Selbstüberprüfung am Gesetz ist darum auch die Empfehlung Tyndales an seine Leser. Nur auf diese Weise können sie zur wahrhaften Buße gelan­ gen, indem sie erkennen: „thou canst not with full lust do the deeds of the law“181. Im Glauben an das Evan­ge­lium Jesu Christi sollen sie dann umge­ kehrt auch Gott erkennen als einen „kind and merciful father“182, der die Sünden vergibt und sie selbst zu Trägern seines Geistes macht um Christi Willen: „his Spirit shall dwell in thee“183. Tyndales Fassung der Lehre von Gesetz und Evan­ge­lium ist damit auch hier einerseits in ihren Grundzügen an Luthers Unterscheidung orientiert. Andererseits zeichnet sich bereits eine Offenheit für eine weitergehende Hei­ ligung des Lebens der Glaubenden kraft des göttlichen Geistes ab, wie Tyn­ dale sie auch im „Cologne Fragment“ (1525) entfaltet.

176  177  178 

Vgl. Holeczek, S. 267 f. Epistle to the Reader, PS 1, S. 389. Vgl. ebd.: „wrath, vengeance, curse, and whatsoever the scripture threateneth against the unbelievers and disobedient“. 179  Vgl. ebd.: „Note the difference of the law and of the gospel“. 180  Ebd.: „for if the law were away, thou couldest not know what the gospel meant; even as thou couldest not see pardon and grace, except the law rebuketh thee, and de­ clareth unto thee thy sin“. 181  A.a.O., S. 390. 182  Ebd. 183  Ebd.

2.6  „A Compendious Introduction, Prologue or Preface upon the Epistle of Paul“

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2.6  „A Compendious Introduction, Prologue or Preface upon the Epistle of Paul to the Romans“ (1526/1527) 2.6.1  Historischer Hintergrund Neben der Übersetzung des Neuen Testaments mit ihrem kurzen Nachwort veröffentlichte Tyndale noch eine weitere Schrift bei Peter Schöffer in Worms. „A Compendious introduction, prologue or preface upon the Epistle of Paul to the Romans“184 erschien Ende 1526 oder zu Beginn des folgenden Jahres zwar ohne Namensnennung, galt aber schon damals als Werk Tyndales und wurde von ihm selbst mit einigen Überarbeitungen in seine revidierte Aus­ gabe des Neuen Testaments von 1534 integriert.185 Der Prolog ist in weiten Teilen eine Übertragung der Römerbriefvorrede Luthers von 1522, die Tyn­ dale z.T. um einzelne Sätze und um längere Passagen ergänzt. Tyndale scheint Luther aus der lateinischen Ausgabe der Vorrede zu übersetzen, die Justus Jo­ nas 1524 unter dem Titel „Praefatio in Epistolam Pauli. Ad Romanos“186 ver­ öffentlicht hat.187 Es ist jedoch anzunehmen, dass Tyndale auch die deutsche Version zur Verfügung stand.188 Auf den letzten neun Oktavseiten der Römerbriefvorrede hängt Tyndale seine Übertragung des Schlussabschnitts von Luthers Schrift „Auslegung

184  185  186  187 

Romans, PS 1, S. 483–510. Vgl. Romans, PS 1, S. 483 (Introductory Notice); vgl. TNT, S. 207–224 (s.u. 7.4). WA.DB 5, S. 619–632 (Lat. Römerbriefvorrede, 1524). Dies wird deutlich, wo Tyndale – mit der lateinischen Fassung – von Luthers deut­ scher Vorrede abweicht, etwa Romans, PS 1, S. 493: „saying, I have heard the gospel, I re­ member the story, lo! I believe“; hier schreibt Luther in der deutschen Fassung nur: „der spricht, ich glewbe“ (WA.DB 7, S. 10,2, Römerbriefvorrede, 1522), wohingegen die latei­ nische Fassung, den Passus – wie Tyndale – paraphrasiert: „Credo [inquiunt] si sola fides iustificat, en, audivi Euangelium, teneo historiam Christo, en credo“ (WA.DB 5, S. 623,10 f, Lat Römerbriefvorrede, 1524). 188  Dafür spricht die Ähnlichkeit zur deutschen Fassung der Römerbrief-Vorrede Lu­ thers in der Satzstruktur und einigen Formulierungen, z.B. lehnt sich Tyndale in Romans, PS 1, 494, bei der Übertragung der Passage an die deutsche Version an: „For through faith a man is purged of his sins, and obtaineth lust unto the law of God, whereby he giveth God his honour, and payeth him that he oweth him; and unto men he doth service willingly, wherewithsoever he can, and payeth every man his duty“; vgl. dazu die lat. Version, WA.DB 5, S. 624,9–14: „Nam cum per eam fidem iustificemur et imbuamur amore legis die, tum sane sic magnifacientes deum et legem, gloriam, quae debetur deo, ei tribuimus. Deinde cum per eandem fidem credimus gratis reconciliatos deo, per Christum, qui nost­ rae ubique saluti servivit, tum et vicissim servimus proximo, ac sic iterum reddimus uni­ cuique quod suum est“. Luthers deutsche Vorrede, WA.DB 7, S. 11,31–34, lautet hier schlicht: „Denn durch den glauben wird der Mensch on suende, vnd gewinnet lust zu Gottes gebotten. Da mit gibt er Gott seine Ehre, und bezalet jn, was er jm schueldig ist. Aber den Menschen dienet er williglich, wo mit er kan, vnd bezalet damit auch jeder­ man“.

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deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien“ (1519)189 an, um – wie er selbst schreibt – den überschüssigen Platz zu füllen.190 Aus der Tatsache, dass Tyndale diesen Text Luthers überträgt, wird spätestens hier zweifelsfrei er­ sichtlich, dass er auch des Deutschen mächtig war. Die Römerbriefvorrede ist nach dem Prolog zum „Cologne Fragment“ die zweite reformatorische Schrift in englischer Sprache überhaupt und wurde wie diese vom englischen Klerus mit scharfer Kritik aufgenommen. Im Brief Nicholas Ridleys vom Februar 1527 gilt auch die Römerbriefvorrede als Be­ leg für die häretische Gesinnung Tyndales.191 2.6.2  Tyndales Aufnahme von Luthers Römerbriefvorrede Tyndales Ergänzungen dienen weitgehend der Illustration der Aussagen Luthers. Damit will er sicherstellen, dass seine englische Leserschaft, welche die Lehre des Reformators nur aus eingeschmuggelten Büchern kannte, auch tatsächlich das erfasst, was für ihn selbst den Schüssel zum Verständnis des Römerbriefes und damit auch der ganzen Heiligen Schrift darstellt. So erläutert Tyndale in den von ihm eingefügten Paraphrasen bestimmte Be­ griffe, wie etwa „Evan­ge­lium“, das gleich zu Beginn des „Prologue“ be­ schrieben wird als „glad tidings […] and also is a light and a way unto the whole scrip­ture“192. Darüber hinaus verweisen Tyndales Ergänzungen auf biblische Belege für Luthers Aussagen, wie etwa der Verweis auf die Pharisäer in den Evangelien und das Leben des Paulus (Phil 3) zur Illustration der Feststellung, dass äußer­ liche Werke kein Nachweis der Rechtfertigung sein können.193 Ebenso il­ lustrierend sind Einschübe, die das vorher Gesagte noch einmal in sprachlich unmittelbarer Form vermitteln wollen, etwa wenn Tyndale die Unfähigkeit des Menschen zu wahrhaft guten Werken in der ersten Person Singular be­ schreibt: „I may of mine own strength refrain […] I may refuse money of mine own strength“194. Ein dritter Typ der Ergänzung ist als Interpretation theologischer Aussa­ gen im engeren Sinne zu verstehen. An einigen Stellen fühlt sich Tyndale be­ müßigt, den Text Luthers zu erweitern und bestimmte Aussagen stärker zu

189 

WA 2, S. 74–130 (Auslegung Vaterunser deutsch, 1519). S.u. 2.6.4; vgl. Mozley, S. 118; Daniell, Biography, S. 150. 190  Vgl. Romans, EEBO, Abb. 18 (s.u. Anhang): „to fill vpp the leefe withal“. 191  Vgl. Mozley, S. 118.350; Daniell; Biography, S. 150 f; H.M. Smith, S. 296; s.o. 2.1.2. 192  Romans, PS 1, S. 484. 193  Vgl. a.a.O., S. 485; ähnlich auch: a.a.O., S. 488.490. 194  A.a.O., S. 503.

2.6  „A Compendious Introduction, Prologue or Preface upon the Epistle of Paul“

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pointieren bzw. sie im Sinne seiner eigenen theologischer Schwerpunktset­ zung zu präzisieren.195 2.6.3  Tyndales Akzentuierung: Der Geist als Subjekt von Rechtfertigung und Heiligung Die interpretatorische Ergänzung Tyndales betrifft vor allem die Rolle des Geistes im Rechtfertigungsgeschehen. Tyndales Hinzufügungen stellen da­ bei insbesondere die Wirksamkeit des Geistes bei der Erneuerung des Men­ schen heraus. Der Geist, der mit dem Glauben an die Verheißungen geschenkt wird, berührt und verändert die Glaubenden im Zentrum ihres Wesens, er befreit sie von der Gefangenschaft des Teufels und beseitigt so auch den da­ durch verstellten Zugang zur Willensäußerung Gottes im Gesetz: „Nun ist uns der Geist aber nicht anders gegeben, als allein durch Glauben, dadurch dass wir den Verheißungen Gottes ohne Zaudern vertrauen […] wenn wir der frohen Botschaft, die uns gepredigt wird, Glauben schenken, erfüllt der Heilige Geist unsere Herzen und löst die Fesseln des Teufels, die unsere Herzen zuvor gefangen hielten, so dass wir keine Lust verspürten nach Gottes Willen im Gesetz“196.

Als einen solchen organischen Prozess der Verwandlung aus der Kraft des Geis­ tes beschreibt Tyndale das Rechtfertigungsgeschehen auch an einigen weite­ ren Stellen.197 So definiert er den fleischlichen Menschen als: „not re­newed with the Spirit, and born again in Christ“198, und wo Luthers Ausführungen zum vierten Kapitel des Römerbriefs mit dem Hinweis auf Ps 32 schließen,199 greift Tyndale diesen auf und ergänzt: „For we are justified, and receive the 195  Die Pointierung von Luthers Beschreibung des Menschen unter dem Gesetz etwa: a.a.O., S. 501.502. 196  Romans, PS 1, S. 488: „Now the Spirit none otherwise given, than by faith only, in that we believe the promises of God’ without wavering […] even as we believe the glad tidings preached to us, the Holy Ghost entereth into our hearts, and looseth the bonds of the devil, which before possessed our hearts in capitvity, and held them, that we could have no lust to the will of God in the law“; vgl. WA.DB 5, S. 621,18–35 (Lat. Römerbrief­ vorrede, 1524); vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 93,31–35: „So aber ein solcher ein woren glauben hat und desßhalb auch ein thaetigen geist, der dann ein versicherung des glaubens ist, der greifft alsbald das fleisch an mit arbeiten, wachen, fasten und andern gůten uebungen, das er es zaeme und betemb, domit es dem geist gehorsam sey“. 197  Vgl. z.B. auch Romans, PS 1, S. 498: „So we see that God only, who, according to the scripture, worketh all in all things, worketh a man’s justification, salvation, and health; yea, and poureth faith and belief, lust to love God’s will, and strength to fulfill the same, into us“. 198  Romans, PS 1, S. 495; vgl. WA.DB 5, S. 624,25 (Lat. Römerbriefvorrede, 1524). 199  Vgl. WA.DB 5, S. 626,28–30 (Lat. Römerbriefvorrede, 1524): „Qui item asserit homi­ nem per imputationem iustitiae, plane sine operibus iustificari, quanquam iam per fidem iustificatos, opera, ut dictum est, sequentur“; vgl. WA.DB 7, S. 16,17–19 (Römerbriefvor­ rede, 1522): „der auch sagt, das der mensch on werck rechtfertig werde, wie wol er nicht on werck bleybt, wenn er rechtfertig worden ist“.

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Spirit, for to do good works; neither were it otherwise possible to do good works, except we first had the Spirit“200. Dem Gerechtfertigten sind demnach gute Werke möglich, insofern er mit dem göttlichen Geist beschenkt wird. Diese Zuspitzung auf das Wirken des Geist wird auch deutlich, wenn Tyn­ dale mit Paulus die Früchte des Glaubens als Früchte des Geistes beschreibt: „Where the Spirit is, there is always summer, and there are always good fruits, that is to say, good works“201. Offensichtlich geht es Tyndale darum, das Missverständnis einer menschlichen Mitwirkung am Rechtfertigungsgesche­ hen auszuschließen. Die guten Werke sind darum keine Eigenleistung des Menschen, sondern Folge seiner Erneuerung, die Gott selbst im Glauben, der aus dem Hören seines Verheißungswortes erwächst, bewirkt.202 So fährt Tyndale fort: „Das ist Paulus’ (An)Ordnung: Dass gute Werke aus dem Geist entspringen, der Geist aber kommt aus dem Glauben, und der Glaube kommt aus dem Hören des Wortes Gottes“203.

Umgekehrt beschreibt Tyndale die Existenz des Menschen unter dem Gesetz als Abwesenheit des Geistes und folgert aus ihr die Unfähigkeit, den im Ge­ setz beschriebenen Willen Gottes zu tun: „But to be under the law is to deal with the works of the law, and to work without the Spirit and grace“204. Insgesamt heben Tyndales Ergänzungen also besonders deutlich hervor, dass Gottes Geist das eigentliche Subjekt der Veränderung des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen ist. Diese Aussage findet sich zwar auch bei Lu­ ther, doch scheint Tyndale dort dieser Aspekt nicht genug betont zu sein. Möglicherweise orientiert sich Tyndale hier, wie schon in der Vorrede zum „Cologne Fragment“, stärker an Augustin bzw. Bucer, bei denen das Wirken des Heiligen Geistes im Prozess der Rechtfertigung und Heiligung ebenfalls eine hervorgehobene Rolle spielt.205 200  201  202 

Romans, PS 1, S. 497. A.a.O., S. 499. Vgl. entsprechende Aussagen Luthers in WA.DB 7, S. 10,6 f (Römerbriefvorrede, 1522): „Aber glawb ist eyn gotlich werck ynn uns, das uns wandelt und new gepirt aus Gott“, bzw. WA.DB 5, S. 623,14 f (Lat. Römerbriefvorrede, 1524): „Vera fides autem est opus dei in nobis, quuo renascimur et renovamur ex deo et spiritu dei“. 203  Romans, PS 1, S. 499: „This is Paul’s order, That good works spring of the Spirit; the Spirit cometh by faith; and faith cometh by hearing of the word of God“; vgl. WA.DB 7, S. 7,20–23 (Römerbriefvorrede, 1522): „DAher kompts, das allein der Glaube gerecht ma­ chet, vnd das Gesetz erfuellet; Denn er bringet den Geist aus Christus verdienst. Der Geist aber machet ein luestig und frey hertz, wie das Gesetz foddert, so gehen denn die guten werck aus dem glauben selber“, und WA.DB 5, S. 621,27–30 (Lat. Römerbriefvorrede, 1524): „Hinc et sola fides iustificat, solaque legem implet. Fides enim per meritum Chris­ tum impetrat spiritum sanctum, His spiritus cor novat, exhilarat, et excitat et inflammat, ut sponte faciat ea, quae vult lex“. 204  Romans, PS 1, S. 501. 205  Der von Tyndale eingefügte Verweis auf den Augustin-Anhänger Prosper von

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2.6.4  Tyndales Anhang: Die Einleitung zur Übertragung der „Kurtz begreiff und ordenung“ aus Luthers Vaterunserauslegung von 1519 Als „Seitenfüller“ dient Tyndale der als Dialog der Seele mit Gott gestaltete Schluss von Luthers Auslegung des Vaterunsers von 1519.206 Luther führt dieses Gespräch an den sieben Bitten des Vaterunsers entlang, in dem die Seele sich flehentlich an Gott als Vater wendet und ihm ihr Leiden an der Sündhaf­ tigkeit klagt. Gottes „Antworten“ folgen in Form von Schriftzitaten, die auf das von der Seele formulierte Leiden des Glaubenden eingehen. Tyndale übersetzt Luthers Dialog wörtlich, stellt ihm aber eine kurze Ein­ leitung aus eigener Feder voran, die den Leser noch einmal (nicht ohne Re­ dundanzen) an die Grundkoordinaten der reformatorischen Bestimmung der Existenz des Menschen vor Gott erinnert. Erneut erscheint das Gesetz als überführendes Instrument Gottes, das dem Sünder seine Verdorbenheit offen­ bart. Reumütig soll er umkehren zu Gott und um die Hilfe bitten, die allein er geben kann, nämlich die Befähigung und Kraft, sein Gesetz zu befolgen: „Merke dir dies und nimm es als sicheren Schluss: Wenn Gott uns im Gesetz etwas zu tun befiehlt, befiehlt er es nicht darum, weil wir in der Lage wären es zu tun, sondern um uns Kenntnis über uns selbst zu verschaffen, auf dass wir sehen, was wir sind und in welch miserablem Zustand wir uns befinden und um unseren Verlust zu begreifen. Damit wir dadurch zu Gott umkehren, ihm unser Unglück kundtun und ihn anfle­ hen, er möge uns aus seiner Gnade heraus wieder zu denen machen, die er einst ins Sein rief und uns Stärke und Kraft geben, das zu tun, was das Gesetz verlangt“207.

Das Gebet ist von daher zu verstehen als die vom Geist inspirierte Äuße­ rung eben jenes Verlangens nach seelischer Gesundung und Heilung von der Sünde.208 Aquitanien (gest. nach 455), dessen Abwehr des Pelagianismus er preist (vgl. Romans, PS 1, S. 487: „O holy Prosperus, how mightily with the scripture of Paul didst thou confound this heresy twelf hundred years ago, or thereupon!“, vgl. dazu auch a.a.O., Anm. 2), lässt zumindest den Schluss zu, dass Tyndale sich in einer Traditionslinie mit den Vätern ste­ hend verstand. 206  WA 2, S. 128,3–130,9 (Auslegung des Vaterunsers deutsch, 1519). Zur Entstehung der Schrift vgl. Brecht, Luther I, S. 335 f. 207  Romans, EEBO, Abb. 18 (s.u. Anhang 1): „Marke this well and take it for a sure con­ clusion / when god commaundeth vs ī the lawe to doo any thinge / he commaundeth not therefore / that we are able to do yt / but to bryng vs vn to the knowlege of oureselves / that we might se what we are and in what miserable state we are in / and to knowe oure lack / that thereby we shuld torne to god and knowlege oure wretchednes vn to hym / ād to desyre him that of his mercy he wold make vs that he biddeth vs be / ād to geve vs strength and power to doo that which the lawe requireth of vs“. 208  Vgl. ebd.: „Noote this also / that prayar is nothinge else save a morninge of the sprite / a desyre / and a longyng for that which he lacketh / as the sick moreth and soro­ weth in his hert longynge after health“. Auch hier ist also die Metaphorik von Krankheit und Gesundung präsent, ebenso wie die Hervorhebung des Geistes als Subjekt des Verän­ derungsprozesses.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

Durch die Verkündigung des Evan­ge­liums wird denen, die so bitten, der Glaube zuteil, den Tyndale hier – in großer Nähe zu Luther – als innige Ver­ bindung mit Gott und Befreiung von allen Gewissensnöten beschreibt: „Das Evan­ge­lium lockt uns, zieht uns an und zeigt uns, woher wir Hilfe holen können und vermählt uns gründlich mit Gott. Glaube ist der Anker allen Wohlbefindens und hält uns fest bei Gottes Verheißungen, die der sichere Hafen der Ruhe für das Gewis­ sen sind“209.

Der wahre Glaube ist – wie Tyndale in einer Paraphrase von Röm 8,26–39 formuliert – nicht von der Liebe Gottes zu trennen, die in Christus offenbar geworden ist.210 Aus diesem Glauben heraus darf der Mensch mit seinen Bit­ ten an Gott herantreten, denn im Glauben verschwindet die Distanz zwi­ schen Himmel und Erde.211 Ein inhaltlich nicht gefülltes, weil nicht verstan­ denes, Repetieren lateinischer Gebete und Glaubensbekenntnisse lehnt Tyn­ dale entschieden ab.212 Um zu einer Gebetspraxis zu finden, die von einer aufrichtigen inneren Beteiligung zeugt, empfiehlt er stattdessen die ange­ fügte Vaterunser-Auslegung.213

2.7  Theologische Einordnung 2.7.1  Tyndales Abhängigkeit von Luther Die Analyse der 1525/1526 entstandenen Schriften macht deutlich, dass Tyn­ dale zu Beginn seines theologischen Schaffens stark von der Theologie Lu­ thers beeinflusst war. Über die direkten textlichen Anleihen hinaus sind alle zentralen theologischen Themen, die Tyndale seiner Leserschaft nahe bringen will, von Luther vorgegeben und an ihm orientiert. Tyndale liest die Bibel im Lichte der Rechtfertigungslehre Luthers. Sie ist für ihn der Schlüssel, mit dessen Hilfe er der englischen Leserschaft die Botschaft des Evan­ge­liums er­ 209 

A.a.O., Abb. 19. (s.u. Anhang 1): „The gospell entyseth draweth and sheweth from whence to fetche helpe / and coupleth vs to God thorowe farth. Fayth ys the ancre of all health ād kepeth vs fast vn to the promyses of God which are the sure haven or porte of all quietnes of the conscience“. 210  Vgl. ebd.: „Fayth fostreth no wynde no storme no tempest of adversite or temptaciō / no threatenynges of the lawe / no crafty sotylte off the devyll to seperatt vs from the love of God in Christe Jesu / that ys to save / to make vs beleve that god loveth vs not in Christe and for Christes sake“. 211  Vgl. ebd.: „Nowe seiste thou that there is not so greate distaunce betwene heven and erth“. 212  Vgl. ebd.: „I passe over wyth sylence / howe wyth oute all frute / ye wyth howe tereble ignoraunce the laye a[n]d vnlerned people saye the pater noster and also the crede in the latyne tonge“. 213  Er nennt allerdings nicht Luther als deren Verfasser, sondern spricht schlicht von einem „Traktat“ („treates“, ebd.).

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klären will. Wie er selbst in seinem Anhang zur Römerbriefvorrede schreibt, hält er die Lektüre einer Schrift Luthers (auch wenn er diesen nicht namentlich nennt) für „very necessary and profitable“214. Im Wesentlichen weicht keine seiner frühen Schriften inhaltlich von den theologischen Vorgaben des Wit­ tenbergers ab.215 Allenfalls lassen sich hier eigene theologische Akzentuierun­ gen Tyndales erkennen, die in seinen späteren Werken einen immer breiteren Raum einnehmen werden.216 Der These Trinteruds, die maßgeblich für eine ganze Richtung der Tyn­ daleforschung geworden ist, „Tyndale used Luther rather than agreed with Luther“217, kann daher nicht gefolgt werden. Hinter ihr verbirgt sich eine stark vereinfachende und von bestimmten dogmatischen Allgemeinplätzen her entworfene Sicht der Theologie Luthers.218 Insbesondere der von Trinte­ rud konstatierte Unterschied zwischen Luther und Tyndale in der Zuord­ nung von Gesetz und Evan­ge­lium trifft den wahren Sachverhalt nicht. Lu­ thers Verständnis des Verhältnisses des gerechtfertigten Sünders zum Gesetz ist nicht hinreichend beschrieben, wenn Trinterud als Luthers Position fest­ hält: „loving God and neighbour enough so that the law could be transcended or even superseded“219 und dies mit Tyndales Aussagen („loving the law and being given power to fulfill it“220) kontrastiert. Auch „Luther kennt das Ge­ bot, das – nun wirklich in, mit und unter dem Evan­ge­lium – konkrete Wei­ sung gibt, und einen Gehorsam des Glaubens, der mit der Freiheit des Glau­ 214  215 

Romans, EEBO, Abb. 18 (s.u. Anhang 1). Gegen Clebsch, S. 196: „Tyndale’s prologues were not independent of the great German reformer at any major point, yet they consistently viewed the Bible as the words of a reliable, legislating God, rather than as the preaching of the glorious and totally un­ deserved mercy of a God who acted sub contrario, unexpectedly. He took the critical and literary pulp of Luther’s introductions but not Luther’s heady theological wine“, vgl. Trueman, Legacy, S. 107.111, Anm. 104; Leininger, S. 54, Anm. 2. 216  Diese grundsätzliche Orientierung an Luther verbindet Tyndale wiederum mit Bucer, der in seiner theologischen Prägung ebenfalls als „Erasmianer und Martinianer“ (Greschat, Bucer Reformator, S. 33; vgl. auch das gleichnamige Kapitel a.a.O., S. 33–58) begann. 217  Trinterud, Reappraisal, S. 26. In einer geradezu grotesken Weise übersteigert Werrell, Theology, etwa S. 15 f, diese Vorstellung der „Unabhängigkeit“ Tyndales von Luther. 218  Vgl. Trinterud, Reappraisal, S. 27–31; dagegen Holeczek, S. 260, besonders Anm. 61. Trinterud und den anderen Interpreten, die Tyndales „Luthertum“ vehement bestreiten, ist mit Leininger die kritische Gegenfrage zu stellen: „before we can ask ‚How Lutheran was Tyndale?‘ should we not first ask, ‚How Lutheran was Luther?‘“ (Leinin­ ger, S. 59). 219  Trinterud, Reappraisal, S. 27; vgl. dagegen Korsch, Glauben, S. 380 f. Insbeson­ dere Trinteruds Verbindung von Luthers Vorstellung der „two kingdoms“ (Trinterud, Reappraisal, S. 26) mit der Zuordnung von Gesetz und Evan­ge­lium scheint mir zu pau­ schal, vgl. dagegen Ebeling, Sp. 509 ff. 220  Trinterud, Reappraisal, S. 27.

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Kapitel 2:  Ein Neues Testament für England – Übersetzung und Vorreden (1525/1526)

bens geeint ist“221. Und umgekehrt erklärt auch Tyndale wiederholt, „daß Glaube und Liebe zum Gesetz Gottes den Menschen nicht in die Lage verset­ zen, das Gesetz zu erfüllen“222. Tyndale lässt sich demnach nicht gegen Lu­ ther „ausspielen“, vielmehr ist seine Einleitung durchaus als „Referat der lu­ therischen Theologie“223 zu verstehen. 2.7.2  Tyndales eigene Schwerpunktsetzung Auch wenn sich Tyndale insgesamt im Bannkreis der Theologie Luthers be­ wegt, tut er dies doch in weiten Teilen der untersuchten Schriften mit seinen eigenen Worten und darum auch mit seiner eigenen theologischen Termino­ logie und Gedankenführung. Hierbei zeigen sich im Vergleich mit Luther gewisse Akzentverschiebungen, die bereits spätere Differenzen erahnen las­ sen. Zwar bleiben Tyndales Aussagen 1525/1526 eingebettet in einen insge­ samt „lutherischen“ Gedankengang, doch wird auch schon eine von Luther abweichende Interessenlage des Theologen Tyndale deutlich.224 Diese lässt sich in den in diesem Kapitel untersuchten Schriften allerdings nur in Form bestimmter Leitmotive benennen, die Tyndales eigenen Ansatz prägen. Eine Systematisierung verbietet sich aufgrund des unsystematischen Charakters der untersuchten Schriften.225 In den folgenden Kapiteln werden eben diese schon in den frühen Schriften nachweisbaren Leitmotive allerdings erneut und in pointierterer Form wieder auftauchen und das Bild Tyndales als eines eigenständigen Theologen bestimmen. 2.7.2.1  „Evan­ge­lium und Gesetz“ statt „Gesetz und Evan­ge­lium“ Tyndale übernimmt zwar – wie gesehen – Luthers Unterscheidung von Ge­ setz und Evan­ge­lium , macht diese jedoch nicht zur hermeneutischen Haupt­ kategorie. Tyndale rezipiert Luthers Differenzierung damit nur „halbherzig“, denn sein eigentlicher Fokus liegt nicht auf der überführenden Rolle des Ge­ 221 

Joest, S. 195; vgl. Wöhle, S. 211–214; vgl. WA.DB 7, S. 5,32–36 (Römerbriefvor­ rede, 1522): „Aber ein solches hertz gibt niemand denn Gottes geist, der machet den Men­ schen dem Gesetz gleich, das er Lust zum Gesetz gewinnet von hertzen, vnd hinfurt nicht aus furcht noch zwang, sondern aus freiem hertzen alles thut. Also ist das Gesetz geistlich, das mit solchem geistlichen hertzen will geliebet und erfuellet sein, vnd foddert einen sol­ chen geist“. 222  Holeczek, S. 260, Anm. 61; vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 13: „They that have this right faith, consent to the law […] and have delectation in the law (notwith­ standing that they cannot fulfill it for their weakness“. 223  Holeczek, S. 260, Anm. 59. 224  Vgl. Clebsch, S. 145: „Although Tyndale’s hand is everywhere to be found in its [d.i. der Prolog] formation, especially in its regard for faith as empowering the believer to love God and to do God’s will, nevertheless Luther generated the substance of Tyndale’s conception of the book which he was translating“. 225  S.o. Einleitung.

2.7  Theologische Einordnung

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setzes und der freisprechenden Rolle des Evan­ge­liums.226 Die Anklage des Sünders durch das Gesetz wird bei ihm gewissermaßen vorausgesetzt, um sein eigentliches Thema zu beschreiben, nämlich die Verwandlung des Glauben­ den durch die Begegnung mit dem Evan­ge­lium und die damit verbundene Gabe des Geistes, die die Perspektive auf das Gesetz verändert. Das Gesetz bekommt – zumindest in der Terminologie über Luther hinausgehend – eine neue Rolle als Orientierungshilfe für das Leben der Glaubenden zugeschrie­ ben. In der freien Befolgung der Gebote aus dem Herzensgrund heraus liegt für Tyndale der Zielpunkt des Rechtfertigungsgeschehens.227 In allen untersuchten Schriften findet sich im „Eigenanteil“ Tyndales diese Akzentuierung, die sich in der Terminologie gegenwärtiger Dogmatik als Zuordnung von „Evan­ge­lium und Gesetz“ beschreiben ließe. Sie trennt Tyn­ dale inhaltlich jedoch nicht von Luther, sondern beschreibt nur seine eigene Konnotierung der Rechtfertigungslehre: „Während Tyndale das neue Ver­ hältnis des Glaubenden zum Gesetz zu beschreiben sich bemüht, läßt Luther diese Frage weitgehend im Dunkeln; er sagt dazu kaum mehr als ‚so gehen die gutten werck aus dem glawben selber‘. Der eigentliche Unterschied zwischen Tyndale und Luther liegt im Interesse bzw. Desinteresse dieser Frage ge­ genüber“228. 2.7.2.2  „Geisttheologie“ statt „Kreuzestheologie“ In diesem Zusammenhang fällt weiterhin auf, dass Tyndale in wesentlich ge­ ringerem Umfang als Luther das Kreuz Christi als Grunddatum der Recht­ fertigung ins Zentrum seiner Ausführungen stellt. Natürlich ist auch für ihn das Kreuzesgeschehen dogmatischer Dreh- und Angelpunkt, Tyndale nimmt jedoch nur selten ausdrücklich darauf Bezug. Christus, der am Kreuz für un­ sere Sünden starb und dessen sich im Glauben vollziehende Verbindung mit dem sündigen Menschen, steht für ihn nicht ausdrücklich im Zentrum. Tru­ eman ist darum zuzustimmen, wenn er festhält: „his [d.i. Tyndales] theology of atonement is extremely vague“229. Anstelle von Person und Werk Christi rückt Tyndale einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt, nämlich die in Kreuz und Auferstehung geschehene Er­ 226  227 

Vgl. Trueman, Legacy, S. 89 ff. Vgl. Clebsch, S. 146: „If a theological difference of importance is to be drawn between Luther and Tyndale as of 1525–26, it is that Tyndale tended to mistrust Luther’s very careful distinction between law and gospel, preferring to portray justification by faith as enabling man to do good“. 228  Holeczek, S. 260, Anm. 61. Ähnliche Unterschiede im Interessenschwerpunkt bei Luther und Bucer beschreibt anschaulich Müller, S. 25 f; vgl. auch Greschat, Bucer Reformator, S. 40 f. 229  Trueman, Legacy, S. 88; vgl. Knox, Doctrine, S. 5 f. Diesem Befund entspricht, was Gäumann, S. 152 ff anhand der Spätschrift „De regno Christi“ (1550) für Bucer fest­ gestellt hat, wenn er von einer „Marginale[n] Kreuzestheologie“ (a.a.O., S. 152) spricht.

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füllung der „promises“ Gottes.230 Tyndales Fokus ist also eher auf Gott, den Vater, als Subjekt des Heilsgeschehens ausgerichtet, als auf die Person Chris­ ti.231 So ist es auch nicht verwunderlich, dass er im Gegensatz zu Luther keine Überlegungen anstellt, auf welche Weise die Annahme der Gnade in Christus geschieht. Luthers „fröhlicher Wechsel“ zwischen Christus und den Glau­ benden wird von ihm nicht aufgenommen. An seine Stelle tritt, wenn auch weitaus weniger differenziert als Luthers Beschreibungen der Beziehung zwi­ schen Gläubigem und Christus, das Wirken des Geistes. Die Gabe des Geistes ist es, die in den Glaubenden eine Veränderung schafft, die sich im Verhältnis zum Gesetz spiegelt.232 Hier machen sich möglicherweise Einflüsse Augustins bzw. Bucers bemerkbar, von denen Tyndale das dynamische Verständnis der Rechtfertigung als „Eingießung des Liebesgeistes“233 (Röm 5,5) übernom­ men haben könnte.234 Diese Akzentuierung zeigt, dass es Tyndale bereits in seinen frühen Schrif­ ten in besonderer Weise um die subjektive Dimension des Rechtfertigungs­ geschehens, um die aktuelle geistgewirkte Veränderung in den Glaubenden, geht. Das „wie“ ist ihm weniger wichtig, als das „dass“ und seine Folgen für das Leben der Glaubenden: „While he regards justification by faith as the foundation of Christian salvation, his emphasis is always upon the subjective effects of this, such as the Christian’s love of the law and his subsequent efforts to fulfil the commands“235. 230  231 

Vgl. Trueman, Legacy, S. 88. Trueman trifft darum den Punkt, wenn er schreibt: „God’s acceptance of the indi­ vidual is apparently based upon God’s merciful character and not upon Christ’s objective work“ (Trueman, Legacy, S. 96, Anm. 55). 232  Vgl. a.a.O., S. 89 ff. Knox, Doctrine, S. 12, bringt das Wechselverhältnis von Geist­ wirken und Glauben treffend auf den Punkt: „The Spirit of God is at work before faith springs up in man’s heart and He uses scripture and preaching to evoke faith in God. And faith, in turn, brings the fullness of the Spirit into the believer’s life“. 233  Seeberg, S. 530. Vgl. in diesem Zusammenhang Truemans Hinweis auf Augustins Kritik am pelagianischen Gnadenverständnis im „Opus Imperfectum contra Julianum“ (Trueman, Legacy, S. 90, Anm. 33). Bornkamm, Bucer, S. 106, geht im Hinblick auf Bu­ cers Geistchristologie sogar soweit festzuhalten: „Sein Christus, der Träger der universa­ len Offenbarung, war im Grunde nur noch ein Name für den universalen göttlichen Geist“. 234  Trinterud ist darin Recht zu geben, dass der Augustinismus Tyndales höchstwahr­ scheinlich humanistisch vermittelt war: „Tyndale takes his stand with the line of interpre­ tation which stemmed from biblical humanism“ (Trinterud, Reappraisal, S. 26). Auch im „Enchiridion“ des Erasmus ist der Glaubende, der – vom Geist erneuert – mit seinen guten Werken den Spuren Christi folgt, präsent (vgl. Trueman, Legacy, S. 91). Der humanis­ tisch gefärbte Augustinismus findet sich allerdings auch beim jüngeren Luther (vgl. Lep­ pin, S. 89–101; Leininger, S. 58 f) und bei Bucer (vgl. Bornkamm, Bucer, S. 90; Koch, S. 16–20; Greschat, Bucer Reformator, S. 41; Stephens, Bucer, S. 11–14). 235  Trueman, Legacy, S. 97. Zur Verwendung von „justify“ bzw. „justification“ in der Übersetzungstradition und bei Tyndale vgl. Cummings, Justifying.

2.7  Theologische Einordnung

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2.7.2.3  Rechtfertigung als Heilung Auf der Grundlage dieser Ergebnisse lässt sich mit dem Tyndale der Jahre 1525/1526 Rechtfertigung insgesamt eher als „Heilungsprozess“ beschreiben denn als Gerechtsprechung.236 Dieser Fokus hat zur Folge, dass Tyndale, anders als Luther, den Glauben des Menschen nicht explizit zum Thema macht. Zwar stimmt er im grundsätzlichen Verständnis des Glaubens als fi­ ducia mit dem Wittenberger überein,237 sein eigenes Interesse liegt aber viel­ mehr auf der Lebenshaltung, die aus dem Glauben resultiert. Dass der lie­ bende Gott die Menschen verändert, indem er ihnen seinen Geist ins Herz gibt und damit ihre Sichtweise auf sein Gebot modifiziert, ist für Tyndale die theologische Kernaussage, die seine Theologie prägt und in den kommenden Jahren noch stärker bestimmen wird. Tyndales Fokus unterscheidet sich hierin von dem Luthers, dass er Rechtfertigung stärker im Sinne Augustins interpretiert. Diese Akzentverschiebung gegenüber Luther bringt es in den folgenden Jahren mit sich, dass Tyndale die Existenz der Glaubenden nicht so sehr als fortdauernd angefochtene Existenz simul iustus et peccator beschreibt, sondern den fortschreitenden Prozess der Heiligung im Wachsen in der Liebe zum Gesetz betont.238 Mit dieser Übernahme der zentralen Gedanken des Rechtfertigungsver­ ständnisses Luthers und seiner gleichzeitigen Zuspitzung auf das Leben der Gerechtfertigten in der Kraft des Geistes steht Tyndale anderen Reformatoren nahe, die eine ähnliche geistige Entwicklung aufweisen. So lassen sich auch bei Martin Bucer eine „pragmatisch-undogmatische Grund­orien­tie­rung“239, eine „geisttheologische Grundlegung“240 und eine „ethische Aus­richtung“241 ausmachen, die an Tyndale erinnern. Inwieweit Tyndale sich möglicherweise auch tatsächlich auf Schriften Bucers oder anderer oberdeutscher Reformato­ ren bezogen hat, ist – wie oben dargelegt242 – nur schwer nachweisbar. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich diese Übereinstimmungen ungeachtet dessen auf die Wirkung des gemeinsamen humanistischen Erbes zurückführen las­ sen, das Tyndale mit Bucer und anderen verband.243 Diese Parallelen sind in den folgenden Kapiteln weiter zu verfolgen. 236  Vgl. Leininger, S. 66; Trueman, Legacy, S. 89 ff; Knox, Doctrine, S. 7 f. Auch diese Krankheits- und Heilungsmetaphorik hat ihren Ursprung wahrscheinlich bei Eras­ mus, vgl. z.B. Erasmus, Enchiridion (1518), Ausgewählte Schriften 1, S. 66–72. 237  Vgl. Clebsch, S. 145. 238  Z.B. s.u. 4.5.2. 239  Strohm, S. 119. 240  A.a.O., S. 121. 241  A.a.O., S. 122. 242  S.o. Einleitung; vgl. dazu auch Clebsch, S. 196 f, der – allerdings ohne Belege – zahlreiche Inspirationsquellen für Tyndales theologische Entwicklung nennt. 243  Zur von Luther ausgehenden theologischen Schwerpunktverlagerung bei Bucer vgl. Rudloffs Einleitung zur „Summary“ (1523), BDS 1, S. 76 f.

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Kapitel 3

Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528) 3.1  Biographische Hinführung 3.1.1  Tyndale in Antwerpen Über den Zeitraum zwischen der Veröffentlichung der „Compendious Intro­ duction“ (Ende 1526 in Worms) und dem Erscheinen seines nächsten Werkes, „The Parable of the Wicked Mammon“1, das am 8. Mai 1528 in Antwerpen herauskam, wissen wir praktisch nichts. Wie Tyndale von Worms nach Ant­ werpen kam, wo und unter welchen Umständen er „Mammon“ verfasste, bleibt historisch im Dunkeln.2 Mozley gibt der These Raum, Tyndale habe sich von Worms aus zunächst für etwa ein Jahr nach Marburg begeben.3 Grund zu der Annahme ist der 1  2  3 

Im Folgenden abgekürzt mit „Mammon“. Vgl. Mozley, S. 122–125; Daniell, Biography, S. 155. Vgl. Mozley, S. 124. Mozleys Annahme basiert auf Vermutungen über die Attrak­ tivität Marburgs für Tyndale als Standort einer jungen reformatorischen Universität und Aufenthaltsort von Gesinnungsgenossen wie Patrick Hamilton (1504–1528). Angesichts der inhaltlichen theologischen Übereinstimmungen mit Martin Bucer lässt sich mit glei­ chem Recht auch die Möglichkeit eines Aufenthalts Tyndales in Straßburg diskutieren. Dass Tyndale selbst einen Aufenthalt in Straßburg nicht erwähnt und umgekehrt auch in Bucers Briefwechel keine Spuren des Engländers zu finden sind, muss nicht dagegen spre­ chen. Tyndale hätte in Worms von Bucer – der in der Gegend kein Unbekannter war (vgl. Greschat, Bucer Reformator, S. 50 f) – gehört und dessen frühe Schriften gelesen haben können. Die Großstadt rheinaufwärts war darüber hinaus attraktiv als Gemeinwesen im Aufbruch zur Reformation und Druckereistandort an der Handelsstraße zu den niederlän­ dischen Häfen (vgl. Bornkamm, Bucer, S. 92; Greschat, Bucer Reformator, S. 73 ff.95 ff). Nach Straßburg zog es zumindest Tyndales Mitarbeiter Roye (s.o. 2.1 Exkurs Tyndale und Roye). Gerade dieser Umstand macht jedoch einen Aufenthalt Tyndales dort unwahr­ scheinlich. Im Vorwort zu „Mammon“ berichtet er, Royes späterer Mitarbeiter Jerome Barlowe habe ihn auf dem Weg nach Straßburg in Worms aufgesucht und zwar: „A year after that [gemeint ist die Trennung von Roye, Anm.], and now twelve months before the printing of this work“ (Mammon, PS 1, S. 38). Tyndale muss sich also ein Jahr nach Ab­ schluss des NT-Drucks noch in Worms aufgehalten haben. Da sich das Verhältnis zu Roye schon verschlechtert hatte (Tyndale warnt Barlowe vor dessen „boldness“, vgl. ebd.), ist ein Weggang nach Straßburg unwahrscheinlich. Tyndale war allerdings über Royes Le­ bensweise und Verhalten in der elsässischen Metropole so gut informiert (vgl. a.a.O., S. 39), dass man Verbindungen nach Straßburg vermuten darf. Insgesamt wird man weder

3.1  Biographische Hinführung

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Name des Druckers, der auf der Ausgabe von „Mammon“ wie auch von „Obedience of a Christian Man“ erscheint: „Hans Lufft of Marlborow“.4 Doch diese Angabe führt absichtlich in die Irre, denn „Hans Lufft aus Mar­ burg“ verbindet den Namen des Wittenberger Druckermeisters Luft mit dem Ort Marburg. Von Luft ist nicht bekannt, dass er eine Druckwerkstatt in Marburg betrieb. Untersuchungen der Drucke von Tyndales Schriften und der Vergleich mit denen anderer englischer Exulanten ergaben zudem einen anderen Befund: „Hans Lufft of Marlborow“ war in Wahrheit das Pseudo­ nym eines Druckers aus Antwerpen. Nach den Ergebnissen von M.E. Kro­ nenberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging die Forschung lange davon aus, dass sich hinter dem vermeintlichen Hans Lufft in Wahrheit der Antwerpener Drucker Johannes Hoochstraten verbarg.5 Paul Valkema Blouw hat jedoch 1996 überzeugend nachgewiesen, dass nicht Hoochstraaten, son­ dern Martin de Keyser der wahre Träger des Pseudonyms war.6 De Keyser galt vorher vor allem als Verleger der Werke Tyndales, die nach 1530 erschie­ nen. Nun kann er auch als Drucker der Schriften Tyndales aus früheren Jah­ ren gelten.7 Derartige „Verschleierungen“ der wahren Herkunft von Büchern mit für Autor wie Drucker „gefährlichem“ Inhalt waren durchaus üblich.8 Tyndales Schriften wurden also nicht in der Landgrafschaft Hessen, sondern in Antwerpen gedruckt, was wiederum den Schluss nahelegt, dass auch Tyn­ dale sich spätestens zur Überwachung des Druckvorgangs dort aufgehalten haben muss. Zumindest ist Antwerpen „the only town with which his [d.i. Tyndales] name is constantly linked“9. Die Stadt in den habsburgischen Niederlanden war in vielfacher Hinsicht ein idealer Ort für einen reformatorischen Schriftsteller, dessen Ziel vor al­ lem die effektive Verbreitung seiner Werke war. Hier befanden sich einige gute Druckwerkstätten und ein lebhafter Druck- und Buchmarkt, nach Moz­ ley: „the most convenient for printing for the English market“10. Mit ca. seinen Besuch dort noch in Marburg völlig ausschließen können. Angesichts der Zielstre­ bigkeit, mit der Tyndale seine Vorhaben stets verfolgte, erscheint es mir jedoch wahr­ scheinlicher, dass er sich von Worms aus rasch an den Ort begab, an dem er in größtmög­ licher Nähe zu England weiter für die reformatorische Sache wirken konnte, und das war Antwerpen. 4  Vgl. Mozley, S. 123 ff; er selbst schränkt ein: „we cannot speak decisively“ (a.a.O., S. 124). 5  Vgl. Kronenberg, English Printing, S. 154–159; Dies., Forged Addresses, S. 85–87. Ihr folgen z.B. Mozley, S. 123; Dick, Mammon, S. xxvi. 6  Vgl. Blouw, S. 104–110; ihm folgt Daniell, Biography, S. 156. Zur Biographie de Keysers vgl. Blouw, S. 101 7  Vgl. Kronenberg, English Printing, S. 159 ff; Dies., Forged Addresses, S. 87 ff. Vgl. Blouw, S. 104 f. 8  Vgl. Daniell, Biography, S. 156. 9  Mozley, S. 124. 10  Ebd.; vgl. Daniell, Biography, S. 169 f.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

55.000 Einwohnern war die Stadt an der Schelde das Handelszentrum in den ökonomisch florierenden Niederlanden und Heimat zahlreicher ausländi­ scher Kaufmannskolonien, darunter vor allem auch einer englischen.11 Im politischen Spannungsfeld zwischen der habsburgischen Zentralgewalt und dem Bischof von Cambrai bemühte sich der Rat der Stadt12 in der Phase der Ausbreitung der Reformation darum, ein offenes und für die internatio­ nalen Handelsniederlassungen einladendes Klima sicherzustellen. Insbeson­ dere was die deutschen und englischen Kaufleuten betraf, von denen viele mit der Reformation sympathisierten, war die Stadt – anders als der Landesherr Karl V.13 – an größtmöglicher religiöser „Toleranz“ interessiert. Da es jedoch auch dem altgläubigen Kaiser, der auf die finanziellen Einkünfte einer seiner wichtigsten Handelsmetropolen angewiesen war, um das ökonomische Wohl­ ergehen Antwerpens ging, gestand er der Stadt in Sachen religiöser Duldsam­ keit Freiheiten zu.14 Dieser politischen Balance zwischen Kaiser und Stadt ist es zu verdanken, dass insbesondere der Markt für Druckerzeugnisse in Antwerpen bis in die 1540er Jahre hinein nur wenigen Reglementierungen unterlag. Zwar wur­ den beim Besuch des päpstlichen Nuntius Aleander in der Stadt, am 13. Juli 1521,15 also kurz nach dem Wormser Reichstag, vierhundert „häretische“ Bücher öffentlich verbrannt,16 gegen die zahlreichen Drucker und Händler, die reformatorische Schriften in Umlauf brachten, ging der Rat aber eher sel­ 11  Im 16. Jh. prosperierte die Stadt an der Schelde durch den Handel, so dass sie 1542/1543 schon ca. 84.000 Einwohner besaß, vgl. Marnef, S. 5 f. 12  Der „Magistrat“ („magistraat“), die „Ältesten“ („schepenen“), die vier „Haupt­ leute“ („hoofdmannen“) und 26 „wijkmeesters“ bildeten gemeinsam den „Großen Rat“ („Brede Rat“), vgl. Marnef, S. 14. 13  Vgl. Hammer, S. 400–404. 14  Vgl. Marnef, S. 20: „During the reign of Charles V there was a tense equilibrium between the two parties. Vital to Antwerp’s welfare were the city’s privileges, which pro­ tected its trade. After 1520 this meant that merchants from Protestant areas could not be molested because of their religious convictions. […] Charles V was forced to rely on the Antwerp capital market, not least to finance his numerous European wars“. 15  Vgl. Hammer, S. 402.419 ff. 1520 erschien bei Hoochstraten der erste Lutherdruck, dem rasch weitere in lateinischer und niederländischer Sprache folgten (vgl. Andriessen, S. 207 f; vgl. auch die Tabelle zur „boomenden“ Antwerpener Druckindustrie bei Mar­ nef, S. 39). Andriessen, S. 209, stellt fest: „Opvallend talrijk waren in deze jaren die bijbel­uitgaven“, und nennt u.a. die auf Luthers NT-Übersetzung basierende Ausgabe Ad­ riaen van Berghens von 1523 und die ebenfalls von Luther beeinflusste AT-Ausgabe Christophell van Endhovens (alias Hans van Ruremond) von 1525. Die erste vollständige niederländische Bibel erschien 1526 bei Jacob van Liesvelt mit Neuauflagen 1532, 1534, 1535 und 1542. Insgesamt zählt Andriessen zwischen 1523 und 1540 in Antwerpen 28 Ausgaben von Luther beeinflusster Bibelübersetzungen. Versuche, auch die reformatori­ sche Predigt in der Stadt zu etablieren, scheiterten jedoch und hatten allenfalls bei kleine­ ren Gruppen im Untergrund Erfolg (vgl. a.a.O., S. 209 f). 16  Vgl. Marnef, S. 40, Andriessen, S. 208 f.

3.1  Biographische Hinführung

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ten vor.17 „The attitude of the Antwerp magistrates up to the early 1540s was fairly moderate: printers such as Christoffel van Ruremond, Claas de Grave, Michiel and Jan Hillen [Johannes] van Hoochstraten, Maarten [Martin] de Keyser, Matthias Crom, and Willem Vorsterman, who all printed outspo­ kenly Protestant works, were not seriously troubled“18. Antwerpen wurde so in den 1520er und 1530er Jahren zu einem Zentrum des reformatorischen Buchdrucks, auch für den jeweiligen Sprachraum der dort lebenden Kauf­ leute, namentlich vor allem für England.19 Für den „häretischen“ Autor Tyn­ dale boten die Mauern Antwerpens daher ein Refugium, indem es sich eine lange Zeit unbehelligt leben und arbeiten ließ.20 Schriften und Ansichten Luthers hatten in Antwerpen schon lange vor Tyndales Ankunft Verbreitung gefunden. Insbesondere der von Jakob Probst (Praepositus)21 und ab 1522 von Heinrich von Zutphen22 geleitete Antwer­ pener Augustinerkonvent war von Luthers Lehren beeinflusst.23 Aus ihm stammten auch die ersten evangelischen Märtyrer, Hendrik Vos und Jan van Essen, die am 1. Juli 1523 in Brüssel als Ketzer verbrannt wurden.24 Um das Augustinerkloster bildete sich eine „evangelische“ Gemeinde, die in Kontakt mit Wittenberg stand.25 Sie war jedoch nur im Untergrund, d.h. „in gehei­ men je und je sich zusammenfindenden Konventikeln“26, aktiv. Über die ge­ 17  Zwar erließ der Magistrat am 14. Februar 1525 eine neue Verordnung für das Druck- und Buchgewerbe, dass jedes in der Stadt erscheinende oder verkaufte Buch mit Namen, Signet und Wohnort des Druckers versehen zu sein hatte (vgl. Hammer, S. 404), in den Jahren bis 1545 wurden aber nur fünfzehn Personen im Zusammenhang mit der Verbreitung „häretischer“ Schriften belangt; die meisten konnten leicht entkommen, an­ dere wurden zeitweise der Stadt verwiesen oder zur Pilgerfahrt verurteilt. Erst 1545 wurde Jacob van Liesvelt, nach zwei vorherigen Freisprüchen, verurteilt und hingerichtet (vgl. Marnef, S. 40). 18  Marnef, S. 40.. 19  Vgl. a.a.O., S. 40: „In the 1520s and 1530s Antwerp was also an important center for the export of French, Danish, Spanish, Italian, and above all English Protestant litera­ ture. In fact, the city may have been largest producer of Protestant literature in English before the 1540s“. 20  Vgl. a.a.O., S. 20: „the city’s rulers had to assure the merchants the widest possible freedom and toleration in matters of religion. In other words, an enforced pragmatism was at work“. Diese politische Situation ist wohl auch eine Hauptursache der vielschichti­ gen religiösen Landschaft mit einer bedeutenden calvinistischen und täuferisch-mennoni­ tischen Gemeinde, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in Antwerpen bildete, vgl. dazu a.a.O., S. 61–80. 21  Vgl. Hammer, S. 418 ff. 22  Vgl. Zschoch, Zutphen, Sp. 1602; Hammer, S. 421. 23  Vgl. Hammer, S. 417 ff. 24  Vgl. Zschoch, Vos, Sp. 1227.; Hammer, S. 421. 25  Vgl. Luthers „Brief an die Christen zu Antorff“ (d.i. Antwerpen), in: WA 18, S. (541) 547–550 (vgl. auch Luthers Brief an Spalatin vom 27. März 1525: WA.B 3, S. 464,9–13); vgl. Hammer, S. 423 f; Bornkamm, Luther, S. 97–99. 26  Hammer, S. 422; vgl. Marnef, S. 80: „Small groups of believers met regularly in private houses, reading from Scripture and from Luther’s collection of sermons, the

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

naue Zusammensetzung der Gemeinde und ihre theologische Ausrichtung ist wenig bekannt, sie scheint jedoch einigermaßen disparat gewesen zu sein:27 „Ab 1525 werden in den Quellen […] die zentrifugalen Kräfte nach­weis­ bar“28. Es ist anzunehmen, dass Tyndale Verbindungen nach Antwerpen hatte, die noch aus seiner Zeit in England herrührten. Geht man davon aus, dass er im Auftrag oder zumindest mit Unterstützung Londoner Kaufmannszirkel arbeitete,29 konnte er sich auf deren enge Verbindungen in die Niederlande stützen. Möglicherweise gab es auch persönliche Kontakte, etwa zu Thomas Poyntz, dem Freund, der sich 1535/1536 mit Eifer, jedoch vergeblich, um Tyndales Freilassung bemühte.30 Seine Familie stammte wie die Tyndales aus Gloucestershire, was auch eine frühere Bekanntschaft beider Männer möglich erscheinen lässt.31 Wo Tyndale in der Stadt seinen neuen Lebensmittelpunkt fand, der ihm Weiterarbeit und Schutz ermöglichte, ist nicht bekannt. Foxe berichtet, dass Tyndale vor seiner Gefangennahme 1535 im Antwerpener „English House“, dem Zentrum der englischen Handelskolonie in der Stadt, ansässig war.32 Man kann darum Daniells Vermutung folgen: „that may have been his adress from as early as 1526“33. Die „merchant adventurers“, wie die in den Nieder­ landen aktiven und vornehmlich auf den Tuchhandel spezialisierten engli­ schen Kaufleute genannt wurden, waren seit dem Mittelalter in Antwerpen Postille“. Ahnlich verliefen, nach Foxe’ Bericht, auch die „Hausandachten“, an denen Tyn­ dale teilnahm, s.u. 7.1.1. 27  Vgl. Hammer, S. 422: „In dem Kreis um die ‚lutherischen‘ Augustinerprediger hatten offenbar Leute verschiedenster Geistesrichtungen einen neuen Lebensraum gefun­ den, humanistisch Interessierte aus der Anhängerschaft des Erasmus, Radikale der unter­ schiedlichsten Prägung, Freisinnige, die unorthodoxe und kirchenkritische Ideen des Spätmittelalters weiter tradierten“. 28  Ebd. Eine wichtige Quelle ist Luthers Polemik gegen den „rumpel geyst“ (WA 18, S. 548,32), der aus Antwerpen kommend bei ihm in Wittenberg seltsame Lehren verbrei­ tet habe (WA 18, S. 548,34–549,7: „Eyn artickel ist, das er hellt, Eyn iglich mensch hat den heyligen geyst. Der ander, Der heylige geyst ist nichts anders denn unser vernunfft und verstand. Der dritte, Eyn iglich mensch gleubt. Der vierde, Es ist keyne helle odder ver­ damnis, sondern alleyne das fleysch wird verdampt. Der funfft, Eyn iglicvhe seele wird das ewige leben haben. Der sechste, Die natur leret, das ich meynem nehsten tun solle, was ich myr will gethan haben, Solches wöllen ist der glaube. Der siebend, Das gesetz wird nicht verbrochen mit böser lust, so lange ich nicht bewillige der lust. Der achte, Wer den heyligen geyst nicht hat, der hat auch keyne sunde, Denn er hat keyne vernunfft“). 29  S.o. 1.5.2. 30  S.u. 7.8.2. 31  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 517; Mozley, S. 264. 32  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 519. Tyndale verließ Antwerpen 1529 zu einer Reise nach Hamburg, weil die Situation in den habsburgischen Niederlanden für ihn kurzzeitig zu kritisch wurde, s.u. 4.1.1 und 4.1.2. 33  Daniell, Biography, S. 155.

3.1  Biographische Hinführung

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ansässig und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. 1518 erst hatte man sie erneut von der Jurisdiktion der örtlichen Gilden befreit und ihnen auch außer­ halb der Märkte Schutz zugesichert.34 Unter diesen Kaufleuten hatte das re­ formatorische Gedankengut schnell Fuß fassen können und dadurch sozusa­ gen auf Handelswegen auch England erreicht: „Young and impressionable ap­ prentice-adventurers went overseas for the first time, learnt the new ideas quickly at the English House in Antwerp, which developed fast as a refuge for reformers like Tyndale, and acquired the latest books with ease. The books influenced them and were a valuable item of commerce at home“35. Zwar war Tyndale nicht Mitglied der englischen Kaufmannsgilde, „but he would cer­ tainly enjoy a measure of protection, if only because the rulers of Antwerp desired to be on good terms with so powerful a corporation“36. In der relativen Sicherheit der englischen Handelskolonie konnte Tyndale den Nachstellungen der englischen Obrigkeit entgehen, die im Zuge der Ver­ öffentlichung von „Mammon“ und der Spottschrift Royes und Barlowes 1528 zunahmen. Kardinal Wolsey, das Opfer der Schmähungen, bemühte sich im Sommer des Jahres mithilfe seiner Agenten, die örtlichen Obrigkeiten zum Vorgehen gegen die englischen Exulanten zu bewegen.37 Diese Anstren­ gungen blieben zwar erfolglos, denn es gelang Wolseys Leuten nicht einmal, die Aufenthaltsorte von Roye, Barlowe und Tyndale ausfindig zu machen. Doch auch die gescheiterten Bemühungen zeigen, dass Tyndale als reforma­ torischer Autor schutzbedürftig war und jederzeit mit einem Zugriff gegne­ rischer Kräfte rechnen musste. Um der Sache des Evan­ge­liums willen nahm er diese gefährdete Existenz auf sich.38 3.1.2  Entstehung und Rezeption von „Mammon“ und „Obedience“ Im Vergleich mit Worms und erst recht mit Köln fand Tyndale in Antwerpen ungleich angenehmere Arbeitsbedingungen vor. Dies erklärt vielleicht seine hohe Produktivität, die auf die im Mai 1528 erschienene „Parable of the Wi­ cked Mammon“ im Oktober desselben Jahres ein zweites, noch umfangrei­ cheres Werk, „The Obedience of a Christian Man“, folgen ließ. „Mammon“ war „a clearly-printed black-letter octavo of seventy-two lea­ ves, and thus, in form, pocket-size and roughly like a slim version of the 1526 Worms New Testament“39, also im Format gut für den illegalen Weg nach 34  35  36  37 

Vgl. Sutton, S. 335. A.a.O., S. 384. Mozley, S. 264. Vgl. Mozley, S. 129–132, hier sind auch Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen dem Kardinal und seinen Agenten abgedruckt, vgl. a.a.O., S. 130–132; Daniell, Biogra­ phy, S. 170–173. 38  Vgl. das Vorwort zu „Obedience“ s.u. 3.3.3. 39  Daniell, Biography, S. 156.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

England und die Verbreitung dort geeignet. Gleiches galt für die doppelt so umfangreiche Gehorsamsschrift, die trotz ihrer dreihundert Seiten ebenfalls handliches Taschenbuchformat hatte.40 Im selben Zeitraum zwischen 1526 und 1528 entstanden, sind beide Werke gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille.41 „Mammon“ legt – in Aufnahme einer Predigt Luthers – die Botschaft von der Rechtfertigung und Heiligung des Glaubenden ausführlich dar, formuliert also gewisser­ maßen die theologische Grundlegung der Reformation. Demgegenüber be­ leuchtet „Obedience“ in größerer Ausführlichkeit die Folgen dieser theo­ logischen Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch für das Zusam­ menleben in einer christlichen Gesellschaftsordnung und die kirchliche Praxis.42 Die Abfassung einer solchen „Dogmatik“ und „Ethik“ ist für Tyn­ dale wahrscheinlich die sinnvolle Folge seiner bereits zum Teil abgeschlos­ senen Bibelübersetzung gewesen. Die Notwendigkeit, der englischsprachi­ gen Leserschaft – zusätzlich zur Bibel selbst nebst Einleitungen – auch theo­ logische Schriften an die Hand zu geben, die ihr die neue Lehre der Reformation verständlich machen konnten, lag auf der Hand. Schließlich kannte die englische Öffentlichkeit die Reformation und ihre Inhalte nur in Form des Zerrbildes der antilutherischen Propaganda Wolseys, einmal ab­ gesehen von einigen Mutigen, die es wagten, die verbotenen lateinischen Werke der Reformatoren zu lesen.43 Für die Mehrheit der englischen Öf­ fentlichkeit war die Reformation darum vor allem eine unruhestiftende Häresie, die zurecht von der Obrigkeit bekämpft wurde. Insbesondere der deutsche Bauernkrieg wurde durch die Polemik von Sir Thomas More, Bi­ schof John Fisher u.a. mit der neuen Lehre aus Wittenberg in Verbindung gebracht, um diese dadurch nachhaltig als Urheberin von Unruhe, Unord­ nung und Aufruhr zu diskreditieren.44 „Obedience“ setzt sich nicht zuletzt mit diesem Vorwurf der altgläubigen Seite auseinander und verteidigt die reformatorische Lehre als wahren Garanten der Ordnung.

40  41 

Vgl. a.a.O., S. 223. Tyndale selbst weist auf die enge Verbindung beider Schriften hin, vgl. Obedience, PS 1, S. 296 (PC, S. 149). 42  Rowan Williams weist zurecht auf die starke sozialethische Komponente hin, die auch in „Mammon“ zu finden ist („most powerful treatment of social morality to come from the Reformation era in Britain“, R. Williams, S. 11). Der Erzbischof von Canter­ bury übersieht dabei aber m.E., dass es Tyndale hier in erster Linie um die Darstellung der reformatorischen Rechtfertigungslehre geht, die der Ethik zugrunde liegt. 43  Zur Reaktion der (kirchlichen) englischen Obrigkeit vgl. H. M. Smith, S. 298– 308. 44  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 368,1–372,20. Zu Fishers Predigten ge­ gen Luther vom 12. Mai 1521 und vom 11. Februar 1526, vgl. Fisher, S. 77–97.145–174; vgl. Knox, Doctrine, S. 110–137; vgl. Marius, Morus, S. 356–369; s.u. 3.3.5.3.

3.1  Biographische Hinführung

101

Der Wunsch, die Unkenntnis der (lesefähigen) englischen Bevölkerung zu bekämpfen, und der Sache der Reformation auch auf der Insel zum Durch­ bruch zu verhelfen, steht als Motiv hinter Tyndales theologischer Produkti­ vität. Diese Herausforderung lastete umso schwerer auf ihm, als er um diese Zeit der einzige war, der sich als reformatorischer Schriftsteller in englischer Sprache zu Wort gemeldet hatte.45 Außer seiner Bibel samt Vorreden gab es nichts, was in England ein positives Bild des reformatorischen Aufbruchs hätte vermitteln können. Wie erfolgreich Tyndale sein Vorhaben verwirklichen konnte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. „Mammon“ existiert in zwei unterschiedlichen Druckversionen, was auf einen Nachdruck in England selbst schließen lässt.46 Tatsächlich wird das Buch häufig in Foxe’ Schilderungen des Schicksals der wegen illegalen Schriftbesitzes Verurteilten in einem Atemzug mit Tyndales „New Testament“ genannt. Die kirchlichen Obrigkeiten in England sahen den Inhalt der Schrift offensichtlich als Bedrohung der bestehenden Ordnung an. Ihr Besitz reichte aus, um Gefängnis und Folter ausgesetzt zu sein.47 Auch die Voten der Gegner Tyndales zu „Mammon“ sprechen dafür, dass das Werk seinen Zweck als reformatorische Magna Charta erfüllt hat. So bezeichnet Sir Thomas More die Schrift als „besonderen Mammona iniquitatis, einen be­ sonderen Schatz, der aus Bosheit entsprungen ist“48. Auch „Obedience“, das am 2. Oktober 1528 veröffentlicht wurde,49 fand wenig Zustimmung in altgläubigen Kreisen. Sir Thomas More nannte es – si­ cherlich nicht ganz unrichtig, wenngleich nicht, wie More meinte, bezogen auf die weltliche Ordnung, sondern auf die Papstkirche – ein „holy boke of dysobedience“50. Ungeachtet dessen wurde das Buch ein Erfolg und – neben den Bibelübersetzungen – die populärste Schrift Tyndales.51 Ein besonders interessierter Leser des Buches war, wenn man der Überlieferung Glauben 45  Sieht man von der Polemik Royes und Barlowes ab. John Frith und Robert Barnes traten erst 1529 bzw. 1531 als reformatorische Autoren an die Seite Tyndales. 46  Vgl. Kronenberg, English Printing, S. 158. Dick, Mammon, S. vi–xxv, listet bis zur Aufnahme der Schrift in „The Whole Works of W. Tyndall, John Frith, and Doct. Bar­ nes“ von 1573 (die erste Ausgabe, die alle Schriften Tyndales mit Ausnahme der Überset­ zungen enthielt) insgesamt sechs Editionen auf (1536, 1535–37, 1547, 1548, 1549, 1561); zur Druckgeschichte vgl. a.a.O., S. xxvi –xxx; und Dick, Revisions, v311–315. 47  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 490–494; zur Rezeption „häretischer“ Schriften vgl. Haigh, S. 65 ff. 48  More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 291,24 f: „very Mammona iniquitatis / a very treasoury and well spryng of wyckednes“; vgl. Mozley, S. 129, Daniell, Biography, S. 171. 49  Vgl. Obedience, PS 1, S. 296 (PC, S. 149). 50  More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 369,5 f, vgl. auch a.a.O., S. 291,25–28.349, 36 f.388,16–28; vgl. dazu auch Mozley, S. 143. 51  Sie erlebte im 16. Jahrhundert bis 1573 einige Nachdrucke (1536, 1548 u.a.); vgl. Daniell, Biography, S. 223.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

schenken will, König Heinrich VIII. selbst.52 Angeblich erhielt er das verbo­ tene Buch aus den Händen seiner zukünftigen zweiten Ehefrau Anne Boleyn (1501/1507–1536) und kommentierte die Lektüre mit den Worten: „this is a book for me and all kings to read“53. Ob diese Aussage aufgrund des Inhaltes von „Obedience“ tatsächlich gerechtfertigt ist, wird die Analyse zeigen,54 historisch völlig unmöglich ist die Episode nicht, denn wie Mozley mit Blick auf die Wahrnehmung Heinrichs VIII. scharfsinnig anmerkt: „the human mind has a wonderful power of taking what pleases it and overlooking the rest“55.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528) 3.2.1  Zum Charakter der Schrift „Mammon“ ist nicht nur die Schrift, die erstmals unter Tyndales Namen er­ scheint, sie ist auch die erste, die nicht unmittelbar mit einer Übersetzung bi­ blischer Texte verbunden ist, wenngleich auch sie auf einen neutestament­ lichen Text, nämlich das „Gleichnis vom unehrlichen Verwalter“ (Lk 16,1–9) Bezug nimmt. Ungeachtet dessen handelt es sich jedoch bei „Mammon“ um einen theologischen Traktat. Zwar ähnelt die Schrift in der Argumentations­ weise, im Vokabular und in den verwendeten Bildern den früheren Werken Tyndales, sie geht jedoch in verschiedener Hinsicht über ihre Vorläufer hinaus und stellt darum einen „turning point in William Tyndale’s career“56 dar. Wie dem „Cologne Fragment“ und der „Compendious Introduction“, so liegt auch „Mammon“ eine textliche Vorlage Martin Luthers zugrunde, der „Sermon von dem unrechten Mammon. Lu xvi“57 vom 17. August 1522, der Tyndale wahrscheinlich in der autorisierten deutschen Fassung zur Verfü­ gung stand.58 Luther und Tyndale legen in ihrer Auslegung den Fokus auf den letzten Vers,59 die Aufforderung Jesu: „Macht euch Freunde mit dem un­ 52  Rex, Obedience, S. 871 f weist aber darauf hin, dass Zweifel an der historischen Zu­ verlässigkeit der Anekdote angebracht sind, da sie erst in elisabethanischer Zeit verschrift­ licht wurde, vgl. besonders a.a.O., S. 872, Anm. 35. 53  Zitiert bei Mozley, S. 143. 54  S.u. 3.3. 55  Mozley, S. 142. 56  Dick, Mammon, S. xxx; vgl. zum Folgenden auch a.a.O., S. xxx–xxxvii. 57  WA 10,3, S. 283–292 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). 58  Für die Zugrundelegung der deutschen Fassung spricht der von Dick, Mammon, S. xlix-lix, vorgenommene Textvergleich; vgl. Smeeton, Lollard Themes, S. 262 ff; Da­ niell, Biography, S. 160 f. 59  Daniell, Biography, S. 161 irrt, wenn er behauptet, Luthers Predigt beziehe sich ausschließlich auf diesen letzten Vers, wohingegen Tyndale das gesamte Gleichnis aus­ lege. Zwar erweitert Tyndale Luthers Auslegung in erheblichem Maße, beide beziehen

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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gerechten Mammon“ (Lk 16,9), und beide nehmen diesen Satz zum Anlass, ihr eigentliches Thema, die Rechtfertigung aus Glauben und die Rolle der guten Werke, zu entfalten. Über seine bisherige Praxis hinausgehend, erwei­ tert und ergänzt Tyndale seine Vorlage jedoch so, dass der von ihm übersetzte Text der Lutherpredigt nur etwa ein Sechstel der Schrift ausmacht. Hierin zeigt sich eine zunehmende Selbstsicherheit des Theologen Tyndale, der sich aus dem großen Schatten des Wittenberger Lehrers wagt.60 Tyndale nimmt in „Mammon“ die theologischen Themen wieder auf, die ihn bereits 1525/1526 beschäftigt haben. Es klingt jedoch auch bereits ein Mo­ tiv an, das er in „Obedience“ noch stärker ins Zentrum stellen wird: „the ques­ tion of order in the Christian society“61. Von der Betrachtung der Folgen der Rechtfertigung für den einzelnen Glaubenden führt ihn sein Erkenntnisweg damit zur Frage nach den Konsequenzen für das christliche Gemeinwesen. Dies geschieht nicht ohne Abgrenzungen, und so lässt sich in „Mammon“ eine stärkere polemische Note feststellen als in den vorangegangenen Schriften. Wo es Tyndale zuvor um die Auslegung biblischer Texte im reformatorischen Sinne und nur insofern auch um die Abgrenzung von altgläubigen Deutungen ging, wird sein Tonfall 1528 deutlich schärfer. Der Vorwurf der altgläubigen Seite, die reformatorische Rechtfertigungslehre befördere ethische Willkür, steht stets im Raum. Insbesondere die Ausführungen zum „Antichrist“62 ma­ chen die Distanzierung von der römischen Kirche deutlich. Es liegt nahe zu vermuten, dass der polemische Akzent in „Mammon“ nicht zuletzt Reaktion auf die Rezeption von Tyndales Bibelübersetzung in der englischen Geistlich­ keit war. Als einerseits einem biblischen Text und einer Vorlage Luthers ver­ haftete, andererseits aber von Zielsetzung und Umfang über beide hinausge­ hende Schrift, ist „Mammon“ von Dick als „transitional work“63 charakteri­ siert worden. Es markiert die zunehmende Eigenständigkeit des Theologen Tyndale, ergänzt um die neue Facette des polemischen Autors, der die Ausein­ andersetzung mit seinen altgläubigen Gegnern nicht scheut. 3.2.2  Tyndales Vorlage: Luthers Predigt über Lk 16,1–9 vom 17. August 1522 Die Hauptaussagen von Tyndales Traktat gehen zurück auf Luthers Predigt über Lk 16,1–9, die Tyndale nahezu vollständig übersetzt und in „Mammon“ integriert.64 Luthers Predigt entstand in einer Phase seines Lebens, in der er sich jedoch gleichermaßen vorrangig auf Lk 16,9. Das Gleichnis als Ganzes kommt nur da in den Blick, wo beide (!) die Rolle des unehrlichen Verwalters diskutieren, vgl. WA 10,3, S. 292,3–15 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522) bzw. Mammon, PS 1, S. 70. 60  S.u. 3.2.6.1. 61  Dick, Mammon, S. xxxv; vgl. Mammon, PS 1, S. 116 ff. 62  Vgl. Mammon, S. 41–44. 63  Dick, Mammon, S. xxx. 64  Die einzige größere Auslassung Tyndales betrifft den Anfang von Luthers Predigt,

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

– nach den Monaten des Exils auf der Wartburg – nicht nur tatkräftig die neue kirchliche Ordnung gestaltete, sondern sich vor allem auch um die „Ein­ wurzelung der evangelischen Verkündigung“65 bemühte. Dazu gehörte auch eine rege Predigttätigkeit, die u.a. die morgendliche Auslegung des einschlä­ gigen Evan­ge­liums an den Sonn- und Festtagen einschloss. Am 17. August des Jahres 1522, dem 9. Sonntag nach Trinitatis (Sonntag nach Mariae Himmel­ fahrt), legte Luther in der Wittenberger Stadtkirche Lk 16,1–9 aus. Er entfal­ tet ausgehend vom Jesuswort: „Macht euch Freund von dem unrechten Mammon“66, die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben, indem er zunächst Glauben und gute Werke in Relation setzt67 und die Frage nach dem Lohn der Werke beantwortet.68 Sodann kommt er auf die angeblichen Verdienste der Heiligen zu sprechen,69 um schließlich noch einmal die im Gleichnis selbst aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit dem Mammon einzugehen.70 Auch wenn sich Tyndale an Luthers Predigt orientiert, setzt er durch die von ihm vorgenommenen Erweiterungen eigene Akzente.71 Warum er aus­ gerechnet diese Predigt des Wittenbergers aufgegriffen hat, lässt sich nicht sagen. Fest steht, dass Luthers Ausführungen zu Lk 16,1–9 in den Jahren 1522–1524 an verschiedenen Orten (neben Wittenberg auch Erfurt, Schlett­ stadt u.a.) insgesamt neunmal gedruckt wurden.72 In seiner Beschreibung der Rechtfertigung, mit der der Traktat beginnt, greift Tyndale zunächst aller­ dings nicht auf Luthers Predigt zurück, sondern erläutert die reformatorische Kernbotschaft in eigenen Worten.73 Zum einen bot ihm Luthers Sermon auf­ grund ihres Bezuges auf vorangegangene Wittenberger Predigten keinen idealen Einstieg, zum anderen erschien es Tyndale möglicherweise notwen­ dig, seine Leserschaft durch den einleitenden Passus mit dem nötigen Hinter­ grundwissen zu versorgen, das Luthers Hörer schon besaßen.74 Vielleicht wo der Reformator auf die vorangegangenen Predigten vor der Wittenberger Gemeinde Bezug nimmt, vgl. WA 10,3, S. 283,1–284,8 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522); vgl. auch Dick, Mammon, S. liiif. Smeeton, Lollard Themes, S. 262 ff (Appendix 3), legt eine Synopse beider Texte vor, die leider, was die Übersetzungen Tyndales aus dem Deut­ schen angeht, nicht immer korrekt ist. 65  Brecht, Luther II, S. 65; vgl. Bornkamm, Luther, S. 206 f: „Die Laien-Hermeneu­ tik war ihm jetzt zu einer noch dringlicheren Aufgabe geworden“. 66  WA 10,3, S. 283,22 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). 67  Vgl. a.a.O.; S. 283,30–288,15. 68  Vgl. a.a.O.; S. 288,16–290,7. 69  Vgl. a.a.O.; S. 290,8–291,3. 70  Vgl. a.a.O.; S. 291,4–292,25. 71  S.u. 3.2.5–3.2.9. 72  Vgl. VD 16: L 6065, L 6068, L 6069, L 6070 – L 6075. 73  Vgl. Mammon, PS 1, S. 45–50. 74  Vgl. Dick, Mammon, S. lv.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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ging es Tyndale aber – entsprechend seiner Selbstvorstellung – auch schlicht darum, als „his own man“ wahrgenommen zu werden.75 Im Anschluss an die Darlegung der Kerngedanken der Rechtfertigungs­ lehre nimmt Tyndale bis auf wenige Passagen Luthers Predigt auf.76 Zum Teil übersetzt er Luther wörtlich,77 zum Teil unterbricht er dessen Sätze, um ei­ gene Ergänzungen vom Umfang weniger Wörtern bis hin zu längeren Passa­ gen vorzunehmen.78 An einigen Stellen erweitert Tyndale seine Vorlage um erklärende Zusätze, wie etwa, wenn er das Geschenk der Gerechtigkeit im „Herzen des Menschen“ („the heart of man“79) lokalisiert, obwohl Luther keinen bestimmten Ort nennt. Derartige Erweiterungen der literarischen Vorlage wirken nicht immer gelungen und sind keinesfalls einer dogmatischen Abstraktheit Luthers ge­ schuldet, wie Daniell behauptet.80 Im Gegenteil, Tyndale kopiert vielmehr das Verfahren Luthers, indem er dessen Vergleiche und Bilder (das Bild vom Baum und seinen Früchten ist ein weiteres Beispiel)81 zum Vorbild seiner ei­ genen Illustrationen nimmt. Mit Luther verbindet ihn das Bemühen um die Vermittlung der zentralen Glaubensinhalte an die Laien, das seinen Ausdruck in einer bilderreichen „geerdeten“ Sprache und – besonders bei Tyndale – der Neigung zur Wiederholung wesentlicher Aussagen findet. Beide Autoren 75 

Vgl. Mammon, PS 1, S. 46: „I have taken in hand to expound this gospel, and certain other places of the new Testament; and (as far as God shall lend me grace) to bring the scripture unto the right sense“. 76  Die Lutherpredigt findet sich in „Mammon“ an folgenden Stellen: Mammon, PS 1, S. 50 f (vgl. WA 10,3, S. 284,9–33), S. 52 f (vgl. WA 10,3, S. 284,34–285,4), S. 53 (vgl. WA 10,3, S. 285,5–30), S. 55 (vgl. WA 10,3, S. 285,31–286,4 u. S. 286,5–7), S. 56 (vgl. WA 10,3, S. 286,9–29), S. 59 f (vgl. WA 10,3, S. 286,30–287,17), S. 61 (vgl. WA 10,3, S. 287,26–288,11), S. 62 ff (vgl. WA 10,3, S. 288,16–289,32), S. 65 (vgl. WA 10,3, S. 289,33–290,3), S. 66 (vgl. WA 10,3, S. 290,3–7) S. 66 f (vgl. WA 10,3, S. 290,8–27), S. 67 (vgl. WA 10,3, S. 290,28–31), S. 67–70 (vgl. WA 10,3, S. 291,4–292,25). 77  Tyndales Bemühen um eine sinngemäße Übertragung des Deutschen ist spürbar, er bietet darum jedoch keine „Wort für Wort“-Übertragung und übersetzt beispielsweise Luthers Adjektiv „frum“ (WA 10,3, S. 284,23) mit „righteous“ (Mammon, PS 1, S. 51). An­ ders als Smeeton, Lollard Themes, S. 262, behauptet, liegt hier keine Verschiebung gegen­ über der deutschen Bedeutung vor, vielmehr wird Tyndale der vielfältige Bedeutung von „frum“ mit seiner Übertragung eher gerecht, als wenn er das Wort mit „pious“ übersetzt hätte. 78  Wo Luther beispielsweise, um den Vorrang der Rechtfertigung aus Gnade vor den guten Werken, zu illustrieren, das Beispiel eines Kranken anführt, der erst geheilt werden muss, um wieder arbeiten zu können (vgl. WA 10,3, S. 284,24 f), ergänzt Tyndale drei weitere Beispiele (Blinder, Lahmer, Besessener). Größere Einschübe Tyndales finden sich auch in Mammon, PS 1, S. 54 f u. 64 f. 79  Mammon, PS 1, 50. 80  Wenn Daniell, Biography, S. 161, die Lutherpredigt als „statements of doctrine“ beschreibt, die erst durch Tyndale eine notwendige Öffnung hin zum „everyday life“ er­ fahren, wird dies dem Text des Wittenbergers kaum gerecht. 81  Mammon, PS 1, S. 50.

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sind keine „systematischen“ Theologen im strengen Sinne, bei denen die Stringenz des theologischen Arguments im Vordergrund steht. Ihr Anliegen ist es vielmehr, die Leser in ihrem alltäglichen Erfahrungshorizont für das Evan­ge­lium zu gewinnen.82 Bleibt Luther dabei der inneren Logik seiner Gedanken meist treu, zeigt sich bei Tyndale eine „tendency to circle back to a topic previously covered, sometimes with abruptness and lack of transition“83. Er will damit sicherstel­ len, dass die zentralen Aussagen die Leserschaft auch tatsächlich erreichen und scheut aus diesem Grund auch nicht vor Redundanz und einem gewissen Mangel an Logik zurück. Dabei zeigt sich ein z.T. von Luther abweichendes Vokabular. Vom Wittenberger eher selten gewählte Begriffe wie „Erwäh­ lung“ („election“) und „Verdammnis“ („damnation“) tauchen bei Tyndale häufiger auf, ebenso ist bei ihm öfter als bei Luther von Gottes Geist die Rede. Den begrifflichen Variationen entsprechen inhaltliche Akzentuierungen, die über Luthers Vorlage hinausgehen, etwa dort, wo sich Tyndale mit der Rolle des Gesetzes beschäftigt, die Luther nicht explizit thematisiert.84 Ob und in­ wieweit sich Tyndale damit auch inhaltlich von Luther entfernt, wird im Fol­ genden zu klären sein. 3.2.3  Aufbau der Schrift Mozleys Behauptung, „Mammon“ zeige „little order or arrangement“85, lässt sich nicht bestätigen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Tyndales Argumentation logisch strukturiert ist, auch wenn sie zugegebenermaßen durch die zahlreichen Wiederholungen und Illustrationen bisweilen wenig stringent wirkt.86 Die Schrift lässt sich – unter Absehung von Vorwort und Übersetzung – in drei große Teile gliedern, in denen Abhandlungen über die Rechtfertigung allein aus Glauben (A.) und die Frage nach der Rolle der guten Werke (C.) das eigentliche Titelthema, die Auslegung des Gleichnisses vom „unrechten Mammon“ (B.) rahmen. Innerhalb dieser Hauptteile lassen sich jeweils drei Themen mit verschiedenen Argumentationsschritten unterscheiden, mit de­

82  Vgl. Mozley, S. 128: „One of the most attractive features of the book is its strong practical tone, its interest in the common man“. Vgl. Dick, Mammon, liv. Tyndale „exp­ lains doctrines in simple terms, bringing them home to his readers by concrete images from everyday experience“. 83  Dick, Mammon, S. lvi. 84  Vgl. etwa Mammon, PS 1, S. 51 f. 85  Mozley, S. 128. 86  Vgl. Daniell, Biography, S. 159, Dick, Mammon, S. xxxiii weist darauf hin, dass Tyndale Metaphern, die er bereits 1525/1526 verwendet hat, in „Mammon“ zu „full blown episodes“ ausgestaltet.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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nen Tyndale seine Leserschaft überzeugen will.87 Der Aufbau von „Mam­ mon“ kann wie folgt dargestellt werden:88 Vorwort an die Leser Übersetzung von Lk 16,1–9 (45) A Rechtfertigung allein aus Glauben (45–89) I. Glaube allein bringt Leben, das Gesetz aber den Tod (45–52) 1. Rechtfertigung aufgrund von Gottes Verheißungen (48–49) 2. Belege aus der Schrift (49–51) 3. Die Aufgabe des Gesetzes (51–52) II. Gute Werke (52–56) 1. Vom rechten Verständnis guter Werke in der Schrift (52–54) 2. Das Wirken von Geist und Glaube (54–56) III. Werke als Zeugen der Rechtfertigung (56–67) 1. Rechtfertigung kommt aus dem Glauben und zeigt sich in Werken (56–62) 2. Ewiges Leben kann nicht „verdient“ werden (62–66) 3. Werke im Dienste der Armen, nicht der Heiligen (66–67) B. „Mammon“ und der ungerechte Verwalter (67–89) I. Was ist „Mammon“? (68) 1. Reichtümer und weltliche Güter (68) 2. Überfluss, über das Notwendige hinaus(68) II. Warum wird der Mammon „unrecht“ genannt? (69–70) 1. Nicht weil er zu unrecht empfangen wurde (69) 2. Sondern: Wenn er zu unrecht verwendet wird (69) 3. Nämlich nicht zum Wohle des Nächsten (69–70) III. Warum sollten wir dem Beispiel des Verwalters folgen? (70–89) 1. Als Beispiel von Weisheit und Sorgfalt (70) 2. Zur Auslegung biblischer Vergleiche (Adam-Christus) (70–71) 3. Belege aus der Schrift (71–89) C. Wozu dienen gute Werke? (90–126) I. Wozu dienen gute Werke? (90–100) 1. Fasten und Wachen (90–93) 2. Gebet (93–96) 3. Almosen (96–100)

87  Meine Analyse des Traktats ist an diesem Aufbau orientiert, legt ihren Schwer­ punkt aber auf den theologischen Argumentationszusammenhang, in dem Tyndale die Predigt Luthers aufnimmt und ergänzt. Hier sind im ersten Hauptteil der Schrift der rechtfertigungstheologische Einstieg (3.2.5), sowie das Verständnis der guten Werke (3.2.6) interessant. Im zweiten Hauptteil werden neben der Rezeption von Luthers Deu­ tung des Gleichnisses (3.2.7) auch Tyndales Ergänzungen (3.2.8) in den Blick genommen. Schließlich untersuche ich im dritten Hauptteil Tyndales Verständnis der guten Werke (3.2.9). 88  Vgl. dazu das Schema bei Daniell, Biography, S. 385 f (Appendix A), das mir (bis auf einige Überschriften) weitgehend zutreffend erscheint; ähnlich Dick, Mammon, S. lixff.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

II. III.

Der Charakter guter Werke (100–107) 1. Welche Werke sind „gut“ zu nennen? (100–103) 2. Warnung vor Eifer (105–106) 3. Armenfürsorge nach dem Beispiel Christi (106–107) Die Welt versteht Gott nicht (107–126) 1. Irrtum der Philosophie (107–109) 2. Gott schenkt Erkenntnis (109–111) 3. Belege aus der Schrift (111–126)

3.2.4  Das Vorwort: „William Tyndale, otherwise called Hitchins, to the Reader“ 89 Bevor er die eigentliche theologische Argumentation eröffnet, wendet sich Tyndale in einem Vorwort an seine Leserschaft und stellt sich ihr zum ersten Mal namentlich vor. Die Gründe, die ihn veranlasst haben, den Traktat – an­ ders als die vorhergegangenen Werke – unter seinem Namen zu veröffent­ lichen, werden dem englischen Lesepublikum im ersten Teil des Vorworts erläutert.90 Wie bereits gesehen sieht sich Tyndale gezwungen, dem „Rat­ schlag Christi, der die Menschen ermahnt (Mt 6), ihre guten Werke heimlich zu tun“91, zuwiderzuhandeln, um sich von den polemischen Attacken seines ehemaligen Mitarbeiters William Roye zu distanzieren.92 An diese Positionierung schließt Tyndale im zweiten Teil des Prologs93 ei­ nen scharfen Angriff auf all jene an, die „false doctrine, contrary to Christ“ 94 predigen. Er bezieht sich auf die neutestamentliche Rede vom Antichrist95 und identifiziert dessen Wesen als „spiritual thing“96, als eine Geisteshaltung, die sich in verschiedenen Verkleidungen verbirgt, jedoch aktuell eine beson­ ders erschreckende Gestalt angenommen hat: An die Stelle der Pharisäer und Schriftgelehrten als Gegner Jesu sind die Vertreter der Kirche getreten: „Es gibt dem Namen nach einen Unterschied zwischen ‚Papst‘, ‚Kardinal‘, ‚Bischof‘ usw. auf der einen, und ‚Schriftgelehrter‘, ‚Pharisäer‘, ‚Ältester‘ usw. auf der anderen Seite, aber die Sache ist dieselbe“97.

89  90  91 

Mammon, PS 1, S. 37–44. A.a.O., S. 37–40. A.a.O., S. 37: „counsel of Christ, which extorteth men (Mtt. vi.) to do their good deeds secretly“; s.o. 2.1.1. 92  S.o. 2.1 Exkurs: Tyndale und Roye. 93  A.a.O., S. 41–44. 94  A.a.O., S. 42. 95  Vgl. ebd.: „as thou readest in the epistles of John, and of Paul to the Corinthians und Galatians, and other epistles“. 96  Ebd. 97  A.a.O., S. 43: „There is difference in the names between a pope, a cardinal, a bishop, and so forth, and to say a scribe, a pharisee, a senior, and so forth; but the thing is all one“.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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In dieser harschen Identifizierung der Papstkirche mit dem Antichrist spiegelt sich Tyndales Erfahrung mit dem Vorgehen gegen die Heiligen Schrift in Ge­ stalt seiner Übersetzung.98 Die von Wolsey und seinen Mit-Bischöfen 1526 in London und anderswo angezettelten Verbrennungen des Wortes Gottes wa­ ren für Tyndale eindeutiges Indiz für die antichristliche Gesinnung der kirch­ lichen Hierarchie. Mit beißendem Spott schließt er sein Vorwort darum mit der rhetorischen Frage: „Manche mögen möglicherweise fragen, warum ich die Arbeit, dieses Werk zu schrei­ ben, auf mich nehme, wenn sie es doch brennen sehen werden, so wie sie das Evan­ge­ lium brennen sahen?“99

Die Antwort, die er selbst gibt, ist zugleich Bekenntnis und düstere Vorah­ nung des eigenen Schicksals. „Ich antworte: Als sie das Neue Testament verbrannten, taten sie doch nur das, was ich erwartet hatte. Nichts anderes täten sie, sollten sie auch mich verbrennen. Wenn dies Gottes Wille ist, möge er geschehen. Nichtsdestotrotz, als ich das Neue Testament übersetzte, tat ich meine Pflicht und die tue ich auch jetzt und werde sie weiter tun, weil Gott mir befohlen hat, sie zu tun“100.

Die Berufung auf den Willen Gottes, dem er selbst gewissermaßen als Werk­ zeug dient, macht die heilsgeschichtliche Dimension deutlich, in der Tyndale sein Schaffen begreift. Während er in England Mächte am Werk sieht, die er­ folgreich gegen das Evan­ge­lium agieren, versteht er sich selbst als Teil des größeren Planes Gottes, an dessen Ende die Wahrheit seines Wortes aufschei­ nen wird. 3.2.5  Der rechtfertigungstheologische Einstieg101 3.2.5.1  Erasmisch gesinnte Kleruskritik An die Identifikation des Antichrist im Vorwort schließt sich eine weitere kri­ tische Vorbemerkung an, mit der Tyndale – im Anschluss an die Übersetzung von Lukas 16,1–9102 – seine Beweggründe zur Abfassung des Traktats erläu­ 98  Vgl. Dick, Abraham, S. 48: „Tyndale’s view of scripture in the Mammon ultimately focuses on the shocking image of Cuthbert Tunstall’s bonfire of the New Testament trans­ lation“. 99  Mammon, PS 1, S. 43: „Some man will ask, peradventure, Why I take the labour to make this work, inasmuch as they will burn it, seeing they burnt the gospel?“. 100  A.a.O., S. 43 f: „I answer, In burning the new Testament they did none other thing than that I looked for: no more shall they do, if they burn me also, if it be God’s will it shall be. Nevertheless, in translating the New Testament I did my duty, and so do I now, and will do as much as God hath ordained me to do“; s.u. 7.8.4. 101  A.a.O., S. 45–51. 102  Sie entspricht der Übersetzung im „New Testament“ von 1526, vgl. Daniell, Biography, S. 158.

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tert. Gegen die „false prophets“103, welche die Wahrheit der Schrift durch die Philosophie des Aristoteles korrumpieren und die Notwendigkeit guter Werke für die Erlangung des Seelenheils behaupten – als Gegner sind damit klar die scholastischen Theologen und der (englische) Klerus ausgemacht – sieht es Tyndale als seine Aufgabe an: „der Schrift ihren wahren Gehalt zurückzugeben und die Brunnen Abrahams [Gen 25,11] neu auszuheben, sie zu reinigen und von der Erde weltlicher Weisheit zu säu­ bern, mit der die Philister sie verschüttet haben“104.

Dick hat darauf aufmerksam gemacht, dass Tyndale hier in Wortwahl und Zielsetzung an Erasmus anknüpft.105 Die Identifizierung der „Philister“ mit Kirchenhierarchie und scholastischer Theologie erinnert an den Brief des Hu­ manisten an Paul Volz, der der Ausgabe des „Enchiridion“ 1518 vorangestellt war.106 Tyndale, der das „Handbüchlein“ ja selbst übersetzt hatte,107 wusste sich in der Kritik an der traditionellen Schriftauslegung einig mit Erasmus und übernahm von ihm grundlegende Aspekte des Schriftverständnisses.108 Der „right sense“, in dem mit der Schrift umgegangen und in welchem sie verstanden werden muss, ist eben nicht die Exegese der Scholastik, denn diese ist „worldy wisdom“. Wie Erasmus unterstellt Tyndale ihr damit nicht nur Unangemessenheit im Bezug auf das göttliche Wort, er kritisiert zugleich, dass sie die Verweltlichung des Klerus unterstützt.109 Abrahams „Brunnen des Lebendigen“110, wie Tyndale die Schrift hier und an anderer Stelle nennt, muss stattdessen mithilfe eines dem Wortsinn gerecht werdenden Ansatzes ausgelegt werden.111 Wahrhaftiges Verständnis der Schrift ist für ihn – und hier geht er über Erasmus hinaus – unauflöslich verbunden mit dem Geschenk 103  104 

Mammon, PS 1, S. 45. A.a.O., S. 46: „to bring the scripture unto the right sense, and to dig again the wells of Abraham, and to purge and cleanse them of the earth of wordly wisdom, wherewith these Philistines have stopped them“. 105  Vgl. Dick, Abraham, S. 40–43. 106  Vgl. Erasmus, Epistola ad Paulum Volzium (1518), Ausgewählte Schriften 1, S. 16–18; vgl. auch Dick, Abraham, S. 40. 107  S.o. 1.4.3. 108  Hier lässt sich jedoch, wie Dick richtig feststellt, der Einfluss des Erasmus nicht ge­ gen den Luthers ausspielen, denn „Tyndale borrows […] from precisely those writings of Erasmus that represent the Dutch humanist’s most pro-Lutheran sentiments“ (Dick, Ab­ raham, S. 43). 109  Vgl. a.a.O., S. 42: „support for the worldly ambitions of the clergy“. 110  „the wells of Abraham“ (Gen 25,11). Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 3; Tyndales Übersetzung dieses Verses aus dem 1. Buch Mose lautet: „And after the death of Abraham God blessed Isaac his son which dwelleth by the well of the living and seeing“ (TOT, S. 43). 111  Vgl. Dick, Abraham, S. 41: „Tyndale argues that scripture must be read using a fle­ xible, philologically informed approach that is responsive to contexts and to recurrent themes“.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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des Glaubens. Seine Zusammenfassung der Rechtfertigungslehre beginnt da­ rum mit einer Darlegung des aus der Schrift kommenden und ihr Verständnis ermöglichenden Glaubens. 3.2.5.2  Rechtfertigung durch Gesetz und Evan­ge­lium Die frohe Botschaft der Schrift ist die der Rechtfertigung allein aus Glauben: „Glaube allein, vor allen Werken und ohne jedwede Verdienste, außer die Christi allein, rechtfertigt und bringt uns Frieden mit Gott“112. Das Gesetz bezeugt hingegen die Verurteilung des Menschen, denn es macht offenkun­ dig, dass es ihm als Sünder unmöglich ist, die Werke, die das Gesetz fordert, aus eigener Kraft zu erfüllen.113 Tyndale setzt damit Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evan­ge­lium an den Beginn seines Traktats und stellt sie in ei­ nen heilsgeschichtlichen Kontext, der durch die ewige Verdammnis, in wel­ cher der Mensch von Geburt an gefangen ist, vorgezeichnet ist.114 Der ein­ zige Weg, den „bonds of the devil“115 zu entgehen und „at peace with God“116 zu sein, ist die Hinwendung zum Evan­ge­lium Christi, in dem die Verheißun­ gen Gottes erfüllt sind. Wer die Verheißungen Gottes im Herzen trägt und ohne Zagen („without wavering“117) an sie glaubt, der wird befreit zum Tun des göttlichen Willens.118 Diese Einwilligung des Herzens in den Willen Gottes, wie er im Gesetz bezeugt ist, stellt für Tyndale den Zielpunkt des Rechtfertigungsgeschehens dar. In dieser durch den Glauben an Christus gewonnenen Übereinstimmung des menschlichen Herzens mit dem Willen Gottes lebt ein Christenmensch, auch wenn er peccator in re bleibt.119 Als solcher weiß er sich jedoch nun zur Anklage des Gesetzes zu verhalten: „Wenn die Versuchung groß wird und der Teufel die Gesetze und deine Taten gegen dich stellt, antworte ihm mit den Verheißungen und wende dich zu Gott und vertraue dich ihm an und gestehe ihm, dass es so ist – denn wie könnte er sich sonst deiner er­ barmen? Bedenke doch, dass er ein Gott der Gnade und der Wahrheit ist, der nicht an­ ders kann, als seine Verheißungen zu erfüllen“120. 112 

Mammon, PS 1, S. 46: „faith only and before all works and without all merits, but Christ’s only, justifieth and setteth us at peace with God“. 113  Vgl. A.a.O., S. 47: „it is impossible for a man to fulfil the law of his own strength and power, seeing that we are by birth and of nature the heirs of eternal damnation“. 114  Zur Erwählung s.u. 3.2.8. 115  A.a.O., S. 48. 116  Ebd.; vgl. Röm 5,1. 117  Ebd. 118  Vgl. ebd.: „there the heart is free, and hath power to love the will of God“. 119  Vgl. ebd.: „Now is that consent of the heart unto the law of God eternal life […] though there be no power yet in the members to fulfil it“. 120  Ebd.: „when temptation ariseth, and the devil layeth the law and thy deeds against thee, answer him with the promises; and turn to God, and confess thyself to him, and say

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

3.2.5.3  „Lust to the Law“ Nach dieser kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte der Recht­ fertigungslehre, mit der Tyndale seine Leserschaft das weitere Verständnis des Traktats erleichtern will, kann Tyndale nun Luthers Predigt aufnehmen und mit diesem Christus selbst als Gewährsmann in Sachen guter Werke anfüh­ ren. Sein Bild vom Baum, der gute Früchte bringt (Mt 7,16 ff), ist der Beleg für den Vorrang der geschenkten Gerechtigkeit vor den guten Werken.121 Tyndale folgt der Predigt Luthers über weite Strecken, fügt aber zum Ende des ersten Teils einen eigenen Passus ein, der die Rolle des Gesetzes in den Blick nimmt.122 Dabei bleibt er zunächst auf der Linie des usus elenchticus, den auch Luther stark macht. In seiner Darstellung der Veränderung, die der Mensch durch den Glauben an die Verheißungen erfährt, betont Tyndale je­ doch – wie bereits in den Bibelvorreden der Jahre 1525 und 1526 – die posi­ tive Veränderung in der Einstellung zum Gesetz. Der Geist „befreit unser Herz, schenkt Lust am Gesetz und versichert uns des Wohlwollens Gottes uns gegenüber“123. Von „Lust am Gesetz“ ist bei Luther hier keine Rede, zu schwer wiegt das verdammende Urteil über den Sünder, das das Gesetz fällt. Für Tyndale hingegen bekommt das Gesetz kraft des göttlichen Geistes eine positive Funktion im Herzen der Glaubenden. Rechtfertigung wird stärker als Heilungsvorgang denn als Gerechtsprechung verstanden: „If we submit ourselves unto God, and desire him to heal us, he will do it“124.  

3.2.6  Tyndales Aufnahme von Luthers Deutung der guten Werke125 3.2.6.1  Rechter und falscher Glaube Nachdem er den Lesern vor Augen geführt hat, dass der Mensch allein durch den Glauben und nicht durch Werke vor Gott gerecht werden kann, wendet sich Tyndale denjenigen Aussagen der Schrift zu, die Werke als Weg zur Rechtfertigung nennen, wie etwa Mt 25,31 ff. Hierbei bedient er sich weitge­ hend der Vorlage Luthers und vollzieht dessen Gedankengang nach. it is even so, or else how could he be merciful? But remember that he is the God of mercy and of truth, and cannot but fulfil his promises“. 121  Vgl. a.a.O., S. 50, vgl. WA 10,3, S. 284,9–15 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). 122  Mammon, PS 1, S. 51–52. 123  A.a.O., S. 52: „looseth our heart, giveth lust to the law, and certifieth us of the good-will of God unto usward“; vgl. Bucer, Epheser-Kommentar (1527), de Kroon, S. 164: „Ad hunc modum et de praeceptis reliquis faciendum iudicium est, quicquid per se ad pieta­tem pertinet, nequaquam per Christum abrogatum, sed potius confirmatum est, quia electis omnibus beneficio eius, quae eiusmodi sunt in corda et viscera, hoc est in intimum mentis inscribuntur“. 124  Mammon, PS 1, 52 (Kursivierung von mir); s.u. 3.4.1.1. 125  A.a.O., S. 54–67.

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Mit Luther fragt Tyndale zunächst, welches Glaubensverständnis hinter der Zustimmung zu solchen Aussagen liegt: Viele lehnen die Vorstellung ei­ ner Rechtfertigung allein aus Glauben ab, weil sie den Glauben fälschlich als bloße Zustimmung zu bestimmten Wahrheiten verstehen.126 Wer den Glau­ ben jedoch so denkt, vertraut letztlich nur den eigenen Fähigkeiten.127 Aus einem solchen „dreaming of the faith“128 wird der Mensch nicht gerechtfer­ tigt, noch fließen daraus Werke. Gegen dieses falsche Verständnis des Glau­ bens als menschliche Zustimmung aus eigener Vollmacht, setzen Luther und Tyndale den wahren Glauben als „pure gift of God“129. Zum ersten Mal kön­ nen hier englische Leser vom „Glauben“ („faith“) in einem völlig neuverstan­ denen Sinn als Menschen verändernde Kraft Gottes lesen.130 Wie Dick tref­ fend zusammenfasst: „‚faith‘ is as much a power as a state“131. 3.2.6.2  Glaube und Geist Als Urheber dieser Veränderung erkennt Tyndale wie schon in den Schriften der Jahre 1525/1526 Gottes Geist. Glaube und Geist werden wirkmächtig durch das Wort der Schrift: „Der Geist Gottes begleitet den Glauben und bringt mit sich das Licht, mit dem ein Mensch sich selbst im Licht des göttlichen Gesetzes erblickt […] und wenn sein [d.i. Gottes] Wort gepredigt wird, schlägt der Glaube Wurzeln in den Herzen der Erwähl­ ten, und dem Wort Gottes wird geglaubt; die Kraft Gottes befreit das Herz aus der Gefangenschaft und den Ketten der Sünde und verknüpft und vermählt es mit Gott und seinem Willen“132. 126  Tyndale illustriert dies über seine Vorlage hinausgehend so: „as when a man telleth a story or a thing done in a strange land, that pertaineth not to them at all; which yet they believe, and tell as a true thing: and this imagination, or opinion, they call faith“ (a.a.O., S. 52 f). 127  Vgl. a.a.O., S. 53: „they feel no manner working of the Spirit, neither the terrible sentence of the law, the fearful judgements of God, the horrible damnation and captivity under Satan“. 128  Ebd.; vgl. WA 10,3, S. 285,19 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „eyn trawm und eyn nacht bildt vom glawben“. 129  Mammon, PS 1, S. 53; vgl. WA 10,3, S. 285,25 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „eyn lautter gottis werck“. 130  Vgl. Mammon, PS 1, S. 53: „it is mighty in operation, full of virtue, and ever work­ ing; which also reneweth a man, and begetteth him afresh, altereth him, changeth him, and turneth him altogether into a new nature and conversation“; vgl. WA 10,3, S. 285,27–29 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „Darumb ist er auch gar eyn mechtig, thettig, unrugig, schefftig ding, der den menschen gleych erneuwert, ander­ weittig gepyrtt und gantz ynn eyn new weyße und wessen furet“. 131  Dick, Mammon, S. lxvi. 132  Mammon, PS 1, S. 54: „The Spirit of God accompanieth faith, and bringeth with her light, wherewith a man beholdeth himself in the law of God […] and when his word is preached, faith rooteth herself in the hearts of the elect; and as faith entereth, and the word of God is believed, the power of God looseth the heart from the captivity and bon­ dage under sin, and knitteth and coupleth him to God and to the will of God“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Das Zitat macht deutlich, dass Tyndale zwischen den drei Größen, Glaube, Geist und Gotteswort, nicht streng unterscheidet.133. Man mag hierin ein mangelndes systematisches Differenzierungsvermögen erkennen,134 m.E. ist die „Flexibilität“ in Tyndales Terminologie jedoch als Versuch der Beschrei­ bung eines Prozesses zu werten, der mit statischen Subjekt-Objekt-Katego­ rien nicht zu fassen ist. Rechtfertigung ist in der Erfahrung der Glaubenden, wie Tyndale sie beschreiben will, tatsächlich „Geschehen“, „Bewegung“ – et­ was, das sich auf der Erfahrungsebene nicht in einzelnen klar unterscheidba­ ren Schritten vollzieht. „Geist“, „Glaube“ und „Wort“ sind für Tyndale keine streng zu differenzierenden Wirkweisen Gottes in seiner Bewegung zum Menschen, sondern bilden gleichsam eine symbiotische Einheit, durch die Gott wirkt (die Gotteskraft – „the power of God“ – ist Subjekt im o.g. Zitat!). In diese Bewegung soll sich Tyndales Leserschaft einbezogen fühlen. Dog­ matische Akkuratesse tritt hier zurück hinter der Emphase, mit der die le­ bensverändernde Wirkung der reformatorischen Grunderkenntnis den Le­ sern nahegebracht wird.135 Tyndales Traktat ist weniger dogmatische Beleh­ rung als vielmehr Predigt, die das Rechtfertigungsgeschehen für die Lesenden so nachvollziehbar macht, dass sie selbst sich dadurch berührt fühlen. 3.2.6.3  Gute Werke Vor dem Hintergrund des so beschriebenen Veränderungsprozesses, der den Menschen befähigt, dem Willen Gottes zu folgen,136 kommt Tyndale nun wieder auf sein eingangs angesprochenes Thema zurück, nämlich die Werke als die äußerlich erkennbaren Folgen dieses Geschehens. Mit Luthers Deu­ tung des biblischen Bildes vom Baum, der ganz natürlich gute Früchte her­ vorbringt (Mt 7,16 ff),137 beschreibt er die guten Werke des Glaubenden als natürliche Folge seines neuen, von Gott geschenkten Seins. Gott selbst, der  

133  Dick, Mammon, S. lxv. stellt daher zurecht fest: „It is worth noting that Tyndale uses ‚Spirit’ and ‚word’ almost interchangeable with ‚faith’“; vgl. Bucer, Epheser-Kom­ mentar (1527), de Kroon, S. 148: „Ergo adflatu spiritus sancti hic opus est, qui Evangelion cordibus electorum persuadeat, hoc demum pacto vocantur et a patre ad filium pertra­ huntur, quotquot ad vitam praeordinati sunt. Atque hic auditus ille est, unde fides pro­ venit“; vgl. dazu auch Müller, S. 29. 134  Wie z.B. Clebsch, S. 153, dies andeutet. 135  Vgl. Dick, Mammon, S. lxvi: Tyndale „conveys by this blurring of vocabulary the sense that cause and effect, inward change and outward agent, are virtually indistinguish­ able to one undergoing the process of conversion“. 136  Erneut greift Tyndale zur Metaphorik von Krankheit und Heilung und beschreibt die Veränderung als Gesundung: „When health cometh, she changeth and altereth him [d.i. den Kranken] clean; giveth him strength in all his members, and lust to do of his own accord that which before he could not do“ (Mammon, PS 1, S. 54). 137  Vgl. Mammon, PS 1, S. 55; WA 10,3, S. 285,31 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). Vgl. die Aufnahme des Bildes bei Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 62,27–30.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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durch seinen Geist wirkt,138 ist damit für ihn unmissverständlich Subjekt des Rechtfertigungsgeschehens. Die Frage, warum die Schrift (Mt 25,31 ff) Werke für notwendig hält, kann Tyndale – mit Luther – darum so beantworten: Sie tut dies nicht im Sinne einer Heilsnotwendigkeit, sondern weil sie die guten Werke als Früchte des rechten Glaubens versteht. Insofern machen die guten Werke gerade den Unterschied zwischen wahrem und falschem Glauben offenbar. Sie rechtfer­ tigen den Menschen äußerlich coram mundo. Die eigentliche Rechtfertigung coram Deo geschieht jedoch „through faith only, before all works“139. Als Nachweis des wahren Glaubens sind Werke daher notwendig, nicht aber an­ stelle des Glaubens. Tyndale gibt ein ausführliches Beispiel, um den Sachverhalt zu illustrieren. Es ist seine Version der Geschichte von der Sünderin, die Christi Füße salbt (Lk 7,36 ff).140 In ihr führt Tyndale Maria Magdalena (die er – der kirchlichen Tradition entsprechend – mit der Sünderin identifiziert) und Simon, den Gastgeber Jesu, als Exempel dafür an, dass gute Werke aus dem wahren Glau­ ben natürlich hervorgehen.141 Ihrer beider Werke bezeugen die Liebe, die sie Christus entgegenbringen und die wiederum entspringt aus dem Wirken des Geistes in ihren Herzen.142 Die guten Werke sind somit äußerer Ausdruck der inneren Verfassung; sie bezeugen die enge Verbindung von Geist bzw. Glaube und Liebe bzw. Werken.  



138  Vgl. Mammon, PS 1, S. 56: „the Spirit […] not only teaches us all things, but wor­ keth them also mightily in us, and carrieth us through adversity, persecution, death, and hell, unto heaven and everlasting life“ (vgl. WA 10,3, S. 286,16–19, Sermon von dem unrech­ ten Mammon, 1522: „er bringt den heyligen geyst mit sich, der selb leret uns denn nicht alleyn allerley, sondern thutts auch mechtiglich dahyn und furet uns auch durch todt und helle gen hymell“). 139  Mammon, PS 1, S. 61; vgl. WA 10,3, S. 287,26 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522: „ym geyst, fur gott alleyn durch den glawben on alle werck“. In diesem Sinne ist darum auch Jak 2,17 zu verstehen: das Ausbleiben der Werke als äußerliches Zeichen der Rechtfertigung bezeugt den Mangel an Glauben, vgl. Mammon, PS 1 61: „that there is no faith in the heart; but a dead imagination and dream, which they falsely call faith“ (vgl. WA 10,3, S. 288,4 ff: „Das ist, weyll die werck nicht folgen, ist eyn gewiß zeychen, das keyn glaub da sey, ßondern eyn todter gedancke und trawm, den sie falschlich glawben nennen“). Auch das titelgebende Jesuswort vom „unrechten Mammon“ deuten Tyndale und Luther als Aufforderung, die innere Rechtfertigung durch gute Werke nach Außen sichtbar zu machen, vgl. Mammon, PS 1, S. 61: „shew your faith openly, and what ye are within in the heart“ (vgl. WA 10,3, S. 288,7 f: „beweyßet offenbar mit eußerlichem geben ewren glawben“). 140  Daniell, Biography, S. 164, spricht von der „most remarkable of all Tyndale’s ad­ ditions to Luther“. 141  Vgl. Mammon, PS 1, S. 56–59. 142  Vgl. Mammon, PS 1, S. 59: „The works declare love: and love declareth that there is some benefit and kindness shewed, or else would there be no love“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Mit dieser Verknüpfung taucht eine Relation auf, die bereits 1525/1526 zu finden ist und in der sich Tyndale möglicherweise auf Augustin und/oder Bu­ cer bezieht und über Luthers Vorlage hinausgeht.143 Luther spricht lediglich von „frumheyt“ („righteousness and goodness“)144 als Folge des Glaubens, nicht explizit von „Liebe“. Tatsächlich findet sich dieses Stichwort bei Tyn­ dale in auffallender Häufigkeit besonders an solchen Kernstellen, die etwas über die Qualität der mit der Rechtfertigung beschriebenen neuen GottMensch-Relation aussagen.145 3.2.6.4  Der Lohn der guten Werke Aus der vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Glaube und guten Wer­ ken folgt ein zweiter Aspekt, den Tyndale – mit Luther – hervorhebt: Gute Werke dürfen nicht in Erwartung einer Belohnung geschehen, sondern allein zur Ehre Gottes.146 Alles andere hieße, das bereits erfahrene Geschenk der Gnade Gottes in Christus zu missachten und Gottes Weg der Rechtfertigung der Sünder zu konterkarieren. Auch die Schriftstellen, die vom himmlischen Lohn sprechen,147 sind darum nicht im Sinne eines geistlichen Leistungsden­ kens zu deuten, sondern stellen nur den bereits aufgezeigten Bezug von inne­ rer und äußerlicher Rechtfertigung her. Wie die Werke natürlich aus dem Glauben hervorgehen, folgt auch der himmlische Lohn dem Leben des Glau­ benden „without seeking for“148. Tyndale übernimmt Luthers Aussagen beinahe unverändert,149 lediglich am Ende des Abschnittes paraphrasiert er den gesamten Prozess der Rechtfer­ tigung in eigenen Worten.150 Hier fallen erneut erwählungstheologische Be­ züge auf, die an Augustin erinnern. So schreibt Tyndale: „Bevor wir geboren werden, sind wir schon Gefäße des Zornes Gottes“151. 143  144 

S. 59.

145  146 

S.o. 2.7.2. WA 10,3, S. 286,31 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522) bzw. Mammon, PS 1,

S.u. 3.4.1.5. Vgl. Mammon, PS 1, S. 62: „all works must be done free with a single eye, without respect of any thing, and that no prift be sought thereby“ (vgl. WA 10,3; 288,16 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522: „alle werck sollen und mussen frey umbsonst geschehen unnd keyn nutz da durch gesucht werden“). 147  Vgl. Mammon, PS 1, S. 63: „What shall we saya to those sciptures, which sound as though a man should do good works and live well for heaven’s sake or eternal reward“ (vgl. WA 10,3, S. 289,3 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522: „Was wollen wyr nun sagen zu den spruchen, die auff das gutt leben dringen umb des ewigen lohns willen“). 148  Mammon, PS 1, S. 64; vgl. WA 10,3, S. 289,18 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „on alles suchen“. 149  Er erläutert lediglich in einem kurzen Einschub erneut die Rolle des Geistes im Rechtfertigungsgeschehen, vgl. Mammon, PS 1, S. 63. 150  Vgl. Mammon, PS 1, S. 64 f. 151  Mammon, PS 1, S. 64: „ere we be born, we are vessels of the wrath of God“, vgl.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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Luthers Auslegung von Lk 16,9b, in der er einer Deutung widerspricht, die in den Heiligen Mittler zwischen Gott und Menschen sieht, übernimmt Tyn­ dale: Auch die Heiligen sind Sünder, die es nötig haben, von Gott in die „ewi­ gen Wohnungen“ aufgenommen zu werden; ihre Verehrung ist daher nutz­ los.152 Das dafür verwendete Geld ist bei den Armen besser aufgehoben: „Them make thy friends with thy unrighteous mammon“153. Gerade in der Fürsorge der Glaubenden für die Bedürftigen lässt sich für Tyndale eine Be­ stätigung der eigenen inneren Rechtfertigung finden. Sie ist „Gelegenheit, unseren Glauben zu üben und durch die Werke unseren Glauben zu er­ spüren“154. 3.2.7  Tyndales Aufnahme von Luthers Auslegung des Gleichnisses Im Anschluss an diese längeren rechtfertigungstheologischen Ausführungen geht Tyndale, Luther aufnehmend, auf Fragen ein, die sich konkreter mit dem Inhalt des Gleichnisses vom unehrlichen Verwalter beschäftigen. Mit Luther, der das hebräische Wort „Mammon“ als Bezeichnung für „reychtumb odder zeytlich gutt“155 deutet, versteht Tyndale den „Mammon“ als „riches or tem­ poral goods; and namely, all superfluity, and all that is above necessity“156. „Unrecht“ („unrighteous“) ist dieses Vermögen nicht, weil es zu unrecht er­ worben wurde, sondern insofern es nicht zum Wohl des Nächsten eingesetzt wird.157 Zum Abschluss seiner Predigt beantwortet Luther die Frage, warum Christus den Verwalter als Beispiel für die Glaubenden darstellt, obwohl die­ ser gegen den Willen seines Herrn gehandelt hat. Der Grund dafür ist die „weyßheytt […], das er mitten ym unrecht ßo weyßlich seynen nutz schafft“158. Tyndale folgt Luther und sieht den Verwalter allein in dieser „Weisheit“ als Röm 9,22. Zu Augustin vgl. Seeberg, S. 504–512. Vgl. aber auch WA 18, S. 720,28–722, 29 (De Servo Arbitrio, 1525). Zu Bucers Erwählungsvorstellung vgl. Lang, S. 156–206; Stephens, Bucer, S. 24–41. 152  Vgl. Mammon, PS 1, S. 66: „yea they are not thy friends“ (vgl. WA 10,3, S. 290,23 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522: „sie sind auch nicht deyne freunde“). 153  Mammon, PS 1, S. 67 (Kursivierung von mir), vgl. WA 10,3, S. 290,26 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „den mach dyr mit deynem Mammon zu freunde“. 154  Mammon, PS 1, S. 67: „occasion to exercise our faith, and the deeds make us feel our faith“. 155  WA 10,3, S. 291,8 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). 156  Mammon, PS 1, S. 68. 157  Vgl. a.a.O., S. 69: „it is called ‚unrighteous Mammon’, not because it is got unrigh­ teously or with usury […] But therefore it is called unrighteous, because it is in unrighte­ ous use“ (vgl. WA 10,3, S. 291,13–18, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522: „Auffs an­ der heyst es unrecht Mammon, nicht das mit unrecht odder wucher erworben sey […] Sondern darumb heyst es unrecht, das es ym unrechten brauch ist“). 158  WA 10,3, S. 292,6 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522); vgl. Mammon, PS 1, S. 70: „in that he, with unright, so wisely provided for himself“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Verwalter vorbildlich an, ein anderes tertium comparationis gibt es nicht und da­ mit auch keine allegorische Deutung des Gleichnisses.159 3.2.8  Tyndales eigene Ausführungen zum Gleichnis: Erwählungs- und gesetzestheologische Akzente Luthers kurze Antworten zu Lk 16,1–9 werden von Tyndale um beinahe dreißig Druckseiten erweitert, auf denen er die zentralen Kerngedanken des bereits dargelegten reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses mit bib­ lischen Belegstellen erneut ausführlich erläutert.160 Was heutigen Lesern als unnötige Wiederholung erscheint, ist aus Tyndales Sicht durchaus angemes­ sen. Macht man sich klar, dass er Leser vor Augen hat, die großteils durch sei­ nen Text zum ersten Mal überhaupt mit den Worten der Heiligen Schrift in ihrer eigenen Sprache konfrontiert werden, erscheint die Redundanz seiner Ausführungen als katechetisches Mittel.161 Die „Alleinstellung“ seines über­ setzerischen und theologischen Schrifttums erklärt, warum Tyndale soviel Wert darauf legt, dass die zentralen theologischen Inhalte seiner Schrift auch tatsächlich bei den Lesern „ankommen“. Im Folgenden beleuchte ich jedoch nur die thematischen Aspekte, mit denen Tyndale sein Verständnis der Recht­ fertigung gegenüber Luther akzentuiert, d.h. sein Erwählungs- und Geset­ zesverständnis. An mehreren Stellen stellt Tyndale die guten Werke, die er mit Luther als „fruits of the faith“162 beschrieben hat, in den Kontext einer Erwählungsvor­ stellung, indem er „Glaubende“ und „Erwählte“ in eins setzt. Für diejenigen, die zum ewigen Leben erwählt sind und infolge dessen zum Glauben kom­ men, haben die Werke eine versichernde Funktion.163 Tyndales Aussagen zur Erwählung weisen eine gewisse Inkonsistenz auf, da sie zum einen exklusiv im Sinne einer doppelten Prädestination formu­ liert sind, zum anderen aber eine universale Weite anzeigen. Wenn Tyndale z.B. herausstellt: „God chose us, and elected us before the beginning of the 159 

Luther nennt als Vergleichstext für seine Auslegung die Adam-Christus-Typolo­ gie in Röm 5,14–21 (WA 10,3, S. 292,16–25, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522), vgl. Mammon, PS 1, S. 70. 160  Vgl. Mammon, PS 1, S. 71–89; vgl. Daniell, Biography, 166. 161  Vgl. Daniell, Biography, S. 160: „It is likely that in writing it Tyndale had in mind that for some readers these pages could have been a first encounter with New Testament words in English, and a first exposition of the New Testament doctrine of faith before works. Accumulation of New Testament reference and quotation has a confirming ef­ fect“. 162  Mammon, PS 1, S. 78.83.; a.a.O, S. 73, auch: „fruits of the Spirit“ und „fruits of righteousness“. 163  Vgl. z.B. a.a.O., S. 83: „at the day of judgement they shall testify for the elect unto their comfort and glory“; vgl. auch a.a.O., S. 80.85 f.89.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

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world“164, bezieht er „us“ exklusiv auf diejenigen, deren Erwählung durch das Werk des Heiligen Geistes im Herzen besiegelt wird und sich in äußeren guten Werken spiegelt.165 Ihnen stehen die „ungodly, unbelieving, and faithless sinners“166 gegenüber, die in Wahrheit Kinder des Teufels sind. Hier wird also nur eine begrenzte Zahl von Menschen als von Gott erwählt angesehen, alle übrigen sind als „Gefäße des Zorns“ (Röm 9,22) von Gott verdammt.167 Es finden sich jedoch auch Stellen, die einen eher universalistischen Zu­ gang beschreiben, etwa wenn Tyndale formuliert: „möge jeder Mensch, der bereut, glaubt, das Gesetz liebt und um die Kraft fleht, es zu erfüllen, sich freuen, mag er ein noch so schwacher Sünder sein“168.

Darüber hinaus stehen auch Aussagen Tyndales über die unendlichen Liebe Gottes in einer gewissen Spannung zur Rede vom zornigen Gott, der ver­ dammt: „Die Liebe, die Gott uns in Christus erweist, ist unendlich […] Und Gott hat verspro­ chen, dass, wer immer seinen Namen anruft, niemals verdammt oder beschämt wird“169.

Insgesamt dominieren die Aussagen zur überbordenden Liebe Gottes zu den Menschen („love and kindness of God to us-ward“170). Die Rede von Gottes Zorn dient darum wohl eher der Betonung der Unverfügbarkeit der gött­ lichen Gnade als der Begründung einer praedestinatio gemina.171 Tyndales er­ wählungstheologische Bezüge aber bleiben – auch mit Blick auf sein Gesamt­ werk – in der bezeichneten Spannung. Im Verständnis der Rolle des Gesetzes zeigen sich ähnliche Tendenzen wie bereits in den Vorreden von 1525/1526. Wie Luther versteht Tyndale auch das Gesetz als eine die menschliche Sünde verdammende Größe,172 über diese pä­ dagogische Funktion hinaus jedoch hebt er die positive Bedeutung des Geset­ zes für den gerechtfertigten Sünder hervor. Zwar bleibt ein Christenmensch 164  165  166  167 

A.a.O., S. 77. Vgl. a.a.O., S. 79.80.83. A.a.O., S. 83. Gegen Werrell, Theology, S. 55, der meint, Tyndale lehre an keiner Stelle eine doppelte Erwählung und dies so begründet: „Election is to life: it was men who had cho­ sen death“. 168  Mammon, PS 1, S. 86: „may every person that repenteth, believeth, loveth the law, and mourneth for strength to fulfil it, rejoice, be he never so weak a sinner“. 169  A.a.O., S. 95: „The love that God hath to Christ is infinite […] And God hath pro­ mised, that whosoever calleth on his name shall never be confounded or ashamed“. 170  A.a.O., S. 84. 171  Vgl. Trueman, Legacy, S. 86. 172  Vgl. Mammon, PS 1, S. 81: „by the law we might see and know our horrible damna­ tion and captivity under sin“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

„ever a sinner in the law“173, er vermag jedoch, erneuert durch den Geist, den Versuch zu unternehmen, das Gesetz zu erfüllen.174 Dabei sieht Tyndale – wiederum mit Luther – das Gesetz zusammengefasst im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe.175 Mit der hier geforderte Liebe reagiert der ge­ rechtfertigte Sünder ganz selbstverständlich auf die selbst erfahrene Gnade und Zuneigung Gottes. 3.2.9  Tyndales Verständnis der guten Werke 3.2.9.1  Fasten, Beten, Almosen Im dritten Teil des Traktats konkretisiert Tyndale die ethischen Konsequen­ zen aus dem reformatorischen Rechtfertigungsverständnis, indem er zu­ nächst die drei traditionellen frommen Werke, Fasten, Gebet und Almosen von den gewonnenen dogmatischen Erkenntnissen her neu begründet. Das Fasten ist nur recht verstanden als Übung, die den menschlichen Geist zur Begegnung mit Gott rüstet.176 Es hat, wie auch das Wachen als bewusster Verzicht auf Schlaf, eine rein kontemplative Funktion und darf darum nicht als Weg zur Erlangung von Gottes Gnade missverstanden werden.177 Auch das Gebet ist kein gutes Werk im meritorischen Sinne, sondern der fortdauernde Dialog zwischen dem Glaubenden und Gott, der durch die bereits erfahrene Gnade ermöglicht wird: „Glaube betet immer […] und verlangt nach Gott um seines Erbarmens und seiner Wahrheit willen und um der Liebe willen, die er für Christus empfindet, auf dass er alle seine Verheißungen erfüllen möge“178.

So verstanden kann und soll der Glaubende auch für andere beten, denn die Fürbitte für den Nächsten entspricht dem „Gesetz der Liebe, das aus dem Blut 173  A.a.O., S. 76; hier taucht zum einzigen Mal in „Mammon“ Luthers Vorstellung vor der Existenz des Christenmenschen als simul peccator et iustus auf. 174  Vgl. a.a.O., S. 79: „The law and thy heart are agreed and at one; and therefore God is at one with thee“; vgl. Bucer, Epheser-Kommentar (1527), de Kroon, S. 164: „non enim ad externa modo vult nos esse obligatos, ut tum patres obligavit, sed suam legem inscribit in corda, ut ipsum omnes cognoscamus et libera fide atque dilectione attemperemus ­omnia“. 175  Vgl. Mammon, PS 1, S. 86; zu Luther vgl. Lohse, Theologie, S. 293. 176  Vgl. Mammon, PS 1, S. 90: „the end of fasting is to tame the body, that the spirit may have a free course to God, and may quietly talk with God“. 177  Vgl. a.a.O., S. 90–92, vgl. besonders die Schilderung der Absurdität selbstauferleg­ ter Fastenregeln, S. 90 f: „Some abstain from butter, some from eggs, some from all man­ ner white meat, some this day, some that day, some in the honour of this saint, some of that, and every man for a sundry purpose: some for the tooth ache, some for the head ache“. 178  A.a.O., S. 93: „Faith ever prayeth […] and desireth God for his mercy and truth, and for the love he hath to Christ, that he will fulfil his promise“.

3.2  „The Parable of the Wicked Mammon“ (1528)

121

Christi in die Herzen all derer springt, die ihr Vertrauen in ihn setzen“179. Die erfahrene Liebe Gottes bildet für den Glaubenden jedoch nicht nur in der Fürbitte die Brücke zum Nächsten, sondern auch in der tätigen Liebe in Form der Almosen. Milde Gaben sind als Zeichen des Erbarmens Christi zu verstehen:180 Die tätige Nächstenliebe, die aus der Liebe Christi erwächst, soll sich, wie Tyndale pragmatisch hinzufügt, zunächst jedoch auf den eige­ nen Haushalt und erst in zweiter Linie auf die Bedürftigen in der Gemeinde beziehen. 3.2.9.2  Werke aus dem Glauben Über diese eigens hervorgehobenen guten Werke hinaus, sind für Tyndale alle im Glauben getanen Werke „gut“, denn: „Er [d.i.Gott] sieht darauf, mit welchem Herzen du handelst und nicht darauf, was du tust“181. Es ist daher nicht entscheidend, welchen Standes ein Glaubender ist, da allein seine innere Disposition zählt, wie Tyndales Vergleich einer Küchenmagd mit einem ­Apostel illustriert: „Wenn du nun Werk mit Werk vergleichst, gibt es wohl einen Unterschied zwischen dem Waschen des Geschirrs und dem Predigen des Wortes Gottes. Wenn es aber da­ rum geht, was Gott wohlgefällt, gibt es keinen. Denn nicht das eine oder das andere gefällt Gott [mehr oder weniger], sondern insofern Gott den Menschen erwählt hat, hat er seinen Geist in ihn gelegt und sein Herz gereinigt durch den Glauben und das Vertrauen in Christus“182.

Für die Glaubenden ist es unerlässlich, ihre eigene Motivation, Gutes zu tun, stets zu überprüfen und sich zu fragen, ob sie tatsächlich allein dem göttlichen Willen folgen. Zu leicht verfallen sie sonst in ein Handeln aus eigenem An­ trieb und Selbstrechtfertigung.183 Die aus eigener Motivation heraus gesche­ henen guten Werke widersprechen aber dem Willen Gottes, den Tyndale an dieser Stelle erstmals beschreibt als:

179  A.a.O., S. 94: „law of love, which springeth out of Christ’s blood into the hearts of all them that have their trust in him“. 180  Vgl. a.a.O., S. 98: „Every Christian man to another is Christ himself […] and look, what thou owest to Christ, that thou owest to thy neighbour’s need“. 181  A.a.O., S. 100: „he looketh with what heart thou workest, and not what thou ­workest“. 182  A.a.O., S. 102: „Now if thou compare deed to deed, there is a difference betwixt washing of dishes, and preaching of the word of God; but as touching to please God, none at all: for neither that nor this pleaseth God, but as far as God hath chosen a man, hath put his Spirit in him, and purified his heart by faith and trust in Christ“. 183  Vgl. a.a.O., S. 105: „Beware of thy good intent, good mind, good affection, or zeal“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

„Ein Testament zwischen ihm und uns, in dem beides enthalten ist: Was er uns zu tun aufträgt und was wir von ihm erbitten sollen“184.

Der Bund wird als Beschreibung der Gott-Mensch-Relation im Laufe der kommenden Jahre einen immer größeren Stellenwert einnehmen.185 In „Mammon“ bleibt die Erwähnung allerdings singulär und dient vor allem der Verstärkung des schon Gesagten.186 Tyndale verbildlicht die als „testa­ ment“ beschriebene Beziehung abschließend mit der Metapher von Vater (bzw. Mutter) und Sohn: Wie ein Vater seinen Sohn grundlos liebt, so erwi­ dert der Sohn diese Liebe ganz selbstverständlich.187 Wer aus dieser Motiva­ tion heraus gute Werke tut, dem können sie als Unterpfand der Liebe Gottes und der eigenen Erwählung dienen.188 3.2.9.3  Torheit der Welt – Weisheit der Schrift Zum Abschluss des Traktats kontrastiert Tyndale die aus der Schrift gewon­ nenen Einsichten mit der vermeintlichen Weisheit weltlicher Philosophie und schließt so den Kreis zurück zum Alleingültigkeitsanspruch schriftgebunde­ ner Erkenntnis, mit dem der Traktat beginnt.189 Mit Freude an der Bloßstel­ lung scholastischer Axiome und Denkfiguren polemisiert er gegen die Arro­ ganz derer, die auf Sokrates, Plato und Aristoteles vertrauen, anstatt die Tor­ heit der Welt (1 Kor 1,18–31) zu erkennen. Allein aus der Kraft des Geistes Gottes kann wahre Erkenntnis wachsen, die darum auch nicht auf die gelehr­ ten Theologen beschränkt bleibt, sondern jedem Glaubenden zugänglich ist.190 In all ihrer Differenziertheit verkennt die Philosophie die schlichte 184  Ebd.: „a testament between him and us, wherein is contained both what he would have us to do, and what he would have us to ask of him“. 185  S.u. 6.2–6.4 , vgl. Trueman, Legacy, S. 109–119. 186  Gegen Møller, S. 51, der – wie Dick, Mammon, S. lxviiif, nachweist – unter fal­ scher Zuhilfenahme einer erst später hinzugefügten Marginalie, bereits in „Mammon“ das spätere „covenant“-Konzept Tyndales erkennen will. 187  Vgl. Mammon, PS 1, S. 107: „The scripture speaketh as a father doth to his young son, Do this or that, and then will I love thee: yet the father loveth his son first […] A kind father and a mother love their children even when they are evil […] And a natural child studieth not to obtain his father’s love with works; but considereth with what love his ­father loveth him withal, and therefore loveth again, is glad to do his father’s will, and ­studieth to be thankful“. 188  Auch das Sich-Einfügen in die gottgegebene Ordnung menschlichen Zusammen­ lebens kann ein solches gutes Werk sein, wie Tyndale anhand von Eph 6 und Kol 3 gewis­ sermaßen im Vorgriff auf „Obedience“ ausführt, vgl. a.a.O., S. 116 f (s.u. 3.3.5). 189  S.o. 3.2.4. 190  Vgl. a.a.O., S. 107 f: „when the scripture saith, Christ shall reward every man at the resurrection, or uprising again, according to his deeds, the scripture of Aristotle’s Ethics would say, Lo, with the multitude of good works mayest thou, and must thou, obtain everlasting life; and also a place in heaven high or low, according as thou hast many or few good works“ (a.a.O., S. 108).

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

123

Wahrheit: „what a good work meaneth, as Christ speaketh of good works“191. Der Glaubende, der von Gottes Geist erfüllt ist,192 versteht dagegen die Lo­ gik der Liebe Gottes und ihrer Erwiderung in den guten Werken ohne Mü­ hen. So wird auch am Schluss noch einmal deutlich, dass Tyndale seinen Le­ sern das Rechtfertigungsgeschehen als umfassenden Erneuerungsprozess er­ klären will, der notwendig Früchte trägt.193

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528) 3.3.1  Zu Charakter und Aufbau der Schrift „The Obedience of a Christian Man and how Christian rulers ought to govern, wherein also (if thou mark diligently) thou shalt find eyes to perceive the crafty conveyance of all jugglers“194, so der vollständige Titel der Schrift, ist von vielen Tyndales Hauptwerk genannt worden.195 Daniell bezeichnet die Schrift sogar als „the first, and most important, book in the earliest phase of the English Reformation“196. Doch ist „Obedience“ weder die erste Pub­ likation, mit der Tyndale an die englischsprachige Öffentlichkeit tritt, noch lässt sie sich isoliert betrachten. Insbesondere ihr Bezug zu „Mammon“ und damit zur rechtfertigungstheologischen Grundlegung von Tyndales Theolo­ gie ist zu beachten.197 191  192  193 

Ebd. Vgl. ebd.: „he that hath God’s Spirit“. Vgl. Mammon, PS 1, S. 126: „Faith justifieth us not, that is to say, marrieth us not to God, that we should continue unfruitful as before, but that he should put the seed of his holy Spirit in us […] and make us fruitful“. Der Schlusspassus (a.a.O., 119–125) lässt sich auch begreifen als Versuch, die paulinische Theologie mit der des Jakobusbriefes zu ver­ söhnen (vgl. dazu WA 10,3, S. 288,3–6, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522, und auch den Abschnitt bei Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 92 f: „Welchs die rechten gůten werck seyen, bey denen zů erkennen ist, was ein yeder für ein glauben hab“; dazu auch Stephens, Bucer, S. 65 f). 194  „Der Gehorsam eines Christenmenschen und wie christliche Herrscher regieren sollten. Worin du (wenn du unablässig aufpasst) auch ein Augenmerk gewinnen wirst für die gewieften Besitzübertragungen der Gaukler/Jongleure [gemeint sind die papstkirch­ lichen Kleriker]“; Belege aus „Obedience“ werden im Folgenden nach der Ausgabe der Parker Society (Obedience, PS 1) und nach der von Daniell besorgten Ausgabe der Reihe Penguin Classis (PC) wiedergegeben; die Zitate stammen aus dieser Ausgabe; hier ist auch das Titelblatt des Originals abgedruckt, vgl. Obedience, PC, S. XXXV. 195  Vgl. Daniell, Biography, S. 223: „Tyndale’s most important book outside his trans­ lations“; Rex, English Reformation, S. 17: „seminal work“; Ohst, Tyndale, S. 145: „ein­ drucksvollste Zusammenfassung von Tyndale’s [sic!] reformatorischem Christentums­ verständnis“. 196  Obedience, PC, S. viii. 197  Vgl. Obedience, PS 1, S. 296 (PC, S. 149); vgl. Duerden, Justification, S. 71 ff.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Dieser theologische Anknüpfungspunkt wird auch im Titel der Schrift deutlich, der sich klar an Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“198 orientiert. Möglicherweise versteht Tyndale seine Schrift, „Vom Gehorsam eines Christenmenschen“, als Ergänzung zu Luthers Freiheitsschrift, deren rechtfertigungstheologische Grundaussagen er in „Mammon“ rezipiert hat­ te.199 Hatte Tyndale hier gewissermaßen die inneren Grundpfeiler des refor­ matorischen Verständnisses des Christentums fest verankert, so nimmt er sich in „Obedience“ auf zweierlei Weise dessen äußerer Wahrnehmung an. Er wehrt sich einerseits gegen den nach der Niederschlagung der Bauernauf­ stände 1525 an die Reformation gerichteten Vorwurf, Luthers Lehre löse Un­ ruhe und Aufruhr aus. Man kann „Obedience“ darum insbesondere im ersten Hauptteil mit Martin Ohst begreifen als „groß angelegte Apologie, die bewei­ sen will, daß gerade das reformatorische Christentumsverständnis entgegen den Verleumdungen seiner Gegner die im König gipfelnde gesellschaftliche Ordnung stabilisiert“200. Als wahren Unordnungsfaktor will Tyndale – wie die langen polemischen Passagen, insbesondere die Auseinandersetzung mit Bi­ schof John Fisher,201 zeigen – die Papstkirche entlarven, deren Vertreter wohl auch mit den im Titel genannten „jugglers“ (wörtl. „Jongleure“) gemeint sind, deren Umtriebe die Leser erkennen sollen. Neben dieser apologetischen verfolgt Tyndale eine zweite Intention. Er will dem papstkirchlichen Modell des christlichen Gemeinwesens eine bes­ sere reformatorische Gesellschaftsvision entgegenstellen und seine Leser­ schaft nicht nur von der politischen Unbedenklichkeit der Reformation über­ zeugen, sondern sie auch überhaupt erst mit wesentlichen Elementen des christlichen Lebens nach reformatorischer Auffassung bekannt machen. Die apologetische Tendenz der Schrift verbindet sich also, besonders im zweiten Teil, mit einem katechetischen Anliegen.202

198  199  200 

WA 7, S. 20–38. S.o. 3.2.5 und 3.2.6; vgl. Rupp, Making of, 77; Thompson, Regiments, S. 23. Ohst, Tyndale, S. 145. Vgl. Stafford, S. 111: „Writing after the Peasants’ War, wanting to stigmatize the evangelical movement’s unforeseen outcome in social antino­ mianism […] Tyndale placed great weight on the believer’s love of God’s law as the chief mark of true faith“. 201  Vgl. Obedience, PS 1, S. 208–224 (PC, S. 69–82); s.u. 3.3.5.3. 202  Vgl. a.a.O., S. 252–331 (PC, S. 108–180). Greenblatt, S. 85 ff, erkennt in „Obe­ dience“ u.a. zeitgenössischen Schriften eine völlig neue Form religiösen Schrifttums, die in bisher nicht dagewesener direkter Weise die Existenz des Menschen berührt und ihre künstlerisch höchste Form in Shakespeares großen Monologen findet: „The words on the page in The Obedience of a Christian Man are aspects of the inner life, awkward and elo­ quent, half-formed, coming into existence. These words are not carried out into the light but are destined for the opposite process: they will be studied, absorbed, internalized, co­ lored by a thousand personal histories“ (a.a.O., S. 86).

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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Über die Darstellung und Verbreitung der reformatorischen Vorstellung vom christlichen Leben in seinen sozialen Bezügen hinaus findet sich in „Obedience“ schließlich noch ein weiteres (heimliches) Thema, nämlich die Präsentation der Schrift selbst als der alleinigen Quelle christlichen Denkens und Lebens. Auf nahezu jeder Seite des Traktats führt Tyndale Schriftzitate und -paraphrasen an, um seine Ausführungen zu stützen. Oft finden sich auch Nacherzählungen biblischer Geschichten, die seinen Gedankengang illustrie­ ren. Wie Daniell richtig bemerkt: „The steady beat of Scripture sounds throughout Tyndale’s book“203. Die Leserschaft, der mit großer Wahrschein­ lichkeit keine von Tyndales Bibelübersetzungen zur Verfügung stand, soll auf diese Weise aus erster Hand mit den Aussagen der Schrift vertraut gemacht werden, um selbst Tyndales reformatorische Auslegung als schriftgemäß zu erkennen.204 „Obedience“ wird eingeleitet von zwei Vorworten, in denen Tyndale sich direkt an seine Leserschaft wendet. Der ausführlichere erste Prolog ist über­ schrieben mit „William Tyndale otherwise called Hychins unto the reader“205 und nimmt die Situation der verfolgten Evangelischen in England zum An­ lass, Trost zuzusprechen und die Notwendigkeit einer englischsprachigen Bi­ bel erneut herauszustellen. Der kürzere „Prologue to the book“206 erläutert Anlass und Intention der Schrift, nämlich den Vorwurf an die Reformation, Unordnung zu stiften. Den eigentlichen Traktat hat Tyndale selbst mit Zwischenüberschriften versehen, die seine Strukturierung erleichtern. Allerdings lassen diese Ein­ schnitte verschiedene sinnvolle Einteilungen zu, so dass die hier vorgenom­ mene nicht als die einzig mögliche gelten kann. Ans Ende stellt Tyndale eine Zusammenfassung, in der er an den einzelnen Kapiteln des Buches entlang­ geht, ohne dabei jedoch neue Aspekte einzubringen.207 Der Aufbau von „Obedience“ lässt sich also folgendermaßen darstellen:208 203  204 

Daniell, Biography, S. 226. Eine Untersuchung der Argumentationsweise Tyndales unter dem Blickwinkel ei­ ner semiotischen Betrachtungsweise hat DeCoursey vorgelegt; vgl. DeCoursey, Se­ miotics, besonders S. 80–83. 205  Vgl. Obedience, PS 1, S. 131–162 (PC, S. 3–25). 206  Vgl. a.a.O., S. 163–167 (PC, S. 26–30). 207  Vgl. a.a.O., S. 331–344 (PC, S. 180–191): „A compendious rehearsal of that which goeth before“. 208  Ich habe mich an Tyndales Strukturierung orientiert und gehe von zwei Haupttei­ len aus, die sich beide jeweils in zwei Unterteile gliedern, innerhalb derer sich wiederum verschiedene Schritte unterscheiden lassen. Eine solche Zweiteilung der Schrift findet sich auch bei Thompson, Regiments, S. 23. Eine ähnliche (wenn auch z.T. an den theologischen Kernpunkten vorbeigehende) Aufteilung bietet Daniell, Biography, S. 227–231.387–390 (Appendix B). Rex, Obedience, S. 865, kommt zu einer Dreiteilung, weil er stärker von den inhaltlichen Topoi her denkt, als von Tyndales eigener Einteilung; er stellt eine „crisp presentation of Lutheran obedience doctrine“, die „polemic against the sermon delivered

126

Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Vorwort an die Leser Prolog A. Über die Pflicht zum Gehorsam I. Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten (Kinder – Eltern, Frau – Mann, Knecht – Herr, Untertan – Herrscher) Exkurs: Gegen den päpstlichen Machtanspruch II. Die Pflicht der Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot (Vater – Familie, Mann – Frau, Herr – Knecht, Landeigentümer – Lehnsmann, ­Herrscher – Untertanen) Exkurs: Vom Antichrist B. Von falscher und wahrer Frömmigkeit I. Die Missdeutung der Sakramente durch den Antichristen und ihre wahre Bedeutung (Sakramente, Abendmahl, Taufe, Ehe, Gelübde, Buße, Firmung, Letzte Ölung, Wunder- und Heiligenverehrung) II. Elemente wahrer evangelischer Frömmigkeit (Gebet, Schrift) Zusammenfassung

3.3.2  Das Vorwort: „William Tyndale otherwise called Hychins unto the reader“ Tyndales erstes Vorwort beginnt mit einer an Paulus angelehnten Gruß­ formel,209 was zum einen seine große Affinität zu diesem Apostel dokumen­ tiert, zum anderen sein Selbstverständnis betont, in dessen Tradition zu ste­ hen: Tyndale widmet den ersten Teil des Vorworts ganz der Ermutigung der Leser angesichts der Verfolgungssituation210 und verweist dazu auf die zen­ tralen Inhalte paulinischer Theologie, namentlich auf das für die Glaubenden heilvolle Handeln Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Als ihren größten Trost sollen die Leser die Schrift selbst erkennen, denn in Gottes Wort besitzen sie ein trostreiches Unterpfand („an evident token“211) für seinen Beistand. Die Berufung allein auf die Schrift aber bedeutete auch stets, wie Tyndale seine Leser zugleich erinnert, Verfolgung durch die Welt. Nur eine Lehre, die sich mit der Welt gemein macht, wie die des Papsttums, kann der Verfolgung entgehen. Insofern dürfen die Verfolgten ihr Schicksal als Ausdruck ihrer Erwählung verstehen. Als solche dürfen sie auch darauf vertrauen, dass Gott selbst sein Wort auf wunderbare Weise gegen seine by John Fisher“ und ein „statement of the main lines of Lutheran doctrine“ heraus. Jedoch konstatiert auch er, „Obedience“ sei äußerlich: „divided into two parts“. Ich verzichte auf die Angabe von Seitenzahlen, da sich die Einteilung an den – in allen Ausgaben wiederge­ gebenen – Überschriften Tyndales orientiert. 209  Vgl. Obedience, PS 1, S. 131 (PC, S. 3): „Grace, peace and increase of knowledge in our Lord Jesus Christ be with the reader and with all that call on the name of the Lord un­ feignedly and with a pure conscience, Amen“. 210  Vgl. Mozley, S. 134 f. 211  Obedience, PS 1, S. 131 (PC, S. 3).

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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Feinde, gegen die „Torheit der Welt“ (1 Kor 1 f), verteidigt.212 In einer Reihe mit den unschuldig Verfolgten in der Schrift, vom Volk Israel in Ägypten bis zu Christus selbst, dürfen die Evangelischen in England darum darauf hoffen, das Gott auch sie am Ende zum Triumph über ihre Feinde führen wird.213 Vor diesem Hintergrund versucht Tyndale, die aktuelle Krisenerfahrun­ gen theologisch als gottgegebene Prüfung des Glaubens zu deuten.214 Gott handelt im Paradoxen, indem er diejenigen, die er retten will, verfolgt. Auch dies ist in der Schrift vorgezeichnet.215 Doch selbst in Momenten scheinbarer Gottesferne ist Gott als liebender Vater präsent, wie Tyndale mit dem Hin­ weis auf das Kreuzesgeschehen deutlich macht:  

„Wer außer ihm lieferte seinen eigenen, seinen einzigen, seinen geliebten Sohn dem Tod aus um seines Feindes willen, um seinen Feind zu gewinnen, um ihn zu überwin­ den mit Liebe, so dass er die Liebe erkennen, selbst aufs Neue lieben und anderen Men­ schen auf die gleiche Weise lieben kann, um auch sie zu überwinden mit gutem Tun“216.

Die Anfechtungen sind somit die wahre Taufe auf Christi Tod „a gift that God giveth unto none save his special friends“217. Aus diesem Bewusstsein der eigenen Erwählung heraus erhalten Gottes Kinder die Kraft, das Leiden in der Welt zu ertragen (Hebr 12) und den Weg ihres Glaubens weiterzuge­ hen, in der Hoffnung auf den verheißenen himmlischen Lohn.218 212  Vgl. a.a.O., S. 133 (PC, S. 4): „Another comfort hast thou, that as the weak powers of the world defend the doctrine of the world so the mighty power of God defendeth the doctrine of God“. 213  Vgl. a.a.O., S. 134 f (PC, S. 5 f), vgl. auch a.a.O., S. 140 f (PC, S. 12): „even so hath God all tyrants in his hand and letteth them not do whatsoever they would, but as much only as he appointeth them to do and as farforth it is necessary for us“. 214  Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Bucer, vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 95,2–5: „was eüch für anfechtung gott zůsenden würt, eüwer creütz werdt ir mannlich uff eüch nehmen, tragen und dem herren nachfolgen, yn lassen in eüch wür­ cken, ym still halten, sprechen herr, dein will gescheh [Mt 6,10]“. 215  Tyndale nennt Josef, Israel in der Wüste und David als Beispiele vgl. Obedience, PS 1, S. 136 (PC, S. 5). 216  A.a.O., S. 136 (PC, S. 7): „Whoever save he delivered his own Son, his only Son, his dear son unto the death and that for his enemy’s sake, to win his enemy, to overcome him with love, that he might see love and love again and of love to do likewise to other men, and to overcome them with well doing“. 217  A.a.O., S. 138 (PC, S. 9). Vgl. den Abschnitt bei Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 95 f, der überschrieben ist mit: „Wir sollen uns in truebsalen gůt duncken. dann durch die werden wir des Adams ußzogen und lernen an gott selb und nit an seinen goben han­ gen“. 218  Vgl. Obedience, PS 1, S. 141 f (PC, S. 12 f); vgl. Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524); BDS 2, S. 120,5–8, spricht im Umkehrschluss mit ähnlicher Kindschafts-Meta­ phorik von den Nicht-Erwählten: „So künnen ynen auch nit alle ding zům besten rey­ chen, dann sye haben auch Gott nit, darumb haben sye auch den kindtlichen geist nit emp­ fangen und seind deßhalb mitnichten im geist durch Christum getaeuffet“; dazu auch Stephens, Bucer, S. 24.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Der zweite Teil des Vorworts nimmt die Vorstellung der Schrift als Zen­ trum der Gemeinde Gottes auf und leitet daraus eine Forderung nach der Notwendigkeit einer Bibel in englischer Sprache ab.219 Dass die Bibel Alten und Neuen Testaments den Menschen in ihrer eigenen Alltagssprache zur Verfügung stehen muss, ergibt sich für Tyndale zunächst aus der schlichten Tatsache, dass die biblischen Schriften selbst den Menschen von Gott in ihrer Muttersprache gegeben worden sind.220 Dies korrespondiert mit der ganz praktischen Erkenntnis, dass sich Gebote nur befolgen lassen, wenn sie gele­ sen und verstanden werden.221 Die Bestreitung der allgemeinen Verständ­ lichkeit der biblischen Botschaft durch die Papstkirche und ihr Versuch, den Laien die Schrift vorzuenthalten,222 deutet Tyndale im Kontext neutesta­ mentlicher Endzeitaussagen und identifiziert die Kleriker, die anderen das Studium der Schrift verbieten, mit den falschen Propheten (Mt 7,15 ff; 24,11; 1 Joh 4,1) bzw. dem Antichrist (1 Joh 2,18 ff; 2 Joh 7).223 Ihre antichristliche Gesinnung beweisen auch die Argumente, die Tyndale als falsch entlarvt: Die Behauptung, eine Bibel in der Sprache des Volkes führe zu willkürlich disparater Schriftauslegung,224 ist für Tyndale nichts weiter als ein Versuch der Geistlichkeit, die eigene Vorrangstellung zu behaupten.225  



219  Vgl. Obedience, PS 1, S. 144 (PC, S. 15; hier auch Anm. 104): „That thou mayest perceive how that the scripture ought to be in the mother tongue and that the reasons which our spirits make for the contrary are but sophistry and false wiles to fear thee from the light, that thou mightest follow them blindfold and be their captive, to honour their ceremonies and to offer to their belly“. 220  Vgl. a.a.O., S. 144 (PC, S. 15). 221  Vgl. a.a.O., S. 145 (PC, S. 16): „How can we whet God’s word (that is put it in practice, use and exercise) upon our children and household, when we are violently kept from it and know it not?“. 222  Vgl. a.a.O., S. 146 (PC, S. 16): „They will say haply, the scripture requireth a pure and quiet mind. And therefore the lay man because he is altogether cumbered with wordly business, cannot understand them. If that is the cause, then it is a plain case, that our pre­ lates understand not the scriptures themselves. For no lay man is so tangled with worldly business as they are“. 223  Vgl. a.a.O., S. 147 (PC, S. 17): „that against-Christ or Antichrist that shall come is nothing but such false prophets that shall juggle [vgl. die „jugglers“ im Titel der Schrift, Anm.] with the scripture an beguile the people with false interpretations“; vgl. den Passus bei Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 53,24–54,36, der die „genanten geistlichen pre­ laten“ (S. 53,26) – freilich nur rhetorisch – dazu ermahnt, „das sye doch on gesůch eygens schandtlichs gewynns und eyteler eeren das Evan­ge­lium treülich ynen mitheylten“ (S. 54,1 ff). In Wahrheit sieht Bucer die Geistlichen jedoch geprägt von einem „gantz ver­ dampten antichristischen wesen“ (S. 54,15). 224  Obedience, PS 1, S. 146 (PC, S. 16): „If the scipture were in the mother tongue they will say, then would the lay people understand it every man after his own ways“; Tyndale ergänzt, dass auch die Lehre der Papstkirche selbst nicht einheitlich ist, vgl. a.a.O., S. 149 (PC, S. 19): „When two of you meet, the one disputeth and brawleth with the other, as it were scolds. And forasmuch as one holdeth this doctor and another that“. 225  Vgl. a.a.O., S. 146 (PC, S. 17): „the curates themselves (for the most part) wot no more what the New or Old Testament meaneth, than do the Turks“.

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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Das Argument, die Schrift ließe sich nicht in die „raue“ („rude“) englische Sprache übertragen, kontert er mit der Frage, ob denn nicht auch die Predig­ ten der Apostel in der Muttersprache der Menschen gehalten worden seien.226 Zudem stehe das Englische dem Griechischen und Hebräischen sprachlich viel näher als das Lateinische, folglich entspräche eine englische Übersetzung den Originalversionen wesentlich mehr als die Vulgata.227 Der Behauptung schließlich, das Studium der Bibel setze (theologische) Bildung voraus,228 hält Tyndale entgegen, dass die Schrift der Bewertungsmaßstab für die Theologie sein müsse und nicht umgekehrt die Theologie eine Zugangsvoraussetzung für das Studium der Schrift. 3.3.3  Der Prolog: „The Prologue unto the book“ Nachdem er auf diese Weise Trost und Orientierung vermittelt hat, geht Tyn­ dale in einer zweiten Vorrede auf seine Beweggründe ein, das Thema des Ge­ horsams ins Zentrum seines Traktats zu stellen. Seine Begründung nimmt den von papstkirchlicher Seite in Richtung Reformation gemachten Vor­ wurf der Unruhestiftung auf und adressiert ihn gleichsam um: Die wahren Verführer zu Unordnung und Aufruhr sind die Vertreter des papstkirchli­ chen Klerus. Sie machen sich der Unterdrückung des Wortes Gottes und der Verfolgung seiner Prediger schuldig und tragen darum auch die Schuld an den Strafen, mit denen Gott auf diese Missachtung seines Wortes reagiert.229 Dagegen soll sein Traktat umfassend über die Pflicht zum Gehorsam gegen­ über der von Gott eingesetzten Obrigkeit aufklären.230 In einem schematisierenden historischen Rückblick zeigt Tyndale seinen Lesern auf, wie aus der Verfolgung des Wortes Gottes und seiner Prediger immer wieder Ungehorsam und Unordnung als göttliche Strafen erwuchsen und wie diese stets fälschlich den Anhängern von Gottes Wort zur Last gelegt wurden.231 Die Gemeinde Christi, die in diesen Anfechtungen zu bestehen 226  227 

Vgl. a.a.O., S. 148 f (PC, S. 19). Tyndale verweist in diesem Zusammenhang (a.a.O., S. 149; PC, S. 19) darauf, dass schon zur Zeit König Athelstans (ca. 895–939) englische Übersetzungen angefertigt wor­ den sind; dieser Hinweis ist historisch nicht eindeutig, da es sich bei dem fraglichen Herr­ scher wahrscheinlich um Athelstans Großvater, König Alfred (ca. 849–899), gehandelt haben dürfte (vgl. Mozley, S. 8 f; Daniell, Biography, S. 12 f); dennoch ist dieser Hin­ weis Tyndales immer wieder zum Anlass genommen worden, seine Verbindung zum Lol­ lardentum zu begründen, dazu s.u. 3.4.3.3. 228  Vgl. Obedience, PS 1, S. 153 ff (PC, S. 20 ff). 229  Vgl. a.a.O., S. 164 (PC, S. 27): „After the preaching of God’s word, because it is not truly received, God sendeth great trouble into the world“. 230  Vgl. a.a.O., S. 163 (PC, S. 26): „Therefore have I made this little treatise that ­followeth containing all obedience that is of God“. 231  Tyndales Beispiel sind Jeremia, Jesus sowie Cyprian und Augustinus. Dabei lässt sich ein hohes Maß der Identifizierung Tyndales mit den Genannten erkennen, denn er stellt sich indirekt selbst in diese illustre Traditionsreihe, vgl. a.a.O., S. 164 (PC, S. 27): „so

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

hat, steht – so Tyndales Geschichtsdeutung – stets einer massa perditionis ge­ genüber, die nur den eigenen Vorteil im Sinn hat.232 Die Ursache von Unge­ horsam und Unordnung liegt in der grundlegend negativen Disposition der sündigen Menschen. Sobald nämlich diejenigen, die nur das eigene Wohler­ gehen im Sinn haben, bemerken, dass die Obrigkeit ihren Pflichten nicht nachkommt und sie unterdrückt, verweigern sie ihr den Gehorsam und be­ ginnen, sich gegen die schlechte Obrigkeit aufzulehnen. Ein Übel bekämpft so das andere Übel und nur die „kleine Herde“ der Erwählten („little flock“233) ist sich bewusst, dass beides – die Unterdrückung durch die schlechte Obrig­ keit ebenso wie der Widerstand gegen sie – nicht mit der Predigt Christi von Gehorsam und Feindesliebe vereinbar ist. Die Neigung der Mehrheit, Christi Weisung zu missachten, aber kommt aus der Lehre der Papstkirche: „This seest thou, that it is the bloody doctrine of the Pope which causeth disobe­ dience, rebellion and insurrection“234. Demgegenüber sieht Tyndale es nun als seine Aufgabe an, das biblische Verständnis des Gehorsams innerhalb der von Gott gewollten Ordnung zu entfalten. Der Leser möge, so Tyndales Schlussappell, das Dargelegte anhand der Schrift selbst überprüfen und gegen die „blutige Lehre“ der Papstkirche abwägen.235 3.3.4  Über die Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten Tyndale entfaltet die Pflicht zum Gehorsam mit Blick auf alle Stände der christlichen Sozialordnung, von den familiären bis hin zu den gesellschaft­ lichen Systemen seiner Zeit („obedience of all degrees“236). Seine Ausführun­ gen nehmen dabei nicht zufällig ihren Ausgang beim Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern, denn die Auslegung des vierten Gebots des Dekalogs zur Be­ gründung der Gehorsamspflicht im christlichen Gemeinwesen insgesamt he­ ranzuziehen, hat Tradition. Schon in der Scholastik wurde das Gebot der El­ ternehrung in dieser Form interpretiert, mit der besonderen Spitze der Ge­ horsamspflicht gegenüber den „geistlichen Eltern“, sprich dem Klerus.237 Tyndale nimmt in „Obedience“ jedoch wohl nicht so sehr auf die mittelalter­ that thou mayest see, how that it is no new thing, but an old and accustomed thing with the hypocrites to wite God’s word and the true preachers of all the mischief which their lying doctrine is the very cause of“. 232  Vgl. a.a.O., S. 165 (PC, S. 28): „Even so now (as ever) the most part seek liberty“. 233  A.a.O., S. 165 (PC, S. 27) (Lk 12, 32). 234  A.a.O., S. 166 (PC, S. 29). 235  Vgl. a.a.O., S. 167 (PC, S. 30): „Prepare thy mind therefore unto this little treatise and read it discreetly and judge it indifferently“. 236  A.a.O., S. 168 (PC, S. 31). 237  Eine prägnante Übersicht über die mittelalterliche Auslegungsgeschichte bis zum Humanismus bietet Rex, Obedience, S. 867–871.

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3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

liche Tradition, sondern vielmehr auf Luther Bezug. Eindeutige textliche Anleihen lassen sich – anders als in „Mammon“ und den Bibelvorreden von 1525/1526 – nicht feststellen, der Traktat weist aber an vielen Stellen Paralle­ len zu Luthers Auslegung des ersten Gebots der zweiten Tafel in „Von den guten Werken“ (1520) auf.238 Daneben hat Tyndale wohl auch Luthers Ob­ rigkeitsschrift von 1523 und möglicherweise auch die Schrift „Ob Kriegs­ leute auch in seligem Stande sein können“ (1526) gekannt, wie insbesondere seine Ausführungen zum Verhältnis von Untertanen und Herrscher zei­ gen.239 An einigen Stellen wird deutlich, dass auch „De servo arbitrio“ (1525) zu Tyndales Luther-Lektüre gehört haben dürfte.240 An Luther angelehnt ist das Begründungsschema, das Tyndale für seine Darstellung der Pflicht zum Gehorsam aller Stände anwendet: Die allgemeine Pflicht zum Gehorsam findet ihren Grund in der göttlichen Setzung der Ob­ rigkeiten. Sie repräsentieren in gewisser Weise Gott selbst, wie Tyndale an­ hand der Verhältnisbestimmungen Ehefrau – Ehemann, Knecht – Herr, Un­ tertan – Herrscher jeweils ausführt.241 Tyndales Denkmodell ist das der Ana­ logie, das er aus den neutestamentlichen Haustafeln (Kol 3,18 ff, Eph 5,21 ff; 1Petr 3,1 ff) übernimmt: So wie Gott bzw. Christus sich den Glaubenden ge­ genüber verhält, so verhalten sich auch Eltern zu Kindern, Ehemänner zu Ehefrauen etc. Wie in der Überschrift des ersten Hauptteils vorausgeschickt, erhebt Tyn­ dale den Anspruch, seine Aussagen seien „proved by God’s word“242. Er führt daher stets (sowohl zentrale, als auch eher abseitige) Schriftbelege für seine Position an.243 Seiner eigenen Argumentation mit der Schrift stellt Tyndale die Lehre und Praxis der Papstkirche entgegen, die sich für ihn eben durch ihren Widerspruch zu Gottes Gebot als antichristlich erweist.  





238 

Vgl. WA 6, S. 250,22 ff (Von den guten Werken, 1520): „Aufz dissem gebot leren wir, das nach den hohen wercken der ersten drey gebot kein besser werck seinn, dan gehorsam und dienst aller der, die uns zur tzur ubirkeit gesetzt sein“. 239  S.u. 3.3.5.2. 240  S.u. 3.3.7.2. 241  S.u. 3.3.5.1; 3.3.5.2; vgl. WA 7, S. 213,5–9 (Eine kurze Form der zehn Gebote, 1520): „Des Vierden. Williger gehorsam, demuetickeit, untertenickeit aller gewalt umb gottis wolgefallen willen […] Da gehort her alles, was von gehorsam, demut, untertenickeit, ehrbietung geschrieben ist“. 242  Obedience, PS 1, S. 168 (PC, S. 31); weit häufiger als Luther dies in seiner Auslegung des vierten Gebots in „Von den guten Werken“ tut, zitiert Tyndale einschlägige Schrift­ stellen. 243  Auch Luthers Auslegung des vierten Gebotes in „Von den guten Werken“ nimmt teilweise auf eher abseitigen Stellen wie Jes 57,5; Jer 7,31 f.35 und 2 Kö 21,6 Bezug (vgl. WA 6, S. 252).

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

3.3.4.1  Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten: Die Familie Die erste Verhältnisbestimmung, die Tyndale vornimmt, betrifft die (erwei­ terte) Familie als Keimzelle und grundlegende Einheit der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts, auf der alle anderen Über- und Unterordnungsverhältnisse aufbauen.244 Bevor Tyndale das Gebot der Elternliebe im Dekalog (Ex 20,12; Dtn 5,16) als seinen maßgeblichen biblischen Referenztext nennt, schickt er ein schöp­ fungstheologisches Argument voraus, um die Autorität der Eltern über ihre Kinder zu begründen:245 Gott ist als Schöpfer in jedem Leben präsent, indem er Mann und Frau zur geschlechtlichen Vereinigung führt und aus ihr Leben entstehen lässt.246 Mit diesem individuellen Schöpfungsakt eines jeden Men­ schen unterstellt Gott ihn zugleich der Autorität seiner Eltern. Seine ver­ dankte Existenz verpflichtet das Kind dem Schöpfer und – davon abgeleitet – Mutter und Vater als seinen individuellen „Schöpfern“. Die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern ist Abbild der Beziehung zu Gott.247 Alles, was ein Kind den Eltern gegenüber tut oder unterlässt, bestimmt auch das Gottesver­ hältnis.248 Auch bei seiner Verhältnisbestimmung von Mann und Frau in der Ehe geht Tyndale von den alttestamentlichen Grundlegungen aus und findet sie im Neuen Testament bestätigt: Nach Gottes Gebot soll die Frau dem Ehemann 244  245  246 

Vgl. WA 6, S. 250–265 (Von den guten Werken, 1520). Vgl. Obedience, PS 1, S. 168 ff (PC, S. 31 ff). Vgl. a.a.O., S. 168 (PC, S. 31): „He was present with thee in thy mother’s womb and fashioned thee and breathed life into thee, and for the great love he had unto thee, provi­ ded milk in thy mother’s breasts for thee against thou were born: moved also thy father and mother and all other to love thee, to pity thee and to care for thee“. Tyndale über­ nimmt – im Gegensatz zu Luther (vgl. Althaus, Theologie, S. 144; Lohse, Theologie, S. 268 f) – nicht die negative Sicht Augustins auf den Zeugungsakt als Ort der Weitergabe der Erbsünde „durch die den Zeugungsakt begleitende Concupiscenz“ (Seeberg, S. 510). 247  Ihre Explikation findet die Gehorsamsforderung in der Frage, wer über die Ehe­ schließung des Kindes zu entscheiden hat. Die zeitgenössische kirchliche Praxis (vgl. An­ genendt, S. 276–280.287 f) ist für Tyndale ein Indiz für die unruhestiftende Ordnung der Papstkirche: Wenn Priester gegen Bezahlung auch gegen den Willen der Eltern junge Menschen verheiraten, verletzen sie das Gebot der Elternehrung (vgl. Obedience, PS 1, S. 169 f, PC, S. 33). In gleicher Weise verstoßen auch all jene dagegen, die – obwohl mit Zustimmung der Eltern verheiratet – Priester werden und sich von der Kirche von ihrem Ehegelübde dispensieren lassen. Sie können sich nicht darauf berufen, damit dem Ruf Christi zu folgen, denn Christus lässt sich nicht gegen das göttliche Gesetz ausspielen (s.o. 3.2.6.2, 3.2.6.4; s.u. 3.4.1). Er ist „Aufrichter“, nicht „Zerstörer“ des Gesetzes (Mt 5,17): „Christ is not against God, but with God and came not to break God’s ordinances, but to fulfil them. That is he came to overcome thee with kindness and to make thee to do of very love that thing which the law compelleth thee to do“ (a.a.O., S. 170 f, PC, S. 33). 248  Vgl. Obedience, PS 1, S. 168 (PC, S. 31): „whatsoever thou doest unto them (be it good or bad) thou doest unto God“.

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

133

untertan sein (Gen 3,16), denn sie ist ein schwaches Wesen, das der Führung durch den Mann bedarf (1 Petr 3,1). Wie Christus das Haupt der Gemeinde ist, ist der Mann das Haupt der Frau (Eph 5,22 f), dem diese zum Gehorsam verpflichtet ist.249 In gleicher Weise wie die Eltern dem Kind gegenüber Gott repräsentieren, tritt hier nun der Mann gegenüber seiner Gemahlin an die Stelle Gottes: Der Gehorsam ihm gegenüber entspricht dem Gehorsam ge­ genüber Gott. Die Rolle der Frau gemäß der biblischen Norm ist darum eine explizit andere, als die papstkirchliche Frömmigkeitspraxis glauben macht:  

„Es wäre besser, unsere Frauen folgten dem Beispiel der heiligen Frauen von einst, in­ dem sie ihren Ehemännern gehorsam wären, anstatt sie mit einem Paternoster, einem Ave oder einem Credo zu verehren und Kerzen vor ihre Bilder zu stellen“250.

Schließlich erklärt Tyndale auch das Verhältnis zwischen Herr und Knecht in Analogie zur Gott-Mensch-Relation: Knechte haben ihren Herren zu dienen aus Gehorsam gegenüber Gottes Willen (Eph 6,5 ff), denn der Herr steht an der Stelle Gottes über dem Knecht.251 Diese Gehorsamsverpflichtung gilt auch, wenn der Herr Unrecht tut (1 Petr 2,18 f). Es ist jedoch dann nicht der tyrannische Herr, dem sich der Knecht in diesem Falle unterwirft, sondern Gott selbst.252 Wo es die Papstkirche Menschen ermöglicht, sich durch Pries­ ter- oder Ordensgelübde dem Gehorsam gegenüber weltlichen Herren zu entziehen, widerspricht dies für Tyndale nicht nur dem göttlichen Gebot, sondern hat gesellschaftszersetzende Wirkung. Die falschen Loyalitäten, die sich hier zeigen, kann Tyndale darum voller Ironie wie folgt bilanzieren: „Je ungehorsamer du gegenüber Gottes Weisungen bist, desto geeigneter und passender bist du für ihre [d.i. die des papstkirchlichen Klerus]“253.  



249  Vgl. WA 6, S. 264,10–13 (Von den guten Werken, 1520): „Hie solt ich auch wol sagen, wie ein weib seinem man, als seinem ubirsten gehorsam, unterthenig, weichen, schwey­ gen unnd recht lassen sol, wo es nit widder got ist […] davon S. Peter und Pauel vil gesagt habenn“. 250  Obedience, PS 1, S. 171 (PC, S. 34): „It were much better that our wives followed the example of the holy women of old time in obeying their husbands, than to worship them with a Pater Noster, an Ave and a Credo, or to stick up candles before their images“. 251  Vgl. a.a.O., S. 172 (PC, S. 35): „In whatsoever kind therefore thou art a servant […] thy master is unto thee in the stead and room of God and through him feedeth thee, clo­ theth thee, ruleth thee and learneth thee: his commandments are God’s commandments and thou oughtest to obey him as God“ (vgl. WA 6, S. 263,5–15 ,Von den guten Werken, 1520). Tyndale führt als Beispiel Paulus und Onesimus im Philemonbrief an, vgl. Obe­ dience, PS 1, S. 172 f (PC, S. 35). 252  Gott belohnt diejenigen, die Unrecht erfahren, vgl. Obedience, PS 1, S. 172 (PC, S. 35): „But and if when ye do well, ye suffer wrong and take it patiently, then there is thanks with God“. 253  A.a.O., 173 (PC, 36): „The more disobedient that thou art unto God’s ordinances, the more apt and meet are thou for theirs“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

3.3.4.2  Die Pflicht aller Stände zum Gehorsam gegenüber ihren Obrigkeiten: das weltliche Rechtswesen Die umfangreichste Darstellung widmet Tyndale dem Gehorsam der Unter­ tanen gegenüber ihrem Herrscher. Dieser Punkt ist sein eigentliches Thema, kann er doch hier dem Vorwurf begegnen, die Reformation fördere Unruhe und Rebellion. Tyndale lässt zuerst die Schrift selbst sprechen und leitet den Abschnitt mit einer Übersetzung von Röm 13,1–10 ein, also des zentralen neutestamentlichen Textes über das Verhältnis des Christenmenschen zur Obrigkeit.254 Von der paulinischen Paränese kommt er zu einer ersten These: Wie ein Vater, der über seine Kinder Herr und Richter zugleich ist, ihnen verbietet, sich gegenseitig zu richten, so sollen auch Christenmenschen nicht übereinander zu Gericht sitzen (Röm 12,19 f).255 Die Ordnung des menschli­ chen Miteinanders würde nachhaltig gestört, nähme jeder Mensch das Rich­ ten in seine eigenen Hände. Um diese verhängnisvolle menschliche Selbstjus­ tiz zu verhindern, hat Gott über alle Nationen Obrigkeiten als Richter ein­ gesetzt (Ex 22,6 ff). Allein der Gehorsam ihnen gegenüber ermöglicht ein gelingendes menschliches Miteinander (Lev 18,5; Röm 10,5)256 unter der kla­ ren Prämisse: Wer sich an die Gesetze hält, wird belohnt werden, wer gegen sie verstößt, bestraft.257 Im Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den es bewahrenden Obrigkei­ ten sieht Tyndale also den einzig wirksamen Schutz gegen das Chaos. Damit rezipiert er das, was Luther den „politischen Sinn und Brauch“ des Gesetzes nennt, nämlich „daß es in dieser vom Teufel besessenen Welt der Sünde den groben Übertretungen und Verbrechen wehrt und dadurch den öffentlichen Frieden wahrt, die Erziehung der Jugend und vor allem die Predigt des Evan­ ge­liums möglich macht“258. Der usus civilis ist bei Luther dem Herrschaftsbe­ reich der Welt zugeordnet, der vom geistlichen Herrschaftsbereich Christi un­ terschieden ist.259 Tyndale nimmt diese grundlegende Zuordnung der zwei  



254  Vgl. WA 19; S. 247 (Von weltlicher Oberkeit, 1523), WA 19; S. 625.629 f (Ob Kriegs­ leute, 1526) 180 f; vgl. Rex, Obedience, S. 867. 255  Vgl. Obedience, PS 1, 174 (PC, 37): „God forbiddeth all men to avenge themselves, and taketh that authority and office of avenging unto himself […] when thou avengest thyself, thou makest not peace, but stirrest up more debate“. 256  Dass Tyndale diese beiden Stellen anführt, macht noch einmal besonders deutlich, dass das Gesetz für ihn, anders als für Luther, eine primär positive Bedeutung als Lebens­ ordnung hat (s.o. 3.2.6.4); vgl. auch WA 6, S. 206 f (Von den guten Werken, 1520). 257  Tyndale illustriert diese Erkenntnis u.a. anhand der Geschichte von David und Saul: David, der es zweimal in der Hand hatte, König Saul zu töten (1 Kö 24+26), tut dies eben deswegen nicht, weil er durch ein solches Vorgehen gegen die Obrigkeit (Saul) auch gegen Gottes Gebot und Ordnung verstoßen hätte; ein König kann nur von Gott verur­ teilt werden, da ihm alle anderen untergeben sind, vgl. a.a.O., S. 176 f (PC, S. 38–40). 258  Althaus, Theologie, S. 220; vgl. Lohse, Theologie, S. 288 f; Schwarz, Art. Luther, Sp. 584. 259  Vgl. WA 19, S. 251,15–18 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Darumb hatt Gott die

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Regimente nicht wörtlich auf, folgt Luther jedoch in der Sache. Auch für ihn ist die Unterordnung unter die von Gott eingesetzte Obrigkeit verbindlich, da der König – wie jede Obrigkeit – gegenüber seinen Untertanen Gott selbst repräsentiert.260 Einzig er ist ausgenommen von der weltlichen Gehorsams­ hierarchie und allein Gott gegenüber verantwortlich.261 Er ist daher auch dem römischen Bischof keinen Gehorsam schuldig, und es gehört nicht zu seinen Aufgaben, im Auftrag des Papstes gegen andere Monarchen vorzugehen.262 Weil die Gehorsamforderung gegenüber dem König, der gleichsam Gott vertritt, universal ist, kann es für Tyndale auch keine Ausnahmen für Geist­ liche geben.263 Papst und Klerus können keinen rechtsfreien Raum für sich beanspruchen, da auch und gerade sie an das Recht und die göttliche Ord­ nung gebunden sind.264 Ebenso wenig haben Bischöfe das Recht, das welt­ liche Schwert zu führen.265 Im Gegenteil: Sobald sie selbst weltliche Macht beanspruchen, machen sie sich schuldig vor Gott.266 Die Schlüsselgewalt, mit der der Papst seine weltliche Stellung begründet, versteht Tyndale rein geist­ lich als Vollmacht zur Sündenvergebung.267 In dieser Ablehnung weltlicher Gewalt für die Kirche und ihre Vertreter und der klaren Trennung zweier zwey regiment verordnet: das geystliche, wilchs Christen unnd frum leutt macht durch den heyligen geyst unter Christo, unnd das welltliche, wilchs den unchristen und boesen weret, daß sie eußerlich muessen frid hallten und still seyn on yhren danck“. 260  Vgl. Obedience, PS 1, S. 177 (PC, S. 39): „God hath made the king in every realm judge over all, and over him is no judge. He that judgeth the kind judgeth God and he that layeth his hands on the king layeth hands on God, and he that resisteth the kind resisteth God and damneth God’s law and ordinance“. 261  Vgl. a.a.O., S. 178 (PC, S. 40): „Hereby seest thou that the king is in this world without law and may at his lust do right or wrong and shall give accompts, but to God only“. 262  A.a.O., S. 185 (PC, S. 46 f): „Kings were ordained then, as I before said, and the sword put in their hands to take vengeance of evil doers, that others might fear, and were not ordained to fight one against another or to rise against the Emporer to defend the false authority of the Pope that very Antichrist“. 263  Mit dieser Argumentation nimmt Tyndale die religionspolitischen Entscheidun­ gen Heinrichs VIII. in den 1530er Jahren vorweg. Ob er jedoch tatsächlich der geistige Vorläufer der „Royal Supremacy“ war, wird noch zu klären sein (s.u. 3.4.3.2). Er stimmt jedenfalls überein mit dem grundlegenden reformatorischen Verständnis der „Geistlich­ keit“, für das Schulze, 192, treffend festhält: „Aus das gehört zu den Wandlungen durch die Reformation, dass Geistliche in die Gesellschaft zurückgestellt werden, und zwar mit Pflichten für diese Gesellschaft“. 264  Vgl. WA 19, S. 265,14–27.217,11–26 (Von weltlicher Oberkeit, 1523). 265  Vgl. Obedience, PS 1, S. 185 f (PC, S. 47). 266  A.a.O., S. 179 (PC, S. 41): „The powers that be, are ordained of God. Whosoever therefore resisteth power resisteth God: yea though he be Pope, bishop, monk or friar. They that resist shall receive unto themselves damnation“. 267  Vgl. Obedience, PS 1, S. 205 (PC, S. 65): „If any man have broken the law or a good ordinance and repent and come to the right way again, then hath Christ power to forgive him: but licence to break the law can he not give, much more his disciples and vicars (as they call themselves) cannot do it“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Regimente geht Tyndale mit Luther konform, der der Kirche ebenfalls allein das geistliche Schwert, d.i. das Wort Gottes, zugesteht.268 Die grundsätzliche Notwendigkeit des usus civilis begründet Tyndale an­ thropologisch, indem er „three natures of men“269 differenziert: Bei jenen Menschen, bei denen die tierische Natur dominiert, ist das einzige Motiv für die Befolgung der Gebote die Angst vor Strafen. Ohne die Androhung von Sanktionen durch die Obrigkeit, würden sie sich gegen jedwede Ordnung auflehnen. Ein anderer Menschentyp empfängt die Gesetze aufgeschlossener, versteht aber ihren Sinn nur oberflächlich.270 Diese Menschen befolgen das Gesetz zwar, weil sie erkennen, dass es sich so besser und profitabler lebt, im Herzen aber bleiben ihnen die Gebote fremd. Seiner eigentlichen Intention entsprechend, erfüllt nur ein dritter Typ das Gesetz, nämlich jene, die es im Herzen tragen.271 Solche (wahren) Christenmenschen bedürfen für den Ge­ horsam gegenüber dem Gesetz eigentlich keiner Obrigkeiten. Sie unterwer­ fen sich Gesetz und Obrigkeit aber aus freien Stücken, weil Gott beides ge­ boten hat. Tyndales Beschreibung ähnelt dem, was Luther über die „rechte[n] Christen“ schreibt, die „keyn furst, koenig, herr, schwerd noch recht“272 nötig haben. Die besondere Pointe der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers, dass der Christenmensch, der eigentlich frei ist vom Gesetz, weil er es innerlich in sich trägt, um der Liebe zu seinem Nächsten willen auch dem Reich der Welt an­ gehört, wird von Tyndale variiert. Ihm kommt es darauf an zu betonen, dass die Erwählten tatsächlich das Gesetz Gottes einhalten können, weil sie – vom Geist erfüllt – dazu befähigt sind.273 Wie Luther, der in seiner Beschreibung der wahren Christenmenschen be­ wusst den Konjunktiv wählt, weiß auch Tyndale um die Angefochtenheit der christlichen Existenz und sieht auch die Menschen des dritten Typus „lusts 268  269 

Vgl. Althaus, Ethik, S. 151–158. Obedience, PS 1, S. 181 (PC, S. 42): „Now are there three natures of men, one alto­ gether beastly which in no wise receive the law in their hearts, but rise against princes and rulers whensoever they areable to make their party good“. 270  Vgl. ebd.: „they look not Moses in the face“ (2 Kor 3,13), zu diesem Bild s.o. 2.3.2. 271  Vgl. a.a.O., S. 181 (PC, S. 43): „The third are spiritual and look Moses in the open face and are (as Paul saith in the second to the Romans) a law to themselves, and have the law written in their hearts by the Spirit of God“. 272  WA 19, S. 249,37–250,1 (Von weltlicher Oberkeit, 1523). 273  Vgl. Obedience, PS 1, S. 185 (PC, S. 46): „He now that is renewed in Christ, keepeth the law without any law written or compulsion of any ruler or officer, save by the leading of the Spirit only“. Auch Tyndale bringt jedoch an anderer Stelle das Argument, dass die Erwählten um ihrer Nächsten willen dem Gesetz Folge leisten sollen, vgl. Obedience, PS 1, S. 190 f (PC, S. 50 f); vgl. WA 19, S. 253,23–26 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Aber weyl eyn rechter Christen auff erden nicht yhm selbs, sondern seynem nehisten lebt unnd die­ net, ßo thutt er art seyns geystes auch das, des er nichts bedarff, sondern das seynem ne­ histen nutz und nott ist“.

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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and appetites“274 ausgesetzt, die sie von der Befolgung der Gebote wegfüh­ ren.275 Ihr Leben ist ein permanenter Kampf („perpetual war“276), weil auch sie sich nicht gänzlich freimachen können von der Grunddisposition des Men­ schen, die für Tyndale – wie für Luther – durch die Unfreiheit des mensch­ lichen Willens und die „natürlichen Blindheit“ der Vernunft bestimmt ist.277 Erlösung aus dieser Gefangenschaft im eigenen Verstand und Willen kann allein Gott schenken, der durch seinen Geist das Herz des Menschen erfasst und ihm die Einsicht schenkt.278 Doch da, wo für Luther die Zahl der wahren Christen ungewiss ist,279 weil sie ständig vom Rückfall in die Sünde bedroht sind,280 scheint Tyndale klar an den äußerlich wahrnehmbaren Kennzeichen des geistgewirkten Wandlungsprozesses erkennen zu können, wer zum drit­ ten Typus gehört und das Gesetz internalisiert hat. Dies entspricht seiner schon früher festgestellten Akzentuierung der Gewissheit von Erwählung und erfahrener Veränderung der Glaubenden durch das Wirken des Heiligen Geistes.281 3.3.4.3  Von der falschen Macht des Papstes und der Rechtfertigung aus Glauben Gewissermaßen als Erläuterung des bisher Gesagten schließt Tyndale eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der „false power“282 des Papstes an. Dem von Gott gebotenen Gehorsam wird die Anmaßung des Papsttums, auch oberste weltliche Autorität zu sein, entgegengestellt und mithilfe der Schrift widerlegt. Dabei führt Tyndale seinen Lesern anhand von Röm 13,5 ff  

274  275  276  277 

Obedience, PS 1, S. 182 (PC, S. 43). Vgl. ebd.: „We are also changed from one lust unto another“. Ebd. Vgl. Obedience, PS 1, S. 182 (PC, S. 44): „How fortuneth all this? Because that the will of man followeth the wit and is subject unto the wit and as the wit erreth so doth the will, and as the wit is in captivity, so is the will, neither is it possible that the will should be free where the wit is in bondage“; vgl. Althaus, Theologie, S. 66 ff.140 f; Lohse, Theo­ logie, S. 185 f; Bayer, S. 169 f. 278  Vgl. Obedience, PS 1, S. 183 (PC, S. 44) „If God open any man’s wits to make him feel in his heart, that lusts and appetites are damnable, and give him power to hate and re­ sist them, then he is free even with the freedom wherewith Christ maketh free, and hath power to do the will of God“. 279  WA 11, S. 251,37–252,1 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Aber die Christen wonen (wie man spricht) fern von eynander“. 280  Vgl. a.a.O., S. 250,26–29 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Nu aber keyn mensch von natur Christen odder frum ist, sondern altzumal sunder und boese sind, weret yhnen Gott allen durchs gesetz, das sie eußerlich yhr boßheyt mitt wercken nicht thueren nach yhrem muttwillen uben“. 281  S.o. 3.2.6.2. 282  Obedience, PS 1, S. 188 (PC, S. 49).

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

auch noch einmal die Grundzüge des in „Mammon“ dargelegten Rechtferti­ gungsverständnisses vor Augen.283 Das erste Argument, mit dem Tyndale den Machtanspruch des Papstes be­ streitet, nimmt Bezug auf Jesu Verhältnis zu weltlicher Macht. Anhand von Mt 3,15; 17,24 ff und 26,52 ff kontrastiert Tyndale das Verhalten des Petrus, als des Patrons des Papsttums, mit dem Jesu. Seine Folgerung ist eindeutig: Jesus selbst lehnte die Ausübung weltlicher Macht ab, so dass auch wahre Die­ ner Christi keine weltliche Macht für sich beanspruchen dürfen.284 Auch einen rein geistlichen Primat des Papstes, der sich aus der Stellung Pe­ tri im Apostelkreis ableitet, lehnt Tyndale ab, indem er auf die Predigt John Fishers eingeht, die dieser am 12. Mai 1521 bei der öffentlichen Verbrennung von Luthers Schriften am St Paul’s Cross in London gehalten hatte. Der Bi­ schof von Rochester, einer der einflussreichsten Befürworter des Papsttums in England, hatte in dieser vielfach gedruckten Predigt den Reformator aus Wittenberg scharf angegriffen.285 Tyndale wendet sich insbesondere gegen Fishers Auslegung von Mt 17,24 ff (Zahlung der Tempelsteuer), mit der dieser die Vorrangstellung Petri begründet hatte.286 Er weist seine Leser auf den „Gegentext“ vom Rangstreit der Jünger (Mt 18,1 ff) hin und macht außerdem auf die mangelnde Logik der Argumentation Fishers aufmerksam: Anders als Petrus, der den Tribut an den Kaiser bezahlt, leiste der papstkirchliche Klerus keine Abgaben.287 Wer sich aber solche Freiheiten herausnimmt, riskiert die Aufhebung der Ordnung.288 Angesichts der Verirrungen der Papstkirche weist Tyndale seine Leser er­ neut darauf hin, dass das Gesetz geistlich ist und nicht durch Werke erfüllt werden kann, sondern allein durch den Glauben, der die Liebe hervorruft.289  







283  284 

S.o. 3.2.9. Vgl. a.a.O., S. 189 (PC, S. 49 f): „God did not put Peter only under the temporal sword, but also Christ himself“. Darunter fallen für Tyndale auch die finanziellen Vor­ rechte des Klerus, wie er mit der Haltung Christi zur Tempelsteuer (Mt 17, 24 ff) belegt (vgl. ebd). 285  Vgl. Fisher, S. 48–75 (Introduction); s.u. 3.3.5.3. 286  Vgl. a.a.O., S. 80 f. 287  Vgl. Obedience, PS 1, S. 190 (PC, S. 50): „If Peter in paying tribute became greatest, how cometh it, that they will pay none at all?“. 288  Vgl. a.a.O., S. 191 (PC, S. 51): „thy freedom make thy weak brother to grudge and rebel, in that he seeth thee go empty and he himself more laden […] they have robbed all realms, not of God’s word only but also of all wealth and prosperity, and have driven peace out of all lands and withdrawn themselves from all obedience to princes and have separated themselves from lay men, counting them viler than dogs, and have set up that great idol the whore of Babylon, Antichrist of Rome whom they call Pope“. Vgl. WA 11, S. 254,3–6 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Und wo ers nicht thett, so thett nicht als eyn Christ, datzu widder die liebe, gebe auch den andern eyn boese exempel, die auch des gleychen wollten keyne uberkeyt leyden, ob sie wol unchristen weren“. 289  Vgl. a.a.O., S. 192 (PC, S. 52 f): „Here hast thou sufficient against all sophisters, workholy and justifiers in the world, which so magnify their deeds. The law is spiritual

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Die Aufgabe des Gesetzes ist es, im Sinne von Luthers usus elenchticus290 die Sünde offenbar zu machen, zur Reue zu bewegen und somit zu Christus zu führen. Wer an die in Christus erfüllten Verheißungen glaubt, wird gerecht­ fertigt und versiegelt mit dem Geist, der das Herz in der Gewissheit der erfah­ renen Rechtfertigung festigt durch die äußerlich erkennbaren Früchte.291 Ohne die Verheißungen bleibt das Gesetz furchteinflößende und ord­ nungsstiftende Macht in der Hand des Königs, sei er nun ein guter oder ein schlechter Herrscher. Tyndale will auch negative Erfahrungen mit der Will­ kür der Mächtigen nicht außerhalb des göttlichen Heilswillens verorten: Ty­ rannen sind Gabe Gottes „for our wickedness’ sake“292. Unrecht ist als von Gott gegebene Prüfung anzunehmen, angesichts deren es gilt, im Gehorsam auszuharren und darauf zu vertrauen, dass Gott den Herrschenden ein besse­ res Herz geben wird. Tyndales Bild aus dem familiären Bereich veranschau­ licht diese Haltung: „Solange das Kind danach strebt, sich für die Rute[nstrafe] zu rächen, hat es ein böses Herz […] Wenn es aber seinen Fehler einsieht, den Tadel annimmt, sich der Rute wil­ lig unterwirft [wörtl.: die Rute küsst] und sich selbst im Sinne der Lehre und Erzie­ hung von Vater und Mutter bessert, dann kann die Rute weggeräumt und verbrannt werden“293.

and requireth the heart, and is never fulfilled with the deed in the sight of God. With the deed thou fulfillest the law before the world and livest thereby […] But before God thou keepest the law if thou love only“. Das aufgrund dieser Aussage mögliche Missverständ­ nis, als sei die Liebe, die das Gesetz erfüllt, für die Rechtfertigung des Menschen verant­ wortlich, schließt Tyndale aus, indem er zwischen Ursache und Wirkung differenziert, vgl. a.a.O., S. 192 (PC, S. 53): „Thou wilt say haply, if love fulfil the law, then it justifieth. I say that wherewith a man fulfilleth the law, declareth him justified but that which giveth to him wherewith to fulfil the law, justifies him“. Zu Luthers Verständnis vgl. Althaus; Theologie, S. 232 f. 290  Vgl. Althaus, Theologie, S. 221 f; Lohse, Theologie, S. 288 f; Bayer, S. 55, Anm. 27. 291  Vgl. Obedience, PS 1, S. 193 (PC S. 53): „If thou believe the promises then doth God’s truth justify thee, that is forgiveth thee and receiveth thee to favour for Christ’s sake. In a surety whereof and to certify thine heart, he sealeth thee with the spirit“. 292  A.a.O., S. 194 (PC, S. 55); vgl. WA 6, S. 260,4–23 (Von den guten Werken, 1520); WA 11, S. 267 (Von weltlicher Oberkeit, 1523); WA 19, S. 636,17–32 (Ob Kriegsleute, 1526). 293  Obedience, PS 1, S. 196 (PC, S. 57): „The child as long as he seeketh to avenge himself upon the rod hath an evil heart […] If he knowledge his fault and take correction meekly and kiss the rod and amend himself with the learning and nurture of his father and mother then is the rod take away and burnt“. In einem weiteren Bild vergleicht Tyndale den Christenmensch einem Kranken, der sein Leiden geduldig trägt und sich vom Arzt helfen lässt, auch wenn die Behandlung schmerzhaft und die Medizin bitter ist, vgl. a.a.O., S. 197 f (PC, S. 57 f).

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

3.3.5  Die Pflicht der Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot 3.3.5.1  Die Pflicht der familiären Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot In Tyndales Modell der christlichen Gesellschaftsordnung, das er in „Obe­ dience“ entwirft, korrespondiert die Pflicht zum Gehorsam gegen die von Gott eingesetzten Obrigkeiten mit deren Gehorsam gegenüber Gott und sei­ nem Gebot. In der gleichzeitigen Anerkennung der bestehenden Ständeord­ nung und der Mahnung an die Herrschenden, den eigenen Vorteil nicht über das Wohl der von ihnen Abhängigen zu stellen, argumentiert Tyndale damit in ähnlicher Weise, wie Luther es in seiner ersten Einlassung zu den Klagen der Bauern 1525 tat.294 Wiederum geht Tyndale von der Familie aus und spricht von der Aufgabe des pater (und eingeschränkt auch der mater) familias,295 wie sie vor allem in den neutestamentlichen Haustafeln (Eph 6,1–4; Kol 3,20 f) beschrieben ist: Eltern sollen ihre Kinder mit der christlichen Lehre und Gottes Geboten bekannt machen, und im Falle ihrer Missachtung (und ausbleibender Reue) auch Stra­ fen anwenden. Die Grundmaxime der Erziehung, die Tyndale vorschwebt, aber ist das beispielhafte Verhalten der Eltern, die sich auch an eigenes Fehlverhalten er­ innern sollen:  

„Lasst Väter und Mütter bedenken, wie sie selbst in jenen Jahren gestimmt waren und aus der Erfahrung ihrer eigenen Schwächen heraus ihren Kindern helfen und vor Ver­ suchungen bewahren“296.

Maßstab darin, die eigene Autorität nicht bis ins letzte einzufordern, sondern die Schwachheit der Kinder zu ertragen, soll letztendlich Christus selbst sein: „Seek Christ in your children“297. Die Pflichten der Ehemänner gegenüber ihren Frauen bedenkt Tyndale vor dem Hintergrund ihrer schöpfungsgemäßen Differenz (Eph 5,25.28.31 f; Kol 3,19; 1 Petr 3,7): Gott hat die Männer in vielem stärker gemacht als die Frauen, jedoch nicht, damit diese als Tyrannen über jene herrschen, sondern um ihnen zu helfen, ihre Schwachheit zu tragen.298 Darum sollen die Männer  

294  Vgl. WA 18, S. 298,3–299,14 (Ermahnung zum Frieden, 1525); vgl. dazu Zschoch, Religion, Politik und Gewalt, S. 100–103. 295  Vgl. WA 6, S. 250,20–265,26 (Von den guten Werken, 1520). 296  Obedience, PS 1, S. 199 (PC, S. 60): „Let the fathers and mothers mark how they themselves were disposed at all ages, and by experience of their own infirmities help their children and keep them from occasion“. 297  A.a.O., S. 200 (PC, S. 60). Das positive Bild der Familie in der Nachfolge Christi hat möglicherweise autobiographische Hintergründe. Es spiegelt sich in der familiären Metaphorik, mit deren Hilfe Tyndale das Verhältnis Gottes zu den Menschen bevorzugt zum Ausdruck bringt. 298  Vgl. a.a.O., S. 200 (PC, S. 61): „In many things God hath made the men stronger

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ihren Frauen gegenüber zuvorkommend sein und sie mit Liebe für Christus gewinnen.299 Auch das Verhältnis des Herren gegenüber seinem Knecht soll sich am Bei­ spiel und Maßstab Christi orientieren (Eph 6,9; Kol 4,1).300 Konkret versteht Tyndale darunter, dass der Herr dem Diener eine angemessene Versorgung und Bildung zukommen lassen und auch mit „kind words“301 nicht sparen soll. 3.3.5.2  Die Pflicht der staatlichen Obrigkeiten zum Gehorsam gegen Gottes Gebot Auch im Hinblick auf die Pflichten der Könige, Richter und Amtspersonen, also der staatlichen Obrigkeiten, macht Tyndale den Maßstab Christi zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. Er formuliert damit ein zweites Grundaxiom seines Gesellschaftsmodells: Der König, der auf Erden an Got­ tes Stelle herrscht, soll dies tun, indem er nach dem Vorbild Christi zum Bru­ der aller wird. Das „Gesetz der Liebe“ Christi („law of love“302) soll Maßstab seines Handelns zum Wohle seiner Untertanen sein: „Lasst Könige ( wenn sie den Namen ‚Christen‘ tatsächlich verdienen) mit dem Wohl­ stand ihres Reiches nach dem Beispiel Christi verfahren: indem sie sich daran erin­ nern, dass das Volk Gott gehört und nicht ihnen“303.

Dies impliziert für Tyndale eine Reihe von Verhaltensregeln für die Amts­ ausübung eines christlichen Herrschers: Die Unparteilichkeit in Rechtssa­ chen, die Monogamie und die Pflicht zur Landesverteidigung. Wenn der Kö­ nig (oder ein staatlicher Richter) Recht spricht, soll er sich Gott selbst zum Beispiel nehmen und ohne Ansehen der Person hart urteilen, denn der Mo­ narch dient nicht im Reich Christi mit dem Evan­ge­lium, sondern hat in der than the women, not to rage upon them and to be tyrants unto them but to help them to bear their weakness“. 299  Vgl. Obedience, PS 1, S. 201 (PC, S. 61): „that of love they may obey the ordinance that God hath made between man and wife“. 300  Vgl. WA 6, S. 263,29–264,4 (Von den guten Werken, 1520). 301  Obedience, PS 1, S. 201 (PC, S. 62). 302  A.a.O., S. 245 (PC, S. 101), S. 297 (PC, S. 149) u.ö.; vgl. auch a.a.O., S. 171 (PC, S. 33). 303  Obedience, PS 1, S. 202 (PC, S. 63): „Let kings (if they had lever be Christian in deed then so be called) give themselves alltogether to the wealth of their realms after the ex­ ample of Christ: remembering that the people are God’s and not theirs“. Vgl. a.a.O., S. 203 (PC, S. 63): „yet let him [d.i. der König] put off that and become a brother, doing and leav­ ing undone all things in respect of the commonwealth“; vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 55,22–25: „Wiewol aber weltlicher oberkeit dyenst, die sye der gemeyn schul­ dig ist, nit in dem stot, das sye das goettlich wort und gesatz predigen, yedoch gebürt yn nach goettlichem gesatz zů regieren und irs vermoegen zů uffgang goettlichs worts helf­ fen“.

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Welt mit dem scharfen Schwert des Gesetzes zu richten.304 Könige sollen nicht zu viele Frauen haben, um nicht von ihren Regierungsgeschäften abge­ lenkt zu werden – eine Mahnung, die vor dem Hintergrund der sich anbah­ nenden Beziehung Heinrichs VIII. mit Anne Boleyn, von der Tyndale mög­ licherweise über seine Londoner Kontakte erfahren hatte,305 einem politi­ schen Statement gleichkam, zumindest jedoch nicht einer gewissen Pikanterie entbehrte.306 Schließlich haben Könige die Pflicht, ihr Land gegen Angreifer zu verteidigen. Sie sollen jedoch keine Kriege um anderer Gründe willen und schon gar nicht im Namen des Papstes führen.307 Für die königlichen Regie­ rungsgeschäfte gibt Tyndale den Ratschlag, sich von fähigen Laien beraten zu lassen, jedoch nicht von kirchlichen Prälaten. Geistliche Amtsträger, ob Papst oder Bischöfe, haben sich jeglicher Intervention in die Geschäfte der weltlichen Obrigkeiten zu enthalten.308 3.3.5.3  Auseinandersetzung mit Bischof Fishers Kritik an der Reformation In den zweiten Argumentationsgang integriert Tyndale eine Abrechnung mit der Papstkirche als seine Replik auf die bereits angesprochene Predigt John Fishers.309 Er geht dabei offensichtlich davon aus, das seine Leserschaft die im Zuge der anti-reformatorischen Propaganda weit verbreitete Predigt des Bi­ schofs von Rochester kannte,310 denn seine Ausführungen beziehen sich häu­ fig auf einzelne Argumente, mit denen Fisher die Positionen Luthers – nach Fishers Auffassung: „Ein Frater, der einen mächtigen Sturm und Unwetter in der Kirche entfacht und das klare Licht vieler Schriften Gottes verdunkelt hat“311 – zu widerlegen sucht. Der Ton, in dem Tyndale Fisher angreift, ist 304  Vgl. WA 11, S. 272,13–17 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Darumb muß ein furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zů brauchen odder zů lindern sey, Also da alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft“. 305  Die Beziehung Heinrichs VIII. zu Anne Boleyn begann wahrscheinlich 1526. Von 1527 an strebte der König die Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon an; es ist wahrscheinlich, dass die Hof-nahe Londoner Öffentlichkeit von der Beziehung des Königs zu Anne Boleyn wusste, vgl. Bernard, S. 4–14. 306  Vgl. Obedience, PS 1, S. 204 (PC, S. 65): „And the kings warneth he [d.i. Moses] they have not too many wives, lest their hearts turn away“. 307  Vgl. WA 11, S. 276,27–277,15 (Von weltlicher Oberkeit, 1523); WA 19; S.  648,13– 649,16 (Ob Kriegsleute, 1526). 308  Vgl. WA 6, S. 265,7–10 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Denn meyn ungnedige herrn, Bapst und Bischoffe sollten bischoffe seyn unnd Gottis wortt predigen. Das lassen sie und sind weltliche fursten worden und regirn mit gesetzen, die nur leyb unnd gůtt be­ treffen. Feyn haben sie es umbkeret“. 309  S.o. 3.3.4.3. 310  Vgl. Marc’hadour, Fisher’s Sermon, S. 147 f. 311  Fisher, S. 77: „a frere, the whiche hath stered a mighty storme and tempest in the chirche and hath shadowed the clere lyght of many scryptures of God“.

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nicht gerade irenisch, aber auch nicht „astonishingly violent“, wie Marc’hadour behauptet.312 Vielmehr bewegt er sich im Rahmen zeitgenössischer kontro­ verstheologischer Auseinandersetzungen.313 Tyndale geht zunächst ausführlich auf Fishers Begründung des weltlichen und geistlichen Führungsanspruchs des Papstes ein. Fisher hatte behauptet, wie Aaron als Hohepriester im Auftrag Mose handle, so folge der Papst dem Auftrage Christi.314 Diese Analogie greift Tyndale auf mehreren Ebenen an: Zum einen stellt er Fishers Vergleich Hebr 4,14 ff entgegen, in der Christus (und nicht der Papst) mit dem Hohepriester identifiziert wird.315 Nach Tyn­ dales Auffassung steht im Hebräerbrief außerdem Mose für Christus, Aaron jedoch für den Glaubenden, denn er hört und verkündet, was Gott ihm durch Mose/Christus sagt. Schließlich verweist er auf die Geschichte vom Goldenen Kalb (Ex 24): Wenn Aaron hier in der Rolle des falschen Predigers erscheint, bietet er – nach Tyndales Urteil – als solcher eine viel treffendere Analogie für das Papsttum.316 Tyndale formuliert nun seinerseits positiv den Auftrag an die kirchlichen Amtsträger: Die Apostel haben ihre Autorität direkt von Christus dazu erhal­ ten (1 Kor 1, Gal 1 f), um sein Wort zu predigen. An Christi Wort hat sich da­ rum jegliche Ausübung eines kirchlichen Amtes messen zu lassen. Wenn also der Papst oder seine Bischöfe Autorität für sich in Anspruch nehmen, die nicht im Wort Christi selbst, d.h. in der Schrift, begründet ist, ist dies für Tyndale pure Anmaßung.317 Auch eine Herleitung des päpstlichen Anspruchs aus ei­ ner historischen Vorrangstellung des Petrus lässt er nicht gelten und macht  



312  Marc’hadour, Fisher’s Sermon, S. 149. Marc’hadours Bewertung der Angriffe Tyndales auf Fisher ist an vielen Stellen vom konfessionellen Standpunkt und der Vereh­ rung für den römischen Heiligen St. John Fisher geprägt; vgl. z.B. a.a.O., 149 f: „He [d.i. Tyndale] was singular, however, in dealing his harshest blows at the one bishop who stood out from the English hierarchy as the epitome of pastoral zeal and care, as well as the most learned“. 313  Man vergleiche nur den Tonfall von Fishers eigener Predigt gegen die „pernycyous doctryne of Martyn Luther“ (Fisher, S. 83). 314  Vgl. Fisher, S. 79: „In the gouernaunce was twayne hedes appoynted, one vnder an other, Moyses and Aaron […] Withouten doute they must be the shadowe of Christe and of his vycare saynt Peter, whiche vnder Christ was also the heed of christen people“. 315  Vgl. WA.DB 8, S. 28,32–35 (Vorrede zum Alten Testament, 1523). 316  Rein rhetorisch fragt Tyndale daher: „If the Pope be signified by Aaron and Christ by Moses, why is not the Pope as well content wit Christ’s law and doctrine as Aaron was with Moses? What is the cause that our bishops preach the Pope and not Christ saying the Apostles preached not Peter, but Christ?“ (Obedience, PS 1, S. 209, PC, S. 70). 317  Vgl. a.a.O., S. 211 (PC, S. 72): „The authority that Christ gave them was to preach, yet not what they would imagine, but what he had commanded. […] Seeing now that we have Christ’s doctrine and Christ’s holy promises, and seeing that Christ is ever present with us his own self, how cometh it that Christ may not reign immediately over us, as well as the Pope which cometh never at us? Seeing also that the office of an Apostle is to preach only, how can the Pope challenge with right, any authority where he preacheth not?“

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allein den historischen Zufall für die Sonderrolle des Petrus verantwort­ lich.318 In einem zweiten Argumentationsgang bestreitet Tyndale Fishers exege­ tische Kompetenz, indem er insbesondere dessen Versuch kritisiert, Luthers Auslegung mithilfe von Stellen aus den Evangelien zu widerlegen.319 Fisher verkenne schlicht die wahre Bedeutung des „Evan­ge­liums“ bei Luther,320 das eben nicht formale Gattungsbezeichnung ist, sondern das Christuszeugnis und damit das Zentrum der Verheißungen schlechthin meint. Es verbiete sich daher, einzelne Bibelstellen gegen Christus, der doch Mitte der Schrift ist, an­ zuführen.321 Fishers Umgang mit der Schrift ist für Tyndale in unzulässiger Weise eklektisch und gleicht einem kindlichen Versteckspiel.322 Der Bestreitung von Fishers exegetischer Kompetenz folgt ein Reigen von Widerlegungen weiterer Anschuldigungen des Bischofs.323 Insbesondere ­Fishers Vorwurf, Luther stachele die Menschen zum Morden auf,324 entlarvt Tyndale als haltlos: „Alle Welt weiß, dass Martin Luther keinen Menschen erschlägt, sondern allein mit dem geistlichen Schwert, dem Wort Gottes, solcherlei kranke Gewissen tötet, wie das Rochesters“325. 318  Vgl. a.a.O., S. 212 (PC, S. 73): „Forasmuch also as Christ is as great as Peter, why is not his seat as great as Peter’s? Had the head the empire been at Jerusalem, there had been no mention made of Peter“. 319  Vgl. Fisher, S. 86 ff. 320  Vgl. Obedience, PS 1, S. 213 (PC, S. 74): „He [d.i. Fisher] understandeth by this word gospel no more but the four evangelists […] and thinketh not that the Acts of the Apostles and the Epistles of Peter, Paul and John and of other like are also the gospel“. 321  Vgl. a.a.O., S. 214 (PC, S. 74): „If that which the four Evangelists wrote be truer than that which Paul wrote, then is it not one gospel that they preached, neither one spirit that taught them“. Tyndale macht aus seiner Hochschätzung des Paulus keinen Hehl, vgl. a.a.O., S. 213 f (PC, S. 74): „There is more gospel in one epistle of Paul, that is to say, Christ is more clearly preached and more promises rehearsed in one epistle of Paul, than in the three first Evangelists, Matthew, Mark and Luke“. 322  Vgl. a.a.O., S. 214 (PC, S. 75): „mark how he playeth Bo Peep with the scripture“. („Bo Peep“ entspricht dem deutschen Versteckspielen oder „Kuckuck-Spielen“). Für ebenso willkürlich hält Tyndale Fishers Umgang mit den Kirchenvätern, mit denen er die Autorität des Papstes begründen will (vgl. Fisher, 80 ff). Gerade die Kirchenväter spre­ chen nach Tyndales Auffassung vom persönlichen Charisma des Petrus, nicht von seiner hierarchische Position, vgl. Obedience, PS 1, S. 217 (PC, S. 76): „so was it the manner to call Peter chief of Apostles for his singular activity and boldness, and not that he should be lord over his brethren contrary to his own doctrine“. Beinahe schon süffisant fügt Tyndale hinzu: „Yet compare that chief Apostle unto Paul, and his is found a great way inferior“. 323  Tyndale hält Fisher u.a. vor, sich ausgerechnet auf den „Erz-Ketzer“ Origenes zu berufen (vgl. a.a.O., S. 220; PC, S. 78; vgl. Fisher, S. 89). Vgl. dazu Marc’hadour, Fisher’s Sermon, S. 153–156.159 (erstaunlicherweise nehmen die wenigen Zeilen Tyndales zu Origenes in Marc’hadours Interpretation mehrere Seiten ein, weil er darin einen Hauptvorwurf Tyndales an Fisher erkannt haben will). 324  Vgl. Fisher, S. 92 f. 325  Obedience, PS 1, S. 221 (PC, S. 79): „the world knoweth that Martin Luther slayeth

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Fishers Vorwurf, Luther, der die päpstlichen Dekrete verbrannt habe, wolle auch die Heiligkeit des Papstes selbst verbrennen,326 begegnet Tyndale sar­ kastisch mit dem Verweis auf die Verbrennung seines „New Testament“: „Rochester und seine heiligen Brüder haben das Testament Christi ver­ brannt – wahrhaftig ein klares Zeichen, dass sie auch Christus selbst ver­ brannt hätten, wenn sie seiner habhaft geworden wären“327. Der zentralste Irrtum Fishers, „the chiefest point of all“328, ist jedoch seine Behauptung, der Mensch würde aus Werken gerechtfertigt. Fishers Deutung von Gal 5,6, dass die Liebe dem Glauben vorangehe,329 weist Tyndale scharf zurück und macht auf einen Übersetzungsfehler des Humanisten Fisher auf­ merksam: „Fides per dilectionem operans – diesen Text übersetzt er weise folgendermaßen ins Eng­ lische: ‚Glaube, der aus Liebe geschaffen wird‘, womit er aus einem passiven Verb ein Deponens macht“330.

Folge man Fishers Verständnis, so müsse der Mensch – bildlich gesprochen – die bittere Medizin erst lieben, bevor er an ihre Wirkung glaubt.331 Was Pau­ lus dagegen meint, ist, so Tyndale, nicht der Glaube, der durch Liebe hervor­ gerufen, sondern jener, der durch die Liebe wirksam wird.332 Gerade in dieser Kernfrage der Auseinandersetzung Tyndales mit Fisher wird deutlich, wie unterschiedlich die theologischen Grundbegriffe von beiden Seiten verstan­ den werden. „Evan­ge­lium“ und „Glaube“ werden inhaltlich so unterschied­ lich gefüllt, dass eine Verständigung, selbst wenn sie gewollt gewesen wäre, wohl nicht mehr möglich war. no man but killeth only with the spiritual sword the word of God such cankered con­ sciences as Rochester hath“. 326  Vgl. Fisher, S. 95. 327  Ebd.: „Rochester and his holy brethren have burnt Christ’s testament: an evident sign verily that they would have burnt Christ himself also if they had had him“. 328  Ebd. 329  Vgl. a.a.O., S. 87 f. 330  Obedience, PS 1, S. 221 f (PC, S. 79): „Which text he wise Englisheth: faith which is wrought by love, and maketh a verb passive of a verb deponent“. Tyndale bezieht sich auf die lateinische Übersetzung des Erasmus, der ebenfalls das Partizip „operans“ verwendet, vgl. Fisher, S. 119 (Kommentar). Marc’hadour, Fisher’s Sermon, S. 150–153 versucht, Tyndale Ungenauigkeit im Umgang mit Fishers Übersetzung nachzuweisen, verkennt jedoch Tyndales theologische Stoßrichtung. 331  Vgl. Obedience, PS 1, S. 222 (PC, S. 79): „I must first love a bitter medicine (after Rochester’s doctrine) and then believe that it is wholesome“; vgl. ebd.: „Doth a child love the father first and then believe that he is his son or heir or rather because he knoweth that he is his son or heir and beloved, therefore loveth again?“. 332  Vgl. a.a.O., S. 223 (PC, S. 80): „Faith that loveth God’s commandments justifieth a man. If thou believe God’s promises and love the commandments then art thou safe. If thou love the commandment then art thou sure that thy faith is unfeigned and that God’s spirit is in thee“.

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3.3.5.4  Gegen den Ausschluss von Laien von der Herrschaft Relativ unvermittelt kommt Tyndale von der „Abrechnung“ mit Fisher auf sein eigentliches Thema zurück: Die Ausübung politischer Herrschaft, und er greift dazu den Faden der Differenz von Laien und Klerus wieder auf.333 Seine Frage lautet: „What is the cause that lay men cannot now rule“?334 Die Antwort, die er gibt, ist eindeutig: Grund ist die jahrhundertelange Diskre­ ditierung der Herrschaft von Laien durch das Papsttum, das sich selbst an die Stelle der von Gott eingesetzten Obrigkeiten gesetzt hat.335 Dass die Laien sich nicht von kirchlicher Bevormundung „emanzipiert“ haben, rührt von ihrem (falschen) Vertrauen auf die vom Papsttum eingesetzten Zeremonien und Bräuche336 her und dem (Irr-) Glauben, diese könnten den Heiligen Geist hervorbringen und die Sünden fernhalten.337 Gegen das römische System der Ausnutzung menschlicher Ängste zuguns­ ten des eigenen Machtzuwachses setzt Tyndale den Glauben an Gottes Ver­ heißungen in Christus.338 Auf dem Felsen dieses Glaubens ist die Kirche Christi gebaut und nicht auf dem Amt des Papstes. Der Glaube bringt den Heiligen Geist (Apg 19,2), nicht die religiösen Handlungen der Papstkirche. 333  Vgl. a.a. O., S. 224 (PC, S. 82): „But let us return at the last unto our purpose again“. 334  Ebd. 335  Vgl. ebd.: „Antichrist with the mist of his juggling hath beguiled our eyes and hath cast a superstitious fear upon the world of Christian man, and hath taught them to dread, not God and his word, but himself and his word: not God’s law and ordinances, princes and officers which God hath set to rule the world, but his own law and ordinances“. 336  Tyndale nennt „holy water, holy bread, holy salt, hallowed bells, holy wax“ (a.a.O., S. 225; PC, S. 82). 337  Als Zeitraum der Perversion des Gehorsams durch das Papsttum erkennt Tyndale die letzten hundert Jahre, vgl. Obedience, PS 1, S. 224 (PC, S. 82): „we see by daily ex­ perience of certain hundred years long, that he which feareth neither God nor his word, neither regardeth father, mother, master, or Christ himself, which rebelleth against God’s ordinances riseth against kings and resisteth his officers, dare not once lay his hands on one of the Pope’s anointed“. Diese Zeitangabe hat zu der Vermutung Anlass gegeben, Tyndale beziehe sich hier auf die Entstehung der Lollardenbewegung (vgl. Ohst, Tyndale, S. 146: „Mit dieser Zeitangabe gibt er eindeutig zu erkennen, daß er sich und seine Bestrebungen in Kontinuität zu den frühen Anhängern Wyclifs weiß“). Das Problem an dieser Deutung ist, dass Tyndales Aussage nicht eindeutig genug ist, um einen Bezug zu den Lollarden herzustellen: Das Wirken Wyclifs selber lag 1528 eher 150 Jahre zurück, die Verurteilung Wyclifs durch das Konstanzer Konzil 1418 110 Jahre. Tyndale könnte mit dieser Zeitan­ gabe genauso gut allgemein auf das Wiedererstarken des Papsttums im 15. Jahrhundert hinweisen wollen, was im Kontext seiner Papsttumskritik wahrscheinlicher ist. Vgl. auch Bucer; Summary (1523), BDS 1, S. 107,7–108,18: „Mit falschen wundern und zeichen hat man die leüt uff des Antichrists leer gefuert und behalten, die dann krefftig yrrthumb brocht und erhalten haben bey allen, so die liebe der worheit nit haben uffgenommen“ (S. 107,7–10). 338  Vgl. Obedience, PS 1, S. 225 (PC, S. 82): „a steadfast faith or belief in Christ and in the promises that God hath sworn to give us for his sake“.

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Es gilt darum, die Laien aufzuklären: „let them tell the people what it mea­ neth: and not set up a bald and naked ceremony without signification“339. Dem beklagenswerten Zustand der Christenheit unter dem Papsttum, das Tyndale mit dem „falschen Gesalbten“ (Mk 13,6) identifiziert, stellt er ein ek­ klesiologisches Gegenmodell entgegen und entwirft in wenigen Umrissen das Bild einer charismatischen Sukzession durch die Salbung mit dem Geist: Wie Gott Christus mit dem Heiligen Geist salbte, so salbte dieser die Apostel. Diese wiederum bestimmten Männer zu Bischöfen oder Aufsehern, die von demselben Geist erfüllt waren, damit sie das Wort Gottes weitergaben.340 Eine solche Kirche hat darum „wahre Gesalbte“ als Amtsträger.341 3.3.6  Polemik gegen das Papsttum als Antichrist Das Stichwort der „Salbung“ aufnehmend, ergänzt Tyndale seine Ausfüh­ rungen zur Rolle der Obrigkeiten um einen langen Passus, in dem er mit dem Papsttum als dem „Antichrist“ abrechnet. Die Abgrenzung von der Papst­ kirche vollzieht sich hier – wie bereits im Vorwort342 – vor dem Hintergrund eines apokalyptisch gefärbten dualistischen Gegensatzes zwischen der klei­ nen Schar der wahren Gemeinde Christi im Gegenüber zur bedrohlichen Macht der falschen Kirche des Papstes. Diese Terminologie macht deutlich, dass Tyndale sich selbst als Protagonisten eines endzeitlichen Kampfes ver­ stand, in dem es um nichts weniger ging, als um die Rettung der (englischen) Christenheit vor der Gefahr bleibender Verirrung in den Fängen der römi­ schen Kirche und damit der ewigen Verdammnis.343 Ihren wahren Charakter offenbart die Kirche des Antichrist in jenen Ver­ haltensweisen, die Tyndale schon mehrmals angeprangert hat: Sie verweigert den Laien den Zugang zur Schrift durch den Gebrauch des Lateinischen als Kirchensprache,344 um die Menschen auf diese Weise dumm und abhängig zu 339  340 

A.a.O., S. 226 (PC, S. 83). Vgl. a.a.O., S. 228 f (PC, S. 85 f): „God anointed his son Jesus with the Holy Ghost, and therefore called him Christ, which is as much to say as anointed […] Christ when he had fulfilled his course, anointed the Apostles and disciples with the same Spirit and sent them forth without all manner disguising like other men also, to preach the atonement and peace which Christ had made between God and man“. Vgl. Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524), BDS 2, S. 147,10 f: „Die Kirch seind alle glaeubigen, die entpfahen den geist Gottes, nenne es gleich am fürnemesten oder wie du wilt“. 341  Für sie gelten – Tyndale zufolge – die Kriterien, die in den Pastoralbriefen aufge­ führt werden (Ehe, Anspruch auf Lebensunterhalt; Diakone als Helfer des Bischofs, rechte Heiligenverehrung), vgl. Obedience, PS 1, S. 229 f (PC, S. 86 f). 342  S.o. 3.3.3. 343  Zur Rolle des „Antichristen“ bei Luther vgl. Leppin, S. 147–150. 344  Vgl. Obedience, PS 1, S. 234 (PC, S. 90): „It is verily as good to preach it to swine as to men, if thou preach it in a tongue they understand not […] How shall I believe the truth and promises which God hath sworn, while thou tellest them unto me in a tongue which I understand not?“.

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halten.345 „Die hierarchische Kirche beherrscht durch ihre angemaßte Voll­ macht der Sündenvergebung die Gewissen; sie macht Könige und Herrscher zu ihren Marionetten“346. Wer immer sich dem päpstlichen Machtanspruch widersetzt, wird mit dem Interdikt belegt und durch vom Papst angestachelte Fürsten mit Krieg überzogen.347 Die Gier des Papstes nach Besitz und Ein­ fluss endet nicht im irdischen Bereich.348 Mithilfe der Lehre vom Purgato­ rium versucht er, auch über die Toten zu gebieten und davon finanziell zu profitieren. Der Papst strebt danach: „to have one kingdom more than God himself hath“349. Ohst fasst Tyndales Grundaussage daher treffend zusam­ men: „Der Papst und die Seinen haben auf allen Ebenen den Lehrauftrag Christi zur Grundlage eines umfassenden Ausbeutungssystems der Abgaben und Gebühren pervertiert“350. Wie soll sich aber nun ein gläubiger Christenmensch angesichts dieses Ab­ falls von der wahren Lehre Christi verhalten? Tyndales Antwort liegt auf der Linie seines Obrigkeitsverständnisses, demzufolge auch Missstände nicht mit Gewalt „von unten“ verändert werden dürfen. Es bleibt dem Christenmen­ schen darum nur eine mögliche Haltung: „a Christian man must suffer all things, be it never so great unright, as long as it is not against God’s commandment“351.

345  Vgl. a.a.O., S. 233 (PC, S. 89): „now say our bishops, because the truth is come too far abroad and the lay people begin to smell our wiles, it is best to oppress them with craft secretly and tame them in prison“. 346  Ohst, Tyndale, S. 148. 347  Vgl. Obedience, PS 1, S. 235 (PC, S. 91): „One craft they have, to make many king­ doms and small, and to nourish old titles or quarrels that they may ever move them to war at their pleasure. And if much land by any chance, fall to one man, ever to cast a bone in the way, that he shall never be able to obtain it, as we now see in the Emporer. Why? For as long as the kings be small, if God would open the eyes of any to set a reformation in his realm, then should the Pope interdict his land, and send in other princes to conquer it“. Möglicherweise spielt Tyndale hier auf den Konflikt zwischen Karl V. und Franz I. an, der in zeitlicher Nähe zum Abfassungszeitpunkt von „Obedience“ im „Sacco di Roma“ (MaiJuni 1527) seinen grausamen Höhepunkt erreicht hatte. 348  Vgl. ebd.: „They are not content to reign over king and Emporer and the whole earth: but calling authority also in heaven and in hell“. 349  Ebd.; Lakonisch hält Tyndale als Motto der kirchlichen Geldeinnehmer fest: „What cometh in once, may never come out“ (a.a.O., S. 236, PC, S. 92); vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 115,27–116,33; s.u. 6.1.2. 350  Ohst, Tyndale, S. 147. 351  Obedience, PS 1, S. 239 (PC, S. 94 f); vgl. WA 11, S. 267,22 ff (Von weltlicher Oberkeit, 1523) „Frevel soll man nicht widderstehen sondern leyden, Man soll yhn aber nicht bil­ lichen, noch datzu dienen oder folgen odder gehorchen mit eym fußtritt odder mitt eynem finger“.

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Die Hoffnungen Tyndales, das Gesicht der von Christus abgefallenen Papst­ kirche zu verändern, ruhen allein auf den wahrhaft christlichen Herrschern, von denen er jedoch nüchtern feststellt, sie seien „seldom seen“352. Eine Ver­ änderung kann nur „von oben nach unten“, d.h. durch den König, erfolgen.353 Dass Tyndale, der um die Korrumpierbarkeit der Mächtigen weiß (sein eige­ ner König ist ja ein sprechendes Beispiel für die Unberechenbarkeit eines Mon­ archen), so strikt an der Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Herrscher fest­ hält, ist für den modernen Leser erstaunlich. Offenbar rechnet Tyndale – bei allem politischen Realismus – damit, dass Gott selbst durch sein Wort wirk­ mächtig eingreifen und auch (unberechenbare) Könige zu seinem Dienst beru­ fen kann.354 Die Maßnahmen, die ergriffen werden müssten, um die Kirche wieder auf den rechten Weg zu bringen stellt Tyndale jedenfalls klar vor Augen:355 Es gilt, die Trennung von Klerikern und Laien aufzuheben und die eigene Ge­ richtsbarkeit für Kleriker abzuschaffen.356 Die Bewertung von Lehrfragen 352  Obedience, PS 1, S. 239 (PC, S. 95); vgl. ebd.: „The kings ought I say to remember that they are in God’s stead and ordained of God not for themselves, but for the wealth of their subjects. Let them remember that their subjects are their brethren, their flesh and blood, members of their own body and ever their own selves in Christ“; vgl. WA 11, S. 273,7 ff (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Auffs erst muß er [d.i. der Fürst] ansehen seyn unterthan und daselb seyn hertz recht schicken. Das thut er aber denn, Wenn er alle seynen synn da hyn richtet, das er den selben nutzlich und dienstlich sey“. 353  Ohst hat in Tyndales Appell an den König, sich dem Einfluss des Papstes zu verwei­ gern, eine Erinnerung an „altes Königsrecht“ (Ohst, Tyndale, S. 149) und damit die Beru­ fung auf lollardische Traditionen gesehen (dazu ausführlich s.u. 3.4.3.3). Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass Tyndale sich bewusst ist, wie wenige Monarchen dem Bild eines wahrhaft christlichen Herrschers entsprechen: „Who slew the prophets? Who slew Christ? Who slew his Apostles? Who all the martyrs and all the righteous that ever were slain? The kings and the temporal sword at the request of the false prophets“ (Obedience, PS 1, S. 242, PC, S. 98; vgl. WA 11, S. 267,30 f, Von weltlicher Oberkeit, 1523: „Und solt wissen, das von anbegynn der wellt gar eyn seltzam vogel ist umb eyn klůgen fursten, noch viel seltzamer umb eyn frumen fursten“). 354  Tyndale selbst hält bis zu seinem Tod an dieser Hoffnung fest (s.u. 7.8.4); vgl. dazu auch WA 11, S. 277,28–278,12 (Von weltlicher Oberkeit, 1523); Bucer, Das ym selb (1523), BDS 1, S. 58,14–17: „Deßhalb, dieweil auch taeglich erfarung anzeygt, so die gottlosen herrschen, das erseüfftzet das volck, und aber das hertz des künigs und on zweifel aller oe­ bren ist in der handt des herren, das ers wendt wo er hyn will“. 355  Damit nimmt Tyndale für sich selbst eine Position in Anspruch, als Ausleger des Gotteswortes auch Herrschenden Ratschläge erteilen zu können (s.u. 3.4.3.2); vgl. WA 6, S. 413,1 ff (An den christlichen Adel, 1520): „dan wo der bapst widder die schrifft handelt, sein wir schuldig, der schrifft bey zustehen, yhn straffen und zwingen“. 356  Vgl. Obedience, PS 1, S. 240 (PC, S. 96): „Yet Antichrist is too good to bejudged by the law of God: he must have a new of his own making“; vgl. WA 6, S. 409,16–20 (An den christlichen Adel, 1520): „Drumb sag ich, die weil weltlich gewalt von got geordnet ist, die boszen zustraffen und die frumen zuschutzen, szo sol man yhr ampt lassen frey gehn un­ vorhyndert durch den ganzen corper der Christenheit, niemants angesehen, sie treff Bapst, Bischoff, pfaffen, munch, Nonnen, odder was es ist“.

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

soll nach der Schrift geschehen, nicht ohne die Mitwirkung von Laien,357 und wenn kirchliche Instanzen Lehrverurteilungen treffen, sollen sich die welt­ lichen Autoritäten selbst eine Prüfung nach Gottes Wort vorbehalten.358 Wo ein christlicher König eine Reform der Kirche im Sinne des Evan­ge­ liums anstrebt, wird er jedoch von den Vertretern der Papstkirche daran ge­ hindert werden. Tyndale mahnt darum seine Leserschaft, sich mit eigener Kompetenz in der Schriftauslegung zu wappnen.359 Besonders der König soll bei seinen Urteilen die Schrift befragen.360 Dies ist möglich, weil die Schrift sich selbst auslegt: „One scripture will help declare another. And the circumstances, that is to say, the places that go before and after, will give light unto the middle text“361.

Tyndale stellt der papstkirchlichen „Verdunkelung“ des Wortes Gottes also ein Bildungsprogramm für Obrigkeiten und Untertanen entgegen, das auf ein christliches Gemeinwesen zielt, dessen Grundlage die Schrift selbst ist. 3.3.7  Von falscher und richtiger Frömmigkeit Wie aber sieht eine christliche Lebensführung aus, die sich auf der Schrift gründet? Diese Frage mag den Lesern gekommen sein, die Tyndales reforma­ torische Standortbestimmung im ersten Teil von „Obedience“ nachvollzogen 357  Vgl. Obedience, PS 1, S. 240 f (PC, S. 96): „If any question arose about the faith or of the scripture, that let them judge by the manifest and open scriptures, not excluding lay men. For there are many found among the lay men which are as wise as the officers“; vgl. WA 6, S. 412,20–23 (An den christlichen Adel ,1520): „Ubir das, szo sein wir yhe alle priester […] alle einen glauben, ein Evangely, einerley sacrament haben, wie solten wir den nit auch haben macht, zuschmecken und urteylen, was do recht odder unrecht ym glaubenn were?“ 358  Vgl. Obedience, PS 1, S. 241 (PC, S. 97): „Let not the king nor temporal officers ­punish and slay by and by at their commandment [gemeint ist das Urteil kirchlicher In­ stanzen, Anm.]. But let them look on God’s word, and compare their judgment unto the scripture and see whether it be right or no“. Ohst; Tyndale, S. 148, missdeutet m.E. Tyn­ dales Intention, wenn er behauptet: „Für Tyndale heißt das konkret: Nur der König als König ist befugt, Häresie festzustellen und zu strafen“. Worum es Tyndale geht, ist die Bestreitung des papstkirchlichen Monopols auf die Beurteilung von Lehr- und Glaubens­ fragen und die Begrenzung der Kompetenzen des Klerus auf den geistlichen Bereich, nicht aber die Position des Königs um ihrer selbst willen herauszustellen (vgl. Obedience, PS 1, S. 240, PC, S. 95 f: „Moreover the spiritual officer ought to punish no sin, but and if any sin break out the king is ordained to punish it and they not: but to preach and exhort them to fear God and that they sin not“; vgl. auch Rupp, Making of, S. 77 f). Freilich geht Tyndale hier nicht so weit wie Luther, der eine „offizielle“ Beurteilung dessen, was die Seele anbelangt, ganz ablehnte, vgl. WA 11, S. 262,3–30 (Von weltlicher Oberkeit, 1523). 359  „Be learned“ ruft Tyndale seinen Lesern wiederholt zu, vgl. Obedience, PS 1, S. 243.247.249 (PC, S. 99.103.105). 360  Vgl. a.a.O., S. 250 (PC, S. 106): „The king ought to look in the scripture and see whether it were truly condemned or no, if he will punish it“. 361  A.a.O., S. 250 (PC, S. 105 f).

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haben. Tyndale nimmt den Klärungsbedarf auf und geht dabei zunächst auf die Formen der praxis pietatis ein, die seiner Leserschaft bekannt ist. Unter der Überschrift „Of the sacraments“362 behandelt er die verschiedenen Zeichen­ handlungen der papstkirchlichen Praxis, bewertet sie nach dem Maßstab der Schrift und stellt ihnen die Elemente einer evangelischen Frömmigkeit, Ge­ bet und Schriftstudium, gegenüber. Auf diese Weise erhalten seine Lesern eine Art Katechismus für ihr Leben mit der Schrift. 3.3.7.1  Die Missdeutung der Sakramente durch den Antichrist und ihre wahre Bedeutung Tyndale beginnt seine Ausführungen mit einer Definition des Sakramentsbe­ griffs: Sakramente sind für ihn „holy signs“363, die eine Verheißung Gottes bezeichnen, wie beispielsweise der Regenbogen (Gen 9) als Zeichen Gottes Versprechen verbürgt, „that he would no more drown the world through water“364. Für Tyndale ist also – wie für Luther – der Zusammenhang zwi­ schen biblischem Verheißungswort und Zeichen konstitutiv für das Sakra­ mentsverständnis.365 Für das Abendmahl gilt: „[it] hath a promise annexed which the priest should declare in the English tongue“366. Für seine im Umgang mit der Schrift noch ungeübte Leserschaft fügt Tyndale seine Übersetzung der Einsetzungs­ worte (Mt 26,26–28)367 an, denn nur wer tatsächlich versteht, was Gott mit den Zeichen von Brot und Wein zusagt, für den gilt: „thou have this promise fast in thine heart […] and believest it, so art thou saved and justified thereby“368. Aus dem gleichen Grund soll auch bei der Taufe nicht die lateinische For­ mel, sondern Englisch gesprochen werden, so dass die Eltern und Paten ehr­ 362  363  364 

A.a.O., S. 252 (PC, S. 108). Ebd. Ebd.; vgl. WA 6, S. 514,34 ff (De captivitate Babylonica, 1520): „Post hanc secuta est promissio alia, facta Noe, usque ad Abraham, dato pro signo foederis arcu nubium, cuius fide ipse et posteri eius propitium deum invenern[sic!]nt“. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 110,3, hebt hervor, dass die wahren Zeichen in der Schrift den Zweck haben: „zů be­ krefftigen sein wort“; vgl. Stephens, Bucer, S. 213–216. 365  Vgl. WA 6, S. 518,13 ff (De captivitate Babylonica, 1520): „Ex quibus intelligimus, in qualibet promissione dei duo proponi, verbum et signum, ut verbum intelligamus esse testamentum, signum vero esse sacramentum“. 366  Obedience, PS 1, S. 252 (PC, S. 108). 367  Anders als von Tyndale im Text selbst angegeben (vgl. ebd.; in PC gibt der Hg. fälschlich Lk 12 statt 22 an), zitiert er nicht die paulinische oder lukanische Version der Einsetzungsworte, sondern die auf die Vergebung der Sünden zielende Fassung des Mat­ thäus. 368  Obedience, PS 1, S. 252 f (PC, 108 f); vgl. WA 6, S. 230,10–231,15 (Von den guten Werken, 1520); zu Bucer vgl. die Aussagen im Evangelienkommentar von 1527, zitiert bei Lang, S. 411–432 (Taufe) und S. 433–445 (Abendmahl).

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lich mit „ja“ antworten und das Kind daraufhin im Namen des dreieinigen Gottes getauft werden kann.369 „The washing without the word helpeth not: but through the word it purifieth and cleanseth us“370 – Abendmahl und Taufe werden so dem Verkündigungsgeschehen der Predigt an die Seite ge­ stellt, da auch in ihnen Gottes Verheißungswort zugesagt wird.371 Sie sind verba visibilia, die in Verbindung mit dem Verheißungswort den Glaubenden predigen.372 Indem er seine Definition des Sakraments auch auf die übrigen sieben sak­ ramentalen Handlungen der römischen Kirche anwendet, übernimmt Tyn­ dale das Vorgehen Luthers in „De captivitate babylonica ecclesiae“ (1520) und kommt wie dieser zu dem Ergebnis, dass nur das Sakrament des Leibes und Blutes Christi sowie die Taufe als wirkliche Sakramente gelten dürfen. Sie al­ lein verbinden Zeichen und Verheißungswort. Die übrigen religiösen Hand­ lungen werden von Tyndale nach ihrem Wert für das christliche Leben be­ fragt und gewürdigt, indem ihr Anhalt an der Schrift nachgewiesen und zu­ gleich der papstkirchliche Missbrauch aufgedeckt wird. Ehe und kirchliche Ämter Tyndale räumt der Ehe eine hervorgehobene Position als gottgewollte Ord­ nung ein, in der beide Partner zum Dienst aneinander verpflichtet sind.373 Weil ihr jedoch ein explizites Verheißungswort fehlt, beschränkt sich der „Verheißungscharakter“ der Ehe allein darauf, dass in ihr die Vereinigung von Mann und Frau ohne Sünde vollzogen werden kann.374 Da der Genuss 369  Vgl. Obedience, PS 1, S. 253 (PC, 109): „The priest before he baptiseth asketh say­ ing: believest thou in God, and in his Son Jesus Christ, and in the Holy Ghost, and that the congregation of Christ is holy? And they say yea. Then the priest upon this faith baptiseth the child“. 370  Ebd.: vgl. WA 6; S. 517,23–26 (De captivitate Babylonica, 1520): „Quocirca, accessu­ rus ad altare sive sacramentum accepturus caveat, ne vacuus appareat in conspectu domini dei. Vacuus autem erit, si fidem non habuerit in Missam seu testamentum hoc novum“. 371  Vgl. Obedience, PS 1, 253 (PC, 109): „Now as a preacher in preaching the word of God saveth the hearers that believe, so doth the washing in that it preacheth and represen­ teth unto us the promise that God hath made unto us in Christ“. 372  Vgl. ebd.: „The washing preacheth unto us, that we are cleansed with Christ’s bloodshedding“. 373  Vgl. a.a.O., S. 254 (PC, S. 110): „Matrimony or wedlock is a state or degree or­ dained of God and an office wherein the husband serveth the wife and the wife the hus­ band“; vgl. WA 10,2, S. 275,12–276,8 (Vom ehelichen Leben, 1522). Luther versteht die Bezogenheit von Mann und Frau aufeinander im Sinne von Gen 1,27 als „gutte gemecht“ (a.a.O., S. 276,4). 374  Vgl. Obedience, PS 1, S. 254 (PC, S. 110): „It was ordained for a remedy and to in­ crease the world, and for the man to help the woman and the woman the man with love and kindness and not to signify any promise that ever I heard or read of in the scripture“; vgl. WA 6, S. 550,28 f (De captivitate Babylonica, 1520): „Quin nec signum est divinitus in­ stitutum in Matrimonio“.

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der Schöpfungsgaben Gottes, zu denen Tyndale auch die Sexualität zählt, aber auch sonst keine Sünde ist, sofern er maßvoll geschieht, kann die Ehe nicht als Sakrament betrachtet werden.375 Auch die Weihe für kirchlichen Ämter und Dienste verfügen weder über Verheißungswort noch über ein Zeichen.376 Ausgehend von den Begriffen „sacerdos“, „¥ereuV“ und „˜hE ko“ zeigt er auf, dass „Priester“ ursprünglich zwar tatsächlich einen Mittler zwischen Menschen und Gott bezeichnete, diese Funktion jedoch mit dem Kommen Christi als des ewigen Priesters obsolet geworden ist (Hebr 7–10). Dem character indelebilis, mit dem die römische Geistlichkeit ihren Status festschreiben will, wird damit die Grundlage ent­ zogen.377 Jeder Glaubende ist Priester mit Christus, eine Vermittlung nicht mehr nötig.378 Von Luthers Gedanken des Priestertums aller Glaubenden her bestimmt Tyndale positiv die Rolle des Amtes innerhalb der christlichen Gemeinde.379 Die biblischen Termini „presbyter“ bzw. „senior“ und „elder“ bezeichnen ihm zufolge Menschen, die das Amt der Lehre innehaben.380 Dieses Amt ist letztlich allen Christenmenschen aufgetragen und kann darum in Notzeiten auch von jedem Getauften im privaten Rahmen ausgeübt werden.381 Die Be­ rufung Einzelner zur öffentlichen Verkündigung in Lehre und Sakraments­ verwaltung geschieht durch die Beauftragung der Gemeinde.382 Nur im Fall, 375  Vgl. Obedience, PS 1, S. 254 (PC, S. 110): „as all manners meats and drinks have a promise that we sin not, if we use them measurably with thanksgiving“; Tyndale erinnert seine Leser hier auch an den deutlichen Widerspruch zwischen dem „praise of wedlock“ (ebd.) im Munde des altgläubigen Klerus und dessen eigener Praxis des Zölibats. 376  Vgl. WA 6, S. 560,19–567,31 (De captivitate Babylonica, 1520). 377  Vgl. Obedience, PS 1, S. 257 (PC, S. 112): „our spirituality (as they will be called) make themselves holier than the lay people“. 378  Vgl. a.a.O., S. 255 (PC, 111): „Of that manner is Christ a priest forever and all we priests through him and need no more of any such priest on earth to be a mean for us unto God“. 379  Vgl. WA 6, S. 407,9–411,8 (An den christlichen Adel, 1520); WA 11, S. 411,31–412,4 (Daß ein christliche Versammlung, 1523); vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 82,20 f: „Den geist gottes zů verston goettlich schrifft, so weit im glauben not, haben alle men­ schen“. Die prinzipielle Gleichheit aller Glaubenden vor Gott erläutert Tyndale anhand der Segenspraxis, vgl. Obedience, PS 1, S. 258 (PC, S. 113): „And by blessing understand not the wagging of the Pope’s or bishop’s hand over thine head, but prayer as when we say God make thee a good man, Christ put his Spirit in thee or give thee grace and power to walk in the truth and to follow his commandments etc“. 380  Vgl. Obedience, PS 1, S. 256 f (PC, S. 111 f): „to teach the younger and to bring them unto the full knowledge and understanding of Christ and to minister the sacraments which Christ ordained, which is also nothing than to preach Christs promises“. 381  Vgl. a.a.O., S. 256 (PC, S. 111): „in times of necessity every peron christeneth, so may every man teach his wife and household and the wife her children“. Vgl. WA 11, S. 413,7–22 (Daß eine christliche Versammlung, 1523). 382  Tyndale vergleicht diese Praxis mit der Ämtervergabe im staatlichen Bereich, vgl. a.a.O., S. 259 (PC, 114): „as we choose our temporal officers and read their duty to them

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dass ein ordentlich berufener Prediger entgegen dem Wort Gottes predigt, soll ihn die Gemeinde, wenn sie dies anhand der Schrift nachweisen kann, ab­ setzen. Das Amt der Verkündigung legitimiert sich für Tyndale also nicht aus sich selbst heraus, sondern ist funktionale Größe, die allein dem Wort Gottes dienen soll.383 Dies nimmt Tyndale explizit auch für sich selbst in Anspruch: „Was meine Autorität betrifft oder meinen Auftraggeber, so verweise ich – wie Christus – selbst auf das Zeugnis meiner Werke“384. Buße In großer Ausführlichkeit widmet sich Tyndale in fünf Abschnitten den ver­ schiedenen Komponenten des Bußsakraments (confessio, contritio, satisfactio, absolutio).385 Wiederum befragt er die Schrift nach der Bedeutung der Buße und erkennt einen Widerspruch zu Lehre und Praxis der Papstkirche.386 Wenn die Bibel nämlich von „met2noia“ bzw. „penitentia“ spricht, meint sie die Reue („repentance“), die dem Glauben vorangeht, d.h. konkret die „Her­ zensklage“ des Menschen („mourning and sorrow of the heart“387) darüber, dass er die Gebote Gottes nicht zu erfüllen vermag. Reue im Sinne der Schrift ist also die Disposition des Menschen, die notwendig ist, um Gottes Gnaden­ zusage annehmen zu können. Sie ist jedoch kein Sakrament, weil sie als solche unsichtbar ist und ihr ein sichtbares Zeichen fehlt.388 Das Zeichen, das Tyndale eng mit der Reue verbunden sieht, ist die Taufe, die ja gerade das Sterben des alten sündhaften Menschen mit Christus be­ zeichnet.389 Geistlich ist der Christ durch die Gemeinschaft mit Christus schon gestorben, während er mit Blick auf seinen Leib noch im Kampf gegen die fleischlichen Lüste („the rebellion of the flesh“390) begriffen ist, der erst mit dem leiblichen Tod beendet sein wird.391 Insofern ist der Glaubende simul and they promise to be faithful ministers and then are admitted“; vgl. WA 11, S. 413,7–414,21 (Daß ein christliche Versammlung, 1523). 383  Vgl. Stafford, S. 113 f. 384  Obedience, PS 1, S. 282 (PC, S. 135 f): „And as for mine authority or who sent me: I report me unto my works as Christ“ (Tyndale bezieht sich auf Joh 5,36 u. 10,37 f); zu sei­ nem Selbstverständnis vgl. auch a.a.O., S. 285 (PC, S. 138); DeCoursey, Semiotics, S. 75; Duerden, Kingdoms, S. 121 f ; s.u. 3.4.3.2. 385  Vgl. Ohst, Buße, Sp. 1913–1916, besonders Sp. 1914. 386  Vgl. Obedience, PS 1, S. 260 (PC, S. 115): „Penance is a word of their own forging to deceive us withal“. 387  A.a.O., S. 261 (PC, S. 115). 388  Vgl. WA 1, S. 233,10–15 (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, 1517). 389  Vgl. Obedience, PS 1, S. 261 (PC, S. 116): „We are buried for him in baptism for to die, that is, to kill the lusts and the rebellion which remaineth in the flesh“; zum Zusam­ menhang von Taufe und Beichte bei Luther vgl. Bayer, S. 244 f. 390  Obedience, PS 1, S. 261 (PC, S. 116). 391  Vgl. den Abschnitt bei Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 93,19–94,10 der über­ schrieben ist mit: „Zů der liebe hat der glaub diß werck auch, das er mit casteyung das

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peccator et iustus392 und die Reue ein fester und notwendiger Bestandteil im Prozess der Heiligung durch das Werk des Geistes.393 Was Ohst für Luthers Bußverständnis feststellt, gilt damit auch für Tyndale: „Die B[uße] ist mithin […] kein periodisch vorgeschriebener oder separat-einmaliger Sonderakt, sondern die lebenslang immer neu sich ereignende Konstitution christl[icher] Existenz im Glauben, geschenkt durch Gottes geisttragendes Wort“394. Der zweite Topos des Bußsakraments, dem sich Tyndale zuwendet, ist die confessio.395 Mithilfe der Schrift differenziert er zwischen dem (Glaubens-) Be­ kenntnis dessen, in das wir unser Vertrauen setzen (Mt 10,33; Röm 10,10) und dem Bekenntnis der Sünden, das dem Glauben vorangeht und ihn beglei­ tet (Beichte). Letzteres ist Ausdruck des Status der Glaubenden als simul pecca­ tor et iustus.396 Ersteres hingegen ist zu verstehen als menschliche Antwort auf die in Christus erfahrene Liebe Gottes, in deren Vollzug der Glaubende ver­ sichert wird, auch tatsächlich gerechtfertigt zu sein.397 Von dem (notwendigen) lebenslangen Sündenbekenntnis grenzt Tyndale die römische Ohrenbeichte (confessio oris) als „work of Satan“398 scharf ab. Als geistbeschenktes Wesen („a spiritual thing“399) trägt ein Christenmensch Gottes Wort im Herzen und braucht für den Zuspruch der Vergebung nicht das Ohr eines anderen.400 Mit Luther ist sich Tyndale einig in der Ablehnung fleisch zaemet und zů solchem das creütz des herren gern uff sich nimpt“ (93,19 ff). Im Hintergrund dieser Betonung der Abtötung des Fleisches bei Bucer und Tyndale steht wahrscheinlich Erasmus, vgl. Erasmus, Enchiridion (1518), Ausgewählte Schriften 1, S. 138–147. 392  Vgl. Althaus, Theologie, S. 211 ff; Lohse, Theologie, S. 280; Schwarz, Art. Luther, Sp. 579. 393  Vgl. Obedience, PS 1, S. 261 (PC, S. 116): „as concerning the working of the spirit we begin to live and grow every day more and more both in knowledge and also in godly living, according as the lusts abate“. 394  Ohst, Buße, Sp. 1916. 395  „Confession“ bezeichnet auch im Englischen „Beichte“ und „Bekenntnis“. 396  Vgl. Obedience, PS 1, S. 261 (PC, S. 116): „This confession is necessary all our lives long, as is repentance“. 397  Vgl. a.a.O., S. 262 (PC, S. 117): „Now if thou have true faith so seest thou the ex­ ceeding and infinite love and mercy which God hath showed thee freely in Christ: then must thou needs love again: and love cannot but compel thee to work and boldly to con­ fess and knowledge thy Lord Christ and the trust which thou hast in his word. And this knowledge maketh thee safe, that is, declareth that thou art safe already and certifieth thine heart and maketh thee feel that thy faith is right and that God’s spirit is in thee, as all other good works do“. 398  A.a.O., S. 263 (PC, S. 117). 399  A.a.O., S. 263 (PC, S. 118). 400  Vgl. a.a.O., S. 263 f (PC, S. 118): „When a man feeleth that his heart consenteth unto the law of God, and feeleth himself meek, patient, courteous and merciful to his neighbour, altered and fashioned like unto Christ, why should he doubt but that God hath forgiven him and chosen him and put his spirit in him, though he never cram his sin into the priest’s ear?“ Tyndale lässt auch Lk 17,14 als Schriftargument für die Ohrenbeichte nicht gelten, da es sich seines Erachtens bei den geheilten Aussätzigen, die Jesus zu den

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des papstkirchlichen Arguments, zur Vergebung der Sünden bedürfe es der genauen Kenntnis aller Verfehlungen.401 Wirkliche Erkenntnis der eigenen Sündigkeit kommt allein aus der Predigt von Gesetz und Verheißungen: „Wenn du das Gesetz und die Verheißungen predigst (wie es die Apostel taten), so wer­ den die, die Gott erwählt hat, umkehren, glauben und gerettet werden“402.

Mit der contritio cordis nimmt sich Tyndale einen weiteren Begriff der römi­ schen Bußlehre vor, den er jedoch synonym zur penitentia versteht. Ein „con­ trite heart“ ist für ihn ein „sorrowful and repenting heart“403. Die darüber hinausgehende Differenzierung von contritio und attritio404 lehnt Tyndale als papstkirchlichen Versuch der Einflussnahme auf die Glaubenden ab.405 Für ihn gilt schlicht: Wer seine Sünde bereut und bekennt, dem vergibt Gott; und wer sich dessen nicht sicher ist, möge sich einem gläubigen und gebildeten Mitchristen anvertrauen, der ihm Rat geben kann. Seine Sünden solle man dann nicht einem Priester, sondern gegenüber demjenigen bekennen, in des­ sen Schuld man steht.406 Auch die satisfactio operis versteht Tyndale darum anders als die römische Tradition und erkennt im Doppelgebot der Liebe die entscheidende mensch­ liche Verhaltensnorm, die auch die Buße bestimmt: Das Gebot der Nächsten­ liebe fordert, den Nächsten, dem Unrecht geschehen ist, zu entschädigen, ihn aber zumindest um Vergebung zu bitten.407 Diese wird er um Gottes Güte willen gewähren. Falls er es jedoch nicht tut, vergibt Gott die Sünden den­ noch um Christi willen, denn „mit Bezug auf Gott ist Christus eine dauer­ Priestern in den Tempel schickt, um Anhänger einer falschen Lehre handelt; sie sollen von den Priestern belehrt werden, nicht jedoch die Beichte abgenommen bekommen; er ver­ weist auf Beda Venerabilis (ca. 673–735), vgl. a.a.O., S. 264 (PC, S. 119). Hier unterschei­ det sich Tyndale von Luther, der die Ohrenbeichte als Zusage der Vergebung des „verbum solacii […] ex ore fratris“ (WA 6, S. 546,15 f, De captivitate Babylonica, 1520) durchaus wert­ schätzt. 401  Vgl. Obedience, PS 1, S. 264 (PC, S. 118); vgl. WA 6, S. 545,16 ff (De captivitate Baby­ lonica, 1520): „Taceo hic insuperabile cahos laboris, quod nobis imposuerunt, scilicet, ut omnium peccatorum formemus contritionem, cum hoc sit impossibile et minorem par­ tem peccatorum scire possimus“. 402  Obedience, PS 1, S. 264 (PC, S. 118): „If thou preach the law and the promises (as the Apostles did) so should they that God hath chosen repent and believe and be saved“; vgl. WA 6, S. 546,13 f (De captivitate Babylonica, 1520): „ut intelligant, multo maiori negotio sibi veritatem divinam esse spectandam, unde humilientur ex exaltentur, quam peccato­ rum suorum turbam“. 403  Obedience, PS 1, S. 265 (PC, S. 119). 404  Vgl. Ohst, Buße, Sp. 1915. 405  Vgl. Obedience, PS 1, S. 265 (PC, S. 119); vgl. WA 6, S. 544,32 ff (De captivitate Baby­ lonica, 1520): „His audatiores et peiores finxerunt quandam attritionem, quae virtute cla­ vium, quam ignorant, fieret contritio“. 406  Vgl. Obedience, PS 1, S. 266 (PC, S. 120): „To whom a man trespasseth unto him he ought to confess“; vgl. WA 6, S. 546,33–547,16 (De captivitate Babylonica, 1520). 407  Vgl. Obedience, PS 1, S. 267 (PC, S. 121).

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hafte und ewig gültige Satisfaktion für alle Zeiten“408..Nicht die Absolution der Papstkirche reinigt daher von der Sünde, sondern allein der Glaube an die Verheißungen, der aus der Predigt des göttlichen Wortes kommt.409 Explizit wendet sich Tyndale darum gegen die römische Begründung der Binde- und Lösegewalt des Papstes mit dem Felsenwort (Mt 16,18).410 Die Schlüsselgewalt kommt allein Christus zu und vollzieht sich in der Verkündi­ gung von Gottes Wort als Gesetz und Evan­ge­lium.411 Dementsprechend ist der Auftrag Christi an die Apostel und ihre Nachfolger als Verkündigungs­ auftrag zu verstehen.412 Eine Vermischung dieses spirituellen Auftrags mit weltlichen Machtansprüchen widerspricht der grundsätzlichen Unterschei­ dung von weltlichem und geistlichem Bereich.413 Firmung und Letzte Ölung Entsprechend seiner eingangs vorgetragenen Definition eines Sakraments stellt Tyndale auch mit Bezug auf die Firmung fest:

408  Ebd.: „unto God-ward Christ is a perpetual and an everlasting satisfaction forever more“. Die Freude Gottes über den reuigen Sünder illustriert Tyndale mit der „Geschichte vom verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32), deren Gnadenzusage er direkt an den Leser adres­ siert, vgl. ebd.: „if thou be gone astray come to the fold again and the sheperd Christ shall save thee, yea and the angels of heaven shall rejoice at thy coming“. 409  Vgl. a.a.O., S. 268 (PC, S. 122): „through faith and believing the promises, are we iustified“; die Differenzierung des Glaubensaktes in „faith“ und „believe“ ist im Deut­ schen begrifflich nicht nachzuvollziehen; Tyndale versteht darunter beide Aspekte: das„Vertrauen“ und das „Für-wahr-halten“. 410  Vgl. ebd.; vgl. Luthers Auslegung von Mt 16,18, z.B. in WA 6, S. 411,33–412,10 (An den christlichen Adel, 1520). 411  Vgl. Obedience, PS 1, S. 269 (PC, S. 123): „For when the law is preached all men are found sinners and therefore damned: and when the gospel and glad tidings are preached, then are all that repent and believe, found righteous in Christ“. 412  Vgl. a.a.O., S. 270 f (PC, S. 124 f): „Christ’s authority which he gave to his disciples, was to preach the law and to bring sinners to repentance, and then to preach unto them the promises […] As a king sendeth forth his judges and giveth them his authority saying: What ye do that do I. I give you my full power. Yet meaneth he not by that full power, that they should destroy […] or oppress […] or should reign over the lords and dukes of his realm and over his own self“. 413  Vgl. a.a.O., S. 270 (PC, S. 125): „And as the temporal judges bind and loose tempo­ rally, so do the priests spiritually and no other ways“. Darunter fällt für Tyndale der An­ spruch des Papstes, mithilfe des Schatzes der Kirche a pena et a culpa lossprechen zu können, vgl. ebd.: „How then came this foul monster [d.i. der Papst] to be lord over Christ’s me­ rits, so that he hath power to sell that which God giveth freely?“; vgl. WA 1, S. 235,7 f (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, 1517, These 36); vgl. Bucer, Summary (1523), S. 115,27–116,33). Auch die Heiligen sind nicht um ihrer Verdienste, sondern um Christi willen gerettet worden; ein thesaurus ecclesiae existiert darum nicht (vgl. Obedience, PS 1, S. 271, PC, S. 125: „First the merits of the saints did not save themselves but were saved by Christ’s merits only“).

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

„Wenn die Firmung eine Verheißung hat, dann rechtfertigt sie, so weit die Verheißung gilt. Wenn sie keine Verheißung hat, dann ist sie ebenso wenig von Gott, wie es die Bischöfe sind“414.

Da der Firmung aber eine biblische Legitimation fehlt, versteht Tyndale sie als das Produkt des Abfalls der Bischöfe, denen sie als Machtin­strument zur Kontrolle ihrer Bistümer dient.415 Der Geist, der nach römischer Lehre durch die Handauflegung übertragen wird,416 ist in Wahrheit an die Predigt und das Verheißungswort und nicht an äußerliche Handlungen gebunden.417 Auch die letzte Ölung ist aus diesem Grund kein Sakrament.418 Tyndale ist sich aber bewusst, dass er den sensiblen Kontext von Krankheit und Sterben berührt und gibt darum noch einmal grundsätzlich der Erkenntnis Raum, dass nicht die religiöse Handlung, sondern das Wort für das Heil entscheidend ist.419 Wer sein Vertrauen in die äußerlichen Werke setzt, geht davon aus, dass Gott vom Menschen ein Leben in Zwängen und religiösem Verdienststreben will.420 Diesem Bild eines grausamen Tyrannen, der sich am Leiden seiner Geschöpfe erfreut, hält er Gottes wahre Intention entgegen: „An unserem Schmerz erfreut Gott sich nicht, wie ein Tyrann es täte; sondern er hat Mitleid mit uns, klagt sozusagen mit uns und ist jederzeit da und zur Hilfe bereit, wenn wir ihn rufen, wie ein barmherziger Vater und eine liebevolle Mutter“ 421.

Hier zeigt sich deutlich, wie stark Tyndales Gottesbild von der Botschaft der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit geprägt ist. Auch die Widrigkeiten, de­ nen Menschen ausgesetzt sind, kann er als Ausdruck der Liebe interpretieren. 414  Obedience, PS 1, S. 273 (PC, S. 127): „If confirmation have a promise, then it justi­ fieth, as far as the promise extendeth. If it have no promise, then it is not of God as the bi­ shops be not“. Vgl. WA 6, S. 549,20–550,20 (De captivitate Babylonica, 1520). 415  Vgl. Obedience, PS 1, S. 274 (PC, S. 128): „After the bishops had left preaching, then feigned they this dumb ceremony of confirmation to have somewhat at the least way, whereby they might reign over their diocese“. 416  Vgl. ebd.: „that the Holy Ghost ist given through such ceremonies“. 417  Vgl. WA 18, S. 136,9–139,26(Wider die himmlischen Propheten, 1525). 418  Vgl. Obedience, PS 1, S. 275 (PC, S. 130): „Last of all cometh the anoiling without promise, and therefore without the Spirit and without profit, but alltogether unfruitful and superstitious“; vgl. WA 6, S. 567,32–571,23 (De captivitate Babylonica, 1520). 419  Vgl. Obedience, PS 1, S. 277 (PC, S. 130): „Behold how narrowly the people look on the ceremony“. Vgl. a.a.O., S. 279 (PC, S. 132): „The people are thoroughly brought to belief that the deed in itself without any further respect saveth them“; vgl. Bucer, Sum­ mary (1523), BDS 1, S. 112–116. 420  Vgl. Obedience, PC 1, S. 279 (PC, S. 133): „Thou must not forswear the natural ­remedy which God hath ordained and bring thyself into such case that shouldest either break God’s commandment or kill thyself or burn night and day without rest so that thou canst not once think a godly thought“. 421  A.a.O., S. 280 (PC, S. 133): „And as for our pain taking God rejoiceth not therein as a tyrant: but pitieth us and as it were mourneth with us and is all way ready and at hand to help us, if we call, as a merciful father and a kind mother“.

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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Gott handelt wie ein Arzt, indem er Anfechtungen auferlegt, um von der Sünde zu heilen „wie der Arzt und der Chirurg viele Dinge tun, die dem Kranken Schmerz zufügen […] um die Krankheiten zu behandeln und auszutreiben, die auf andere Art und Weise nicht geheilt werden können“422.

Das Leiden und die menschlichen Werke sind darum kein Weg zum Heil, denn dieses wird nur dort erfahren, wo Gottes Verheißungen von Herzen Glauben geschenkt wird.423 Wunder und Heiligenverehrung Der Wahrheitsgehalt von Wundern bemisst sich an ihrem Verhältnis zum Wort Gottes. Wunder, die tatsächlich von Gott kommen, sind solche, die zu seinem Wort hinführen und den Glauben schenken.424 Sie bestätigen somit die Wahrheit der Schrift und haben so eine unterstützende Funktion im Heilsgeschehen. Wo der Glaube durch Wunder stattdessen aber auf bestimmte Personen oder leere Zeremonien ausrichtet wird, ist der Antichrist am Werk.425 Seine „Wunder“ karikieren die wahre Bedeutung der Wunder als Bestätigung der Predigt.426 Auch der Glaube an die Fürsprache der Heiligen führt die Menschen in die Irre. Die Heiligen, die zu Lebzeiten nur auf Christus haben verweisen wollen,427 sind als „an example only“, als Vorbilder in ihrer Bezogenheit auf 422  Ebd.: „as the physician and surgeon do many things which are painful to the sick […] to persecute and to drive out the diseases which can not otherwise be healed“; vgl. WA 19, S. 625,29–626,6 (Ob Kriegsleute, 1526). 423  Vgl. Obedience, PS 1, S. 280 f (PC, S. 134): „For a Christian man is not saved by works, but by faith in the promises before all good works“. 424  Vgl. Obedience, PS 1, S. 287 (PC, S. 140): „All the true miracles which are of God are showed […] to move us to hear God’s word and to establish our faith therein“. Vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 110–112. 425  Vgl. ebd.: „And we for the great and infinite love which God hath to us in Christ, love him again, love also his laws and love one another. […] Contrarywise the miracles of Antichrist are done to pull thee from the word of God and from believing his promises and from Christ, and to put thy trust in a man or a ceremony wherein God’s word ist not“. Ein weiterer Unterschied zwischen Gottes Wundern und denen des Antichrist ist deren Zielrichtung: Gottes Wunder zielen auf das Gute, die des Antichrist dagegen auf das Geld derer, die sich etwas davon versprechen, vgl. a.a.O., 289 (PC, 142). 426  Vgl. a.a.O. S. 288 (PC, S. 141): „Paul, Peter, and all true Apostles preached Christ only. And the miracles did but confirm and establish their preaching“. Tyndale selbst be­ schreibt sich in seiner Rolle als Nachfolger der Apostel, besonders des Paulus, vgl. ebd.: “I am as safe as Paul, fellow with Paul, joint here with Paul of all the promises of God, and God’s truth heareth my prayer as well as Paul’s“. 427  Tyndale weist darauf hin, dass die römische Kirche auch viele Heilige kennt, die nicht um Gottes Wort willen als Heilige gelten, „but for privileges and liberties which they falsely purchased contrary unto God’s ordinances“ (Obedience, PS 1, S. 291, PC,

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Christus, zu behandeln.428 Rechtfertigung ist nicht von ihnen zu erwarten, denn allein die bedingungslose Liebe Gottes in Christus macht gerecht und bewirkt die wahrhaft guten Taten.429 Gegen die papstkirchliche Logik430 fragt Tyndale darum provozierend: „Take Christ away from the saints and what are they?“431 3.3.7.2  Elemente wahrer Frömmigkeit: Gebet und Schriftstudium Nach der theologischen Abrechnung mit der papstkirchlichen Lehre und Frömmigkeitspraxis, ändert Tyndale im Abschnitt zum Thema „Gebet“ den Tonfall. Die Polemik tritt zurück und an ihrer Stelle erscheint eine erbauliche Grundstimmung, so als ob Tyndale nach den notwendigen Klarstellungen und Abgrenzungen gegenüber der falschen Frömmigkeit der Papstkirche nun in ruhigem Ton seiner Leserschaft die wahre evangelische Frömmigkeit vor Augen führen wollte. Die Thematik des Gebets hatte Tyndale im Zusammenhang mit den Lie­ beswerken bereits in „Mammon“ angesprochen.432 In „Obedience“ erinnert er seine Leser daran, dass Grund und Ermöglichung des Zugangs zu Gott im Gebet aus der in Christus erfahrenen Liebe Gottes resultieren.433 Als von Gott in Christus Geliebte erfahren die Glaubenden in ihren Herzen die Zustim­ mung zu Gottes Geboten als Versicherung ihrer eigenen Rechtfertigung.434 S. 143); mit bitterer Ironie kann er mit Bezug auf Kardinal Wolsey hinzufügen: „I doubt not but that they will make a saint of my lord cardinal“ (ebd.). 428  Vgl. a.a.O., S. 289 (PC, S. 142): „For to us are the promises made as well as to them“. Tyndale geht auch im Einzelnen mit den papstkirchlichen Argumenten für die Heiligen­ verehrung ins Gericht. Schon die liturgische Bitte um Anrechnung der Verdienste der Heiligen ist für ihn absurd, weil sie mit der Gebetsformel „per Christum dominum nostrum“ (a a.O., S. 290, PC, S. 143) abgeschlossen wird. Weitere Argumente Tyndales gegen die Heiligenverehrung finden sich auch in seiner Auseinandersetzung mit Thomas More (s.u. 5.3.6.3). 429  A.a.O., S. 295 (PC, S. 148): „God looketh on our good deeds and loveth them, yet loveth us not for their sakes. God loveth us first in Christ of his goodness and mercy, and poureth his spirit into us, and giveth us power to do good deeds“. 430  Vgl. a.a.O., S. 295 f (PC, S. 148): „Antichrist turneth the roots of the tree upward. He maketh the goodness of God the branches and our goodness the roots […] so must God’s goodness spring of our goodness“. 431  A.a.O., S. 292 (PC, S. 145). Tyndale spitzt die Frage sogar auf seinen „Lieblingshei­ ligen“ Paulus zu: „What is Paul without Christ? Is he anything save a blasphemer, a perse­ cutor, a murderer, and a shedder of Christian blood?“; vgl. WA 18, S. 606,29 (De servo ar­ bitrio, 1525): „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?“ (vgl. dazu auch Althaus, Theologie, S. 258 f; Lohse, Theologie, S. 207 ff). 432  S.o. 3.2.9.1. 433  Vgl. Obedience, PS 1, S. 300 (PC, S. 153): „Prayer is the longing for the God’s pro­ mises“. 434  Vgl. ebd.: „The assurance that we are sons, beloved and heirs with Christ and have God’s spirit in us, is the consent of our hearts unto the laws of God“; vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 61,25–28: „Alsdann, so wir wore kinder worden seind, můsß unser

3.3  „The Obedience of a Christian Man“ (1528)

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Diese Erfahrung ist zugleich Ermöglichung und Grund der Fürbitte für den Nächsten: „Christus ist der Grund, warum ich dich liebe, warum ich bereit bin, das Äußerste in meiner Macht Stehende für dich zu tun und warum ich für dich bete […] solange Christus in meinem Herzen bleibt, werde ich dich lieben“435.

Im letzten Abschnitt von „Obedience“ kommt Tyndale schließlich auf sein Eingangsthema zurück, nämlich die Schrift als Grund aller Theologie, die er durch die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, als dem Grundübel der päpstli­ chen Irrlehre, bedroht sieht.436 Die papstkirchliche Interpretation der Schrift mithilfe der vier Lesarten (wörtlich, tropologisch, allegorisch, anagogisch) entwertet den wörtlichen Schriftsinn durch die Überschätzung der Allego­ rie.437 Für Tyndale gibt es nur einen Schriftsinn, und das ist der wörtliche. Wo der nicht berücksichtigt wird, ist die Exegese verfehlt. Zwar verwendet die Bibel selbst viele Allegorien, Vergleiche und Sprichwörter, aber gerade um sie richtig zu verstehen, ist der Leser auf den wörtlichen Sinn angewie­ sen.438 Allegorien sind für Tyndale deshalb mit Vorsicht zu genießen, weil sich mit ihrer Hilfe seines Erachtens alles aus der Schrift beweisen lässt – „as well out of a fable of Ovid or any other poet“439. hoechster fleiß sein, disem unserm aller liebsten und guetigisten vatter zů wilfaren und in allen dingen seinem gesatz noch leben“. 435  Obedience, PS 1, S. 298 (PC, S. 150 f): „Christ is the cause why I love thee, why I am ready to do the uttermost of my power for thee, and why I pray for thee […] as long as Christ remaineth in mine heart, so long I love thee“; vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 91,16–20: „Uß disem glauben, wie der mensch von gott durch Jhesum Christum er­ kennt, auß lautern gnaden und vergebens ym alle ding verluhen sein, und werden also, dieweil er in der lieb zů gott also ein überguetigen vatter entzündt, begert nun nichts hoehers, dann ym zů gefallen und danckbarkeit auch etwas thůn“. 436  Vgl. dazu auch die Untersuchung von Barnett, besonders S. 68–73. Die Autorin stellt zurecht fest, dass Tyndale der Allegorie, auch wenn er sie grundsätzlich skeptisch sieht, eine relative Bedeutung als Medium zur Vermittlung des wörtlichen Schriftsinns zugesteht: „Tyndale’s powerful utalitarian demand that all text and all religious practice should adequately perform a spiritual function allows allegory to sneak back in“ (a.a.O., S. 69, vgl. auch Greenblatt, S. 100–104). 437  Vgl. Obedience, PS 1, S. 303 (PC, S. 156): „They divide the scripture into four sen­ ses, the literal, tropological, allegorical, anagogical. The literal sense is becoming nothing at all“; zur „geystliche[n] bedeuttung“ (WA.DB 8, S. 28,24; Vorrede zum Alten Testament, 1523) bei Luther vgl. Althaus, Theologie, S. 90–93. 438  Um seinen Lesern klar zu machen, was er meint, erklärt Tyndale die Bedeutung von wörtlicher und allegorischer Interpretation anhand von Beispielen (vgl. Obedience, PS 1, S. 304 f, PC, S. 156 f), mit dem Ergebnis: „An allegory proveth nothing neither can do. For it is not the scripture, but an example or a similitude borrowed of the scripture to declare a text or a conclusion of the scripture more expressly, and to root it and grave it in the heart“ (a.a.O., S. 306, PC, S. 158 f). 439  A.a.O., S. 308 (PC, S. 160). Auch der Verweis auf 2 Kor 3 als Begründung für die allegorische Auslegungspraxis verfängt für Tyndale nicht, denn wer diese Stelle anführt,

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Kapitel 3:  Rechtfertigung und Gehorsam – Programmatische Schriften (1528)

Anhand von „law and stories“440 aus dem Alten Testament stellt Tyndale demgegenüber eine Auslegung biblischer Texte vor, die in der Identifizierung mit den biblischen Figuren das erbauliche Moment für den Glaubenden er­ kennt und damit modernen narrativen Ansätzen ähnelt:441 So wird Jakob zum Zeugen dafür, dass auch Gottes Erwählte ein schweres Schicksals treffen kann. David und Batseba machen die Sündigkeit aller Menschen offenbar und sind beispielhaft in ihrer Reue. Und die Geschichte von Noah und Ham zeigt die Unsicherheit der Erwählten, die in ihrem Verhalten nie vollkommen sind und dennoch Gnade Gottes erfahren.442 Allegorien und Vergleiche werden von Tyndale damit – in einem positiven Sinne – zu Mitteln der Predigt, die das geistliche Verständnis eines Textes er­ höhen. Auf diese Weise mit dem Wort Gottes gewappnet können die Leser aller päpstlichen Falschheit widerstehen.443

3.4  Theologische Einordnung 3.4.1  Soteriologische Schwerpunktsetzung 3.4.1.1  Rechtfertigung als Heilung durch den Geist der Liebe In der Analyse der Frühschriften Tyndales ist bereits seine Betonung der tat­ sächlichen Veränderung des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen heraus­ gestellt worden.444 Diese Beobachtung lässt sich auch mit Blick auf „Mam­ mon“ und „Obedience“ bestätigen. Auf der Grundlage von Luthers Recht­ fertigungslehre versteht Tyndale auch hier Gottes Handeln in Christus zugunsten der Erwählten als Prozess der Heilung, der in der Liebe Gottes wurzelt:445 Gottes in Jesus Christus sichtbare Liebe wird vom Geist in die missversteht Paulus’ Unterscheidung von Gesetz und Buchstabe, vgl. a.a.O. S. 309 f, (PC, S. 161 f). 440  A.a.O., S. 310 (PC, S. 162); s.u. 4.5.1. 441  Zur sehr verwandten Auslegungspraxis Bucers vgl. Müller, S. 142–150 (s.u. 4.5.1). 442  Tyndale nutzt die Geschichte zu einer bitterbösen Allegorie auf das Papsttum, das er mit Ham vergleicht: „our wicked Ham, Antichrist the Pope, which many hundred years hath done all the same that heart can think unto the privy members of God which is the word of promise or the world of faith“ (vgl. Obedience, PS 1, S. 311, PC, S. 164). Die (von mir kursiv gesetzten) „many hundred years“, von denen Tyndale spricht, entkräften m.E. die Überbewertung des Hinweises auf die „hundred years“ als Bezugnahme auf die Lol­ larden. 443  Tyndale ruft ihnen mit Eph 6,14 ff zu: „Gird on the sword of the spirit which is God’s word and take to thee the shield of faith“ (a.a.O., S. 328, PC, S. 177). 444  S.o. 2.7.2.3. 445  Vgl. WA 10,3, S. 284,24 f (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522): „Gleych wie er leyplich muß tzuvor gesundt seyn, ehe ehr arbeytt und gesunde werck thutt“.

3.4  Theologische Einordnung

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Herzen gegossen („poured into our hearts“446), so dass der Christenmensch Gott im Herzen fühlen kann („feeleth God in his heart“447). Mit dieser gött­ lichen Kraft ausgestattet, kann der Mensch nicht anders, als das Gesetz Gottes als „law of love“448 neu zu erkennen und zu befolgen. Rechtfertigung wird also von Tyndale als eine Art „Liebeskreislauf “ ver­ standen, in dem der Mensch durch Gottes Liebe von der Sünde befreit wird, um diese Liebe Gottes zu erwidern und sie seinem Nächsten gegenüber zu be­ zeugen. Rechtfertigung und Heiligung gehören zu ein und demselben Pro­ zess, der den Glaubenden erfasst. Dieses „ganzheitliche“ Verständnis der Rechtfertigung, das an vielen Stellen mithilfe einer familiären Metaphorik ausgedrückt wird,449 verbindet Tyndale mit Luther, für den der Glaube eben­ falls „ein Lebensakt, ein Lebensbewußtsein in allem Tun und Lassen“ 450 ist. Bei Tyndale hat diese Betonung einer effektiven Rechtfertigung jedoch ei­ nen etwas anderen Hintergrund als bei Luther.451 Für Luther ist der Aus­ gangspunkt der iustificatio die Christologie in der besonderen Gestalt der Kreuzestheologie.452 „Die Rechtfertigung allein durch den Glauben ist nicht ein Zweites, Neues gegenüber dem Glauben an Christus, sondern sie ist eben 446  447  448  449 

Mammon, PS 1, S. 71. A.a.O., S. 93. A.a.O., S. 94. Vgl. z.B. Mammon, PS 1, S. 83 f.87.95.107; Obedience, PS 1, S. 141.168.174.196.222. 267.294.297 f (PC, S. 12.31. 37.57.79.121.147.151). 450  Schwarz, Art. Luther, Sp. 582; vgl. McGrath, S. 200: „Luther does not make the distinction between justification and sanctification associated with later Protestan­ tism, treating justification as a process of becoming: fieri est iustificatio“; vgl. Stephens, Bucer, S. 48 f: „Bucer uses justification ambiguously. It means for him both to impute righ­ teousness and to impart it“. Gegen Trinterud, der versucht, mithilfe zweier Textstellen in „Mammon“ nachzuweisen, dass Tyndales Hervorhebung der durch den Heiligen Geist bewirkten Erneuerung des Menschen einen Weg beschreitet, der ihn von Luther weg­ führt: „There as here he [d.i. Tyndale] set upon his paraphrastic translation of Luther an orientation which was soon to become the mark of a non-Lutheran“ (Trinterud, Reap­ praisal, S. 33). Trinteruds Position lässt sich auf eine eingeschränkte Wahrnehmung der Theologie Luthers zurückführen (s.o. 2.7.1). Weder die Bezugnahme auf den Geist, noch die Betonung des Glaubens, „der den menschen gleych verneuwert, anderweitt gepyrtt und gantz ynn eyn new weyße unnd weßen furet“ (WA 10,3, S. 285,28 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522) entfernen Tyndale von Luther. Lediglich in der unterschied­ lichen Intensität, mit der beide die verschiedenen Aspekte betonen, kann man eine Diffe­ renz erkennen (vgl. Dick, Mammon, S. lxvii, Anm. 2). 451  Korsch, Glauben, S. 379 f, weist darauf hin, dass der „Streit zwischen einem de­ klaratorisch-forensischen und einem verwirklichend-effektiven Verständnis der Recht­ fertigungslehre“ bei Luther nichts austrägt, da beide Aspekte aufeinander bezogen sind und sich der „Zusammenhang von Glaube und Liebe […] erst aus der Gegenwart Gottes im Glauben“ (a.a.O., S. 380) erschließt. Zu Bucers effektivem Verständnis der Rechtferti­ gung vgl. Gäumann, S. 179–185. 452  Vgl. WA 2, S. 491,1–4 (Galaterkommentar, 1519): „Verum nomen domini nusquam clarius videbis quam in Christo: ibi videbis, quam bonus, suavis, fidelis, iustus, verax sit deus, ut qui proprio filio suo non pepercit. Hic te per Christum trahet ad seipsum“; vgl.

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dieser Glaube selbst, in seinem ganzen Ernst verstanden und auf die Heils­ frage der Menschen bezogen“ 453. Insbesondere die subjektive Erfahrung von Rechtfertigung wird von Luther als Geschehen zwischen Christus und dem Glaubenden beschrieben, als „fröhlicher Wechsel“454, als „ein Wunder, über das der dem Gericht und Tod Entronnene nicht genug staunen kann“455. Demgegenüber spielt die Christologie bei Tyndale eher eine Rolle im Hin­ tergrund.456 Auch für ihn ist Gottes Versöhnungswerk in Christus zwar dog­ matische Voraussetzung und in der Frage nach dem grundsätzlichen „wie“ der Rechtfertigung, nämlich per fidem und propter Christum, besteht kein Dis­ sens zu Luther.457 Doch Tyndales Fokus ist ein anderer: Bei ihm ist der dog­ matische Ort des Rechtfertigungsgeschehens viel stärker in der Pneumatolo­ gie zu suchen, denn die dritte Person der Trinität ist der entscheidende Ver­ mittler, der den Menschen von der Gefangenschaft des Teufels befreit und ihm die Liebe Gottes bezeugt. Aus beidem erwächst die Erwiderung der Liebe, und so bewirkt der Geist schließlich auch, dass der Glaubende seinem Nächsten in guten Werken die erfahrene Liebe bezeugt.458 Der geringere Umfang, in dem Tyndale bei dieser Beschreibung der sub­ jektiven Erfahrung von Rechtfertigung auf die Christologie zurückgreift, korrespondiert mit seiner Hervorhebung der Verheißungen („promises“) als eigentlichem Objekt des Glaubens.459 „Tyndale tends to refer not to faith in Christ, but to faith in the promises, placing emphasis in God’s mercy without setting this within a Christological context“460. Der Vereinigung des Glau­ benden mit Christus bei Luther entspricht bei Tyndale die gottgewirkte Ein­ wohnung des Geistes.461 Beide halten damit fest, dass Glaube und gute Werke nicht auf menschliche Initiative zurückgehen, sondern auf das Wirken Gottes: Slenczka, Christus, S. 381: „Daß die Christologie im Zentrum der Theologie Luthers steht, bedarf keiner Belege“; s.o. 2.7.2.2. 453  Althaus, Theologie, S. 196. 454  Luther erinnert seine Zuhörer gleich zu Beginn seiner Predigt zu Lk 16,1–9 (von Tyndale nicht übersetzt) an sein „buchlin von Christlicher freyheyt“ (WA 10,3, S. 283,2 f, Sermon von dem unrechten Mammon, 1522), in dem dieser Gedanke die zentrale Rolle spielt. 455  Bayer, S. 206; vgl. zum „fröhlichen Wechsel“ bei Luther auch a.a.O., S. 204– 207. 456  Vgl. Trueman, Legacy, S. 94. 457  Auch Tyndale spricht von einer „righteousness […] which springeth out of Christ’s blood“ (Mammon, PS 1, S. 75), daran lässt sich jedoch keine „Theologie Tyndales“ fest­ machen, wie es Werrell, Theology, S. 59 ff versucht. 458  Vgl. Knox, Doctrine, S. 5 f; Trueman, Legacy, S. 88, Anm. 19.90. 459  Vgl. z.B. Mammon, PS 1, S. 48.; vgl. Trueman, Legacy, S. 96, Anm. 55. 460  Trueman, Legacy, S. 88. 461  Vgl. WA 2, S. 504,6–9 (Galaterkommentar, 1519): „Qui autem in Christum credit et spiritu fidei unus cum eo factus est, iam non solum satisfacit omnibus, sed id quoque ef­ ficit, ut omnia sibi debeant, habens cum Christo omnia communia“; vgl. Mammon, PS 1, S. 85: „that Spirit worketh the will of God in thee“. vgl. McGrath, S. 201; Althaus, Theologie, S. 204: „Christus, den der Glauben ins Herz bringt, ist nicht allein kraft seiner

3.4  Theologische Einordnung

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Bei Luther primär in Gestalt seines Sohnes (unter „Mitwirkung“ des Geistes), bei Tyndale durch seinen Geist (auf der Basis des Heilswerkes des Sohnes).462 In dieser pneumatologischen Zuspitzung zeigt sich die schon an anderem Orte erkennbare Parallele zu Martin Bucer.463 Auch dieser sieht den Glauben­ den als Mensch „unter der Verfügungsgewalt des Hl. Geistes“464, d.h.: „Glaube entsteht aufgrund des Willens Gottes durch den Heiligen Geist“465. Der Geist wird so zum Subjekt der Rechtfertigung des Menschen, die Bucer bisweilen als eine „doppelte Rechtfertigung“ beschreiben kann, die über die aus Gottes Gnade im Glauben empfangene Gerechtmachung hinaus auch die Erneuerung und Heilung des Menschen umfasst.466 Dabei ist auch für den Straßburger Reformator die Liebe das entscheidende Verbindungsglied: „Die Liebe zu Gott konkretisiert sich in der Liebe zum Mitmenschen“ 467. Die Nächstenliebe bildet für Bucer nicht nur den Zielpunkt des Rechtfertigungsund Heiligungsgeschehens, sondern ist „Beweggrund und Triebkraft der ge­ samten Schöpfung“468. Diese schöpfungstheologische Akzentuierung ist bei Tyndale jedoch nicht so deutlich ausgeprägt wie bei Bucer, er hebt stattdessen – mit Luther – die Liebe des väterlichen Gottes als eigentliches Zentrum des Heilsgeschehens hervor. Tyndales rechtfertigungstheologischen Aussagen bilden gewissermaßen das theologische „Gerüst“, an dem vor allem in „Obedience“ das Thema des Gehorsams bzw. der christlichen Lebensführung in ihren sozialen Bezügen aufgehängt ist. Mit Duerden lässt sich festhalten: „Obedience is to a very large degree Tyndale’s meditation upon and application of justification to social experience“469. Damit ist schon der Grund für die Zuordnung von Rechtfer­ tigungslehre und Sozialethik genannt. Neben dem äußeren Anlass – dem Vorwurf, die Reformation verursache Unordnung und Aufruhr – gibt es ei­ nen inneren Zusammenhang von Rechtfertigung und Ethik, der im Gesche­ eigenen Gerechtigkeit des Menschen ‚fremde‘ Gerechtigkeit vor Gott, sondern er ist zu­ gleich wirkende Macht in dem Glaubenden“. 462  Auch Luther denkt natürlich die persönliche An- oder Zueignung des Rechtferti­ gungsgeschehens pneumatologisch (vgl. Bayer, S. 218: „Nicht nur das zum Glauben Kommen, sondern auch das im Glauben erhalten Werden und Bleiben ist Werk des Heili­ gen Geistes“), dennoch scheint mir der eigentliche Akzent seiner Rechtfertigungslehre in seiner Betonung der innigen Verbindung Christi und des Glaubenden zu liegen; vgl. McGrath, S. 201; Smeeton, Lollard Themes, S. 140 f. 463  S.o. 2.7.2.2. 464  Greschat, Bucer, S. 12. 465  Strohm, S. 121.; vgl. Stephens, Bucer, S. 104–109. 466  Vgl. Bornkamm, Bucer, S. 106 f; Strohm, S. 126. Bei Bucer ist diese Heilung viel stärker als bei Tyndale als restitutio des schöpfungsgemäßen Zustandes vorgestellt, vgl. Greschat, Bucer Reformator, S. 68 f. 467  Greschat, Bucer Reformator, S. 70. 468  A.a.O., S. 69. 469  Duerden, Justification, S. 72.

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hen der iustificatio-sanctificatio selbst liegt. Der gerechtfertigte Mensch wird, nach Tyndales Überzeugung, durch Gottes Geist so verändert, dass es für ihn ganz natürlich ist, sich an Gottes Gesetz zu halten und seine Ordnungen an­ zuerkennen.470 „Tyndale insists that the doctrine has practical impact, in par­ ticular a social impact“471. 3.4.1.2  Erwählungstheologische Akzente Tyndales Hervorhebung des Geistes im Rechtfertigungsgeschehen dient dem Zweck, die menschliche Mitwirkung an der Rechtfertigung auszuschließen. Trueman stellt darum zurecht fest: „This implies that the initiative for saving an individual must lie within the will of God, and thus raises the whole quest­ ion of Tyndale’s attitude to the doctrines of election and predestination“472. Tatsächlich bedient sich Tyndale in „Mammon“ und „Obedience“ stärker als noch 1525/1526 prädestinatianischer Denkfiguren, wenn er die unverdiente Gnade des Handelns Gottes herausstellen und damit zugleich die angefochte­ nen Brüder und Schwestern in England trösten will.473 Die Erwählten kön­ nen sich der Zuwendung Gottes sicher sein, auch wenn sie Menschen im Zu­ stand des simul peccator et iustus sind. Sie befinden sich schon auf dem Weg der Heiligung und der Abtötung der Lüste, geführt und gestärkt durch Gottes Geist. Tyndale formuliert jedoch keine „Prädestinationslehre“. Die Aussagen zur Erwählung dienen ihm vielmehr zur „Absicherung“ seiner soteriologischen Positionen und sind, wie Trueman richtig bemerkt, lediglich „a consequence of his doctrines of grace and anthropology“474, die an den Stellen gemacht werden, „when he needs to underline that salvation is by grace […] or when he asserts that man’s will is bound, preventing the individual from initiating his own salvation“475. Dies erklärt auch das Spannungsverhältnis von parti­ 470  Vgl. Luthers Begründung des Glaubens als erstes gutes Werk in: WA 6, S. 204, 25–207,14 (Von den guten Werken, 1520). 471  Duerden, Justification, S. 72. 472  Trueman, Legacy, S. 85. 473  S.o. 3.3.3. und 3.3.5.3. 474  Trueman, Legacy, S. 86. Vgl. Knox, Doctrine, S. 13: „Tyndale was not unaware of the dangers that lurk in this doctrine of predestination for the unwary investigator. But he not only found the doctrine in scripture but he realised that it was the only ultimate safe­ guard of the central doctrine of the Reformation, the complete ‚gift character’ of sal­ vation“. Dies gilt wohl auch für Luther (vgl. WA 18, S. 685,1–686,13. 689,18–690,8.771, 34–776,3.784,1–34, De servo arbitrio, 1525; vgl. McGrath, S. 203) und Bucer, wobei letz­ terer von einem frühen Zeitpunkt an ganz selbstverständlich prädestinatianische Vorstel­ lungen und Formulierungen verwendet. Lang stellt jedoch fest, dass Bucers Rede von Erwählung und Verwerfung nicht auf die „eingehendere Erwägung der ganzen Lehre“ (a.a.O., S. 158) zurückzuführen ist, er spricht darum von „Axiome[n] der Frömmigkeit Butzers“ (a.a.O., S. 163; vgl. dazu auch Stephens, Bucer, S. 24–27; Strohm, S. 121 f). 475  A.a.O., S. 85; vgl. dagegen Werrell, Theology, S. 115, der aus Tyndales Vorstel­

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kularen und universalen Erwählungsaussagen, die unaufgelöst nebeneinan­ der stehen.476 Trueman hat daher Recht, wenn er resümiert: „predestination does not function as a theological axiom but is rather a derivative of pre­ viously established doctrines which it in turn supports“477. 3.4.1.3  Gesetzestheologische Akzente Von den Ergänzungen, die Tyndale in „Mammon“ gegenüber Luthers Pre­ digt vornimmt, befassen sich die meisten mit der Rolle von Gesetz und Wer­ ken für die Glaubenden. Das letzte Drittel des Traktats beschäftigt sich fast ausschließlich mit diesem Thema. Auch in „Obedience“ tritt das Gesetz an prominenter Stelle als Referenzgröße für Tyndales Gesellschaftsmodell in Er­ scheinung.478 Dies bestätigt die schon bei der Analyse der Schriften des Jahres 1525/1526 gemachte Beobachtung, dass ein Hauptaugenmerk Tyndales auf den konkreten Folgen des Rechtfertigungsgeschehens liegt, die er mit einer positiven Bewertung des Gesetzes verbindet.479 Die Werke des Gesetzes ver­ steht er als „Früchte des Glaubens“, die aus der „Heilung“, die durch den Geist in den Glaubenden geschieht, hervorgehen.480 Der papstkirchliche Vorwurf der ethischen Beliebigkeit verfängt darum nicht. Hier stimmt Tyndale mit Luther überein, der in den Werken ebenfalls die notwendige Folge des in der Rechtfertigung subjektiv erfahrenen Heilsgeschehens sieht.481 Von Luther unterscheidet Tyndale jedoch die Eindringlichkeit, mit der er die Pflicht zum Wirken als „spiritual law“482 versteht, das im Herz der Glau­ benden verankert ist. Zwar kann auch Luther von einem „geistlichen Gesetz“ sprechen,483 der eigentliche Akzent seiner Gesetzestheologie liegt jedoch auf dem Gesetz als Unheilsmacht, die „mit unerbittlicher Forderung und unaus­ weichlicher Anklage“484 das Sündersein des Menschen offenbart. Für Tyn­ lung der „new birth“ der Glaubenden den (falschen) Schluss zieht: „that while our salva­ tion depended on God, it equally depended on us“. 476  S.o. 3.2.8. 477  Trueman, Legacy, S. 86. 478  S.o. 3.3.5.2. 479  S.o. 2.7.2.1. 480  Zu Clebschs Missinterpretation der guten Werke in „Mammon“ (Clebsch, S. 148) vgl. Dick, Mammon, S. lxviif. 481  Gegen Werrell, Theology, S. 135 f; vgl. WA 39,1, S. 96,6 ff (Disputatio de iustifica­ tione, 1536): „Opera sunt necessaria ad salutem, sed non causant salutem, quia fides sola dat vitam“. 482  Mammon, PS 1, S. 74.76.79.81.114. 483  Vgl. WA.DB 7, S. 5,32–36 (Römerbriefvorrede, 1522): „Aber ein solches hertz gibt niemand, denn Gottes geist, der machet den Menschen dem Gesetz gleich, das er lust zum Gesetz gewinnet von hertzen, vnd hinfurt nicht aus furcht noch zwang, sondern aus freiem hertzen alles thut. Also ist das Gesetz geistlich, das mit solchem geistlichen hertzen wil geliebet vnd erfuellet sein, vnd foddert einen solchen geist“. 484  Schwarz, Art. Luther, Sp. 578.

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dale hingegen spielt diese pädagogische Funktion eine geringere Rolle; ihm geht es vor allem um die positive Bedeutung, die das Gesetz für die Gerecht­ fertigten hat, wenn sie durch das Wirken des Geistes von einer „lust to the law“485 ergriffen werden. Besonders deutlich wird dies in den Aussagen zum Verhältnis von Chris­ tus und Gesetz.486 In „Obedience“ zeigt sich, wie eng Tyndale, anders als Lu­ ther,487 beide positiv aufeinander beziehen kann: Christus ist für ihn, ebenso wie für Bucer,488 nicht das „Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4), sondern dessen „Vollender“ im Sinne desjenigen, der es neu als „law of love“ 489 in Geltung setzt. Luthers kategoriale Unterscheidung von „Gesetz und Evan­ge­lium“ voll­ zieht Tyndale darum auch hier nicht im vollen Umfang nach bzw. setzt den eigenen theologischen Schwerpunkt anders.490 Vor dem Hintergrund des so beschriebenen tertius usus legis erhalten die Werke bei Tyndale Bedeutung als „primary means of assurance of God’s love towards the individual“491. Ihre versichernde Funktion bekommen sie vor dem Hintergrund von Luthers Unterscheidung von offenbarem und inwen­ digem Glauben zugesprochen: Sie sind äußerliche Erkennungszeichen des wahren Glaubens, so dass ihr Fehlen den Glaube als Illusion entlarvt.492 Der Vorrang der „ynwendig rechtfertigung“493 wird daher von Tyndale nicht in­ frage gestellt.494 Er hält im Grundsatz mit Luther fest: „Das Kennzeichen, das 485  486  487  488 

Mammon, PS 1, S. 52.115. Vgl. Obedience, PS 1, S. 170 f (PC, S. 33); s.o. 3.3.5.1. Vgl. Althaus, Theologie, S. 232–238; Schwarz, Art. Luther, Sp. 578. Vgl. vgl. Bucer, Epheser-Kommentar (1527), de Kroon, S. 160: „Lex Dei, id est vi­ tae et pietatis doctrina, quae fere IqjS in scripturis vocatur, nequaquam abrogata, sed per Christum, qui suis et recte intelligenda eam et sinceriter perficiendi spiritum donat, im­ pleta est es confirmata“. 489  Obedience, PS 1, S. 245 (PC, S. 101).297 (PC, S. 149).333 (PC, S. 182) u.ö.; vgl. Thompson, Regiments, S. 30 ff. 490  Er geht darin wiederum konform mit Martin Bucer, der den Menschen ebenfalls durch den Geist befähigt sieht, „das in Gottes Schöpfung eingepflanzte Gesetz der Nächs­ tenliebe zur Mitte seines Lebens zu machen“ (Greschat, Bucer Reformator, S. 70); vgl. Lang, S. 144.331; Strohm, S. 123; aber auch Stephens, Bucer, S. 68: „Bucer accepts, ne­ vertheless, that what is taught by those who distinguish law and gospel is true“. Anders als Bucer, der in seinem Evangelienkommentar Luthers Unterscheidung als unbiblisch be­ zeichnet, übernimmt Tyndale Luthers Dualismus an einigen Stellen, macht ihn aber nicht zur kategorialen Grundunterscheidung seiner Theologie. 491  Trueman, Legacy, S. 94. Vgl. Mammon, PS 1, S. 61; WA 10,3, S. 287,26–288,2 ­(Sermon von dem unrechten Mammon, 1522); vgl. auch Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 65,3–67,17; dazu auch Stephens, Bucer, S. 56 f. 492  Vgl. Mammon, PS 1, S. 60: „that thy faith is but a dream“. 493  WA 10,3, S. 287,31 (Sermon von dem unrechten Mammon, 1522). 494  Vgl. Mammon, PS 1, S. 119; Truemans Schlussfolgerung (Trueman, Legacy, S. 96): „at times, he [d.i. Tyndale] can speak of assurance as coming only through works“, geht darum m.E. zu weit, er kann hierfür auch keine weiteren Belege anführen (vgl. a.a.O., S. 96, Anm. 56). Auch Leininger, S. 65, sieht zwar eine „significant departure from

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den echten vom unechten Glauben unterscheidet, den lebendigen vom toten, ist aber das ,Werk‘, der neue Gehorsam, der Kampf gegen die Sünde“495. In der Häufigkeit und Ausführlichkeit, mit der Tyndale den Zeichencha­ rakter der Werke hervorhebt, geht er insgesamt dennoch über Luther hinaus und ist nah bei Bucer. Beide verstehen die Werke als Früchte des Geistwirkens in den Glaubenden bzw. als notwendigen Bestandteil eines von Gott ausge­ henden Liebeshandelns.496 Leininger hat darum Recht, wenn er resümiert: „For Tyndale, justification consists of the bestowal of a heart of righteousness, given by faith, which grows into good works“497. 3.4.1.4  Sakramentstheologische Aussagen Nicht nur die rechtfertigungstheologische Grundlage des Glaubens und ihre sozialethischen Implikationen will Tyndale beschreiben, er möchte auch den (Glaubens-) Alltag seiner Leserschaft verändern. In „Obedience“ finden Eng­ länderinnen und Engländer darum erstmals eine ausführliche Beschreibung dessen, was nach reformatorischer Auffassung das Leben eines Christenmen­ schen bis in die alltäglichen Frömmigkeitsvollzüge hinein ausmacht. Es ist ein Leben im ständigen Umgang mit der Heiligen Schrift, das Tyndale als Ideal vor Augen führt. Das Studium der Bibel bringt die Glaubenden in Berührung mit Gottes Zuspruch und Anspruch, und erlaubt ihnen so, auch ohne funk­ tionierende, d.h. reformatorisch geordnete, kirchliche Strukturen ihr Christ­ sein zu leben. In diesem Zusammenhang formuliert Tyndale erstmals sein Verständnis der Sakramente, das sich eng an Luthers Auffassungen, vor allem in „De cap­ tivitate Babylonica“, anlehnt.498 Wie Luther bestreitet er die Siebenzahl der römischen Sakramente und lässt nur Taufe und Abendmahl als wahre Sakra­ mente gelten, denn nur sie verfügen über eine Verheißung Christi und ein ­Luther“, erkennt aber, dass der Grundgedanke der Versicherung durch Werke auch L ­ uther nicht fremd ist. 495  Althaus, Theologie, S. 214. Trueman liegt darum auch falsch, wenn er Tyndale die Intention abspricht: „to deal with the pastoral problem of lack of assurance“ (Trueman, Legacy, S. 95). Dieses Anliegen ist Tyndale ebenso wichtig, wie die von Trueman zurecht genannte Absicht „to maintain the need for good works“ (a.a.O., S. 96), vgl. Mammon, PS 1, S. 72.98.109. 496  Vgl. Mammon, PS 1, S. 59: „The works declare love: and love declareth that there is some benefit and kindness shewed, or else would there be no love“; vgl. Bucers Römer­ briefauslegung, zitiert bei Koch, S. 71, Anm. 80: „hac (sc. die Güte Gottes im Evan­ge­ lium und den Sakramenten) tamen eo se explicare debet, ut fide de Dei in nos charitate securi, ipsi quoque in proximum omnem charitatem exhibeamus … dilectionem in proxi­ mos officiosam“. Koch kommentiert: „Die Nächstenliebe gründet in der Liebe Gottes zu den Menschen. Der Glaube macht uns sicher, daß Gott uns liebt. Die erfahrene Güte Got­ tes muß sich darin auswirken, daß wir den Nächsten lieben“. 497  Leininger, S. 66; vgl. Knox, Doctrine, S. 24 f. 498  Vgl. Rex, New Light, S. 163.

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sichtbares Zeichen.499 Die religiösen Handlungen der römischen Kirche wer­ den von Tyndale einer Prüfung anhand der Schrift unterzogen und den Le­ sern in ihrem Sinn und Widersinn erläutert. Von den beiden „evangelischen“ Sakramenten wird über die grundlegende Definition hinaus in „Obedience“ nur wenig gesagt. Die Taufe erwähnt Tyndale im Zusammenhang mit der Buße noch einmal als Sterben und Auferstehen mit Christus (Röm 6) und als Beginn eines lebenslangen Bußprozesses.500 Zum Abendmahl und seinen theologischen Implikationen, die zum Entstehungszeitpunkt von „Mam­ mon“ und „Obedience“ den theologischen Diskurs im reformatorischen La­ ger bestimmen, äußert sich Tyndale noch nicht.501 3.4.1.5  Das theologische Grundaxiom: Der liebende Gott Vergleicht man die verschiedenen Akzentuierungen, die Luthers Rechtferti­ gungslehre in Tyndales Schriften von 1528 erfährt, so fällt ein verbindendes Muster ins Auge, das seine Rezeption prägt. Immer wieder spricht er an ent­ scheidender Stelle von der Liebe Gottes zum Menschen und ihrer Erwide­ rung durch die Glaubenden.502 Die Liebe bildet für Tyndale gewissermaßen den cantus firmus der Rechtfertigungslehre.503 Iustificatio und (die mit ihr zu­ sammenfallende) sanctificatio werden verstanden als „Liebesgeschehen“, das von Gott ausgeht, in Jesus Christus Gestalt gewinnt und durch den Heiligen Geist die Menschen, genauer: die erwählten Glaubenden, verändert. Diese Verwandlung äußert sich ihrerseits als Liebe der Glaubenden zu Gott und sei­ nem Gesetz, aus der ganz natürlich Werke der Liebe hervorgehen. 499  500  501  502 

Vgl. Lohse, Theologie, S. 152. S.o. 3.3.7.1. Dazu s.u. 7.5. Vgl. Greschats Zusammenfassung der theologischen Intention des jungen Bucer (Greschat, Bucer Reformator, S. 42): „Er wollte das Verhältnis von Gottesliebe und Nächs­ tenliebe genauer bestimmen, eben dahingehend, daß die Liebe zu Gott nicht identisch, wohl aber praktisch deckungsgleich ist mit der Liebe zum anderen Menschen. Bucers Leitgedanke dabei war, daß Gott die Liebe zum Nächsten befohlen hat und daß der Mensch, der voll und ganz von Christus ergriffen ist, ein neues Wesen wird, eine neue Kreatur. Auf Grund dieser Verbundenheit mit Gott in Christus sieht der Christ nur noch den anderen und nicht länger sich selbst, kann er den Mitmenschen vollauf lieben und muß nicht nach eigener Durchsetzung streben“. 503  Vgl. z.B. Mammon, PS 1, S. 40–51.57–59 (das Beispiel der Maria Magdalena).83 f (Liebe und Gesetz).87.94 (Gottes Liebe zum Menschen). Knox, Doctrine, S. 3, weist auf dieses Charakterisikum der Theologie Tyndales unter dem Stichwort „Gnade“ hin: „At the centre of Tyndale’s doctrine of justification was the graciousness of God“. Auch True­ man, Legacy, S. 89 f.94, scheint dies zu erkennen, stellt Gottes Liebe jedoch nicht in das Zentrum seiner Ausführungen. Smeeton, Lollard Themes, S. 132–134, hingegen sieht zwar das Liebesmotiv, das er auf den lollardischen Hintergrund Tyndales zurückführt, versteht „love“ aber als ausschließlich ethische Kategorie. Die noch grundlegendere Be­ deutung der Liebe für das Gottesverhältnis des Menschen übersieht er.

3.4  Theologische Einordnung

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In dieser „Liebesbewegung“ Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott und seinem Nächsten sind alle bisher erkennbaren Akzente der Theo­ logie Tyndales miteinander verbunden: Gottes Erwählungshandeln wird als Liebestat verstanden, für die das Heilsgeschehen in Christus den Erwählten die Augen öffnet. Die in Christus erfüllten Verheißungen der Schrift sind Ur­ kunden dieses Liebesgeschehens.504 Urheber dieser Erkenntnis ist der „Spirit of God“505, der aus dem Hören auf die Verheißungen den Glauben wirkt. Durch ihn werden die Glaubenden zu Zeugen der Liebe Gottes. Ihre guten Werke sind darum Früchte der erfahrenen Liebe.506 In „Obedience“ macht Tyndale zudem deutlich, dass die Glaubenden auch die Krisenerfahrungen des Lebens aus der Hand eines liebenden Gottes annehmen können und sollen. Tyndale summiert das so beschriebene Heilsgeschehen in nuce folgendermaßen: „Gott erwählt uns zuerst und liebt uns zuerst, er öffnet unsere Augen, damit wir seine übermäßig reiche Liebe zu uns in Christus erkennen; und dann erwidern wir diese Liebe und nehmen seinen Willen als über allem stehend an und dienen ihm in dem Amt, für das er uns erwählt hat“507.

In der Betonung des Liebesaspekts kommt ein Gottesbild zum Ausdruck, in dem die Liebe als göttliches Attribut eine zentrale Position einnimmt. Zwar lässt sich aus „Mammon“ und „Obedience“ keine Gotteslehre ableiten, die ge­ nannten Beobachtungen zusammengenommen ergeben jedoch das Bild eines „God of mercy“508, dessen Liebe „infinite“509 ist und der versprochen hat, „dass, wer immer seinen Namen anruft, niemals verdammt oder beschämt wird“510. In dieser starken Hervorhebung des liebenden Gottes vollzieht Tyndale (sofern er sie kannte) die Unterscheidung eines Deus revelatus und eines Deus absconditus bei Luther nicht nach.511 Er konstatiert schlicht die Liebe Gottes, ohne die Fragen, die Luther zu dieser (durchaus nicht unproblematischen)512 504  505  506 

Vgl. Mammon, PS 1, S. 88.95.107 u.a.m. A.a.O., S. 87. Vgl. a.a.O., S. 59; zu Tyndales Verständnis von „charity“ als „manifestation of love for one’s neighbor, a duty to the Christian community which the believer perceives and does gladly“; vgl. Dick, Mammon, S. lxxiiif. 507  Mammon, PS 1, S. 87: „God chooseth us first and loveth us first, and openeth our eyes to see his exceeding abundant love to us in Christ; and then love we again, and accept his will above all things, and serve him in that office whereunto he hath chosen us“. Erneut zeigt sich an dieser Stelle der starke soteriologische Bezug der Erwählungsaussagen. 508  A.a.O., S. 48. 509  A.a.O., S. 93. 510  A.a.O., S. 95: „that whatsoever calleth on his name shall never be confounded or ashamed“. 511  WA 18, S. 683,11–691,39 (De servo arbitrio, 1525); vgl. Lohse, Theologie, S. 181– 187. 512  Lohse, Theologie, S. 184, konstatiert, das Luther mit manchen Aussagen „in die Nähe einer Spaltung des Gottesbegriffs“ gerate; vgl. auch E. Jüngel, Gott als Geheimnis

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Differenzierung führen, weiter zu vertiefen. Mit Dick lässt sich festhalten: „Tyndale avoids the potentially thorny issues of predestination and freedom of the will by a steady refusal to deal with abstract theological terms“ 513. Zugleich setzt Tyndale in seiner starken Betonung der allem heilgeschicht­ lichen Handeln vorangehenden Liebe Gottes auch im Vergleich mit Bucers Theologie der „Verbindung von Erwählung und Geistwirken Gottes“ 514 ei­ nen eigenen Akzent. Indem er nämlich nicht wie Bucer die Nächstenliebe im regnum Christi zum Ziel des Heilswerkes macht, sondern sie als Reflex zum Handeln eines sich in seiner Liebesfähigkeit und -willigkeit selbst offenbaren­ den Gottes versteht, gewinnt seine Theologie eigenes Profil. 3.4.2  Schrifttheologische Schwerpunktsetzung 3.4.2.1  Die Schrift als Grundlage der Theologie Stärker noch als in „Mammon“ macht Tyndale in „Obedience“ die Schrift selbst und ihre Auslegung zum theologischen Thema. Sie ist nicht nur Refe­ renzgröße für die theologischen Aussagen, sondern wird als solche, insbeson­ dere im Vorwort,515 auch selbst theologisch reflektiert. Dabei zeigt sich eine klare Übereinstimmung Tyndales mit dem reformatorischen „Common Sense“ der Formel sola scriptura. Auch für ihn ist die Schrift „die einzigartige, restlose Selbstkundgabe Gottes“516, mit der er sich seiner Gemeinde offenbart hat und an die diese sich einzig zu halten hat. Die Schrift ist aus sich selbst he­ raus verständlich und bedarf keiner kirchlichen Auslegungsinstanz, weil Gott selbst für das Verständnis seines Wortes sorgt.517 Folgerichtig geht Tyndale vom allgemeinen Priestertum aller Glaubenden aus.518 Im Gegensatz dazu verdunkelt die Auslegungspraxis der Papstkirche, na­ mentlich die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die Klarheit der Schrift. Tyn­ dale selbst ermuntert seine Leser, die claritas der Schrift auch zur Kontrolle seiner eigenen theologischen Aussagen heranzuziehen: „Und wenn ich in eine Schriftstelle etwas hineinlese, schau du in den Text und prüfe, ob ich ihn richtig auslege, was du [wenn es so wäre] leicht erkennen wirst“519.

der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheis­ mus, Tübingen 61992, S. 472–476. 513  Dick, Mammon, S. lxii. 514  Strohm, S. 121. 515  S.o. 3.3.3. 516  Ohst, Tyndale, S. 145. 517  Vgl. Obedience, PS 1, S. 156 (PC, S. 21 f): „if any man thirst for the truth, and read the scripture by himself desiring God to open the door of knowledge unto him, God for his truth’s sake will and must teach him“. 518  Vgl. a.a.O., S. 255 f (PC, S. 111). 519  A.a.O., S. 167 (PC, S. 30): „and when I allege any scripture, look thou in the text,

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Luthers Verhältnisbestimmung beider Testamente, die den „Verheißungs­ charakter des Alten Testaments“520 auf Christus hin hervorhebt, greift Tyn­ dale auf.521 Seine Bezugnahme auf biblische Texte, besonders in „Obedience“, lässt jedoch eher eine Gleichwertigkeit beider Testamente erkennen.522 Dies korrespondiert mit der Beobachtung, dass Tyndale zwar der Sache nach mit Luther die Mitte der Schrift als das, „was Christum treibet“523, bestimmen kann, aber eine andere Formulierung wählt. Für Tyndale sind es Gottes Ver­ heißungen („promises“), die das Zentrum der Schrift ausmachen.524 Der Ter­ minus „promises“ schließt das „Evan­ge­lium“ im Sinne Luthers ein, nämlich „als Merkzeichen für das schlechthinnigen Glauben verdienende, weil gewiß­ machende Wort“525. Tyndales Verständnis von promissio spannt darüber hinaus – mehr als dies bei Luther der Fall ist – den Bogen zwischen den Verheißun­ gen im Alten und dem Evan­ge­lium Jesu Christi im Neuen Testament.526 Auch wenn Tyndale durchaus auch von „promises of God in Christ“527 sprechen kann, erscheint als Subjekt der Verheißungen doch Gott(vater), was dem schon whether I interpret it right which thou shall easily perceive“; vgl. A. Richardson, Obe­ dience, S. 87. 520  Lohse, Theologie, S. 209. 521  Vgl. Obedience, PS 1, S. 144 (PC, S. 15): „What is the cause that we may not have the Old Testament with the New also, which is the light of the Old, and wherein is openly declared before the eyes that there was darkly prophesied?“; vgl. WA.DB 8, S. 10,18 ff (Vorrede zum Alten Testament, 1523): „Und was ist das newe testament anders denn eyn of­ fentliche predige vnd verkundigung der spruche ym alten testament gesetzt vnd durch Christum erfullet?“ 522  Zu Bucers Schriftverständnis vgl. Greschat, Bucer Reformator, S. 55; Strohm, S. 120 f. 523  Vgl. WA.DB 7, S. 384,25–32 (Neues Testament, 1522); vgl. Althaus, Theologie, S. 80; Lohse, Theologie, S. 207–209; Bayer, S. 73–75. Auch Tyndale nennt Christus die Mitte der Schrift, vgl. Obedience, PS 1, S. 167 (PC, S. 30): „when I allege any scripture, look thou on the text, whether I interpret it right which thou shalt easily perceive, by the circumstance and process of them, if thou make Christ the foundation and ground and build all on him and referrest all to him, and findest also that the exposition agreeth unto the common articles of the faith and open scriptures“. 524  So fordert Tyndale von den papstkirchlichen Klerikern, vgl. Obedience, PS 1, S. 156 (PC, S. 22): „prove that no man is righteous in the sight of God, but that we are all damned by the law. And then (when thou hath meeked them and feared them with the law) teach them the testament and promises which God hath made unto us in Christ, and how mer­ ciful and kind he is, and how much he loveth us in Christ“. 525  Beutel, Rechtfertigung, S. 376; zum Verständnis von promissio bei Luther vgl. Bayer, S. 46–53. 526  Vgl. z.B. Obedience, PS 1, S. 135 (PC, S. 6). An einigen Stellen kann auch Tyndale allerdings im Sinne der Unterscheidung Luthers feststellen: „God is nothing but his law and his promises, that is to say, that which he biddeth thee do and that which he biddeth thee believe and hope“ (a.a.O., 160, PC, S. 24). 527  So z.B. a.a.O., S. 254 (PC, S. 110); vgl. auch a.a.O., S. 228.251.253 (PC, S. 85.107.109).

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beschriebenen Gottesbild entspricht.528 Wo Luther den Akzent auf die Dif­ ferenzierung der „beiden Gestalten und Wirkungsweisen“529 des einen Wor­ tes Gottes legt, steht für Tyndale tendenziell das Verbindende beider Größen im Vordergrund.530 Damit spiegelt sich auch im Schriftverständnis Tyndales seine im Vergleich zu Luther engere rechtfertigungstheologische Zuordnung der Befreiung der Glaubenden vom und ihrer freudigen Verpflichtung zum Ge­ setz.531 3.4.2.2  Die Schrift als Grundlage der Kirche und ihrer Ämter Ist die Schrift der alleinige Ort der Selbsterschließung Gottes, so folgt daraus – für Tyndale wie für Luther oder auch Bucer –, dass die Gemeinde sich durch ihr Hören auf die Schrift konstituiert.532 Die Kirche, wie Tyndale sie versteht, ist creatura verbi Divini, denn ihr Glaube kommt aus dem Hören bzw. Lesen des Wortes Gottes.533 Stafford fasst den Grundzug von Tyndales Ek­ klesiologie darum richtig zusammen: „the church was not the clergy, nor was it the hierarchical, legal and ceremonial edifice sustaining the clergy, but rather the congregation of all who responded to the word of God“534. Dementsprechend hoch schätzt Tyndale die Rolle derjenigen ein, welche die Schrift auslegen und gibt damit an verschiedenen Stellen in „Obedience“ nicht zuletzt auch Auskunft über sein eigenes Rollenverständnis. Grundsätz­ lich ist die Lektüre und Auslegung der Schrift Aufgabe jedes Christenmen­ schen, denn sie ist Quelle seiner Gottesbeziehung. Wie Luther begrenzt Tyn­ dale diese allgemeine Auslegungskompetenz jedoch auf den Bereich des Pri­ vaten.535 In der Öffentlichkeit soll nur der von der Gemeinde dazu Berufene 528  529  530  531  532 

S.o. 3.4.1.5. Lohse, Theologie, S. 210. S.o. 2.8.2.1 S.o. 3.2.6.4. Zu Luther vgl. Althaus, Theologie, S. 249 ff; Lohse, Theologie, S. 296 f; Bayer, S. 232–234; Bucer verbindet seine Wort-Gottes-Theologie mit seinem erwählungstheo­ logischen und pneumatologischen Grundkonzept, vgl. Hammann, S. 106: „Der Hl. Geist wirkt durch die Schrift und zieht die Predigt des Evan­ge­liums nach sich, die ihrer­ seits die sichtbare Gemeinschaft ins Leben ruft“; vgl. auch a.a.O., S. 103–113; Stephens, Bucer, S. 156–166. 533  Vgl. Obedience, PS 1, S. 146 f (PC, S. 17): „Christ commandeth to search the scriptu­ res (John 5). Though that miracles bear record unto his doctrine, yet desireth he no faith to be given either unto his doctrine or unto his miracles, without record of the scripture“; vgl. WA.DB 8, S. 10,6 f (Vorrede zum Alten Testament, 1523). 534  Stafford, S. 106. 535  Zu Luthers Auffassung vgl. Althaus, Theologie, S. 279–283; Lohse, Theologie, S. 309 f; Bayer, S. 249 f. Bei Bucer liegt der Akzent etwas anders, denn er hebt – in Über­ einstimmung mit seiner pneumatologischen Grundtendenz – stärker als Tyndale und Lu­ ther die Berufung des Predigers durch den Geist hervor, vgl. Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524), BDS 2, S. 129,23 ff: „So sol, der gewissz ist durch den geist und hatt nůn die schrifft für sich nit ablassen, weder mittler zeit noch haernaher das gewissz wort Gottes,

3.4  Theologische Einordnung

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Gottes Wort auslegen. Offensichtlich rechnet sich auch Tyndale selbst zu die­ ser Gruppe, nimmt er doch für sich in Anspruch, seinen Landsleuten die Schrift nicht nur zu übersetzen, sondern sie auch für sie zu interpretieren. In „Obedience“ steht dieser Anspruch in einem gewissen Spannungsver­ hältnis zur hier ebenfalls proklamierten Position des Herrschers als Instanz auch in Fragen der Schriftauslegung.536 Duerden weist darauf hin, dass Tyn­ dale sich selbst – auch dies eine Parallele zu Luther – in der Position dessen sieht, der „king and commonwealth“537 beraten und ermahnen kann. Er tut dies jedoch, im Unterschied zu den Vertretern der Papstkirche, nicht aus eige­ ner Vollmacht heraus, sondern „as the holder of an office which he feels com­ pelled to execute“538. Dieses Amt ist geistlicher Natur, denn es ist ministerium verbi, mit der Aufgabe, Gottes Wort der Gemeinde, aber eben auch der Öf­ fentlichkeit bis hin zum König, zu verkünden.539 Damit trägt Tyndale seiner Auffassung Rechnung, dass auch die weltliche Obrigkeit nicht über der Schrift steht, sondern auf ihre Weisungen verwiesen ist, um ihrer Bestim­ mung durch Gott gerecht zu werden.540

das er weyssz zů predigen“; dazu auch Stephens, Bucer, S. 177: „The ministry is, there­ fore, primarily a divine activity. God the Holy Spirit raises up men, gives them insight into the gospel, equips them to preach, guides and uses them in their preaching, so that they may be ministers of the Holy Spirit“. 536  S.o. 3.3.7. 537  Duerden, Kingdoms, S. 120. 538  A.a.O., S. 121 (Kursivierung im Original). 539  WA 51, S. 240,7–10 (Auslegung des 101. Psalms, 1534/1535): „Wenn nu ein prediger aus seinem ampt da her sagt beide, Koenigen und Fuersten und aller Welt, Denckt und fuerchtet Got und haltet seine gebot, Da menget er sich nicht jnn weltliche Oberkeit, son­ dern er dienet und ist gehorsam hie mit der hohesten Oberkeit“; vgl. Althaus, Theologie, S. 282; Ders., Ethik, S. 151–155. 540  Clebsch hat – auf der Linie seiner Argumentation für einen zunehmenden Legalis­ mus – in der Tatsache, dass Tyndale damit auch den König Gottes Gebot unterstellt, einen Gegensatz zu Luther erkennen wollen, insofern Tyndale dessen strikte Trennung beider Reiche nicht durchhält (vgl. Clebsch, S. 151 f: „That the king should place himself at the service of his neighbor even when the latter was his subject was a typical Lutheran hope for the Christian vocation of the prince. But Tyndale made the king responsible to the law of God in his governing […] This dissent from Luther was faint […] Yet it would cres­ cendo and reverberate in Tyndale’s mind over the next eight years, until the law of God became the tonic chord of his theological composition“). Clebsch übersieht freilich, dass auch für Luther die Grenze der obrigkeitlichen Macht da erreicht ist, wo sie das Wort Gottes berührt; vgl. WA 11, S. 277,28–31 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Wie? Wenn denn eyn furst unrecht hette, ist yhm seyn volck auch schuldig zů folgen? Anttwortt: Neyn. Denn wider recht gepuert niemant zů thun, Sondern man muß Gotte (der das recht haben will) mehr gehorchen als den menschen“; vgl. dazu auch Althaus, Ethik, S. 130 f.

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3.4.3  Ethische Schwerpunktsetzung 3.4.3.1  Aufnahme und Akzentuierung der Zwei-RegimentenLehre Luthers Ihre sozialethische Anwendung findet Tyndales Rechtfertigungstheologie in dem im ersten Hauptteil von „Obedience“ vorgestellten Modell der gesell­ schaftlichen Ordnung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist in der Tyn­ dale-Forschung unumstritten,541 dass Tyndale sich hier an Luthers Zuord­ nung der beiden „Reiche“ oder „Regimente“ anlehnt, die dieser vor allem in seiner Obrigkeitsschrift von 1523 entwickelt hat.542 Zwar bietet Tyndale keine explizite Ausformulierung der Lehre von den zwei Herr­schafts­be­rei­ chen,543 seine Ausführungen insbesondere zur Rolle des Herrschers sind je­ doch eindeutig daran orientiert. Gottes Weltregierung vollzieht sich auch für Tyndale in zwei voneinander zu unterscheidenden Weisen, der weltlichen und der geistlichen. In der Welt, um deren Ordnung es Tyndale in „Obedience“ vor allem geht, hat Gott Ob­ rigkeiten bestellt, die – von der familiären bis zur staatlichen Ebene – auf­ grund ihrer göttlichen Einsetzung zurecht Gehorsam beanspruchen und zur Umsetzung ihres Autoritätsanspruches auch Gewalt anwenden können. Wie für Luther gilt diese Pflicht zum Gehorsam auch für Tyndale nicht uneinge­ schränkt, sondern muss dort kritisch befragt werden, wo sie mit der Autorität Gottes selbst in Konflikt kommt. Er kann diesen Fall als „Bruch des Gesetzes“ durch den Herrschenden beschreiben: „The ruler is under the religious and moral duty to act in accordance with God’s law“544. Tyndales Bezugnahme auf das Gesetz macht deutlich, dass er, anders als Luther, der den weltlichen Bereich dem natürlichen Gesetz unterstellt sieht,545 541  So z.B. Rupp, Making of, S. 77–82; Thompson, Regiments, S. 22–27; Rex, Obe­ dience, S. 865 f; Duerden, Kingdoms, S. 118 ff. Selbst Clebsch, S. 151, erkennt die Nähe zu Luther an. Dagegen relativiert Trinterud, Reappraisal, S. 33, den Einfluss Luthers, in­ dem er die Zwei-Reiche-Lehre nicht explizit nennt und bei den genannten Themen (Recht auf passiven Ungehorsam, Antiklerikalismus, Verteidigung gegen den Vorwurf der Unruhestiftung) behauptet, sie seien „hardly exclusively Lutheran in 1528“. Noch weiter geht Werrell, Theology, S. 141, indem er die Zwei-Regimenten-Lehre gar zum reformatorischen Allgemeinplatz erklärt und Tyndale zwar in die Reihe der Reformato­ ren stellt, aber keine Bezüge zu Luther gelten lässt. Erstaunlicherweise verwendet Werrell selbst jedoch für seine eigenen Überschriften die Begriffe Luthers, nämlich: „Spiritual Regiment“ (a.a.O., S. 143) und „Temporal Regiment“ (a.a.O., S. 156), wie sie Tyndale in „Exposition Matthew“ verwendet. 542  Vgl. Althaus, Ethik, S. 49–87; Lohse, Theologie, S. 338–342; Schwarz, Art.  ­Luther, Sp. 583; Bayer, S. 281–295. 543  Thompson, Regiments, S. 22 f.27–33 weist darauf hin, dass sich in Tyndales „Expo­ sition Matthew“ die eigentliche, weil umfassendere Rezeption der Zwei-RegimentenLehre Luthers findet, s.u. 6.3. 544  Daniell, Biography, S. 242; vgl. Mozley, S. 142. 545  Vgl. Althaus, Ethik, S. 32–37; Lohse, Theologie, S. 291 ff; Bayer, S. 288 f. Auch

3.4  Theologische Einordnung

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im Gesetzesverständnis weniger differenziert. Für Tyndale ist die göttliche Willensäußerung – ob sie nun natürlich erkennbar oder in der Schrift zu fin­ den ist – prinzipiell der klare Maßstab für die Herrschenden.546 Über den Ob­ rigkeiten steht die Schrift als der ausgesprochene Wille Gottes. Sie ist darum Richtschnur und Verpflichtung für den christlichen Fürsten und sein Regi­ ment. Im Fall einer Verletzung des göttlichen Rechts durch die Obrigkeit ist die Option der Untertanen jedoch nicht die Rebellion, sondern der passive Widerstand und die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge.547 Deutlich liegen hier Parallelen zur Auffassung Martin Bucers auf der Hand, der ebenfalls in großer Klarheit die Herrschenden unter Gottes Gesetz bzw. unter das regnum Christi gestellt sieht.548 Den geistlichen Bereich nimmt Tyndale nicht gesondert in den Blick, seine vereinzelten Äußerungen zur Rolle der Geistlichkeit („spirituality“) zeigen jedoch klar, dass er den geistlichen vom weltlichen Bereich dadurch unter­ scheidet, dass in erstgenanntem Gewalt kein Herrschaftsmittel ist. Ja, Geist­ liche sollen in keiner Weise am weltlichen Regieren Anteil haben, sondern sich einzig auf den spirituellen Bereich konzentrieren und dort durch Predigt und Ermahnung wirken. Die Schlüsselgewalt versteht Tyndale nicht, wie die Papstkirche, als weltliche Binde- und Lösegewalt, sondern als „Implikat der Predigtvollmacht“549. Ohst formuliert daher als Konsequenz: „Das recht ver­ standene kirchliche Schlüsselamt kann also nicht als Grundlage eines spezi­ fisch kirchlichen, mit dem weltlichen konkurrierenden Rechtssystems in An­ spruch genommen werden“550. Dennoch nimmt Tyndale für sich selbst und andere in Anspruch, die Ob­ rigkeiten mithilfe der ihnen übergeordneten Autorität der Schrift ermahnen zu können. Duerden hat darum recht, wenn er festhält: „In the spiritual realm he [d.i. Tyndale] is functioning not as an individual, but as the holder of an of­ fice which he feels compelled to execute. As a teacher he advises the ruler as well as obeys him. That requires a certain authority“551. Nur als Ausleger der Schrift, nicht aber durch die von ihnen bekleideten kirchlichen Ämter, haben die Christenmenschen das Recht und die Pflicht, dem von Gott eingesetzten Tyndale kann bisweilen vom „law of nature“ sprechen (vgl. z.B. Mammon, PS 1, 69, hier freilich in einem Lutherzitat), seine Begrifflichkeit ist jedoch nicht eindeutig; wichtig ist ihm stets, die Unerfüllbarkeit des Gesetzes ohne die erfahrene Rechtfertigung. 546  Vgl. Thompson, Regiments, S. 25: „He holds secondly ‚the law of love’ as the prin­ ciple which should underlie the prince’s use of power“. 547  Vgl. a.a.O., S. 24; zu Luthers Haltung vgl. Althaus, Ethik, S. 130–136. 548  Vgl. z.B. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 55,22–25; dazu auch Koch, S. 153–160. 549  Ohst, Tyndale, S. 147. 550  Ebd. 551  Duerden, Kingdoms, S. 121 (Kursivierung im Original).

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Herrscher auf gleicher Ebene zu begegnen und ihn an seine Pflichten zu er­ innern. Diese klare Eingrenzung der politischen Zuständigkeit der Vertreter des geistlichen Bereichs (hinter der man Tyndales Erfahrungen mit der delikaten Rolle der englischen Bischöfe, insbesondere des Kardinals von York, in der englischen Politik erahnen kann) hat Auswirkungen auf das Verständnis der Rolle des weltlichen Herrschers. Über seine genuinen Pflichten hinaus, näm­ lich die Sünder mit dem Gesetz zu strafen und die göttliche Ordnung aufrecht zu erhalten, schreibt Tyndale diesem auch die Aufgabe zu, für die rechte Ord­ nung der Kirche zu sorgen und Entscheidungen in Lehrfragen zu treffen.552 Ohst hat diese Stärkung der königlichen Autorität als Bezugnahme auf „altes Königsrecht“553 gedeutet, das dem Herrscher die „Kirchenhoheit im Lande“554 zuspricht und zwar „nicht etwa bloß in einer Krisenzeit stell­ver­ tretend“555 für andere, sondern aufgrund „von eigenen Rechten und Zu­stän­ digkeiten“556. Er macht damit bei Tyndale „ganz andere Be­grün­dungs­ zusammenhänge“557 aus, als in der Ausbildung des landesherrlichen Kirchen­ regiments im Reich, nämlich die lollardische Tradition.558 Eine solche Berufung auf ein Königtum, das aus eigenem Gottesgnadentum heraus „die Kirchengewalt entschlossen in die eigene Hand nimmt“559, wäre tatsächlich ein von Luthers Vorstellung der Landesherren als „Notbischöfe“560 abwei­ chendes Konzept, und tatsächlich sind Tyndales Ausführungen zur Einfluss­ nahme der weltlichen Gewalt auf den geistlichen Bereich nicht ganz eindeu­ tig.561 In keiner der von Ohst zitierten Passagen nimmt er jedoch explizit Bezug auf ein „altes Königsrecht“, um eine grundsätzliche Oberhoheit des Herrschers über den geistlichen Bereich zu begründen.562 Vielmehr bleibt Tyndales Appellation an den König m.E. im Rahmen seiner Adaption der Zwei-Regimenten-Lehre: Dort, wo das Papsttum sich selbst außerhalb des geistlichen Reiches Christi angesiedelt hat und mithilfe des weltlichen Schwertes agiert, hilft nur der Ruf nach dem von Gott zur Herrschaft im 552  Vgl. Obedience, PS 1, S. 241.250 (PC, S. 96 f.106); vgl. Ohst, Tyndale, S. 148; Duer­ den, Justification, S. 75. 553  Ohst, Tyndale, S. 149. 554  Ebd. 555  Ebd. 556  Ebd. 557  Ebd. 558  S.u. 3.4.3.3. 559  Ebd. 560  Vgl. Lohse, Theologie, S. 315 f.; vgl. De Wall, Sp. 1292 f. 561  Vgl. Thompson, Regiments, S. 26: „One aspect of government on which Tyndale’s views are not clear is that of the rule of magistrates in the church“. 562  Die von Ohst, Tyndale, S. 148, als Beleg übersetzten Textstellen (Obedience, PS 1, S. 282.240, PC, S. 135.96) sprechen lediglich vom Recht des Königs in der Welt.

3.4  Theologische Einordnung

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Reich der Welt Berufenen, der eingreifen muss.563 Der Fürst ist aus prakti­ schen Gründen als praecipuum membrum ecclesiae gefragt, nicht in seiner Eigen­ schaft als von Gott im Reich der Welt eingesetzter Herrscher (als solcher hat er ja nach Tyndales Auffassung ohnehin nach dem in der Schrift geoffenbar­ ten Gesetz Gottes zu agieren). Darum stellt Tyndale die Kompetenz des Kö­ nigs als Ausleger der Schrift heraus, die er jedoch vom Priestertum aller Glau­ benden ableitet: Weil er wie alle Christenmenschen befähigt ist, die Schrift selbst zu verstehen, kann sich der Herrscher unabhängig machen von der Be­ einflussung durch höfische Kirchenkreise und ist auf ihr Urteil in Fragen der Lehre nicht mehr angewiesen.564 Naheliegender als einen lollardischen Hin­ tergrund anzunehmen, erscheint es mir daher, Tyndales Gedanken als eine aus der Not, nämlich der offenkundigen Reformunfähigkeit des Klerus, ge­ borene Zubilligung des ius reformandi an die Fürsten zu verstehen, die sich ver­ bindet mit einer „Bucer’schen“ Unterordnung des Königs unter das Gesetz. 3.4.3.2  Tyndale als Wegbereiter der „Royal Supremacy“? Dass Tyndale dem König die Rolle des Reformers und Herrschers auch über die Kirche zuschreibt, hat in der Forschung immer wieder dazu geführt, Tyn­ dale als geistigen Wegbereiter der „Royal Supremacy“ zu verstehen, die am Ende des Loslösungsprozesses der englischen Kirche von Rom als neue Form der Staatskirche stand.565 „Obedience“ wird in diesem Zusammenhang, wie eine Formulierung von C.S. Lewis wunderbar veranschaulicht, verstanden als: „that strange treatise, in which he [d.i. Tyndale] flings such appalling ­power to Henry VIII almost scornfully, like a bone to a dog“566, oder mit den Worten von Campbell: „Tyndale’s treatise on Obedience told the lion the secret of his own strength“567. Diese populäre Einordnung von „Obedience“ kann allerdings nur schwer­ lich aufrecht erhalten werden. Gegen sie spricht zunächst, dass König Hein­ rich, der eingangs erwähnten Anekdote über seine Lektüre von „Obedience“ zum Trotz,568 kein Freund Tyndales, sondern sein theologischer Gegner war, 563 

Vgl. WA 6, S. 413,22–30 (An den christlichen Adel, 1520): „Darumb, wa es die not foddert und der bapst ergerlich der Christenheit ist, sol dartzu thun wer am ersten kann, als ein trew glid des gantzen corpers, das ein recht frey Concilium werde, wilch niemandt so wol vormag als das weltlich schwert“; vgl. Thompson, Regiments, S. 26 f. 564  Vgl. Obedience, PS 1, S. 241 (PC, S. 97). 565  Diese Einschätzung hat v.a. Stephen Haas in seiner Untersuchung der religiösen Propaganda der 1530er Jahre zu begründen versucht (vgl. Haas, Henry VIII., S. 353–362). Haas’ Analyse ist von Rex detailliert und überzeugend widerlegt worden, vgl. Rex; Obedience, S. 864.871–879; aus seiner Darstellung beziehe ich die wichtigsten Gegenargu­ mente. 566  Zitiert bei A. Richardson, Obedience, S. 91. 567  Campbell, S. 113; vgl. dagegen Thompson, Regiments, S. 20. 568  S.o. 3.1.2.

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der seine Ablehnung der reformatorischen Lehren zeitlebens beibehalten hat. Wie Rex zutreffend bemerkt: „Although, had he read the book, Henry would probably have liked the section on obedience, he would never have approved of the section on justification“569. Der theologische Gesamtzusammenhang von Tyndales Positionen zur Rolle des Königs entspricht nicht dem „frame­ work“, das am Beginn der Trennung der englischen Kirche vom Papsttum unter Heinrich VIII. steht.570 Darum kann auch in den Dokumenten der offiziellen religiösen Propa­ ganda der 1530er Jahre kein eindeutiger historischer Bezug auf Tyndales Ge­ horsamsschrift nachgewiesen werden. Die fortschreitende Abkehr von Rom, die in den offiziellen Schriftstücken feststellbar ist,571 lässt sich nicht auf eine politische Umsetzung der theologischen und ethischen Vorstellungen Tynda­ les zurückführen, vielmehr bedingt die religionspolitische Wende erst deren Rezeption: „The ideology was subordinate to the political developments, alt­ hough it was of considerable importance in providing a credible language for the policies of the moment“572. Dass Tyndales Ideen im Zusammenhang dieses Prozesses als theologische Fundierung herangezogen wurden, setzt freilich voraus, dass sie auch in Hof­ kreisen bekannt waren und von einigen wohl auch mit Zustimmung gelesen wurden. Rex nennt hier den „circle around Thomas Cromwell“573 als mög­ lichen Rezipientenkreis, was sich auch mit dem Versuch Cromwells, Tyndale 1531 zur Rückkehr nach England zu bewegen, sinnvoll verknüpfen lässt.574 3.4.3.3  Tyndale als theologischer Erbe der Lollarden? Sowohl seine biblisch orientierte Frömmigkeit, als auch das Modell einer Ge­ sellschaftsordnung mit dem König an der Spitze, haben Teile der Forschung vermuten lassen, dass sich Tyndale in „Obedience“ bewusst in die Tradition Wyclifs und der Lollarden stellte und damit auch deren Anhänger in England in besonderer Weise ansprach. Insbesondere Donald Smeeton hat diesen Be­ zug exemplarisch vorführen wollen und erfuhr darin eine – bisweilen er­ staunlich unkritische – Rezeption.575 Gegen seine Auffassung lassen sich je­ doch sowohl grundsätzliche Argumente zur Rolle der Lollarden in der eng­ 569  570 

Rex, Obedience, 872. Vgl. Rex, English Reformation, S. 17 f. Zur Rezeption von „Obedience“ in den 1530er und 1540er Jahren vgl. auch Ryrie, Gospel, S. 58–89. 571  Z.B. in der Vermeidung des Begriffs „pope“, vgl. Rex, Obedience, S. 880 f. 572  A.a.O., S. 881; vgl. auch Thompson, Regiments, S. 20: „It is obviously more ap­ propriate to try to interpret his thought in the light of views developed by continental reformers in the 1520s rather than to see it as an anticipation of subsequent events“. 573  Rex, Obedience, S. 881. 574  S.u. 4.1.3 und 5.1.1. 575  Vgl. z.B. Ohst, Tyndale, S. 143, Anm. 17.

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lischen Reformation und ihrem Einfluss auf Tyndale anführen, als auch Beobachtungen in „Obedience“ selbst.576 Smeetons These basiert auf zwei Grundannahmen, die in wechselnden Kontexten immer wieder aufs Neue in Anschlag gebracht werden, um Tyn­ dales Beeinflussung durch das Lollardentum nachzuweisen. Einmal findet er in Tyndales Biographie zahlreiche Bezüge zu lollardischem Gedankengut bzw. Vertretern des Lollardentums, die inhaltliche Anleihen wahrscheinlich machen sollen.577 Zum anderen versucht er inhaltliche Parallelen aufzuzei­ gen, die sich für ihn nur sinnvoll durch eine bewusste Bezugnahme Tyndales auf lollardisches Denken erklären lassen. Smeeton vergleicht zu diesem Zweck Aussagen Wyclifs oder lollardischer Traktate mit Stellen bei Tyndale, stets mit dem Ergebnis großer inhaltlicher Übereinstimmung.578 Dieses Vorgehen ist in beiden Schritten höchst fragwürdig, einmal, weil Smeeton keine sicheren historischen Belege für tatsächliche Berührungs­ punkte Tyndales mit dem Lollardentum anführen kann. Noch weniger über­ zeugend ist seine selektive Verknüpfung theologischer Gedanken als Nach­ weis einer literarischen Abhängigkeit.579 Mit Rex ist ihm entgegenzuhalten: „it would be a simple task to pick out similar parallels to Tyndale’s ideas from the writings of Luther, Melanchthon, Zwingli and others – writings which were far more easily available (even in England, let alone in Germany and the Netherlands), and which Tyndale is far more likely to have read, and in some cases demonstrably had read“580. In der Tat lässt sich Tyndales Theologie gut, wie der Vergleich mit Luther und Bucer zeigt, aus dem Kontext reformatori­ scher Theologie heraus verstehen, ohne einen Bezug zur lollardischen Tradi­ tion herzustellen, die in ihrer tatsächlichen Ausprägung im 16. Jahrhundert ohnehin fragwürdig und in ihren Berührungspunkten mit Tyndales Biogra­ phie nicht eindeutig nachweisbar ist.581 576  Dabei stütze ich mich auf die Argumentation von Rex, New Light, S. 145– 148.159–171; vgl. auch die Kritik von Collinson, S. 78 ff. 577  Vgl. dazu kritisch Rex, New Light, S. 145–148 (s.o. 1.2.4). 578  A. Richardson, Obedience, S. 88, bemerkt dagegen, dass sich in „Obedience“ kein einziger Verweis auf Wyclif findet. Rex, Obedience, S. 869, zeigt darüber hinaus auf, wie sehr Wyclifs Deutung des 4. Gebots von der Tyndales in „Obedience“ (und Luthers in „Von den guten Werken“) abweicht. 579  Beispielhaft wird dies deutlich, wenn er gegen Thompson, der eine enge Anbin­ dung Tyndales an Luther nachweist, einwendet: „Indeed, Tyndale may have been in­ fluenced by Luther, as Thompson suggests, but Tyndale’s ideas also show similarities to earlier values articulated by the Wycliffite movement“ (Smeeton, Lollard Themes, S. 229; vgl. auch a.a.O., S. 227, Anm. 31). Auch Ohst argumentiert mit Motivübereinstimmun­ gen, wenn er Tyndales Theologie als „wichtiges Übergangsgebilde“ (Ohst, Tyndale, S. 150) zwischen Lollardentum und Reformation betrachtet. 580  Rex, New Light, S. 161. 581  S.o. Einleitung.

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Kapitel 4

Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) 4.1  Biographische Hinführung 4.1.1  Tyndales Übersetzung des Pentateuch und die Situation der Evangelischen in England 1528–1530 Nach der Übertragung des Neuen Testaments 1525/1526 war die Überset­ zung des Pentateuch für Tyndale der logische nächste Schritt im Rahmen sei­ ner selbstgesetzten Lebensaufgabe, der englischen Bevölkerung das Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache zugänglich zu machen. Die Vorbereitungen für die Übersetzung der fünf Bücher Mose, insbesondere der Erwerb von He­ bräischkenntnissen, begannen wahrscheinlich schon vor 1528, zumindest lässt sich die Geschwindigkeit, mit der die Übersetzung fertiggestellt wurde, anders nur schwer erklären.1 Es ist anzunehmen, dass Tyndale parallel zu sei­ ner Tätigkeit als theologischer Autor auch als Übersetzer aktiv war. Im Jahr 1530 erschienen bei Hans Luft „at Marlborow in the lande of Hesse“2, d.i. bei de Keyser in Antwerpen,3 die fünf Bücher Mose in Tyndales Übertragung, und bald darauf kursierten sie in England. Dort trafen die – wahrscheinlich separat gedruckten4 – Bände auf eine Le­ serschaft, die zunehmender Verfolgung ausgesetzt war. Die obrigkeitlichen Maßnahmen richteten sich nicht mehr nur gegen mutmaßliche Lollarden, sondern ausdrücklich auch gegen Anhänger Luthers, die insbesondere durch den Besitz „häretischer“ Bücher überführt wurden. Waren Verdächtige bis­ her nur zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, so wurde am 23. Februar 1529 mit dem Priester Thomas Hitton erstmals ein Anhänger der reformato­ 1  Von der Drucklegung von „Obedience“ im Oktober 1528 bis zur Veröffentlichung der Pentateuchübertragung im Januar 1530 lagen nur 15 Monate. Zum Vergleich: Luther benötigte für die Übersetzung der fünf Bücher Mose ein knappes Jahr, verfügte dabei aber – anders als Tyndale – über die kompetente Hilfe von Experten, wie Melanchthon, Aurogallus u.a. (vgl. Brecht, Luther II, S. 62 f). Tyndales Beschäftigung mit dem AT war außerdem zusätzlich von misslichen Umständen belastet, s.u. 4.1.2. 2  Preface Moses, PS 1, S. 392, Anm. 1. 3  S.o. 3.1.1. 4  S.u. 4.2.

4.1  Biographische Hinführung

183

rischen Sache als Häretiker verbrannt.5 Unter dem neuen Lordkanzler Sir Thomas More, der dem gestürzten Kardinal Wolsey am 25. Oktober 1529 nachgefolgt war, wurden die Verfolgungen ausgeweitet und mit aller Härte durchgeführt.6 Auch der Nachfolger von Cuthbert Tunstall als Bischof von London, John Stokesley, der von 1530 an amtierte, war ein entschiedener Gegner der Reformation und führte in der Hauptstadt die Todesstrafe durch Verbrennen für Häretiker wieder ein.7 Die zahlreichen Fälle, von denen Foxe berichtet,8 weisen alle ein ähnliches Muster auf:9 Indem sie zur Denunziation derjenigen anstifteten, die reforma­ torische Schriften besaßen bzw. einschlägige Gedanken äußerten, spürten die staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten insbesondere in London evangelisch Gesinnte auf und verhafteten sie. Unter der Folter wurden ihnen Geständ­ nisse und die Namen weiterer Gesinnungsgenossen abgepresst. Häufig rang man ihnen auch den Widerruf ihres „Irrglaubens“ ab. Blieben die Verhörten jedoch standhaft oder verwarfen ihren Widerruf, folgte die kirchliche Verur­ teilung als Ketzer und von staatlicher Seite die Umsetzung und Vollstreckung des Urteils durch den Tod auf dem Scheiterhaufen. Ein solches Schicksal, das mit dem Tyndales verbunden ist, ist dasjenige des Cambridge-Absolventen Richard Bayfield.10 Der Mönch aus Bury St Ed­ munds wurde von Robert Barnes mithilfe der Werke Tyndales für die refor­ matorische Sache gewonnen.11 Durch jene Lektüre in seinem Kloster auffällig geworden und inhaftiert, konnte Bayfield mit Barnes’ Hilfe 1528 auf den Kon­ 5  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 12, S. 2135 f. Tyndale erwähnt Hitton gegenüber More in Answer, IW 3, S. 112, zur Widerlegung von dessen Behauptung, jeder vermeintliche Häretiker würde seiner Lehre abschwören, um sein Leben zu retten (vgl. auch Prelates, PS 2, S. 340); vgl. Mozley, S. 227 ff; Daniell, Biography, S. 182; s.u. 5.3.4.3. 6  Zu Mores Vorgehen gegen die vermeintlichen Häretiker, vgl. Marius, Morus, S. 482–506; Brigden, S. 179–187. Obwohl Marius bemüht ist, Mores Vorgehen in einem wenigstens halbwegs vorteilhaften Licht erscheinen zu lassen (vgl. Marius, Morus, S. 492: „Dieser Abschnitt seiner Laufbahn ist für seine modernen Bewunderer der zwei­ felhafteste und peinlichste. Aber paradoxerweise beweist auch nichts besser den Mut die­ ses Mannes. Seine Maßnahmen gegen die Häretiker erforderten eine Tapferkeit, die selten gewürdigt wurde“), sind die Beispiele, die er anführt, beredt genug, um anzunehmen, dass der große Humanist und Autor von „Utopia“ gefangen war in dem, was Nicholls, S. 27, „vindictive hatred of heresy“ nennt; zu Thomas More auch s.u. 5.1.4. 7  Vgl. Daniell, Biography, S. 183. 8  Weitere prominente Opfer der Verfolgung dieser Jahre waren Thomas Bilney (vgl. Foxe, Acts and Monuments, 1563, S. 460–480) und John Frith (a.a.O., S. 501–510; s.u. 6.1.2). 9  Vgl. Daniell, Biography, S. 181–185; Haigh, S. 66–69. 10  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1021–1024; vgl. Marius, Morus, S. 501 f; Daniell, Biography, S. 184 f; Haigh, S. 66. 11  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1021: „Doctor Barnes gaue him a new Testament in Latin, and the other two gaue him Tyndals Testament in English, with a booke called the wicked Mammon, and the Obedience of a christen man“.

184 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) tinent fliehen, wo er Tyndale und Frith dabei half, ihre Werke in Umlauf zu bringen.12 Bei einem Aufenthalt in London verraten und gefangengenommen, weigerte er sich – auch unter der Folter – seinen Glauben zu widerrufen.13 Zu den ihm zur Last gelegten Häresien gehörten die illegale Einfuhr ketze­rischer Schriften, die inhaltliche Zustimmung zu ihren Aussagen sowie die Verlet­ zung seines Mönchsgelübdes.14 Als „relapsed hereticke“15 wurde Bayfield da­ raufhin von Bischof Stokesley verurteilt und den weltlichen Behörden zur Vollstreckung des Urteils übergeben.16 Unter den in der Urteilsbegründung aufgeführten häretischen Schriften, die Bayfield ins Land geschmuggelt hatte, finden sich – neben Werken von Luther, Melanchthon, Bucer u.a. – auch Tyn­ dales Pentateuchvorreden, „Mammon“, „Obedience“ sowie die 1531 erschie­ nenen Schriften „Prelates“ und „Answer“. Bayfields Schicksal ist beispielhaft für viele weitere: Am 20. November 1531 wurde er öffentlich seines Pries­ teramtes enthoben und als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch in seiner Todesqual blieb er Foxe zufolge seinem Glauben treu: „he continued in praier to the end without mou[rn]ing“17. Das erbarmungslose Vorgehen der Obrigkeiten, deren Rechte und Pflich­ ten Tyndale in „Obedience“ ja gerade noch herausgestellt hatte, entsetzte be­ sonders die Exulanten auf dem Kontinent, die untätig zusehen mussten, wie ihre Freunde und Gesinnungsgenossen zu Märtyrern wurden. Allerdings waren auch sie vor anti-reformatorischen Nachstellungen keineswegs sicher. Als Autor von Schriften, deren Besitz in England Menschen auf den Scheiter­ haufen bringen konnte, war Tyndale nicht nur Hauptziel literarischer Atta­ cken gegen die Reformation, wie sie etwa Sir Thomas More in seinem „Dia­ 12  Vgl. ebd.: „This Bayfild mightely prospered in þe knowledge of God, and was bene­ ficiall to M. Tyndall and M. Frith, for hee brought substaunce wyth him, and was their owne hand, and solde all their workes and the Germaynes workes both in Fraunce & in England.“ 13  Vgl. ebd.: „there he was tyed both by the neck, middle and legges, standing vpright by þe walles, diuers times manicled, to accuse other þt had bought hys books, but he ac­ cused none but stoode to his religion and confession of his fayth vnto the very end, and was in the consistorye of Paules, thrise put to his triall, whether he would abiure or no. He sayd he would dispute for hys fayth, & so did to theyr great shame“. 14  Vgl. a.a.O., S. 1021 f. 15  A.a.O., S. 1023. Für „rückfällige“ Häretiker gab es keine Hoffnung auf ein milderes Urteil als den Tod (vgl. Daniell, Biography, S. 184 f). 16  Auch die „Letters of requirie“ von Stokesley an die Londoner Behörden dokumen­ tiert Foxe, a.a.O., S. 1024. 17  Ebd. More überschüttete Hitton, Tewkesbury und Bilney posthum mit Verleum­ dungen, vgl. More, Confutation of Tyndale’s Answer (1532/1533), CWM 8/1, S. 13,36–17,3 5.20,37–22,37.22,38–25,34; vgl. auch Daniell, Biography, S. 182–185; Mozley, S. 227–230. Auch andere Protagonisten der Reformation, wie der spätere Bischof und Märtyrer Hugh Latimer (1485–1555), wurden Opfer der obrigkeitlichen Verfolgung. La­ timer, aufgrund dessen Predigten Bischof Stokesley einen Prozess angestrengt hatte, ent­ ging nur knapp dem Häresieurteil, vgl. Zschoch, Latimer, S. 127–130.

4.1  Biographische Hinführung

185

logue Concerning Heresies“ (erschienen im Juni 1528) vornahm, sondern auch Ziel der Häscher des englischen „Kirchenestablishments“. Im Jahr 1528 geriet Tyndale ins Visier verschiedener Gegner. Auf Betreiben Wolseys fahn­ dete die lokale habsburgische Obrigkeit vom Juni an nach ihm,18 aber auch verschiedene englische Agenten suchten seine Spur.19 Mozley fasst daher die Situation Tyndales im Jahr 1528 treffend zusammen, wenn er schreibt: „Ant­ werp was becoming too hot a place to be comfortable“20. 4.1.2  Tyndales Reise nach Hamburg 1529 Um den Nachstellungen in den Niederlanden zu entgehen, schiffte sich Tyn­ dale, laut Foxe’ Bericht,21 zu Beginn des Jahres 1529 nach Hamburg ein, in seinem Gepäck die fertiggestellte Übersetzung des Pentateuch. Doch seine Schwierigkeiten sollten noch nicht vorüber sein. Vor der niederländischen Küste erlitt er Schiffbruch und verlor dabei Hab und Gut sowie die Überset­ zungsarbeit der letzten Monate und Jahre. Foxe schildert diesen Verlust fol­ gendermaßen: „Auf dem Weg die holländische Küste hinauf erlitt er Schiffbruch und verlor auf diese Weise all seine Bücher, Manuskripte und Abschriften und war darum gezwungen, al­ les von Neuem zu beginnen, sehr zu seiner Behinderung und der Verdopplung seiner Mühen“22.

Mit einem anderen Schiff gelangte Tyndale schließlich doch noch nach Ham­ burg, wo er von März bis Dezember 1529 im Haus der Margarete van Emer­ sen, die er wahrscheinlich schon bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt 1525 kennengelernt hatte,23 Quartier erhielt. In dieser Zeit gelang es ihm, laut Foxe, unter Mithilfe des aus England kommenden Miles Coverdale (1488–1568)24, die Übersetzung der fünf Bücher Mose aufs Neue fertig zu stellen. Tyndale selbst berichtet nichts über einen Aufenthalt in Hamburg. Aus die­ sem Grund sind immer wieder Zweifel an der Zuverlässigkeit von Foxe’ Schilderung geäußert worden.25 Zum einen seien die Möglichkeiten, die Pen­ 18  19 

S.o. 3.1.1; vgl. Daniell, Biography, S. 198. Neben Wolseys Agenten John West, war auch der Kölner Ratsherr Rinck (s.o. 2.1.1) bei der Suche nach Tyndale aktiv; vgl. Mozley, S. 129–134 (hier auch Rincks Briefe an Wolsey). 20  Mozley, S. 153. 21  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1227. 22  Ebd.: „where by the waye vpon the coaste of Hollande, he suffered shipwrake, by the which he loste all hys bookes, wrytyngs, and copies, & so was compelled to begynne all agayn a new, to hys hinderance, and doubling of his labours“. 23  S.o. 1.6.1. 24  S.u. 4.1 Exkurs Tyndale und Coverdale. 25  Skeptisch ist Smeeton, Lollard Themes, S. 65 f. Tyndales Biograph Demaus hält eine

186 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) tateuchübertragung in Hamburg in den Druck zu geben, eingeschränkt ge­ wesen, zum anderen gebe es keine Belege für ein Treffen mit Coverdale. Halle berichtet in seiner Chronik sogar, dass Tyndale sich 1529 in Antwerpen auf­ gehalten habe.26 Mozley hat diese Gegenargumente überzeugend widerlegt und zusätzliche Argumente für einen Aufenthalt Tyndales in Hamburg anführen können.27 Angesichts der bedrohlichen Situation in Antwerpen war die Hansestadt als Ausweichquartier für Tyndale die erste Wahl. Nicht nur, dass er die Hafen­ stadt, die ein idealer Ort für die Verbindung nach England war, schon kannte. Hinzu kam sicher die persönliche Verbindung zur Familie van Emersen.28 Auch die Tatsache, dass der Hamburger Rat 1528 Johannes Bugenhagen zur Einführung der Reformation in die Stadt gerufen hatte, machte sie für Tyn­ dale attraktiv. Ob die beiden zusammentrafen und wenn ja, ob sich der Re­ formator Norddeutschlands an den englischen Studenten erinnern konnte, ist fraglich.29 In jedem Fall war Hamburg im Begriff, die Reformation einzu­ führen, und darum ein einladender Ort für einen reformatorischen Theolo­ gen.30

kürzere Dauer des Aufenthaltes Tyndales in Hamburg für wahrscheinlich, begründet dies jedoch mit der (freilich extrem unwahrscheinlichen) Annahme, Tyndale sei Zeuge des Marburger Religionsgesprächs im Oktober 1529 gewesen, vgl. Demaus, S. 269–272. 26  Abgedruckt bei Mozley, S. 147–149. 27  Vgl. Mozley, S. 146–152. Die von Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1227, angegebene „sweating sicknes“, die zum Zeitpunkt von Tyndales Aufenthalt in der Stadt gewütet haben soll, ist für Norddeutschland historisch belegt; außerdem weist Mozley (Mozley, S. 152) enge Verbindungen der reformatorisch gesinnten Familie van Emerson nach England nach, die ebenfalls für eine Bekanntschaft mit Tyndale sprechen. Mit der Filiale, die der Lübecker Drucker Georg Richloff in Hamburg eröffnet hatte, stand Tyndale eine Druckmöglichkeit zur Verfügung. Auch ein Zusammentreffen mit Coverdale in Hamburg ist möglich, da sich beide schon aus Cambridge gekannt haben könnten und über den Aufenthaltsort Coverdales zwischen 1527 und 1535 sonst nichts bekannt ist. Insgesamt hält Halles Bericht einer historischen Überprüfung nicht stand und wird von Mozley als Legendenbildung eingestuft. Daniell ist ihm in dieser Bewer­ tung gefolgt und hat plausibel gemacht, dass die tragisch-romantische Episode des Schiff­ bruchs keine Ausschmückung von Foxe sein muss, sondern sich auch als historisch schlüs­ sig erweist (vgl. Daniell, Biography, S. 198–201, besonders S. 199). 28  Mit Matthias van Emersen hatte er sich in Wittenberg immatrikuliert, s.o. 1.6.1. 29  Mozley, S. 153, spricht m.E. etwas zu unkritisch von Bugenhagen als „old ac­ quaintance“ Tyndales; tatsächlich bestand aber zumindest theoretisch die Möglichkeit ei­ ner Begegnung, denn Bugenhagen hielt sich vom Oktober 1528 bis zum Juni 1529 in der Stadt auf (vgl. Leder, Bugenhagen, S. 242), Tyndale bezog – laut Foxe – im März 1529 in Hamburg Quartier. 30  Auch Robert Barnes könnte Tyndale in Hamburg getroffen haben, als dieser, aus englischer Gefangenschaft entkommen, auf dem Weg nach Wittenberg war, vgl. Moz­ ley, S. 150, Anm. † ; Daniell, Biography, S. 50; Tjernagel, Biographical Note, S. 12; da­ gegen kommt Barnes Lusardi, S. 1386 f, zufolge über Antwerpen nach Wittenberg.

4.1  Biographische Hinführung

187

Exkurs: Tyndale und Coverdale Dieser Umstand und der Aufenthalt Tyndales dort mögen auch Miles Cover­ dale dazu veranlasst haben, von England nach Hamburg zu kommen.31 Für den ehemaligen Augustinermönch, der in Essex öffentlich gegen Messopfer, Ohrenbeichte und Bilderverehrung gepredigt hatte, war das Pflaster in Eng­ land 1528 zu heiß geworden. Für 1527 ist sein Aufenthalt in Cambridge be­ legt, danach verliert sich seine Spur, bis er 1535 derjenige ist, der nach Tynda­ les Inhaftierung und unter Verwendung seiner Übersetzungen erstmals die gesamte Bibel in englischer Sprache veröffentlicht.32 Es ist anzunehmen, dass der junge Mann in Hamburg den Kontakt zu dem reformatorischen Autor Englands suchte, den er womöglich aus Cambridge kannte, mit dem ihn aber zumindest gemeinsame Londoner Freunde aus dem reformatorischen Lager verbanden. Obwohl Coverdales Kenntnisse des Griechischen und Hebräi­ schen deutlich geringer waren als die Tyndales, war diesem die Mithilfe eines akademisch gebildeten Mitarbeiters sicherlich willkommen.33 Mozleys Ein­ schätzung kann also als wahrscheinlich gelten: „Tyndale must have met Co­ verdale at Cambridge, and it is likely enough that, having completed his Pen­ tateuch, and hearing that Coverdale was thinking of leaving England, he should desire him as an assistant for the rest of the work, and should make an appointment to meet him at Hamburg“34. Möglicherweise war Coverdale auch jener „faithful companion“35, auf den Tyndale schon ein Jahr zuvor in Antwerpen gewartet hatte.36 In jedem Fall scheint Coverdale Tyndale auch bei seinen Revisionsarbeiten an der Übersetzung des Neuen Testaments 1534/1535 unterstützt zu haben, wie das Vorwort zu seiner eigenen Bibelausgabe deutlich macht. Warum sollte er Tyndale also nicht schon fünf Jahre zuvor in Hamburg geholfen ha­ ben?

31 

Zu Coverdale vgl. Beutel, Coverdale; H.M. Smith, S. 326–335; Knox, Doctrine, S. 70–73. Mozley, S. 151, weist darauf hin, dass Foxe und Coverdale zwischen 1559 und 1568 beide in London lebten und sich vermutlich gekannt haben, was die Zuverlässigkeit der Erwähnung Coverdales als Tyndales Mitarbeiter in Hamburg noch wahrscheinlicher macht. 32  Zur sog. „Coverdale-Bible“ vgl. Dickens, S. 184–188. 33  Sie können nur rudimentär gewesen sein, denn Coverdales eigene Übersetzungen, die 1535 in die sog. „Coverdale-Bible“ eingehen, basieren auf deutschen Vorlagen (Lu­ ther, Zürcher) und der Vulgata, vgl. Mozley, S. 150 f; Daniell, Biography, S. 199.289; Beutel, Bibelübersetzungen, Sp. 1502. 34  Mozley, S. 150. 35  Mammon, PS 1, S. 37. 36  S.o. 2.1 Exkurs: Tyndale und Roye.

188 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) 4.1.3  Die Veränderung der religionspolitischen „Großwetterlage“ in England 1529/1530 und Tyndales Rückkehr nach Antwerpen Dass Tyndale wohl gegen Ende des Jahres 1529 aus Hamburg nach Antwer­ pen zurückkehrte und dort im Januar seine Pentateuchübertragung bei de Keyser in den Druck gab, hat mit der durch die Verschärfung der Scheidungs­ problematik Heinrichs VIII. veränderten Situation in England zu tun. Vor allem bedingt durch den „Sacco di Roma“ vom 6. Mai 1527, der Papst Cle­ mens VII. in die Hand Karls V. brachte, der ein Neffe der englischen Königin war, waren Heinrichs Bemühungen um eine päpstlich sanktionierte Schei­ dung erfolglos geblieben.37 Der Fall Thomas Wolseys im Oktober 1529 mar­ kiert den Anfang einer Wende in der Strategie des Königs zur Durchsetzung der Ehescheidung, die verbunden war mit einer Veränderung im Umgang mit den Anhängern der Reformation.38 Zwar wurde mit Sir Thomas More zunächst einer ihrer erbittertsten Geg­ ner zum Lordkanzler ernannt,39 doch enttäuscht von seinen alten Ratgebern, die auf der Seite von Königin Katharina standen, beeinflusst vom Zirkel um seine Angebetete Anne Boleyn, die der Reformation gegenüber aufgeschlos­ sen war40 und unterstützt von Thomas Cromwell (ca. 1485–1540), dem „ris­ ing star in Henry’s regime“41, war der König auf der Suche nach einem Weg, seinen Willen ohne die Hilfe des Papstes durchzusetzen. Das im August 1529 einberufene und im November versammelte Parlament, das später als „Re­ formation parliament“ in die Geschichte einging, sollte zum Vehikel seines Scheidungsanliegens werden. Ideologische Hilfe bot darüber hinaus die re­ formatorische Theologie. Richard Rex hat die Dynamik, die den LutherGegner Heinrich in die Nähe des reformatorischen Lagers führte, zutreffend auf den Punkt gebracht: „The Lutheran appeal to ‚scripture alone’ was the only conceivable alternative to the papacy as the ultimate source of authority in religion“42. Im Zuge dieser zaghaften Hinwendung Heinrichs zur Reformation ent­ spannte sich die Situation zumindest für die englischen Exulanten auf dem 37  38 

Vgl. H.M. Smith, S. 22–27; Bernard, S. 9–14. Zur Problematik der Scheidung Heinrichs und der Trennung der Kirche von Eng­ land von Rom (s.u. 5.1.2) vgl. Nicholls, S. 28 ff; Atkinson, S. 679 ff. 39  Zu Mores Rolle in Heinrichs Scheidungs-Kampagne vgl. Bernard, S. 130–140. 40  Vgl. Nicholls, S. 28; Rex, English Reformation, S. 143 ff. 41  Rex, English Reformation, S. 145. 42  A.a.O., S. 149. Rex kann die religiöse Mischform („idiosyncratic religious mix“) der Kirche Heinrichs überzeugend auf diese „zweckgebundene“ Rezeption reformato­ rischer Theologie zurückführen. Reformatorische Prinzipien wurden stets dort in das neue Kirchenwesen eingebunden, wo sie nützlich waren, ebenso wie umgekehrt diejeni­ gen Elemente der altgläubigen Tradition dort erhalten blieben, wo sie hilfreich schienen: „What tied the whole bundle together was the doctrine of the royal supremacy“ (a.a.O., S. 150).

4.1  Biographische Hinführung

189

Kontinent. Anstatt weiter nach ihnen fahnden zu lassen, erwog man nun, sie in eine Umgestaltung der englischen Kirche einzubeziehen. Cromwells Agent Stephen Vaughan sollte 1531 bei Tyndale diesbezüglich vorstellig werden.43 Mit Mozleys Worten lässt sich die veränderte Situation für Tyndale so resü­ mieren: „the rulers of England were not likely to molest him for a while“ 44. In Antwerpen kehrte Tyndale vermutlich ins „English House“ zurück, wo er bis zu seiner Gefangennahme 1535 blieb. Am 17. Januar 1530 erschien bei de Keyser seine Edition des Pentateuch, versehen mit einem Vorwort und Vorreden zu jedem der fünf Bücher Mose. Die Ausgabe weist einige Beson­ derheiten auf.45 So sind Genesis und Numeri in anderen Schrifttypen gesetzt als die drei übrigen Bücher. Außerdem enthält nur das Buch Genesis ein Ko­ lophon mit der Datumsangabe.46 Allein im Buch Exodus finden sich Holz­ schnittillustrationen.47 Es ist daher zu vermuten, dass die Bücher von de Key­ ser auf zwei Druckerpressen gedruckt wurden, was die unterschiedlichen Ty­ pen erklärt.48 Anschließend wurden sie, wie die erhaltenen Exemplare zeigen, separat in Umlauf gebracht.49 In den einschlägigen Indices der häretischen Schriften werden die Bücher einzeln aufgeführt, noch dazu in einer anderen als der biblischen Reihenfolge.50 Möglicherweise ließ Tyndale zunächst Ge­ nesis und Deuteronomium drucken.51 In jedem Fall hielten die Leserinnen und Leser auf der Insel – wie schon mit Tyndales „New Testament“ von 1525/1526 – mit den Büchern der Tora erstmals eine Übersetzung biblischer Texte aus der (hebräischen) Ursprache in Händen.

43  44  45  46 

S.u. 5.1.1. Mozley, 153; vgl. Daniell, Biography, 200 f. Vgl. auch Daniells Einleitung zu TOT, S. xxiiif. Vgl. Preface Moses, PS 1, S. 392, Anm.1: „Emprented at Marlborow in the lande of Hesse, by me, Hans Luft, the yere of oure Lorde M.CCCCC.XXX. the XVII dayes of Januarii“; vgl. Daniell, Biography, S. 308 f. 47  Es handelt sich um elf Bilder zu den Kapiteln 25–30, die Aaron als Hohepriester (ab­ gedruckt bei Demaus, S. 267) sowie die Ornamente des Tabernakels zeigen. Sie stammen aus einer holländischen Bibelausgabe des Antwerpener Druckers Vostermann, vgl. Moz­ ley, S. 155. 48  Unzweifelhaft ist, dass alle Bücher vom gleichen Drucker stammen, vgl. Mozley, S. 154. 49  In der Bodleian Library in Oxford befindet sich eine Ausgabe der Genesis; in der Ausgabe der New Yorker Public Library sind dagegen alle Bücher mit Ausnahme der Ge­ nesis erhalten; vgl. Daniell, Biography, S. 283. 50  Stokesleys Liste im Urteil gegen Bayfield (vgl. Foxe, Acts and Monuments, 1583, Book 8, S. 1023) gibt beispielsweise die Reihenfolge Deuteronomium – Genesis – Leviti­ cus – Numeri – Exodus an. 51  Vgl. Mozley, S. 156; zur besonderen Bedeutung des Deuteronomium für Tyndale s.u. 4.3.6.

190 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) 4.1.4  Die Rezeption der Pentateuchübersetzung Beim englischen Lesepublikum stieß die Übersetzung der fünf Bücher Mose auf eine ähnlich große Resonanz wie bereits Tyndales Übertragung des Neuen Testaments. Darauf lässt die intensive Bekämpfung durch die engli­ schen Obrigkeiten schließen, die dabei freilich kein leichtes Spiel hatten. Die Verbreitung der Schriften Tyndales und anderer reformatorischer Autoren an den englischen Behörden vorbei geschah in der Regel, indem die bedruckten Bögen in Stoffballen versteckt über niederländische oder deutsche Häfen nach England verschifft und dort von einem Schmuggler-Netzwerk vertrieben wurden.52 Über die Zahl der reformatorischen Schriften, die England er­ reichten und damit über die Größe der Leserschaft, lassen sich keine sicheren Aussagen machen.53 Dafür, dass es eine erhebliche Nachfrage gab, spricht die Bekämpfung auch der Pentateuchübertragung durch die kirchliche Obrig­ keit. Eine vom König einberufene Versammlung von Bischöfen und Gelehr­ ten unter Leitung von Erzbischof Warham und unter Federführung Sir Tho­ mas Mores beriet im Mai 1530 zwar über die mögliche Freigabe des „Worms New Testament“,54 am 24. Mai 1530 verurteilte sie jedoch in einem „Public Instrument“55 neben diversen reformatorischen Aussagen, u.a. aus „Mam­ mon“ und „Obedience“, auch die „translation of scripture corrupted by Will­ liam Tyndale, as well in the Old Testament as in the New“56. Der König ent­ sprach der Empfehlung seiner Kommission und erließ im Juni eine Proklama­ tion, die „Mammon“ und „Obedience“ als „blasphemous and pestiferous books“57 brandmarkte, die den Glauben zerstörten und Unordnung stifteten. Derartige Bücher und die englischen Bibelübersetzungen seien binnen fünf­ zehn Tagen bei den offiziellen Stellen abzugeben. Sollten die Untertanen dem entsprechen und so den zersetzenden Wirkungen jener fehlerhaften Überset­ zungen des Neuen und Alten Testaments widerstehen, stellte Heinrich eine englische Übersetzung der Bibel in Aussicht, die von „great, learned and ca­ 52  53 

Vgl. Daniell, Biography, S. 186–189. Für das „Worms New Testament“ ist eine Stückzahl von 6000 Exemplaren überlie­ fert, also im zeitgenössischen Rahmen eine enorme Auflage; vorsichtigere Schätzungen gehen von der immer noch stattlichen Anzahl von 3000 Exemplaren aus (vgl. Daniell, Biography, S. 187 f; s.o. 2.1.1); nimmt man mögliche Piratendrucke hinzu, so ist von einer relativ großen Leserzahl von Tyndales Übersetzungen und wahrscheinlich auch der theo­ logischen Schriften auszugehen. 54  Dass dies überhaupt diskutiert wurde, kann evtl. als Indiz für eine Öffnung des Kö­ nigs hin zur reformatorischen Seite gewertet werden, vgl. Mozley, S. 161; Bernard, S. 523 f. 55  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1247–1251; hier auch die ausführ­ lichen Widerlegungen der verurteilten Tyndale-Aussagen; vgl. Daniell, Biography, S. 172 f. 56  Zitiert bei Mozley, S. 155. 57  Zitiert a.a.O., S. 161.

4.2  Die Übersetzung des Pentateuch

191

tholic persons“58 vorgenommen werden sollte. Das Versprechen des Königs war freilich nur ein Lippenbekenntnis, das nicht verwirklicht wurde. Tynda­ les Übersetzungen blieben bis auf weiteres die einzigen Übertragungen der Heiligen Schrift in die englische Sprache.59

4.2  Die Übersetzung des Pentateuch 4.2.1  Tyndales Hebräischkenntnisse Tyndale unterschied sich von früheren und späteren Übersetzern des Alten Testaments vor allem durch seine Hebräischenkenntnisse.60 Inwieweit er seine englische Version direkt aus dem Hebräischen übersetzt hat, ist in der Forschung umstritten und wird im Folgenden näher erörtert werden.61 Die Tatsache, dass Tyndale sich in der hebräischen Sprache auskannte, wird je­ doch kaum bestritten. Die Frage, wo Tyndale diese Sprachkenntnisse erworben haben könnte, lässt sich – wie so oft bei Fragen zu seiner Biographie – nur spekulativ beant­ worten. Sicher scheint zu sein, dass er erst im Exil mit der Sprache des Alten Testaments in Berührung gekommen ist, gab es doch bis zum Zeitpunkt seiner Abreise aus England dort niemanden, der ihn hätte unterweisen können.62 Zweifellos hätte sich Tyndale auch in England schon im Selbststudium mit der hebräischen Sprache beschäftigen können, etwa mithilfe von Reuchlins De rudimentis hebraicis von 1506.63 Für den Fall aber, dass Tyndale, um seinen Plan einer Bibelübersetzung aus dem Urtext umzusetzen, zum Erwerb seiner 58  59 

Zitiert a.a.O., S. 162; vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1027. Vgl. Beutel, Bibelübersetzungen, Sp. 1502; Daniell, Biography, S. 333–357. Abgese­ hen davon gab es freilich auch die (im Gegensatz zu Tyndales Version nicht aus dem Ur­ text, sondern aus lateinischen Vorlagen übertragenen) Übersetzungen George Joyes: Psal­ ter (1530) Jesaja (1531), Jeremia sowie Klagelieder (1532), Prediger und Sprüche (nach 1532); vgl. Daniell, Biography, S. 322–326; Clebsch, S. 211 f; zur Rolle der Bibelüber­ setzungen unter Heinrich VIII. vgl. Bernard, S. 521–527. 60  Die lollardischen Bibelübersetzungen waren Übertragungen aus der Vulgata, Co­ verdales Übersetzung der Propheten und Psalmen, die – neben Tyndales Übersetzung von Pentateuch und Geschichtsbüchern – Eingang in alle späteren englischen Bibeln fan­ den, war aus verschiedenen deutschen Quellen und der Vulgata vorgenommen, s.o. 4.1 Exkurs: Tyndale und Coverdale. 61  S.u. 4.2.2. 62  Die englischen Juden waren 1290 auf Befehl Eduards I. aus England vertrieben wor­ den. (Tyndale selbst erwähnt diesen Umstand in Answer, IW 3, S. 68,10 ff). Der englische Hebraist Robert Wakefield (gest. 1537), 1522–1523 für kurze Zeit Nachfolger Reuchlins in Tübingen, kehrte erst 1524 als erster Inhaber eines Hebräisch-Lehrstuhls in Cambridge nach England zurück, als Tyndale England schon verlassen hatte (vgl. Daniell, Biography, S. 293; Hammond, Hebrew, S. 28). 63  Zu weiteren möglichen Hilfsmitteln Tyndales vgl. Daniell, Biography, S. 295 f.

192 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Sprachkenntnisse die Hilfe von Fachleuten gesucht hat, könnte er bei Aurogal­ lus in Wittenberg fündig geworden sein.64 Aber auch andere Orte lassen sich nicht ausschließen.65 Ebenso ist die Möglichkeit erwogen worden, Tyndale könne – was insbesondere in seinen nachgewiesenen Aufenthaltsorten Worms und Antwerpen mit ihren großen jüdischen Gemeinden nahelag – auch jüdi­ sche Schriftgelehrte konsultiert haben.66 So kommt Weitzman in seiner Unter­ suchung zu dem (vorsichtig formulierten) Ergebnis, dass bestimmte Passagen bei Tyndale auf den Umgang mit Juden und die dadurch erworbene Kenntnis rabbinischer Traditionen schließen lassen.67 Auch die Beobachtung Ham­ monds, dass sich Tyndales Hebräischkenntnisse im Laufe der Jahre zwischen der Pentateuchübertragung und der Übersetzung der alttestamentlichen Ge­ schichtsbücher verbessert haben, könnte einen Umgang mit jüdischen Fach­ leuten nahe legen.68 Doch auch wenn Kontakte Tyndales mit Juden im Rah­ men des Möglichen sind, so bleibt doch festzuhalten, dass seine theologische Bewertung des Judentums durchweg negativ ausfällt und ihm offenkundig auch Begegnungen mit Juden kaum Anlass gegeben haben, sich intensiver mit diesen und deren Traditionen auseinanderzusetzen.69 4.2.2  Tyndales Programm als Übersetzer und seine Vorlagen Wie schon im Fall seiner Übersetzung des Neuen Testaments, existiert auch bezüglich Tyndales Pentateuch in der Forschung eine große Bandbreite an Bewertungen seiner Leistung als Übersetzer, von einer in höchstem Maße ei­ genständigen Übersetzungsleistung auf Grundlage des hebräischen Urtextes bis zu einer starken Abhängigkeit von Luthers Übersetzung.70 64  65 

So vermutet auch Daniell, Biography, S. 295.298 f. Mozley, S. 145 nennt Hamburg, Marburg und Worms, auch Straßburg wäre denk­ bar (s.o. 3.1.1). Popp, Tyndale, S. 283, geht davon aus, dass Tyndale zwar in Wittenberg zu ersten Kenntnissen des Hebräischen gelangte, die Sprache dann aber vor allem während seines Wormsaufenthaltes durch Kontakte in die jüdische Gemeinde erlernte. 66  Vgl. z.B. Mozley, S. 173. 67  Weitzman, S. 168 f, bezieht sich dabei auf Dtn 6,8 und 11,18, wo Tyndale die f %fp; %j nicht nur wie Luther mit „Zeichen“ übersetzt, sondern mit „papers of remem­brance“ (vgl. TOT, S. 266). Die Information, dass sich in den Tefillin „Papiere“ befinden, kann er – so Weitzman – nur von Juden erhalten haben. Ein weiterer Beleg ist die Lokali­ sierung der in Gen 2,13 erwähnten Paradiesströme. Hier übersetzt Tyndale statt Kusch „land of Inde“ (TOT, S. 17), Weitzman kommentiert: „There is in fact a Jewish tradition that the name of Kush might refer to India“. 68  Vgl. Hammond, Hebrew, S. 28–35; Hammond weist inbesondere darauf hin, dass sich Tyndales verbessertes Hebräisch bei der Revision der Übersetzung des NT (1534/1535) als hilfreich erwiesen hat; vgl. auch Weitzman, S. 171 ff. 69  Als Beispiel einer antijudaistischen Passage vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 460–463 (s.u. 4.4.2). 70  Für eine weitgehende Selbständigkeit Tyndales plädieren seine Biographen Moz­ ley, 1 S. 74–179 und Daniell, Biography, S. 296–306.312–315. Stärkere Bezugnahmen auf Luther erkennen Hammond, Pentateuch, S. 354–362 und Popp, Tyndale und Luther,

4.2  Die Übersetzung des Pentateuch

193

Tyndale selbst gibt in seinem Vorwort zur Ausgabe der fünf Bücher Mose keine Hinweise auf sein Vorgehen beim Übersetzen oder auf mögliche Vorla­ gen.71 Lediglich in seinem Plädoyer für die Bibel in der Volkssprache im Vor­ wort zu „Obedience“ findet sich ein Hinweis auf seinen Umgang mit dem Hebräischen und seine Kenntnis der Sprache. Dort wendet er sich mit folgen­ den Worten gegen den Vorwurf, das Englische sei im Vergleich mit dem La­ teinischen eine zu raue Sprache, um die Bibel in sie zu übersetzen: „Die Eigenschaften der Hebräischen Sprache stimmen tausendmal mehr mit dem Eng­ lischen überein als mit dem Lateinischen. Die Redeweise ist einheitlich, so dass du an tausend Stellen nichts anderes zu tun brauchst, als Wort für Wort ins Englische zu übersetzen, wofür du im Lateinischen ein ganzes Wortfeld absuchen müsstest und doch mehr Arbeit hättest, es so vorteilhaft zu übertragen, dass es im Lateinischen die­ selbe Gnade und Anmut, denselben Sinn und Verstand hat wie im Hebräischen. Tau­ sendmal besser als ins Lateinische lässt es sich ins Englische übersetzen“72.

Hier spricht jemand, der sich in dem, was er tut, sicher ist. Tyndale hatte sich offenkundig 1528 ein Maß an Hebräischkenntnissen angeeignet, das es ihm erlaubte, darüber zu urteilen, welche Sprache dem biblischen Wortlaut mehr entspricht als andere. Darüber hinaus beschreibt er „grace and sweetness, sense and pure understanding“ des Hebräischen so einfühlsam, dass er nicht nur als Kenner, sondern auch als Liebhaber der Sprache gelten muss.73 Für letzteres spricht auch die Bitte, die Tyndale in seinem letzten erhaltenen Brief aus dem Gefängnis an einen unbekannten habsburgischen Offiziellen richtet. In dem handschriftlichen Brief, der nicht bei Foxe überliefert ist, sondern erst im 19. Jahrhundert in Belgien gefunden wurde, bittet er: S. 315 f. Ein detaillierter Vergleich von hebräischer Tora, Lutherübersetzung und Tynda­ les Fassung wäre dringend geboten, kann aber hier nicht geleistet werden, so dass ich mich darauf konzentriere, die Forschungsergebnisse zu Tyndales AT-Übersetzung vorzustel­ len und zu bewerten. 71  Er fügt den Vorreden zu Genesis, Exodus und Deuteronomium jeweils ein Glossar mit Erklärungen zu hebräischen Begriffen an, die ebenfalls auf eine intensive Auseinan­ dersetzung mit dem Urtext schließen lassen; gleiches gilt für die Marginalien der Penta­ teuchübertragung; s.u. 4.3.2.3. 72  Obedience, PS 1, S. 148 f (PC, S. 19): „the properties of the Hebrew tongue agree a thousand times more with the English than with the Latin. The manner of speaking is both one, so that in a thousand places thou needest not but to translate it into the English word for word when thou must seek a compass in the Latin, and yet shall have much work translate it well favouredly, so that it have the same grace and sweetness, sense and pure understanding with it in the Latin, as it hath in the Hebrew. A thousand parts better may it be translated into the English than into the Latin“; s.o. 3.3.3. 73  Vgl. ebd. Zu Tyndales Umsetzung der von ihm beschriebenen Ähnlichkeiten zwi­ schen dem Hebräischen und dem Englischen in seiner Übersetzung, vgl. Daniell, Biogra­ phy, S. 283–286.302–306; Hammond, Pentateuch, S. 363–385. Das Zitat verdeutlicht da­ rüber hinaus, wie überzeugt Tyndale von der Qualität der eigenen Muttersprache als Me­ dium des Gotteswortes war. Sein letzter Satz liest sich fast als Vorahnung, dass sie einst das Lateinische als lingua franca ablösen wird.

194 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) „Am meisten bitte und beschwöre ich Euer Gnaden, dass Ihr von ganzem Herzen beim Herrn Kommissar darauf drängen mögt, er möge mir, insofern ich für würdig erach­ tet werde, eine hebräische Bibel, eine hebräische Grammatik und ein hebräisches Wör­ terbuch zugestehen, damit ich die Zeit mit Studien verbringen kann“74.

Ob dem Gefangenen die Bitte gewährt wurde, ist ungewiss, ebenso ist nicht klar, um welche Grammatik bzw. welches Wörterbuch Tyndale bittet.75 In jedem Fall ist eindeutig, dass sich Tyndale auch noch angesichts seines drohen­ den Todes mit der Übersetzung alttestamentlicher Texte beschäftigt hat. Wie ist nun – für die Zeit außerhalb der Gefängnismauern – Tyndales Vor­ gehen beim Übersetzen vorzustellen? In seiner umfangreichen Untersuchung zu „William Tyndale’s Pentateuch. Its Relation to Luther’s German Bible and the Hebrew Original“76 hat Hammond gezeigt, dass Tyndale sich in seiner Übersetzungstätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit stark auf Luther stützte, ebenso wie auf andere bereits vorhandene Übersetzungen, wie die Vulgata oder die Übertragung des Santes Pagninus (1470–1541) von 1527.77 Zugleich hält Hammond jedoch aufgrund seiner Untersuchungen insbesondere zur Syntax von Tyndales Übersetzung fest: „his knowledge of the Hebrew origi­ nal was sufficient for him to respond sensitively and effectiveley to the pecu­ liarities of Hebrew vocabulary and style“78. Hammond zufolge war Tyndale also als Übersetzer in der Lage, Luthers Übersetzung (und andere) mit dem hebräischen Urtext zu vergleichen, den bei Luther gefundenen Sinngehalt am Original zu überprüfen und gegebenenfalls sprachlich neu im Sinne des He­ bräischen zu formulieren.79 Als Hebraist hat Weitzman die Einschätzung des Anglisten Hammond in Teilen kritisiert und dafür plädiert, Tyndale im Um­ gang mit dem hebräischen Urtext noch mehr zuzutrauen: „If Tyndale knew enough Hebrew to be able to impose Hebrew syntax upon Luther’s sense, he could more easily have translated the Hebrew directly for himself, at least most of the time“80. 74  „Maxime autem omnium tuam clementiam rogo atque obsecro, ut ex animo agere velit apud dominum commissarium, quatenus dignari velit mihi concedere bibliam He­ braicam, grammaticam Hebraicam, et vocabularium Hebraicum, ut eo studio tempus conteram“; zitiert bei Mozley, S. 334 (Kursivierung von mir); vgl. Daniell, Biography, S. 379 ff. 75  Vgl. Daniell, Biography, S. 295 f. 76  Hammond, Pentateuch. 77  Vgl. Raeder, Sp. 798. 78  Hammond, Pentateuch, S. 354. 79  Hammond nennt Beispiele, die Tyndales direkte textliche Bezugnahme auf Luther nachweisen, (vgl. a.a.O., S. 354 ff) und solche, in denen Tyndale von Luther abweicht und sich stärker am Hebräischen orientiert (vgl. a.a.O., S. 356–362). Er kommt zu dem Ergeb­ nis: „Tyndale’s translation is heavily endebted to Luther, and those places where he shows independence reflect more often than not his attempts to get closer to a literal rendering of the text than Luther has done“. (a.a.O., S. 360) Vgl. dazu auch Popp, Tyndale und Luther, S. 317 ff. 80  Weitzman, S. 167.

4.3  Die Vorreden

195

Letztlich erscheint die Frage, welcher Vorlage Tyndale mehr verpflichtet war, müßig. Ohne Zweifel hatte er die Fähigkeiten, den hebräischen Text in Aussage und Struktur zu erfassen. Zugleich stand ihm insbesondere mit Lu­ thers Übersetzung eine Vorlage aus der Feder einer von ihm hochgeschätzten theologischen Autorität zur Verfügung.81 Bei einem Übersetzungsprozess, in dem verschiedene Bedeutungsvarianten und Übersetzungsmöglichkeiten ab­ gewägt werden, lässt sich der Umgang mit den Vorlagen m.E. im Nachhinein nur schwer am Text rekonstruieren. Warum sollte Tyndale bei seiner Über­ setzungsarbeit nicht in konkordanter Manier auf den hebräischen Text und auf Luther gehört haben, oder direkter formuliert: Ist es nicht möglich, dass er beide Bücher aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch vor sich liegen hatte?

4.3  Die Vorreden 4.3.1  „The Preface of Master William Tyndale that he made before the five books of Moses, called Genesis“ (1530) Tyndale stellt seiner Pentateuchübersetzung ein Vorwort voran, das sich irre­ führenderweise im Titel nur auf die Genesis bezieht. Wie bereits im zeitnah entstandenen Vorwort zu „Obedience“ nutzt er dieses „Preface“ zur Ausein­ andersetzung mit seinen altgläubigen Gegnern und zur Verteidigung seines Hauptanliegens: Der Bibelübersetzung in englischer Sprache. In diesem Zu­ sammenhang berichtet er – autobiographisch wie selten – von seiner Ent­ wicklung zum Bibelübersetzer und eröffnet seiner Leserschaft und dem His­ toriker wertvolle Einblicke insbesondere in seinen Aufenthalt in London 1523/1524.82 Zu Anfang nimmt das Vorwort jedoch Bezug auf die zahlreichen Anfein­ dungen, denen Tyndales „New Testament“ ausgesetzt war. Tyndale selbst hatte in seinem „Brief an die Leserschaft“83 dazu ermuntert, seine Überset­ zung kritisch zu prüfen, doch die Reaktion der „papists“84 weist Tyndale nun entschieden zurück. Wie bereits im Vorwort zu „Obedience“,85 wendet er sich gegen Behauptungen, die Heilige Schrift sei überhaupt nicht zu übertra­ gen und gehöre nicht in Laienhände. Für ihn steht fest: Eine Bibel in der Volkssprache macht ihre Leser weder zu Häretikern noch zu Rebellen gegen

81  82 

Weitzman übersieht m.E. Tyndales Wertschätzung für Luther. Dieser Bericht Tyndales ist bereits am entsprechenden Ort behandelt worden (s.o.

83  84  85 

Epistle to the Reader, PS 1, S. 389–391, besonders 390 f. Preface Moses, PS 1, S. 392. S.o. 3.3.3.

1.5).

196 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) die Obrigkeit.86 Noch schärfer ist Tyndales Reaktion auf den Vorwurf, seine Übersetzung enthalte „many thousand heresies“87, wie ihn Bischof Tunstall in seiner Predigt im Oktober 1526 erhoben hatte.88 Diesem Angriff auf seine Fähigkeiten als Übersetzer hält Tyndale mit beißender Ironie entgegen: „Sie haben schon solch große Mühen auf sich genommen, es [d.i. das ‚New Testa­ ment‘] zu prüfen und es mit dem zu vergleichen, was sie gerne hätten, mit ihren eige­ nen Fantasien und Wortverdrehungen, nur damit sie etwas haben, um es zu beschimp­ fen und unter der Hand die Wahrheit zu lästern, so dass sie, vermute ich, mit weniger Mühen den größten Teil der Bibel hätten selbst übersetzen können“89.

Als Grund für diese maßlosen Anfeindungen, denen seine Übersetzung und er selbst als Person ausgesetzt sind, erkennt Tyndale den Wunsch der papst­ kirchlichen Würdenträger, die Laien über den Inhalt der Schrift in Unkennt­ nis zu lassen und damit zugleich ihre Machtposition zu festigen.90 Diesem Ziel dienen auch ihre philosophische Argumentation und die allegorische Schriftdeutung, weil sie den wahren Sinn der biblischen Texte verdunkeln.91 Der uninformierte Laie ahnt – Tyndale zufolge – zwar, dass der Umgang der „prelates“ mit der Schrift falsch ist, ihm fehlen jedoch die Voraussetzungen und Mittel, den verwirrenden Knoten aus theologischen Spitzfindigkeiten zu zerschlagen.92 Wie bereits in „Obedience“ sieht Tyndale die englische Chris­ tenheit eingekerkert im Käfig der Papstkirche, dessen Gitterstäbe aus theolo­ gischen (Pseudo-) Argumenten, politischem Einfluss und antireformatori­ scher Propaganda für den einzelnen Christenmenschen undurchdringlich sind. Einen Weg aus dieser Gefangenschaft bietet allein die Heilige Schrift in der Sprache des Volkes, denn sie befähigt die Laien, ihre Unmündigkeit zu 86 

Vgl. Preface Moses, PS 1, S. 392 f: „say, some of them, that it is impossible to translate the scripture into English; some, that it is not lawful for the laypeople to have it in their mother-tongue; some, that it would make them all heretics; as it would, no doubt, from many things which they have falsely taught […] and some, or rather every one, say that it would make them rise against the king, whom they themselves (unto their damnation) never yet obeyed“. 87  A.a.O., S. 393. 88  S.o. 2.1.2. 89  Ebd.: „they have yet taken so great pain to examine it, and to compare it unto that they would fain have it, and to their own imaginations und juggling terms, and to have somewhat to rail at, and under the cloak to blaspheme the truth; that they might with as little labour (as I suppose) have translated the most part of the bible“. 90  Vgl. ebd.: „in this they be all agreed, to drive you from the knowledge of the scrip­ ture, and that ye shall not have text thereof in the mother-tongue, and to keep the world still in darkness, to the intend they might sit in the consciences of the people […] and to exalt their own honour above king and emporer, yea, and above God himself“; vgl. dazu auch Ginsberg, S. 52. 91  Vgl. Preface Moses, PS 1, S. 393 f. 92  Vgl. a.a.O., S. 394: „though thou feel in thine heart, and art sure, how that all is false that they say, yet couldst thou not solve their subtle riddles“.

4.3  Die Vorreden

197

überwinden und Lehre und Gebaren der Papstkirche kritisch zu prüfen. Ein Hilfsmittel dabei sollen auch die Marginalien sein, die Tyndale dem Penta­ teuch beifügt.93 Sie stammen von ihm selbst und gehen nicht direkt auf Lu­ ther zurück.94 Insgesamt ist die Schrift als norma normans, an der sich die Lehre der Kirche und die Vollzüge des christlichen Lebens auszurichten haben, für Tyndale die Befreiungsmacht, die er zugunsten seiner Glaubensbrüder und -schwestern zugänglich machen will. Vor diesem Hintergrund beschreibt er seinen hindernisreichen Weg ins Exil und spannt darin den Bogen zur aktuel­ len Situation seiner Leserschaft: „[Ich] verstand, das am Ende nicht nur im Palast des Bischofs von London kein Platz war, um das Neue Testament zu übersetzen, sondern das vielmehr in ganz England kein Ort dafür war, wie ja auch die Erfahrung dieser Tage deutlich macht“ 95.

Angesichts der Tatsache, dass in England auch 1530 noch immer kein Platz für eine Bibelübersetzung ist, verzichtet Tyndale darauf, seine Übersetzung erneut der Kritik der offiziellen Kirchenvertreter anzuempfehlen.96 Der papstkirchliche Klerus mag seine Übersetzung korrigieren, ja sogar verbren­ nen, wenn sie im Vergleich mit dem hebräischen Original Fehler entdecken.97 93  Mozley, S. 159, hat 108 Marginalien gezählt. Anders als er meint, ist es m.E. nicht auszuschließen, dass Tyndale auch Marginalien aus Luthers Übersetzung von 1523 zum Anlass für eigene Anmerkungen nahm. So bemerkt Luther zu Gen 9,6: „Hie ist das wellt­ lich schwerd eyngesetzt, das man die morder todten sal“ (WA.DB 8, S. 58). Tyndale macht daraus: „This law and such like to execute, were kings and rulers ordained of God where­ fore they ought not to suffer the pope’s Cains thus to shed blood theirs not shed again, neither yet to set up their abominable sanctuaries & neck verses clean against the ordi­ nance of God, but unto their damnation“ (TOT, S. 24). 94  Die meisten Randbemerkungen beziehen sich erklärend auf den Text, indem sie entweder Begriffserläuterungen angeben (vgl. z.B. zu Ex 3,14: „Of this word, I will be cometh the name of Jehova which we interpret Lord, and is as much to say as that I am“, TOT, S. 93; vgl. auch a.a.O., S. 97. 104.117 u.ö.) oder die theologische Quintessenz einer Passage zusammenfassen (vgl. z.B. zu Gen 24,35: „God blesseth us when he giveth us his benefits: and curseth us, when he taketh them away“, TOT, S. 41; vgl. a.a.O., S. 54.112.116 u.ö.). Teilweise gibt Tyndale auch klare Handlungsanweisungen, etwa wenn er seine Le­ ser via Randnotiz im Zusammenhang von Ex 13,14 auffordert: „Teach your children“ (TOT, S. 107). Auffällig ist die Polemik gegen die Papstkirche in vielen der Randbemer­ kungen, vom schlichten ironischen Hinweis zu Ex 34,20 (Erstlingsgabe): „That is a good text for the pope“ (TOT, S. 136), bis hin zur Beschimpfung des Papstes und seines Klerus (vgl. dazu die Beispiele bei Mozley, S. 159) 95  Preface Moses, PS 1, S. 396: „[I] understood at the last not only that there was no room in my lord of London’s palace to translate the new Testament, but also that there was no place to do it in all England, as experience doth now openly declare“. 96  Vgl. ebd.: „Under what manner, therefore, should I now submit this book to be cor­ rected and amended of them, which can suffer nothing to be well?“ 97  Vgl. ebd.: „when they have examined it with the Hebrew, so that they first put forth of their own translating another that is more correct“. Erneut macht Tyndale hier deut­ lich, wie sicher er sich seiner Fähigkeiten als Übersetzer und der Qualität seiner Übertra­ gung ist (vgl. Clebsch, S. 156 f; s.o. 4.2.2).

198 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Gewidmet ist das Buch jedoch „unto all them that submit themselves unto the word of God“ 98. 4.3.2  „Prologues by William Tyndale shewing the use of the scripture, which he wrote before the five books of Moses“ (1530) 4.3.2.1  Genesis als Beispielbuch der Glaubenden Nachdem er im Vorwort seine Intention benannt hat, nutzt Tyndale den Pro­ log zum 1. Buch Mose dazu, seine Leser an die grundsätzliche Bedeutung der Schrift für das Leben der Christen und den Umgang mit ihr zu erinnern. Da­ mit nimmt er ein Thema auf, das seine Werke von 1525/1526 an durchgängig prägt und das darum als eigentliches Leitmotiv seines Schaffens bezeichnet werden kann: Die Vermittlung des rechten Umgangs mit der Bibel. Der Mensch, der die Schrift zwar in Händen hält, sich aber über ihren In­ halt nicht im Klaren ist, gleicht einem Mann, der ein kostbares Juwel oder ei­ nen Schatz besitzt und diesen doch nicht als solchen erkennt.99 Darum ist es so wichtig, den unermesslichen Wert des Gotteswortes zu erkennen und die „medicine of the scripture“100, die darin besteht, dass sie dem Glaubenden als die entscheidende Bewertungsinstanz von Lehre und Leben Orientierung gibt. Mit Paulus beschreibt Tyndale die Schrift als „touchstone that trieth all doctrines, and by that we know the false from the truth“101. Die Schrift ist das Licht der Wahrheit und „Abwehr alles Falschen“ („defence of all error“) sowie „Trost in Anfechtungen“ („comfort in adversity that we despair not“102). Darum ermahnt Tyndale seine Leser, die Schrift, die er im Dual von Gesetz und Evan­ge­lium zusammenfasst, auch tatsächlich zu lesen und sie auf das ei­ gene Leben zu beziehen.103 98  99 

Preface Moses, PS 1, S. 397. Prologue Genesis, PS 1, S. 398: „Though a man had a precious jewel and rich, yet if he wist not the value thereof, nor wherefore it served, he were neither the better nor richer nor of a straw. Even so, though we read the scripture, and babble of it never so much, yet if we know not the use of it, and wherefore it was given, and what is therein to be sought, it profiteth us nothing at all“. Vor eine ähnliche „Entscheidungssituation“ (Müller, S. 213) sieht auch Bucer das deutsche Volk gestellt, wenn er schreibt: „Nun aber hat der barmhertzig Gott und vatter uns vor allen nationen mit lauter und gewisser seines heyli­ gen worts erkanntnis gnediglich und reychlich begabet, aufferwecket, die die heyligen biblischen buecher sampt vil andern nutzlichen und heilsamen schrifften im Teutsch las­ sen außgen, Domit auch die, so nit moegen redende lerer haben, doch von den stummen­ den predigern, das ist auß den buechern, der warheit bericht werden“ (Bucer, Psalter wol verteutscht (1526), BDS 2, S. 187,19–25). 100  Prologue Genesis, PS 1, S. 398. 101  Ebd. Tyndale führt als Belege 2 Tim 3,14 ff ; Eph 6,17 ; Röm 15,4; 1 Kor 10,6 ff an; zur Verwendung von 2 Tim 3,16 f bei Bucer vgl. Stephens, Bucer, S. 94. 102  Prologue Genesis, PS 1, S. 399. 103  Vgl. ebd.: „Seek therefore in the scripture as thou readest it, first the law, what God

4.3  Die Vorreden

199

Um sich die Botschaft der Bibel zu vergegenwärtigen, fordert Tyndale seine Leser auf, in der Schrift nach Beispielen („ensamples“) zu fahnden, an­ hand deren sie nachvollziehen können, wie Gott diejenigen, die ihm nachfol­ gen, prüft, bevor er sie erlöst.104 Darüber hinaus sollen sie sich als negative Beispiele auch das Leiden der Sünder vor Augen führen, um der eigenen Sün­ den gewahr zu werden.105 Ähnliches formuliert Bucer in seinem ZephanjaKommentar von 1528,106 und auch Luther hat in seiner „Unterrichtung wie sich Christen in Mose sollen schicken“ (1525) die Beispielhaftigkeit alttesta­ mentlicher Geschichten als Grund für das Studium der fünf Bücher Mose be­ nannt.107 Die Geschichten des Pentateuch sollen gewissermaßen als Hand­ werkszeug der Glaubenden dienen, an denen sich Gottes Handeln an den Menschen ersehen lässt. Tyndale führt mehrere „ensamples“ aus dem Buch Genesis vor:108 So macht er am Beispiel von Kain und Abel (Gen 4) deutlich, wie wenig unterscheidbar für menschliche Augen die Werke sind, die Gott ganz unterschiedlich ge­ wichtet, weil er ins Herz der Menschen schaut. Abraham wird von Tyndale nicht nur als hervorragendes Beispiel des Glaubens genannt, sondern auch als harter Arbeiter, an dem sich die Leser klar machen sollen: „Gott hat uns nicht dazu geschaffen, um in der Welt faul zu sein“109. Jakob rückt nicht so sehr als commandeth us to do; and secondarily, the promises which God promiseth us again, na­ mely in Christ Jesus, our Lord“. Die Botschaft der Schrift wird von Tyndale also, wie schon in der NT-Vorrede von 1525/1526 und „Obedience“, grundsätzlich als Zweiklang von Gesetz und Evan­ge­lium im Sinne Luthers verstanden, auch wenn er diese Bestim­ mung theologisch nicht weiter ausführt (s.o. 2.7.2.1 und 3.4.1; vgl. auch WA.DB 8, S. 12,9–22, Vorrede zum Alten Testament, 1523; WA 16, S. 366,28–367,30, Unterrichtung, 1525). Clebsch, S. 157, übersieht diese grundsätzliche Zuordnung, wenn er mit Bezug auf Tyndales Pentateuchvorreden schreibt: „No longer were promises of God the kernel of scripture. Now one must look first to the law for the true way of living, then to the pro­ mises for the true way of hoping“ (dazu auch s.u. 4.5.5). 104  Vgl. Prologue Genesis, PS 1, S. 399: „how God purgeth all them, that submit them­ selves to walk in his ways, in the purgatory of tribulation, delivering them yet at the latter end“. 105  Vgl. ebd.: „note the ensamples which are written to fear the flesh, that we sin not: that is, how God suffereth the ungodly and wicked sinners that resist God“. 106  „Omnia etenim sacra propter nostram doctrinam scripta sunt (Röm. 15,4) et quic­ quid veteri populo accidit, typus est, in quo opera et iudicia Dei tam erga pios quam erga impios deliniata considerari debent (1. Cor. 10,6)“ (zitiert bei Müller, S. 213, Kursivie­ rung im Original). 107  Vgl. WA 16, S. 391,19 f (Unterrichtung, 1525): „Zum dritten lesen wir Mosen wegen der schönen Exempel des glaubens, der liebe und des creutzes“. 108  Vgl. Prologue Genesis, PS 1, S. 400: „such things happen them for our ensample, not that we should counterfeit their evil; but if, while we fight with ourselves, enforcing to walk in the law of God as they did, we yet fall likewise, that we despair not, but come again to the laws of God, and take better hold. […] As thou readest, therefore think that every syllable pertaineth to thine own self, and suck out the pith of the scripture, and arm thyself against all assaults.“ 109  A.a.O., S. 401: „God hath not made us to be idle in this world“.

200 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Empfänger göttlicher Verheißung in den Fokus des Interesses, sondern weil er den Lesenden Vorbild sein kann in seiner Schwäche. Gerade in der Umkehr des Sünders Jakob sieht Tyndale einen Anknüpfungspunkt.110 An ihm und anderen wird für ihn deutlich, dass menschliche Unzulänglichkeit die Gnade Gottes nicht aufheben kann.111 Diese Beispiele sollen sich die Leser darum vor Augen führen, um die Übersetzung so „for their learning and comfort“112 zu nutzen. 4.3.2.2  Glossar zur Genesis Tyndale ergänzt seine Einleitung von 1530 um eine Art „exegetisches Glos­ sar“113, in dem er unter Rückgriff auf das Hebräische bestimmte Ausdrücke erläutert, teilweise nur durch die Angabe eines Synonyms,114 teilweise mit längeren sprachlichen und theologischen Ausführungen. Von letzteren sind insbesondere seine Erklärungen der theologischen Begriffe „Bless“, „Curse“, „Faith“, „Testament“ und „Walk“ von Interesse. Unter dem „Segen“ („Bless“) versteht Tyndale jene Gabe des göttlichen Geistes, die mit Rechtfertigung und Heiligung verbunden ist, wie die Se­ genszusage an Abraham zeigt: „Gott segnet in Abrahams Samen auch alle Völker, das heißt, er wendet ihnen seine Liebe und Gnade zu und gibt ihnen seinen Geist und die Erkenntnis des rechten Weges und Lust und Kraft auf ihm zu gehen“115.

Das Gegenteil dieser göttlichen Segensgabe ist der Fluch („Curse“), mit dem Gott seine Wohltaten wieder zurücknimmt. Doch hier kommt es auf den Kontext an: Während die Ungläubigen im Leiden der Verfluchten einzig den Zorn Gottes spüren können, ist er für die Glaubenden ein reinigendes Feg­ feuer, das von fleischlichem Verlangen befreit.116 110  111 

Vgl. a.a.O., S. 402: „Mark also the weak infirmities of the man“. Vgl. a.a.O., S. 400: „That they were written for our consolation and comfort; that we despair not, if such like happen to us. We be not holier than Noe, though he were once drunk; neither better beloved than Jacob, though his own son defiled his bed. We be not holier than Lot […] Neither are we holier than David“. 112  A.a.O., S. 403. 113  „A table, expounding certain words in the first book of Moses, called Genesis“ (Prologue Genesis, PS 1, S. 405–410). Auch den Vorreden zu Exodus und Deuteronomium fügt Tyndale eine Liste mit Erklärungen an, die jedoch keine tieferen theologischen Be­ griffserläuterungen enthält, vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 419 f; Prologue Deuteronomy, PS 1, S. 445 f. 114  Worterklärungen sind z.B.: „Eden. Pleasure“; „Firmament. The Sky“ (Prologue Genesis, PS 1, S. 407). Aus dem Hebräischen hergeleitet werden z.B. „Jehovah“ und „Mar­ shal“ (a.a.O., S. 408). 115  A.a.O., S. 406: „God also blesseth all nations in Abraham’s Seed; that is, he turneth his love and favour unto them, and giveth them his Spirit and knowledge of the true way, and lust and power to walk therein“. 116  Vgl. ebd.: „God’s curse is taking away of his benefits […] unto them that know

4.3  Die Vorreden

201

Bei der Erklärung von „Glaube“ („faith“) bezieht sich Tyndale mit Paulus auf Abraham (Gen 15) und definiert ihn als: „believing of God’s promises, and a sure trust in the goodness and truth of God“117. An Abraham kann Tyndale zugleich verdeutlichen, dass dem wahren Glauben notwendig gute Werke folgen, denn sein Glaube ist zugleich „mother of all his good works which he afterwards did“118. Gute Werke, die aus dem Glauben heraus geschehen, ha­ ben als wahrhaftiger „Gottesdienst“ ihren Ort im Alltag.119 Seine Gestalt gewinnt das Gottesverhältnis des Menschen im „Testament“, das Tyndale zweifach definiert als „an appointment made between God and man, and God’s promises“120. In diesem kurzen Hinweis deutet sich schon die Definition von „Bund“ an, die für Tyndale später so wichtig wird.121 Auch die Sakramente definiert er schon hier als Bundeszeichen und nennt als Bei­ spiele den Regenbogen (Gen 9) und die Beschneidung (Gen 17). Auch die Taufe ist als Bundeszeichen zu verstehen, in dem Gottes Zuspruch und An­ spruch zusammenfallen.122 Aus ihr folgt ein gottgemäßer „Wandel“ („Walk“), d.h. ein Leben im Einklang mit Gottes Geboten.123

Christ they are very blessings, and that wholesome cross and true purgatory of our flesh, through which all must go that will live godly and be saved“. 117  A.a.O., S. 407; vgl. Bucer, Epheserkommentar (1527), de Kroon, S. 146; dazu auch Müller, S. 23. 118  Prologue Genesis, PS 1, S. 407. Gerade in der Genesis findet Tyndale zahlreiche Bei­ spiele für Verhaltensweisen, die, obwohl sie vor der Welt als falsch gelten, von Gott als gut angesehen werden, weil sie aus dem Glauben heraus geschehen, vgl. ebd.: „To steal, rob, and murder, are no holy works before worldly people; but unto them that have their trust in God they are holy, when God commandeth them“. Diese Definition guter Werke wird man wohl bedenken müssen, wenn man Tyndale, wie z.B. Clebsch, S. 195–204, „Lega­ lismus“ und „Moralismus“ vorhält. 119  Vgl. Prologue Genesis, PS 1, S. 407: „to sew a shoe at the commandment of God, to do thy neighbour service withal, with faith to be saved by Christ, as God promiseth us, is much better than to build an abbey of thine own imagination, trusting to be saved by the feigned works of hypocrites“. 120  A.a.O., S. 409. 121  S.u. 6.3–6.4 und 6.5.1; vgl. dazu auch Dembek, S. 113–121. 122  Vgl. Prologue Genesis, PS 1, S. 409: „baptism […] signifieth on the one side, how that all that repent and believe are washed in Christ’s blood; and on the other side, how that the same must quench and drown the lusts of the flesh, to follow the steps of Christ“. S.u. 6.3.2 und 7.5.2. 123  Vgl. ebd.: „To walk with God is to live godly, and to walk with in his command­ ments“.

202 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) 4.3.3  „A Prologue into the second book of Moses, called Exodus“ (1530) 4.3.3.1  Mose als Pädagoge Gottes Auch im Vorwort zum 2. Buch Mose geht es Tyndale vor allem darum, die Bezüge zwischen der Welt des Alten Testaments und der Welt seiner Leser­ schaft herauszuarbeiten,124 indem er typologisch Parallelen zwischen dem Volk Israel und der Schar der Glaubenden im England seiner Zeit aufzeigt:125 Als Gottesfürchtige werden beide um ihres Glaubens willen von der Welt ge­ hasst und verfolgt.126 Doch der Hass der Welt kann ihnen nichts anhaben, es sei denn, sie selbst fallen vom Glauben ab – ein Abfall, der sich in mangelnden guten Werken manifestiert und von Gott mit Verfolgung geahndet wird.127 Der tröstend-mahnende Ton, der Tyndales Leserschaft bereits aus dem Vor­ wort von „Obedience“ bekannt war, kehrt hier im Zusammenhang der Rede vom Gottesvolk wieder.128 Tyndale ermahnt seine Leser, in der Geschichte des Volkes Israel zu erken­ nen, dass die „mighty hand of the Lord“129 in längeren Zeiträumen und kom­ plexeren Kontexten wirkt, als menschliche Geduld dies einzusehen vermag. Darum sollen sie Mose als Beispiel für „long-suffering and soft patience“130 betrachten, mit der ein Mensch an Gottes Verheißungen festhalten und die Anfechtungen der Welt ertragen kann. Zwar ist Mose nicht – wie bei John Fisher – als Figuration Christi misszuverstehen, wohl aber als Beispiel eines guten Herrschers.131 124  Vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 411: „For as God used himself unto them in the old Testament, even so shall he unto the world’s end use himself unto us which have received his holy scripture, and the testimony of his Son Jesus […] And on the other side, as they that fell from the promise of God through unbelief, and from his law and ordinances through impatiency of their own lusts, were forsaken of God, and so perished“. Die Beto­ nung der „eigenen Lüste“ steht in gewisser Spannung zu Tyndales Erwählungsterminolo­ gie und kann als weiteres Indiz dafür gelten, dass seine Vorstellung der predestinatio kein geschlossenes Lehrsystem darstellt (s.u. 4.5.3). 125  In dieser Form der historischen Typologisierung lehnt sich Tyndale möglicher­ weise an die Auslegungspraxis Martin Bucers an, vgl. Müller, S. 212 ff. 126  Vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 411: „The cause of all captivity of God’s people is this: the world ever hated them for their faith and trust which they have in God“. 127  Vgl. a.a.O., S. 412: „God persecuteth us because we abuse his holy testament, and because that, when we know the truth, we follow it not“. 128  S.o. 3.3.3. 129  Ebd. 130  Ebd. 131  Vgl. ebd.: „And make not Moses a figure of Christ, with Rochester; but an ensam­ ple unto all princes, and to all that are in authority, how to rule unto God’s pleasure and unto their neighbour’s profit“ (s.o. 3.3.5.3). Gegen Clebsch, S. 157 f, der versucht Tyn­ dales Mose-Bild gegen das Luthers auszuspielen, vgl. WA 16, S. 376,26 ff (Unterrichtung, 1525): „Ich wolt wol gerne, das die herrn regirten nach dem exempel Mose, Und wenn ich Keiser were, wolt ich dar aus ein exempel nehmen der satzungen“.

4.3  Die Vorreden

203

An den Erzählungen von den Wundern des Mose, die den Glauben der Is­ raeliten in Zeiten der Anfechtung stärken, sollen die Leser erkennen, wie sich an der Art und Weise, mit der die Menschen das von Gott auferlegte Kreuz tragen, die nur vermeintlich von den wahrhaftig Glaubenden unterscheiden lassen. Allerdings ist die Fähigkeit, den Anfechtungen im Glauben standzu­ halten, nicht als menschliche „Glaubensleistung“ misszuverstehen. Glaube ist Geschenk und kommt mit der Gabe des göttlichen Geistes.132 Geist und Glaube gehören für Tyndale zusammen, ohne dass er sie einander eindeutig zu- bzw. nachordnet.133 Diese Ungenauigkeit unterstreicht, dass es ihm um einen umfassenden Prozess geht, in dem sich Geist, Glaube und Liebe nicht voneinander trennen lassen, sondern als Elemente einer aufgrund der Begeg­ nung mit der promissio der Schrift geschehenden Verwandlung des Menschen zu verstehen sind.134 Mose ist für Tyndale darum gerade darin vorbildlich, dass er seinem Volk das Gnadenhandeln Gottes vor Augen führt und es zu­ gleich an die Konsequenz des Vertrauens auf die göttliche Gnade erinnert, nämlich die Liebe zum Nächsten, die die Summe des Gesetzes ist.135 Vom Liebesgebot her deutet Tyndale auch diejenigen alttestamentlichen Gebote, die sich dem christlichen Leser nicht auf den ersten Blick erschlie­ ßen. So lassen sich bei genauerem Hinsehen („if a man search diligently“136) auch die Speisegebote als Ausdruck der Liebe deuten: „Dass einem Menschen verboten wird, ein Zicklein in der Milch der Mutter zu kochen, bewegt uns zum Mitgefühl und zum Mitleid“137. Tyndale geht es durchaus nicht darum, die englische Christenheit zur Befolgung der jüdischen Speisegebote anzulei­ ten, er kann sie jedoch positiv würdigen als pädagogische Hilfsmittel zur ei­ 132  Vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 412 f: „Where thou seest that all be not Christians that will be so called, and that the cross trieth the true from the feigned; for if the cross were not, Christ should have disciples enough. Whereof also thou seest, what an excellent gift of God true faith is, and impossible to be had without the Spirit of God“. 133  An anderer Stelle kann er von einer Gleichzeitigkeit beider oder einem Vorrang des Glaubens sprechen, vgl. Mammon, PS 1, S. 54: „The Spirit of God accompanieth faith, and bringeth with her light“ (s.o. 3.2.5.2) bzw. Mammon, PS 1, S. 126: „faith justifieth us not, that is to say, marrieth us not to God, that we should continue unfruitful as before, but that he should put the seed of his holy Spirit in us […] to make us fruitful“ (s.o. 3.2.5.6). 134  Auch bei Bucer konstatiert Stephens, Bucer, S. 66, eine solche Verschiebung der Gewichtung von Glauben und Geist: „The Holy Spirit leads to faith and is given to those who have faith. The earlier writings of Bucer speak of the second of these rather than of the first“. S.o. 2.7.2.3 u. 3.4.1.1. 135  Prologue Exodus, PS 1, S. 414: „How also doth he [d.i. Moses] provoke them to love […] and how goodly laws of love giveth he, to help one another; and that a man should not hate his neighbour in his heart, but love him as himself, Lev. XIX“; vgl. Bucer, Grund und Ursach (1524), BDS 1, S. 224,3–225,25. 136  Prologue Exodus, PS 1, S. 414 137  Ebd.: „As that a man is forbid to seeth a kid in his mother’s milk, moveth us unto compassion, and to be pitiful“.

204 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) genen Ausrichtung der Glaubenden in der Liebe, die nicht beim Menschen endet: „[Gott] will, dass der Mensch Rücksicht nimmt selbst auf die wilde Kreatur“138. Auch die Zeremonialgesetze interpretiert Tyndale als „Erziehungsmaß­ nahme“, um das Volk Israel vom Götzendienst abzuhalten.139 So erklärt er etwa die Verzierungen des Allerheiligsten, die in Exodus so ausführlich be­ schrieben werden, damit, „dass sie nichts vergleichbar Schönes bei den Hei­ den sehen sollten“140. Ebenso dienten nach seiner Auffassung die Opferzere­ monien gewissermaßen als göttliche „Beschäftigungstherapie“, damit sich die Israeliten nicht heidnischen Kulten zuwandten.141 Diese göttliche Pädagogik, die Tyndale im Pentateuch beschrieben sieht, findet mit dem Kommen Christi ihr Ende, mit dem das Verhältnis Gottes zu den Menschen auf eine neue, hö­ here Basis gestellt wurde.142 4.3.3.2  Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament Die heilsgeschichtliche Zäsur des Kommens Christi macht eine grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament nötig, der sich Tyndale zum Abschluss des Vorwortes zuwendet. Dabei ordnet er dem Alten Testament die Kategorie der Vergänglichkeit, dem Neuen die der Ewig­ keit zu: Wo das Alte Testament „temporal promises“ und „temporal bless­ ings“143 enthält, wird es vom Neuen Testament überboten, das in Christus „everlasting promises“144 bereithält. Das Alte Testament war für Tyndale aufgebaut auf der Tun-Ergehen-Lo­ gik einer Einhaltung des Gesetzes um des diesseitigen Lohnes willen.145 Es 138  139 

Ebd.: „[God] will have a man shew courtesy upon the very beasts“ Vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 414: „as children are led in the fantasies of youth, until the discretion of man’s age be come upon them“. 140  A.a.O., S. 415: „that they should see nothing so beautiful among the heathen“. 141  Vgl. ebd. „to occupy their minds, that they should have no lust to follow the hea­ then“; vgl. Bucer, Epheser-Kommentar (1527), de Kroon, S. 162: „At vere credere DEO et non celebrare nomen eius non potes, quod igitur DEUS in sacrificiis potissimum requisi­ vit, nempe ut fidem suam in DEI bonitatem gratumque animum illis testarentur, abroga­ tum non fuit“. 142  Vgl. WA.DB 8, S. 20 f (Vorrede zum Alten Testament, 1523): „Darumb, wo nu Chris­ tus kompt, da horet das gesetz auff, sonderlich das Leuitissche, wilchs sunde macht da sonst von art keyn sund ist“; vgl. das charakteristisch davon abweichende Verständnis von Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 87: „Non igitur, quicquid externum in Mo­ sche praeceptum est ac ideo rerum spiritualium in regno Christi figura et adumbratio [cf. Col 2,17], in regno Christi, quatenus id quod hic fide vivit et a Domino adhuc peregrina­ tur, abolitum est“. 143  Prologue Exodus, PS 1, S. 415. 144  A.a.O., S. 417. 145  Vgl. a.a.O., S. 415: „the old testament was built altogether upon the keeping of the law and ceremonies; and was the reward of keeping them in this life only“.Tyndale er­ kennt zwar an, dass das Gesetz zum (diesseitigen) Leben dient (Lev 18,5 ; Röm 10,5; Gal

4.3  Die Vorreden

205

konnte somit das Gesetz immer nur als Forderung erheben, nicht aber von seiner tatsächlichen Erfüllung sprechen. Es ist daher vor allem „Zuchtmeister auf Christus hin“ (Gal 3,24), denn dieser erst ermöglicht die Befreiung von den Forderungen des Gesetzes und zugleich zur Befolgung der Gebote aus Liebe zum Gesetz.146 Das Neue Testament, das auf dem Glauben und nicht auf Werken aufbaut, beschreibt für Tyndale den Verwandlungsprozess, in dem der Mensch im Glauben Gottes Liebe erfasst und Gottes Geist geschenkt bekommt, der ihn zum freiwilligen Tun der Gebote führt.147 Wer auf diese Weise erneuert wurde, hat das Stadium der Kindheit, in dem sich die Israeli­ ten noch befanden, überwunden, und ist befreit von der Pädagogik des Ge­ setzes.148 Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evan­ge­lium, derzufolge das Alte Testament in der Tendenz eher ein „gesetz buch“ und das Neue Testa­ ment eher ein „gnade buch“149 ist, findet sich bei Tyndale in einer für ihn charakteristischen Variation. Er verwendet viel Mühe darauf, die Gesetze des Alten Testament im Sinne einer göttlichen Pädagogik zu erklären, wo Luther sie als nur für Israel verbindliches Mose-Gesetz bzw. als in die Her­ zen aller Menschen geschriebenes Naturgesetz qualifiziert.150 Tyndales ­Beschreibung des Neuen Testaments macht wiederum deutlich, dass er die Annahme des Evan­ge­liums durch die Glaubenden als geistgewirkten Verän­ derungsprozess versteht, in dessen Gefolge das Gesetz in Gestalt des Liebes­ gebotes als von Herzen kommender Gottesdienst eine neue Rolle bekommt. 3,12), aber es spricht niemanden vor Gott gerecht, vgl. ebd.: „For neither the law, even of the ten commandments, nor yet the ceremonies, justified in the heart before God, or pu­ rified unto the life to come“. 146  Vgl. a.a.O., S. 416: „the law was given to utter sin, death, damnation, and curse, and to drive us unto Christ, in whom forgiveness, life, justifying, and blessings were pro­ mised; that we might see so great love of God to us-ward in Christ; that we, henceforth overcome with kindness, might love again, and of love keep the commandments“. Über diese Entgegensetzung von Altem und Neuem Testament bzw. Gesetz und Evan­ge­lium hinaus betont Tyndale – Luther folgend –auch, dass bereits im Alten Testament „Evan­ge­ lium“ enthalten ist. Auch Bucer erkennt „Christus als den bereits im Alten Bunde wirken­ den Herrn“ (Müller, S. 214). 147  Vgl. Prologue Exodus, PS 1, S. 417: „that testament is built on faith, and not in works“; vgl. ebd.: „the Spirit entereth the heart, and quickeneth it, and giveth her life, and justifieth her. The Spirit also maketh the law a lively thing in the heart; so that a man brin­ geth forth good works of his own accord, without compulsion of the law“. 148  Vgl. ebd.: „he which hath the Spirit of Christ is now no more a child: he neither learneth nor worketh now any longer for pain of the rod, or for fear of bugs or pleasure of apples, but doth all things of his own corage“. Freilich ist für Tyndale auch der „Rückfall“ denkbar, nämlich wenn das „Fleisch“ die Oberhand gewinnt (s.u. 4.3.5.2). Auch Bucer spricht mit Eph 4,13 vom „virum perfectum, plene adultae aetatis Christi“ (Bucer, Enarratio Iohannis, 1528, BOL 2, S. 387 f). 149  WA.DB 8, S. 12,9.12 (Vorrede zum Alten Testament, 1523). 150  Vgl. die Überschrift WA 16, S. 371,26 (Unterrichtung, 1525): „das gesetz Mose bin­ det die heyden nicht, sondern allein die Jueden“; dazu auch Althaus, Theologie, S. 86 f.

206 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Er kann hier darum auch von einer „doppelten“ Rechtfertigung coram mundo und coram deo sprechen: „Das Neue Testament war schon immer da, von Anbeginn der Welt an. Denn schon immer gab es die Verheißung des Kommens Christi. Durch den Glauben an diese Ver­ heißungen wurden die Erwählten innerlich vor Gott gerechtfertigt, so wie sie äußer­ lich vor der Welt gerechtfertigt wurden durch die Einhaltung des Gesetzes und der Zeremonien“151.

Wenn Tyndale daher seine Leserschaft zum Schluss ermahnt, sich angesichts der Geschichte des Volkes Israel bewusst zu machen, dass die Befolgung bzw. Nichteinhaltung des Gesetzes mit Segen bzw. mit Fluch verbunden ist,152 darf dies nicht als „Gesetzlichkeit“ missverstanden werden. Denn für die Glaubenden stellt sich die Frage nach der Gebotsbefolgung in Wahrheit nicht. Sie sind Getriebene der Liebe, die der Geist in ihren Herzen wirkt: „Wenn mich jemand fragen würde, der erkennt, dass der Glaube mich gerecht macht: ‚Warum soll ich noch gute Werke tun?‘, so antworte ich: ‚Die Liebe zwingt mich dazu.‘ Denn solange meine Seele die Liebe fühlt, die Gott mir in Christus gezeigt hat, kann ich nicht anders, als auch Gott, seinen Willen und seine Gebote zu lieben und aus Liebe nach ihnen zu handeln, auch erscheinen sie mir nicht mehr hart zu sein“153.

4.3.4  „A Prologue into the third book of Moses called Leviticus“ (1530) 4.3.4.1  Das Einbezogenwerden in Gottes Geschichte: Zur Hermeneutik alttestamentlicher Texte Das Buch Leviticus, das ausschließlich Gesetzeskorpora enthält, verlangt Tyndale eine besondere Antwort auf die Frage ab, warum es für seine Leser­ schaft überhaupt von Interesse sein soll. Tyndale räumt diese Schwierigkeit zu Beginn seiner Vorrede indirekt selbst ein, indem er erneut darauf verweist, dass das Zeremonialgesetz nur eine vorläufige pädagogische Bedeutung hatte bis zum Kommen Christi.154 Für Israel ist das Gesetz gleichsam wie eine 151 

Prologue Exodus, PS 1, S. 417: „The new testament was ever, even from the begin­ ning of the world. For there were always promises of Christ to come, by faith in which promises the elect were then justified inwardly before God, as outwardly before the world by keeping of the law and ceremonies“. Auffällig im Vergleich mit Luther ist hier wiede­ rum, dass Tyndale die Erwählungsvorstellung so hervorhebt („elect“), s.o. 3.4.1.2. 152  Tyndale differenziert explizit nicht zwischen Mosetora und dem „law of nature“ (a.a.O., S. 418). 153  Ebd.: „If any man ask me, seeing that faith justifieth me, ‚Why I work?‘ I answer, ‚Love compelleth me.‘ for as long as my soul feeleth what love God hath shewed me in Christ, I cannot but love God again, and his will and commandments, and of love work them, nor can they seem hard unto me“. 154  Prologue Leviticus, PS 1, S. 421: „And as the shadow vanisheth away at the coming of the light, even so do the ceremonies and sacrifices at the coming of Christ; and are hence­

4.3  Die Vorreden

207

Amme für unmündige Kinder gewesen.155 Doch auch diese Kinderzeit trägt für Tyndale im Erwachsenenalter noch Früchte, ebenso wie Kinder durch das Spielen auf das spätere Leben vorbereitet werden. Als „mütterliche Weisun­ gen“ haben die alttestamentlichen Gebote nämlich die Funktion, den Gehor­ sam gegenüber der Mutter einzuüben.156 In Tyndales familiärer Metaphorik bleibend, könnte man darum formulieren: Auch die (erwachsenen) Christen können durch das Studium dessen, was den (kindlichen) Juden im Buch Levi­ ticus geboten wird, etwas über das Wesen des mütterlichen Gottes lernen. Von weitaus größerem Nutzen sind die alttestamentlichen Gesetzestexte für Tyndale jedoch als eine wertvolle Sprachhilfe des Glaubens, mit deren Hilfe die Aussagen der Schrift als Ganzes angemessen zum Ausdruck gebracht und verstanden werden können: „Und überdies, auch wenn Opfer und Zeremonien nicht der Grund und die Basis sind, um darauf aufzubauen, will sagen: Wir können mit ihrer Hilfe nichts beweisen, so [gilt doch], wenn wir einmal Christus und seine Geheimnisse erkannt haben, können wir uns Figuren, das heißt Allegorien, Vergleiche oder Beispiele ausleihen, die uns Christus eröffnen und die Geheimnisse Gottes, die er – sogar den Lebendigen – in Christus verborgen hat, und wir können sie lebensnäher und einfühlender verkünden, als mit allen Worten dieser Welt“157.

Tyndale findet in den alttestamentlichen Texten den hermeneutischen Fun­ dus, mit dessen Hilfe sich theologische Zusammenhänge verständlich machen lassen. Erstaunlich ist, dass er in diesem Zusammenhang auch von Allegorien und Vergleichen als kommunikativen Mitteln spricht, obwohl er die allego­ rische Schriftauslegung an anderer Stelle scharf kritisiert hatte.158 Der Unter­ forth no more necessary than a token left in remembrance of a bargain is necessary when the bargain is fulfilled“. 155  Vgl. ebd.: „Such ceremonies were unto them as an ABC, to learn to spell and read; and as a nurse, to feed them with milk and pap, and to speak unto them after their own capacity, and to lisp the words unto them, according as the babes and children of that age might sound them again. For all that were before Christ were in the infancy and child­ hood of the world, and saw the sun, which we see openly, but through a cloud, and had but feeble and weak imaginations of Christ, as children have of men’s deeds“. 156  Vgl. a.a.O., S. 421 f: „And though they seem plain childish, yet they be not alto­ gether fruitless; as the puppets and twenty manner of trifles, which mothers permit unto their young children, be not all in vain […] they keep the children in awe, and make them know their mother, and also make them more apt against a stronger age to obey in things of greater earnest“. 157  A.a.O., S. 422: „And moreover, though sacrifices and ceremonies can be no ground or foundation to build upon; that is, thou we can prove nought with them, yet when we have once found out Christ and his mysteries, then we may borrow figures, that is to say allegories, similitudes, or examples, to open Christ, and the secrets God hid in Christ, even unto the quick, and to declare them more lively and sensibly with them than with all the words in the world“. 158  S.o. 3.3.7.2; vgl. auch Bucers Ausführungen „Contra eos qui allegoriis, anagogiis et mysteriis ex Scripturis eruendis intenti sunt“ (Bucer, Enarratio Iohannis, 1528, BOL 2,

208 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) schied zwischen der von Tyndale attackierten Form der allegorischen Ausle­ gung und seiner eigenen Herangehensweise besteht jedoch darin, dass ihm keine Allegorese der einzelnen Elemente eines biblischen Textes vorschwebt, sondern er sich auf den Text als Ganzen bezieht.159 Für Tyndale ist die Alle­ gorie gleichbedeutend mit einem Vergleich, in dem eine biblische Geschichte auf die Lebenswirklichkeit der Leser bezogen wird.160 Er sucht nach den dem biblischen Text inhärenten Strukturelementen, um die Parallele zur Situation der Leser aufzuzeigen, mit dem Ziel, ihnen die Identifikation mit den Aussa­ gen des Textes zu ermöglichen. Es geht Tyndale also – theologisch gespro­ chen – um das Einbezogenwerden der Glaubenden in Gottes umfassende Ge­ schichte mit den Glaubenden.161 DeCoursey bringt dieses hermeneutische Grundprinzip treffend auf den Punkt: „For Tyndale, this comparability ena­ bled an argument to his readers from multiple biblical narratives: God’s sto­ ries are structured thus, and you, readers, are in the middle of one such story, between the promise and the fulfillment“162. Tyndales Methodik ähnelt hier der Bucers, die Müller als „historische Typologie“163 beschrieben hat. Im Sinne dieser Verhältnisbestimmung findet Tyndale in Leviticus zahl­ reiche Vor-Verweise auf die in Christus erfüllten Verheißungen. So kann dem Leser, der sich in die erzählte Heilsgeschichte einfindet, etwa in der Beschrei­ bung des Passalamms (Lev 23) oder des Sündenbocks (Lev 16) schon Christus S. 432). Bucers grundlegende Haltung zur allegorischen Schriftdeutung fasst Stephens, Bucer, 152, wie folgt zusammen: „Allegory, by contrast, is resisted, because it is not the Spirit’s way of interpreting and imports human ideas into the words of the Spirit. With allegories any ideas can be read into a passage and the clear straightforward meaning of the passage is lost“; vgl. auch Müller, S. 100–114. 159  Wenn Fisher beispielsweise Christus mit Mose und Aaron mit dem Papst allego­ risiert, kritisiert Tyndale mit dem Hebräerbrief gerade diese schlichte Gleichsetzung und verweist auf die unterschiedlichen Kontexte; vgl. Obedience, PS 1, S. 208 (PC, S. 69): „Un­ derstand therefore that one thing in the scriptures representeth divers things“. DeCour­ sey, Semiotics, S. 83–86, zeigt, dass Tyndale hier im Gegensatz zu Fisher den hermeneuti­ schen Prinzipien des Erasmus verbunden bleibt. 160  Vgl. Obedience, PS 1, S. 343 (PC, S. 191): „Then hast thou the very use of allegories and how they are nothing but examples borrowed of the scripture to express a text or an open conclusion of the scripture and as it were to paint it before thine eyes, that you mayest feel the meaning and the power of the scripture in thine heart“. 161  Häufig z.B. das Verhältnis von „Verheißung und Erfüllung“, vgl. DeCoursey, Semiotics, S. 81 f. 162  A.a.O., S. 82. 163  Müller, S. 212; Müllers Bewertung dieser Herangehensweise an atl. Texte fällt m.E. zu negativ aus. Zumindest für Tyndale, aber wohl auch für Bucer, trifft nicht zu, dass „das Wesentliche in dieser Geschichte nur das einsame Gegenüber von Gott und Mensch, das sich nach ganz klaren, nicht kontingenten Regeln bestimmt“ (a.a.O., S. 213) ist. Im Gegenteil, gerade durch die Parallelisierung der biblischen Texte mit dem Kontext der Gemeinde wird dieser für die Hörer bzw. Leser lebendig, insofern sie in die Geschichte einbezogen werden.

4.3  Die Vorreden

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aufscheinen.164 Angesichts vieler „false allegories“165 mahnt Tyndale jedoch zur grundsätzlichen Vorsicht im Umgang mit allegorischen Deutungen. Am Beispiel der Taufe macht er noch einmal deutlich, dass Allegorien keine theologische Beweiskraft haben. Sie können nur im oben beschriebenen Sinne erklären, erläutern und anschaulich machen.166 Die Beschneidung (Lev 12) ist deshalb als Präfiguration der Taufe zu verstehen, weil beide gemein­ same Strukturen aufweisen, indem sie zur Identitätsstiftung („common badge“167) und als Unterpfand der Treue Gottes dienen.168 Dadurch dass er etwas über die Beschneidung erfährt, soll der Leser auch besser verstehen, was die Taufe bedeutet.169 4.3.4.2  Zeichen und Sakramente Eine besondere Präfiguration der neutestamentlichen Botschaft in den Texten des Alten Testaments findet Tyndale in den Geboten zu Zeremonien und Op­ ferhandlungen, die er in einer Art Exkurs mit den Sakramenten in Verbin­ dung bringt.170 Die alttestamentlichen Zeremonien unterscheiden sich für Tyndale inso­ fern nicht von den Sakramenten im Neuen Testament, als auch sie wirkungs­ 164  Vgl. Prologue Leviticus, PS 1, S. 422: „some there be that have, as it were, the light of the broad day, a little before sun-rising; and express him [d.i. Christus] and the circum­ stances and virtue of his death so plainly, as if we should play his passion on a scaffold, or on a stage-play, openly before the eyes of the people“. Tyndale vermutet daher, dass die Autoren der atl. Texte, also nach seinem Verständnis Mose und die Propheten, über Got­ tes Heilswillen informiert waren, vgl. ebd.: „I am fully persuaded, and cannot but be­ lieve, that God had shewed Moses the secrets of Christ, and the very manner of his death beforehand […] And I believe also that the prophets, which followed Moses to confirm his prophecies, and to maintain his doctrine unto Christ’s coming, were moved by such thingst to search farther for Christ’s secrets“. 165  A.a.O., S. 425; vgl. ebd.: „allegories prove nothing; and by allegories understand examples or similitudes borrowed of strange matters and of another thing than that thou entreatest of. As though circumcision be a figure of baptism, yet thou cannot prove bap­ tism by circumcision“; vgl.auch a.a.O., S. 428: „beware of allegories; for there is not a more handsome or apt thing to beguile withal than an allegory […] And contrariwise; there is not a better, vehementer, or mightier thing to make a man understand withal, than an allegory“. 166  Vgl. a.a.O., S. 426: „As when I have a clear text of Christ and the apostles, that I must be baptized, then I may borrow an example of circumcision to express the nature, power, and fruit, or effect of baptism“. 167  Ebd.; vgl. Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 85. 168  Auch Zwingli entwickelt im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den Täufern um die Kindertaufe diesen Verweis auf die Beschneidung als Bundeszeichen und Vorläu­ fer der Taufe, vgl. Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 155,22–172,5. 169  Bezogen auf das Bild von der „ehernen Schlange“ in Joh 3,14 f hält Tyndale fest: „By which similitude the virtue of christ’s death is better described than thou couldest de­ clare it with a thousand words“ (Prologue Leviticus, PS 1, S. 426 f). 170  Vgl. a.a.O., S. 422–425.

210 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) voll sind, nicht aufgrund ihres Vollzugs, sondern allein durch die Verheißung, die mit ihnen verbunden ist: „Ihre Opfer und Zeremonien […] standen ihnen an gleicher Position wie bei uns die Sakramente; nicht durch die Kraft des Opfers oder der Handlung selbst, sondern durch den Wert des Glaubens an die Verheißung, die jenes Opfer oder jene Zeremonie ver­ kündigt und für die sie ein Unterpfand oder Zeichen war“171.

Beide, Zeremonien im Alten und Sakramente im Neuen Testament, haben demnach die Verknüpfung von promissio und signum gemeinsam.172 Was sie wirkungsvoll macht, ist nicht die Zeichenhandlung selbst, sondern der Glaube an das Verheißungswort. Funktion des Zeichens ist es, die Verheißung einzu­ prägen und den Glauben zu wecken.173 Auch wenn die Wortwahl („Zeichen“) an Zwinglis Position erinnert, ist doch festzuhalten, dass für Tyndale die Zei­ chen keine bloß den äußeren Menschen erreichenden Signale sind, sondern insofern sie eine Glaubensstärkung im Innern bewirken, auch wirkmächtige Zeichen sind.174 Von diesem Verständnis her erinnert Tyndale die Leser an das rechte Ver­ ständnis von Taufe und Abendmahl: Auch in der Taufe sind der Zuspruch der Vergebung der Sünden und die Gabe des göttlichen Geistes, der die Erneue­ rung des Täuflings betreibt, entscheidend.175 Gottes Geist wirkt durch das 171 

A.a.O., S. 422 f: „their sacrifices and ceremonies […] stood them in the same stead as our sacraments do us; not by the power of the sacrifice or deed itself, but by the virtue of the faith in the promise, which the sacrifice or ceremony preached, and whereof it was a token or sign“; vgl. Bucers Unterscheidung zwischen den atl. Zeremonien und den ntl. Sakramenten in seinem Evangelienkommentar von 1527: „eo solo differunt, quod nostra sacramenta vitam Dei et significant revelatius, et exhibent efficacius. Caeterum ut idem Deus est, eadem fides sanctorum, qua illi vitam Dei percipiunt, eadem fidei doctrina, ita non potest aliud esse, quod Dominus per suas ceremonias olim, et quod modo post Chris­ tum revelatum in Ecclesia sua gerit: nec interest aliud quam quod sicut caetera omnia, ita et sacramenta modo sunt cum revelationis amplioris, tum spiritus potentioris“ (zitiert bei Lang, S. 260). 172  Diese Verknüpfung findet sich freilich auch und zuerst bei Luther, vgl. Althaus, Theologie, S. 297: „Sakrament ist für Luther die Verbindung eines Verheißungswortes mit einem Zeichen, also eine Verheißung, der ein von Gott eingesetztes Zeichen, ein Zeichen, dem eine Verheißung beigegeben ist.“ 173  Vgl. Prologue Leviticus, PS 1, S. 423: „to keep the promise in remembrance, and to wake up their faith“. Die Notwendigkeit des Hörens auf das Wort ist auch der Grund da­ für, dass sich Tyndale gegen die Feier des Messopfers zugunsten Verstorbener wendet; vgl. a.a.O, S. 424: „And now their sinful members be dead, so that they can now sin no more; wherefore it is unto them that be dead neither sacrament nor sacrifice“. 174  S.u. 7.5.2.1. 175  Tyndale illustriert das, was in der Taufe geschieht, am Beispiel der Beschneidung, vgl. a.a.O., S. 426: „For as circumcision was unto them [d.i. die Israeliten] a common badge, signifying that they were all soldiers of God […] even so baptism is our common badge […] And as circumcision was a token certifying them that they were received unto the favour of God […] even so baptism certifieth us that we are washed in the blood of Christ […] and as circumcision signified unto them the cutting away of their own lusts

4.3  Die Vorreden

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Wort und bedarf dafür nicht der „Verkleidung“ durch das äußerliche Zei­ chen.176 Gleiches gilt für das Abendmahl, das eben – entgegen der römischen Lehre – nicht als Opferhandlung zu verstehen ist: „Darum aber ist es [d.i.. das Abendmahl] eigentlich kein Opfer, sondern ein Sakra­ ment und eine Gedächtnis des ewig geltenden, ein für allemal geschehenen Opfers, das er [d.i. Christus] am Kreuz darbrachte vor nun fünfzehnhundert Jahren“177.

Tyndale spricht hier erstmals explizit von „Gedächtnis“ („memorial“) als Grundzug des Abendmahls.178. Möglicherweise will Tyndale mit diesem „zwinglianischen“ Begriff Stellung beziehen in der sich verstärkenden Ausei­ nandersetzung zwischen den Reformatoren in Wittenberg und Zürich bzw. Oberdeutschland, zu der er sich auch in seiner erst posthum veröffentlichten „Declaration upon the Sacraments“179 geäußert hat.180 Die Aufnahme beider Begriffe, „sacrament“ und „memorial“, könnte darauf schließen lassen, dass Tyndale den von Luther und Zwingli ausgetragenen Disput nicht mitmachen […] even so baptism signifieth unto us repentance“; vgl. Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 71 f: „Ex quibus videmus baptismatum usum ex prisca, cum Iudaeorum tum gentium, religione mutuatum esse. Omnes enim baptismatis lustrationem quandam et peccatorum ablutionem cum initiatione ad sacras actiones quaesierunt. Sic ergo cum re­ gnum Dei non pateat nisi renatis [cf. Io 3,3] et lustratis“. 176  Vgl. Prologue Leviticus, PS 1, S. 424: „So now if baptism preach me the washing in Christ’s blood, so doth the Holy Ghost accompany it; and that deed of preaching through faith doth put away my sins. For the Holy Ghost is no dumb God, nor no God that goeth a mumming“. 177  Ebd.: „And therefore it is properly no sacrifice, but a sacrament, and a memorial of that everlasting sacrifice once for all, which he offered upon the cross now upon a fifteen hundred years ago“; vgl. Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524), BDS 2, S. 109,35 ff: „Dartzů haben wir vil schrifft, das das Opfer Christi, als er sich selb hat dem vatter am creütz uffgeopfert, ein beschlussz sey aller opfer, dadurch wir in ewigkeit gereyniget wer­ den, alle, die glauben“; vgl. auch Ders., Psalter wol verteutscht (1526), BDS 2, S. 220,9–13: „Darumb sol man solchs bey dem tisch des herren bedencken, predigen und preysen, wie Paulus sagt [Zitat 1 Kor 11,26]. An solcher verkündigung und gedechtnis ligt es alles“. 178  Vgl. Zwingli, Schlußreden (1523), Z II (CR 89), S. 136,15–19: „Also wirdt nach den so starcken bewärnussen der geschrifft überblyben, so das heilig maß der seel nit ein opffer ist, das es ein wiedergedächtnus und ernüweren ist deß, das, einest beschehen, in die ewigkeit krefftig ist und tür gnůg, für unser sünd gnůg ze thůn der grechtigheit gottes“. Zwingli sieht 1523 in seiner Definition noch keinen Gegensatz zu Luther; noch 1527 wirft er ihm vor, in der Frage nach dem „Denkmal oder Erinnerungszeichen“ einen künstlichen Gegensatz zu konstruieren, vgl. Zwingli, Daß diese Worte Jesu Christi (1527), Z V (CR 92), S. 832,9–835,19. 179  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 345–385. Tyndale hat diese Schrift (bewusst?) nicht veröf­ fentlicht; der 1533 anonym in Antwerpen erschienene Traktat „The Supper of the Lord“ stammt, wie O’Sullivan nachgewiesen hat (vgl. O’Sullivan, besonders S. 228), nicht von ihm, sondern vermutlich von George Joye; zu Tyndales Abendmahlsverständnis s.u. 7.5 und 7.7.2. 180  Vgl. dazu Brecht, Luther II, S. 286–328.

212 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) will.181 Auch wenn er inhaltlich mit den Zürchern und Straßburgern über­ einstimmte, war Tyndale am reformatorischen Konsens gelegen.182 Ihm kam es darauf an, dass das Sakrament durch das Wort wirksam wird und so durch das Wirken des Geistes den rettenden Glauben hervorruft, die Frage des „wie“ interessierte ihn weniger. 4.3.5  „The Prologue into the fourth book of Moses called Numeri“ (1530) 4.3.5.1  Selbstrechtfertigung als Grundsünde: Israel – Pharisäer – Rom Von allen Pentateuchvorreden Tyndales entfernt sich die Einleitung zum 4. Buch Mose am weitesten vom Inhalt des biblischen Textes. Er nimmt im Grunde nur die Grundsituation des Buches auf – das Volk, das Gottes Gesetz empfangen hat, beginnt nun mit ihm zu leben und zu arbeiten – und entfaltet von ihr her eine breit angelegte Kritik am Umgang mit Gottes Wort durch die Kirche seiner Zeit.183 Numeri ist für Tyndale in erster Linie ein Zeugnis des Scheiterns Israels am Gesetz, das einem falschen Grundverständnis entspringt. In der Geschichte Israels macht er eben jenen Irrglauben dingfest, aus eigener Entscheidung und Kraft heraus dem göttlichen Willen entsprechen zu können und dafür am Ende Lohn zu empfangen: „Im zweiten und dritten Buch erhielten sie [d.i. die Israeliten] das Gesetz, und in die­ sem vierten Buch beginnen sie, es zu tun und einzuüben. Im Rahmen dieser Einübung siehst du viele gute Beispiele für den Unglauben und dafür, was der freie Wille tut, wenn er das Gesetz in die Hand nimmt, um es aus eigener Kraft zu befolgen, ohne die Hilfe des Glaubens an die Verheißungen Gottes“184.

181  Auch in dieser irenischen Haltung erinnert Tyndale an Bucer. Möglicherweise gilt auch für ihn Bornkamms Aussage über Bucer: „mehr als das Problem selbst quälte ihn der heillose Streit, der vor den Augen der Katholiken [und – wie man mit Blick auf Tyndale ergänzen möchte – auch vor der englischen Öffentlichkeit] ausbrach“ (Bornkamm, ­Bucer, S. 98), vgl. auch Strohm, S. 119. 182  Tyndale bittet seinen im Tower inhaftierten Freund John Frith, der mit More über das Abendmahl gestritten hatte: „Of the presence of Christ’s body in the sacrament, medle as little as you can, that there appear no division among us“ (PS 1, S. liii). O’Sullivan, S. 207 stellt dazu zutreffend fest: „William Tyndale soon realised that internal divisions threatened the very integrity of the reformers, and he set about impeding further deve­ lopment of the debate“; s.u. 6.1.2, 7.5 und 7.7.2. 183  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 429–433. 184  Prologue Numeri, PS 1, S. 429: „IN the second and third book they received the law; and in this fourth they begin to work and to practise. Of which practising ye see many good ensamples of unbelief, and what free-will doth, when she taketh in hand to keep the law of her own power, without the help of faith in the promises of God“; vgl. WA.DB 8, S. 14,21 ff (Vorrede zum Alten Testament, 1523): „das dis buch eyn mercklich exempel ist, wie gar es nichts ist, mit gesetzen die leut frum machen, sondern wie S. Paulus sagt, das gesetz nur sunden und zorn anricht“.

213

4.3  Die Vorreden

Eine dieser Auffassung analoge Fehleinschätzung erkennt Tyndale bei den Pharisäern im Neuen Testament, die sich mit ihrem Glauben an die Gesetzes­ erfüllung aus freiem Willen selbst vom Heil, das in Christus auf die Welt kam, ausschlossen.185 Zielpunkt seiner Argumentation aber sind die „hypocrites“ seiner eigenen Epoche, also all jene, die den freien Willen lehren und dem Menschen prinzi­ piell die Möglichkeit einräumen, Gottes Gebote zu erfüllen.186 Tyndale ent­ larvt die Vertreter der Papstkirche als Heuchler, indem er die „identity mar­ ker“ des römischen Klerus als Verstöße gegen die Schrift darstellt: An die Stelle des Gehorsams gegenüber Gott setzen die Kleriker den Gehorsam ge­ gen die Ordens- und Kirchen-Oberen.187 Ihre selbstauferlegte Armut ist in Wahrheit ein Rauben und Stehlen in aller Welt, ebenso wie sich hinter ihrer Keuschheit in Wirklichkeit offene Unzucht verbirgt. Als Grundübel hinter dieser verwerflichen Praxis erkennt Tyndale die Verehrung des Papstes als extremstes Beipiel menschlicher Selbstrechtfertigung.188 Der falsche Glaube an die Gerechtigkeit kraft eigener Anstrengungen lässt keinen Raum für Christus und ist darum Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31 f):  

„Denn nachdem sie einmal davon überzeugt waren, dass sie von ihren Sünden gerei­ nigt und aufgrund ihrer eigenen heiligen Werke gerecht gemacht sind – wo war dann noch Raum für die Gerechtigkeit, die im Blut Christi begründet liegt?“189 185  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 430: „they excludeth themselves out of the holy rest of forgiveness of sins by faith in the blood of Christ“. Auch hier zeigt sich, dass Tyndales Erwählungsvorstellung kein geschlossenes und bis ins Letzte stimmiges System ist, denn offensichtlich vermag der menschliche Wille doch, sich frei gegen Gott zu entscheiden. 186  Vgl. ebd.: „look on our hypocrites, which in like manner, following the doctrine of Aristotle, and other heathen pagans, have against all the scripture set up free-will again; unto whose power they ascribe the keeping of the commandments of God“. Zur prinzipi­ ellen Unfreiheit des menschlichen Willens vgl. a.a.O., S. 435: „ whatsoever a man doth of his natural gifts, of his natural wit, understanding, reason, will, and good intent, before he be otherwise and clean contrary taught of God’s Spirit, and have received other wit, understanding, reason and will, is flesh, worldly, and wrought in abominable blindness; with which a man can but seek himself, his own profit, glory and honour, even in very spiritual matters“; vgl. die Ausführungen zum freien Willen bei Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 244–252. 187  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 430: „And, the obedience of God and man excluded, they have vowed another wilful obedience, condemned of all the scripture; which they will yet give God, whether he will or will not“. 188  Vgl. a.a.O., S. 431: „And now, seeing that faith only letteth a man in unto rest, and unbelief excludeth him, what is the cause of this unbelief? Verily, no sin that the world seeth, but a pope-holiness, and a righteousness of their own imagination“. 189  A.a.O., S. 432: „For when they once believed that they were purged from their sins, and made righteous through their own holy works, what room was there left for the righteousness that is in Christ’s blood-shedding?“ Vgl. Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 453: „Neminem ergo damnabit Deus, qui ex sola ignorantia peccat [cf. Nm 15,26]. Quique abiecti sunt, eos oportebit tandem ita veritatem cognoscere ut iam non sint ignorantes, sed Spiritus Dei blasphematores et scientes hostes Dei ut in Spiritum sanc­

214 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) 4.3.5.2  Menschliche Gelübde und Gottes Lohn: „Deserving“ oder „reward“? Nach diesem Angriff auf die Papstkirche nimmt Tyndale ein Motiv aus Num 30 auf, die Gesetze über die Verbindlichkeit von Gelübden.190 Er geht jedoch nicht auf die im biblischen Text beschriebenen Gelöbnisse ein, sondern bietet seinen Lesern eine grundsätzliche Abhandlung über die theologische Bedeu­ tung und praktische Anwendung der klassischen christlichen Gelübde. Damit knüpft er an seine katechetischen Ausführungen in „Obedience“ an und ver­ tieft sie.191 Für Gelübde wie für das ethische Verhalten des Christenmenschen insge­ samt gilt: Sie haben sich an der Schrift zu orientieren und müssen mit dem Wort Gottes „gesalzen“ sein.192 Von der Schrift her gibt es aber in Wahrheit keine Gelöbnisse, außer dem einen, das der Täufling in Antwort auf Gottes Heilzusage leistet.193 Es ist das „Ur-Versprechen“, über das hinaus keine wei­ teren Gelübde nötig sind, weil es an sich schon verbindlicher Ausdruck des Willens ist, das Leben entsprechend den göttlichen Geboten zu führen und den Leib von der Sünde zu reinigen. Wie schon in früheren Schriften, kann Tyndale im Umkehrschluss aus dem Fehlen des guten Willens und dem Aus­ bleiben guter Werke auf die Abwesenheit des Geistes und das Verhaftetsein im alten Adam schließen.194 tum [Mt 12,31.32] peccent peccatum irremissibile“ (Kursivierung im Original; vgl. Lang, S. 170 f; Stephens, Bucer, S. 34 ff); vgl. Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 721,12 f: „Summa igitur in deum blasphemia est ei non fidere“; vgl. WA 19, S. 201,17 ff (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Denn todsunde heyst er [d.i. Christus] die sunde ynn den heyligen geyst. Und ist alles so viel gesagt: Wer ynn sunden verzweyffelt odder auf gute werck trotzt, der sundigt ynn den heyligen geyst und widder die gnade“. 190  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 433–440. 191  S.o. 3.3.7. 192  Vgl. a.a.O., S. 433: „we ought to put salt to all our offerings; that is, we ought to minister knowledge in all our works, and to do nothing whereof we could not give a rea­ son out of God’s word“. 193  Vgl. ebd.: „Thou wilt ask me, Shall I vow nothing at all? Yes, God’s command­ ment, which thou hast vowed in thy baptism. For what intent? Verily, for the love of Christ which hath bought thee with his blood, and made thee son and heir of God with him, that thou shouldest wait on his will and commandments, and purify thy members according to the same doctrine that hath purified thine heart“; vgl. WA 8, S. 578,6–8 (De votis monasticis iudicium, 1521): „DVbium non est, votum monasticum hoc ipso periculo­ sum esse, quod res est sine autoritate et exemplo scripturae, sed et Ecclesia primitiva et novum testamentum ignorant in totum vovendae cuiuscunque rei usum, nedum probant perpetuum hoc voti genus rarissimae et miraculosae castitatis“. 194  S.o. 2.3.3 u. 2.2.4; vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 434: „If thou love not the com­ mandments, so is Christ’s Spirit not in thee, which is the earnest of forgiveness of sin and salvation“. Vgl. Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 178,27–29: „quod, qui ad eam maturitatem perveniunt, que iam fructum electionis ferre debet, fidem si ferunt, certi simus de eorum salute; si non ferunt, contra certi simus

4.3  Die Vorreden

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Die Werke, die Antwort auf die von Gott in Christus erwiesene Liebe sind, konkretisiert Tyndale als „slaying of the sin that is in my flesh“195. Die dahin­ ter stehende anthropologische Vorstellung der menschlichen Existenz in Seele, Geist und Fleisch, die ihn mit Bucer verbindet,196 übernimmt Tyndale (wie auch Bucer) möglicherweise von Erasmus.197 Ziel des ständigen Kampfes mit dem eigenen Fleisch ist der von Gott verheißene Lohn. Allerdings erhal­ ten die Glaubenden diesen nicht aufgrund ihrer Anstrengungen um die Abtö­ tung des Fleisches – dies wäre eine neue Form der Werkgerechtigkeit –, son­ dern allein aufgrund der Gnade Gottes, der die unzureichenden Versuche, sein Gebot zu erfüllen, aus Liebe anerkennt.198 Der Lohn ist daher kein Ver­ dienst („deserving“), sondern freie Gnadengabe Gottes („reward“).199 Auch hier hebt Tyndale die Bedeutung der guten Werke, die aus dem Glauben her­ vorgehen (müssen), stark hervor, will aber auch sicherstellen, dass sie im Lie­ besgeschehen zwischen Gott und Mensch ihren Ort und ihre (eben doch be­ grenzte) Bedeutung haben.200 de eorum repudiatione“. Vgl. zu Gal 3,26 f, Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524), BDS 2, S. 118,30–119,2: „Da red er [d.i. Paulus] ye von denen, so ein rechten glauben und Christum anzogen haben, kinder Gottes und als die da warlich Christi seind, da er doch an gemeltem ort ußdruckt auch erben gottes. Das da alles nit gepürt denen, so nit versehen und erwoelt zům leben seind, sonder vorerkant als die da verdampt sollen werden“. Für Bucer verbindet sich die Taufe dem Geist also mit einer doppelten Prädestinationsvorstel­ lung (vgl. Stephens, Bucer, S. 222), eine Folgerung, die Tyndale (an dieser Stelle) nicht explizit zieht; ihm geht es wohl mehr um die Selbstvergewisserung der Glaubenden („thou“). 195  Prologue Numeri, PS 1, S. 434. Die Differenzierung zwischen einem schon gerecht­ fertigten Herzen und dem noch sündigen Fleisch findet sich auch bei Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 715,16–20: „Perstat mens in meditati­ one earum actionum, quas lex dei iubet, deum amat, eius misericordia fidit, ei placere in omnibus studet. Perstat et caro, quae ingenium haud magis mutat quam vulpes et lupi. Ea demum efficit, ut nolens peccem, mente constanter per immotam spem deo adfixa“. 196  Vgl. den Abschnitt bei Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 93,19–94,10: „Zů der liebe hat der glaub diß werck auch, das er mit casteyung das fleisch zaemet und zů solchem das creütz des herren gern uff sich nimpt“ (S. 93,19 ff). Zu Bucers Bezugnahme auf Eras­ mus vgl. die Einleitung von Ortwin Rudloff, a.a.O., S. 77. 197  Vgl. Erasmus, Enchiridion (1518), Ausgewählte Schriften 1, S. 138–147. 198  Vgl. WA 8, S. 579,19–24 (De votis monasticis iudicium, 1521): „Quicquid ultra et pra­ eter Christum sive proprie praesumitur, sive a sanctorum exemplis et institutis petitur, hoc velut humanum iam dudum divina autoritate prohibitum, damnatum atque defini­ tum est, non licere voveri et in praeceptum seu necessarium viam vitae statuit, nec si vo­ tum fuerit, impleri et servavi, sed oportere solvi et liberum dimitti“; vgl. dazu auch Lohse, Theologie, S. 157–161. 199  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 434: „a reward is a gift, given freely of the goodness of the giver, and not of the deservings of the receiver“. 200  Luther geht es demgegenüber allein darum, die versklavende Bedeutung der Ge­ lübde als Form des Gesetzes darzustellen; vgl. WA 8, S. 324,23 f (Themata de vocis, 1521): „xxix. Votum religionum aut quodcunque omnino quaedam ley est conscientiam natura captivans“.

216 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Um diesen Unterschied zwischen verdientem Lohn und unverdienter Gnade zu erläutern, zieht er in einer biographisch aufschlussreichen Sequenz das eigene Schicksal als Beispiel heran: „Es ist so, als wenn seine königliche Gnaden mir zusicherte, dass ich mich daheim, in meinem eigenen Königreich, verteidigen könnte (auch wenn der Weg dorthin über das Meer führt, auf dem ich nicht wenigen Strapazen ausgesetzt sein könnte). Aber trotz alledem, ich könnte, wenn ich hinüberkäme, in Ruhe leben; so denke ich und so würden auch andere sagen, dass so meine Leiden reich belohnt würden – diesen Ver­ dienst und Lohn würde ich nicht stolz meinen Qualen auf dem Weg zuschreiben, son­ dern der Güte, Barmherzigkeit und dauerhaften Wahrheit seiner königlichen Gnaden, deren Gabe sie wären und dem dafür pflichtschuldiger Dank gebührte“201.

An dieser Aussage wird einerseits Tyndales Sehnsucht nach einem Leben in der englischen Heimat deutlich, vor allem aber erstaunt seine Parallelisierung Got­ tes mit dem englischen König („as if…“). Sie erklärt sich vor dem Hintergrund seiner Vorstellung des Monarchen als Stellvertreter Gottes. Beide – Gott und der König – sind, so hofft Tyndale vielleicht, zur Gnade fähig.202 Wo der „Lohn“ in Gottes gnadenhafter Zuwendung besteht, verlieren alle christlichen Gelöbnisse den Anspruch, als Verdienste angerechnet zu wer­ den.203 Sie dienen allein dem Zweck, den Christenmenschen bei der Bezwin­ gung des alten Adam zu unterstützen.204 Tyndale deutet dementsprechend die verschiedenen frommen Gelübde „evangelisch“ um: Das Gelöbnis der Armut ist recht verstanden als Lebenseinstellung, in der sich ein Mensch nicht mehr vom Streben nach Reichtümern leiten lässt, sondern für seinen Nächs­ ten sorgt.205 Materielle Gaben an vermeintliche Heiligtümer – Tyndale nennt den Schrein Thomas Becketts in Canterbury und das Marienheiligtum in 201 

Prologue Numeri, PS 1, S. 434: „As if the king’s grace should promise me to defend me at home in mine own realm, yet the way thither is through the sea, wherein I might haply suffer no little trouble. And yet for all that, I might live in rest when I come thither, I would think, and so would others say, that my pains were well rewarded; which reward and benefit I would not proudly ascribe unto the merits of my pains taken by the way, but unto the goodness, mercifulness, and constant truth of the king’s grace whose gift it is, and to whom the praise and thanks thereof belongeth of duty and right“. 202  S.o. 3.3.5.2. Möglicherweise verbirgt sich hinter dieser Aussage ein Appell an Heinrich, angesichts der veränderten religionspolitischen Situation, von der Tyndale ge­ hört haben wird, seinen treuen Untertanen wieder ins Land zu lassen. Tyndale stellt für diesen Fall (evtl.) sogar sein publizistisches Schweigen in Aussicht. Entsprechende Ver­ handlungen mit Tyndale über eine mögliche Rückkehr fanden 1531 tatsächlich statt (s u. 5.1.1). 203  Vgl. WA 8, S. 324,1 ff (Themata de vocis, 1521): „xiii. Opus bonum fit aliquando opi­ nione iustitiae et salutis querendae per ipsum. xiiii. haec opinio universa impietas, infide­ litas et idolatria est“; vgl. auch WA 8, S. 580,20–583,28 (De votis monasticis iudicium, 1521). 204  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 434: „to tame my members, and to be an ensample of virtue and edifying unto my neighbour“. 205  Vgl. a.a.O., S. 435: „riches and honour shall not corrupt my mind, and draw mine

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Walsingham206 – erwirken dagegen keine religiösen Verdienste.207 Die Ar­ menfürsorge muss dem Christen ebenso selbstverständlich sein wie die Pflicht, Steuern zu bezahlen. Sie ist in der Schrift selbst begründet und insofern „God’s commandment“.208 Anders steht es mit den Pilgerfahrten, denn Tyn­ dale hält es für irrig zu glauben, man sei Gott an einem Ort näher als an einem anderen.209 Er empfiehlt seinen Lesern stattdessen: „Geh auf Pilgerfahrt in dein eigenes Herz und bete dort, und dort wird Gott dich er­ hören um seiner Barmherzigkeit und Wahrheit willen und um seines Sohnes Christus willen und nicht wegen ein paar Steinen“210.

Schließlich hält Tyndale auch bezüglich der Keuschheit mit Paulus (1 Kor 7,1 ff) fest, dass es nicht allen Menschen gegeben ist, sexuell enthaltsam zu le­ ben, sondern nur wenigen und diesen auch nicht immer dauerhaft.211 Reli­ giös motivierte Versprechen tragen also insgesamt nicht zur Rechtfertigung  

heart from God; and to give an example of virtue and edifying unto other; and that my neighbour may have a living by me as well as I“. 206  Vgl. a.a.O., S. 436. 207  In diesem Zusammenhang kritisiert Tyndale darum auch, dass die Priester vorgeb­ lich an Gottes Stelle Gaben von Gläubigen annehmen. Wie bereits in „Obedience“ formu­ liert er ein Amtsverständnis, welches das Verhältnis von Priester und Gemeinde als rein funktionale „Vorordnung“ versteht und von daher die Alimentation durch die Gemeinde vorsieht; vgl. a.a.O., S. 436 f: „If the priest be bought by Christ’s blood, then he is Christ’s servant, and not his own; and ought therefore to feed Christ’s flock with Christ’s doctrine, and to minister Christ’s sacraments unto them purely, for very love, and not for filthy lucre’s sake, or to be lord over them […] inasmuch as the priest waiteth on the word of God, and is our servant therein, therefore we are his debtors, and owe him a sufficient living of our goods, and even thereto a wife of our daughters owe we to him, if he require her“; vgl. WA 8, S. 328,13 f (Themata de vocis, 1521): „cxv. Ministerium verbi et Ecclesiae, id est populi, presbyterum te vere et solum facit“. 208  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 437: „And we ought to vow to pay custom, toll, rent, and all manners duties, and whatsoever we owe; for that is God’s commandment“. 209  Vgl. ebd.: „Ye will haply say, that ye will go to this or that place, because God hath chosen one place more than another, and will hear your petition more in one place than another“. 210  A.a.O., S. 438: „go on pilgrimage unto thine own heart, and there pray, and God will hear thee for his mercy and truth’s sake, and for his Son Christ’s sake, and not for a few stones’ sake“; vgl. Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 112,31–35: „Nun, im geist an­ betten, ist gott geistlich eeren und anrueffen, in der worheit anbetten ist, das solch eer und anrueffen von hertzen gang, nit im mund und geperden steh wie der gleißner. Hye zů darff man ye keiner statt, keins geleüffs hyn und haer, sunder soll und mag fruchtbarlich an allen orten geschehen“. 211  Vgl. Prologue Numeri, PS 1, S. 439: „godly chastity is not every man’s gift, even so that he that hath it today hath not power to continue it as his own pleasure, neither hath God promised to give it him still, and to cure his infirmities without his natural remedy“. Möglicherweise stehen hinter Tyndales Formulierung autobiographische Erfahrungen, zumindest gibt es keinen Hinweis darauf, dass er je geheiratet hat. Vgl. aber auch WA 8, S. 324,28 f (Themata de vocis, 1521): „xxxii. Est itaque vovere virginitatem, coelibatum, re­ ligionem et quodlibet sine fide“.

218 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) des Sünders bei, sondern nützen ihm in seinem neuen Leben mit Gottes Ge­ boten: „Die Absicht deines Gelübdes muss gesalzen sein mit der Weisheit Gottes. Du wirst nicht durch es gerechtfertigt werden […] Dein Gelübde dient einzig der Förderung der Gebote Gottes, die (wie ich bereits gesagt habe) nichts anderes sind als die Zucht Deines Leibes und der Dienst an deinem Nächsten“212.

4.3.6  „A Prologue into the fifth book of Moses called Deuteronomy“ (1530) Die Vorrede zum Deuteronomium ist die kürzeste der Pentateuchvorreden und die einzige, die anhand der Kapitel eine kurze Inhaltsangabe des Buches bietet. Tyndale stellt den besonderen Charakter des 5. Buch Mose heraus, wenn er es als „most excellent of all the books of Moses“213 bezeichnet. Wie Luther hält er das Buch für „worthy to be read in, day and night, and never to be out of hands“214, denn im Deuteronomium bündelt sich für ihn „very pure gospel“ in einzigartiger Weise als „Verkündigung des Glaubens und der Liebe, die die Liebe aus dem Glauben herleitet und die Liebe zum Nächsten aus der Liebe Gottes“215. Dieser Dreischritt der Liebe, die von Gott ausgeht, im Glau­ ben erfasst wird und sich in der Liebe zum Nächsten manifestiert, zeigt sich für Tyndale auch in der Struktur des Buches.216 So enthalten die ersten vier Kapitel Erzählungen von den Liebestaten Gottes, deren Erinnerung bei den Israeliten (und den englischen Lesern) Liebe und Glauben hervorrufen sol­ 212  Prologue Numeri, PS 1, S. 439: „The purpose of thy vow must be salted also with the wisdom of God. Thou mayest not be justified thereby […] Thy vow must be only unto the furtherance of the commandments of God; which are (as I have said) nothing but the tam­ ing of thy members, and the service of thy neighbour“. 213  Prologue Deuteronomy, PS 1, S. 441. 214  Ebd.; zu Luthers Hochschätzung des Dtn vgl. Kreuzer, S. 304–307. 215  Prologue Deuteronomy, PS 1, S. 441: „preaching of faith and love: deducing the love to God out of faith, and the love of a man’s neighbour out of the love of God“; vgl. WA.DB 8, S. 14,32 ff (Vorrede zum Alten Testament, 1523): „Aber dise verklerung ym funfften buch, helt eygentlich nichts anders ynnen, denn den glawben zu Gott und die Liebe zum nehisten, Denn dahyn langen alle gesetz Gottis“. Möglicherweise ist es gerade diese Eindeutigkeit, die es für Tyndale unnötig erscheinen lässt, dem Buch eine umfang­ reichere Vorrede voranzustellen. Hammond, Deuteronomy, S. 51, scheint diese Einschät­ zung Luthers übersehen zu haben, wenn er schreibt: „For Luther, as he made it clear in the preface to his 1523 Pentateuch, the Old Testament was, essentially, a closed book“. Ham­ monds interessante Beobachtungen zur Dtn-Vorrede leiden insgesamt an dieser gewoll­ ten Kontrastierung zu Luther, mit der er Clebsch unnötigerweise folgt (vgl. ebd., Anm. 1: „This argument is consistent with Clebsch’s view“). Zu Luthers Beschäftigung mit dem Dtn in seiner Vorlesung 1523/1524 und ihrem Einfluss auf seine Dekalogauslegung in den Katechismen vgl. Kreuzer, S. 308–312. 216  Vgl. Hammond, Deuteronomy, S. 52, zählt im Prolog 29 Mal das Wort „love“: „In Tyndale’s explication of Mosaic law, this book’s purpoes is to preach love through law“ (s.o. 3.4.1.5).

219

4.3  Die Vorreden

len.217 Die Plagen, mit denen Gott die Feinde seines Volkes straft, sollen die Israeliten umgekehrt dazu mahnen, sich auch immer wieder selbst um die Zähmung der „appetites of the flesh“218 zu bemühen. Außerdem halten die Plagen die von Gott Verworfenen („them in whom was no Spirit“219) im Zaum, denen Tyndale aber zugleich die Möglichkeit einräumt, durch Reue und Umkehr aufs Neue Gottes Erbarmen zu erfahren.220 Der Bezugnahme auf die Liebe Gottes in den ersten vier Kapiteln ent­ spricht im Folgenden die Hervorhebung der Veränderung in den Glaubenden durch diese Liebe. Wenn beispielsweise im fünften Kapitel die zehn Gebote wiederholt werden, stellt Tyndale die dort genannte Motivation Israels, die dankbare Erinnerung an die Rettung aus Ägypten, heraus. Die Befolgung der Gebote erwächst aus der Erfahrung des Wirkens Gottes. Für die Christen liegt der Motivationsgrund darum entsprechend in der Rettung durch Chris­ tus. Als „Quelle aller Gebote“ („fountain of all commandments“221) nennt Tyndale das Doppelgebot der Liebe (Dtn 6,5 ff), bei dessen Umsetzung der Glaubende stets sein eigenes Herz zu befragen (Dtn 8) und im Gebet mit Gott zu stehen (Dtn 9) hat. Seine Gottesfurcht entspringt – wie Tyndale anhand von Kap. 10 noch einmal ausführt – der Dankbarkeit für die unverdiente Zu­ wendung Gottes.222 In den restlichen Kapiteln findet Tyndale dann gewissermaßen die Aus­ führungsbestimmungen, die aus der im ersten Teil des Buches dargestellten Grundmotivation erwachsen.223 Dtn 28 f hebt er als „terrible chapter[s]“224  



217  Vgl. Prologue Deuteronomy, PS 1, S. 441: „In the first four chapters he [d.i. Mose] re­ hearseth the benefits of God done unto them, to provoke them to love, and his mighty deeds done above all natural power, and beyond all natural capacity of faith, that they might believe God, and trust in him and in his strength“. 218  Ebd. 219  Ebd. Diese Definition entspricht Tyndales Rechtfertigungsverständnis (s.o 3.4.1.1). 220  Vgl. a.a.O., S. 442: „yet if they repent and turn, he promiseth them, that God shall remember his mercy, and receive them to grace again“. 221  Ebd. 222  Vgl. a.a.O., S. 443: „because God is Lord of heaven and earth, and hath also done all for them of his own goodness, without their deserving“. 223  Vgl. a.a.O., S. 444: „he [d.i. Moses] beginneth to entreat more specially of things pertaining unto the commonwealth, and equity; and exhorteth unto the love of a man’s neighbour“. 224  Ebd.; vgl. ebd.: „A christian man’s heart might well bleed for sorrow at the reading of it, for fear of the wrath, that is like to come upon us […] we should leave searching of God’s secrets, and give diligence to walk according to that he hath opened unto us […] But to search God’s secrets blindeth a man“; vgl. WA 18; 685,3–7 (De servo arbitrio, 1525): „Aliter de Deo vel voluntate Dei nobis praedicata, revelata, oblata, culta, Et aliter de Deo non praedicato, non revelato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos. Hic enim vere valet illud, Quae supra nos, nihil ad nos“.

220 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) noch einmal besonders hervor, denn die Fluchworte dokumentieren den stets drohenden Zorn Gottes, von dem zu lesen jeden Christenmenschen verun­ sichern kann. Tyndale rät seinen Lesern mit Dtn 29,28, den „dunklen“ Seiten Gottes nicht weiter nachzuforschen, sondern sich mit dem offenbarten Wil­ len Gottes zu begnügen.

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede Etwas später entstanden, aber thematisch in den Zusammenhang von Tynda­ les Pentateuchübersetzung gehörend, ist seine Übertragung des Buches Jona, die im Jahr 1531 mitsamt Vorrede in Antwerpen erschien.225 Die Datierung ist ungenau, da sie sich lediglich auf eine Bezugnahme in einem Brief Stephen Vaughans an Cromwell vom 19. Juni 1531 stützt. Darin erwähnt der eng­ lische Mittelsmann auf dem Kontinent, dass nun auch die Propheten Jesaja und Jona in englischer Sprache gedruckt worden seien.226 George Joyes JesajaÜbertragung erschien am 10. Mai bei Martin de Keyser.227 Es ist anzuneh­ men, dass auch Tyndales Version im gleichen Zeitraum gedruckt wurde.228 1532 jedenfalls nennt More im Vorwort seiner „Confutation of Tyndale’s Answer“ neben anderen Büchern Tyndales auch „Jona“: „Dann haben wir Jona, zusammengereimt von Tyndale, ein Buch das den, der Freude daran findet, in Gefahr bringt, derart dass Jona niemals von dem Wal verschluckt wor­ den wäre, denn durch die Freude an diesem Buch wird eines Menschen Seele so vom Teufel verschluckt, dass er nie mehr die Gnade erfährt, [aus dessen Maul] heraus­ zukommen“229.

Das Jonabuch ist das einzige prophetische Buch des Alten Testaments, das Tyndale übersetzt und mit einer Einleitung versehen hat.230 Möglicherweise erklärt sich dieser Umstand aus dem besonderen Stellenwert, den Luther die­ sem kleinen Propheten beimaß. Seine Jona-Auslegung von 1526 war im sel­ ben Jahr dreizehnmal erschienen, drei lateinische Übersetzungen nicht mit­ 225 

Das Vorwort Tyndales wurde einige Male nachgedruckt, die Übersetzung jedoch galt bis ins 19. Jahrhundert als verschollen; zu ihrer Geschichte vgl. Daniell, Biography, S. 205–208. 226  Zitiert bei Mozley, S. 200. 227  Das von ihm gewählte Pseudonym war in diesem Fall „Printed in Straszburg by Balthasar Beckenth“, vgl. Kronenberg, English Printing, S. 159. 228  Vgl. Daniell; Biography, S. 207. 229  More, Confutation of Tyndale’s Answer (1532/1533), CWM 8/1, S. 9,3–7: „Then we haue Ionas made out by Tyndale / a boke yt who so delyte therin shall stande in parell yt Ionas was neuer swalowed vppe wyth the whale, as by the delyte of that booke a mannes soule maye be so swalowed vppe by the deuyll, that he shall neuer haue the grace to gete out agayne“; vgl. auch Daniell, Biography, S. 206. 230  Zu Tyndales Vorgehen bei der Übersetzung vgl. Ginsberg, S. 54–57.

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede

221

gerechnet.231 Es gibt Gründe anzunehmen, dass Tyndale Luthers Deutung gekannt hat,232 auch wenn sich – anders als in früheren Bibelvorreden und in „Mammon“ – keine wörtlichen Übertragungen feststellen lassen. So über­ nimmt Tyndale möglicherweise die Struktur der Vorrede von Luther, indem er im zweiten Teil der Erzählung des biblischen Textes kommentierend folgt. Auffällig ist auch, dass bestimmte biblische Belege Luthers – wenn auch z.T. in anderen Kontexten – bei Tyndale ebenfalls auftauchen.233 In einigen Passa­ gen kann man sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass Tyndale Ge­ dankengänge Luthers aufnimmt und – teilweise arg verkürzt – in eigenen Worten wiedergibt.234 Möglicherweise stellt Tyndales Schrift den Versuch dar, Luthers Vorrede, versehen mit eigenen Gedanken, für die Situation der englischen Leserschaft verständlich zu machen. Die theologisch differenzier­ teren Passagen Luthers erschienen ihm möglicherweise als zu komplex, so dass er sie für sein Lesepublikum in eigener Weise neu zusammenfasste. Tyndales Vorrede ist in jedem Fall um einiges kürzer als die Luthers und hat einen anderen Schwerpunkt.235 Im Vergleich mit Luthers Auslegung, die als „Musterbeispiel[en] für die Unterscheidung des Gottes der falschen und der wahren Propheten“236 gilt, wirkt Tyndales Deutung des Jonabuches ins­ gesamt holzschnittartiger und wird von Daniell zutreffend beschrieben: „The long prologue is solid and worthy rather than lively, and carries the reformers’ message that Scripture, now released from being shut up by the papal church,

231 

S. 242. 232  233 

Vgl. WA 19, S. 169–251 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526); vgl. Brecht, Luther II,

S.u. 4.4.2. Ginsberg, S. 54–57, berücksichtigt diese Möglichkeit nicht. So z.B. die Verleugnung Petri (vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 453 bzw. WA 19, S. 210,22–28, Der Prophet Jona ausgelegt, 1526) und das schamvolle Bedecken der Blöße Adams und Evas (vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 456 bzw. WA 19, S. 211,3 f). 234  So etwa beim Passus, der sich mit der Praxis des Losens befasst (s.u. 4.4.2) oder bei der Deutung von Jonas Weigerung nach Ninive zu gehen, vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 455 bzw. WA 19, S. 201,31–205,4 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526). In beiden Fällen weichen Tyndales Gedankengänge allerdings in ihren Schlussfolgerungen inhaltlich von denen Luthers ab. Wo Luther z.B. die Weigerung Jonas damit erklärt, dass dieser die Einwohner Ninives nicht für würdig hält, weil sie nicht Gottes auserwähltes Volk seien, begründet Jona – Tyndale zufolge – seine Verweigerung gerade dadurch, dass die Israeliten und nicht die Bewohner von Ninive aufgrund ihrer Bosheit seine Prophetie besonders nötig hätten. Es stellt sich die Frage, ob Tyndale bewusst von Luthers Verständnis abweicht, oder seine Auslegung womöglich nicht voll erfasst hat. 235  Tyndale interessiert sich z.B. überhaupt nicht für die Frage nach der Gotteser­ kenntnis der Heiden, die Luther in seiner Auslegung von Jon 1,5 ausführlich behandelt (WA 19, S. 205,27–211,19, Der Prophet Jona ausgelegt, 1526; vgl. dazu Bayer, S. 116–124). 236  So Gerhard Krause im Vorwort zur Insel-Ausgabe (Martin Luther, Die Auslegung von Jona und Habakuk. Für die Gegenwart hergerichtet und herausgegeben von Gerhard Krause, Frankfurt a.M. 1983, S. 12 f).

222 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) contains the call to preach to the English, with terrible consequences if […] the nation hardens its heart“237. Tyndales Jonavorrede lässt sich in zwei Teile gliedern, von denen der erste der Leserschaft aufs Neue vermitteln will, wie angesichts der „Schriftfeind­ lichkeit“ der Papstkirche mit dem Wort Gottes umzugehen ist. Hier erinnert vieles an frühere Werke Tyndales. Der zweite Teil besteht in der eigentlichen Jonaexegese und bietet damit in gewisser Weise die konkrete Ausführung dessen, was im ersten Teil theoretisch erörtert wird. 4.4.1  Schrifthermeneutik Tyndale nimmt auch die Geschichte des widerspenstigen Gottesmannes Jona zum Anlass, seinen Leserinnen und Lesern grundlegende Hilfen und Hin­ weise zum Verständnis der Heiligen Schrift zu geben, angesichts eines feind­ lich gesinnten Gegenübers: „Wie die neidischen Philister die Brunnen Abrahams verstopft und mit Erde aufgefüllt haben […] so verstopfen die fleischlich gesinnten Heuchler die Adern des Lebens, wel­ che in der Schrift sind, mit ihren Traditionen, falschen Vergleichen und verlogenen Allegorien und anderem Eifer, um die Schrift zu ihrem Eigentum und Handelsgut zu machen und so das Himmelreich zu verschließen, das Gottes Wort ist. Sie kommen weder selbst hinein, noch können sie die ausstehen, die hineinkämen“238.

Mit dem von ihm gerne verwendeten Bild der Schrift als lebensspendenden Brunnen Abrahams (Gen 25,11)239 wiederholt Tyndale hier seine schon oft erhobene Anklage gegen die Schriftausleger der Papstkirche. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass er Gottes Wort explizit mit dem Reich Gottes identifiziert, das die papstkirchlichen Kleriker und Gelehrten verschließen wollen.240 Gottes Wort ist die „Seele“ der Schrift, von der die Erwählten le­ ben:

237  238 

Daniell, Biography, S. 207. Prologue Jonas, PS 1, S. 449: „As the envious Philistines stopped the wells of Abra­ ham, and filled them up with earth […] so the fleshly-minded hypocrites stop up the veins of life, which are in the scripture, with the earth of their traditions, false similitudes, and lying allegories; and that of like zeal, to make the scripture their own possession and mer­ chandise, and so shut up the kingdom of heaven, which is God’s word; neither entering in themselves, nor suffering them that would“. 239  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 3 (s.u. 6.4.3.1), dazu auch Dembek, S. 113–121. 240  Vgl. Zwingli, Schlußreden (1523), Z II (CR 93), S. 182,29–183,1: „Besich diese glychnus eigentlich. Das rych gottes ist nüt anderst denn das wort gottes an disem Ort [Lk 8,11]. Wo das anhebt ggloubt werden, das ist: wo gott das hyn säyet, da wachßt es uß der würckung gottes, das wir darzů schlaffend, das ist: das wir es nit mit unseren krefften pflantzend“.

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede

223

„Die Schrift hat außen einen Körper und innen eine Seele, Geist und Leben. Sie hat außen eine Rinde und Schale, als ob sie ein harter Knochen wäre, bestimmt für die fleischlich Gesinnten, um daran zu nagen; innen aber hat sie Mark, Kern, Innerstes und alle Süßigkeit für die Erwählten Gottes“ 241

Die Schrift selbst wird somit zum Ort der Seligkeit und der Gegenwart Got­ tes. Sie ist lebendiges Gegenüber der Erwählten, in dem Gottes Präsenz er­ fahrbar wird. Die „süße“ Botschaft des lebendigen Wortes Gottes ist, wie Tyndale bereits in der Vorrede zur Genesis ausgeführt hat, dreifacher Natur: Sie ist zunächst Gesetz, das die Sünde kenntlich macht, dann Evan­ge­lium,242 und schließlich enthält sie „stories and life of those scholars“243, d.h. beispielhafte Schicksale, die den Glaubenden Hilfe und Mahnung sein sollen. Alle drei Wesenszüge der Schrift werden von Tyndale zunächst in ihrem Missbrauch durch die Papstkirche und ihre Vertreter, dann in ihrem eigentli­ chen Sinn beschrieben.244 Dabei kommt es ihm insbesondere auf die dritte Kategorie der „stories“ an, die er beispielhaft im zweiten Teil anhand des Jo­ nabuchs darstellt. Zweck der biblischen Beispielgeschichten ist für Tyndale das „practising of the law and of the gospel“245. So sollen sie den Lesern drei Aspekte vor Augen führen: Erstens die „fatherly love“246, mit der Gott für 241 

Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 449: „The scipture hath a body without, and within a soul, spirit and life. It hath without a bark, a shell, and as it were a hard bone, for the ­fleshly-minded to gnaw upon: and within it hath pith, kernel, marrow and all sweetness for God’s elect“. 242  Vgl. ebd.: „promises of mercy for all that repent“. 243  Ebd.; s.o. 4.3.2.1. 244  Der papstkirchliche Missbrauch der Schrift gründet – wie in den Pentateuchvor­ reden ausgeführt – in der Werkgerechtigkeit, der Tyndale seine Deutung des Gesetzes entgegensetzt, vgl. a.a.O., S. 450 f: „But thou, reader, think of the law of God, how that it is altogether spiritual, and so spiritual that it is never fulfilled with deeds or works, until they flow out of thine heart“. Das Gesetz kann erfüllt werden, wenn der Glaubende in ei­ nem Prozess, den Tyndale wiederum als Reifung vom Kind zum Erwachsenen versteht, verändert worden ist, vgl. a.a.O., S. 451: „throughout all our infancy and childhood in Christ, till we be grown up into perfect men, in the full knowledge of Christ“; vgl. Zwingli, Schlußreden (1523), Z II (CR 93), S. 183,5 ff: „Diß glouben, das got alle ding würckt, das hat sin zůnemmen und wachsen, doch allein von got“. 245  Prologue Jonas, PS 1, S. 451. 246  A.a.O., S. 452. Die väterlichen Züge des Gottes, der sich den Erwählten als seinen Kindern zuwendet, betont durchgängig auch Bucer, vgl. z.B. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 65,19 ff. „Auß welchem er gantz verneuwert würt, kann für sich selb nichs mer sorgen. dann er gewisß ist, das der ewig gott und vatter für sich sorget als für sein liebes kind“; oder Ders., Summary (1523), BDS 1, S. 90,3–9: „Es můsß do ein freydigkeit zů gott sein, ein frey troestlich vertrawen als zů unserm vatter, der unser weit mer sorg hab und groesßer liebe zů uns trag, dann kein vatter zů seinem sůn oder auch můter zů iren unmündigen kindlin. Dann wir sollen also gesichert sein seins gůten vaetterlichen willens gegen uns, das wir on allen zweiffel seyen, was wir yn bitten, wir werden auch solchs von ym entpfahen und nemen“.

224 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) seine Auserwählten sorgt, damit sie lernen, seine Gebote aus Liebe zu ihm zu befolgen, zweitens die Mahnung durch das Schicksal jener, die Gottes Gnade nicht annehmen und ihre Herzen verhärten247 und schließlich die Vorbild­ lichkeit der biblischen Personen im Ertragen von Rückschlägen und Anfech­ tungen und in ihrem Vertrauen auf Gott. 4.4.2  Jona als beispielhafter „friend of God“248 4.4.2.1  Jona als Zögling göttlicher Pädagogik Von seinem Verständnis der biblischen Geschichten her kann Tyndale nun das Buch Jona „fruchtbringend“ („fruitfully“) lesen, nämlich „eine Anzahlung, die Gott dir gibt, die dir helfen soll in Zeiten der Not, wenn du dich zu ihm wendest“249. Er stellt den Propheten Jona als „the friend of God“ vor, der je­ doch – wie die Apostel – zunächst kein perfektes Beispiel eines guten Freun­ des bietet, sondern sich vielmehr durch Schwachheit und Unverständigkeit auszeichnet.250 Jona wird dadurch zum Exempel für den von Tyndale be­ schriebenen Wachstumsprozess des Glaubens, der mit der liebevollen An­ nahme durch Gott beginnt und auf die Gegenliebe des Menschen zielt. Bis es jedoch dazu kommt, ist die Beziehung Schwierigkeiten ausgesetzt, die das Jo­ nabuch beispielhaft zeigt. Mit Blick auf die Leser hält Tyndale darum fest: „Wenn wir zuerst zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, dass Friede gemacht ist zwi­ schen Gott und uns, dann lieben wir seine Gesetze und glauben und vertrauen ihm wie unserem Vater, öffnen ihm unser Herz und werden neu geboren im Geist. Doch wir sind wie Kinder und junge Schüler, schwach und empfindlich, und wir brauchen Muße, um zu wachsen im Geist, in der Erkenntnis, in der Liebe und ihren Taten, wie junge Kinder Zeit brauchen, um körperlich zu wachsen“251.

247  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 452: „yee see how they that hardened their hearts, and sinned of malice, and refused mercy that was offered them, and had no power to repent, perished at the latter end, with all confusion and shame, mercilessly“. Interessanterweise sind es hier die Betroffenen selbst, die ihre Herzen verhärten; die Verstockung, die biblisch auch von Gott ausgeht (Ex 7–14; Röm 9–11), sieht Tyndale hier als rein mensch­ liches Tun an. 248  A.a.O., S. 453. 249  Ebd.: „as an earnest-penny given thee of God, that he will help thee in time of need, if thou turn to him“. 250  Vgl. ebd.: „First count Jonas the friend of God, and a man chosen of God, to testify his name unto the world; but yet a young scholar, weak and rude, after the fashion of the apostles while Christ was with them yet bodily“. 251  A.a.O., S. 454: „when we come first unto knowledge of the truth, and that peace is made between God and us, we love his laws, and believe and trust in him as in our father, and have good hearts unto him, and be born anew in the Spirit, yet we are but children and young scholars, weak and feeble; and must have leisure to grow in the Spirit, in know­ ledge, love, and in the deeds thereof, as young children must have time to grow in their bodies“.

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede

225

Die menschliche Schwäche macht es notwendig, dass Gottes Geist die Rolle eines Erziehers einnimmt, der den Menschen in einem längeren pädagogi­ schen Prozess verändert.252 Das Geschenk des Glaubens und die Befähigung zum Tun des Gebotenen sind für Tyndale keine einmaligen Ereignisse im Lie­ besverhältnis Gottes mit dem Menschen, sondern bilden nur den Anfang ei­ nes lebenslangen Wachstumsprozesses, der auch Rückschläge einschließt.253 Die Beschreibung der menschlichen Existenz als homo simul peccator et iustus wird so hineingenommen in das auf die Reifung des Menschen angelegte Be­ ziehungsgeschehen Gottes mit den Glaubenden.254 In diesem Sinne ist Gottes Umgang mit Jona als Weg der Erziehung und des geistlichen Wachstums zu verstehen. Dem Auftrag, nach Ninive zu ziehen, konnte Jona nicht nachkommen, weil sein Wille aus eigener Kraft nicht stark 252  Vgl. ebd.: „God, our father and schoolmaster, feedeth us and teacheth us according unto the capacity of our stomachs, and maketh us to grow and wax perfect, and fineth and trieth us as gold in the fire of temptations and tribulations“. Auch bei Luther findet sich dieser Gedanke von Gott als väterlichem Erzieher in der Auslegung von Jona 4,1 f, vgl. WA 19, S. 240,23–32 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Denn so wyr hie Jona an sehen, so ist wahrlich seyn werck unrecht, als das gott selbst straft. Noch ist er das liebe kind und redet mit Gott so frey, als furchte er sich nichts fur yhm (wie es auch war ist), und trawet yhm als eynem vater. Das ander, das wyr lernen, wie Gott seyne liebe kinder lest gute, grosse, grobe stuecke narren und feylen, wie Christus auch mit den Aposteln thut ym Euan­gelio zu trost allen gleubigen, so zu weylen sundigen und fallen. Das dritte, was wyr sehen, wie gar freundlich, veterlich und lieblich Gott mit denen handelt und umbgehet, so yhm vertrawen ynn noeten, wie lieb der vater wird nach der ruten und staupe, als die ­Epistel zu den Ebreern sagt“ (Hebr 12,11). 253  Auch Luther kann an manchen Stellen diesen „Dreischritt“ formulieren, vgl. WA 19, S. 194,15–19 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Also bestettigt nu Jona mit seyner weyssagung den Spruch S. Pauli Ro iij. [Röm 3,20.28], daß durch die werck des gesetzs niemand muege fur gott frum werden, sondern der mensch mus on alle werck des gesetzs durch den glauben frum werden, wilcher denn gute werck thut, wie wyr hie sehen an die­ sen Nineviten“. 254  Hier sind inhaltliche Parallelen, aber auch Unterschiede zu Luthers Auslegung greifbar (vgl. WA 19, S. 198,11–201,30, Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): Auch Luther deu­ tet Jonas Verhalten vor dem Hintergrund der menschlichen Grundverfasstheit als Sünder und will daran zeigen, dass Gottes Willen unwiderstehlich und zum Besten des Menschen wirkt, dass „wyr Gotts gnade recht lernen kennen und an unserm verdienst nicht hangen“ (a.a.O., S. 199,7 f) und schließlich „wie auch die aller groessisten, trefflichsten heyligen so groeblich sundigen widder Gott, und nicht wyr alleyne arme, elende sunder sind“ (a.a.O., S. 199,22 ff). Bei Luther liegt der Akzent aber weniger auf der göttlichen „Pädagogik“ und der Reifung des Sünders in der Heiligung als bei Tyndale, der wiederum mit Bucer konform geht, vgl. Bucer, Epheser-Kommentar (1527), de Kroon, S. 150: „Nulla quidem harum virtutum sine aliis esse potest, consummatio tamen hominis Dei dilectionis est, qua ille iam aliis se Dei filium, quod per fidem esse coepit et spe perseverat, re ipsa exhibet nimirum beneficum in omnibus“, oder, a.a.O., S. 152–154: „Certe qui huc pervenit, ut Domino nostro IESU fidem habeat, is quoque spem omnem in illo fixam habebit, nihil dubitans se olim per huius spiritum animo et corpore ad iustam vitae cum puritatem tum felicitatem perducendum. Inde feret quaecunque Deus immiserit aequo animo et quam officiosissime erit in quoslibet“; vgl. dazu Stephens, Bucer, S. 83–93.

226 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) genug war.255 Tyndale charakterisiert den inneren Zwiespalt des Propheten, der ihm auf seiner Flucht per Schiff zu schaffen macht, als Beispiel für die wi­ dersetzliche Haltung des menschlichen Willens gegenüber Gottes Gebot: „Sein Gewissen war hin und her gerissen zwischen dem Befehl Gottes, der ihn nach Niniveh sandte und seiner fleischlichen Weisheit, die ihm davon ab- und das Gegenteil zuriet und die sich schließlich gegen den Befehl durchsetzte“256.

Als der Prophet jedoch von der Besatzung des Schiffs mit dem Sturm kon­ frontiert wird, erkennt er seine Sündigkeit. Die Drohung mit dem Unheil, das aus der Nichtbefolgung des göttlichen Gebotes folgt – Tyndale vergleicht es mit dem Vorzeigen der strafenden Rute bei Kindern – löst bei ihm die Be­ sinnung aus.257 Seine Flucht wird so letztlich zum Weg der Läuterung.258 Eindeutiger als Luther, dessen Fokus stärker auf dem Menschen Jona liegt,259 stellt Tyndale den im ganzen Geschehen waltenden unwiderstehli­ chen Willen Gottes heraus. Jonas Schicksal spielt sich ab im Raum der Provi­ denz des liebenden Vatergottes. Dadurch, dass er den von der Sünde verführ­ ten fleischlichen Willen des Propheten herausstellt und zugleich die Fügung des als Pädagoge waltenden Gottes betont, berührt Tyndale das Problemfeld 255  Tyndale beschränkt sich auf diese lapidare Feststellung, während Luther einfühl­ sam nach den Beweggründen für Jonas Verhalten fragt, vgl. WA 19, S. 201,31–205,4 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526). 256  Prologue Jonas, PS 1, S. 455: „his conscience was tossed between the commandment of God, which sent him to Niniveh, and his fleshly wisdom, that dissuaded and counselled him the contrary, and at the last prevailed against the commandment“. Luthers Analyse der Seelenlage des Propheten ist um einiges differenzierter, deckt sich aber in den Grund­ zügen mit der Tyndales, vgl. WA 19, S. 209,15–211,19 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526). 257  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 456: „as verily as he was fled from God, that as verily God had cast him away. For the sight of the rod maketh the natural child not only to see and to knowledge his fault, but also to forget all his father’s old mercy and kindness“; vgl. WA 19, S. 199,19 ff (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Seyn grosser glaube mitten ynn der sunden macht, das Gott seyn nicht kan vergessen, sondern mus yhn widder er­ aus reyssen“. 258  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 455: „Nevertheless, the God of all mercy, which careth for his elect children, and turneth all unto good to them, and smiteth them to heal them again, and killeth them to make them live again, and playeth with them (as a father doth sometime with his ignorant children), and tempteth them, and proveth them to make them see their own hearts provided for Jonas how all things should be“; vgl. WA 19, S. 198,11–14 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „So bleyben wyr stracks und steyff auff den worten gotts und lassen Jonan hie eyne grosse, schwere sunde gethan haben, dadurch er ewiglich verdampt were, wo er nicht ynn der auserweleten zal ym buch des lebens ge­ schrieben were gewest“. Man beachte die Erwählungsvorstellung bei Luther! 259  Vgl. WA 19, S. 238,3–6, (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Es ist nicht not, hie die spitzigen frage zu handeln, wie sich Gott kere und rewe und las yhm leyd werden, so er doch unwandelbar ist, damit sich etliche hoch bekuemern und machen yhn selbs schweer ding draus. Da last uns viel mehr auff sehen, wilch ein trefflicher Glaube ynn den leuten gewest ist“.

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede

227

von freiem Willen des Menschen und göttlicher Vorherbestimmung. Die Problematik wird von ihm in der Jonavorrede jedoch nicht aufgelöst. Anhand der Geschichte Jonas will Tyndale seinen Lesern vermutlich beides deutlich machen: Einerseits ihre Verantwortung, nach Gottes Wort zu handeln, ande­ rerseits den Trost durch die Erkenntnis, in Gottes Erwählungswillen gebor­ gen zu sein.260 Den Losentscheid über Jonas Schicksal nimmt Tyndale zum Anlass, grund­ sätzlich über den rechten Gebrauch des Losurteils zu sprechen, den er als Pro­ vozierung eines „Gottesurteils“ ablehnt.261 4.4.2.2  Das Schicksal Jonas als Beispiel für Gottes Wirken in der Geschichte Jonas Weg führt in den Bauch des Fisches, in dem er drei Tage und Nächte verweilt. Diese Angabe nimmt Tyndale zum Anlass, die christologische Deu­ tung dieser Stelle kritisch zu betrachten. Eine direkte allegorische Übertra­ gung auf Christus lehnt er ab.262 Jedoch ist die Passage auch für ihn dazu ge­ eignet, den Glauben zu stärken, wird hier doch – wie bei Kreuz und Auferste­ hung Christi – letztlich auf die Macht Gottes verwiesen, der – so wie er Christus von den Toten auferweckt – auch Jona im Fisch rettet. 260  Zu Bucer vgl. Stephens, Bucer, S. 29: „Bucer makes the double point that we are not coerced, but that without the Holy Spirit we cannot choose or do good. God gives light to all men, by which they see what is right, but this is ineffective in those who lack the Spirit of sonship“. 261  Interessanterweise äußert sich auch Luther – ausführlicher als Tyndale – zum Los­ verfahren im Allgemeinen, geht aber differenzierter vor (vgl. WA 19, S. 212,8–11, Der Prophet Jona ausgelegt, 1526). Beide berufen sich auf Apg 1,26 (vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 456; WA 19, S. 212,22 f), was für Tyndales Kenntnis von Luthers Jona-Vorrede spricht, da sein Exkurs sonst nur schwer zu erklären wäre. Wo Luther allerdings den Losentscheid prinzipiell für ungefährlich hält, ja darin sogar „eyn gut werck an yhm selbst, und wo es ym glauben geschicht, eyn gottlich werck, das yhm zu ehren geschicht“ (WA 19, S. 213,19 ff) sehen kann, ist der er für Tyndale nur statthaft, wenn er der Klärung von Streitfragen dient, nicht als „Gottesurteil“, wie im Fall der Schiffsleute, (vgl. Prologue Jo­ nas, PS 1, S. 456: „But to abuse them [d.i. die Lose, Anm] unto the tempting of God, and to compel him therewith to utter things wherof we stand in doubt, when we have no commandment of him so to do, as these heathen here did, though God turned it unto his glory, cannot be but evil“; vgl. dagegen WA 19, S. 212,20 ff: „Zum andern sage ich, das myr noch nicht bewust ist, das lossen eyn verbotten werck sey. Es ist wol verbotten, man solle Gott nicht versuchen. Aber lossen und Gott versuchen ist weyt von eynander“). Die inhaltliche Differenz könnte sich allerdings auch aus einem nur teilweise gelungenen Ver­ such Tyndales erklären, Luthers ausführliche Begründung für die englischen Leser in ei­ nem einzigen Absatz zusammenzufassen. 262  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 457: „we cannot thereby prove unto the Jews and infi­ dels, or unto any man, that Christ must therefore die, and be buried, and rise again […] For he that believeth the one, cannot doubt in the other“; vgl. Luthers ausführliche „dritte geistliche Deutung“ (vgl. WA 19, S. 249,15–251,29, Der Prophet Jona ausgelegt, 1526).

228 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Tyndale deutet Jonas Schicksal vor dem Hintergrund eines Tun-Erge­ hen-Zusammenhangs: Das Hören auf Gottes Wort bringt Segen, die Ableh­ nung Unheil.263 Diese These belegt Tyndale mithilfe biblischer und histori­ scher Beispiele,264 von denen letztere Einblick geben in das Geschichtsbild, das er auch in „Prelates“ beschreibt.265 Tyndale führt die Predigt des britischen Missionars und Chronisten Gildas (ca. 494/516–570) an,266 die von den „old Britains“267 verachtet worden sei, mit der Konsequenz, dass Gott ihr Land den Feinden in die Hand gab. Auch die Predigt Wyclifs stieß auf taube Ohren, denn ihre Adressaten waren „blinded with their own pope-holy righteousness“268. Das Ergebnis waren – so Tyndale – die endlosen Kämpfe um die englische Krone in den Rosenkriegen. In diese Deutung der Geschichte im Lichte der Annahme oder Ablehnung von Gottes Wort zeichnet Tyndale auch die eigene Gegenwart ein: „Und nun ist Christus erneut auferstanden aus dem Grab, in das ihn der Papst gelegt hat, um Umkehr zu predigen“269. Für den Fall, dass eine Umkehr zu Christus aus­ bleibt, sieht Tyndale folgerichtig großes Unheil voraus: „Darum bin ich sicher, dass großer Zorn die Folge sein wird, wenn er nicht durch Reue aufgehalten und besänftigt wird“270. 263  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 458: „wheresoever repentance was offered and not re­ ceived, there God took cruel vengeance immediately“; vgl. Bucer, Messgutachten (1527), BDS 2, S. 504,20–24: „Das aber nun im volck solch laster leider fürgen vnd von euch nit, alß jr schuldig seit, gestrafft werden, jst einig vrsach, das man sich noch nit von hertzen zu gott bekert, falschen gottsdienst abgestelt vnd jnn allem frey noch dem wort gottes sich alß ein volck gottes bekant vnd vß gethon hatt“ (diese Schrift Bucers kann Tyndale freilich nicht gekannt haben, da sie nicht im Druck erschien); vgl. dazu auch Gäumann, S. 209 ff. 264  Z.B. nennt Tyndale Sodom und Gomorra u. Israel in Ägypten (vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 458). 265  S.u. 5.2. 266  Vgl. Krieger, S. 34. 267  Prologue Jonas, PS 1, S. 458; vgl. ebd.: „and therefore God sent in their enemies upon them on every side, and destroyed them up, and gave the land unto other nations“. 268  Ebd. Im Verweis auf Wyclif muss kein lollardisches Erbe vermutet werden (gegen Smeeton, Lollard Themes, S. 76 f). Er entspricht der allgemeinen Hochschätzung Wyclifs durch die Reformatoren, vgl. WA 18, S. 640,8 (De servo arbitrio, 1525): „Ex mea vero parte unus Vuicleff et alter Laurentius Valla“ und a.a.O., S. 651,4–7: „Quot sanctos putas exus­ serunt et occiderunt iam aliquot saeculis soli illi inquisitores haereticae pravitatis? velut Iohannem Hussum et similes, quorum saeculo non dubium est, multos vires sanctos ­vixisse eodem spiritu“; vgl. Brecht, Luther II, S. 227. 269  Prologue Jonas, PS 1, S. 458: „And now Christ, to preach repentance, is risen yet once again out of his sepulchre, in which the pope had buried him“. Clebsch, 165, hält es für wahrscheinlich, dass Tyndale sich selbst – in der Tradition Gildas und Wyclifs – mit Jona identifizierte und dessen Sendung in das gottvergessene Ninive mit seiner eigenen Mission gegen die Idolatrie der Papstkirche verglich. 270  Prologue Jonas, PS 1, S. 459: „so am I sure that great wrath will follow, except repen­ tance turn it back again, and cease it“. Auch bei Luther findet sich an einer Stelle ein ähn­ liches Geschichtsbild, vgl. WA 19, S. 193,9–19 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Denn so

4.4  Das Jonabuch und seine Vorrede

229

Was unter dieser so notwendigen wahren Reue zu verstehen ist, zeigt Tyn­ dale wiederum anhand von Jona. Dieser macht im Bauch des Fisches eine Wandlung durch, die in seinem Gebet der Dankbarkeit an Gott ihren Aus­ druck findet. Sein Psalm ist darum nichts anderes als das Versprechen, das auch in Beschneidung und Taufe zum Ausdruck kommt, nämlich die von der Einsicht in Gottes Wohltaten getragene Selbstverpflichtung des Glauben­ den.271 Als Jona an Land gespült wird, ist seine Einstellung gewandelt. Er ist nun in der Lage, Gottes Auftrag anzunehmen und nach Ninive272 zu ziehen: „Denn, ja, er ist durch eine neue Schule gegangen und durch einen Brennofen, in dem er gereinigt wurde von viel Unrat und der Schlacke fleischlicher Weisheit“273.

Am Beispiel der Einwohner Ninives, die sich bußfertig zeigen, erweist sich schließlich für Tyndale, dass Gott auf wahrhaftige Reue mit Erbarmen re­ agiert. Die Kontrastierung der vorbildlichen Bewohner Ninives mit dem ver­ stockten Volk Israel, die Jesus selbst in Mt 12,41 vornimmt, gibt Tyndale die Gelegenheit, die Vertreter der Papstkirche als Nachfolger der Juden zu kriti­ sieren.274 Er wirft den Juden Diebstahl, mangelnde Elternehrung, falsche pflegt Gott ymer dar zu thun, wenn seyn grosser zorn fur handen ist, das er zuvor seyn wort schickt und ettliche errettet. Also schicket er Noa fur der sindflut, Loth, ehe denn er Sodom versenckt […] Also hat er auch Christum, seynen son, selbs ynn die welt gesand, ehe denn der letzte zorn des jungsten gerichts kompt. Aber nach Christus tod ward nicht alleyne Jerusalem, sondern Rom und der gantz Roemisch kreys und reych zerbrochen. Wyr haben auch itzt die selbigen gnade und grosses liecht goettlichs worts. Darumb ist gewis eyn gros verderben furhanden“. 271  Prologue Jonas, PS 1, S. 459: „to confess out of thy heart that all benefits come of God, even out of the goodness of his mercy, and not deserving of our deeds, is the only sacrifice that pleaseth God; and to believe that all the Jews vowed in their circumcision, as we in our baptism“; vgl. WA 19, S. 231,4–7 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Es ist nichts und taug nichts fur Gott, fur wilchem nichts gilt denn seine guete und barmhertzickeit, mit rechtem glauben gefasset und bekand, on alle werck und verdienst uns geschenckt“; s.o. 4.3.4.2 und s.u. 4.5.4. 272  Bei der Beschreibung von Ninive als „drei Tagesreisen groß“ (Jona 3,3) sind Tyn­ dales wörtliche Anleihen bei Luther überdeutlich: „And as [to] the three days’ journey of Niniveh, whether it were in length, or to go round about it, or through all the streets, I commit unto the discretion of other men. But I think that it was then the greatest city of the world“ (Prologue Jonas, PS 1, S. 460); vgl. WA 19, S. 234,1 ff (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Das die stad aber drey tage reyse gro sey, verstehen ettliche also, das sie ym ringe so weyt umbfangen sey gewest, das man ynn drey tagen habe mugen umbher gehen. Die lasse ich yhre meynunge haben“. In Luthers Auslegung von Jona 3,5, findet sich auch bei ihm der Satz: „Aber zur zeit Jona ist Ninive die beste und groeste stad auff erden und hat keyne gleiche“ (a.a.O., S. 235,9 f). Möglicherweise hat Tyndale Luthers Text auf der Suche nach brauchbarem exegetischen Material für die eigene Vorrede „quergelesen“. 273  Prologue Jonas, PS 1, S. 459: „For he had been at a new school, yea, and in a furnance, where he was purged of much refuse and dross of fleshly wisdom“. 274  Vgl. a.a.O., S. 460: „howsoever angry God be, yet he remembereth mercy to all that truly repent and believe in mercy: which ensample our Saviour Christ also casteth in the teeth of the indurate Jews saying [Zitat Mt 12,41] meaning of himself, at whose pre­

230 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Predigt, die Verfolgung der wahren Propheten Gottes und Betrug am Nächs­ ten vor – Vorwürfe, deren Adressat wohl eigentlich der römische Klerus ist. Alle Vorwürfe kulminieren darum in der Unterstellung falscher Werkge­ rechtigkeit.275 Das Ende der Jonaerzählung macht für Tyndale schließlich deutlich, dass auch der gereifte Prophet „rückfällig“ und kleingläubig werden kann: „Und zum Schluss bekommst du letztendlich ein gutes Beispiel, um zu lernen, wie ir­ disch auch Jona bleibt, all seinen Bemühungen im Bauch des Wals zum Trotz“276.

4.5  Theologische Einordnung 4.5.1  Schrifthermeneutik Tyndale entwickelt das in seiner Beschäftigung mit dem Neuen Testament erwachsene Schriftverständnis im Umgang mit dem Alten weiter. Das refor­ matorische Prinzip sola scriptura, das verbunden ist mit dem solus Christus und dem sola gratia bzw. sola fide, wird von ihm auch in seinen alttestamentlichen Vorreden herausgestellt. Auch in Gestalt des Alten Testaments ist die Schrift – wie Tyndales soteriologische Identifizierung mit dem Reich Gottes in der Jonavorrede deutlich macht – entscheidende Glaubensnorm, wenngleich sie im Vergleich mit dem Christuszeugnis des Neuen Testaments nur den Cha­ rakter des Vorläufigen besitzt.277 In dieser Differenzierung folgt Tyndale Luther, verwendet jedoch – anders als dieser – große Mühe darauf, die Bedeutung des Alten Testaments als „pä­ dagogische Lektüre“ herauszuarbeiten. Das Alte Testament ist nicht nur „Ge­ setzbuch“, sondern darüber hinaus auch „Lehrbuch“ für die Glaubenden, die an Israels Weg mit Gott Wesentliches für die eigene Gottesbeziehung ersehen können. Nicht nur die Verheißungsworte interessieren Tyndale, er findet im Alten Testament darüber hinaus das Verhältnis der Gotteskinder zu ihrem aching yet, though it were never so mighty to pierce the heart, and for all his miracles the­ reto, the hard-hearted Jews could not repent“. Auch hier lässt sich vermuten, dass Tyndale seine Vorlage schlicht verkürzt wiedergegeben hat, vgl. WA 19, S. 238,28–34 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526): „Solch stuecklin machen sie yhn so trefflich nuetze zu yhrer selickeyt uns beyde Juden und Christen zu allen schanden, die wyr uns so reichlichs uberfluss ynn Gotts wort nicht konnen die helft so nuetze machen. Darumb sie auch Christus Math. xij den Juden und uns allen auffruckt und spricht [Zitat Mt 12,41]“. 275  Vgl. Prologue Jonas, PS 1, S. 460–463. Bei Luther finden sich insgesamt weniger An­ griffe auf das Papsttum und wenn, dann meist in Verbindung mit Attacken gegen die „Schwärmer“, vgl. z.B. WA 19, S. 194,26–195,13 (Der Prophet Jona ausgelegt, 1526). 276  Prologue Jonas, PS 1, S. 463: „And in the last end of all thou hast yet a goodly en­ sample of learning, to see how earthy Jonas is still, for all his trying in the whale’s belly“. 277  Zu Bucers sehr ähnlicher Position vgl. Stephens, Bucer, S. 148. S.o. 4.3.3.2 und 4.4.

4.5  Theologische Einordnung

231

himmlischen Vater beschrieben. Seiner Exegese zu Grunde liegt die Vorstel­ lung der Einheit der Geschichte Gottes mit den Erwählten, vom alten Israel bis zum England seiner Tage.278 In ihr zeigt sich für ihn immer wieder das Leitmotiv der Liebe Gottes.279 Weniger deutlich als Luther stellt Tyndale da­ rum heraus, „daß das Alte Testament auch eine Seite hat, die nur das Volk Is­ rael, nicht aber die Christen angeht“280. Stattdessen bewegt er sich in großer Nähe zur Auffassung Bucers, derzufolge Altes und Neues Testament „‚in sub­ stantia‘ völlig gleich [sind], denn in beiden zielt Gott darauf ab, daß er durch seine Güte unser Gott und wir durch den Glauben sein Volk seien“281. Tyn­ dale bleibt allerdings – anders als Bucer – Luthers Dialektik von Gesetz und Evan­ge­lium auch weiterhin verbunden.282 Er weicht diese strenge Unterscheidung jedoch auf, indem er Luthers Dual von Gesetz und Evan­ge­lium die Beispielgeschichten („stories“) als ein Drittes an die Seite stellt.283 In ihnen sieht er das hermeneutische Mittel, mit dessen Hilfe die Glaubenden aus der Schrift Existentielles für die eigene Gottesbe­ ziehung lernen können. Im Spiegel der Geschichten sollen sie Gottes Wirken im eigenen Leben wiedererkennen und ihr Verhalten danach ausrichten. Tyn­ 278  Gerade im Kontext des AT führt Tyndale 2 Tim 3,16, Eph 6,17, Röm 15,4 und 1 Kor 10 an und stellt fest: „So now the scripture is a light, and sheweth us the true way, both what to do and what to hope for; and a defence from all error, and a comfort in ad­ versity that we despair not, and feareth us in prosperity that we sin not“ (Prologue Genesis, PS 1, S. 399); vgl. Knox, Doctrine, S. 23. 279  Vgl. z.B. Tyndales doxologisches Schlusswort der Genesisvorrede, das den Bogen vom Alten zum Neuen Testament schlägt, Prologue Genesis, PS 1, S. 403: „And with such purpose to read it, is the way to everlasting life, and to those joyful blessings that are pro­ mised unto all nations in the Seed of Abraham; which Seed is Jesus Christ our Lord, to whom be honour and praise for ever, and unto God our Father through him. Amen“. 280  Lohse, Theologie, S. 210; vgl. Althaus; Theologie, S. 86 ff. 281  Müller, S. 201; vgl. Stephens, Bucer, S. 109–121; vgl. Tyndales Leseanleitung in Prologue Genesis, PS 1, S. 400: „As thou readest, therefore, think that every syllable per­ taineth to thine own self, and suck out the pith of the scripture, and arm thyself against all assaults“. 282  Zu Bucers Nicht-Adaption der Unterscheidung Luthers vgl. Koch, S. 66–68; Müller, S. 207–211; Stephens, Bucer, S. 68–70. Für Tyndale tritt die Unterscheidung erst mit seiner Adaption des Bundesbegriffs 1532 in den Hintergrund, s.u. 6.3.3.3 und 6.4.3. 283  S.o. 4.3.2.1. Auch Luther hat freilich atl. Texte als Beispiele zur Illustration heran­ gezogen, (etwa in seinen Predigten zum 1. Petrusbrief von 1523, vgl. WA 12, S. 274,33– 277,13), er betont jedoch – anders als Tyndale – stets die im AT verborgene Christuswirk­ lichkeit. Bornkamm, Luther, S. 209, resümiert daher: „Luther hat den Geheimsinn in solchen gestorbenen Rechten und Riten damals durchaus gern noch gesucht und von die­ ser blühenden mittelalterlichen Kunst der Allegorie nie ganz gelassen, aber doch in stän­ dig abnehmendem Maße und mit strenger Konzentration auf Glaubenswahrheiten. Die prophetisch-christologische Deutung, die er mit der bis ins Neue Testament zurückrei­ chenden Tradition der Kirche teilt, wird ihm also einerseits zur unaufgebbaren Brücke zum Alten Testament, andererseits zu der bis in die Tiefe des Gegensatzes von Gesetz und Evan­ge­lium führenden Unterscheidung des alten und des neuen Bundes“.

232 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) dale betreibt eine tropologische Exegese der biblischen Texte,284 die er mög­ licherweise von Bucer gelernt hat. Auch für Tyndale ist das „,propter nos‘ des Gotteswortes […] so überwältigend, daß er nicht nur die biblische Botschaft in ihrer lehrhaften Form, sondern auch die einzelnen in der Bibel aufgezeich­ neten historischen Begebenheiten bis hin zur Geschichte des Volkes Israel als Heilsveranstaltung Gottes begreiflich zu machen sucht, die uns etwas sagen sollen“285. Diese exegetische Herangehensweise war für Tyndale insofern at­ traktiv, als die Glaubenden mithilfe seiner „Leseanleitungen“ auch ohne die Vermittlung von Predigt und Katechese im Selbststudium das Wesentliche erfassen konnten. Die von Verfolgung bedrohte Gemeinde in England war ohne die Auslegung durch geschulte Prediger oder schriftliche Hilfsmittel, wie Katechismen, auf diesen unmittelbaren Zugang angewiesen. Insgesamt bewegt sich Tyndale also in seinen Vorreden zu den alttesta­ mentlichen Texten zwischen Luther, dessen Dialektik von Gesetz und Evan­ ge­lium er übernimmt, und Bucer, dem er in der Auffassung der prinzipiellen Einheit beider Testamente und in seiner Auslegungsweise folgt. Erst indem er in seinen späteren Schriften das – in den Vorreden schon anklingende – Motiv des Bundes stärker aufgreift, wird Tyndale diese Spannung überwinden.286 4.5.2  Aufnahme und Fortführung rechtfertigungstheologischer Schwerpunkte: Gottes väterliche Pädagogik Auch in seinen Vorreden zum Alten Testament findet sich Tyndales Verständ­ nis von Rechtfertigung und Heiligung als Liebesgeschehen zwischen Gott und Mensch.287 Der soteriologische Dreischritt von der Liebe Gottes, die in Christus offenbar und durch den Geist im Glauben erfasst wird, um sich schließlich in der Liebe zum Nächsten auf der Grundlage des „Law of love“ zu manifestieren, bleibt bestimmend und wird mithilfe einer Metaphorik des Familienlebens vielfältig beschrieben.288 Der Prozess der Rechtfertigung und Heiligung wird verstanden als Ent­ wicklungsgeschehen, das in seinen einzelnen Elementen nicht voneinander zu trennen ist:289 Gott nimmt die Glaubenden nicht nur liebevoll väterlich an, 284  Er selbst grenzt dieses Vorgehen scharf von der papstkirchlichen Allegorese ab: s.o. 4.3.4.1. 285  Müller, S. 142 f (Kursivierung dort). 286  S.u. 4.5.5. 287  Vgl. Trueman; Legacy, S. 99: „All of the key elements of Tyndale’s earlier position are again expressed here: conviction by the law; the work of the Spirit; and love of the law […] This leads to the characteristic emphasis upon salvation as an ontological change ­whereby the sinful nature is healed“. 288  S.o. 4.3.3.1. Besonders greifbar wird dies in der Darstellung des Dtn als „Liebes­ buch“. s.o. 4.3.6. 289  S.o. 2.6.3 u. 3.2.6.2; zu Bucers Position vgl. Stephens, Bucer, S. 48: „justification cannot be separated from vocation or sanctification“.

4.5  Theologische Einordnung

233

sein Geist lehrt sie auch auf dem Weg seiner Gebote zu wandeln. Der Glau­ bende als peccator in re kann in einem fortschreitenden Prozess der Abtötung des Fleisches dem Ziel des iustus in spe näher kommen.290 Er reift – wie Tyndale wiederholt in Analogie zum Erwachsenwerden von Kindern feststellt – auf diese Weise im Prozess der Heiligung heran, in dem ihm die guten Werke als äußere Zeichen der Erwählung dienen.291 Dieses Verständnis der sanctificatio verbindet Tyndale mit Bucer (und beide mit Augustin),292 und liegt auf der Li­ nie der hervorgehobenen Rolle des Geistes im Rechtfertigungsgeschehen, die schon in früheren Schriften Tyndales aufgezeigt wurde.293 Obwohl die Glaubenden durch das Kommen Christi dem Stadium der Kindheit, in dem sich Israel befindet, entwachsen sind, ist auch für die „er­ wachsenen“ Christenmenschen der Entwicklungsprozess noch nicht abge­ schlossen. Vor dem Hintergrund des Kampfes des neuen gegen den alten Menschen bekommt das pädagogische Moment ein besonderes Gewicht. Die alttestamentlichen Gesetzestexte und Beispielgeschichten sind für Tyndale Lernhilfen, die bei der Überwindung des Fleischlichen helfen können.294 Sie tun dies einmal, indem sich die Glaubenden auf das Liebesgebot, als die für Christenmenschen verbindliche Norm, ausrichten. Zum anderen soll die An­ schauung des Umgangs Israels mit den – in ihrem verpflichtenden Charakter für Christen nichtigen – Judizial- und Zeremonialgeboten helfen, denn am Gelingen und mehr noch am Scheitern der Kinder Israels am Gesetz können die Glaubenden wertvolle Einsichten für die eigene Glaubenserfahrung ge­ winnen. Die Heiligung wird von Tyndale somit insgesamt verstanden als Erzie­ hungshandeln Gottes. Es ist geprägt vom damaligen Verständnis gelingender Pädagogik und rechnet darum auch mit Gottes strafender „Rute“. Aufs neue ist die Parallele zu Bucer augenfällig, dessen pädagogischen Grundimpuls Müller folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Die Heilsveranstaltungen Gottes, sowie der Vollzug der Heilsaneignung durch den Menschen erschei­ nen bei Bucer als ein umfassender religiöser Erziehungsprozeß“295. Aufgrund des prozessualen Charakters bekommen Rechtfertigung und Heiligung – bei Bucer wie bei Tyndale – zugleich eine proleptische Dimension, denn die „Be­ 290  291 

Zur Herkunft dieser Unterscheidung von Erasmus s.o. 4.3.5.2. Vgl. Trueman, Legacy, S. 103: „Such emphasis upon outward works as testifying to prior justification by God through faith, is a common element amongst early Reformed thinkers and Tyndale’s loose use of the word ‚justification’ echoes that of Martin Bucer“. 292  Vgl. Stephens, Bucer, S. 81 ff. 293  Vgl. Trueman, Legacy, S. 103 f: „Reformers such as Bucer followed Augustine’s interpretation of James and stressed the works referred to in James 2 were a consequence, and not a cause, of justification. It is to this tradition of interpretation that Tyndale be­ longs“; s.o. 2.6.3 und 3.2.6.2. 294  S.o. 4.3.3.1, 4.3.4.1 und 4.4.2. 295  Müller, S. 37 (Kursivierung im Original).

234 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) lohnung“ („reward“)296, die Gott in Aussicht stellt, ist keine, die im irdischen Leben erreicht werden kann.297 Trueman weist auch hier die Nähe zur Au­ gustinrezeption in der reformierten Tradition nach: „This points to the in­ fluence of Augustinian thought on this matter, which may have been obtained directly or mediated through the reformed tradition via the writings of men such as Bucer. It certainly indicates an affinity with the position on merit adopted by Reformed thinkers“298. Im Glossar zur Genesis taucht darüber hinaus bereits eine neue theolo­ gische Begrifflichkeit auf, mit der Tyndale in den kommenden Jahren das so beschriebene Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Glaubenden be­ schreiben wird: Die Vorstellung vom Bund („testament“, später auch: „co­ venant“). Als Ausdruck eines „appointment made between God and men“299 bekommt der Bund hier erstmals die Bedeutung als Klammer und Ort der Verwirklichung des Liebesverhältnisses von Gott und Mensch. 4.5.3  Praedestinatio und Providentia: Gottes Handeln in der Geschichte Tyndales Rechtfertigungstheologie ist in ihrer Konsequenz verbunden mit einer Vorstellung von der Erwählung der Glaubenden von Ewigkeit her. Dies verbindet ihn mit den meisten anderen Reformatoren, die, um eine mensch­ liche Mitwirkung an der iustificatio und sanctificatio ausschließen zu können, ebenfalls eine praedestinatio der Glaubenden annehmen mussten.300 In der Art und Weise, wie die Erwählung thematisiert wurde, lassen sich jedoch deut­ liche Unterschiede erkennen. Tyndale gehört zu jenen Reformatoren, die selbstverständlich von Gottes Erwählungshandeln ausgehen und dementsprechend von den Glaubenden auch als von den „Erwählten“ („elect“) sprechen können. Die Prädestination wird von ihm aber nicht eigens als selbstständiger dogmatischer Topos erörtert,301 sondern ist für ihn stets eng verbunden mit dem starken pneuma­ 296  S.o. 4.3.5.2; Clebsch, S. 166 f, kritisiert, dass Tyndale in diesem Zusammenhang auch vom „reward“ sprechen kann und sieht darin eine (falsche) Motivation für das Han­ deln eines Christenmenschen. Trueman, Legacy, S. 105, weist demgegenüber zurecht da­ rauf hin: „where heaven becomes a reward of well doing, still does not mean that salvation is merited by good works in a strict sense. However it does support the interpretation of Tyndale’s doctrine of justification as proleptic whereby man is justified on account of his new birth which will lead to increasing perfection in this life and absolute perfection in the next“. 297  Vgl. Stephens, Bucer, S. 48–61. 298  Trueman, Legacy, S. 105. 299  Prologue Genesis, PS 1, S. 409. 300  Vgl. Bornkamm, Bucer, S. 93: „Wie alle Reformatoren ist Bucer Anhänger des paulinischen und augustinischen Gedankens der Prädestination, die das Heil des Men­ schen in strengster Weise auf Gott allein zurückführt“. 301  Eine ähnliche Beobachtung macht Stephens, Bucer, S. 23, auch im Bezug auf Bu­ cers Frühschriften: „Predestination is mentioned in Bucer’s earliest writings as a doctrine

4.5  Theologische Einordnung

235

tologischen Akzent seiner Rechtfertigungslehre. Über diese Einbindung der Prädestinationsvorstellung als Voraussetzung des von Gott ausgehenden „Ge­ rechtmachens“ des Menschen hinaus, begegnet bei Tyndale des öfteren der Verweis auf Gottes Vorsehung. Tyndale legt Wert darauf, seine von Verfol­ gung bedrohte Leserschaft zu vergewissern, dass Gott alle Dinge zum Wohle seiner Erwählten wirkt. Er verbindet diesen Providenzgedanken in der Jona­ vorrede mit einem Geschichtsverständnis, das er bereits in „Prelates“ (1530) entwickelt hatte.302 Darin macht er den Umgang mit Gottes Wort zum An­ haltspunkt für dessen Lenkung der Geschichte: Im Rückblick bringt die An­ nahme des Wortes für Tyndale stets Segen, und auch da, wo die Glaubenden Anfechtungen gewärtigen müssen, sind diese nur vorübergehende „pädago­ gische Maßnahmen“ Gottes, die letztlich segensreich sind. Auf die Ablehnung von Gottes Wort jedoch folgen Strafe und Leiden. Diese Drohung bekommt jedoch mit Blick auf den Adressatenkreis Tyndales auch eine tröstliche Di­ mension, insofern sich die Verfolgten schon jetzt damit trösten können, dass ihre Unbilden zeitlich befristet sind und ihre Verfolger eines Tages zur Re­ chenschaft gezogen werden. 4.5.4  Aussagen zum Sakraments- und Amtsverständnis Auch in der Beschäftigung mit dem Alten Testament ändert sich Tyndales grundsätzliche Auffassung der Sakramente als Zeichenhandlungen, in denen Wort und Zeichen zusammenwirken müssen, nicht. Sie wird jedoch dadurch illustriert, dass Tyndale eine Parallelisierung von Zeichen im Alten und im Neuen Testament vornimmt.303 So stellt er die Taufe ausdrücklich in den Kontext der Beschneidung und greift damit – freilich in einem vergleichs­ weise weniger kontroversen Kontext – einen Gedanken auf, der vor allem von Zwingli in der Auseinandersetzung mit den Täufern um die Kindertaufe eingebracht worden war.304 Inwieweit Tyndale hierin allerdings direkt auf Zwingli zurückgreift, ist nicht nachweisbar. Auffällig ist jedoch, dass Zwingli im gleichen Kontext auch seine Bundestheologie ausführt – möglicherweise eine theologische Inspiration, die bei Tyndale, sollte er Zwinglis Position zur Kenntnis genommen haben, später Früchte getragen haben könnte. In Bezug auf das Abendmahl scheint bei Tyndale ebenfalls eine Auffassung durch, die ihn mit den schweizerischen, aber auch den Straßburger Reforma­ toren in Verbindung bringt: Die Deutung des Abendmahls als Gedächtnis­ which he presupposes. Both Das ym selbs and the Summary refer to the elect and the dam­ ned (or lost, or reprobate), but neither of them elaborates the doctrine of predestination, or relates it to other doctrines“. 302  S.u. 5.2. 303  S.o. 4.3.4.2. 304  Vgl. Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 155,22–172,5.

236 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) mahl.305 Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Tyndale im sich verschärfenden Abendmahlsstreit mit den Wittenbergern Stellung beziehen wollte. Tyndales in „Obedience“ zum Ausdruck gebrachte Amtsauffassung wird in den Pentateuchvorreden erneut scharf von der römischen Position unterschie­ den. Insbesondere im Prolog zu Numeri grenzt er sie klar von der auf Selbst­ rechtfertigung ausgerichteten Haltung des papstkirchlichen Klerus ab.306 Seine Kritik richtet sich speziell gegen die Gelübde als verdienstliche Werke. Damit bewegt er sich auf der Basis des breiten reformatorischen Konsenses.307 4.5.5  Zur These W.A. Clebschs von Tyndales „Rediscovery of the Law“308 Zum Abschluss dieses Kapitels und als Bündelung des vorher Gesagten ist auf die einflussreiche These Clebschs einzugehen, nach der Tyndale in sei­ nen Schriften der Jahre 1530–1532 eine entscheidende Weichenstellung vollzog, die ihn von Luther entfernte, nämlich eine „Wiederentdeckung des Ge­set­zes“.309 Tyndales Verständnis des Gesetzes veränderte sich – so Clebsch – vor allem durch die Beschäftigung mit der Übersetzung des Al­ ten Testaments, bei der Tyndale auf die moralischen Maßstäbe eines stren­ gen Gottes traf, der Freude an der Erfüllung seiner Gebote hat.310 Von da­ her vollziehe Tyndale eine theologische Neubestimmung der Rolle des Ge­ setzes als zweiter Größe neben dem Evan­ge­lium. Zwar bleibe für ihn die Rechtfertigung aus dem Glauben von zentraler Bedeutung als Vorausset­ zung der Gottesbeziehung. An die Stelle der Nächstenliebe als dankbare Antwort auf Gottes rechtfertigendes Handeln trete jedoch die Befolgung des moralischen Gesetzes. Das Gesetz sei damit nicht länger das opus alie­ num, sondern werde – neben dem Evan­ge­lium – Teil des opus proprium.311 Clebsch spricht von einer „elliptischen Form“312 der Theologie Tyndales 305  306  307  308  309 

S.o. 4.3.4.2. S.o. 3.4.3.2 und 4.3.5.1. Vgl. z.B. Melanchthon, Loci Communes (1521), Pöhlmann, S. 125–131. Clebsch, S. 154. Vgl. Leininger, S. 62, der auf Clebsch verweist: „It has become standard to divide those writings of Tyndale which reflect most clearly his soteriology into three periods: I. his early career, 1525–29; II. his mid-career, 1530–32; and II. his mature theology, 1533–36“. Clebsch ist noch immer die maßgebliche Referenzgröße für die Beurteilung der Theologie Tyndales. Ihm folgen m.E. vor allem deutsche Autoren, z.B. Ohst, Tyn­ dale, S. 143, Anm. 17; Dingel, S. 214 f.217. Deutliche Kritik an Clebsch üben dagegen Trueman; Legacy, S. 101–108, besonders 107 und Collinson, S. 85–89. 310  Vorgenommen wird diese neue Weichenstellung Clebsch zufolge (vgl. Clebsch, S. 155–168) auch in „Prelates“, „Answer“ sowie in der Vorrede zum 1. Johannesbrief ­(„Exposition John“, s.u. 6.3) und in der Überarbeitung der Vorrede zum „Cologne Frag­ ment“ von 1525 („Pathway“, s.u. 6.2). Nirgendwo aber findet Clebsch die neue Fokussie­ rung so deutlich wie in der Vorrede zum Jonabuch. 311  Vgl. a.a.O., S. 154 f. 312  Vgl. a.a.O., S. 154: „The shape of his theology became elliptical“.

4.5  Theologische Einordnung

237

oder auch von einer „bifocal theology“313. Diese Verhältnisbestimmung markiert für ihn Tyndales Abkehr von Luther.314 Clebsch hat in seiner Deutung richtig erkannt, dass sich Tyndales Auffas­ sung von der Rolle des Gesetzes und sein Verständnis der Rechtfertigung mit dem starken Akzent auf der Heiligung von der Luthers unterscheidet. In seiner starren Schematisierung von Tyndales Schaffen übersieht er jedoch, dass diese von Luther abweichende Akzentsetzung von Anfang an bestimmend war.315 Die pauschale Behauptung, „Law dominated his thinking“316, ist eine Verkür­ zung, da sie nicht wahrnimmt, dass das Gesetz als „law of love“ schon von jeher eine feste Rolle in Tyndales Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung spielte. Das Gesetz ist jedoch kein zweiter Schlüssel zur Schrift – unmissver­ ständlich macht Tyndale wiederholt klar, dass der Glaube rechtfertigt, nicht die Werke des Gesetzes –, sondern dient den Glaubenden als Richtschnur zum Le­ ben und Mittel zum Kampf gegen die Sünde des Fleisches.317 Die guten Werke wiederum haben ihre Funktion in der Vergewisserung der Glaubenden. True­ man ist in seinem Widerspruch zu Clebsch darum uneingeschränkt Recht zu geben: „However, a close examination of Tyndale’s thinking on this subject re­ veals that, while there is greater emphasis upon works in this period, his posi­ tion is still fundamentally consistent with that of his earlier writings“318. 313  314 

A.a.O. S. 155. Vgl. ebd.: „Thus Tyndale introduced into his theology a second theological use of law, and thereby renounced his discipleship to Luther“. 315  Vgl. die scharfe Kritik Collinsons an Clebsch: „There is much that is wrong with this analysis. Briefly stated, Tyndale’s account of the relation of faith to works (the essence of the problem) fails to develop and alter in the schematic fashion proposed. From first to last, Tyndale insists that works, and love, love of God and neighbour, are the necessary, inevitable fruits of true faith, as unstoppable in the justified man as the necessity of mak­ ing water. It is not the other way round. Sometimes, one is tempted to say, perversely, Tyndale does put it the other way round, reversing the apparent ordo salutis. We must resist the temptation to say that what led him to do so was a mischievous desire to confuse the authors of doctoral dissertations in the twentieth century“ (Collinson, S. 88, Kursivie­ rung im Original). 316  Clebsch, S. 155. 317  Für Tyndale gilt, was Müller mit Bezug auf Bucers Haltung zum Gesetz festge­ stellt hat: „grundsätzlich betrachtet, stehen die Christen nicht mehr unter der Zuchtrute des Gesetzes, sondern der Heilige Geist lehrt sie, ihre Entscheidungen im Sinne Gottes in aller Freiheit fassen. Es handelt sich also bei Bucers Hochschätzung des biblischen Ge­ setzes um eine im freien Entschluss letztlich auf Nützlichkeitserwägungen übernom­ mene Bindung an Gottes Gebot, der jede gesetzlich-kasuistische Enge fehlt“ (Müller, S. 153 f). 318  Trueman, Legacy, S. 101. Aus diesem Grund kann Tyndale auch, was Clebsch übersieht, an Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evan­ge­lium festhalten (s.o. 4.5.1); vgl. Collinson, S. 88: „This was not legalism or even ‚moralism’, nor is the covenant in Tyndale’s scheme of things equivalent to a bilateral contract or bargain. Nor were Tyndale’s formulations so antithetical to Luther‘s understanding of Law and Gospel, Faith and Works, as has been made out. If Tyndale diverged from Luther’s initially stark and vivid paradoxes, so did most Lutherans, and it would take many decades of theological

238 Kapitel 4:  Die ganze Bibel für England – Beschäftigung mit dem Alten Testament (1530) Vor allem aber verkennt Clebsch, dass Tyndales Soteriologie wesentlich geprägt ist von seiner Pneumatologie: Gottes Geist verwandelt den Menschen und bewirkt so in ihm die freudige Zustimmung zum Gesetz. Nicht der Mensch ist also Subjekt des Geschehens, wie Clebsch behauptet,319 es ist Got­ tes Geist, der dem Menschen die Erfüllung des (geistlichen) Gesetzes ermög­ licht. In Tyndales Worten: „Woran du erkennst, welch hervorragendes Gottesgeschenk wahrer Glaube ist und unmöglich zu besitzen ohne den Geist Gottes“320. Anders als Clebsch hat Tyndale selbst darum in seiner Position offensicht­ lich auch keinen Gegensatz zu Luther erkannt, dessen Schriften er weiterhin in seine eigenen Werke integrierte und den er gegen Angriffe, etwa von Fis­ her und More, verteidigte. Luther ist für ihn offensichtlich unbestritten eine Autorität. Aus der Tatsache, dass Tyndale die Heiligung des gerechtfertigten Glaubenden mithilfe des Gesetzes herausstellt, lässt sich der Vorwurf des „Le­ galismus“ m.E. nicht begründen. Clebsch müsste sein Urteil zumindest auch auf Bucer und sogar auf Melanchthon ausweiten.321

infighting to establish a modicum of constrained consensus on these doctrines among what Shakespeare (in the play Henry VIII) called ‚spleeny Lutherans‘“. 319  Vgl. Clebsch, S. 159: „It is not difficult to see how Tyndale might, with one step forward from this position, make God’s fulfillment of his promises contingent upon man’s fulfillment of the law“. 320  Prologue Exodus, PS 1, S. 413: „Whereof thou seest, what an excellent gift of God true faith is, and impossible to be had without the Spirit of God“. Auch in der von Clebsch zum Beweis seiner These besonders hervorgehobenen Jonavorrede ist (s.o. 4.4) eine Be­ zugnahme auf Luther anzunehmen. 321  Vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 61: „Alsdann, so wir wore kinder wor­ den seind, můsß unser hoechster fleiß sein, disem unserm aller liebsten und guetigisten vatter zů wilfaren und in allen dingen seinem gesatz noch leben“; vgl. Melanchthon, Loci Communes (1521), Pöhlmann, S. 320: „Lex peccatum ostendit ac conscientiam pave­ facit. Evangelio peccatum condonatur et exhibetur spiritus, qui ad faciendam legem cor inflammet“.

239

Kapitel 5

Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531) 5.1  Biographische Hinführung 5.1.1  „A Call to England“ 1 Die Übersetzung und Einleitung des Pentateuch sowie die Reise nach Ham­ burg und zurück haben Tyndales Schaffenskraft offenbar nicht beeinträch­ tigt. Noch im Winter 1530 veröffentlichte er seine Schrift „The Practice of Prelates“2, der er den bezeichnenden Untertitel gab: „Ob seine königliche Gnaden von seiner Königin geschieden werden darf, weil sie die Ehefrau sei­ nes Bruders war“ („Whether the king’s grace may be separated from hys queen, because she was his brother’s wife“). Bei de Keyser in Antwerpen gedruckt,3 bildete das Werk den Auftakt zu einer dramatischen Phase im Le­ ben Tyndales, die mit dem Erscheinen seiner Schrift gegen Sir Thomas More, „An Answer vnto Sir Thomas Mores Dialoge“ 4, im Juli 1531 endete.5 1  2  3 

ben.

4  5 

Mozley, S. 187. Prelates, PS 2, S. 237–344. Im Titel wird wiederum „Marborch“ (Prelates, PS 2, S. 237) als Druckort angege­

Answer, IW 3. Tyndale hat wahrscheinlich an beiden Schriften zeitgleich gearbeitet, denn sein Skript war bereits im Januar 1531 fertig und spielte eine wichtige Rolle in den Bemühun­ gen Stephen Vaughans um Tyndale; vgl. Mozley, S. 187 ff.218. Bei „Answer“ ist Tynda­ les Verfasserschaft angezweifelt worden; jedoch, wie die Herausgeber der kritischen Edi­ tion überzeugend darlegen, grundlos. Schon George Joye hatte 1535 behauptet, „Answer“ stamme nicht von Tyndale, sondern von Frith. Clebsch, S. 94–98, ist ihm darin (teil­ weise) gefolgt (vgl. dagegen Trueman, Legacy, S. 15, Anm. 21). Gegen Tyndale als Autor wird angeführt, dass in „Answer“ von ihm auch in der 3. Person die Rede ist. Dies ist bei Tyndale ansonsten nie der Fall. Der Umstand spricht jedoch nicht zwingend gegen seine Verfasserschaft (vgl. Answer, IW 3, S. xxvff), denn in „Answer“ wird stets nur dort für Tyndale die 3. Person verwendet, wo auf Mores Angriffe Bezug genommen wird (vgl. z.B. Answer, IW 3, S. 118,32–119,4: „M. More. Christ is not dishonoured because that they which here preach him truly / shall sitte and iudge with him. Tindale. That to be true the scripture testifieth / but what is that to youre purpose that they which be deed can heare vs and helpe vs?“). Außerdem gibt sich der Autor der „Answer“ selbst als Verfasser von „Obedience“ und als Übersetzer des „Worms New Testament“ zu erkennen (vgl. Answer, IW 3, S. 119,12 f). Das Argument Clebschs, die Bibelzitate in „Answer“ entsprä­ chen nicht der Übersetzung Tyndales, verfängt ebenfalls nicht, da dieser auch an anderer

240

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Zwischen die Veröffentlichung beider Schriften fällt die Phase in Tyndales Leben, die Mozley treffend mit „A Call to England“ überschrieben hat.6 Der „Ruf nach England“, der Tyndale von Cromwells Agenten Stephen Vaughan übermittelt wird, ist mehr als nur eine beiläufige Episode. Aus den Briefen Vaughans gewinnen wir einen seltenen Einblick in die Persönlichkeit und die theologisch-kirchenpolitische Haltung Tyndales. Hätte die Begegnung Vaug­ hans mit Tyndale ein anderes Ergebnis gezeitigt – die Geschichte der Refor­ mation in England wäre möglicherweise anders verlaufen. Was also geschah in der ersten Hälfte des Jahres 1531? Mit dem Aufstieg Thomas Cromwells zur zentralen Figur des englischen Regierungsapparats und der Abkehr des Königs vom Versuch, seine Eheangelegenheiten mithilfe des Papstes zu klären, ergaben sich neue Optionen für den Umgang mit dem reformatorischen Lager.7 Zwar waren die Schergen des Lordkanzlers More weiterhin auf der Suche nach Häretikern, doch Cromwell verfolgte eine an­ dere Strategie.8 Seine Bemühungen richteten sich darauf, die prominentesten Vertreter der „new sect“ zur Rückkehr nach England und zur Mitarbeit an Reformen zu bewegen.9 In dem Kaufmann Stephen Vaughan, dem offiziellen Vertreter des eng­ lischen Königs in den Niederlanden,10 hatte Cromwell einen Mittelsmann, welcher der Reformation selbst aufgeschlossen gegenüberstand.11 Sein Auf­ trag bestand darin, Tyndale als deren wichtigsten englischen Vertreter zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen. Vaughan selbst beschreibt seine Mis­ sion und Vorgehensweise in einem Brief an den König vom 26. Januar 1531 folgendermaßen: „Kürzlich schrieb ich drei verschiedene Briefe an William Tyndale und verschickte sie sicherheitshalber an drei unterschiedliche Orte, nach Frankfurt, Hamburg und Mar­ burg, da ich nicht sicher war, an welchem dieser drei er sich aufhielt. Denn ich hatte in England sagen hören, dass er auf das Versprechen Eurer Majestät hin und mit Eurem

Stelle (etwa in seiner Auslegung des 1 Joh) den biblischen Text abweichend von seiner ei­ genen Übertragung übersetzt. N.T Wright hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Stil und inhaltliche Struktur der „Answer“ deutlich für Tyndale und gegen Frith als Ver­ fasser sprechen. (N.T. Wright, S. 10 f). Joyes Behauptung zielte daher wohl vor allem da­ rauf ab, Tyndale als reformatorischen Schriftsteller zu diskreditieren. 6  Vgl. Mozley, S. 187–211; Daniell, Biography, S. 208–217. 7  S.o. 4.1.3. 8  Vgl. Daniell, Biography, S. 208 ff. 9  Dieser Kurs des neuen Kronratsmitglieds Cromwell war gewagt, denn Tyndale hatte in „Prelates“ den Zorn des Königs heraufbeschworen (s.u. 5.1.5). 10  Zu Vaughan (gest. 1549), der sich selbst 1529 wegen des Verdachts reformatorischer Umtriebe vor dem Londoner Bischof Stokesley und später auch vor Lordkanzler More verantworten musste, vgl. Sutton, S. 389 f und vor allem W.C. Richardson. 11  Vgl. Mozley, S. 187; Daniell, Biography, S. 210 f.

5.1  Biographische Hinführung

241

gnädig bewilligten sicheren Geleit bereit sei, heimzukommen und nach England zurückzukehren“12.

Neben Vaughans Schwierigkeiten, den Aufenthaltsort Tyndales ausfindig zu machen, wird in diesem Ausschnitt ebenfalls deutlich, dass Tyndale nicht als willkommener Reformer, wie knapp zwanzig Jahre später Martin Bucer,13 in England zurückerwartet wurde, sondern als reuiger Sünder.14 Zugleich lässt sich aus der Zusicherung freien Geleits jedoch erkennen, dass um diesen Sün­ der viel Aufwand getrieben und er folglich als außergewöhnlich einflussreich eingeschätzt wurde. Mozley bringt das Anliegen Cromwells bezüglich Tyn­ dale auf den Punkt: „It was felt that he was a man worth winning over“15. Tyndale reagierte jedoch mit großer Vorsicht auf die Avancen Vaughans, antwortete nur schriftlich und ließ sich nicht auf ein Treffen ein, hinter dem er eine Falle vermutete.16 Zu schwer wogen für ihn wahrscheinlich die Nach­ richten von den Verfolgungen in England.17 Ein zweiter Brief Vaughans an Cromwell vom 25. März 1531 dokumentiert sein andauerndes Bemühen um einen direkten Kontakt mit Tyndale.18 Diesmal schreibt er aus Antwerpen und scheint dort Verbindung mit anderen englischen Flüchtlingen aufgenom­ men zu haben, die ihm Näheres über Tyndale mitteilen konnten.19 Außerdem hat er einen Teil der „Answer“ in Manuskriptform in seinen Besitz bringen können, den er seinem Schreiben beifügt.20 Offensichtlich war man in Eng­

12  Zitiert bei Mozley, S. 187: „Of late I have written three sundry letters unto Wil­ liam Tyndale, and the same sent for the more surety to thress sundry places, to Frank­ forde, Hanboroughe and Marleborughe, I then not assured in which of the same he was.‘ As I had ‚heard say in England, that he would upon the promise of your majesty and of your most gracious safe conduct, be content to repair and to come into England’“. 13  Vgl. D.F. Wright, S. 523 ff. 14  Vgl. Mozley, S. 188: „From this letter it is evident that in Henry’s eyes Tyndale was an offender, who stood in need of pardon“. 15  Ebd. Auch Robert Barnes wurde ein Jahr später eine Rückkehr unter freiem Geleit angeboten. Er nahm, anders als Tyndale, das Angebot an; vgl. Lusardi, S. 1390 ff. 16  Vier Jahre später sollte ihm die Leichtfertigkeit, mit der er der Einladung eines ver­ meintlichen Freundes folgte, zum Verhängnis werden, s.u. 7.8.1. 17  Vaughan konnte, wie der an seinen Auftraggeber Cromwell gerichtete Begleitbrief zum Schreiben vom 26. Januar zeigt, Tyndales Zurückhaltung nachvollziehen und stellte ihm darum ein Zeugnis seiner persönlichen Hochachtung aus: „It is unlikely to get Tyn­ dale into England, when he daily heareth so many things from thence which feareth him. […] The man is of greater knowledge than the king’s highness doth take him for, which well appeareth by his works. Would God he were in England!“ (zitiert bei Mozley, S. 188 f; vgl. auch a.a.O., S. 189 ff). 18  Zitiert bei Mozley, S. 191 f. 19  Mozley, S. 192, hält George Joye für den Informanten. 20  Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den ersten Teil von „Answer“ („Founda­ tional Treatise“), s.u. 5.3.1 ; zur Diskussion vgl. Answer, IW 3, S. xxiiif.

242

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

land an anstehenden Veröffentlichungen Tyndales überaus interessiert, zumal wenn sie sich gegen den Lordkanzler selbst richteten.21 Überraschend berichtet Vaughan in seinem nächsten erhaltenen Brief an den König vom 18. April davon, dass er sich – in Shakespeare’scher Dramatik von einem Mittelsmann an einen konspirativen Ort vor die Tore Antwerpens geleitet – nun doch mit Tyndale getroffen habe. Seine Darstellung dieser Be­ gegnung ist eines der wenigen authentischen Zeugnisse, die von einem direk­ ten Kontakt mit Tyndale berichten und ihn in Auftreten und Habitus konkret vor Augen treten lassen. Vaughans Darstellung sei darum hier ausführlicher zitiert: „‚Erkennt Ihr mich nicht?‘ fragte besagter Tyndale. ‚Ich erinnere mich nicht genau,‘ antwortete ich ihm. ‚Mein Name‘, sagte er, ‚ist Tyndale.‘ ‚Aber ja, Tyndale!‘‚ rief ich, ‚wie glücklich ist unser Zusammentreffen.‘ Darauf Tyndale: ‚Sir, mich hat sehr danach verlangt, mit Euch zu sprechen.‘ ‚Und mich erst! Was habt Ihr auf dem Herzen?‘ ‚Sir‘, sagte er, ‚ich bin unterrichtet worden, das seine königliche Gnaden großes Missfallen an mir findet, weil ich diverse Bücher herausgebracht habe, die ich kürzlich in diesen Landen geschrieben habe, insbesondere das Buch mit dem Titel The Practice of Prelates, was mich nicht wenig verwundert, wenn man bedenkt, dass ich darin nichts anderes tue, als seine Gnaden vor den Intrigen der Kleriker seines Reiches gegen seine Person zu warnen und vor ihren schändlichen Missbräuchen, die nicht unwesentlich den Un­ mut seiner Gnaden heraufbeschwören und das Wohl des Reiches bedrohen.‘“ 22.

Vaughan mag Tyndales Rede mit Blick auf den Adressaten seines Briefes et­ was „farbiger“ gestaltet haben, als er sie selbst gehört hat.23 Inhaltlich jedoch spiegelt sie im Wesentlichen Tyndales in „Prelates“ formulierte Auffassung, das der König in seiner Scheidungsangelegenheit von Klerikern beraten wird, die ihm und dem Land schaden wollen. Ein „besser zu informierender“ Mo­

21  22 

Vgl. Daniell; Biography, S. 212. Zitiert bei Mozley, S. 193 f: „‚Do you not know me?‘ said this Tyndale. ‚I do not well remember you,‘ said I to him. ‚My name,‘ said he, ‚is Tyndale.‘ ‚But Tyndale!‘ said I, ‚fortunate be our meeting.‘ Then Tyndale, ‚Sir, I have been exceeding desirous to speak with you.‘ ‚And I with you; what is your mind?‘ ‚Sir,‘ said he, ‚I am informed that the king’s grace taketh great displeasure with me for putting forth of certain books, which I lately made in these parts; but specially for the book named The Practice of Pre­ lates; whereof I have no little marvel, considering that in it I did but warn his grace of the subtle de­meanour of the clergy of his realm towards his person, and of the shameful ab­ usions by them practised, not a little threatening the displeasure of his grace and weal of the realm“. 23  Angesichts der damals weit ausgeprägteren Fähigkeit zur Memorierung und Wie­ dergabe mündlicher Botschaften, ist es jedoch wahrscheinlich, dass Vaughan Tyndales Rede im Wesentlichen adäquat wiedergegeben hat. Er selbst schreibt dazu: „This is the substance of his conversation had with me, which, as he spake, I have written to your grace word for word, as near as I could by any possible means bring to remembrance“ (zi­ tiert bei Mozley, S. 195); vgl. Daniell, Biography, S. 215.

5.1  Biographische Hinführung

243

narch könnte, so Tyndales Hoffnung, die Fesseln klerikaler Einflussnahme durchschlagen.24 Damit verkannte Tyndale freilich die realen Zusammenhänge hinter der Scheidungsproblematik und die tatsächliche Rolle des Königs darin.25 An­ rührend tragisch wirkt sein Appell an den König, in dem er das eigene Schick­ sal in die Waagschale wirft, um seine Loyalität zum Monarchen herauszustel­ len und ihn – in einer Wortwahl zwischen Verzweiflung und Trotz – um das Zugeständnis einer Bibel in der Volkssprache bittet. Vaughans Bitte, nach England zurückzukehren, weist Tyndale bei diesem Treffen zwar unter Hin­ weis auf die Gefahr, der er dort ausgesetzt wäre, von sich. Zugleich will er jedoch – womöglich durch Vaughan ermutigt – darauf verzichten, seine „Answer“ in den Druck zu geben, bis der König selbst sie gelesen hat: „Um meiner damit verbundenen Schmerzen, um meiner Armut, meines Exil fern meiner natürlichen Umgebung und in bitterer Trennung von meinen Freunden wil­ len, um meines Hungers, meines Dursts, der Kälte und der große Gefahr willen, von der ich hier umgeben bin und schließlich um der zahllosen harten und scharfen Kämpfe willen, die ich ertrage, wenn ich auch noch nicht ihre Härte spüre, so hatte ich doch die begründete Hoffnung, mit meinen Mühen Gott die Ehre zu erweisen, meinem Fürs­ ten wahrhaftig zu dienen und seine Untertanen zu erfreuen […] Nochmals, wenn seine Gnaden, der ja ein christlicher Fürst sein will, so lieblos ist gegenüber Gott, der befohlen hat, sein Wort zu verbreiten in aller Welt und er den bösen Verführungen der Menschen mehr Glauben schenkt, die sich anmaßen über Gottes Weisheit zu stehen und gegen das, was Christus ausdrücklich in seinem Testament befohlen hat, behaup­ ten, es sei wegen der Reinheit desselben nicht rechtens, dass die Menschen es in einer Sprache besitzen, die sie verstehen – soll man den Menschen da nicht die Augen öffnen angesichts solcher Bosheit?“26

24  25 

S.u. 5.2.7.2. Wenn Boehrer, S. 259, meint, Tyndale sei im Bilde über den Charakter und die Absichten des Königs gewesen, nimmt er Vaughans Bericht nicht zur Kenntnis; zu Tyn­ dales Fehleinschätzung der politischen Lage in „Prelates“ vgl. auch Wyly, S. 261 f; s.u. 5.2.7.2. 26  Zitiert bei Mozley, S. 194: „If for my pains therein taken, if for my poverty, if for mine exile out of my natural country, and bitter absence from my friends, if for my hun­ ger, my thirst, my cold, the great danger wherewith I am everywhere encompassed, and finally if for innumerable other hard and sharp fightings which I endure, not yet feeling their asperity by reason I hoped with my labours to do honour to God, true service to my prince, and pleasure to his commons […] Again, may his grace, being a Christian prince, be so unkind to God, which hath commanded his word to be spread throughout the world, to give more faith to the wicked persuasions of men, which, presuming above God’s wisdom, and contrary to that which Christ expressly commandeth in his testa­ ment, dare say that it is not lawful for the people to have the same in a tongue that they understand, because the purity thereof should open men’s eyes to see their wickedness?“ Das hier zum Ausdruck kommende Leiden unter der unsteten Situation des Exils meint Rudolph Almasy auch in Tyndales Sprache indirekt wiederfinden zu können: „not a lan­ guage of movement, of wayfaring, of ascent, but rather the language of transformation

244

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Im Anschluss an seinen Bericht vom Zusammentreffen mit Tyndale setzt Vaughan an,27 dem König seine positive Beurteilung seines Gesprächspart­ ners mitzuteilen – der Brief bricht jedoch abrupt ab. Der Überlieferung zu­ folge hat Heinrich das Schreiben im Zorn zerrissen.28 In jedem Fall fand Vaughans Bericht keine gnädige Aufnahme in England, wie ein Brief Crom­ wells zeigt, der den Kaufmann am 18. Mai in Bergen erreichte. Darin macht der Vorgesetzte seinem Agenten unmissverständlich klar, dass der König zwar Vaughans Einsatz zu schätzen wisse, jedoch über dessen Parteinahme für Tyndale „not amused“ sei.29 Jeden weiteren Versuch, Tyndale zur Rück­ kehr nach England zu bewegen, untersagt Heinrich mit folgender Begrün­ dung: „Denn Seine Hoheit hat weise ermessen, dass er [d.i. Tyndale], wenn er [in England] anwesend wäre, mit aller Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit (was Gott verhüten möge) sein Möglichstes täte, um das ganze Reich anzustecken und zu verderben“30.

Cromwell gibt Vaughan angesichts dieser eindeutig negativen Reaktion des Königs den Rat, sich schnellstmöglich als dessen loyaler Diener zu zeigen und seine Sympathien für Tyndale fortan zu verbergen. In einem nur für Vaughan gedachten Zusatz zu seinem Brief fordert Cromwell seinen Agenten aber auf, sich insgeheim weiterhin um Tyndale zu bemühen.31 Tatsächlich scheint Vaughan dieser Anweisung gefolgt zu sein, denn am 20. Mai berichtet er dem König von einem weiteren Zusammentreffen mit Tyndale. Dieser war – konfrontiert mit der Reaktion des Königs auf Vaug­ hans letzten Bericht und Cromwells Inaussichtstellung einer möglichen Sin­ nesänderung des Herrschers für den Fall, dass Tyndale reumütig nach Eng­ land zurückkehrt – zu großen persönlichen Opfern bereit, blieb jedoch in der Sache hart: „‚Ich versichere Euch‘, sagte er, ‚wenn es dem König gnädig gefallen könnte, auch nur den reinen Text der Schrift unter seinem Volk zu verbreiten, so wie er in diesen Landen unter den Untertanen des Kaisers verbreitet wird und von anderen christ­ lichen Fürsten, und sei es in der Übersetzung jedweder Person, die seiner Majestät and proximity and of a permanent anchoring in God, close to home“ (Almasy, Menede­ mus, S. 129). 27  „To declare to your majesty what, in my poor judgment, I think of the man, I ascer­ tain [assure] your grace, I have not communed with a man“ (zitiert bei Mozley, S. 195). 28  Vgl. ebd. 29  „he thought that ye bare much affection towards the said Tyndale […] whose works, being replete with so abominable slanders and lies, inmagined only and feigned to infect the people“ (zitiert a.a.O., S. 196). 30  Zitiert ebd.: „For his highness right prudently considereth, if he were present, by all likelihood he would shortly (which God defend) do as much as in him were to infect and corrupt the whole realm“. 31  Mit dem Segen des Königs sollte sich Vaughan außerdem um eine Rückkehr Friths bemühen, vgl. a.a.O., S. 197 f.

5.1  Biographische Hinführung

245

gefällt – ich würde sofort mein hochheiliges Versprechen geben, nicht mehr zu ­schreiben, noch würde ich danach länger als zwei Tage in diesen Landen bleiben, sondern wäre unverzüglich bereit heimzukommen in sein Reich und mich dort de­ mütigst seiner Majestät zu Füßen zu werfen und meinen Körper jedem Schmerz oder jeder Folter, ja, jedem Tod auszuliefern, den seine Gnade wünscht. Und bis da­ hin, will ich die Härten jedweden Schicksals, das mir blühen mag, aushalten und mein Leben zubringen in so vielen Schmerzen, wie ich zu ertragen und erleiden im­ stande bin‘“32.

Erstaunlich ist die Bestimmtheit, mit der Tyndale hier sein persönliches Wohlergehen in den Dienst der Sache des Wortes Gottes stellt. Was er theore­ tisch in „Obedience“ zur Rolle des Königs als Stellvertreter Gottes im welt­ lichen Regiment erörtert hat,33 bezieht er hier auch auf seine eigene Person: Dem Urteil des Königs – sei es gnädig oder strafend – will er sich ausliefern, wenn dieser nur die Übersetzung der Schrift in seinem Reich zulässt. Nicht einmal um seine eigene Übersetzungsarbeit – immerhin das Werk seiner letz­ ten zehn Lebensjahre – geht es Tyndale; allein der uneingeschränkte Zugang zum Wort Gottes („the translation of what person soever“) für alle Christen­ menschen ist ihm wichtig.34 Da er sich aber primär als Diener eben dieses Wortes versteht, kann er nicht anders, als auch gegen den Willen des Königs darauf zu bestehen, steht doch auch dieser nach seiner Auffassung unter dem Wort Gottes. Wenn Tyndale darum dem König in Aussicht stellt, sich ihm zu unterwerfen, so ist auch hier die Schrift sein Maßstab: „Was auch immer ich in meinem Leben gesagt und geschrieben habe, das gegen die Ehre des Wortes Gottes war, werde ich, wenn es mir bewiesen wird, vor seine Majestät und der ganzen Welt restlos widerrufen und aufgeben […] Wenn aber die Dinge, die ich schrieb, wahr sind und in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes, warum sollte dann seine Majestät, der eine so exzellente Kenntnis der Schriften hat, mich dazu be­ wegen wollen, etwas zu tun, das gegen mein Gewissen ist?“35 32  Zitiert a.a.O., S. 198: „I assure you,‘ said he, ‚if it would stand with the king’s most gracious pleasure to grant only a bare text of the scripture to be put forth among his ­people, like as is put forth among the subjects of the emporer in these parts, and of other Christian princes, be it of the translation of what person soever shall please his majesty, I shall immediately make faithful promise never to write more, nor abide two days in these parts after the same; but immediately to repair into his realm, and there most humbly sub­ mit myself at the feet of his royal majesty, offering my body to suffer what pain or torture, yea, what death his grace will, so this be obtained. And till that time, I will abide the as­ perity of all chances, whatsoever shall come, and endure my life in as many pains as it is able to bear and suffer“. Möglicherweise bezieht sich Tyndale hier auf die NT-Übertra­ gung Hieronymus Emsers, vgl. Beutel, Bibelübersetzungen, Sp. 1500; Zschoch, Emser, Sp. 1271. 33  S.o. 3.3.5.1, 3.3.5.2 und 3.4.3.1. 34  Vgl. Greenblatt, S. 105 f. 35  Zitiert bei Mozley, S. 198 f: „whatsoever I have said and written in all my life against the honour of God’s word, and so proved, the same shall I before his majesty and all the worlds utterly renounce and forsake […] But if those things which I have written

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

In der Berufung auf Schrift und Gewissen klingt ein wenig Luthers Rede vor dem Wormser Reichstag 1521 an. Tyndales Zeugnis für seinen Glauben mag darum auch in eine Reihe mit dem des Wittenberger Augustinermönchs ge­ stellt werden. Doch diese Haltung Tyndales machte es für Vaughan schwer, ihn nach ei­ nem weiteren, letzten Treffen zur Rückkehr zu bewegen. Tyndale blieb im Exil, und die Reformation in England musste auf seine Mitwirkung – etwa als Günstling Cromwells und Übersetzer und Herausgeber einer ersten kö­ niglich sanktionierten englischen Bibel – verzichten. Im Juli des Jahres 1531 hielt Tyndale die Veröffentlichung seiner Reaktion auf Mores Angriffe nicht mehr zurück und veröffentlichte bei de Keyser in Antwerpen seine „Answer vnto Sir Thomas More’s Dialogue“.36 Damit war der Faden nach England, den Vaughan mit viel Mühen gespannt hatte, endgültig zerrissen. 5.1.2  Zur Scheidungsproblematik Heinrichs VIII. Um Tyndales Situation zur Zeit der Abfassung von „Prelates“ und „Answer“ verstehen zu können, ist es notwendig, sich die alles bestimmende Problema­ tik der Scheidung Heinrichs VIII. deutlicher vor Augen zu führen.37 Die Er­ eignisse rund um die Trennung des Königs von seiner ersten Frau, Katharina von Aragon und seine zweite Ehe mit Anne Boleyn, die zur Bildung einer englischen Nationalkirche mit dem König als Oberhaupt und damit verbun­ den zu tiefgreifenden verfassungsrechtlichen Reformen geführt haben, sind von Generationen britischer Historiker und Theologen bedacht und bewertet worden.38 Für den Kontext Tyndales, der selbst an den Vorgängen in England nicht aktiv beteiligt war und die Ausbildung der „Church of England“ nur be true, and stand with God’s word, why should his majesty, having so excellent gift of knowledge in the scriptures, move me to do anything against my conscience?“ 36  Vgl. Mozley, S. 200 f; Daniell, Biography, S. 217. 37  Der Begriff „Scheidung“ („divorce“) hat sich in diesem Zusammenhang in der Lite­ ratur eingebürgert, ist aber eigentlich nicht ganz korrekt, denn es ging dem König streng genommen um die die Annullierung seiner Ehe mit Katharina (wobei ihm wohl jede Form der kirchlich legitimierten Trennung recht gewesen wäre). Im Englischen lassen sich diese terminologischen Schwierigkeiten umgehen, indem, was in der Literatur häufig geschieht, schlicht von der „großen Sache des Königs“ („the king’s great matter“) gespro­ chen wird. Zu den Vorgängen insgesamt vgl. das Kapitel bei Brigden, S. 208–215, unter dieser Überschrift. 38  Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist das von dem deutschstämmigen britischen Historiker Sir Geoffrey Elton (1921–1994) stammende Werk „The Tudor Constitution“ (Cambridge, 1960), in dem Elton besonders die Rolle Thomas Cromwells herausstellt. In jüngster Zeit ist die Auseinandersetzung über die Rolle des Königs bei der religiösen Um­ gestaltung neu entbrannt, v.a. durch die Monographie von Bernard, der in Heinrich selbst den maßgeblichen Protagonisten der religionspolitischen Neuorientierung sieht. Zur dieser Diskussion und zum aktuellen Stand der Forschung (2007) vgl. Houlbrooke, besonders S. 97–100.

5.1  Biographische Hinführung

247

noch in den Anfängen erlebte, sind diese historischen Entwicklungen nur be­ dingt relevant. Von Interesse sind mit Blick auf „Prelates“ allerdings die kon­ kreten Ereignisse der Jahre 1530 und 1531 und vor allem die theologische Auseinandersetzung um die Scheidung des Königs. Spätestens seit dem Scheitern der Bemühungen um eine Annullierung der sohnlosen Ehe mit Katharina und dem daraus folgenden Sturz Kardinal Wolseys,39 waren der König und sein „key ‚business manager’“40 Cromwell auf der Suche nach neuen Strategien, um die Neuvermählung Heinrichs mit Anne Boleyn zu ermöglichen.41 So wurden (möglicherweise auf Rat Thomas Cranmers, damals noch ein unbekannter junger Theologe aus Cambridge) verschiedene europäische Universitäten um theologische Gutachten gebeten, die jedoch nicht eindeutig ausfielen.42 Auch die Anrufung eines allgemeinen Konzils wurde erwogen. Als vielversprechender erwies sich jedoch der Weg der verfassungsrechtlichen Argumentation. Aus der Umgebung des Königs wurden Auffassungen laut, die auf die „imperial crown“ des englischen Mo­ narchen hinwiesen, ihm also eine Machtvollkommenheit zuschrieben, die ihn außerhalb der päpstlichen Jurisdiktion stellen sollte. Aus diesen erwuchs am Ende das Diktum der „Royal Supremacy“.43 Hinter all diesen Anstrengungen stand letztendlich die große Sorge des Monarchen um den Fortbestand seiner Dynastie und – vor dem Hintergrund der erst von Heinrichs Vater beendeten Rosenkriege – auch die Sorge um das Wohl des Landes.44 Beides war für den König untrennbar miteinander ver­ bunden und ohne einen männlichen Nachkommen, der den Fortbestand des Hauses Tudor sichern konnte, sah er beides in höchster Gefahr.45 Für den König, den MacCulloch treffend beschreibt als einen Mann „with a strong sense of his personal relationship as anointed monarch with God“46, barg die Problematik darüber hinaus auch starken theologischen und existen­ tiellen Sprengstoff.47 Ob bereits vor oder erst nach der Anbahnung des Ver­ 39  40  41  42 

S.o. 4.1.3. Nicholls, S. 30. Vgl. a.a.O., S. 30 ff. Vgl. Rex, English Reformation, S. 6; MacCulloch, Cranmer, S. 45 f; für eine maß­ gebliche Rolle Heinrichs selbst spricht sich Bernard, S. 19, aus. 43  Vgl. Act of Supremacy (1534), in: G. Bray (Hg.), Documents on the English Reformation, Cambridge 1994, S. 113 f. Vgl. dazu auch Rex, English Reformation, S. 6 f. 44  Vgl. Nicholls, S. 23 f. 45  Dass Maria, die Tochter aus der Ehe mit Katharina, als Thronfolgerin nicht in Frage kam, hat – neben zeitgenössischen Vorbehalten zur Rolle von Frauen in der Politik – auch mit der spezifisch englischen Erfahrung der wenig geschätzten Herrschaft Kaiserin Ma­ tildas (1102–1167) zu tun; vgl. Dickens, S. 151; Krieger, S. 99–102. 46  MacCulloch, Cranmer, S. 42. 47  Bernard, S. 3 f, beachtet m.E. die Frömmigkeit Heinrichs zu wenig, wenn er den Entschluss zur Scheidung allein auf den Wunsch nach der Beziehung mit Anne Boleyn zurückführt.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

hältnisses mit Anne Boleyn,48 lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, jedenfalls war Heinrich auf die alttestamentlichen Textstellen Lev 18,16 und 20,21 ge­ stoßen, die – in einer ihm möglicherweise von Robert Wakefield nahege­ brachten Auslegung49 – für den Fall der Ehe mit der Frau des eigenen Bruders den Zorn Gottes in Form des Ausbleibens männlicher Nachfolger androhten. Da Katharina vor der Ehe mit Heinrich bereits für kurze Zeit mit seinem 1502 verstorbenen älteren Bruder Arthur verheiratet gewesen war, konnte der König diese göttliche Strafe auf sich und seine sohnlose Ehe beziehen.50 Die Aussage des 3. Buches Mose wurde ihm aber zugleich zum willkomme­ nen Vehikel, dem Menetekel des Gotteszornes zu entkommen, indem er mit­ hilfe des Textes die Annullierung der Ehe mit Katharina betrieb. Um die Deutung dieses alttestamentlichen Verbots und seines „Gegentextes“, des Ge­ bots der sog. Leviratsehe in Dtn 25,5, das umgekehrt die Ehe mit der Frau des verstorbenen Bruders gebietet und darum von den Anhängern Katharinas ins Feld geführt wurde, kreisten die theologischen Bemühungen am englischen Hof.51 Die Argumentationsgänge beider Seiten, der Gelehrten Heinrichs und der Unterstützer der Königin, zu denen auch John Fisher zählte, waren komplex und bewegten sich vor allem auf der Basis des kanonischen Rechts.52 Im Kern argumentierten Heinrichs Befürworter damit, dass Lev 20,21 als Verbot der Ehe mit Verwandten als „natürliches Recht“ höher zu bewerten sei als Dtn 25,5.53 Die Pointe dieser Beweisführung lag in der Tatsache, dass aufgrund der Dignität des Eheverbots als Naturrecht auch der Papst kein Recht auf Dis­ pensierung einer solchen Verbindung haben sollte. Einen solcher Dispens war anlässlich der Eheschließung Arthurs mit Katharina 1501 von Papst Alexan­ der VI. eingeholt worden. Die damals vorgenommene Verbindung war die­ ser Auffassung zufolge nicht rechtmäßig zustande gekommen, weil das natür­ liche Recht dagegen stand. Für den Umgang mit dem widersprechenden Text Dtn 25,5 machte man sich die Argumentation des Hebraisten Robert Wakefield zu eigen, der aus seiner Deutung des hebräischen [dy (als Ausdruck, der die sexuelle Vereini48  49  50  51  52 

Zu Tyndales Haltung zu Anne Boleyn vgl. Dick, Love, S. 84, Anm. 7. Vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 42; Bernard, S. 17. Vgl. Rex, English Reformation, S. 3; MacCulloch, Cranmer, S. 42. Vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 44 f. Eine Zusammenfassung den jeweiligen Argumentationsgänge beider Seiten findet sich bei Boehrer, S. 257 f. 53  Heinrichs „think-tank“ produzierte zwei Textsammlungen als Argumentations­ hilfen: die Collectanea Satis Copiosa, ein historischer Nachweis der umfassenden könig­ lichen Jurisdiktionsgewalt und die Gravissimae… Academiarum Censurae, die Veröffent­ lichung der positiven Universitätsgutachten zur Scheidungsfrage mit einem ausführ­lichen Traktat zu den einschlägigen Bibel- und Rechtstexten, vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 54 ff.

5.1  Biographische Hinführung

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gung impliziert) schloss, die Leviratsehe sei nur für den Fall geboten, dass der verstorbene Bruder die Ehe mit seiner Frau nicht vollzogen habe.54 Dies sahen die Anhänger Heinrichs im Fall von Katharina und Arthur jedoch nicht ge­ geben.55 In ihrer Argumentation schreckten sie auch nicht davor zurück, über die Intimsphäre der Königin zu urteilen. Katharina beteuerte dagegen zeitlebens, dass sie als Jungfrau in die Ehe mit Heinrich gegangen sei. Ihre Parteigänger, allen voran Bischof Fisher, bestrit­ ten darüber hinaus, dass es sich bei Lev 20,21 um natürliches Recht handelt, mit dem Argument, Gott könne mit dem Gebot der Leviratsehe kein Gebot erlassen haben, das natürliches Recht bräche.56 Darum sahen sie den Papst durchaus und gerade in dem in Dtn 25,5 beschriebenen Fall des Todes eines Bruders, also auch bezogen auf Arthur und Heinrich Tudor, zur Erteilung ­eines Dispenses vom Verbot in Lev 20,21 berechtigt: „The issue was whether to qualify Leviticus in the light of Deuteronomy (Fisher’s position) or Deu­ter­onomy in the light of Leviticus (Wakefield’s position)“57. Im Gegeneinander beider Argumentationsgänge zeichnet sich über die ex­ egetisch-kanonistischen Fragen hinaus schon – den Verlauf der argumentati­ ven und historischen Entwicklungen vorzeichnend – deutlich ab, dass es nur ein kleiner Schritt war, von der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Ehe des englischen Königs zur Frage nach der Jurisdiktionsgewalt des Papstes. 5.1.3  Sir Thomas Mores „Dialogue Concerning Heresies“ (1528) Unter denen, welche die Scheidung des Königs nicht mittragen wollten, fand sich auch der englische Lordkanzler und literarische Gegner Tyndales Sir Thomas More.58 Er kommt in unserem Kontext dort in den Blick, wo sein Lebensweg den Tyndales kreuzte, also vor allem in der großen literarischen Fehde, die More 1528 mit seinem „Dialogue Concerning Heresies“ eröffnete,59 der wiederum Tyndale zu seiner „Answer“ (1531) veranlasste. 54  55 

Vgl. Rex, English Reformation, S. 4. In der Tat führte man Zeugen an, die bestätigen sollten, dass Katharina und Arthur die Ehe tatsächlich vollzogen hatten. Im weiteren Verlauf der Debatte argumentierten die Anhänger Heinrichs, dass die Ehe zwischen Katharina und Arthur, auch wenn sie nie vollzogen wurde, dennoch schon per verba di presenti gültig war, vgl. Bernard, S. 21 f. 56  Vgl. Rex, English Reformation, S. 4. 57  Ebd. 58  Auf das Leben und Wirken dieser – im Beeindruckenden wie im Fragwürdigen – großen Gestalt der englischen Geschichte kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich eingegangen werden. More übt auf Historiker, Theologen und Literatur­ wissenschaftler eine ungebrochene Faszination aus, die sich in einer Unmenge an Litera­ tur widerspiegelt, vgl. dazu insgesamt das Literaturverzeichnis des „Center for Thomas More Studies“: www.thomasmorestudies.org/ library.html 59  Zum Entstehungskontext des „Dialogue“ vgl. Marius, Morus, S. 424 f; Mozley, S. 212–215; Daniell, Biography, S. 262; Marc’hadour, Historical Context, besonders

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Als Gründe für die besondere Faszination,60 die dieses „Aufeinandertref­ fen der Giganten“ in der Forschung bis heute findet, hat Gregory m.E. zu­ treffend zum einen die Wucht benannt, mit der hier die fundamental entge­ gengesetzten Positionen des Reformationszeitalters aufeinanderprallten. Zum anderen verleiht wohl die Tatsache, dass am Ende beide Gegner für ihre Überzeugungen in den Tod gegangen sind, dem Konflikt eine beson­ dere „gravitas“.61 Mit seinem Dialog von 1528 setzte More auf Betreiben Bischof Tunstalls sein anti-reformatorisches literarisches Engagement fort, das er mit seiner Responsio ad Lutherum62 1523 begonnen hatte.63 Der „Dialogue“ ist Mores erstes polemisches Werk in englischer Sprache und zielt damit klar auf ein breites Publikum, dem mithilfe des Buches die (ja ebenfalls in Englisch vor­ liegenden) Schriften Tyndales und anderer als Häresien vor Augen geführt werden sollen.64 Im „Dialogue“ tritt More selbst als „Ich“-Sprecher auf,65 der einen jungen Gesprächspartner (als „messenger“ bezeichnet) über verschiedene Sachver­ halte („dyuers maters“) aufklärt, die insbesondere auch die „pestylent secte of Luther & Tyndale“66 betreffen: „The Dialogue is a model designed to show the orthodox layman or priest how to proceed with a supposedly well-educated youth in the incipient stages of heresy“67. S. 469 f (zur Kenntnisnahme der Werke Tyndales durch More); eine ausführliche Darstel­ lung des „Dialogue“ bietet Holeczek, S. 290–306. 60  Vgl. Mozley, S. 212:„one of the most famous literary battles in history“ und Rupp, More and Tyndale, S. 48: „As a collector of theological dog-fights, and as one who has had a nibble or two in his own right, I rate More’s first Dialogue and Tyndale’s Answer fairly highly“. 61  Vgl. Gregory, S. 174: „it seems to me that the continuing fascination with William Tyndale and Thomas More considered together and at odds with another stems, first, from thew way in which their contrary stances, expressed with passion and power, reveal so many crucial, intra-Christian religious disagreements of the Reformation era con­ sidered as a whole; and second, from the fact that both men were put to death for persist­ ing in their respective views, which lend added gravitas in their disagreement“. Es würde einer eigenen Studie bedürfen, um diese Auseinandersetzung in einer Weise darzustellen, die beiden Protagonisten gerecht wird. Vgl. den Versuch von Campbell, oder auch die Darstellung von Rupp, More and Tyndale. 62  More, Responsio ad Lutherum (1523), CWM 5/1–2. 63  Vgl. Lawler, S. 439; Marc’hadour, Historical Context, S. 457; Mozley, S. 212 f (hier auch der Brief Tunstalls an More); Daniell, Biography, S. 254–261; Marius, Morus, S. 424 f; Holeczek, S. 279–290. 64  Vgl. Daniell, Biography, S. 261 f. 65  Lawler, S. 440, bemerkt zurecht: „the speaker, whom we call ‚More’ is to some extent a dramatic character, not wholly coterminous with More the living human being“. 66  More, Dialogue, CWM 6/1, S. 3 (Titelseite). 67  Lawler, S. 440; vgl. Marius, Morus, S. 426.

5.1  Biographische Hinführung

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In seinen Entgegnungen auf die inhaltlichen Positionen, die der junge „mes­ senger“ vorstellt, nimmt More stets Argumente und Schriftbelege der Refor­ matoren auf und deutet sie entgegengesetzt und in Übereinstimmung mit der bestehenden römischen Auffassung. Dabei hilft ihm die literarische Gattung des Dialogs. Indem More nämlich den fiktiven jugendlichen Gesprächspartner als Vertreter einer (freilich karikierten) protestantischen Position stilisiert, der das Prinzip sola scriptura vertritt, die frommen Praktiken der Papstkirche sowie die klerikalen Missbräuche ablehnt und kritisiert, schafft der Autor sich (bzw. der literarischen Figur More) ein Gegenüber, an dem er vorexerzieren kann, wie belehrungsbedürftig diese Haltung ist. Dadurch dass der junge Mann seine Auffassungen außerdem fast durchgängig nur aus dem bezieht, was er von anderen gehört hat, kann More als derjenige auftreten, der Fehlinforma­ tionen aufdeckt und das falsche Bild der Kirche, das die Reformatoren be­ wusst und mit bösen Absichten verbreiten, zurechtrückt.68 Mores Biograph Marius bilanziert diese Darstellungsweise wie folgt: „Letztendlich haben wir hier keinen Dialog, sondern eine Schmähschrift vor uns“69. In den insgesamt vier Büchern bespricht More mit seinem fiktiven Dialog­ partner ein breites Spektrum an religiösen Themen, die in den Kapitelüber­ schriften als Anfragen des „messenger“ eingebracht werden. Dabei legt More jedoch keine strenge thematische Gliederung zugrunde, sondern gibt nur durch Marginalien thematische Hinweise.70 Die ersten beiden Bücher behan­ deln die Heiligen- und Bilderverehrung, Pilgerfahrten und Wunder71 mit Seitenhieben auf die reformatorische Position.72 Im dritten Buch untersucht More das Verhältnis der Autorität von Kirche und Schrift und nimmt dieses zum Anlass für eine grundsätzliche Attacke auf Tyndales Neues Testament73 sowie für eine Rechtfertigung des Priesteramts.74 Das vierte Buch schließlich 68  69  70 

Vgl. Lawler, S. 449–452. Marius, Morus, S. 426. Vgl. Daniell, Biography, S. 263: „There are fairly frequent marginal notes, of the order of ‚God will not suffer his church to agree in any damnable error’ (II: xii) or ‚The Lutherans are the worst heretics that ever sprang in Christ’s church’ (IV: xvii) – two re­ marks that could sum up the whole large volume“. 71  Vgl. Marius, Morus, S. 430 ff. 72  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 27,28–31,20. 73  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 284,24–293,11. More unterstellt Tyndale die Fehlerhaftigkeit bei der Übersetzung der Termini „prestys“ (a.a.O., S. 285,36), „chyrche“ (a.a.O., S. 286,1) und „charyte“ (a.a.O., S. 286,1) und kommt zu dem Ergebnis, dass Tyndales Übersetzung zu üblen Zwecken („for an euyll purpose“, a.a.O., S. 291,2) entstanden sei und nicht verbessert werden könne („the translacyon of Tyndall was to bad to be mended“, a.a.O., S. 292,34 f). 74  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 293,12–316,24. In dieser Passage findet sich der einzige historische Hinweis darauf, dass Tyndale verheiratet gewesen sein könnte. More nennt in seiner Ablehnung der Priesterehe die Heirat des Mönchs Luther als ab­ schreckendes Beispiel und unterstellt anschließend auch Tyndale eine Eheschließung (vgl. a.a.O., S. 304,9 ff: „lest that holy freer sholde haue lost his maryage of that holy nonne /

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

greift Luther selbst und seine Anhänger (in England) an und versucht, der re­ formatorischen Seite die Provokation von Aufruhr und Gewalt zu unterstel­ len. Als Belege dienen More hierbei der deutsche Bauernkrieg und die ver­ meintlichen Greueltaten lutherischer Söldner beim „Sacco di Roma“.75 Auch wenn More nicht an allen Stellen, an denen er die bestehende kirch­ liche Lehre und Praxis verteidigt und von der reformatorischen Position ab­ grenzt, explizit auf Tyndale Bezug nimmt, stehen doch die theologischen Aussagen von „Mammon“ und „Obedience“ im Hintergrund und bilden die Angriffsfläche für seine Attacken. Mit Blick auf die Themenwahl Mores stellt Daniell daher zu Recht fest: „More’s first English work, his address to the mass of his fellow-countrymen (or such as knew of his book, and could afford it) has Tyndale as its subject“76. Man hat den Dialog darum auch oft als „Dia­ logue Concerning Tyndale“ bezeichnet.77 Auch dort, wo More Luther an­ greift, ist häufig Tyndale der eigentliche Adressat oder zumindest mitge­ meint, denn More selbst spricht von: „Tyndale (dessen Bücher tatsächlich nichts anderes sind als die schlimmsten Irrlehren aus Luthers Werken und Luthers schlimmste Worte übersetzt durch Tyndale und ver­ breitet in Tyndales eigenem Namen)“78.

and Tyndall some good maryage that I thynke hym towarde“; vgl. Marius, Morus, S. 433). Es handelt sich hierbei jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Unterstel­ lung Mores. Hätte er tatsächlich Informationen über eine Heirat Tyndales gehabt, wären sie von ihm in viel stärkerem Maße gegen diesen verwendet worden. Außerdem ist nicht anzunehmen, dass Tyndale, der selbst nie von einer Eheschließung berichtet und unter seinem Emigrantenschicksal litt (s.o. 5.1.1), dieses mit einer Frau hätte teilen wollen. (vgl. Daniell, Biography, S. 268 f). 75  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 368,1–372,20. 76  Daniell, Biography, S. 264; vgl. Lawler/ Marc’hadour, S. 495. 77  Vgl. Marius, Morus, S. 425. Es fällt auf, dass More im ersten Buch des „Dialogue“ gerade die Themen auf- und Positionen angreift, die Tyndale in „Obedience“ besprochen hatte, nämlich Wunder-, Bilder- und Heiligenverehrung sowie Pilgerfahrten, (vgl. z.B. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 38,11–51,19 bzw. Obedience, PS 1, S. 286–296, PC, S. 140–148, oder More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 424,4–425,35 bzw. Obedience, PS 1, S. 261–265, PC, S. 116 ff). More nimmt an manchen Stellen auch explizit Bezug auf „Obe­ dience“ und „Mammon“, vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 291,24.424,23 („Mammon“) u. S. 369,5 f.424,24 („Obedience“). 78  More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 303,14–18: „For Tyndall (whose bookys be nothyng ellys in effecte but the worst heresyes pycked out of Luthers workes and Luthers worst wordys translated by Tyndall and put forth in Tyndals owne name)“; vgl. die Über­ schrift zum 2. Kapitel des 4. Buches, a.a.O., S. 348,23 ff: „the author reherseth dyuers / wherof some be newe set forthe by Tyndall in hys englyshe bokys / wors yet in som parte than hys mayster Luther ys hym selfe“; vgl. Marius, Morus, S. 425: „Morus griff in sei­ nem Dialogue alle Positionen Tyndales an. Er erwähnt Tyndale häufiger als jeden anderen Häretiker, obwohl er auch andere mit Worten geißelt“.

5.1  Biographische Hinführung

253

Mores Gegenpositionen zu „Luther & Tyndall“79 beruhen auf seiner Bestim­ mung des Verhältnisses von Kirche und Heiliger Schrift.80 Auch für ihn be­ sitzt die Schrift eine einzigartige Autorität, sie ist jedoch der Kirche als heils­ geschichtlicher Stiftung Christi und normativer Auslegungsinstanz unterge­ ordnet.81 Mores Argumentation ist darum insgesamt darauf angelegt, den Konsens der christlichen Kirche gegen Luther und Tyndale auszuspielen und so beide als einsame häretische Abweichler mit bösen Absichten zu entlar­ ven.82 5.1.4  Die Rezeption von „Prelates“ und „Answer“ Beide kontroversen Schriften Tyndales, „Prelates“ und „Answer“, erreichten England auf den gleichen klandestinen Wegen wie seine übrigen Publikatio­ nen. Der Ärger des Königs über die erste der beiden Schriften und die bange Erwartung, mit der Tyndales Antwort an More in England erwartet wurde, ist schon im Zusammenhang mit der Mission Stephen Vaughans erwähnt worden.83 Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des tagesaktuellen Bezugs fand „Prelates“ eine große Aufnahme. Von 3000 im Umlauf befindlichen Ex­ emplaren berichtet der venezianische Botschafter im Dezember 1530.84 Das Werk landete umgehend auf dem Index und wurde, etwa im Prozess gegen Richard Bayfield im November 1531, als Beweismittel für dessen häretische Gesinnung angeführt.85 Die Kritik Tyndales an der „Praxis der Prälaten“ musste von den Zeitge­ nossen als Statement eines dezidiert reformatorischen Autors zur Scheidungs­ absicht des Königs verstanden werden, zumal es in der negativen Tendenz mit Luthers Gutachten konform ging.86 Tyndale grenzt sich damit inhaltlich von 79  So die von More häufig verwendete In-Eins-Setzung beider Theologen, vgl. z.B. a.a.O., S. 304 f. 80  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 314,5–316,24.330,30–344,36 (s.u. 5.3.3 und 5.3.4). 81  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 333,14–341,3; dazu auch Lawler/ Marc’hadour, S. 504–508; Gregory, S. 177. 82  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 305,11–14: „And nowe these two wyse men agaynst the olde holy fathers and connynge doctours / & agaynst the contynuall ­custome of Crystes chyrch so many hundred yeres bygone / and contynued by ye spyryte of god“. Wie Bagchi, S. 272–275 herausgearbeitet hat, gebraucht der Laientheologe More in seiner Darstellung der Reformatoren einen Häresiebegriff, der in einigen Punk­ ten vom damaligen theologischen Mainstream, vertreten etwa durch Jacobus Latomus, abweicht. 83  S.o. 5.1.1. 84  Vgl. Marius, Morus, S. 486; zur Verbreitung von „Prelates“ vgl. auch C.H. Wil­ liams, S. 96 ff. 85  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1162. 86  Vgl. WA.B 6, S. 175–188 (mit einem Brief an Robert Barnes vom 3. September 1531). Luther erkennt zwar Probleme bei der Eheschließung Heinrichs mit Katharina

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vielen Evangelischen auf der Insel ab, die in der Scheidungsproblematik des Königs und seinem Konflikt mit dem Papst eine Möglichkeit erkannten, ihre kirchlichen Reformvorstellungen einzubringen und umzusetzen. Männer wie Hugh Latimer (ca. 1485–1555), Robert Barnes und natürlich Thomas Cranmer (1489–1556) wirkten eifrig darauf hin, dem König die Annullie­ rung der Ehe mit Katharina theologisch und politisch zu ermöglichen.87 Man kann sich vorstellen, dass Tyndales Votum gegen eine Scheidung bei zahlrei­ chen Anhängern der Reformation in England als politisch in höchstem Maße unklug und ungeschickt empfunden worden sein muss. Es zeigt jedoch auch Tyndales Unabhängigkeit von politischen Rücksichtnahmen und seine allei­ nige (Selbst-) Verpflichtung auf das, was er aus der Lektüre der Schrift heraus als Wahrheit erkannt hatte.88 Auch Tyndales Antwort an More begegnet auf den Indices der häretischen Bücher und war folglich in regem Umlauf unter denjenigen, die sich für re­ formatorische Schriften interessierten.89 Die maßgebliche Rezeption der Schrift besorgte im Wesentlichen der Angesprochene selbst. In insgesamt sie­ ben Büchern veröffentlichte Sir Thomas More 1532/1533 seine „Confutation of Tyndale’s Answer“90, über die der (sonst sehr wohlwollende) Biograph Ma­ rius urteilt: „Die Confutation ist von der ersten bis zur letzten Seite unerquick­ lich, und trotz ihres gewaltigen Umfangs finden sich nicht viele wirklich neue Gedanken darin. More betet die bekannte Litanei herunter – über die Unfehl­ barkeit einer Kirche, die besteht, seit Christus sie begründet hat“91. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum sich Tyndale nicht mehr bemüßigt gefühlt 1503 an, hält es jedoch für Unrecht, diese Ehe, da sie nun einmal geschlossen wurde, für ungültig zu erklären; vgl. Brecht, Luther II, S. 406 f; Atkinson, S. 679 ff, s.u. 5.4.5. 87  Vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 41–78; Zschoch, Latimer, S. 125, besonders Anm. 32. 88  Vgl. Mozley, S. 163: „The verdict which Tyndale pronounces at least shows his in­ dependence“. Dass Tyndales exzeptionelles Votum zur Scheidung Heinrichs VIII. von seinen reformatorisch gesinnten Zeitgenossen nicht geteilt und erst recht nach Etablie­ rung einer englischen Staatskirche mit evangelischer Prägung unter Elisabeth I. nicht mehr angesagt war, macht die Tatsache deutlich, dass in den späteren Auflagen des Wer­ kes von Day und Foxe die Passagen, die zur Scheidungsfrage Stellung nehmen, getilgt sind. Elisabeth I. war schließlich das Kind aus eben jener Verbindung Heinrichs mit Anne Boleyn, deren Legitimität Tyndale infrage stellte. Auch sah man sich genötigt, den Titel der Schrift zu ändern, um klarzustellen, dass Tyndale mit den „prelates“ nur den römi­ schen Klerus und nicht etwa den der Kirche von England im Blick gehabt habe. Die Schrift begegnet darum bei Day als: „The practise of papistical prelates“ und ohne ihren Untertitel; vgl. Daniell, Biography, S. 201 f. 89  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1162. 90  CWM 8/1–3. Tyndale ist auf die Replik nicht mehr eingegangen. Das andauernde Interesse der Forschung an dieser Auseinandersetzung zeigt sich in der Gegensätzlichkeit und Vielfalt der Bewertungen, die Gregory, S. 174 f, vorstellt. 91  Marius, Morus, S. 527; zum „unerquicklichen“ Inhalt des Opus magnum vgl. auch a.a.O., S. 527–532; vgl. Daniell, Biography, S. 274–280.

5.2  „The Practice of Prelates“

255

hat, erneut auf More einzugehen.92 Möglicherweise hatte er aber auch einfach die menschliche Größe, den zum Zeitpunkt der Fertigstellung bereits im ­Tower inhaftierten Humanisten nicht mehr literarisch anzugehen.

5.2  „The Practice of Prelates. Whether the King’s Grace may be separated from his queen because she was his brother’s wife“ (1530) 5.2.1  Zum Charakter der Schrift 5.2.1.1  „Prelates“ als reformatorische Revision der Geschichtsschreibung Die nur eingeschränkt positive Resonanz, die „Prelates“ zu Tyndales Lebzei­ ten innerhalb der reformatorischen Partei in England hatte, setzt sich fort bis in die gegenwärtigen Forschungsurteile über die Schrift. Tyndales Einmi­ schung in die politisch so brisante Problematik der Scheidung des Königs wird dort vielfach als ungeschicktes und überflüssiges Engagement an der fal­ schen Stelle gewertet. So hält beispielweise Mozley fest: „The Practice of Prela­ tes is that work of Tyndale which we could most readily spare […] one could wish that Tyndale had never put his finger into this divorce controversy, where neither of the contending parties could claim to have clean hands“93. In der Tat geht „Prelates“ in Sachen politischer Brisanz und Polemik über die – selbst keinesfalls politisch ungefährlich und unpolemisch einzustufenden – Schriften „Mammon“ und „Obedience“ hinaus.94 „Prelates“ unterscheidet sich von ihnen jedoch vor allem dadurch, dass Tyndale hier nicht nur mit der Heiligen Schrift argumentiert und im weitesten Sinne Schriftauslegung be­ treibt, sondern neben der Bibel die Geschichte als eine weitere „auctoritas“95 hinzuzieht. Er schreibt eine „revisionist history of the church“96, die aufzei­ gen will, wie es zur gegenwärtigen Situation in der (englischen) Christenheit gekommen ist.97 Beginnend mit den Anfängen der Gemeinde und der Ein­ setzung kirchlicher Ämter durch die Apostel, erkennt Tyndale in der Erstar92 

Vgl. Daniell, Biography, S. 274: „Tyndale made no more reply. He had other things to do“. 93  Mozley, S. 169; vgl. auch Daniell, Biography, S. 203 f; Rupp, More and Tyndale, S. 59. 94  Vgl. nur die Passagen zum „Antichrist“ in „Mammon“ und „Obedience“, s.o. 3.2.5.2, 3.3.5.3 und 3.3.7. 95  Zur „auctoritas“ vgl. Clark, Prelates, S. 106 f. 96  A.a.O., S. 105. 97  C.H. Williams, S. 95, fasst Tyndales Intention so zusammen: „Here was a theme after Tyndale’s own heart: the ways in which ‚the practice of prelates’ had taken Christ­ ianity so far away from the primitive simplicity of the New Testament, and in particular the consequences of papal endeavours to assert the supremacy of the papacy over the tem­ poral powers in the West“.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

kung des frühmittelalterlichen Papsttums den Abfall von der Wahrheit der Schrift. Mithilfe literarischer Vorlagen98 zeichnet er insbesondere den welt­ lichen Machtanspruch der Päpste im Gegenüber zum oströmischen und frän­ kischen Kaiser- und Königtum nach. „Tyndale turns to the history of Europe to trace the development of papal power, charging that by a combination of force and guile the pope and his clergy wrested the government of the Euro­ pean states from the lawful rulers“99. Damit bemüht er sich um eine historische und politische Konkretion seiner Zuordnung von weltlichem und geistlichem Regiment, die er in „Obedience“ – damals noch sehr zum Gefallen des Königs – entwickelt hatte. Auch seine theologischen Positionen zur Autorität der Schrift und zum Amtsverständnis finden hier ihre praktische Anwendung. Entgegen der eingangs zitierten Be­ wertung von „Prelates“ als verzichtbarer Teil in Tyndales Opus ist darum Boehrer recht zu geben, der das Verhältnis der Schrift zu den vorangegange­ nen Werken als das einer praktischen Anwendung vorher aufgestellter theo­ retischer Prinzipien beschreibt.100 In Tyndales Fokus steht bei all dem die spezifisch englische Situation, die er von der Zeit Wilhelms des Eroberers (allerdings nicht kontinuierlich) bis hin zur Dominanz der päpstlichen Kleriker in der englischen Tagespolitik, d.h. bis zu Kardinal Wolseys Bemühungen um die königliche Scheidung, kritisch nachvollzieht. Diese Einbettung der tagesaktuellen Problematik in einen (konstruierten) historischen Kontext ermöglicht es ihm, die Scheidungsfrage als Teil einer Verschwörung des römischen Klerus zu deuten. Diese Interpre­ tation ist singulär in den mannigfaltigen schriftlichen Äußerungen zum Ende der ersten Ehe Heinrichs VIII.101 Sowohl die Protagonisten der königlichen Partei wie auch ihre Gegner argumentieren mithilfe des kanonischen Rechts und der Schrift, ebenso die Gutachter der hinzugezogenen europäischen Uni­ versitäten. Tyndale hingegen kombiniert eine schriftgebundene Argumenta­ tion mit einer historischen Perspektive.102

98  99 

S.u. 5.2.2. Pineas, S. 124. Zur Darstellung der Argumentation Tyndales vgl. Dick, Love, S. 81 ff; Boehrer, S. 263–271; Mozley, S. 163–169; Daniell, Biography, S. 202–205. 100  Vgl. Boehrer, S. 259: „My argument, then, is that the Practyse stands to Tyndale’s early works as does praxis to theory“; zur näheren Erläuterung vgl. a.a.O., S. 259 ff. 101  Vgl. Wyly, S. 269: „Tyndale’s discussion of the divorce is distinctive among Eng­ lish reformist commentary in its sympathy for Catherine, and in its ultimate conclusion that the queen is indeed Henry’s lawful wife“. 102  Vgl. Clark, Prelates, S. 105. S.o. 4.4.2.2.

5.2  „The Practice of Prelates“

257

5.2.1.2  Tyndales Selbstverständnis als Autor von „Prelates“ Almasy arbeitet in seiner Untersuchung zu den „Contesting Voices in Tyn­ dale’s The Practice of Prelates“103 verschiedene Rollen des Autors heraus, mit de­ nen sich unterschiedliche Intentionen und Adressaten verbinden. So tritt Tyn­ dale als kommentierender Erzähler der Geschichte des Gegenübers von Kirche und weltlicher Obrigkeit mit dem Anspruch auf, die historischen Entwick­ lungen autoritativ zu deuten.104 In diesem Selbstverständnis als vollmächtiger Interpret nicht nur der Schrift, sondern auch der Geschichte, schreckt Tyn­ dale auch nicht vor der Kommentierung der gegenwärtigen Situation, d.h. der persönlichen Problematik seines Königs, zurück. Almasy konstatiert daher zu Recht ein prophetisches Selbstverständnis Tyndales, das an das Auftreten des Elia in 1 Kön 18 vor König, Baalspriestern und Volk erinnert.105 Wie der alttestamentliche Prophet spricht Tyndale neben seinem Herrscher, den er vor allem als „Erzähler“ von seiner Deutung der Geschichte überzeu­ gen und zur Änderung seines Verhaltens animieren will, auch seine Lands­ leute an.106 Das Volk bzw. die evangelische Gemeinde in England versucht er aber stärker als „Polemiker“ zu erreichen. Almasy geht so weit zu behaupten, dass Tyndale mit seiner Sprache, die den Klerus attackiert, das Volk implizit zum Handeln bewegen will.107 Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass Tyn­ dale bewusst zur Auflehnung motivieren wollte. Dies stünde im Gegensatz zu seiner theologischen Überzeugung von der Gehorsamspflicht der Untertanen auch einem schlechten oder irregeleiteten Herrscher gegenüber.108 Dennoch bleibt eine Ambivalenz, oder mit Almasys Worten eine „polyvalence“109 im Nebeneinander der verschiedenen „Stimmen“, die Tyndale in „Prelates“ er­ klingen lässt. Almasy erklärt sie zutreffend als Folge eines „genuine struggle in Tyndale to find a voice or voices for all that must be said at this historical moment to a society about to undergo enormous change“110.

103  104 

Almasy, Prelates. Vgl. a.a.O., S. 2 f: „Tyndale’s performance establishes Tyndale not only as the ex­ pert narrator, but also as the authoritative voice – whether that of polemicist or prophet or narrator“. 105  Vgl. a.a.O., S. 1 f.9 f. Vgl. dazu die treffende Beschreibung von Luthers Anspruch als „Prophet“ bei Leppin, S. 165–192, besonders S. 186 ff und S. 255 f.292. 106  Vgl. Pineas, S. 136. 107  Vgl. Almasy, Prelates, S. 4: „If the design of the tract is to position the people as overhearers, and if the purpose of the tract is educational and intended to lead to political action that will rid England of corrupt ‚spirituality’, and if it is as much political as eccle­ siastical, perhaps not only the king is urged to act, but also the people, despite Tyndales language“. 108  S.o. 3.3.5.2. 109  A.a.O., S. 6. 110  Ebd.

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5.2.2  Tyndales Vorlagen 5.2.2.1  Tyndales Verwendung von Bartolomeo Platinas Papstgeschichte Tyndales Darstellung der Geschichte der abendländischen Christenheit als Historie der Korrumpierung der weltlichen Gewalten durch das Papsttum steht im Kontext anderer polemischer Geschichtsdarstellungen der Zeit.111 So veröffentlichte beispielsweise Tyndales Landsmann Robert Barnes 1536 in Wittenberg seine „Vitae Romanorum Pontificum“, die von Luther mit einem Vorwort versehen wurde.112 Wie Barnes, so bediente sich auch Tyndale zur Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge verschiedener Hilfsmittel. Neben den einschlägigen kirchenrechtlichen Texten, die Angaben über die Geschichte der Päpste enthielten,113 war für beide die entscheidende Quelle zur Geschichte des Papsttums der „Liber de vita Christi ac omnium pontifi­ cium“ des italienischen Humanisten Bartolomeo Platina (1421–1481).114 Das Werk des päpstlichen Bibliothekars ist eine Papstgeschichte in Form einer chronologischen Reihe von Kurzbiographien der Päpste bis zum Pontifikat Sixtus’ IV. (1471–74) und als solche „die wirkungsvollste Umformung der Papstgeschichte nach humanistischen Sprach- und Wertvorstellungen“115. Letzteres insofern, als Platina eine kritische Sicht auf das Papsttum einnimmt und die fehlende Moral einiger Amtsinhaber, die sich nicht an der Nachfolge Christi orientierten, negativ kommentiert.116 Allerdings wird die Existenz des Papsttums an sich durch Platina, der ja selbst Angehöriger der Kurie war, nicht infrage gestellt. Tyndale greift daher vor allem auf das Werk des Ita­ lieners zurück, um Informationen für seine eigene Papstgeschichte zu erhal­ ten.117 111 

Zur Gattung Papsttumsgeschichten im Humanismus und zu den Vorlagen von Robert Barnes vgl. McDiarmid, S. 28, Anm. 5. 112  WA 51, S. 449–451. 113  Tyndale selbst verweist etwa im Zusammenhang mit dem Pontifikat Hadrians I. auf die Distinctio LXIII des „Decretum Gratianum“ (vgl. Prelates, PS 2, S. 263, Anm. 3). Weitere Anklänge an kirchenrechtliche Texte findet der Herausgeber Henry Walter a.a.O., S. 269 (Anm. 4), S. 272 (Anm. 1–3), S. 276 (Anm. 1), S. 277 (Anm. 1), S. 279 (Anm. 2–3) u.ö. 114  Platina, besonders S. 100–176; zu Leben und Werk vgl. Bauer, 1098–1100. Auch Luther bediente sich in seinen Vorbereitungen auf die Leipziger Disputation gegen Eck 1519 der Geschichte Platinas, vgl. Brecht, Luther I, S. 291.304; McDiarmid, S. 26 ff. 115  So Horst Fuhrmann, zitiert bei Bauer, S. 1100. 116  Vgl. A. Richardson, Platina, S. 10 f. 117  Prelates, PS 2, S. 254 spricht von einem „certain writer of stories (vgl. a.a.O., S. 255, Anm. 3). An anderer Stelle nennt Tyndale Platina auch namentlich (vgl. a.a.O., S. 267: „And from this time hitherto perished the power of the emporeres and the virtue of the popes, saith Platina in the life of popes“). A. Richardson, Platina, S. 9, macht darauf aufmerksam, dass Tyndale an manchen Stellen durch die Verwendung von Platinas Papst­ geschichte teilweise (ungewollt) auch dessen Sichtweise übernimmt, etwa in der Frage der

5.2  „The Practice of Prelates“

259

5.2.2.2  Tyndales Rückgriff auf die Flugschrift „Vom alten und neüen Gott, glauben, und Lere“118 (1521) Für die Interpretation der Geschichte der Päpste fand Tyndale zahlreiche An­ regungen in einer deutschsprachigen Flugschrift mit dem Titel „Vom alten und neüen Gott, glauben, und Lere“, die 1521 in Basel unter dem Pseudonym „Judas Nazarei“ veröffentlicht wurde.119 Das Werk wurde dem St. Gallener Reformator Joachim Vadian (1484–1551) zugeschrieben, seine Autorschaft ist jedoch umstritten.120 Auch die Flugschrift nimmt Bezug auf das Kirchenrecht und die Vorlage Platinas,121 interpretiert jedoch die Papsttumsgeschichte reformatorisch um, als Geschichte einer – vom Teufel selbst betriebenen – menschlichen Selbster­ höhung.122 In der Kontrastierung mit dem Papsttum als Antichrist soll die reformatorische Lehre als die wahrhaft „alte Lehre“ vom Vorwurf der illegi­ timen Neuerung freigesprochen und als schriftgemäß herausgestellt werden: „Für Judas Nazarei ist die Bibel die einzige Richtschnur des Glaubens, ein mit ihr harmonisierendes Christentum erscheint ihm als das Ideal. Er will das Volk belehren, dass die vielgeschmähten ,neuen‘ Bestrebungen nichts weiter bezwecken, als den alten Gott, den alten Glauben, die alte Lehre wieder zu Ehren zu bringen. An der Hand der Bibel und der Chroniken will er dem Volke demonstrieren, dass und auf welche Weise der alte Gott durch den neuen, die alte Lehre durch die neue verdrängt ist“123. Um dieses Ziel zu er­ reichen, bietet der Autor des Traktats im ersten Teil eine historische Darstel­ lung von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart,124 bevor er im zweiten Teil in zwanzig Artikeln eine Zusammenfassung der neuen, in Wahrheit aber alten, am Maßstab der Schrift orientierten Lehre der Reformatoren gibt.125 Schrift und Geschichte werden so in einen fruchtbaren Zusammenhang ge­ Legitimität eines Kreuzzugs gegen die Türken, vgl. Obedience, PS 1, S. 166 (PC, S. 29) im Vergleich mit Prelates, PS 2, S. 254 f und Platina, S. 102 f. 118  VD 16/14 N 307; im folgenden zitiert nach der Ausgabe von Kück (Nazarei). 119  Zum ersten Mal weist Clebsch, S. 159–163, auf diese Vorlage Tyndales hin; vgl. dazu auch McDiarmid, S. 27, besonders Anm. 4 u.a.a.O., S. 39 f, Anm. 17. 120  Die vom Herausgeber der Schrift, Eduard Kück, angenomme Autorenschaft Va­ dians (vgl. Kück, S. 69–90), wird heute angezweifelt, vgl. Hohenberger, S. 226, Anm. 127; McDiarmid, S. 29, Anm. 7. 121  Vgl. Kück, S. 92.100. 122  Vgl. Nazarei, S. 3: „Wirt also in diesem buechlin angefengt vrsachs vnsers elends, blindheit, boßheit, von Adam seines vnglaubens halb in vnß erborn, vß woelcher wurtzel all abgoettery erwachsen ist, vnd durch historien anzeigt ire anfeng mancherley abgoetter […] zů letst ein erhebung der creaturen über got durch betrug des tüfels, mit zůeignung goetlichs gewalts (so wir yetz den Bapst nennen)“. 123  Kück, S. 76. 124  Vgl. Nazarei, S. 2–53. 125  Vgl. McDiarmid, S. 40 f.

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bracht, um die reformatorische Position zu erklären und gegen Kritik zu ver­ teidigen. Die Übereinstimmungen mit dem Anliegen Tyndales sind evident.126 Zu­ gleich ist jedoch dessen Akzent insofern ein anderer, als seine Darstellung auf die Situation im England der Gegenwart zuläuft: „Vom alten und neüen Gott’s papal narrative ultimately serves as information to help resolve the religious dilemmas that have been thrust upon ‚all Chrysten men’ ‚in all the erthe’. The Practice of Prelates, on the other hand, ultimately brings its papal narrative into relation to a dilemma facing England, and England’s king, in 1530“127. Einen analytischen Vergleich der reformatorischen Flugschrift mit „Prela­ tes“ hat McDiarmid vorgelegt, er kann darum hier entfallen.128 Zum besse­ ren Verständnis sollen jedoch die wesentlichen Ergebnisse McDiarmids kurz referiert werden: Gemeinsam ist Tyndale und der Schrift des „Judas Nazarei“, dass sie – anders als Platina – keine chronologische Papstgeschichte bieten wollen, sondern gezielt Pontifikate schildern, anhand deren sich die päpst­ liche Machtanmaßung und die damit verbundene Manipulation weltlicher Herrscher besonders anschaulich darstellen lassen.129 Anhand dieser Beispiele beschreiben beide den immer stärker werdenden Zugriff der Päpste auf die weltliche Macht. Sind es am Anfang noch die Kaiser und fränkischen Könige, die darüber entscheiden, wer römischer Bischof wird, so wendet sich in den dunklen Jahrhunderten des frühen Mittelalters das Blatt, bis am Ende der Sachsenherzog Otto von Papst Johannes XII. zum römischen Kaiser Otto I. gekrönt wird.130 126  127  128  129 

Vgl. a.a.O., S. 27.40. A.a.O., S. 41. Vgl. a.a.O., S. 27–40, besonders die Übersicht a.a.O., S. 32. Tyndale beginnt mit dem Pontifikat Bonifaz’ III. (607). Dann folgt eine Sequenz von Päpsten des 8. Jahrhunderts, nämlich Gregor III. (731–741), Zacharias I. (741–752), Stephan II. (752–757), Stephan III. (768–772), Hadrian I. (772–795), Leo III. (795–816), Paschalis I. (817–824), Nikolaus I. (858–867), Hadrian II. (867–872) und schließlich aus dem 10. Jahrhundert noch Johannes XII. (955–964) und Gregor V. (996–999) (vgl. Prela­ tes, PS 2, S. 257–270). In „Vom alten und neüen Gott, glauben, und Lere“ werden diesel­ ben Bischöfe von Rom behandelt, der Autor beginnt jedoch schon mit Agapitus I. (535–536) (vgl. Nazarei, S. 16). In der Flugschrift fehlt dafür ein Großteil der Päpste des 9. Jahrhunderts, die Tyndale aufführt (Paschalis I., Gregor IV., Nikolaus I., Hadrian II., Hadrian III.), hier greift Tyndale direkt auf Platina zurück (vgl. Prelates, PS 2, S. 266 f; Platina, S. 142 f.154 f.157 f). Eine der weiteren Stellen, an der Tyndale Aussagen direkt aus Platinas Text übernimmt, findet sich in Prelates, PS 2, S. 258 (vgl. Platina, S. 99). Vgl. dazu McDiarmid, S. 30 f: „Each, however, constructs a very selective account of popes beween around AD 600 and 1000, as opposed to Platina’s continuous survey, and the two accounts are largely congruent in their historical contents and in their thematic emphasis, which is on the popes’ aggrandizement through their manipulation of, and at the expense of, temporal rulers“. 130  Vgl. McDiarmid, S. 37: „not only is the emporer now not choosing the Pope, but the Pope now is choosing the emporer, or at least deciding how he shall be chosen“.

5.2  „The Practice of Prelates“

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Tyndale übernimmt die Auswahl der Päpste und die entscheidende historio­ graphische Aussage aus „Vom alten und neüen Gott“. Er bleibt jedoch – anders als McDiarmids Darstellung manchmal den Anschein erweckt131 – im Um­ gang mit dem Stoff und in seinen Formulierungen selbständig.132 „Prelates“ zeigt in der Darstellung des Papsttums im Frühmittelalter zwar klare Mo­ tivübereinstimmungen mit der Flugschrift, bietet aber meist keine wörtliche Übersetzung.133 In der Darstellung der jeweiligen Pontifikate weicht Tyndale in Details und Ausschmückungen teilweise von „Judas Nazarei“ ab.134 5.2.2.3  Tyndales Umgang mit den englischen Chroniken Auch was Tyndales Bezugnahme auf die englische Geschichte betrifft, ist da­ von auszugehen, dass er historische Werke als Hilfsmittel herangezogen hat, denn er überschreibt ein Kapitel mit „An example of practice out of our own chronicles“135. Leider nennt Tyndale nur eine der von ihm verwendeten Chroniken beim Namen, nämlich das „Polychronicon“ von Ranulph Higden (ca. 1280–1363), das in der englischen Übersetzung John Trevisas 1482 von 131  Vgl. a.a.O., S. 34. McDiarmid behauptet etwas unscharf, von der Darstellung des Pontifikats Gregors III. an seien beide Schriften „particularly similar in their treatment of the popes’ dealings with the Carolingians“ und begründet dies damit, das ihnen gemein­ same Thema sei: „the popes’ increasing assumption of illegitimate temporal authority, and evasion of legitimate supervision by the Roman emporers“. Tatsächlich fällt Tyndales Darstellung des Verhältnisses von Papsttum und Karolingern wesentlich kürzer aus, als in der Flugschrift, vgl. Prelates, PS 2, S. 260–268; Nazarei, S. 21–29. 132  Vgl. z.B. die Darstellung der Gesandtschaft Pippins nach Rom bei Nazarei, S. 22: „Pipinus gen Rom Burckardum den bischoff von Wirtzburg, und Folradum syn caplan zům pabst Zacharias, rad vnd bescheyd von ihm zů nemen in der frag, die was: Wer bil­ licher künig würd geheissen, der so all arbeit des richs trueg, oder der so allein den namen das er künig wirt geheissen, künig wer? Do gab der Pabst (vß ingebung der schlangen) ein solichen sententz, Es wer besser den künig genant zů werden der all arbeit des richs han­ delt, dan der andern“, mit Tyndales kürzerer, doch sprachlich schönerer und inhaltlich pointierterer Version: „This Pipine sent a holy bishop to pope Zacharias, that he should help to make him king of France, and he would be his defender in Italy (as the manner of scalled horses is, the one to claw the other); and Zacharias answered, that he was more worthy to be king, that ruled the realm and took the labours, than an idle shadow that went up and down, and did nought“ (Prelates, PS 2, S. 260 f). 133  Ein Gegenbeispiel ist freilich der von Tyndale nahezu wörtlich übertragene „pro­ per similitude to describe our holy Father“ (Prelates, PS 2, S. 270–274), den Tyndale jedoch an anderer Stelle, nämlich am Ende seiner Darstellung der Papstgeschichte, einbringt als „Judas Nazarei“ (vgl. Nazarei, S. 26 f); eine Gegenüberstellung beider Texte (allerdings der englischen Fassung der Flugschrift) findet sich bei McDiarmid, S. 37 f. 134  Etwa wenn er Kardinal Wolsey (als „Wolfsee“ karikiert) schon in der Beschreibung des Pontifikats Bonifaz’ III. als dunkle Folie von Ambition und Ehrsucht erwähnt: „in whose time Boniface III. was bishop of Rome, a man ambitious and greedy upon honour, and of a very subtle wit, nothing inferior unto Thomas Wolfsee, cardinal of York“ (Prela­ tes, PS 2, S. 258; vgl. Clark, Prelates, S. 110 f). 135  Prelates, PS 2, S. 294.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

William Caxton gedruckt wurde.136 Daneben müssen Tyndale aber auch noch weitere Chroniken zur Verfügung gestanden haben, denn seine Ver­ weise auf die „histories“ und „chronicles“ sind zahlreich, wenn auch unspezi­ fisch.137 Es lassen sich daher keine definitiven Aussagen machen, welche histo­ riographischen Quellen Tyndale verwendet hat.138 Nimmt man die Chroniken in den Blick, die Tyndale zur Verfügung ge­ standen haben könnten,139 so ist auffällig, dass die historischen Darstellungen in „Prelates“ nicht immer von den Geschichtsbüchern gedeckt sind.140 Den Grund dafür findet Pineas in Tyndales wenig objektivem Umgang mit den Quellen. Tyndale verwendet diejenigen der dort aufgeführten Fakten, die sei­ ner Intention entsprechen und kombiniert sie in seiner eigenen Darstellung so, dass sie ein historisches Gesamtbild ergeben, das seine These stützt: „Tyndale viewed the past and his own time under the influence of his idée fixe, which was that there had been in operation for eight hundred years a huge clerical conspiracy to dominate the territory of Europe and the minds of its rulers. He interpreted this body of history guided by one organizing principle – the con­ viction that all actions he regarded as evil emanated ultimately from the pope and his clergy“141. Tyndale selbst verstand diesen Umgang mit den Chroniken jedoch gerade nicht als Manipulation von geschichtlichen Tatsachen, denn die historischen Werke, die ihm zur Verfügung standen, waren für ihn geistige Produkte der von der Papstkirche beherrschten Welt.142 Gegen die Deutungshoheit Roms sah er sich als derjenige, der die klerikale Weltverschwörung aufdeckt und die wahren Abläufe der Geschichte sichtbar macht: „if a chronicle has omitted so­ 136  137 

Vgl. Prelates, PS 2, S. 294; dazu auch Pineas, S. 122, besonders Anm. 4. Vgl. z.B. Prelates, PS 2, S. 294, s.u. 5.2.7.1; vgl. dazu Pineas, S. 121 f: „The vague­ ness of these references to the chronicles is typical of Tyndale’s practice throughout his polemical works“. 138  Vgl. Pineas, S. 122: „It is therefore impossible to state definitely what sources Tyndale was using for his historical references“. Pineas hat versucht, die von Tyndale ver­ wendeten Chroniken zu bestimmen, indem er das Werk John Bales (1495–1563), eines im Vergleich zu Tyndale genauer zitierenden Reformators, herangezogen hat. Mithilfe der historischen Schriften Bales rekonstruiert Pineas, auf welche Quellen auch Tyndale zu­ rückgegriffen haben könnte. 139  Zu den damals für Tyndale erhältlichen historischen Werken vgl. a.a.O., S. 122, Anm. 5. 140  Vgl. a.a.O., S. 131: „Actually, while Tyndale’s appeal to ‚open hystories’ and the ‚Chronicles of England’ imply that his allegations are based on evidence from historical sources, often the sources available to Tyndale give no support whatever to his charges“; vgl. auch die von Pineas angeführten Beispiele a.a.O., S. 131 f. 141  A.a.O., S. 131. 142  Vgl. z.B. Prelates, PS 2, S. 294: „Take an ensample of their practice out of our own stories. King harold exiled or banished Robert archbishop of Canterbury: for what cause, the English Polychronicon specifieth not: but if the cause were somewhat suspect, I think they would not have passed it over with silence“.

5.2  „The Practice of Prelates“

263

mething, he reasons, then, since the clergy control the chronicles, the omis­ sion must be relative to some evil action of the clergy“143. Nicht nur die Schriftauslegung sondern auch die Geschichtsschreibung will Tyndale also in „Prelates“ der Papstkirche entreißen. 5.2.3  Aufbau der Schrift Der Aufbau von „Prelates“ ist an der von Tyndale beschriebenen historischen Entwicklung orientiert, beginnend mit den Anfängen der Ämterordung in der Urgemeinde (A.)144, über den Missbrauch dieser Ämter in der Papstkirche (B.)145 und zulaufend auf die Situation in England seiner Tage (C. u. D.)146. Dieser chronologische Aufriss wird jedoch immer wieder unterbrochen durch reflektierende Passagen, in denen die Auswirkungen der beschriebenen histo­ rischen Entwicklungen auf die Gegenwart analysiert und kritisiert werden. Den umfangreichsten Teil des Werkes bildet die Gegenwartsanalyse (D.), in der die Darstellung historischer Zusammenhänge (D. I.) und die theologische Reflexion der Scheidungsfrage (D. II.) zusammenkommen. Tyndale stellt sei­ ner Schrift ein Vorwort voran und strukturiert das Werk durch thesenartige Überschriften, die meist bereits die Kernaussage zusammenfassen. Sie sind in der folgenden Übersicht aufgenommen. In der Darstellung von „Prelates“ werde ich mich an dieser Grobgliederung orientieren, Tyndales eigene klein­ schrittigere Einteilung aber nicht immer übernehmen, sondern manche Ab­ schnitte zusammenfassend betrachten. Vorwort an die Leser (240–246) A. Die Anfänge der kirchlichen Ämterordnung (247–255) I. Christus und die Apostel (247–251) 1. „Prelates appointed to preach Christ may not leave God’s word, and mi­ nister temporal offices; but ought to teach the lay-people the right way, and let them alone with all temporal business“ (247–249) 2. „Peter was not greater than the other apostles by any authority given him of Christ“ (249–251) II. Die Ämter in der Urgemeinde (251–255) 1. „How the gospel punisheth trespassers, and how, by the gospel, we ought to go to law with our adversaries“ (251–253) 2. „What officers the apostles ordained in Christ’s church; and what their offi­ ces were to do“ (253–255)

143  144  145  146 

Pineas, S. 132. S.u. 5.2.5. S.u. 5.2.6. S.u. 5.2.7.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

B. Der Abfall der Papstkirche (255–293) I. Geschichtliche Entwicklung (255–274) 1. „By what means the prelates fell from Christ“ (255–257) 2. „How the bishop of Rome became greater than other, and called himself pope“ (257–259) 3. „By what means the pope invaded the empire“ (259–270) 4. „A proper similitude to describe our holy Father“ (270–274) II. Folgen der Entwicklung (274–293) 1. „How the pope receiveth his kingdom of the devil, and how he distributeth it again“ (274–278) 2. „How the pope made him a law, and why“ (278–280) 3. „How the pope corupteth the scripture, and why“ (280–288) 4. „How the prove all their general Councils“ (289–293) C. Das Beispiel Englands (294–307) I. „An example of practice out or our own chronicles“ (294–298) II. „By what craft the pope keepeth the emporer down“ (298–307) D. Gegenwartsanalyse (307–344) I. Die Vorgeschichte (307–322) 1. „The practice of our time“ (307–310) 2. „The cause of all that we have suffered these twenty years“ (310–312) 3. „Why the king’s sister was turned to France“ (312–313) 4. „The cause of the journey to Calais“ (313–315) 5. „How the emporer came to England“ (315–319) 6. „Why the queen must be divorced“ (319–322) II. Zur Scheidungsfrage (323–344) 1. „Of the divorcement“ (323–333) 2. „By what means the divorcement should cost the realm“ (333–334) 3. „The putting down of the cardinal“ (334–338) 4. „What the cause of all this mischief is“ (338–344)

5.2.4  Das Vorwort: „William Tyndale to the Christian Reader“ In seinem kurzen Vorwort stellt Tyndale die Kritik am Klerus in einen heils­ geschichtlichen Kontext, indem er die Ablehnung und Verfolgung der Recht­ gläubigen seiner Zeit in Analogie zur Verfolgung Christi und der Apostel durch die Pharisäer und Schriftgelehrten erklärt:147 So wie sich die Gegner Jesu, d.h. die geistlichen Würdenträger seiner Zeit, an die staatlichen Autori­ täten wandten und den Prediger des Evan­ge­liums als Aufrührer und Anstifter zum Ungehorsam anklagten, geschieht es – nach Tyndales Auffassung – auch in der Gegenwart. Und wie schon damals die weltlichen Obrigkeiten den Verkündiger der Wahrheit aus Angst um ihr Amt töten ließen, so tun sie es 147  Vgl. Prelates, PS 2, S. 240: „When the old scribes and Pharisees had darkened the scripture with their traditions, and false interpretations and wicked persuasions of fleshly wisdom; and shut up the kingdom of heaven, which is God’s word, that the people could not enter in unto the knowledge of the true way“.

5.2  „The Practice of Prelates“

265

auch jetzt.148 Der Gleichsetzung von papstkirchlichen Prälaten und neutesta­ mentlichen Gegnern Jesu entspricht die Identifizierung der „Häretiker“ mit Christus und den Aposteln.149 Die Strafe Gottes für diese Verschwörung gegen seinen Sohn folgte – so Tyndale – in neutestamentlicher Zeit auf dem Fuß, in Gestalt des Jüdischen Krieges. Gott verstockte die Herzen der Juden und trieb sie zum erfolglosen Aufstand gegen Rom.150 Die Kirchenvertreter sollen daher gewarnt sein, dass sich auch an ihnen der Zorn Gottes erfüllen wird.151 Die Warnung Tyndales ergeht jedoch auch an die Obrigkeiten, die sich wie die Ältesten Israels der Mittäterschaft schuldig gemacht haben.152 Ihre eigene Angst vor möglicher Rebellion des Volkes kann ihnen dabei als sicheres Indiz dafür gelten, dass sie ihren Herrschaftsauftrag verfehlen: „Fürchtet ihr aber euer Untertanen, so zeugt ihr gegen euch selbst davon, dass ihr Tyrannen seid“153. Um beim Stichwort „Rebellion“ nicht falsch verstanden zu werden, dis­ tanziert sich Tyndale von jeglicher Form des Aufruhrs, indem er zugleich den 148  Vgl. a.a.O., S. 242: „Even so our scribes and Pharasees, now that their hypocrisy is disclosed, and their falsehood so brought to light that it can no longer be hid, get them unto the elders of the people, the lords, gentlemen, and temporal officers, and to all that love this world as they do, and unto whosoever is great with the king, and unto the king’s grace himself; and after the same ensample, and with the same persuasions, cast them like fear of losing of their worldly dominions“. Interessant ist, dass Tyndale auch den König selbst nicht als Mitschuldigen versteht, sondern als von Heuchlern umlagerten Herrscher, s.u. 5.2.7.2. 149  Vgl. ebd.: „For they, which ye call heretics, preach nothing save that which our Sa­ viour Jesus Christ preached, and his apostles“. 150  Vgl. a.a.O., S. 241: „But whose fault was that insurrection against the emporer, and mischief that followed? Christ’s and his apostles, whom they falsely accused beforehand? Nay, […] But their obstinate malice, that so hardened their hearts that they could not re­ pent, and their railing upon the open and manifest truth, which they could not improve, and resisting the Holy Ghost“. Tyndale sieht die Ursache der „Verstockung“ in der menschlichen Bosheit, auf die Gott mit Zorn reagiert. Damit bleibt er hinter der (freilich diffizilen) biblischen Dimension der „Verstockung“ zurück, die zwar einerseits dem Men­ schen klar die Schuld zuschreibt, andererseits aber auch Gott als Urheber der Verstockung erkennt (Ex 4,21; 7,13 f); s.o. 4.4.2.2. 151  Vgl. ebd: „Take heed, therefore, wicked prelates, blind leaders of the blind; indu­ rate and obstinate hypocrites, take heed. […] how shall ye escape, which are far worse than the Pharasees?“ 152  Vgl. a.a.O., S. 243: „even so likewise ye, if ye will in so open and clear light, and let yourselves be led blindfold, and have your part with the hypocrites in like sin and mi­ schief, be sure ye shall have your part with them in like wrath and vengeance, that is like shortly to fall upon them“. 153  A.a.O., S. 243 f: „If ye fear your commons, so testify ye against yourselves, that ye are tyrants“. Auch mangelndes Gottvertrauen ist für Tyndale ein Zeichen für die falsche Form der Herrschaftsausübung, vgl. a.a.O., S. 244: „for he [d.i. Gott] hath promised the temporal officers assistance, if they minister their offices truly“. Angesichts dieser deut­ lichen politischen Stellungnahme Tyndales ist es unverständlich, dass Almasy, Prelates, S. 9, meint, in Tyndales Vorwort eine vorsichtigere Tonart („a more cautious voice“) zu vernehmen.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Vorwurf, Luther und seine Lehre seien Urheber der deutschen Bauernauf­ stände 1525 gewesen, entschieden zurückweist.154 Luther stand für Tyndale ebenso wenig hinter den Aufständen der Bauern, wie Christus das Volk zum Aufruhr angestachelt hat. Es finde sich kein Beleg in Luthers Werken, der ei­ nen Aufstand gegen die Obrigkeit guthieße.155 Außerdem widerlege die Tat­ sache, dass Luther, ungeachtet der Niederlage der Bauern, weiterhin lebe und wirke, seine Mitbeteiligung. Wäre Luther wirklich der spiritus rector der Auf­ ständischen gewesen, hätte er, so Tyndales Logik, auch mit ihnen untergehen müssen.156 In Wahrheit war die Rebellion des „gemeinen Mannes“ – in Ana­ logie zum Aufstand der Juden – nichts anderes, als ein Ausdruck des Zornes Gottes, gewissermaßen eine Vorwarnung mit Blick auf die zu erwartende Strafe, welche die Verächter seiner Wahrheit treffen wird.157 Angesichts dessen mahnt Tyndale die Untertanen, nach dem Vorbild Christi auch Ungerechtigkeiten und Verfolgung zu erleiden und ihre Hoff­ nung nicht auf die eigenen Kräfte, sondern vielmehr auf die Macht des gött­ lichen Wortes zu setzen.158 Als Beitrag zur Aufklärung und Wegbereiter der durch Gottes Wort bewirkten Veränderung der Welt zum Besseren versteht Tyndale auch seinen Traktat: 154  Vgl. Prelates, PS 2, S. 244: „The hypocrites haply bid you take an ensample of the uplandish people of Almany, which they lie that Martin Luther stirred up“, vgl. dazu z.B. More, Dialogue, CWM 6/1, S. 368,1–372,20. 155  Vgl. Prelates, PS 2, S. 244: „what one sentence in all the writing of Martin Luther find they, that teacheth a man to resist his superior?“ Diese selbstbewusste Aussage Tynda­ les setzt nicht nur eine gute Kenntnis der Werke Luthers voraus, die indirekte Gleichset­ zung mit Christus selbst zeugt auch von der hohen Wertschätzung des Wittenbergers als Zeugen der göttlichen Wahrheit. 156  Vgl. ebd.: „Moreover, if Martin Luther and the preachers had stirred up the com­ mon people of Germany, how happened it that Martin Luther and other like preachers had not perished likewise with them; which are yet all alive at this hour“ (wie schön wäre es, ließe sich aus diesem Nachsatz auf einen „lebendigen“ Kontakt Tyndales mit Luther u.a. schließen, der in Briefwechseln o.ä. Ausdruck gefunden hätte). 157  Vgl. ebd.: „Ye will ask me, Who stirred them up then? I ask you, Who stirred up the commons of the Jews to resist the emporer, after that the scribes and Pharasees, with the elders of the people, had slain Christ and his apostles? Verily, the wrath of God. And even so here, the wrath of God stirred them up, partly to destroy the enemies and perse­ cutors of the truth, and partly to take vengeance on those carnal beasts which abused the gospel of Christ, to make a cloak of it to defend their fleshly liberty, and not to obey it and to save their souls thereby. If the kings, lords and great men, therefore, fear the loss of this world; let them fear God also“. Tyndale stellt hier selbst den biblischen Bezug zum Kon­ flikt Elias mit König Ahab (1 Kön 18) her, vgl. a.a.O., S. 244 f; dazu auch Almasy, Prelates, S. 1 f.9 f (s.o. 5.2.1.2). 158  Vgl. Prelates, PS 2, S. 245: „abide patiently awhile, till the hypocrisy of hypcrites be slain with the sword of God’s word, and until the word be openly published and witnessed unto the powers of the world, that their blindness may be without excuse: and then will God awake as a fierce lion against those cruel wolves which devour his lambs“. Abermals zeigt sich hier Tyndales Selbstverständnis: er selbst ist derjenige, der es unternommen hat, Gottes Wort öffentlich und verständlich zu machen; s.o. 3.3.5.2 und 5.2.1.2.

5.2  „The Practice of Prelates“

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„that thou mightest see their wicked ways and abominable paths, to withdraw thyself from after them, and to come again to Christ“159.

5.2.5  Die Anfänge der kirchlichen Ämterordnung 5.2.5.1  Biblische Grundlegung: Ämter im Reich Christi Die in der Bibel beschriebene Heilszeit steht am Anfang von Tyndales histo­ rischem Aufriss, denn sie ist der Maßstab, an dem sich das Amtsverständnis der Kirche bis zur Gegenwart messen lassen muss. Was sich aus der Zeit Jesu und der Apostel ablesen lässt, stellt Tyndale unmissverständlich in der Über­ schrift seines ersten Abschnitts heraus: „Prälaten, die eingesetzt sind, um Christus zu predigen, dürfen Gottes Wort nicht im Stich lassen und in weltlichen Ämtern dienen; sie sollen stattdessen die Laien den rich­ tigen Weg lehren und sie verschonen mit weltlichen Geschäften“160.

Tyndales Darstellung der Entwicklung der kirchlichen Ämter beginnt mit einer Erinnerung an die Zwei-Regimenten-Lehre161 als Unterscheidung zwischen dem Reich Christi, das „nicht von dieser Welt“ ist (Joh 18,36), und dem Reich der Welt. Die Kirche hat in ihren (Amts-) Strukturen dem Reich Christi zu entsprechen, was bedeutet, dass ihre Amtsträger keinerlei weltliche Gewalt in Händen halten dürfen. Richtschnur für ihr Handeln muss der ge­ genseitige Dienst aneinander nach dem Vorbild des Dienstes Christi sein.162 Die Wirklichkeit der Papstkirche sieht jedoch anders aus, denn hier ver­ birgt sich hinter äußerlicher Demut ein klares weltliches Machtstreben, das Tyndale scharf verurteilt: „Auf dass du kein Wolf im Schafspelz bist, wie unser heiliger Vater, der Papst, der zu uns kommt im Namen der Heuchelei und im Namen des verfluchten Cham, oder Ham, der sich selbst Servus servorum nennt, den Diener aller Diener und sich doch er­ weist als Tyrannus Tyrannorum, als grausamster Tyrann von allen“163.

159  160 

A.a.O., S. 246. A.a.O., S. 247: „Prelates appointed to preach Christ may not leave God’s word, and minister temporal offices; but ought to teach the lay-people the right way, and let them alone with all temporal business“. 161  S.o. 3.4.4.1. 162  In diesem Sinne legt Tyndale das Wort Christi vom Herrschen und Dienen (Mt 20,25 ff) und die Perikope vom Rangstreit der Jünger (Mt 18,1 ff) aus: Die Kinder sind Maßstab für die Herrschaft im Reich Christi, weil sie nicht auf Herrschaft unterei­ nander aus sind, vgl. a.a.O., S. 248: „Now young children bear no rule one over another, but all is fellowship among them“. 163  A.a.O., S. 248 f: „that thou be not a wolf in a lamb’s skin, as our holy father the pope is, which cometh unto us in a name of hypocrisy, and in the title of cursed Cham, or Ham, calling himself Servus servorum, the servant of all servants, and is yet found Tyrannus tyrannorum, of all tyrants the most cruel“.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Tyndale argumentiert von der Rolle des Petrus in der Urgemeinde her. Er er­ kennt dessen Position als „chief of the apostles“164 an, versteht sie jedoch nicht in einem hierarchischen Sinne.165 Petrus’ Sonderstatus beruht allein darauf, dass er in dem, was er tat, vom Heiligen Geist geleitet wurde; seine Position ist also keine institutionelle, sondern eine in der übergeordneten Autorität Gottes und seines Wortes gründende. Eine besondere Amtsvollmacht des Petrus (und seiner Nachfolger) lässt sich für Tyndale aus der Schrift nicht herleiten. Der Einwand, dass es doch auch im Reich Christi eine erkennbare Ord­ nung geben müsse, beruht für Tyndale aus einem grundlegenden Missver­ ständnis. Wer im Reich Christi lebt, ist von Gottes Geist erfüllt und von diesem mit Liebe zum Gesetz („lust unto the law of God“166) begabt, so dass eine Herrschaftsordnung nach weltlichem Maßstab nicht mehr erforderlich ist.167 Das Ordnungsprinzip des geistlichen Bereichs ist allein der Dienst am Nächsten.168 5.2.5.2  Konkretionen: Herrschaftsausübung und Dienste in der Gemeinde Ausgehend von den durch das Wort Gottes selbst begründeten Herrschafts­ strukturen im Reich Christi, wendet sich Tyndale der Frage zu, wie auf die­ ser Grundlage Rechtsvollzug und Ahndung von Sünden funktionieren kön­ nen.169 Nicht alle, die zum Reich Christi gehören, sind für ihn stark genug, um vollkommen sündlos zu leben. Ihr Geist mag willig sein, aber das Fleisch ist schwach und die Versuchungen der Welt groß.170 Es muss also die Mög­ lichkeit von Sanktionen geben. Doch anders als im Reich der Welt ist der Ur­teilsmaßstab in der Gemeinde einzig das Gesetz der Liebe, das Tyndale in 1 Kor 13 formuliert findet. Konkret bedeutet das für ihn: Gegenseitige Hilfe 164  165 

A.a.O., S. 249. Vgl. ebd.: „Peter may be called chief of the apostles for his activity and boldness above the other. But that Peter had any authority or rule over his brethren and fellow apostles, is false, and contrary to the scripture“. 166  A.a.O., S. 250. 167  Vgl. WA 11, S. 249,36–250,2 (Von weltlicher Oberkeit, 1523): „Und wenn alle welt rechte Christen, das ist, recht glewbigen weren, so were keyn furst, koenig, herr, schwerd noch recht nott odder nuetze. Denn wo zů sollts yhn? die weyl sie den heyligen geyst ym hertzen haben“. 168  Vgl. Prelates, PS 2, S. 251: „So now thou seest that in the kingdom of Christ, and in his church or congregation, and in his councils, the ruler is the scripture, approved through the miracles of the Holy Ghost, and men be servants only […] And when we call men our heads, that we do not because they be shorn or shaven, or because of their names, parson, vicar, bishop, pope; but only because of the word which they preach“ (s.o. 4.5.4). 169  Vgl. ebd.: „How the gospel punisheth trespassers, and how, by the gospel, we ought to go to law with our adversaries“. 170  Vgl. ebd.: „Though that they of Christ’s congregation be all willing, yet, because that the most part is alway weak, and because also that the occasions of the world be ever many and great […] when a weak brother hath trespassed, by what law shall he be punish­ed?“

5.2  „The Practice of Prelates“

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und Ermahnung der Gemeindeglieder nach dem Vorbild der in Mt 18,15 ff und Mt 6,12 gegebenen Weisung Christi. Sein Beispiel ist die Norm, nicht das weltliche Gesetz, denn dieses hat im geistlichen Bereich nichts zu suchen.171 Wie sind nun die in der Schrift erwähnten Ämter innerhalb der Gemeinde zu verstehen? Tyndale geht auch hier von ihrer Bedeutung in den ersten christlichen Gemeinden aus und kontrastiert diese mit der Wirklichkeit der papstkirchlichen Ämterhierarchie. Er nennt zunächst die von den Aposteln eingesetzten Funktionen des Bischofs und der Priester bzw. Ältesten („priest after the Greek, elder in English“172). Während ersterer von ihm im Sinne des Griechischen „§p6skopoi“ als Aufseher („overseer“173) verstanden wird, sind die presb0teroi für ihn keine Kleriker, sondern tatsächlich „Älteste“, die auf­ grund ihrer altersbedingten Weisheit und Erfahrung mit der Unterstützung des Bischofs in der Gemeindeleitung betraut wurden. Auch die Ämter der Dia­konen und der Witwen erläutert Tyndale seiner Leserschaft ihrer ur­ sprünglichen neutestamentlichen Bedeutung entsprechend.174  

5.2.6  Der Abfall der Papstkirche 5.2.6.1  Geschichtliche Entwicklungen An den Beginn seiner Geschichte der mittelalterlichen Papstkirche stellt Tyn­ dale eine Art Verschwörungstheorie,175 die in der Mehrung des materiellen Besitzes der Kirche und der daraus resultierenden Verführung geistlicher Würdenträger die Ursache des Abfalls von der Wahrheit Christi sieht. Dabei zeichnet er ein Bild der altkirchlichen Prälaten, in dem die zeitgenössischen Leser ohne Mühe Vorläufer des gehobenen englischen Klerus des 16. Jahr­ hunderts erkennen konnten: Wie Prälaten damals geben auch die gegenwär­ tigen Kirchenvertreter die Kirche Jesu Christi der Welt preis und verwischen den Gegensatz zwischen den beiden Reichen.176 171  Vgl. a.a.O., S. 252: „It is manifest, therefore, that the kingdom of Christ is a spiri­ tual kingdom, which no man can minister well“. 172  A.a.O., S. 253. 173  Ebd. 174  Vgl. a.a.O., S. 253 f. 175  Vgl. Clark, Corrupt Prelates, S. 287 f: „Although Tyndale’s conspiracy theory now seems unduly paranoid, two facts should be remembered. First, many of his contempora­ ries shared his views. Second, like many other apprehensive men and women of his age, he was, in fact, hunted down and betrayed in the very way he feared“. 176  Vgl. Prelates, PS 2, S. 256: „And by the means of their practice and acquaintance in the world they were more subtle and worldly wise than the old bishops, and less learned in God’s word; as our prelates are, when they come from stewardships in gentlemen’s houses, and from surveying of great men’s lands, lords’ secrets, kings’ councils, ambassadorships, from war and ministering all worldly matters, yea, worldly mischief“; vgl. Boehrer, S. 264: „Tyndale’s historical discursus in the Practyse mainly extends the principles of the Obediēce; prelacy remains the root of all evil, yet if prelacy is the root, papacy and tyranny

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Mit der zunehmenden Ausbreitung des Christentums und dem dadurch be­ dingten Wohlstand vollzog sich – so Tyndales Analyse – eine grundlegende Veränderung. Der gewachsene Besitz der Kirche weckte die Begehrlichkeiten derjenigen, denen diese Reichtümer anvertraut waren.177 Den Diakonen, die eigentlich die Bischöfe unterstützen sollten, gelang es durch den geschickten Einsatz ihrer Mittel, sich selbst mehr und mehr Einfluss zu sichern und schließ­ lich die ganze Kirche zu „unterwandern“.178 Durch ihre Machenschaften wurde das Streben nach Macht und Besitz in die Kirche hineingetragen, so dass auch die anderen Amtsträger begannen, sich mehr und mehr von der Lehre Christi abzuwenden.179 Angesichts dessen konnte es nicht ausbleiben, dass für die weltlich gewordenen Prälaten an die Stelle Christi eine andere – deutlich sichtbare – Autorität treten musste: Das Papsttum.180 Mithilfe der historischen Darstellung in „Vom alten und neüen Gott“ be­ schreibt Tyndale die Dynamik des päpstlichen Strebens nach weltlichem Ein­ fluss in der Geschichte und bietet den Lesern ein Panorama des Papsttums vom 6. bis zum 10. Jahrhundert, das – neben Erklärungen zu einzelnen histo­ rischen Zusammenhängen (etwa zum Ost-West-Schisma oder zum Aufstieg des Islam)181 – vor allen Dingen die Verwicklungen von Repräsentanten der are branch and bloom. Temporal and spiritual authority remain distinct; papacy is the en­ chroachment of the latter upon the former, and tyranny the encroachment of the former upon the latter“; s.o. 3.3.5.2 und 3.3.5.3. 177  Vgl. Prelates, PS 2, S. 254: „And those common goods of the church, offered for the succour of the poor, grew in all churches so exceedingly, that in some congregation it was so much, that it was sufficient to maintain a host of man“. 178  Vgl. a.a.O., S. 255 f: „But after the multitude of the Christen were increased, and many great men had received the faith, then both lands and rents, as well as other goods, were given unto the maintenance of the clergy, as of the poor […] And then the bishops made them substitutes under them to help them, which they called priests, and kept the name of bishop unto themselves. But out of the deacons sprang all the mischief: for through their hand went all things“. 179  Vgl. a.a.O., S. 257: „And then by little and little they enhanced themselves, and turned all to themselves, minishing the poor people’s part, and increasing theirs, and joi­ ning acquaintance with great men, and with their power clamb up, and entitled them to the choosing and confirming of the pope and all bishops, to flatter and purchase favour and defenders; trusting more unto their worldly wisdom than unto the doctrine of Christ“. 180  Vgl. ebd.: „and therefore the bishops would have a god upon the earth whom they might see, and thereupon they began to dispute who should be greatest“. 181  Tyndale deutet mit „Judas Nazarei“ (und Platina) beide Entwicklungen als Folgen des päpstlichen Machtstrebens: die Einheit mit den Griechen zerbrach am päpstlichen Su­ prematsanspruch (vgl. a.a.O., S. 259); das Einfallen des Islam in christliche Gebiete war nur möglich, weil der Papst mit seiner eigenen „Invasion“ in den Bereich weltlicher Macht beschäftigt war (vgl. a.a.O., S. 260: „And look, how busy Mahomet was in those parts, so busy was the pope in these quarters, to invade the empire […] while the emporer was oc­ cupied afar off in resisting of Mahomet“; vgl. Nazarei, S. 19: „Do stundt recht ein nüwer abgot vff, Machmet Ismahelita, der satzt eynen nüwen glauben vff, den die türcken hal­ ten“). Hätten die christlichen Herrscher ihre Schätze nicht in so reichem Maße der Kirche

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Kirche in weltliche Kontexte offen legen will.182 Die Kapitelüberschriften, die Tyndale (unabhängig von der deutschen Flugschrift) verwendet, machen diese Tendenz offenkundig: Der „Bischof von Rom, der sich selbst Papst nennt“183, und in das Reich der Welt „einfällt“184, soll als Urheber der bestehenden (Un-) Ordnung von Kirche und Obrigkeit herausgestellt werden, in der die geist­ lichen Instanzen ihre Vorherrschaft vor den weltlichen behaupten. Auf unterschiedliche Weise bemühten sich die Päpste, nach Tyndales Dar­ stellung,185 um die Erweiterung ihrer eigenen Kompetenzen im weltlichen Herrschaftsbereich. Dabei ist interessant, welche Aspekte dieses Machtstre­ bens Tyndale besonders herausstellt: Einmal geht es ihm um den Anspruch des Papsttums, selbst weltliche Macht zu haben und oberste gerichtliche In­ stanz auch in weltlichen Belangen zu sein. Hier ist die „Pippinische Schen­ kung“ (756) für Tyndale entscheidend als erster „Erfolg“ des päpstlichen Machtstrebens, der den Grundstock für ihre weltlichen Machtansprüche in den kommenden Jahrhunderten legte.186 Darüber hinaus richtet sich sein Au­ genmerk auf das sittliche Verhalten der Prälaten, einmal mit Bezug auf ihre geschenkt, wäre es ihnen möglich gewesen, wirksam gegen die Ausbreitung des Islam vorzugehen. Tyndale belegt dies mit Platina, vgl. Prelates, PS 2, S. 254: „The prelates gaped when a layman would take the war upon them against the Turks; and the laymen looked when the prelates would lay out their money, to make the war withal, and not spend it in worse use, as the most part of them were wont to do“ (vgl. Platina, 102 f: „Exspectant item seculares, ut presbyteri tuendae religionis causa pecunias in sumptus bellicos polliceantur et subministrent, nec in peiores usus effundant, quemadmodum fa­ cere pelrique consuevere, pecunias eleemosynis et sanguine martyrum comparatas, in au­ rea et argentea vasa et praegrandia quidem fundentes, parum de futuro soliciti, Dei, quem tantum utilitatis gratia colunt, et hominum condemptores“; weitere Platina-Zitate Tyn­ dales finden sich in Prelates, PS 2, S. 255; vgl. Platina, S. 100.104). 182  Platinas Bericht zum Leben der Päpste Bonifaz V. und Honorius I.wird von Tyn­ dale hier unabhängig von der deutschen Flugschrift herangezogen, vgl. Prelates, PS 2, S. 205 (vgl. Platina, S. 102 ff). 183  Vgl. Prelates, PS 2, S. 257: „How the bishop of Rome became greater than other, and called himself pope“. 184  Vgl. a.a.O., S. 259: „By what means the pope invaded the empire“. 185  Zu den historischen Unkorrektheiten, die Tyndale dabei aus seiner Vorlage über­ nimmt vgl. a.a.O., S. 258 f, Anm. 5. 186  Tyndale lehnt sich an Nazarei, S. 23 f, an, wenn er schreibt: „the new king, Pipine of France, warned of his duty and service promised, and mindful of old friendship, and hoping for part of the prey, cameto succour the pope: and when he had subdued the king of Lombardy, he gave unto our holy father, or rather to St Peter, that hungry beggar, great provinces and countries in Lombardy and in Italy“ (Prelates, PS 2, S. 261). Smeeton, Lol­ lard Themes, S. 242 f, hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Tyndale in seinen Werken wiederholt auf die pippinische Schenkung als Wende in der Geschichte der Papst­ kirche verweist, meist mit der Formulierung „eight hundred years ago“ (die Belegstellen sind aufgelistet a.a.O., S. 242, Anm. 113). Allerdings vermag Smeetons Versuch, dieses Fixdatum Tyndales mit der Bezugnahme lollardischer Texte auf die Donatio Constanini als entscheidendes Datum des „Abfalls“ zu vereinbaren, nicht zu überzeugen.

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Lebensführung,187 zum anderen aber auch im Hinblick auf ihre Einmischung ins Politische. Diese Schwerpunktsetzung korrespondiert wohl nicht von un­ gefähr mit der tagesaktuellen Problematik seiner Schrift. Beide Intentionen, das Aufzeigen der politischen wie auch der sittlichen Ver­ dorbenheit der Prälaten, lassen sich gut an Tyndales ausführlicher Darstellung der Regierungszeit Karls des Großen (747–814) erkennen.188 Für Tyndale ist Karl der Prototyp eines Herrschers, der mithilfe des Papsttums regiert und so zum Werkzeug der Kleriker wird.189 Die wechselseitige Bezogenheit von Papst und Kaiser fand ihren Ausdruck in der stetigen Vergrößerung und Festigung der politischen Macht Karls bis hin zur Kaiserkrönung durch Leo III. im Jahr 800. Dass der Papst Karl als „christlichsten König“ titulierte – Tyndale ergänzt ironisch: „as the last Leo called our king ‚The defender of the faith’“ 190 –, habe den weltlichen Herrscher zum Gehorsam gegenüber dem römischen Bischof verpflichtet.191 Ausführlich breitet Tyndale außerdem vor seinen Lesern aus, dass bereits Karl mit dem Segen des Papstes seine Ehefrau verstieß, weil sie Tochter des lombardischen Königs und Kriegsgegners war.192 Die „Practice of Prelates“ 187  Vgl. Dick, Love, S. 84: „Tyndale sees the institution of clerical celibacy as another part of this strategy of expanding papal power by diminishing the significance of matri­ mony“. Tyndale bringt den Zwang zum Zölibat mit Bonifaz III. in Verbindung (vgl. Pre­ lates, PS 2, S. 258 f). Nach Einschätzung von Henry Walter (vgl. ebd., Anm. 5.) verwech­ selt Tyndale den Papst, der tatsächlich nur neun Monate des Jahres 607 regierte, mit dem heiligen Bonifatius. Es könnte aber m.E. auch sein, dass Tyndale hier das Reformpapst­ tum des 10. und 11. Jh. meint, wofür zum einen der Hinweis auf die Durchsetzung des Zölibats, zum anderen der Verweis auf das Schisma von West- und Ostkirche spricht, das sich unmittelbar anschließt (vgl. a.a.O., S. 259). Auch die Einsetzung der Bischöfe durch den Papst findet in diesem Zusammenhang Erwähnung (vgl. ebd.). 188  Vgl. Prelates, PS 2, S. 262–265; vgl. Nazarei, S. 24–27. 189  Vgl. Prelates, PS 2, S. 262: „After Pipine reigned his son the great Charles, whom we call Charlemagne, which knew no other god but the pope, nor any other way to ­heaven than to do the pope pleasure. For the pope served him for two purposes: one, to dispense with him for whatsoever mischief he did; another, to be established in the empire by his help: for without his favour he wist it would not be; so great a god was our holy pope become already in those days“. 190  A.a.O., S. 264. 191  Vgl. ebd.: „So, now, above seven hundred years, to be a christian king is to fight for the pope; and most christian, that most fighteth, and slayeth most men for his pleasure“. Scharf kritisiert Tyndale die Herrschaftsausübung Karls und seine vermeintliche „Größe“. Die Schwertmission des Frankenkaisers ist für ihn mit dem Ideal der Mission durch das Wort Christi nicht vereinbar; vgl. ebd.: „he compelled them with violence unto the faith of Christ, say the stories. But, alas! Christ’s faith, whereunto the Holy Ghost only draweth men’s hearts through preaching the word of truth, and holy living according thereto, he knew not; but unto the pope he subdued them, and unto his superstitious idolatry which we use clean contrary unto the scripture“. 192  Vgl. ebd.; vgl. Boehrer, S. 265: „This reference to kingly titles is Tyndale’s first overt comparison between Henry VIII and Charles the emporer-tyrant, yet the pattern of parallels in Tyndale’s prose has been building steadily, and continues to do so. The result

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bestand für ihn also schon immer darin, fürstliche Ehen zu zerstören, um der eigenen politischen Ziele willen.193 Zur abschließenden Bewertung seines historischen Rückblicks wählt Tyn­ dale ein Bildwort,194 das seiner Leserschaft das Gesagte noch einmal anschau­ lich machen soll. Er vergleicht das Papsttum in seinem Verhältnis zu welt­ licher Macht mit der Art und Weise, wie sich der Efeu seiner Wirtspflanze bemächtigt: Wie der Efeu ein zunächst unscheinbares Gewächs ist, war auch das Papsttum in seinen Anfängen ein kleines und verwundbares Phänomen. Wie die Pflanze suchten auch die Päpste stets nach einem Wirt, bei dem sie Schutz und Lebensraum erhielten. Beides fanden sie in Gestalt des Kaiser­ tums. Und ebenso wie Efeuranken sich immer mehr des Baumes bemächti­ gen, auf dem sie leben, bis dieser schließlich aller Nährstoffe entzogen unter der Last des Parasiten abstirbt, entwickelte sich auch die Geschichte von Papstund Kaisertum.195 Bilanzierend identifiziert Tyndale daher die Herrschaft des Papsttums mit der des Teufels über das „Königreich der Welt“ (Mt 4,8 ff) und polemisiert gegen den angeblichen vicarius Christi:  

„Und so hat der Papst, der Vater aller Heuchler, mit Falschheit und Tücke die Ord­ nung der Welt pervertiert und den Baum von den Wurzeln auf die Krone gestellt und das Königreich Christi abgesetzt und das Königreich des Teufels errichtet, dessen Die­ ner er ist“196.

will be that Henry’s matter is prejudged before its introduction; the theological niceties of the Henricians are nullified by historical precedent“. 193  Vgl. Prelates, PS 2, S. 264: „therefore the pope, with his authority of binding and loosing, loosed the bonds of matrimony (as he hath many other since, and daily doth for like purposes), to the intent that he would with the sword of the French king put the king­ dom of Lombardy, that was somewhat too nigh him, out of the way“. Tyndale nennt in „Prelates“ als weitere Beispiele für diese klerikale Praxis die englischen Könige Heinrich VI. und Eduard IV. (vgl. a.a.O., S. 303 f.319 f; dazu auch Dick, Love, S. 82 f). Tyndales aufmerksamen Leser werden freilich die Parallelen zur englischen Gegenwart nicht ent­ gangen sein (vgl. Boehrer, S. 266: „Certainly Tyndale was invoking the figure of Char­ lemagne as a cautionary example for Henry“). Interessant ist, dass Tyndale die Machen­ schaften der Kleriker zusätzlich mit Hinweisen auf Hexerei und Homosexualität umgibt, also schlechthin (vermeintlich) sündige Praktiken. (vgl. Prelates, PS 2, S. 265, dazu auch Dick, Love, S. 83: „The prelates’ secret campaigns to weaken princes and destroy their marriages are augmented by the employment of witchcraft, often associated in Tyndale’s accounts with homosexuality“). 194  Vgl. Prelates, PS 2, S. 270–274: „A proper similitude to describe our holy Father“; vgl. Nazarei, S. 26 f; vgl. dazu auch McDiarmid, S. 37–40. 195  Analoges geschah für Tyndale durch das Wirken papstkirchlicher Würdenträger auch in den übrigen christlichen Königreichen. 196  Prelates, PS 2, S. 273: „And thus the pope, the father of all hypocrites, hath with falsehood and guile perverted the order of the world, and turned the roots of the trees up­ ward, and hath put down the kingdom of Christ, and set up the kingdom of the devil, whose vicar he is“.

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5.2.6.2  Folgen der Entwicklung der Papstkirche Ausgehend von der Beschreibung dieser Genese der (Un-) Ordnung, die das Papsttum der Welt aufgezwungen hat, wendet sich Tyndale nun – ohne Rück­ griff auf seine Vorlagen – den daraus resultierenden Folgen für die Christen­ heit zu. Dabei nimmt er zum einen die äußeren Strukturen der Kirche in den Blick,197 zum anderen untersucht er die Begründungszusammenhänge, wel­ che die Papstkirche selbst zur Legitimation von Lehre und Handeln aus der Schrift entnehmen zu können glaubt.198 In einer brillant bösartigen Polemik nimmt Tyndale die Geschichte von der Versuchung Christi durch den Satan (Mt 4) auf und setzt an die Stelle des Teufels den Papst. Er ist derjenige, der als erster den Versuchungen weltlicher Macht erlegen ist und sich nun bemüht, andere mithilfe irdischer Versprechungen zum Abfall zu bewegen.199 Zu de­ nen, die seinen Verlockungen erlegen sind, zählt Tyndale Geistliche und Or­ densleute ebenso wie Herrscher, Huren, Diebe und Mörder.200 Sie alle wollen an der Herrschaft des Papstes über die Welt partizipieren und werden so zum Teil der teuflischen Allianz gegen das Wort Gottes. Aus dem Fundus antiklerikaler Kritik an der Papstkirche schöpfend, sieht Tyndale im Auftreten von Priestern, Diakonen, Mönchen und Bettelmön­ chen eine historische Abfolge immer neuer Korrumpierungen durch welt­ liche Verlockungen.201 Allesamt waren und sind die Kleriker nach seiner Meinung allein darauf aus, das Laienvolk auszubeuten und ihre eigenen Schätze zu mehren. Mithilfe legalistischer Festschreibungen versuchten die Päpste, die von ihnen usurpierte Macht zu sichern, wie Tyndale insbesondere anhand der gefälschten sog. „Konstantinischen Schenkung“ aufzeigt.202 197  Vgl. die Kapitelüberschriften: „How the pope receiveth his kingdom of the devil, and how he distributeth it again“ (a.a.O., S. 274) und „How the Pope made him a law, and why“ (a.a.O., S. 278). 198  Vgl. das Kapitel „How the pope corrupteth the scripture, and why“ (a.a.O., S. 280). 199  Vgl. a.a.O., S. 274: „Shortly, the kingdoms of the earth and the glory of them, which Christ refused, (Matt. iv.) did the devil proffer unto the pope; and he imeediately fell from Christ, and worshipped the devil, and received them […] And the pope, after he had received the kingdom of the world of the devil, and was become the devil’s vicar, took up in like manner all Christendom on high, and brought them from the meekness of Christ to the high hill of the pride of Lucifer, and shewed them all the kingdoms of the earth“. Die explizite Benennung Lucifers als „Pate“ des Papsttums erinnert stark an die Darstellung in „Vom alten und neüen Gott“ (vgl. z.B. Nazarei, S. 4). Hier wird die Ge­ schichte der Welt als dualistischer Kampf Gottes gegen den Teufel verstanden, was Tyn­ dale in seiner Adaption sonst nicht übernimmt. 200  Vgl. Prelates, PS 2, S. 274 f. 201  Vgl. a.a.O., S. 277: „As soon as the monks were fallen, then sprang these begging friars out of hell, the last kind of caterpillars“. Zur Rolle der Mönche in Tyndales Polemik vgl. Coogan, Franciscans, besonders S. 223–226. 202  Zur Aufdeckung der Donatio Constantini als Fälschung durch Lorenzo Valla (1405/1407–1457), vgl. Seebass, S. 74; Hartmann, Sp. 1620; Zschoch, Mittelalter,

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Wann immer die Herrschenden ahnten, dass sie in Wirklichkeit nur Gott und keiner irdischen geistlichen Autorität verantwortlich seien, so Tyndale, hielt ihnen das Papsttum falsche Beweise („false expositions“203) aus der Schrift vor, um sie weiter in Abhängigkeit zu halten. Diese zur Legitimation des Papsttums angeführten Schriftbelege (Joh 20,21 ff; Mt 16,18; 28,18 ff; 18,21) verwirft Tyndale jedoch mithilfe der schon an anderer Stelle formu­ lierten reformatorische Auslegung.204 Zusätzlich zu den exegetischen fügt Tyndale historische Argumente an, welche die Autorität des Papsttums fraglich machen. Er bezweifelt eine Vor­ rangstellung des Petrus innerhalb der römischen Gemeinde und unter den ersten Bischöfen. Petrus sei, falls er sich überhaupt je in Rom aufgehalten habe („if he ever came thither“205), nur einer unter Gleichen gewesen, der insbe­ sondere Tyndales „Lieblingsapostel“ Paulus in Rang und Bedeutung nicht überlegen war.206 Auch dass Rom als Ort des Martyriums des Petrus eine be­ sondere Rolle zukomme, hält Tyndale für unsinnig, da nach dieser Logik ei­ gentlich Jerusalem als Todesort Christi einen noch höheren Rang haben müsste.207  



S. 271 f. Tyndale führt an, dass einem „holy man“ (Prelates, PS 2, S. 279) wie Papst Sylves­ ter die Mitwirkung an einer solchen Fälschung schlicht nicht zuzutrauen sei. Außerdem lässt sich auch nach dem Datum der angeblichen Machtübertragung vom Kaiser auf den Papst noch immer die oberste Autorität des Kaisers auch über die Kirche belegen (vgl. ebd.). Schließlich gibt es keine zuverlässige historische Quelle, die die Schenkung Kon­ stantins bezeugt (vgl. ebd.). 203  Prelates, PS 2, S. 280. 204  S.o. 3.3.7.1; vgl. a.a.O., S. 281 f. Christi Auftrag an Petrus (Joh 21,15 ff), seine Schafe zu weiden, versteht Tyndale als Dienst, zu dem alle Glaubenden berufen sind. Das „Felsenwort“ (Mt 18,16) bezieht er auf das Bekenntnis zu Christus. Entsprechend ist die Petrus zugesagte Binde- und Lösegewalt keine weltliche Macht, sondern geschieht durch die Predigt von Gesetz und Evan­ge­lium. Unter der Christus gegebenen „Gewalt im Him­ mel und auf Erden“ ist die „power to save sinners“ (a.a.O., S. 282) zu verstehen, die durch das Mittel der Predigt ausgeübt wird. 205  A.a.O., S. 285. Die Frage, ob Petrus überhaupt je in Rom gewesen ist, war durch eine diesen Umstand bestreitende Schrift des Böhmen Ulrich Velenus von 1520 in der Diskussion, in der sich 1522 auch John Fisher zu Wort meldete, vgl. dazu Zschoch, Re­ formatorische Existenz, S. 34 f. 206  Sogar das Kirchenrecht bestätigt für Tyndale diese Beobachtung, da die kirchen­ rechtliche Formulierung sich auf „Peter und Paul“ beruft, vgl. Prelates, PS 2, S. 285, Anm. 5. 207  Im Grunde ist ihm auch hier jede Verehrung bestimmter Orte fragwürdig, vgl. a.a.O., S. 285: „But what hath Christ’s invisible kingdom to do with places? Where Christ’s gospel is, there is his power full and all his authority, as well in one place as in an­ other“. Auch die auf Mt 32,2 zurückgehende Rede vom „Stuhl Petri“ deutet Tyndale im Sinne von Mt 23,4 („Stuhl des Moses“) als Synonym für die Lehre des Apostels, die auf Christus verweist, vgl. a.a.O., S. 286: „Even so Peter’s seat is Peter’s doctrine, the gospel of Christ, which Peter taught. And the same doctrine is Peter’s keys: so that Peter’s seat, Peter’s keys, and Peter’s doctrine is all one thing“.

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Die Anerkennung des Papsttums durch die Autorität der Konzilien lässt Tyndale ebenfalls nicht gelten, da diese vom Papst einberufenen Versamm­ lungen von Klerikern doch allein dem Zweck dienten, die päpstliche Auto­ rität durch Lehrentscheidungen zu untermauern, die nicht durch die Schrift gedeckt seien.208 Das Konzil maßt sich damit eine verbindliche Auslegungs­ kompetenz an, die nicht schriftgemäß ist. Dadurch verstellt es den Zugang zum Evan­ge­lium Christi, dem „kingdom of heaven“209. Tyndale konsta­ tiert: Wer immer die Abwendung von der Schrift unterstützt und die päpst­ lichen Privilegien bestätigt, kann sich der Belohnung durch den Papst sicher sein.210 5.2.7  Gegenwartsanalyse 5.2.7.1  Vorgeschichte: „An example of practice out of our own chronicles“ und „By what craft the pope keepeth the emporer down“ Seine grundlegenden Beobachtungen zur „Praxis der Prälaten“ macht Tyn­ dale anhand zahlreicher Beispiele aus der englischen und europäischen Ge­ schichte anschaulich, um schließlich auf die aktuelle Situation im England seiner Tage einzugehen. In immer neuen historischen Konstellationen ent­ deckt er die stets gleichen typischen Handlungsweisen („practice“) der Kleri­ ker, die Mächtigen zu manipulieren und so zugleich den Auftrag Christi zu verraten.

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Tyndale ironisiert die Haltung der Konzilsväter zur Schrift wie folgt: „If thou ask where is the scripture to prove it? they answer, ‚We be the church, and cannot err; and therefore,‘ they say, ‚what we conclude, though there be no scripture to prove it, it is as true as the scripture, and of equal authority with the scripture, and must be believed as well as the scripture under pain of damnation‘“ (ebd.). Er vergleicht das Konzil mit einem Kloster, in dem die neu eingetretenen eifrigen Mönche ihre älteren, bereits verweltlich­ ten, Brüder zur Einhaltung der Mönchsregel drängen, darauf jedoch als Antwort erhal­ ten, sie alleine könnten diese Regel verbindlich auslegen, vgl. a.a.O., S. 290: „Ye cannot understand them except we expound them unto you“. 209  Ebd. Dass der Zugang zum Wort Gottes verbaut ist, erfährt auch derjenige, der ein Studium an der Universität beginnt, vgl. a.a.O., S. 291: „And then, when they be ad­ mitted to study divinity, because the scripture is locked up with such false expositions, and with false principles of natural philosophy, that they cannot enter in, they go about the outside, and dispute all their lives about words and vain opinions“. 210  Als Beispiele nennt Tyndale Thomas von Aquin (vgl. a.a.O., S. 291: „Then came Thomas de Aquino, and he made the pope a God with his sophistry; and the pope made him a saint for his labour“) und Thomas Beckett (1118–1170), vgl. a.a.O., S. 292: „And in like manner, whosoever defendeth his traditions, decrees, and privileges, him he made a saint for his labour, were his living never so contrary unto the scripture; as Thomas of Canterbury“.

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Beginnend mit der Zeit der normannischen Eroberung im 11. Jahrhun­ dert211 über das Hoch- und Spätmittelalter212 werden die von Tyndale her­ angezogenen Beispiele immer zahlreicher, je mehr er sich seiner eigenen Epoche nähert. Mores Biograph Richard Marius charakterisiert „Prelates“ darum zwar etwas überspitzt, aber mit Blick auf diese Passagen durchaus zutreffend, als „ein[en] verblüffende[n] Versuch, die englische Geschichte als einen Kampf auf Leben und Tod zwischen den tugendhaften englischen Königen und den bösen Päpsten und englischen Bischöfen darzustellen. Kardinal Wolseys Machenschaften erscheinen als das Ende einer jahrhun­ dertelangen Ver­schwö­rung“213. 211  Tyndales Beispielreihe beginnt mit dem normannischen Erzbischof von Canter­ bury, Robert von Jumièges (gest. 1055), der sich – vom angelsächsischen König Harold (1022–1066) verbannt – auf die Seite Wilhelms des Eroberers (1027–1087) schlug und ihm zugleich die Unterstützung des Papstes sicherte, um an christlichen Brüdern ein Blutbad zu vollstrecken (vgl. Krieger, S. 82 f). Im Gegensatz zur Auffassung von Smeeton, Lol­ lard Themes, S. 222, liegt Tyndales Fokus hier m.E. aber nicht auf einem englischen Na­ tionalismus, sondern vielmehr auf der prinzipiellen Ablehnung von Gewalt unter Chris­ tenmenschen. Zwar sieht auch Smeeton selbst diese Tendenz, er erkennt aber auch darin einen lollardischen Hintergrund aufgrund von Motivübereinstimmungen (vgl. a.a.O., S. 237: „Many of his passages on war sound like a revocalization of Lollard concerns“). Seine Deutung blendet aus, dass Tyndale in seiner Ablehnung von Krieg und Gewalt un­ ter Christen schlicht dem „Mainstream“ der Reformation folgt, vgl. WA 19. S. 648,13 f (Ob Kriegsleute, 1526): „Ein iglicher herr und Fuerst ist schueldig, die seinen zu schuetzen und yhn friede zu schaffen. Das ist sein ampt, dazu hat er das schwerd“ (dazu Althaus, Ethik, S. 142: „Luther lässt nur den von einem Angreifer aufgezwungenen Verteidigungs­ krieg gelten“). Zu Bucers Position, die der Tyndales noch näher kommt, vgl. Koch, S. 162: „Zwischen Christen kann es keinen Krieg geben, da unter ihnen die größte Liebe herrscht. Darum sind Kriege, die christliche Fürsten führen, um ihre Herrschaft auszu­ dehnen, heidnische Kriege, durch die die Kriegführenden sich offensichtlich vom Wort und der Furcht Gottes entfernt haben“. 212  Tyndale nennt die Intervention Innozenz III. bei der Wahl Stephen Langtons (ca. 1150–1228) zum Erzbischof und die Exilierung Erzbischof Thomas Arundels (1353–1414) durch König Richard II. (vgl. Prelates, PS 2, S. 295; dazu auch Krieger, S. 144.206 f). In diesem Zusammenhang erwähnt Tyndale auch kurz die Predigt Wyclifs als positive ge­ genläufige Entwicklung zu den Intrigen der Papstkirche und erster Ausdruck des wahren Glaubens, vgl. Prelates, PS 2, S. 296: „They could not at their own lust slay the poor ­wretches which at that time were converted unto repentance and to the true faith, to put their trust in Christ’s death and blood-shedding for the remission of their sins, by the preach­ing of John Wicliffe“. M.E. will Tyndale hier die Verfolgung der Schrifttreuen als eine bis in die Gegenwart andauernde Praxis herausstellen, wie die folgende Passage zeigt, vgl. a.a.O., S. 297: „And they [d.i. die Prälaten] coupled their cause unto the king’s cause (as now), and made it treason to believe in Christ as the scripture teacheth, and to resist the bishops (as now), and thrust them in the king’s prisons (as now), so that it is no new inven­ tion that they now do, but even an old practice“ (anders: Smeeton, Lollard Themes, S. 75). 213  Marius, Morus, S. 484 f. Auf das Ganze von „Prelates“ übertragen, übersieht diese Einordnung freilich, dass Tyndale auch die englischen Könige, bis hin zu Heinrich VIII., kritisierte.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Vor allem in den Wirren, die der Hundertjährige Krieg (1337–1453) und die Rosenkriege (1455–1485) England brachten, sieht Tyndale eine HochZeit papstkirchlicher Intrige. Mithilfe ihres Einflusses auf die Masse des Vol­ kes sowie ihres internationalen Netzes kirchlicher Informationskanäle und dem daraus resultierenden Kommunikationsvorsprung seien die Kleriker im­ mer wieder in der Lage gewesen, die politischen Geschicke Englands nach ih­ rem Gutdünken zu lenken.214 Tyndale findet Beispiele dafür in der Verschwörung gegen König Ri­ chard II. (1367–1400),215 die dem Earl of Derby als Heinrich IV. (1367–1413) auf den Thron verhalf und im Fall des Herzogs Humphrey von Gloucester (1390–1447), der in den Tagen Heinrichs VI. dem Ränkespiel seines Groß­ onkels, Henry Kardinal Beaufort, Bischof von Winchester (1374–1447), zum Opfer fiel.216 Besonders die politische Unzuverlässigkeit der Päpste will Tyndale heraus­ stellen, die nach seiner Auffassung stets bereit sind, zur Sicherung des eigenen Vorteils neben politischem auch religiösen Druck auf Gegner und Verbün­ dete auszuüben, etwa durch die Verhängung des Interdikts.217 Das Papsttum steht darum als maßgeblicher Lenker hinter den Kriegen und Konflikten zwischen den europäischen Nationen, insbesondere hinter den – für Tyndales Leser besonders nahen – Auseinandersetzung zwischen England und Frank­ reich.218 Bis in die Tage von Heinrich VII., dem Vater des regierenden Mon­ archen, zeichnet Tyndale den päpstlichen Einfluss nach, um daran nahtlos seine eigene Zeit und denjenigen der Agenten Roms darzustellen, den er für den schlimmsten von allen hält: Kardinal Wolsey.

214  Vgl. Prelates, PS 2, S. 296: „They can inspire privily into the breasts of the people what mischief they list, and no man shall know whence it cometh. Their letters go secretly from one to another throughout all kingdoms“. 215  Vgl. Krieger, S. 205 ff. Dieser Richard ist derselbe, den Tyndale zugleich negativ mit der Exilierung Erzbischof Thomas Arundels in Verbindung bringt, vgl. Prelates, PS 2, S. 295; vgl. dazu auch Clark, Corrupt Prelates, S. 292 ff. 216  Dass Tyndale ausgerechnet diese beiden Beispiele zur Illustration seiner These aus­ wählt, ist interessant, da es sich sowohl bei Richard II. wie auch Humphrey von Glouces­ ter um altgläubige Adlige handelte, nicht etwa um Unterstützer der Lollardenbewegung; vgl. Rex, Lollards, S. 82 ff; Clark, Corrupt Prelates, S. 294–298; Krieger, S. 220 f. 217  Vgl. Prelates, PS 2, S. 299 f. 218  Erneut führt Tyndale zur Untermauerung seiner These zahlreiche Beispiele aus den Regierungszeiten der Könige Heinrich V., Heinrich VI., Eduard III., bis hin zu Hein­ rich VII. an (vgl. a.a.O., S. 302–306; dazu auch Krieger, S. 209–235). Clark, Corrupt Prelates, S. 288, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Tyndales Geschichtsdarstellung deutliche Parallelen zur Darstellung der englischen Monarchen in Shakespeares Dramen aufweist, dem „Prelates“ evtl. als Vorlage diente.

5.2  „The Practice of Prelates“

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5.2.7.2  „The practice of our time“ Die englische Politik unter der Ägide Kardinal Wolseys.  „Thomas Wolfsee, a man of lust and courage and bodily strength, to do and to suffer great things, and to endure in all manner voluptuousness“ 219 – So stellt Tyndale unter Verball­ hornung des Namens seinen Lesern den einflussreichsten Kleriker des Landes vor und charakterisiert ihn zugleich als geborenen Intriganten, der sich durch Eloquenz und Überzeugungskraft die Gunst des Königs erschlichen hat. In Wolseys Gestalt kulminieren für Tyndale die Einflussnahme der Kirchenver­ treter auf die Politik und die damit verbundene Vermischung der beiden Rei­ che. In ihm als dem Inbegriff des machtsüchtigen Prälaten sieht Tyndale den maßgeblichen Hintermann der angestrebten Scheidung Heinrichs von Ka­ tharina: Wolsey ist der „gerissene Wolf“ („wily wolf “ 220) und der personifi­ zierte Untergang Englands („shipwreck of all England“ 221), der es in vielfäl­ tiger Weise verstanden hat, bei Hofe aufzusteigen und sich mehr und mehr Einfluss zu sichern.222 Tyndale geht sogar so weit, als Grundlage von Wolseys Einfluss Hexerei („craft of necromancy“223) am Werk zu sehen, mit deren Hilfe er den König von sich abhängig gemacht habe. Auf Wolseys Einfluss ist für Tyndale die aktuelle politische Lage Englands im Kräftespiel zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Frankreich und dem Papst zurückzuführen. Vor allem die Bündnispolitik des Königs – mal zugunsten der Habsburger, mal zugunsten Frankreichs – ist Tyndales Thema, denn an ihr meint er ablesen zu können, dass Wolsey seinen Einfluss stets zu­ gunsten seiner selbst und des Papstes, nicht jedoch zum Wohle Englands aus­ geübt habe.224 In allen wichtigen Ereignissen und Entwicklungen der Regie­ rungszeit Heinrichs VIII., die er an seiner Leserschaft vorüberziehen lässt, sieht Tyndale Kardinal und Papst am Werk (und überschätzt dabei den tat­ 219  Prelates, PS 2, S. 307; zu Wolsey vgl. auch H.M. Smith, S. 3–17; Clark, Corrupt Prelates, S. 299–305. 220  Prelates, PS 2, S. 307. 221  Ebd. 222  Tyndale nennt die Positionierung von Günstlingen, insbesondere von Geistlichen als Beichtväter, an allen entscheidenden Stellen des Hofes als Methode der Machtsiche­ rung des Kardinals, der sich damit unmittelbaren Zugang zu allen Informationen und den alles entscheidenden Zugang zum König sicherte (vgl. a.a.O. S. 308 ff). 223  A.a.O., S. 308. 224  Insbesondere die Politik des Ausgleichs mit Frankreich und die Distanzierung von den Habsburgern, für die Wolsey tatsächlich, wenn auch aus nachvollziehbaren politi­ schen Motiven, eintrat, hält Tyndale für grundfalsch. Für ihn steht hinter den Verständi­ gungsversuchen mit dem „Erzfeind“ Frankreich die Sorge des Papstes vor der Macht der Habsburger und dem Wiederaufflammen kaiserlicher Kritik am Papsttum, vgl. Wyly, S. 265: „Tyndale’s analysis is colored by the traditional English enmity toward France which Wolsey was trying to relieve, and by failure to understand that Wolsey was att­ empting something new and different in European diplomacy“ (vgl. dazu Prelates, PS 2, S. 312).

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sächlichen Einfluss Wolseys gewaltig).225 Bis in ihre eigene Gegenwart hinein und sozusagen bis vor die eigene Haustür sollen die Leser so die verhängnis­ volle Macht der papstkirchlichen Prälaten nachvollziehen können. So deutet Tyndale die Eheschließung von Heinrichs Schwester Mary Rose mit Ludwig XII. von Frankreich 1514, für die ein päpstlicher Dispens von ih­ rer bereits in Kindertagen geschlossenen Ehe mit Karl von Spanien nötig war, als dunkles Vorzeichen der gegenwärtigen Problematik.226 Zugleich bezich­ tigt er Wolsey einer geheimen Doppelstrategie, sich – ungeachtet der neuen Allianz mit Frankreich – auch bei den Habsburgern einzuschmeicheln. Insbe­ sondere die von Wolsey arrangierten Treffen des Jahres 1520 zwischen Franz I. von Frankreich und Heinrich in Guines (sog. „Field of Cloth of Gold“)227 sowie die Zusammenkunft Wolseys selbst mit dem jungen habsburgischen Kaiser in (dem damals noch englischen) Calais und den Besuch Karls V. bei König Heinrich in Canterbury im selben Jahr, deutet Tyndale im Sinne einer doppelten Bündnispolitik des Kardinals. Sie sollte weniger England dienen, als vielmehr den Ambitionen des Kardinals auf das Papstamt Vorschub leis­ ten.228 Nur der überraschende Sieg der kaiserlichen Truppen über die Franzo­ sen bei Pavia (1525) und die Gefangennahme Franz I. brachten den Verrat Wolseys am Kaiser ans Licht.229 Die schlichte Quintessenz der politischen Analyse Tyndales lässt sich mit Wylys Worten wie folgt zusammenfassen: „In sum, all the intrigues of diplo­ macy and battle are explained by the simple premise that Wolsey’s overriding aim was to serve the pope’s interests by secretly opposing Charles“230. Ursachenforschung zur Scheidungsfrage: „Why the queen must be divorced“.  Das zerstörte Verhältnis zum Kaiser und die darum umso nötigere enge Bindung an Frankreich sieht Tyndale als die wahren Gründe dafür an, dass die Schei­ dung bzw. Annullierung der königlichen Ehe ins Gespräch gekommen ist. 225  Vgl. Prelates, PS 2, S. 310–322. Zur Frage, inwieweit Tyndales Analysen Anhalt an der Realität hatten vgl. Wyly, S. 262: „Tyndale traces papal dominance over nearly two decades of English foreign affairs, including Henry’s wars with France, the marriage of Henry’s sister Mary, the Field of Cloth of Gold, and Wolsey’s famous European mission in 1521. In virtually all of the instances, he exaggerates papal influence“. 226  Vgl. Prelates, PS 2, S. 313: „And as the gods had spoken, so it came to pass. Our fair young daughter was sent to the old pocky king of France, the year before our mortal enemy“; dazu auch Bernard, S. 4; H.M. Smith, S. 7. 227  Vgl. Wyly, S. 264 f. 228  Vgl. Prelates, PS 2, S. 316 f: „And thus the cardinal was the emporer’s friend openly, and the French king’s secretly […], yet for no love of that he had to France, but to help the pope; yea, and to have been pope haply, and to save their kingdom“; dazu auch Wyly, S. 266. 229  Vgl. Prelates, PS 2, S. 319: „And from that time hitherto the emporer and our cardi­ nal have been twain“. 230  Wyly, S. 266 f.

5.2  „The Practice of Prelates“

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Die Scheidungsfrage ist für ihn nicht Ausdruck eines persönlichen Wunsches des Königs aus Sorge um seine Dynastie, sondern Teil des politischen Ränke­ spiels Wolseys: „he inspired the king that the queen was not his wife“231. Um Heinrich durch eine Heirat mit der Schwester Franz I. noch enger an Frankreich zu binden, begannen die Gelehrten, Tyndale zufolge, im Auftrag des Kardinals mit der Suche nach möglichen Gründen für eine Auflösung der bestehenden Ehe des Königs.232 Doch auch wenn das Ergebnis schnell fest­ stand – „Finally it is concluded that the queen is not his wife“233 – musste die Eheschließung mit Margarete von Frankreich zunächst verschoben werden, weil weitere Verhandlungen mit der französischen Seite nötig waren.234 Zu­ gleich verstärkte Wolsey seine Bemühungen, selbst zum Papst gewählt zu werden – ein Ansinnen, das Tyndale mit einer wüsten Beschimpfung Wol­ seys als „missgestaltetes Monster […] aus einem Misthaufen“ („misshapen monster […] out of a dunghill“235) kommentiert. Tyndales vehementes literarisches Vorgehen gegen Wolsey steht im schar­ fen Kontrast zur nahezu völligen „Verschonung“ des Königs. Heinrich wird in „Prelates“ nie zum direkten Gegenstand der Kritik Tyndales. Er erscheint vielmehr als Opfer des übermächtigen Kardinals und damit – wie nach Tyn­ dales Diktum alle Fürsten – als Spielball in den Händen des Papsttums. Hatte Tyndale in früheren Schriften durchaus auch mahnende Worte an die welt­ lichen Herrscher und damit implizit auch an seinen eigenen Monarchen gerichtet,236 bleibt er in „Prelates“ erstaunlich zahm. Bestimmendes Deu­ 231  Prelates, PS 2, S. 319. Tatsächlich war Heinrich Wolseys Haltung in der Schei­ dungsfrage zu zögerlich, was letztendlich dessen Sturz herbeiführte. Wyly, S. 268, be­ merkt treffend: „Rather than having instigated the divorce, Wolsey eventually became a victim of it“. 232  Vgl. Prelates, PS 2, S. 320: „And then the cardinal’s doctors laid their heads together so seek subtle arguments and riddles to prove his divorcement“. 233  Ebd. 234  Tyndale sieht als Grund dafür vor allem die Standfestigkeit und Rechtgläubigkeit der königlichen Schwester Franz’ I., vgl. a.a.O., S. 321: „the French king’s sister knew too much of Christ to consent unto such wickedness“. 235  Ebd.; Tyndale überliefert einen vermeintlichen Brief des Kardinals an Karl V., der seine Skrupellosigkeit und den Vaterlandsverrat offensichtlich machen soll, vgl. a.a.O., S. 321 f: „the cardinal wrote to the emporer that he should make him pope […] that if he would not make him pope, he would make such ruffling between christian princes as was not this hundred years, to make the emporer repent: yea, though it should cost the whole realm of England“; vgl. dazu auch Kinney, S. 278 f. 236  S.o. 3.3.6. Boehrer, S. 259, vergleicht Tyndales kritische Äußerungen in „Obe­ dience“ mit seinen Aussagen in „Prelates“ und kommt zu dem Schluss: „Are we to believe that the man who wrote these words could, two years later, wholeheartedly assert Henry to be a pure and virtuous prince in the grips of evil counsellors? Far likelier is the explana­ tion that Tyndale hit at Wolsey because he was an easier mark than Henry, and because an attack on prelacy was more congenial to Tyndale’s politics than was open sedition“. Gegen diese Annahme spricht jedoch das von Vaughan überlieferte Verhalten Tyndales (s.o. 5.1.1).

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tungsprinzip Tyndales ist das unheilvolle Wirken des Antichrist in Gestalt des Papsttums zu Lasten der weltlichen Obrigkeiten.237 Aufgrund seiner Rezeption der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers blieb Tyndale jedoch mit Blick auf die religionspolitische Situation in England auch gar keine andere Option, als den König zu idealisieren.238 Die „Schonung“ des Königs war nicht nur psychologisch verständliche, sondern auch logische Konsequenz seiner Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt, die zwar von einer prinzipiellen Trennung beider Bereiche ausging, jedoch in der Not­ situation, nämlich dem Versagen der Geistlichkeit, den weltlichen Herrscher als „Retter“ der christlichen Gemeinde verstand. Wer wäre aus Tyndales Per­ spektive in der Lage gewesen, eine Wendung zum Besseren für die Evangeli­ schen im Land herbeizuführen und zumindest die Schrift in der Volkssprache zuzulassen, wenn nicht der von Gott eingesetzte Regent? Von daher kann man „Prelates“ auch lesen als Appellation a rege male informato ad regem melius informandum.239 König Heinrich wäre dann tatsächlich der wichtigste Adres­ sat Tyndales.240 Appell an den König.  Ohne weitere Polemik wendet sich Tyndale der sensiblen Kernproblematik seiner Schrift zu, die er in ihrem Untertitel bereits formu­ liert hat: „Whether the kinge’s grace maye be separated from hys quene, be­ cause she was his brother’s wyfe“. Seine Argumentation ist streng theologisch und beruft sich auf die Schrift. Die Vermutung liegt nahe, dass er durchaus im Sinn hatte, seinen König durch den Schriftbeweis davon zu überzeugen, dem Treiben der klerikalen Befürworter der Ehescheidung ein Ende zu machen und sich nicht von der Königin zu trennen.241 So mahnt schon der erste Satz des Kapitels Heinrich zur eigenen Urteilsbildung:

237  Vgl. Wyly, S. 272: „Tyndale had an insufficient appreciation of contemporary p­ ower politics, of Henry’s own intermingled personal and political motives, and of Wolsey’s innovations and gambles in foreign policy […] When Tyndale was unsure of the true significance of some event, he was prepared to assume the worst because he was sure that in exposing the work of the papal Antichrist the worst mus be true“. 238  S.o. 3.4.3.1. 239  Vgl. Luthers Appellation „a papa male informato ad papam melius informandum“ (WA 2, S. 32,30–33,8, Appellatio M. Lutheri a Caietano ad Papam, 1518); vgl. Brecht, ­Luther I, S. 249. 240  Vgl. Almasy, Prelates, S. 7: „Indeed, the text soon becomes a supplication to the king, written less to convict the king – say as Nathan convicts David – and more to excite the king to action“; vgl. dazu auch Clark, Prelates, S. 105 f. 241  Vgl. Almasy, Prelates, S. 2: „The message seems straightforward. Now that Tyn­ dale has demonstrated to Henry how blinded he has been, especially by his trusted adviser Wolsey with his arguments on the divorce, the king has no choice but to rid England of this satanic prelacy“.

5.2  „The Practice of Prelates“

283

„Wenn seine erhabenste königliche Gnaden unbedingt eine andere Ehefrau nötig ha­ ben, dann lasst ihn die Gesetze Gottes durchforschen, ob es rechtmäßig ist, oder nicht, insofern er nämlich selbst getauft ist, die Gesetze Gottes zu befolgen und sie selbst vor­ gebracht und beschworen hat“242.

Diese Einleitungsformulierung ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: Ein­ mal fällt auf, dass Tyndale den König an seine aus der Taufe resultierenden Verpflichtung erinnert, Gottes Geboten gemäß zu leben. Auch der König steht also für ihn unter dem Gesetz und ist ihm verpflichtet. Das Reich der Welt ist darum kein herrschaftsfreier Raum, sondern ein Ort, in dem Gottes Ge­ setz gilt und vom König selbst, seinem Auftrag gemäß, zur Geltung gebracht werden muss.243 Er selbst kann darum – auch ohne den Rat seiner Kleriker – durch das Studium des Gesetzes erkennen, wie er sich zu verhalten hat. Außerdem legt Tyndales Formulierung des Problems („If the king’s most noble grace will needs have another wife“) nahe, dass er, was das persönliche Interesse Heinrichs an einer Auflösung seiner Ehe anging, durchaus nicht un­ bedarft war. Tyndale hielt es offensichtlich – ungeachtet des von ihm vermu­ teten Ränkespiels der Prälaten – nicht für unmöglich, dass auch der König selbst aktiv am Ende seiner Ehe mit Katharina arbeitete. Diese Möglichkeit brachte ihn als Autor von „Prelates“ natürlich in eine prekäre Situation, denn dann kritisierte er nicht nur die königlichen Ratgeber, sondern auch den Mo­ narchen selbst. Tyndale selbst thematisiert diese Problematik im Schlusspassus des Kapitels und stellt – gewissermaßen als Rechtfertigung seiner Ausführungen – he­ raus, dass er sich erst habe dazu durchringen müssen, sich überhaupt (und dann auch noch negativ) zur Frage der Scheidung zu äussern.244 Doch das Wissen um die Verdorbenheit der Kleriker ließ ihm keine andere Wahl, als dem König seinerseits ins Gewissen zu reden – zu offensichtlich war für ihn die sich wiederholende „Praxis der Prälaten“:

242  Prelates, PS 2, S. 323: „If the king’s most noble grace will needs have another wife, then let him search the laws of God, whether it be lawful or not, forasmuch as he himself is baptized to keep the laws of God, and hath proposed them and hath sworn them“. 243  Tyndales Ausdrucksweise lässt dabei an dieser Stelle offen, was mit den „laws of God“ gemeint ist. Er unterlässt es wie so oft, zwischen dem natürlichen Gesetz, das auch für Luther im weltlichen Regiment zu gelten hat (vgl. WA 16, S. 371,26–374,28, Unter­ richtung, 1525); vgl. Althaus, Ethik, S. 32–42; Lohse, Theologie, S. 291 ff) und dem mo­ saischen Gesetz zu unterscheiden (vgl. zu Bucer auch Koch, S. 73–77); s.u. 5.2.7.2. 244  Tyndale nimmt für sich in Anspruch, mit „gelehrten Männern“ Rücksprache ge­ halten zu haben (vgl. Prelates, PS 2, S. 332: „I communed with divers learned men of the matter, which also could tell me no other way than I have shewed“). Wen er meint, bleibt unklar, in Frage kommen reformatorisch gesinnte Freunde, möglich wären auch Kon­ takte zu Juden in Antwerpen. Es ist allerdings fraglich, ob er jüdische Gesprächspartner als „learned men“ tituliert hätte.

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„Dann erwog ich die Falschheit unserer Geistlichkeit, dass es nämlich für sie altherge­ brachte Vorgehensweise, allgemeiner Brauch, ja, sogar ein Sport ist, Ehen auseinan­ derzubringen und Spaltung zu bringen, wo eine Ehe in Einigkeit und Frieden besteht. Darum konnte ich nichts anders, als meine Meinung kundzutun und mein Gewissen zu erleichtern“245.

Tyndale begründet seine Unverfrorenheit, dem König den richtigen Weg zu zeigen, also mit der Berufung auf sein Gewissen, das gefangen ist in seiner Verpflichtung gegenüber Gott und seinem Gebot. Diese Verpflichtung hält er nun auch dem König vor: Als ein mit Glauben beschenkter Mensch kann und darf auch er nicht anders, als sein Leben an Gottes Gebot zu orientieren und im Gesetz nach Weisung für sein Leben, auch für sein Eheleben zu suchen: „Weder seine königliche Gnaden, noch ein anderer Christenmensch kann mit Recht mit mir unzufrieden sein. Denn es ist nicht möglich, dass eine Person, die im Herzen getauft ist mit der Reue alles Bösen und mit dem Glauben an die Vergebung im Blute Christi und mit der unerschütterlichen Absicht, von nun an den Spuren Christi zu fol­ gen im Gesetz Gottes, jemals begehrt oder wünscht, etwas öffentlich zu tun, das sie nicht in sorgfältiger Überlegung mit Gottes Gesetz verglichen hätte, um zu sehen, ob es rechtens ist oder nicht“246.

Tyndale tut mit seiner Stellungnahme zur Scheidungsfrage also nichts anderes als seine Christenpflicht, indem er dem König die Autorität der Schrift vor­ hält. Als ihr Ausleger ist er würdig, auch ein gekröntes Haupt zu mahnen. Of­ fenbar versteht sich Tyndale in der Rolle des von Gott gesandten Propheten, der in einem Meer von Stimmen als Einziger das Wort des Herrn ans Ohr des Königs trägt.247 Er vergleicht sich mit Johannes dem Täufer, der allein dem Tyrannen (!) Herodes widersteht, weil er das Wort Gottes, die höchste Autori­ tät überhaupt, auf seiner Seite hat.248 Bei Gottes Wort will Tyndale den König 245  Ebd.: „Then I considered the falsehood of our spirituality, how that it is but their old practice, and a common custom; yea, and a sport to seperate matrimony, for to make division where such marriage made unity and peace. Wherefore I could not but declare my mind, to discharge my conscience withal“. 246  Ebd.: „Neither can the king’s grace, or any other christian man, of right be discon­ tent with me. For it is not possible that any person baptized in the heart with repentance of evil, and with faith of forgiveness in the blood of Christ, and stedfast purpose and pro­ fession of heart to walk henceforth after the steps of Christ, in the law of God, should once desire or will to do aught openly, with long deliberation, that he would not have compa­ red with the law of God, to see whether it were right or not“. Man beachte die enge Ver­ bindung von „Taufe“ und „Herz“, die klarstellt, dass Tyndale hier nicht an die Wasser-, sondern an die Geisttaufe denkt. Die Formulierung lässt allerdings offen, ob auch Hein­ rich als ein solcher „Herzens-Christ“ gelten kann. 247  Tyndale bezeichnet sich (ebd.) als: „so vile a wretch as I am“, fährt aber fort: „I answer, that it is not my fault, but God’s, which for the most part even chooseth of the vi­ lest to confound the glorious“. 248  Vgl. Prelates, PS 2, S. 333: „And the glorious scribes and the Pharisees, for all their holiness, rebuked not Herod; nor Caiphas and Annas, for all their highness; but vile John the Baptist. By what authority? Verily by the authority of God’s word; which only,

5.2  „The Practice of Prelates“

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behaften und empfiehlt ihm, „a little treatise in print“249 zu veröffentlichen, um die theologischen Argumente für eine Auflösung der Ehe aus der Schrift darzulegen. Falls es solche jedoch nicht gibt, wie Tyndale selbst darlegen wird, soll er sich dem Willen Christi (Mk 10,9) bedingungslos unterwerfen und die Ehe mit Katharina aufrecht erhalten. Eine vor Gott geschlossene Verbindung ist auch mit dem Segen des Papstes nicht aufzulösen.250 Theologische Argumentation gegen eine Ehescheidung.  Gewissermaßen als Hilfe­ stellung für den König legt Tyndale die Schriftstellen aus, die Heinrichs Theologen zugunsten einer Annullierung der Ehe mit Katharina anführen.251 Er verzichtet dabei bewusst auf eine Argumentation mit dem Kirchenrecht und beschränkt sich auf die Schrift als einzig gültige Autorität. Am konkre­ ten Beispiel der beiden alttestamentlichen Gebote belegt er damit seine her­ meneutische Grundauffassung,252 dass die Schrift aus sich selbst heraus klar und verständlich ist und das Leben eines Christenmenschen einzig auf ihr ba­ sieren kann. Angesichts des offensichtlichen Gegensatzes zwischen den beiden Bibel­ stellen Lev 18,16 und Dtn 25,5 erinnert Tyndale seine Leserschaft an die drei grundlegenden Unterscheidungen innerhalb des mosaischen Gesetzes. Er un­ terscheidet die Zeremonialgesetze als die Vorschriften, die Israel durch „Zei­ chen“ („signs“), wie etwa das Passalamm, an Gottes Wohltaten erinnern soll­ ten, jedoch mit dem Kommen Christi abgetan und überboten sind, von den Strafgesetzen („laws of penalty and punishment“253), die nur für Israel galten, und vom natürlichen Gesetz („law of nature“).254 Letzteres gilt für jeden got­ tesgläubigen Menschen und konzentriert sich im Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe. Obwohl sie von Mose verschriftlicht wurden, sind diese beiden Gebote allen Völkern von Anbeginn an gemein und letztlich aus der menschlichen Vernunft ableitbar.255 whatsoever garment she wear, ought to have all authority among them that have pro­ fessed it. That word is the chiefest of the apostles, and pope, and Christ’s vicar, and head of the church, and the head of the general council“. Möglicherweise blitzt in dieser Paralle­ lisierung Johannes/Tyndale – Herodes/Heinrich Tyndales tatsächliche Einschätzung des Königs auf. 249  A.a.O., S. 323. 250  Vgl. ebd.: „Moreover whatsoever God coupled, man may not loose, no, though he name himself pope“. 251  S.o. 5.1.2. 252  S.o. 3.4.3 und 4.5.1. 253  A.a.O., S. 324. 254  Vgl. Lohse, Theologie, S. 293 und Koch, S. 68 f. 255  Vgl. Prelates, PS 2, S. 324 f: „For whosoever is of God, the same consenteth unto this law, and unto all that followeth thereof naturally, when he heareth it preached; as he consenteth that the fire is hot, when he putteth his finger in“.

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Die Theologen des Königs argumentierten für die Scheidung, indem sie Lev 18,16 als natürliches Gebot über Dtn 25,5 als zeremonielles Gebot stellen, das mit dem Kommen Christi abgetan sei. Tyndale führt mehrere Gründe ge­ gen diese simple Abwertung des Gebots der „Schwagerehe“ an: Zum ersten kann er keinerlei Beleg finden, der die Einordnung von Dtn 25,5 als Zeremo­ nialgesetz rechtfertigen würde.256 Selbst wenn es sich um eine zeremonielle Bestimmung handelte, wäre die Ehe mit dem Schwager keine Sünde, wie die Hoftheologen behaupten, da es jedem Christenmenschen freistehe, auch die mit dem Kommen Christi abgetanen Gesetze zu befolgen, solange er sich kein Heil von ihnen verspricht. Die Ehe des Königs mit der Frau seines Bruders wäre dann theologisch betrachtet ein Adiaphoron („an indifferent thing“257) und müsste daher aus keiner Notwendigkeit heraus aufgelöst werden.258 Auch das Argument, Dtn 25,5 beschreibe nur eine Ausnahme vom Gesetz, lässt Tyndale mit Verweis auf die Gebots-Form von Dtn 25,5 nicht gelten.259 Die Exegese der Stelle lässt für ihn keinen anderen Schluss zu, als dass auch dieses Gebot zum natürlichen Gesetz zu zählen ist, zumal es – wie Gen 38,8 zeigt – schon vor der Verschriftlichung durch Moses in Geltung war. Den Widerspruch zwischen Dtn 25,5 und Lev 18,16 löst Tyndale – anders als die Theologen Heinrichs VIII. –, indem er sie in einer zeitlichen Abfolge ver­ steht: „Das verbietet Mose einem Mann: die Frau seines Bruders zu heiraten, so lange sein Bruder lebt“260. Diese Lösung des Gegensatzes legt sich Tyndale vom biblischen Kontext her nahe, denn auch die anderen Verbotsbestimmungen in Lev 18 beziehen sich auf die Lebenszeit der genannten Personen, wie etwa das Verbot, die Frau seines Nächsten zu heiraten („for after his death it is lawful“261). Tyndale kommt daher insgesamt zu dem Schluss, dass die Ehe Heinrichs mit Katha­ rina nicht aufgelöst werden darf, nur weil diese zuvor mit Heinrichs Bruder verheiratet gewesen war. Nach dem Tod Arthurs war Heinrich – mit Dtn 25,5 – berechtigt und sogar verpflichtet, die Schwägerin zu heiraten.262 256 

tion“.

257  258 

Vgl. a.a.O., S. 326: „If it be a ceremony, then it is a sign, and must have a significa­

A.a.O., S. 327. Gegen ein „Ausspielen“ der beiden atl. Gebote gegeneinander spricht für Tyndale außerdem, dass Mose nicht zwei sich widersprechende Gebote erlassen haben kann, vgl. ebd.: „If Moses gave his people two contrary commandments, the he was an indiscreet lawgiver, yea, and devilish thereto“. 259  Vgl. ebd.: „nay, verily, it is not a permission, but a flat commandment“. 260  A.a.O., S. 328: „That Moses forbiddeth a man to take his brother’s wife as long as his brother liveth“. 261  A.a.O., S. 328 f. 262  Vgl. ebd.: „if his brother die childless, then he ought to have her, and that she is bound to offer herself to the other brother, by the law of Moses; and that it is lawful now, though no commandment“.

5.2  „The Practice of Prelates“

287

Politische Analyse: „By what means the divorcement should cost the realm“  Nach­ dem er seine theologische Bewertung der Situation dargelegt hat, lässt Tyn­ dale es sich nicht nehmen, seiner Leserschaft auch seine politische Einschät­ zung der Lage zu eröffnen. Für ihn liegt es auf der Hand, dass für die Präla­ ten, namentlich für Wolsey, die Scheidung des Königs beschlossene Sache ist, ungeachtet der Folgen, die sie für England haben kann.263 Tyndale konsta­ tiert aber unmittelbare dynastische Konsequenzen: Sollte die Ehe zwischen Heinrich und Katharina aufgelöst werden, verlöre auch das Kind aus dieser Verbindung, Maria Tudor (1516–1558), alle Ansprüche auf den Thron. Der nächste Anwärter wäre damit der schottische König. Bei dieser Lage der Dinge würden – so vermutet Tyndale sicherlich nicht ohne realistische Ein­ schätzung der Lage – mehrere englische Thronprätendenten um die Krone streiten, ein grosses Blutvergießen wäre die Folge.264 Dass dem König aus einer neuen Verbindung ein Nachfolger geschenkt würde, hält Tyndale für ungewiss („Who hath promised him a prince?“265). Und selbst im Falle eines männlichen Thronerben bliebe die Frage unbeant­ wortet, ob denn ein Spross aus dieser Verbindung als Herrscher anerkannt würde. Zu viele englische Thronprätendenten seien schon in den Verliesen ihrer Gegner umgekommen.266 Eine noch größere Bedrohung der Sicherheit Englands durch eine Schei­ dung des Königs sieht Tyndale aber von außen. Unter Berufung auf ein „com­ mon fame“267 aus „Dutchland“ macht er seine Leserschaft auf ein geheimes Abkommen zwischen dem Kaiser und dem dänischen König aufmerksam, demzufolge der dänische Monarch im Bund mit Karl V. seine Ansprüche auf den englischen Thron geltend machen könnte. Diese Gefahr sieht Tyndale durch die geplante Auflösung der königlichen Ehe erneut wachsen. Zum Abschluss seiner politischen Analyse geht Tyndale auch auf das Schicksal des von ihm zum Urheber der ganzen misslichen Situation stilisier­ ten Kardinal Wolsey ein. Ein ganzes Kapitel widmet er seinem Sturz („The 263  Vgl. a.a.O., S. 333: „This is as first as sure as the winter followeth the summer, that our prelates have utterly determined that this marriage that is between the king and the queen must be broken“. Zu Tyndales Verwendung sprichwörtlicher Redewendungen vgl. Auski, Sheperds, besonders S. 117 f. 264  Vgl. a.a.O., S. 333: „And then, while ye shed each others blood, our prelates will sit and laugh, and look upon you out of sanctuary“. 265  Ebd. 266  Vgl. a.a.o., S. 334: „and so the new prince is like to go after king Henry of Windsor’s prince, and king Edward’s children“. Gemeint sind wohl der Sohn Heinrichs VI., der am 4. Mai 1471 nach der Schlacht gegen die Yorkisten bei Tewkesbury mit nur 18 Jahren auf der Flucht getötet wurde und die Söhne Eduards IV. (die sog. „Prinzen im Tower“), die von ihrem Onkel Richard III. 1481 in den Tower gesperrt wurden und dort wahr­ scheinlich einen gewaltsamen Tod fanden (vgl. Krieger, S. 228.233). 267  Prelates, PS 2, S. 334.

288

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

putting down of the cardinal“268), in dem er – als einziger unter seinen Zeit­ genossen269 – lediglich einen kalkulierten taktischen Rückzug des Kardinals sieht, mit dem dieser sich eine Weile aus der politischen Schusslinie bringen wollte. Grund zu dieser Vermutung liefert ihm die Tatsache, dass an Wolseys Stelle als Lordkanzler sein Vertrauter Sir Thomas More getreten ist, den Tyn­ dale charakterisiert als „chiefest of all his secretary, one nothing inferior unto his master in lying, feigning, and bearing two faces in one hood“270. Hier of­ fenbart sich Tyndales Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse: „Tyndale in these passages fails to acknowlegde the genuinely dire nature of Wolsey’s cir­ cumstances at court following his loss of Henry’s favor. Nor does he perceive the tensions and ambiguities that surely existed in the complex relationship, personal and professional, that had developed over the years between Wolsey and More“271. Theologische Deutung: „What the cause of all this mischief is“  Zum Abschluss sei­ ner Schrift greift Tyndale erneut zu den theologischen Deutungskategorien seines dualistischen Geschichtsbildes, um die unglückliche Situation seines Landes zu erklären: Was sich in der dargestellten politischen Krise der Gegen­ wart äußert, ist für ihn nichts anderes als der gerechte Zorn Gottes über die­ jenigen, die anstatt seinem Wort den Verlockungen der Prälaten folgen. Diese verhängnisvolle Entwicklung beginnt für ihn bezeichnenderweise mit der scharfen Ablehnung von Luthers Kritik am Papsttum in England. Es war wie­ derum Wolsey, der den König zu seiner Schrift gegen Luther animierte, die ihm den „eitlen Titel“ („vain title“272) eines „Defender of the faith“ ein­ brachte, aber in Wahrheit nichts anderes war, als die Behauptung königlicher Amtsautorität gegen die von Luther ans Licht gebrachten Wahrheit des Wor­ tes Gottes:273 268  269 

Ebd. Vgl. Wyly, S. 270 f: „Concerning Wolsey’s disgrace and More’s appointment as chancellor, Tyndale alleges, quite fantastically, and I think uniquely among Tudor wri­ ters, not that Henry dicharged Wolsey, but rather that Wolsey voluntarily withdrew, that is, that the cardinal ‚put himself down under a colour’, having discerned through his ne­ cromancy that ‚this would be a jeopardus year for him’ if he did not temporarily step aside. For Tyndale, there are ‚an hundred tokens, evident unto whomever hath a natural wit’, that Wolsey’s supposed digrace is yet another clerical plot against England“. 270  Prelates, PS 2, S. 335. 271  Wyly, S. 271. C.H. Williams, S. 96, gibt jedoch zu bedenken: „He [d.i. Tyn­ dale] can hardly be blamed if his analysis of events falls far short of the truth. He had been out of England since 1522 [hier irrt Williams, s.o. 1.6.1]: whatever contacts he had with English affairs came to him through those who had no cause to love Wolsey“. 272  Prelates, PS 2, S. 338. 273  Insbesondere die Polemik des Königs gegen die Eheschließung Luthers greift Tyn­ dale auf, um zu zeigen, wie heuchlerisch die altgläubigen Vorwürfe gegen die evange­ lische Seite sind, vgl. a.a.O. S. 340: „His grace promised to keep his wedlock, as well as

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

289

„And shortly, for the lack of authority of God’s word, Martin [Luther] must be con­ demned by the authority of the king“274.

Vor dem Hintergrund dieses drohenden Zornes appelliert Tyndale darum ab­ schließend an König und Adel in England, sich von der Irreführung durch die Prälaten zu befreien und sich endlich wieder der Belange des Volkes anzuneh­ men. Konkret wünscht er sich eine klare Nachfolgeregelung für den Thron. Die Anhänger und Bündnispartner Wolseys mahnt er, ihren Gehorsamsver­ pflichtungen gegenüber der weltlichen Obrigkeit nachzukommen, umzu­ kehren und Buße zu üben. Doch auch das ganze Volk ruft Tyndale zur Buße auf, durch die allein der drohende Zorn Gottes noch abzuwenden sei. Ein je­ der möge an den Platz zurückkehren, der ihm nach der Ordnung Gottes zu­ kommt.275 Mit einer deutlichen Warnung an die Verfolger des Evan­ge­liums beschließt Tyndale den Traktat: „Dies ist eine klare Schlussfolgerung: Kein Gehorsam, der nicht aus der Liebe kommt, kann lange bestehen. Und in euren Taten kann niemand einen Grund der Liebe erken­ nen, die Erkenntnis Christi aber, um dessentwillen allein ein Mensch euch lieben würde, obwohl ihr so außerordentlich böse seid, verfolgt ihr. Nun, dann gilt: Wenn Ungehorsam aufkommt, seid ihr nicht selbst der Grund dafür? Sagt nicht, ihr wäret nicht gewarnt worden!“276

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531) 5.3.1  Zu Charakter und Aufbau der Schrift Tyndales Schrift gegen More ist ihrem Charakter nach das, was ihr Titel be­ reits ausdrückt: „Antwort“. Als Replik in einer literarischen Auseinanderset­ zung weist sie die Merkmale einer Streitschrift auf, mit der zum einen die Vorwürfe des Gegners widerlegt und gleichzeitig die eigenen Anhänger be­ stärkt und gefestigt werden sollen.277 Über Stil und Argumentationsstruktur Martin did his chastity: and his grace’s vow hath authority of God, and Martin’s not, but is damned by the word of God as he did vow, and as the hypocrites do yet teach to vow“. 274  A.a.O., S. 339. 275  Tyndale selbst erinnert an seine Ausführungen dazu in „Obedience“, vgl. a.a.O., S. 342. 276  A.a.O., S. 344: „This is a sure conclusion: none obedience, that is not of love, can long endure; and in your deeds can no man see any cause of love: and the knowledge of Christ, for whose sake only a man would love you, though ye were never so evil, ye per­ secute. Now then, if any disobedience rise, are ye not the cause of it yourselves? Say not but that ye be warned!“; vgl. auch Clebsch, S. 162. 277  Vgl. dazu die von Zschoch, Streitschriften, S. 277–280, für Luthers Verwendung der Gattung beschriebenen typischen Merkmale, besonders a.a.O., S. 277: „Die polemi­ schen Schriften dienten immer auch der Belehrung und Bewußtseinsbildung im eigenen Lager“.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

der Polemik in Tyndales „Answer“ und Mores „Dialogue“ gibt es kontro­ verse Meinungen, die – je nach Standpunkt – Tyndale oder More eine größere stilistische Qualität bzw. die stärkeren Argumente zuweisen.278 Ein Unterschied zwischen beiden Schriften liegt jedoch auf der Hand: More „verpackt“ seine Kritik an der Reformation in die literarische Form des Dialogs, während Tyndale die des theologischen Traktats mit einer Punkt für Punkt vorgenommenen Widerlegung von Argumenten wählt. Damit bleibt er seinem Stil treu,279 mit Inhalten und nicht mit Rhetorik überzeugen zu wollen. Als Anwalt der Schrift kann er nach seinem Selbstverständnis nicht die Verunglimpfung des Gegners betreiben, ohne der Sache selbst zu schaden. Freilich ist der teilweise polemische und sarkastische Grundton der „Answer“ von einer gewissen Bitterkeit gegenüber More geprägt, die sich einer begrün­ deten tiefen persönlichen Abneigung verdankt.280 Mores Attacke auf Tyndale war schließlich keinerlei Kritik seinerseits vorausgegangen,281 und zudem war More der Mann, der für den Tod vieler Freunde Tyndales mitverant­ wortlich war oder ihn doch zumindest gutgeheißen hatte.282 Da Tyndale nicht auf die Gewinnung seines Gegenübers für die Sache der Reformation hoffen und aufgrund der nur heimlichen Verbreitung seiner „Answer“ in England auch keine breite Öffentlichkeit erwarten konnte, ist ihm besonders der Aspekt der geistlichen Zurüstung der Anhänger der Re­ formation wichtig. Dies zeigt sich darin, dass er, bevor er im einzelnen auf Mores Kritik an der „neuen Lehre“ eingeht, über das Vorwort hinaus einen 278  Die stilistische „Minderwertigkeit“ der „Answer“ gegenüber dem „Dialogue“ be­ hauptet z.B. C.H. Williams, S. 104: „Tyndale’s Answer lacks the artistic skill of More’s Dialogue, but what he misses in this respect is more than compensated for by the force of his argument“. C.S. Lewis hingegen hält Tyndale für den besseren Prosaschriftsteller, vgl. Lewis, S. 192: „Where Tyndale is most continuously and obviously superior to More is in style […] What we miss in Tyndale is the manysidedness, the elbow-room of More’s mind; what we miss in More is the joyous, lyric quality of Tyndale“; vgl. dazu auch Mueller, S. 205 f; Chuilleanáin, S. 382. 279  Vgl. Tyndales Kritik an der Spottschrift Royes und Barlowes in „Mammon“, s.o. 2.1 Exkurs Tyndale und Roye. 280  Vgl. Mozley, S. 219: „Towards his antagonist Tyndale shows no little bitterness. He had in no way meddled with More, and indeed had not hitherto even mentioned his name; and we cannot wonder that he resented the unwarranted attack that had been made upon his honesty, and indeed upon his general virtue“. 281  Chuilleanáin, S. 383–411, macht darauf aufmerksam, dass Tyndale und More beide als Schüler des Erasmus gelten können (s.o. 1.4.3). Auch dies mag ein Grund für Tyndales Verbitterung sein, wurde doch nun – analog zur Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus sechs Jahre zuvor – unmissverständlich deutlich, dass die Einheit von Huma­ nismus und Reformation zerbrochen war; vgl. die verbitterte Bemerkung zu Mores „Wandlung“, die auf Mores „Utopia“ (1516) Bezug nimmt: „This could More tell in his Utopia, before he was the cardinal’s sworn secretary, and fallen at his feet to betray the truth for to get promotion“ (Prelates, PS 2, S. 302). 282  S.o. 4.1.1; zur Mores Rolle bei der Verfolgung evangelischer „Häretiker Marius, Morus, S. 482–506; Campbell, S. 207.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

291

ausführlichen Traktat („foundational treatise“283) voranstellt, der in der Be­ antwortung der von More aufgeworfenen Anfragen eine weitere Grundle­ gung reformatorischer Theologie in englischer Sprache bietet. Zu den hier angesprochenen Themen zählen die Zurückweisung der Kritik Mores an der Übersetzung theologisch relevanter neutestamentlicher Termini,284 Überle­ gungen zur Ekklesiologie, die die Kirche als Gemeinschaft der Erwählten verstehen und von der Papstkirche abgrenzen will, sowie Entgegnungen auf Mores Aussagen zu Gottesdienst und praxis pietatis. Dieser Teil (A.) hat als Zu­ sammenfassung der theologischen Position Tyndales im kontroverstheologi­ schen Kontext der Schrift besonderes Gewicht. Im zweiten Teil (B.) nimmt Tyndale konkret auf die Polemik des „Dia­ logue“ Bezug und bemüht sich, umfassend auf die Vorwürfe und Unterstel­ lungen Mores einzugehen.285 Um als Leser diesen Ausführungen im Einzel­ nen folgen zu können, war es schon damals erforderlich, den „Dialogue“ Mo­ res und Tyndales „Answer“ parallel zu studieren. Dies dürften jedoch – bis auf More selbst, der entsprechend ausführlich in seiner „Confutation“ re­ agierte – nur wenige zeitgenössische Leser getan haben. Tyndales Zielgruppe ging es bei der Lektüre vermutlich eher um die in der Zurückweisung der Auffassungen Mores vorgenommene Vertiefung der reformatorischen Posi­ tionen. Da sich seine Antworten auf More auf zahlreiche Theologie und Frömmigkeit betreffende Einzelfragen beziehen, boten sie dem Leser aber

283  284 

Answer, IW 3, S. XXXV; s.u. 5.3.1. Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 284,24–293,11; dazu auch Holeczek, S. 310–358. More hatte versucht, die häretische Absicht hinter Tyndales NT dadurch of­ fenzulegen, „daß er erst nachwies, die von Tyndale gewählten Übersetzungen seien philo­ logisch unmotiviert; dann in einem zweiten Teil hatte er mittels der Frage nach der Art der tendenziösen Umdeutungen beim Übersetzen festgestellt, daß ein auffälliger Zusammen­ hang zwischen Tyndales Version und den theologischen Überzeugungen Luthers besteht“ (a.a.O. S. 313). Der Bibelübersetzer fühlte sich wohl besonders durch die Unterstellung philologischer Inkompetenz und vorsätzlicher Irreführung herausgefordert, weil es ihm um das mit seiner Übersetzung transportierte theologische Verständnis ging. Tyndale geht darum ausführlich auf die Übersetzung von „!g2ph“ mit „love“ statt mit „charity“ (vgl. Answer, IW 3, S. 19,25–20,15 und More, Dialogue, CWM 6/1, S. 286,35–288,8; vgl. dazu Lawler/ Marc’hadour, S. 512–516; Holeczek, S. 345 ff), von „c2riV“ als anstelle von „grace“ (vgl. Answer, IW 3, 20,29 ff; vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 290,17 ff; vgl. dazu auch Holeczek, S. 347 f) sowie von „§xomol8gesiV“ mit „knowlege“ anstelle von „confessyon“ und von „met2noia“ mit „repentaunce and not penaunce“ ein (vgl. Answer, IW 3, S. 21,4 f; vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 290,20; dazu auch Ho­ leczek, S. 351). 285  Tyndale gibt durch römische Bezifferung die Passagen bei More an, auf die er sich bezieht. Die Vielzahl der Stellen, die direkt oder indirekt Bezug auf den „Dialogue“ neh­ men, macht es unmöglich, auf alle textlichen Berührungspunkte einzugehen. Ich ver­ weise hier auf die Anmerkungen im kritischen Apparat zu Answer, IW 3, S. 233–426, der die textlichen Bezüge vorzüglich dokumentiert.

292

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

auch die Möglichkeit, die eigene Sprach- und Argumentationsfähigkeit für den kontroversen Dialog mit altgläubigen Mitmenschen zu schulen. Eine thematische Gliederung dieser „Antworten“ an More ist schwierig, da Tyndale eine Fülle von Themen anspricht, die oftmals nur in einem vagen Zusammenhang stehen und seine inhaltlichen Positionen in immer neuen Va­ rianten vorstellt. Als wichtige Themenkomplexe ergeben sich: Die Frage nach der Ekklesiologie, nach dem Schriftverständnis, nach der reformatorischen Soteriologie sowie nach der rechten Frömmigkeitspraxis. Folgende Aufbau­ skizze lässt sich festhalten:286 Vorwort (5,1–9,31) A. „Foundational Treatise“ (10,1–78,13) I. Widerlegung der Kritik an der NT-Übersetzung (10,1– 23,11) II. Das Verhältnis: Wort Gottes – Gemeinde (23,12–28,9) III. Die Gemeinde der Erwählten (28,10–37,32) IV. Abgrenzung von der Papstkirche (38,1–48,22) V. Die Erwählten in der Welt (48,23–55,5): Der Glaube der Erwählten VI. Gottesdienst und Frömmigkeit (55,6–78,13) B. Auseinandersetzung mit Mores „Dialogue“ I. Antwort auf das erste Buch von Mores „Dialogue“ (79,3–109,5), u.a. mit den Themen: Heiligenkult, Tradition und Schrift, Papst als Antichrist, fleischliche Mehrheit und erwählte Minderheit II. Antwort auf das zweite Buch von Mores „Dialogue“ (110,1–132,6): Wider­ legung von 55 Argumenten Mores, u.a. mit den Themen: sichtbare Kirche und Gemeinde der Erwählten, Rolle der Heiligen, der Ort der Verstorbe­ nen und ihre Rolle als Fürbitter, Bedeutung von Wundern III. Antwort auf das dritte Buch von Mores „Dialogue“ (133,1–170,21): 10 Ar­ gumente gegen die Kirche als autoritative Auslegerin der Schrift, u.a. mit den Themen: Autorität der Schrift, Kritik an der kirchlichen Hierar­ chie von der Schrift her, Wirken des Geistes in den Glaubenden, Unfreiheit des Willen, Häresieverständnis, Zölibat, Bibelübersetzung IV. Antwort auf das vierte Buch von Mores „Dialogue“ (171,1–215,19): 55 Ar­ gumente gegen Mores Fehlerkatalog bei Luther und Tyndale, u.a. mit den Themen: Unfreiheit des Willens, Rechtfertigung und Heiligung, Mores Vorwürfe gegen die Reformation

286 

Die Gliederung von Wicks und O’Donnell (Answer, IW 3, S. xxxv –xxxvii) nimmt auf Tyndales Zwischenüberschriften Bezug. Bei A.V. scheint mir die Einteilung nicht ganz schlüssig zu sein, hier mache ich den Einschnitt nicht auf S. 47, Z. 6, sondern erst S. 48, Z. 23, wo Tyndale die Grundfrage nach dem Verhältnis von Schrift und kirchlicher Tradition neu aufnimmt und als Hauptargument die Differenzierung zweier Formen des Glaubens einführt (s.u. 5.3.5.1 und 5.4.6).

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

293

5.3.2  Tyndales Vorwort an die Leser Wie nahezu jeder seiner Schriften stellt Tyndale auch seiner „Answer“ ein Vorwort an die Leser voran. Es benennt in der an Paulus angelehnten Gruß­ formel alle wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens und Lebens, die er in seiner Schrift ansprechen wird: „Die Gnade unseres Herrn und das Licht seines Geistes um zu erkennen und zu beur­ teilen, wahre Umkehr zu Gottes Gesetz, ein fester Glaube in die barmherzigen Ver­ heißungen, die in unserem Retter Jesus Christus [zu finden] sind, glühende Liebe zu deinem Nächsten nach dem Beispiel Christi und der Heiligen sei mit dir, o Leser, und mit allen, welche die Wahrheit lieben und nach der Erlösung der Erwählten Gottes streben. Amen.287.

Besonders sticht hier die Betonung des Geistes hervor: In seinem Licht kön­ nen und sollen die Glaubenden „sehen und beurteilen“, wo die Wahrheit zu finden ist – in Tyndales Worten oder in denen Thomas Mores, in der Sache der Reformation oder in der Beharrung der Papstkirche? Diese vom Geist ge­ schenkte Urteilsfähigkeit der Glaubenden stellt Tyndale der fehlenden Ur­ teilskraft derjenigen gegenüber, die noch gefangen sind in der falschen Welt­ lichkeit der Papstkirche. Während erstere im Gebot der Gottesliebe die Wohl­ taten Gottes erkennen und mit Gegenliebe reagieren,288 verstehen letzere die Intention der Gebote nicht und verkehren ihre wahre Bedeutung.289 Zur Illustration dieser Verstrickung ins Weltliche zeichnet Tyndale das sa­ tirische Bild eines unverhältnismäßig abstinenten Kartäusermönches, der übereifrig, doch ohne Verstand, die Feiertage heiligt und sich der Befolgung

287 

A.a.O., S. 5, 1–6: The grace of oure lorde / the light of his spirite to se and to iudge / true repentaunce towardes goddes lawe / a fast faith in the merciful promises that are in oure savioure Christ / fervent loue towarde thy neyghboure after the ensample of Christ and his sayntes / be with the o reader and with all that loue the trouth and longe for the redempcion of goddes electe. Amen“. 288  Der vom Geist erfüllte Glaubende erkennt z.B. die Obrigkeit als gottgegebene gute Ordnung an und ist aus innerer Überzeugung heraus auf das Wohl seines Nächsten bedacht. Auch sekundäre Gebote werden von ihm geistlich verstanden und entsprechend befolgt, wie etwa das Verbot, Wein zu trinken oder die Heiligung des Feiertags, vgl. Answer, IW 3, S. 6,15–23: „If god shulde commaunde him to drinke no wyne / as he com­ maunded in the olde testament […] the spirituall […] ceaseth not to serch the cause. And when he findeth it / that it is to tame the flesh and that he be alwaye sobre / he obeyeth gladlye“. 289  So verkehrt er z.B. den Sinn der Gottesliebe, indem er daraus das Recht zum Feld­ zug gegen die Türken ableitet, vgl. a.a.O., S. 7,18–22: „He beleveth that he loveth god because he is readie to kille a turcke for his sake that beleveth better in god then he / whom god also commaundeth vs to loue and to leave nothinge vnsought / to winne him vnto the knowledge of the truth / though with losse of oure lyves“. Zur Rolle der Türken in der theologischen Argumentation bei Tyndale und More vgl. auch Murphy, S. 229–242; dazu auch Answer, IW 3, S. 234, Anm. 7/18.

294

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

aller kirchlich vorgeschriebenen Zeremonien und Rituale verschreibt, ohne deren Sinn auch nur im Entferntesten zu erkennen: „Der Kartäusermönch stirbt lieber, als dass er Fleisch isst, und auf die Sauberkeit und Reinheit seiner Glieder schaut er nicht, sondern badet lieber in Ale und Bier der stärks­ ten Sorte ohne Maß und erhitzt sie mit Gewürzen usw. Den Feiertag wird er so streng einhalten, dass er, wenn er eine Fliege in seinem Bett anträfe, nicht wagen würde, sie zu töten und nicht einmal daran denken, dass der Feiertag in allen Gesetzen eingesetzt wurde, um Gottes Wort usw. zu erforschen“290.

Eine solche Blindheit ist nicht zu entschuldigen, denn sie widerspricht der gottgeschenkten Urteilskraft des Geistes. Darum ruft Tyndale seine Leser­ schaft dazu auf, sich selbst ein Urteil zu bilden über die Lehren und die Fröm­ migkeitspraxis der Papstkirche. Maßstab dafür kann nichts anderes sein als die Schrift: „Leser, urteile du darum, ob der Papst und die Seinen die Kirche sind, ob ihre Autori­ tät höher steht als die der Schrift, ob all das, was sie ohne die Schrift lehren, der Schrift selbst ebenbürtig ist: ob sie tatsächlich geirrt haben und nicht nur, ob sie irren können“291.

5.3.3  Der Streit um die wahre Kirche 5.3.3.1  „What the church is“292 – Tyndales Definition von „Kirche“ In seiner Definition von „Kirche“ geht Tyndale vom allgemeinen Sprachge­ brauch aus und differenziert zwischen drei Bedeutungen des Begriffs.293 Da­ bei orientiert er sich möglicherweise – wenngleich er die Reihenfolge der Be­ deutungen umstellt – an den von Luther in seiner Schrift „Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig“ (1520) vorge­ nommenen Unterscheidungen.294 290  Vgl. Answer, IW 3, S. 8,5 ff: „the charter house monkes had lever dye then eate flesh: and as for the sobrenesse and chastisinge of the membres will he not loke for / but will powre in ale and bere of the strongest with out measure and heate them with spices and so forth. the holidaye will he kepe so stryte that if me mete a flee in his bed he dare not kill hir / and not once regarde wherfore the holidaye was ordained to seke for goddes worde / & so forth in al lawes“. 291  A.a.O., S. 8,29–32: „Iudge therfore reader whether the pope with his be the church / whether their auctorite be aboue the scripture: whether all they teach with out scripture be equalle with the scripture: whether they haue erred / and not onlye whether they can“. Insbesondere die „ensamples“, die in der Schrift zu finden sind (s.o. 4.5.1.) können hierbei Hilfe für die Urteilsfindung sein, vgl. a.a.O., S. 8,32–9,1: „And agenst the mist of their sophistrye take the ensamples that are past in the olde testament and autentike storyes and the present practise which thou seist before thyne yies“. 292  Answer, IW 3, S. 10,1. 293  Vgl. Answer, IW 3, S. 10,2: „Thys worde church hath dyuerse significacions“; vgl. Holeczek, S. 336. 294  Vgl. WA 6, S. 292,35–297,35 (Von dem Papsttum zu Rom, 1520). Luther nennt drei Bedeutungsebenen des Begriffs „Kirche“ bzw. „Christenheit“, nämlich die inhaltliche,

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

295

„Church“ bezeichnet für Tyndale zunächst schlicht den Ort, welcher der Urgemeinde als Versammlungsstätte diente. Das Leben dieser ersten Christen beschreibt Tyndale als Ideal, an das eine reformatorische Ekklesiologie an­ knüpfen will: Ein Leben, bestimmt vom Hören auf Gottes Wort, von der Predigt in der Muttersprache („in a tonge that all men vnderstode“295) und von der Hingabe der Glaubenden mit ganzem Herzen. Diesem urchristlichen Ideal stellt Tyndale die kirchliche Gegenwart seiner Zeit entgegen, indem er die Unverständlichkeit des in der Kirche gesproche­ nen Wortes und die Ignoranz der Gottesdienstteilnehmer geißelt:296 In der real existierenden Papstkirche ist die Befolgung der Gebote Gottes nur noch Ausdruck des Versuchs jedes Einzelnen, sich vor Gott ins rechte Licht zu set­ zen.297 Der Grund für diesen Zustand liegt für Tyndale darin, dass sich in den vergangenen Jahrhunderten eine zweite Bedeutung von „Kirche“ eingeschli­ chen hat, die diese mit dem Klerus identifizierte: „Einer anderen Missdeutung zufolge ist eine Menge kahl Geschorener und Geölter gemeint, die wir heute Gleistlichkeit und Klerus nennen“298.

Diesem falschen Sprachgebrauch stellt Tyndale eine dritte Bedeutung von „Kirche“ entgegen, die er im biblischen Text zu finden meint,299 nämlich schlicht die Bezeichnung einer Gemeinschaft von Menschen, eines Gemein­ wesens, das zunächst an sich keine geistliche Dimension besitzt.300 Darin liegt für Tyndale die besondere Pointe des Begriffs „§kkles6a“, den er daher mit „Versammlung“/„Gemeinde“ („congregacion“) anstatt mit „Kirche“ aus der Schrift stammende Bedeutung als sanctorum communio sowie die phänomenolo­ gische Bezeichnung, vgl. a.a.O., S. 296,16 ff: „Nach dieser heisset man die Christenheit einn vorsamlung in ein Hausz odder pfar, bisthum, ertzbisthumb, bapstum“. Diese äußer­ liche Organisationsform, inbesondere der Klerus, darf nicht mit der in der Schrift ge­ meinten „Kirche“ verwechselt werden. Schließlich kann mit „Kirche“ auch schlicht das Kirchengebäude bezeichnet werden (vgl. a.a.O., S. 297,22–35). 295  Answer, IW 3, S. 10,8. 296  Vgl. Answer, IW 3, S. 10,12–15: „Where now we heare but voyces with out signifi­ cacion and buzsinges / howlinges and crienges / as it were the halowenges of foxes or bay­ tinges of beres / and wonder at disguisinges and toyes wheroff we know no meaninge“. 297  Vgl. a.a.O., S. 10,27–29: „And of prayer we thynke / that no man can praye but at church / and that it is nothinge else but to saye pater noster vnto a post“. 298  A.a.O., S. 10,32–11,2: „In a nother significacion it is abvsed and mystaken for a multitude of shaven shorn and oyled whych we now calle the spirytualtye and clergye“. Entsprechende Belege für dieses missbräuchliche Verständnis von Kirche findet Tyndale in der englischen Geschichte; vgl. a.a.O., S. 11,9–22 (s.o. 5.2.7.2); vgl. dazu auch a.a.O., S. 240 f, Anm. 11/2–11/9; vgl. WA 6, S. 296,16–29 (Von dem Papsttum zu Rom, 1520). 299  Er führt Gal 1,13.22; Röm 16,4; 1 Kor 16,19, 1 Tim 3,5; 5,16, Mt 18,17 an (vgl. Answer, IW 3, S. 12,6–19). 300  Vgl. a.a.O., S. 11,25–29: „a multitude of a company gathered to gether in one / of all degrees of people. As a man wold saye / the church of london / meaninge not the spiri­ tualitie only […] but the hole body of the cytye“.

296

Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

(„church“)301 übersetzt.302 Der biblische Terminus hat gerade keine beson­ dere religiöse Konnotation, weil die Schrift keinen Unterschied zwischen Klerikern und Laien macht.303 Kirche ist Gemeinschaft der Glaubenden, ohne Unterschied im Status vor Gott.304 Tyndale gesteht allerdings zu, dass seine Definition insofern unscharf ist, als sie einerseits die sichtbare Kirche all derjenigen beschreibt, die sich nomi­ nell Christen nennen.305 Andererseits bezeichnet „Kirche“ aber im engeren Sinne die Gemeinschaft der Erwählten, die Tyndale definiert als: „diejenigen, in deren Herzen Gott sein Gesetz mit dem Heiligen Geist geschrieben hat und denen er einen fühlenden Glauben gab an die Barmherzigkeit, die in Christus Je­ sus ist, unserem Herrn“306.

Damit führt er zu Beginn seiner Schrift die wesentliche Unterscheidung zwi­ schen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Kirche ein, die er wahrschein­ lich von Luther übernimmt.307 Mores Verständnis der Kirche als von Gott eingesetzte und durch die Gegenwart des Geistes in ihren Aussagen legiti­ mierte Institution dagegen lehnt er strikt ab.308 Die Verdorbenheit der real existierenden Papstkirche lässt für Tyndale nur den Schluss zu, dass es zwei unterschiedliche Kirchen geben muss: 301 

Tyndale schließt sich, wie Holeczek (a.a.O., S. 335) nachweist, an Luther an, der „§kkles6a ebenfalls mit „gemeine“ wiedergibt (vgl. WA.DB 7). Zur Übersetzungstradi­ tion vor Tyndale, vgl. Holeczek, S. 332–335. 302  Dies kritisiert More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 286,26–34 (vgl. Holeczek, S. 315.331–342). Tyndale bemerkt süffisant, Mores Kritik müsse auch seinen Freund Eras­ mus treffen, denn auch dieser präferiert in seiner lateinischen Bibelübersetzung „congre­ gatio“ vor „ecclesia“ als Übertragung von „§kkles6a, vgl. Answer, IW 3, S. 14,24–15,6, vgl. dazu auch a.a.O., S. 247 f, Anm. 14/25 f. 303  Vgl. a.a.O., S. 12,20–23: „the church is taken for the hole multitude of them that beleue in christ in that place in that parish towne / citie / prouince / londe or throrowout all the worlde / and not for the spiritualitie only“. 304  Vgl. Stafford, S. 106 f. 305  Vgl. Answer, IW 3, S. 12,24 ff: „it is sometimes taken generally for all that embrace the name of Christe though their faythes be nought or though they haue no fayth at all“. 306  A.a.O., S. 12,27 ff: „only in whose hertes God hath written his lawe with his holy spirite and geuen them a felinge faith of the mercy that is in christe Iesu oure lorde“. 307  Vgl. WA 6, S. 396,37–297,3 (Von dem Papsttum zu Rom, 1520): „Drumb umb meh­ res vorstandts und der kurtz willenn wollen wir die zwo kirchen nennen mit unter­ scheydlichen namen. Die erste, die naturlich, grundtlich, wesentlich, unnd warhafftig ist, wollen wir heyssen ein geystliche, ynnerliche Christenheit, die andere, die gemacht und eusserlich ist, wollen wir heyssen ein leypliche, euszerlich Christenheit“; vgl. Althaus, Theologie, S. 252 ff; Lohse, Theologie, S. 302 ff. 308  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 184,33–185,3: „ye muste byleue and maye be sure that sythe the chyrche can not in suche thynges arre / it is very trew all that the chyrche in suche thynges telleth you. And that is not theyr owne worde / but the worde of god though it be not in scrypture“; vgl. dazu auch Flesseman-Van Leer, Ec­ clesiology, S. 69 f.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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„So existiert die Kirche nun also in zweifacher Weise: Fleischlich und geistlich. Die eine wäre es gern [nämlich Kirche, Anm.] und ist es nicht, die andere ist es schon, darf aber nicht so genannt werden, sondern muss als ‚lutherisch‘, ‚häretisch‘ oder ähnlich bezeichnet werden“309.

Gottes Evan­ge­lium erreicht beide, fleischliche und geistliche Kirche, Papst­ kirche und reformatorische Gemeinde. Es stößt aber – so Tyndale – auf je­ weils völlig unterschiedliche Reaktionen. Die Mehrheitskirche versucht – in der Tradition Kains, Ismaels und Esaus310 – aus Gott einen Götzen zu ma­ chen, dem sie mit rein äußerlicher Hingabe („bodily seruice“311) dienen kann. Die Folgen sind Selbsterhöhung, Glaube an die eigenen Werke und die Ver­ folgung der wahrhaft Glaubenden. Die Angehörigen dieser Kirche sind, er­ wählungstheologisch gesprochen, berufen, jedoch nicht auserwählt („called and not chosen“312). Die kleine Minderheit hingegen erkennt, wie Tyndale beschreibt, Gottes Willen in Gestalt von Gesetz und Evan­ge­lium und entspricht mit ihrer (Ge­ gen-) Liebe zu den Geboten ihrer liebenden Erwählung durch Gott.313 Die Gemeinschaft der Erwählten ist für Tyndale jedoch nicht die ecclesia trium­ phans. Denn entsprechend seinem schon oft formulierten Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung314 betont er auch hier: Wer zu den Erwählten gehört, ist nicht frei von Sünde, sondern wird immer wieder Versuchungen erliegen. Irrtümer gegenüber der Wahrheit der Schrift sind auch bei den Glaubenden nicht ausgeschlossen, sie geschehen aber nicht willentlich, son­ dern sind Ausdruck der Schwäche des Fleisches.315 Im Glauben und in der 309  Answer, IW 3, S. 105,11 ff: „So now the church of god is dowble / a fleshly and a spirituall: the one wilbe and is not: the other is and maye not so be called / but must be called a lutheran / an heretike and soch like“. 310  Vgl. a.a.O., S. 105,3–10: „there shalbe in the church a fleshly seed of Abraham and a spirituall / a Caim and an Abel / an Ismaell and an Isaac / an Esau and a Iacob / as I have sayde / a worker and a beleuer / a greate multitude of them that be called and a small flocke of them that be electe and chosen. And the fleshlye shall persecute the spirituall / as Caim and Abel and Ismaell Isaac & soforth / and the greate multitude the smal litle flocke and antichrist wilbe euer the best christen man“. 311  A.a.O., S. 105,26. 312  A.a.O., S. 105,21 (vgl. Mt 22,14). 313  Vgl. a.a.O., S. 34,4 ff: „when we se his mercie / we loue him agayne and chose him and submitte our selues vn to his lawes to walke in them“. Damit setzt Tyndale einen deutlichen Kontrapunkt zu More, der die Vorstellung einer Prädestination im Zusam­ menhang mit der Kritik an Luthers Lehre vom unfreien Willen als häretisch abgelehnt hatte, vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 402,32–403,2: „For this execrable heresy maketh god the cause of all euyll / and suche cruell appetyte as neuer tyraunt and tourmentoure had / ascrybe they to the benygne nature of almyghty god“; s.u. 5.3.5.3. 314  S.o. 3.4.1 und 4.5.2. 315  Wer dagegen die Wahrheit der Schrift leugnet und andere Lehren propagiert, macht sich der Idolatrie, nämlich der Vergötzung eigener theologischer Positionen schul­

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Kraft des Geistes können die Erwählten die eigene Sündigkeit jedoch mithilfe des Gesetzes immer wieder erkennen und bereuen: „Als gute gehorsame Kinder, brechen sie die Gebote ihres Vaters, obwohl sie sie lieben, oft aufgrund ihrer Schwachheit“316.

Der Glaube eines Christenmenschen ist nicht allein durch die Sünde ange­ fochten, sondern auch durch die Prüfungen, die Gott selbst den Glaubenden auferlegt, um sie zu „erziehen“.317 Diese gottgegebenen Anfechtungen zielen nicht auf Zerstörung, sondern dienen lediglich der heilsamen Schwächung der Glaubenden, welche die Erkenntnis fördern soll, dass sie nichts aus sich selbst heraus vermögen, sondern angewiesen sind auf Gottes Erbarmen.318 Darüber hinaus machen gerade die Anfechtungen deutlich, dass die Glauben­ den selbst in ihre Erwählung keinen Einblick haben.319 Die Zahl der Erwähl­ ten ist offen zu halten, da alles andere Gottes souveräne Gnadenwahl ein­ schränken würde.320 In der Auseinandersetzung mit den Argumenten Mores formuliert Tyn­ dale also eine erwählungstheologisch begründete Ekklesiologie.321 Wahre Kirche „with out spott or wrincle“322 ist für ihn nicht die sichtbare irdische Kirche, sondern die unsichtbare Gemeinschaft der Erwählten, in denen die dig, die vom Zeugnis der Schrift nicht gedeckt sind. Er stellt sich damit außerhalb der Kirche Christi, vgl. Answer, IW 3, S. 32,5–9. 316  Vgl. a.a.O, S. 31,7 ff: „As good obedient childern / though they loue their fathers commaundementes / yet breake them oft / by the reason of their wekenesse“. Tyndale bringt diesen Zusammenhang von Erwählung, Sünde und Glauben in Verbindung mit der Vorstellung der Existenz des Christenmenschen als homo simul iustus et peccator, vgl. a.a.O., S. 30,12 f: „And yet every membir of Christes congrecation is a synner and sinneth dayly / some moare and some lesse“; dazu auch a.a.O., S. 262, Anm. 30/19. 317  Vgl. a.a.O., S. 32,14 f: „to nurtoure vs and to shew vs oure awne hertes / the ypo­ crisie and false thoughtes that there lye hidd“. 318  Tyndale beschreibt den Prozess der Auseinandersetzung mit Gott in Zeiten der Anfechtung anschaulich am Beispiel der Konflikte zwischen einem Kind und seinen El­ tern. Dem Kind werden Dinge auferlegt, die es nicht versteht und nicht nachvollziehen will und die doch – weil es eben liebevolle Eltern hat – am Ende seinem Wohl dienen. Ebenso verhält es sich mit den Versuchungen und Anfechtungen, denen Gott seine Er­ wählten aussetzt, vgl. a.a.O., S. 32,26–33,25. 319  S.u. 5.3.5.3. Lediglich für die individuelle Erwählung gibt es für Tyndale Hin­ weise in Gestalt der „Früchte“ des Glaubens, s.o. 3.4.1.1 und 3.4.1.2 sowie 4.5.1 und 4.5.2. 320  Vgl. a.a.O., S. 34,18 ff: „And therfore a Christen man must be pacient and sofre longe to wynne his bother to Christ / that he whych attendeth not to daye / maye receave grace and meare to morowe“. 321  Im Gegensatz dazu ist in Mores Kirchenverständnis die Vermittlung des Heils von der Kirche als dem Ort der Präsenz des Geistes abhängig. vgl. Flesseman-Van Leer, Ecclesiology, S. 72: „More very emphatically upholds the church as ‚this whole bodye bothe of good and badde … which is in thys worlde verye sickely’. […] He accuses Tyndale of confusing the church in this world with the church triumphant“. 322  Answer, IW 3, S. 142,32.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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Reinheit innerlich schon gegenwärtig ist, auch wenn sie im ständigen Kampf gegen die fleischliche Sünde äußerlich noch durchgesetzt werden muss.323 Diese Kirche ist legitimiert durch das testimonium spiritus sancti internum, das ihren Gliedern die Kraft verleiht, in der Verfolgung durch die Kirche des An­ tichrist auszuharren.324 5.3.3.2  Wahre Kirche versus Papstkirche Die Darstellung der Gemeinde der Erwählten als wahrer Kirche Christi geht einher mit einer ausführlichen Abgrenzung von der Kirche des Papstes, deren zeitlichen und damit auch inhaltlichen Vorrang More herausgestellt hatte.325 Tyndale hält ihm einen Erwählungsdualismus entgegen, demzufolge in der biblischen Geschichte von Anbeginn die kleine Zahl der Erwählten einer feindlichen Mehrheitsreligion gegenüberstand.326 Dieser Gegensatz reicht bis in die Gegenwart, wo er sich manifestiert im Gegenüber von, die sich – wie Pharisäer und Schriftgelehrte – anmaßt, einzig wahre Interpretin und Tra­ dentin der Schrift zu sein, und Reformatoren, die Tyndale in Gemeinschaft Christi und der Apostel stehen sieht.327 Wie die einen schuldig geworden sind an Passion und Tod Christi, werden die anderen nun schuldig an der Verfol­ gung der Reformation. An die Stelle der Verurteilung der lutherischen Häre­ tiker stellt Tyndale darum seinerseits das Anathema gegen die Papstkirche: „Wir unterscheiden/trennen uns von ihnen in Sachen der wahren Schrift, des Glau­ bens und des ihm gemäßen Lebens und weisen sie in gleicher Weise zurecht. Und ebenso wie jene, die sich vom Glauben der wahren Kirche lossagen, ‚Häretiker‘ sind, 323  324 

Vgl. a.a.O., S. 142,9–29. Vgl. a.a.O., S. 28,15–18: „I said that Christes electe church is the hole multitude of all repentynge synners that beleue in Christ and put all their trust and confidence in the mercye of god / felynge in their hertes / that god for christes sake loueth them“, vgl. dazu More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 101,5–121,35. 325  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 192,26–29: „The author sheweth that no secte of suche as the chyrche taketh for heretyques / can be the chyrche / for as moche as the chyrche was before all theym / as the tree from whiche all those wythered braunches be fallen“; Vgl. dazu Answer, IW S. 3, 38,5 ff: „The pope beleueth not to be saued thorow Christe. For he teacheth to trust in holy workes for the remission of sinnes an saluacion“. Tyndale verweist hier auf die Predigt Wyclifs (vgl. a.a.O., S. 39,2: „the preachynge of wicleffe“, vgl. dazu a.a.O., S. 271 f, Anm. 39/2), der die klerikalen Missstände früher an­ geprangert hatte und erkennt im Ausbleiben von Reue und Umkehr bei Klerus und Papst ein weiteres Indiz dafür, dass die römische Kirche nicht Kirche Christi sein kann. 326  Sarkastisch kann Tyndale so auch das Wirken Christi und der Apostel als Abfall von der „wahren Kirche“ beschreiben, vgl. Answer, IW 3, S. 40,14 ff: „Wherefore the ­scribes phareses and hie prestes were the right church / and Christ and his appostles and disciples heretikes and a damnable secte“. 327  Vgl. a.a.O., 42, S. 11–14: „And soch blynd reason as oures [d.i. die Vertreter der Papstkirche] make agenst vs / made they [d.i. die Pharisäer und Schriftgelehrten] agenst Christ sayenge: Abraham is our father / we be Moses disciples / how knoweth he the vnder­stondinge of the scripture / seinge he neuer lerned of any of vs?“

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

so sind [in Wahrheit] die, die sich von der Kirche der Häretiker und dem falschen schwachen Glauben der Heuchler abwenden, die wahre Kirche“328.

Mit einem zweiten Argument Mores beschäftigt sich Tyndale noch ausführ­ licher, nämlich mit der Behauptung, die Reformatoren hätten die Schrift überhaupt erst aus der Hand der Kirche empfangen. Ihren Wahrheitsgehalt gewinne die Schrift daher erst durch die Kirche, die sie legitimiert.329 Tyn­ dale hält dieses Argument für den Grundstein im Lügengebäude der Papstkir­ che und den „Notanker“, der immer dann geworfen wird, wenn jemand un­ ter Berufung auf die Schrift Kritik an Roms Lehre und Praxis übt.330 In sei­ ner Replik differenziert er erneut erwählungstheologisch zwischen glaubender Minderheit und häretischer Mehrheit. Die verfasste Mehrheitsreligion ist für ihn nicht aus sich selbst heraus Tradentin der Wahrheit, wie das Beispiel Jo­ hannes des Täufers zeigt, der von den Vertretern der „wahren Religion“ als Häretiker verurteilt wurde.331 Die Überlieferung des Wortes Gottes hängt für Tyndale allein am souveränen Erwählungshandeln Gottes: Die Erwählten erkennen den, der sie erwählt, und wissen um die Wahrheit seines Wortes ohne die Vermittlungsinstanz der verfassten Kirche.332 328  A.a.O., S. 43,13–17: „we departe from them vn to the true scripture and vnto the faith and liuynge theirof / and rebuke them in like maner. And as they that departe from the faith of the true church are heretikes / even so they that departe from the church of heretikes and false fayned faith of ypocrites / are the true church“. 329  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 251,11 ff: „And so byleue you the chyrche / not bycause it is trouth that ye chyrche telleth you / but ye beleue the trouth of the thynge bycause the chyrche telleth it“; oder, a.a.O., S. 253, 21 ff: „I praye you tell me what scrypture hath taught the chyrch to knowe whyche bookys be the very scrypture / and to reiecte many other that were writen of the same maters“; vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 152 f. 330  Vgl. Answer, IW 3, S. 44,1–4: „This wise reason is their shoteancre and al their hold / their refuge to flight and chefe stone in their fundacion / wheron they haue bilt all their lies and all their mischeue that they haue wrought this .viij. hundred yeres“. Zur Zahl von 800 Jahren, die wohl auf die „pippinische Schenkung“ (756) anspielt s.o. 5.2.6. 331  Tyndale fragt ironisch: „now therfore when they aske vs how we knowe that it is the scripture of god / aske them how Ihon Baptiste knew“ (a.a.O., S. 47, 6 f). 332  Vgl. a.a.O., S. 47,11 ff: „who taught the egles to spie out their praye? euen so the children of god spie out their father and Christes electe spie out their lorde / and trace out the pathes of his fete and folowe“. Dass More Augustin als Gewährsmann anführt, lässt Tyndale nicht gelten (vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 181,10–14: „And therefore sayth holy saynt Austyne / I sholde not byleue the gospell / but yf it were for ye chyrche. And he sayth good reason. For were it not for the spyryte of god kepynge the trouthe therof in his chyrche / who coulde be sure whiche were ye very gospels?“; vgl. auch Answer, IW 3, S. 283, Anm. 47/31–32). Der umstrittene Satz Augustins aus dem Brief gegen die Manichäer lautet: „Ego vero Evangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae com­ moveret auctoritas“ (zitiert nach Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 153). Tyndale be­ tont in einem kurzem biographischen Abriss des Lebens des Kirchenvaters (vgl. Answer, IW 3, S. 48,3–11), dass das Zitat sich nicht auf die Institution „Kirche“ bezieht, sondern auf das Gott wohlgefällige Leben der Christenmenschen.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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5.3.3.3  Die vermeintlichen Häretiker als Blutzeugen der wahren Kirche More hatte darauf bestanden, dass die Gesamtheit der Christen die wahre Kirche sei.333 Die Vorstellung, dass die Anhänger der Reformation Glieder einer unsichtbaren Kirche der Erwählten seien, hatte er dabei auch mit der Begründung zurückgewiesen, ihre Berufung auf das Wort Gottes sei nur vordergründig und instabil. Anders als die wahren Märtyrer der Kirche seien die „lutherans“ angesichts von Folter und Scheiterhaufen stets bereit, ihrem Glauben abzuschwören, um ihre Leben zu retten.334 Man kann sich vorstellen, dass Tyndale diese anmaßende Unterstellung nicht unkommentiert lassen konnte, zumal er ja um Mores eigenes „Engage­ ment“ bei der Verfolgung der „Häretiker“ wusste.335 Er führt Thomas Hit­ ton336 als Beispiel für die Standhaftigkeit eines evangelischen Märtyrers an und entwirft ein differenziertes Bild von der Martyriumsbereitschaft im re­ formatorischen Lager: Viele vermeintliche „Häretiker“ sind nach seiner Auf­ fassung bereit, als Märtyrer in den Tod zu gehen,337 andere halten sich im Wis­ sen um die eigene Schwäche bewusst von den Gefahren der Gefangennahme fern. Manche widerrufen auch aus fleischlicher Schwäche heraus, jedoch ohne mit dem Herzen dabei zu sein und nur um später – wie einst Petrus – die Verleugnung ihres Glaubens zu bereuen. Ein letzte Gruppe schließlich wird, wenn sie in die Hände der Papstkirche fällt, selbst zu den schlimmsten Verfol­ gern der wahren Gemeinde: 333  Vgl. More, Dialogue, 1528, S. 205,4–7: „The chyrche therfore must nedys be the comen knowen multytude of chrysten men good and bad togyther / whyle the chyrch is here in erth“. Für More existiert damit nur die Differenzierung von irdischer ecclesia ­militans und himmlischer ecclesia triumphans, vgl. Flesseman-Van Leer, Ecclesiology, S. 72.74 f. 334  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 201,20–32, besonders 30 ff: „where as of youre secrete chryche I neuer yet founde or herde of any one in all my lyfe / but he wolde forswere your fayth to saue his lyfe“. 335  Vgl. die deutliche Anspielung in Answer, IW 3, S. 112,9 ff: „Answere / the moare wrath of god will light on them / that so cruelly delite to torment them and so craftely to begyle the weake“. Vgl. dazu Mores Aussagen zum angemessenen Umgang mit „Häre­ tikern“: „The author sheweth his oppynyon concernynge the burnynge of heretykes / and that it is lawfull / necessary / and well done / and sheweth also that the clergye dothe not procure it / but onely the good and polytyke prouysyon of the temporaltye“ (More, Dia­ logue, 1528, CWM 6/1, S. 405,32–406,3; dazu auch Marius, Morus, S. 435). 336  S.o. 4.1.1. In „Answer“ kommt Tyndale auch an anderen Stellen auf Prozesse gegen evangelische Engländer zu sprechen, z.B. auf Thomas Bilney (ca. 1495–1531), (vgl. Answer, IW 3, 168,5.146,11–27, dazu auch More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 255–258. 276–280.468 f; zu Bilney vgl. Dickens, S. 117–121), oder auf den vorreformatorischen Skandal um Richard Hunne (gest. 1514) (vgl. Answer, IW 3, S. 147,10–18, dazu auch More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 317–321.324–330, zum Fall Hunne vgl. Dickens, S. 131–140; Marius, Morus, S. 425). 337  Vgl. Answer, IW 3, S. 112,16 ff: „And when he saith that their church hath many marters / let him shew me one / that died for pardons / and purgatory that the pope hath fayned / and let hym take the mastrie“.

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„Denn sie kommen zu Christus um der fleischlichen Freiheit und nicht um der Liebe zur Wahrheit willen“338.

Doch Tyndale geht es nicht nur um die Ehrenrettung seiner verfolgten Glau­ bensgenossen. Er möchte seinen Kontrahenten (und die Leser) darüber hinaus auf den theologischen Denkfehler aufmerksam machen, der More daran hin­ dert, die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche nachzuvoll­ ziehen. Was More seines Erachtens nicht versteht, ist das Paradox einer sünd­ losen Kirche der Erwählten, die doch zugleich aus Sündern besteht, also den Gedanken einer christlichen Existenz als simul peccator et iustus.339 Dem Zeug­ nis der Schrift zufolge sind die Erwählten für Tyndale einerseits sündlos (1 Joh 1,8; 3,9; Eph 5,25 ff), zum anderen bleiben jedoch auch sie im Fleisch­ lichen verhaftet und können von daher auch immer noch sündigen (Röm 7). Was sie von den Nicht-Erwählten unterscheidet, ist wiederum ihr Glaube, verstanden als Folge des Geistwirkens im Herzen.340  

5.3.3.4  Die Amtsträger der wahren Kirche Ausgehend von diesem Verständnis der Existenz der Christenmenschen, er­ kennt Tyndale in Mores Kritik an seiner Übersetzung von „presb0teroi“ mit „Älteste“ („elder“)341 anstelle von „Priester“ („prest“) eine Verteidigung des römischen Klerikalismus und beharrt ihm gegenüber auf der Korrektheit sei­ ner Übertragung:342 Die Bibel spricht gerade nicht von „¥ereuV“ bzw. „sacer­ 338  A.a.O., S. 114,24 f: „because they come to Christ for fleshly liberte and not for loue of the trouth“. Zu Tyndales Auseinandersetzung mit der Praxis des Vorgehens von Kirche und weltlicher Obrigkeit gegen die vermeintlichen Häretiker vgl. a.a.O., S. 212–215. 339  Vgl. a.a.O., S. 112,19 ff: „And what a doo maketh he / that we saye / there is a church that sinneth not and that there is no man but that he sinneth / which are yet both true“; vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 203,20–205,2. 340  Vgl. Answer, IW 3, S. 113,28 f: „Where the electe hauinge the law written in their brestes and louinge it in their spirites / synne there neuer / but with out in the flesh“. 341  Aus Apg 20,17.28, wo die „ presb0teroi“ mit den „Bischöfen“ oder „Aufsehern“ („ouersear“) identifiziert werden, geht für Tyndale eindeutig hervor, dass es sich um „Äl­ teste“ handelt, da die Würde dieses Amtes der Würde ihres Alters entspricht (vgl. Answer, IW 3, S. 15,28–16,16). More hatte als Gegenbeispiel für Tyndales Übersetzung mit „el­ der“ die Gestalt des Timotheus angeführt, der trotz seiner Jugend von Paulus (1 Tim 4,12) besonders gewürdigt wird (vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 286,7–14). Tyndale verweist jedoch darauf, dass Timotheus nach dem Zeugnis der Schrift keiner der „presb0teroi“, sondern ein Apostel sei (vgl. Answer, IW 3, 16,17–26; dazu auch Hole­ czek, 327). Auch die von More so hochgeschätzte Vulgata spreche an zahlreichen Stellen von „seniores“ (vgl. Holeczek, S. 315 f.326 f). 342  Vgl. Holeczek, S. 324: „Tyndale hatte in seiner englischen Bibelübersetzung das Wort ‚presb0teroi’ erst mit ‚senior’ wiedergegeben, dann 1534 in seiner Neuausgabe des NT an allen entsprechenden Stellen durch ‚elder’ ersetzt. Aus naheliegenden Gründen empfand man die Wahl des im Englischen ungebräuchlichen Wortes ‚senior’ als Kritik an der herkömmlichen Klerikerkirche; die Änderung in ‚elder’ verstärkte diesen Eindruck noch. Der englische Leser fand das Wort ‚priest’ in diesem Text nur noch zur Bezeich­

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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dos“. In der Urgemeinde wurden vielmehr – entsprechend der jüdischen Tra­ dition und dem Naturgesetz – die Ältesten zu hervorgehobenen Ämtern be­ stimmt.343 Mit seiner Übersetzung, die bewusst auf einen die Klerikerkirche bestimmenden Priesterbegriff verzichtet und einen neuen Terminus für die Amtsträger der christlichen Gemeinde einführt, „wird ein am Vorbild der Urkirche orientierter, in Wirklichkeit noch nie so dagewesener neuer Geist­ lichentyp propagiert“344. In diesem Zusammenhang findet sich eine amtstheologische Bemerkung Tyndales, die für seine Zeit erstaunlich modern ist. Auch Frauen sind seiner Ansicht nach von Gott berufen worden, um Prophetinnen oder Richterinnen zu sein, und auch sie dürfen die Nottaufe vollziehen.345 Ausdrücklich ist für ihn außerdem nicht ausgeschlossen, dass Frauen, wenn die Situation es gebie­ tet, auch predigen, das Abendmahl verwalten und die Gemeinde lehren kön­ nen. Tyndale konstruiert einen solchen Fall: „Wenn eine Frau auf einer Insel landete, auf der Christus noch nie gepredigt wurde, dürfte sie ihn dort nicht predigen, wenn sie die Gabe dazu hätte? Dürfte sie nicht auch taufen? Und warum dürfte sie nicht aus dem gleichen Grund das Sakrament des Leibes und Blutes Christi verwalten und sie lehren, wie sie Amtsträger und Prediger auswählen?“346

Diesen bemerkenswerten Aussagen, die eine (zumindest theoretische) Mög­ lichkeit der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung für Frauen zuer­ kennen, folgen jedoch einschränkende Sätze: Auch wenn Gott im Bezug auf die Berufung in seinen Dienst keine Grenzen gesetzt sind, bleiben die Men­ schen in ihren Entscheidungen doch an das natürliche Recht gebunden und nung der Juden- und Heidenpriester, da Tyndale regelmäßig ‚¥ereuV’ mit ‚priest’ übersetzt hatte“. Zur Übersetzungstradition vor Tyndale vgl. a.a.O., S. 324 ff. 343  Vgl. Answer, IW 3, S. 19,18 ff: „And it was no doute taken of the custome of the he­ brues / where the offycers were ever elderly men as nature requireth“. Holeczek, S. 328, weist darauf hin, dass Tyndale mit „elderly men“ allerdings auch selbst einen „festvorge­ bildeten Amtsbegriff“ einführt. 344  Ebd. Zu Mores Kritik an Tyndales Argumentation in seiner „Confutation“ vgl. Holeczek, S. 329 ff. 345  Vgl. Answer, IW 3, S. 17,2–8: „We reade that wemen haue iudged all Israel and haue bene greate prophetisses and haue done mightie deades. Yee and if stories be true / wemen haue preached sens the openynge of the new testament. Doo not oure wemen now chris­ ten and ministre the sacrament of baptim in tyme of neade? Might they not by as good reason preach also / if necessite required?“ (ähnlich auch a.a.O., 177,14–178,10). Zum Ver­ ständnis der Rolle der Frau bei More und Tyndale vgl. Smeeton, Women, S. 197–199. 202–209. 346  Answer, IW 3, S. 17,7–13: „If a woman were dreuen in to some Ilande / where Christ was neuer preached / might she there not preach him / if she had the gyfte thereto? Mighte she not also baptise? And why might she not / by the same reason ministre the sacramente of the body & bloude of Christe / and teach them how to choose officers & mi­ nistres?“.

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von daher auch an die natürliche Vorordnung der Alten vor die Jungen bzw. der Männer vor die Frauen.347 Eine punktuelle Konkretion von Tyndales Amtsverständnis bietet die Aus­ einandersetzung mit More um den Zölibat für Priester.348 Mit Paulus 1 Kor 7 und 1 Tim 3 wiederholt Tyndale gegenüber dem Humanisten seine Position, dass die Ehe einem Leben in aufgezwungener Keuschheit vorzuziehen sei. Die Verbindung von Mann und Frau ist für ihn eine gottgegebene Einrich­ tung und in keiner Weise unvereinbar mit einem Leben in der Christusnach­ folge, wie More behauptet hatte.349 Gerade die Vereinigung von Mann und Frau und die damit verbundene gegenseitige Annahme und Heiligung ent­ spricht für Tyndale der Annahme des Sünders durch Christus im „fröhlichen Wechsel“.350 Den Zwangszölibat für Priester hält Tyndale darum nicht für einen von den Vätern gutgeheissenen und allgemein akzeptierten Usus, sondern für eine Zwangsmaßnahme des Papsttums, die dem Machterhalt des Klerus die­ nen soll.351 Ihr fehlt die Zustimmung der Mehrheit der Kirche, nämlich der Laien, obwohl gerade diese unter den Folgen des Zwangszölibats, nämlich der Unkeuschheit der Kleriker, zu leiden haben.352 Tyndale rät darum all je­ nen, die nicht in Keuschheit leben können, zur Heirat. Keuschheit selbst ist kein Verdienst und ihr „Bruch“ um der Liebe zum Nächsten willen keine Sünde.353 Mores Einwand, die Entscheidung für Zölibat und Priesterstand er­ folge freiwillig, weist Tyndale mit dem Hinweis auf die Verlockungen zu­ rück, mit denen das Papsttum interessierte Männer „in die Falle“ gehen lässt, namentlich das Versprechen eines besonderen status indelebilis.354 Einen ironi­ schen Hinweis darauf, dass sich ausgerechnet More als ein zum zweiten Mal 347 

Vgl. a.a.O., S. 17,19 f: „yet be we vnder the law & ought to preferre the men before the wemen and age before youth“. 348  Vgl. a.a.O., S. 153,5–167,10; vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 303,7– 314,4. 349  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 312,18–29; s.o. 3.3.5.1, 3.3.7.1. 350  Answer, IW 3, S. 154,14–21: „As when a man taketh a wife he geueth hir him selfe […] Euen so yf a man repent and come & beleue in christ to be saued from the damnacyon of the synne of which he repenteth / christ ys hys awne good immediatly“. Zu Luthers Eheverständnis vgl. Althaus, Ethik, 96–101; Bayer, S. 130–134; vgl. auch Answer, IW 3, S. 375, Anm. 154/10–28. 351  Die Konzilien, die den Zölibat sanktioniert haben, waren für Tyndale vom Papst kontrolliert. Er weitet diese Kritik auch auf den königlichen Privy Council aus: Überall sind die Statthalter des Papstes am Werk mit dem Ziel, die Herrschaft des Papsttums zu sichern (s.o. 5.2.6.2). 352  Vgl. Answer, IW 3, S. 161,7–16. 353  Vgl. a.a.O., S. 163,19–35; dies entspricht Tyndales Kritik an religiösen Gelübden überhaupt, vgl. a.a.O., S. 189,19 ff; vgl. auch More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 375,6–10. 354  Auch Mores Verteidigung der Ehelosigkeit von Priestern um ihres Dienstes am Sa­ krament willen weist Tyndale zurück. Der Körper einer Frau ist für ihn „incomparable

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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verheirateter Mann zum Verteidiger der Keuschheit aufschwingt, kann sich Tyndale nicht versagen.355 5.3.4  Der Streit um Schrift und Tradition Mit dem Verständnis der Kirche eng verbunden ist die Frage nach der Bedeu­ tung der Schrift, insbesondere in der von More eingebrachten Zuspitzung auf die zwischen Altgläubigen und Reformatoren umstrittene Frage, welcher von beiden, Kirche oder Schrift, die eigentliche und letztgültige Autorität in Glaubensfragen zukommt.356 More hatte hier klar die Priorität der Kirche als zeitlich bzw. heilsgeschichtlich vorgeordneter Instanz herausgestellt.357 Für ihn legt erst die Kirche den Bestand der biblischen Schriften fest, und einzig sie ist auch in der Lage, als Auslegerin deren dunkle und unverständliche Pas­ sagen zu deuten. Der Offenbarung in der Schrift (traditio activa) stellt More die mündlich überlieferte Tradition (traditio passiva) an die Seite, die er versteht als Offenbarung des Heiligen Geistes an die Kirche.358 Damit gründet der Hu­ manist sein Schrift- und Kirchenverständnis gewissermaßen auf ein sola eccle­ sia, das er dem reformatorischen sola scriptura entgegenstellt. An die Stelle des geistgewirkten Glaubensgeschehens zwischen dem Einzelnen und dem ver­ bum Dei tritt bei More die von der Kirche vermittelte autoritative Auslegung von Wort und Tradition.359 Tyndale geht in seiner Replik zunächst die strittige Frage nach der zeit­ lichen Vorordnung der Kirche vor der Schrift an.360 Dabei unterscheidet er zwischen Schrift und Evan­ge­lium, also zwischen der Verschriftlichung be­ stimmter Inhalte und der frohen Botschaft Christi selbst.361 Nach dem Zeug­ nis der Schrift und der eigenen Erfahrung der Glaubenden gilt für Tyndale: purer and holyer“ als die Berührung mit „water / oyle salt and soch like“ (Answer, IW 3, S. 164,3 ff). 355  Vgl. a.a.O., S. 166,30 f. 356  Vortreffliche Analysen von Schriftverständnis und Ekklesiologie bei More und Tyndale, auf die ich im Folgenden zurückgreife, bietet Flesseman-Van Leer, Tradition (besonders S. 144 f). 357  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 137,24–153,18 u. S. 179,8–186,5; zum Schriftverständnis bei More (und Tyndale) vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 145–163; vgl. auch Lawler/ Marc’hadour, S. 498–512. 358  Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 149 f. 359  Die Auseinandersetzung um diese Frage ist beispielhaft für die Kontroverse, die noch heute zum Kern konfessionsunterscheidender Gegensätze gehört, vgl. FlessemanVan Leer, Tradition, S. 143: „we find the conflict between Rome and the Reformation outlined clearly right here at its beginning and because the discussion has lost hardly any actuality, even in the form in which it was put forth“. 360  More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 114,29–115,30, argumentiert ausgehend von Mt 28,20 mit einer von der Schrift unabhängigen Präsenz Christi. 361  Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 151: „Tyndale saw asserted in More’s ex­

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„Christus muss zuerst gepredigt werden, bevor Menschen an ihn glauben können. Und daraus folgt, dass das Wort des Predigers vor dem Vertrauen des Glaubenden da sein muss“362.

Die Predigt des Evan­ge­liums, die den Glauben hervorruft, der wiederum die Gemeinde schafft, geht allem anderen voraus.363 Dies ist notwendig, weil die verdorbene menschliche Natur im Bezug auf Gott von sich aus nicht zur Er­ kenntnis in der Lage ist.364 Gott selbst muss die Menschen durch sein Evan­ge­ lium erleuchten und ihren Glauben hervorrufen, der die Gemeinde schafft.365 Als creatura evangelii ist die Kirche daher inhaltlich und zeitlich dem Wort Gottes notwendig nachgeordnet. Wie steht es aber mit der mündlichen apostolischen Tradition, die More so stark gemacht hatte?366 Tyndale gesteht zwar die Möglichkeit einer solchen mündlichen Tradition zu, stellt jedoch zugleich fest, dass die Essenz des Evan­ ge­liums in der Schrift zu finden sei.367 Wo der mündlichen Tradition – und damit auch der Kirche als ihrer „Verwalterin“ – gleicher Rang eingeräumt wird, gibt man das schriftliche Wort Gottes als Heilsbotschaft auf.368 position, not only the temporal priority of the church, but also the subordination of reve­ lation and scripture to it“. 362  Answer, IW 3, S. 23,23 ff: „Christ must first be preached yer men can beleue in him. And then it foloweth / that the worde of the preacher must be before the faith of the bele­ var“; Tyndale übernimmt hier das Verständnis Luthers, vgl. Althaus, Theologie, S. 48–56, Bayer, S. 65 ff. 363  Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 151 f, weist zurecht darauf hin, dass More den zeitlichen und inhaltlichen Vorrang der Offenbarung vor der Kirche gar nicht bestreitet und sich in seiner „Confutation“ (vgl. More, Confutation of Tyndale’s Answer, 1532/1533, CWM 8/1, S. 381,10–383,16 und CWM 8/2, S. 651,27–652,9.707,14–709,3. S. 718,18– 722,17) zu Recht gegen diese Unterstellung wehrt. Die theologische Differenz zwischen Tyndale und More liegt hier in der Frage, wie sehr das Wirken des Heiligen Geistes an die Kirche (More) bzw. an die Schrift (Tyndale) gebunden wird. 364  Vgl. Answer, IW 3, S. 23,27–30: „And agayne as the ayre is darke of it selfe and re­ ceaueth all hir light of the sonne: even so ar all mens hertes of them selfe darke with lies & receaue al their trueth of gods worde / in that they consent therto“; s.u. 5.3.5.3. 365  Vgl. a.a.O., S. 23, 25–27: „And therfore in as moch as the worde is before the faith / and faith maketh the congregacion / therfore is the word or gospell before the congregacion“. 366  Vgl. z.B. More, Dialogue, CWM 6/1, S. 115,32–36: „The holy goost taught many thynges / I thynke vnwrytten / and wherof some parte was neuer comprysed in the scryp­ ture / yet vnto this day / as ye artycle whiche no good crysten man wyll doubte of / yt our blessyd lady was a perpetuall vyrgyn as well after the byrthe of Cryst as afore“; dazu auch Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 147: „For in More’s view revelation is not yet fi­ nished. God continues to teach his church new things through the Holy Spirit“. 367  Vgl. Answer, IW 3, S. 24,25–27: „the pith and substaunce in generall of euery thinge necessarie vn to oure soules health / both of what we ought to beleue & what we ought to doo / was written“. 368  A.a.O., S. 24,31–25,1: „For if I were bounde to doo or beleue vnder payne of the losse of my soule any thynge that were not written / ner dependent of that which is writ­ ten / what holpe me the scripture that is written?“

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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Gut reformatorisch beharrt Tyndale also auf der sufficientia der Schrift als ausreichender Quelle der Erkenntnis des zum Heil Notwendigen.369 Darüber hinaus besitzt die Offenbarung Gottes selbst für ihn eine inhärente Tendenz zur Festlegung in der Form des schriftlichen Zeugnisses. Tyndale datiert die Verschriftlichung der Offenbarung auf die früheste alttestamentliche Zeit, noch vor Noah und Abraham, zurück.370 Daneben erkennt er andere sicht­ bare Zeugnisse der Offenbarung Gottes, die strukturelle Ähnlichkeiten mit dem verschriftlichten Wort aufweisen, nämlich zum einen die Wundertaten der Propheten,371 zum anderen die Zeichen, die Gott selbst seiner Gemeinde gab, um seine Verheißungen im Gedächtnis zu verankern, etwa den Regen­ bogen372 oder die Beschneidung. Gottes Bund mit seiner erwählten Gemeinde war also nach Tyndales Überzeugung zu keinem Zeitpunkt allein auf münd­ liche Überlieferungen angewiesen, sondern stets durch objektive Zeichen ab­ gesichert.373 Das Wachstum der Gemeinde, d.h. die Volkwerdung Israels und noch mehr die Entstehung der christlichen Kirche, machte es nach Tyndales Auf­ fassung schließlich erforderlich, dass die Offenbarung in Schriftform gegos­ sen wurde: „Dann wurde alles in der Schrift empfangen“374. Im Zustande­ kommen des biblischen Kanons erkennt er Gottes wunderbare Sorge um seine Gemeinde.375 Sein Wirken in den neutestamentlichen Wundern legitimiert den Kanon, nicht ein kirchliches Lehramt.376 Was More als den permanenten Zustand der Kirche beschreibt – eine Kirche, die fortlaufend göttliche Offen­ barungen empfängt –, hält Tyndale also nur für den Status in einer begrenzte 369  Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 145–150; zu Luther vgl. Bayer, 77–81, Schwarz, Art. Luther, Sp. 573; zu Bucer vgl., Müller, S. 58 ff, Stephens, Bucer, S. 140 ff. 370  Vgl. Answer, IW 3, S. 25,13 f: „And that there was writynge in the world longe yer Abraham ye and yer Noe doo stories testifie“; vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 150. 371  Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 150, gibt mit Recht zu bedenken: „This in­ deed was a dangerous argument for Tyndale to use, for in exactly the same way More had appealed in his Dialogue to miracles to validate the belief in saints, relics and pilgri­ mages“. 372  Vgl. Answer, IW 3, S. 25,26 f: „the sacrament of the raynebowe“. 373  Tyndale verwendet hier die Vokabel „testament“ (vgl. a.a.O., S. 25,25), um die Bundesbeziehung zu bezeichnen; später wird er vorwiegend vom „covenant“ sprechen. Die konditionale Struktur der Bundesbeziehung ist jedoch auch hier schon angelegt, s.u. 6.4.3 und 6.5.1. 374  A.a.O., S. 26,2: „then all was receaued in scripture“. 375  More hatte die Frage gestellt, wie denn überhaupt ohne die Autorität einer kirch­ lichen Lehre der Schriftkanon entstehen konnte, vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 253,33–255,3. 376  Vgl. Answer, IW 3, S. 135,27–29: „the first church taught nought but they confir­ med it with miracles which coude not be done but of god / tyll the scripture was auten­ tickly receaued“.

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Gnadenzeit, die mit dem Abschluss der Kanonbildung an ihr Ende gekom­ men war: „the time of the Old Testament and the apostles is a very specific heilsgeschichtliche time of immediate revelation, which does not find its unqua­ lified continuation in the time of the church“377. Auch nach dem Ende der Offenbarungszeit bedarf es für Tyndale keines kirchlichen Lehramtes, um Gottes Wort in der Schrift zu erkennen.378 Zwar gesteht er die Möglichkeit zu, dass anfangs auch falsche Überlieferungen („false boke“) zum Schriftcorpus gehört haben könnten.379 Die Schrift selbst jedoch ist ausreichender Indikator von Wahrheit und Irrtum,380 denn sie be­ zieht ihre Autorität aus dem ihr inhärenten göttlichen Wort. Die Schrift be­ darf für ihn darum keiner normierenden kirchlichen Lehre, sondern legt sich dem Glaubenden selbst aus.381 Auch in Tyndales Entgegnung auf Mores Anfragen zur Schrifthermeneu­ tik begegnet sein erwählungstheologischer Kirchenbegriff:382 Die Erwählten werden durch den Glauben in die Lage versetzt, die Schrift wahrhaftig zu verstehen und bedürfen keiner kirchlichen Auslegungsinstanz. Durch diese 377  Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 151 (Kursivierung im Original). Vgl. Answer, IW 3, S. 26,12 ff: „How then shuld we receave a new article of the faith / with out scrip­ ture / as profitable vnto my soule / when I had beleved it / as smoke for sore eyes“. 378  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 253,21 ff: „I praye you tell me what sc­ rypture hath taught the chyrch to knowe whyche bookys be the very scrypture / and to reiecte many other that were writen of the same maters“. 379  Im Sinne eines „historical faith“ musste der Überlieferung der Kirche zunächst „geglaubt“ werden, vgl. Answer, IW 3, S. 136,29: „therfore at the begynnynge I beleue them all a like“. S.u. 5.4.2. 380  Tyndale nutzt diese Argumentation Mores dazu, die Bibel in der Volkssprache zu fordern (z.B. a.a.O., S. 136,10 f: „youre churche teacheth not to know the scripture: but hideth it on the latine from the comen people“). Auf Mores Kritik an der englischen Bibel­ übersetzung eingehend, verteidigt Tyndale auch Wyclif und sein Anhänger in Böhmen und England als schrifttreue Christen, die vom Papst zu Unrecht bekämpft worden sind, vgl. a.a.O., S. 167,12–18: „M. Wicleffe was the occasion ot the vttur subuersion of the re­ alme of Bohem / both in faith and good liuynge and of the losse of many a thousand liues .T. the rule of their faith ar christes promises / and the rule of their liiuynges gods lawe. And as for the losse of liues / it is trouth that the pope slew I thynke an hundred thousande of them because of their faith and that they wold no longer serue him. As he slew in eng­ londe many a thousande“. 381  Vgl. Answer, IW 3, S. 136,21 ff: „the scipture hath hir auctorite of him that sent it / that is to wete of god / which thynge the miracles did testifie / and not of the man that brought it“. Zum reformatorische Konsens vgl. Althaus, Theologie, S. 75 ff, Lohse, Theo­ logie, S. 208; Müller, S. 114–131; Stephens, Bucer, S. 133–138. (vgl. dagegen More, Dia­logue (1528), CWM 6/1, S. 254,9–18). 382  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6, S. 254,21–26: „For we besyde the scrypture do byleue the chyrch / bycause that god hym selfe by secrete inspyracyon of hys holy spy­ ryte / doth (yf we be wyllynge to lerne) teche vs to byleue hys chyrche / And also yf we wyll walk wyth hym / ledeth vs in to the bylyefe therof / by the same meane by whych he techeth vs and ledeth vs in to the bylyefe of hys holy scrypture“; vgl. Answer, IW 3, S. 139,7–16; dazu auch Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 153.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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prädestinatianische Engführung der Schriftrezeption kann Tyndale sicher­ stellen, dass die Initiative zur Rettung des sündigen Menschen ganz in der Hand Gottes bleibt.383 5.3.5  Der Streit um Rechtfertigung und freien Willen 5.3.5.1  Der Glaube der Erwählten Das Hauptargument, mit dem Tyndale Mores Anfrage begegnet, wie denn die Erkenntnis der Wahrheit der Schrift ohne die vermittelnde Autorität der Kirche möglich sei, ist seine Differenzierung des Glaubensbegriffes. Er kann More zugestehen, dass jede Generation die Schrift als offenbartes Wort Got­ tes aus den Händen der vorangegangen empfangen hat, so auch die Reforma­ toren aus den Händen der Papstkirche.384 Der Modus des Empfangens ist hier jedoch entscheidend: „Und wenn sie fragen, ob wir nicht allein dadurch daran glauben, dass es Gottes Wort ist, weil sie es uns sagen, antworte ich, dass es zwei Formen des Glaubens gibt: Einen historischen Glauben und einen fühlenden Glauben“385.

Mit dieser Differenzierung des Glaubensbegriffs hält Tyndale More eine Un­ terscheidung entgegen, die erstmals von Philipp Melanchthon vorgenommen wurde.386 Mit ihrer Hilfe kann er eine rein chronologische Vorordnung der römischen Kirche zugeben, ohne die Wahrheit des reformatorischen sola scrip­ tura aufgeben zu müssen. Auf der Ebene eines „historical faith“, der das für wahr hält, was ihm gesagt wird, ist die Kirche tatsächlich Tradentin des Glau­ bens. In gleicher Weise wäre ihr – wie Tyndale ironisch hinzufügt – jedoch 383  Tyndale erkennt, dass auch für More das Wirken des Geistes bei der Vermittlung der Heilsbotschaft von Bedeutung ist und hält ihm darum vor, ebenfalls ungewollt präde­ stinatianisch zu argumentieren, vgl. Answer, IW 3, S. 140,16–21: „And thus is M. More faulen vppon predestinacion and is compelled with violence of scripture to confesse that which he hateth and studieth to make appere false / to stablish fre-will with all not so moch of ignoraunce I feare for lucres sake and to gett honoure / promocion / dignite and money by helpe of oure mitred monsters“. 384  Vgl. a.a.O., S. 48,23 ff: „And when they aske whether the we receaved the scripture of them? I answere / that they which come after recaue the scripture of them that go be­ fore“. Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 153: „It is remarkable, that Tyndale fully admits that we receive scripture from the hands of the church, and that on her authority we believe this is the word of God“. 385  Answer, IW 3, S. 48,25–28: „And when they aske whether we beleue not that it is gods worde by reason that they tell vs so. I answere / that there are .ij. maner faythes / an historicall faith and a felynge faith“. 386  Zur fides historica im Unterschied zur fiducia vgl. Melanchthon, Loci Communes (1521), 6,14 (Pöhlmann, S. 212–215); 6,21–50 (Pöhlmann, S. 216–227); 6,61 f (Pöhlmann, S. 230–233); 6,106 f (Pöhlmann, S. 246–249); vgl. auch Answer, IW 3, S. 284, Anm. 48/27–28. Auch More bemerkt in seiner Confutation, dass Tyndale hier Melanchthons Gedanken aufnimmt: „hym selfe hath here deuysed an euasyon by meane of a dystync­ cyon made by Melancthon“ (More, Confutation, 1532/1533, CWM 8/2, S. 741,34 f).

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auch zu glauben, dass die Geschichte von Robin Hood Gottes Offenbarung sei.387 Der „historical faith“ als bloßes Fürwahrhalten des Überlieferten ist eben kein Glaube im biblischen Sinne. Der eigentliche Glaube ist „feeling faith“, verbunden mit eigener existen­ tieller Erfahrung, die das Geglaubte absolut evident macht:388 Wie ein Kind, das seiner Mutter zwar rational „glaubt“, dass es schmerzt, die Hand ins Feuer zu halten und das doch ungleich stärker davon überzeugt wird, wenn es sich selbst bei einem ersten solchen Versuch selbst verbrannt hat, so erfährt auch der Glaubende im Sinne des „feeling faith“ die Wahrheit des Wortes Gottes.389 Ein solcher tief empfundener Glaube ist kein Produkt menschlicher Über­ lieferung, sondern Werk des göttlichen Geistes,390 und nur ein solcher Glaube bringt Früchte hervor.391 Daher ist nicht die Kirche Vermittlerin des Glau­ bens, wie More es versteht, sondern Gott allein bleibt Subjekt des Heilsge­ schehens, indem er durch seinen Geist jedem Erwählten selbst den Glauben ins Herz gibt. Flesseman-Van Leer hat daher Recht, wenn sie die Divergenz 387  Vgl. Answer, IW 3, S. 49,12–15: „So now with an historicall faith I maye beleue that the scripture is Gods by the teachynge of them / and so I shuld haue done though they had told me that roben hode had bene the scripture of God“. Robin Hood ist ein von Tyn­ dale mehrfach herangezogenes Beispiel für eine weit verbreitete, doch im Kern substanz­ lose Legende (vgl. a.a.O., S. 285, Anm. 49/14); vgl. z.B. Mammon, PS 1, S. 80; Obedience, PS 1, S. 220 (PC, 78). 388  Vgl. Melanchthon, Loci Communes (1521), Pöhlmann, S. 248: „Neque vero ­historiae de Christo credere id est, quod putant impii, sed credere cur carnem induerit, cur crucifixus sit, cur post mortem in vitam redierit, nempe, ut iustificaret, quotquot credituri sibi essent. Haec tu si credis, tuo bono, tui servandi gratia gesta esse, feliciter credis“. Den „fühlenden Glauben“, der sich auf die Schrift bezieht, kontrastiert Tyndale daher voll Ironie mit dem „gefühlten“ Glauben Mores, der alles für wahr hält, was die Papst­kirche behauptet, vgl. Answer, IW 3, S. 141,9–28. „M. More feleth in his hert by inspiracion and with his endeuerynge him selfe and catiuatynge hys vnderstandynge to beleue it / that there is a purgatory as whot as hell. […] And I cleane contrary fele that there ys no soch worldely and fleshely imagined purgatory. For I fele that the soules be purged only by the worde of god and doctrine of christe“. 389  Vgl. Answer, IW 3, S. 49,4–12: „Even like wise iff my mother had blowen on hir finger and told me that fire wold burne me / I shulde haue beleued hir with an historicall faith / as we beleue the stories of the worlde / because I thought she wold not haue mocked me. And so I shuld haue done / if she had told me that the fire had bene cold and wold not haue burned / but assone as I had put my fingre in the fire / I shuld haue beleued / not by the reason of hir / but with a felynge faith / so that she could not haue persuaded me aftir warde the contrarie“. 390  Vgl. a.a.O., S. 49,22 ff: „And this fayth is none opinion / but a sure felynge / and therfore euer frutefull. Neyther hangeth it of the honestie of the preacher but of the ­power of God and of the spirite“. 391  Vgl. a.a.O., S. 50,18 f: „If I haue no nother fealynge in my faith then because a man so saith / then is my faith faithlesse and frutelesse“. Die Folgen eines fruchtlosen Glaubens zeigen sich für Tyndale in den Missständen der Papstkirche, in der Unzucht und Habgier der Priester; vgl. a.a.O., S. 51,30 ff: „as the pope preacheth with hys mouth only / even soo beleue they wyth theyr mouth only what soeuer he preacheth“.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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im Glaubensbegriff als einen Hauptunterschied zwischen Tyndale und More benennt.392 Zwar ist für beide die Gegenwart des Geistes die entscheidende Größe, die den Glauben bewirkt, das Objekt dieses Wirkens definieren sie je­ doch diametral entgegengesetzt: „Both acknowledge the testimonium internum Spiritus Sancti as ultimate authority, but for the one it is directed towards the church, for the other towards scripture […] Here faith stands against faith, unprotected, unproved, resting merely on the subjective certainty which is given by the H. Spirit“393. Tyndale bindet die Wahrheit des göttlichen Wortes nicht an die Kirche, sondern an die Lektüre der Schrift oder die Predigt und versteht sie durch das Wirken des Geistes Gottes selbst unmittelbar vermittelt.394 In seiner Beto­ nung des Geistwirkens geht Tyndale an einigen Stellen – ähnlich wie der ana­ log argumentierende Martin Bucer395 – sogar so weit, die Schrift als bloßes Vehikel für die Geistbegabung der Glaubenden zu bezeichnen.396 Der Spiri­ tualismus dieser Passagen wird von ihm dabei nicht immer eingeholt durch 392  Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 154: „Formally More and Tyndale seem to approach each other in this point, but also in this points their fundamental difference, to which all other controversial points can be traced, comes to the fore“. 393  Ebd. (Kursivierung im Original). 394  Vgl. Answer, IW 3, S. 53,21 ff: „And when he asketh how thou knowest that it is true / answere because it is written in thine herte. And if he aske who wrott it / answere the sprite of God“. Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 161: „The great difference between them is that according to Tyndale the Spirit, always bound to scripture, works in the individual believer, and that according to More the Spirit is given to the church. The consequence is that Tyndale and in general the reformers dare to place their individual certainty-of-faith over against the entire church. In More’s eyes this is conceited, arrogant and arbitrary and destroys all certainty“. 395  Vgl. Bucer, Handel mit Cunrat Treger (1524), BDS 2, S. 93,5–21: „Darumb, lieber Treger, so einer gefragt würt, wie obgesagt, warumb er glaube, das Christus wor Gott und mensch sey? Wer dann recht glaubt, spricht: Das Evangelion hat mirs also verkündet. Und so du sagtest: Warumb glaubstu dem Evangelio? Spricht er: Nitt darumb, das es die kirch geheyssen hat, dann ir heyssen nyemant glauben macht, sye bekerte sunst wol alle Thürcken und Heyden nur mit irem gebott, sonder er spricht: Darumb, das es das wort Gottes ist. Und so du yn fragest: Wohaer weyst zu das? So spricht er: Gott hat mich be­ gnadet und durch sein geist mir solchs geoffenbaret […] Fragstu yn dann weyter: Wer will dir sagen, ob es Gottes schrifft oder menschen schrifft sey? So antwort er: Der geist, der troester, der uns nach der verheyssung Christi leytet yn alle worheit, der sagt mirs. dann Johan. vi. stot: Sye seind alle von Gott gelert. Also findt es sich, das der letst spruch in sachen des glaubens ist des heyligen geistes in eins yden glaeubigen hertzen“; dazu auch Lang, S. 120–132; Müller, S. 198 f; Stephens, Bucer, S. 266 ff. 396  Vgl. Answer, IW 3, S. 53,26–34: „And if they aske whether thou beleuest it not be­ cause it is written in bokes or because the prestes so preach / answere no / not now / but only because it is written in thine hert and because the spirite of god so preacheth and so testifieth vn to thi soule. And saye / though at the begynnynge thou wast moued by rea­ dynge or preachynge / as the Samaritanes were by the wordes of the woman / yet now thou beleuest it not therfore any lenger / bit only because thou hast herde it of the spirite of God and red it written in thyne herte“.

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die Bindung des Geistes an das Wort der Schrift. Er scheint hier lediglich zwi­ schen einer äußerlichen Dimension (Wort – Ohr) und dem eigentlichen in­ nerlichen Geschehen (Geist – Herz) zu unterscheiden.397 5.3.5.2  Zum Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung Indem Tyndale Mores Häresievorwürfe gegen Luther und sich selbst wi­ derlegt,398 gibt er noch einmal eine kurze Fassung seiner reformatorischen Soteriologie.399 Dabei ist auffällig, dass er sich durchweg mit Luther einig weiß und dies durch Verwendung der ersten Person Plural („we“) an mehre­ ren Stellen besonders unterstreicht.400 Dessen ungeachtet finden sich jedoch in einigen Punkten auch die schon in früheren Schriften aufgefallenen Ak­ zentverschiebungen von Luther in Richtung der oberdeutschen Theologie. Der „waye towarde iustifienge or forgeuenesse if sinne“401 führt für Tyn­ dale über die Erkenntnis der Sünde durch das anklagende Gesetz und die reu­ mütige Anerkennung der Angewiesenheit auf Gottes Gnade.402 Durch das Opfer des Sohnes, also propter Christum, vergibt Gott den Menschen ihre Sün­ den und verspricht ihnen zugleich die innere Heilung.403 Systematisierend stellt Tyndale die Reihenfolge der drei Elemente Reue, Glaube und Liebe im Prozess der Rechtfertigung und Heiligung heraus: 397  Vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 156: „Only the Spirit of God leads to the real truth by writing it in man’s heart. Scripture can only be his outward instrument, just as the preaching of the church can be such an instrument. Though Tyndale is certainly convinced, that scripture is the instrument par excellence“. 398  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 345,1–435,33. 399  More zählt wesentliche Inhalte reformatorischer Theologie in einer verkürzten und bewusst verzeichnenden Form auf (vgl. a.a.O., S. 352,22–355,2), so steht z.B.: „Item he techeth yt onely fayth suffyseth to our saluacyon wyth our baptysme / wythout good workys“ (a.a.O., S. 352,27 f) in einer Reihe mit: „Item he sayth that god ys as veryly the author and cause of the euyll wyll of Iudas in betrayeng of Cryst / as of the good wyll of Cryst in suffryng of hys passyon“ (a.a.O., S. 353,6 ff). 400  Vgl. z.B. Answer, IW 3, S. 197,6–10: „And when we saye fayth only iustifyeth / that ys to saye / receaueth the mercye wherewyth God iustifyeth vs and forgeueth vs / we meane not fayth whych hath noo repentaunce and fayth whych hath no loue vn the laweys off God agayne and vn to good werkes / as wyked ypocrytes falsly belie vs“. Die Solidari­ sierung mit Luther wird besonders auch dort augenfällig, wo Tyndale ihn gegen konkrete Vorwürfe und Unterstellungen Mores verteidigt, vgl. z.B. in der Rechtfertigung von Lu­ thers Verhalten vor dem Wormser Reichstag (a.a.O., S. 186,25–187,12; vgl. More, Dia­ logue, 1528, CWM 6/1, S. 362,29–363,5), in der Zurückweisung von Mores Behauptung, Luther sei maßgeblicher Urheber der Bauernaufstände 1525 in Deutschland (Answer, IW 3, S. 188,13–22; vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 369,6–9) und in der Betonung der kritischen Haltung Luthers zur Gewaltanwendung beim „Sacco di Roma“ (Answer, IW 3, S. 188,23–26; vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 370,28–372,20). 401  Answer, IW 3, S. 195,21 f. 402  Vgl. a.a.O., S. 195,25 ff: „I fele that there ys no power in me / to kepe the lawe where vppon it wold shortly folow that I shud dyspeare / if i were not shortly holpe“. 403  Vgl. a.a.O., S. 195,33–196,1: „I wyll heale thy flesh and teach the to kepe thys lawe / if thou wilt lerne“.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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„Beachte nun die Reihenfolge: Zuerst gibt Gott mir das Licht der Einsicht in seine Güte und die Gerechtigkeit des Gesetzes und in meine Sünde und Verworfenheit. Aus dieser Erkenntnis entspringt die Buße. Die Buße aber lehrt mich nicht, dass das Gesetz gut ist und ich selbst böse, sondern ein Licht, das der Geist Gottes mir gegeben hat, [lehrt mich,] aus diesem Licht aber entspringt die Buße. Daraufhin bewirkt der gleiche Geist in meinem Herzen ein Vertrauen und Zuversicht, der Barmherzigkeit und Wahrheit Gottes Vertrauen zu schenken, dass er auch tun wird, wie er verheißen hat. Dieser Glauben rettet mich. Und sofort entspringt aus diesem Vertrauen erneut die Liebe zu Gottes Gesetz“404.

Der Lossprechung von der Sündenschuld durch das Evan­ge­lium Jesu Christi entspricht für Tyndale also auch hier eine effektive Veränderung des Glau­ benden, die ihn zur Befolgung des Gesetzes befähigt.405 Dem ganzen Prozess geht die Liebe Gottes voraus: „Nicht wir lieben Gott zuerst, um ihn zu zwingen, die Liebe zu erwidern, sondern er liebt zuerst uns und gab seinen Sohn für uns, auf dass wir lieben und Liebe er­ widern“406.

Ausführlich behandelt Tyndale in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Paulus und Jakobus, das More gegen die reformatorische Lehre in Anschlag gebracht hatte.407 Für Tyndale stehen die Aussagen beider nicht im Wider­ spruch zueinander, sondern sie akzentuieren lediglich unterschiedliche As­ 404  A.a.O., S. 196,13–22: „Note now the ordyr / first God geueth me light in se the goodnesse and ryghtwysnesse off the lawe and mine awne synne and vnryghtwesnesse. Out of whych knowlege springeth repentaunce. Now repentaunce teacheth me not that the law ys good / and I euell / but a lyght that the spyryte off God hath geuen me / out off whych lyght repentaunce springeth. Then the same spirite worketh in myne herte trust and confidence to beleue the mercye of God and hy trueth / that he wyll doo as he hath promised. Whych beleffe saueth me. And immediatly out of that trust springeth loue tow­ arde the lawe of god agayne“. Im Zuge der theologischen Argumentation gesteht Tyndale jedoch zu, dass die „Phasen“ im soteriologischen Heilungsprozess manchmal auch „rück­ wärts“, vom Ergebnis aus betrachtet werden, vgl. a.a.O., S. 199,28 ff : „And ye must vn­ derstonde / that we some tyme dispute forwarde / from the cause to the effecte and some tyme backwarde from the effecte to the cause“. Tyndale selbst demonstriert diese Logik des Umkehrschlusses a.a.O., S. 201,22 ff: „And he that hath that loue hath the right faith. And he that hath that faith hath the right loue“. 405  Vgl. a.a.O., S. 196,7–10: „the herte here begynneth to mollyfye and wax softe and to receaue health and beleueth the mercy of God and in beleuynge is saued from feare of euerlastynge deeth and made sure offf euerlastynge lyfe“ (s.o. 2.7.2.1, 3.2.6.2 und 4.5.2). 406  A.a.O., S. 196,33–197,2: „For we loue not God first / to compel him to loue agayne: but he loued vs first and gaue hys sonne for vs / that we might se loue and loue agayne“. An anderer Stelle formuliert Tyndale das Rechtfertigungsgeschehen erneut mit einer Meta­ pher aus dem Bereich der Kindererziehung, vgl. a.a.O., S. 206,12–17: „As when a father pronounceth the law / that the child shall goo to scole / it saith naye. For that killeth his hert and all his lustes / so that he hath no power to loue it. But what maketh his herte aliue to loue it? verely fayre promises of loue and kindnesse / that it shal haue a gentle scolemas­ ter and shall playe ynough and shall naue many gaye thynges and so forth“. 407  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 386,30–388,34, s.o. 3.2.9.3.

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pekte des Verhältnisses von Glauben und Werken. Das „allein durch Glau­ ben“ (Gal 2,16; Röm 3,28) des Paulus und das „allein aus Werken“ (Jak 2,24) des Jakobus sind in der jeweiligen Bedeutung des „allein“ voneinander zu unterscheiden:408 Während Paulus darauf hinweist, dass der Glauben allein im Herzen und vor Gott gerecht macht, ohne dass die Werke dabei eine Rolle spielen, hält Jakobus fest, dass der Glauben deswegen nicht allein rechtfertigt, weil ihm ganz natürlich Werke folgen und den Menschen vor der Welt recht­ fertigen. Für Tyndale bezieht sich das ausschließliche „allein“ bei Paulus also auf den Status des Menschen coram Deo, bei Jakobus hingegen auf seinen Stand coram mundo. 5.3.5.3  Die Frage nach dem freien Willen Intensiv geht Tyndale der von More aufgeworfenen Frage nach dem freien Willen des Menschen nach und hält mit Luther fest,409 dass der Wille des Menschen bezogen auf sein Gottesverhältnis unfrei, im Bezug auf die welt­ lichen Dinge jedoch frei ist.410 Wie Luther geht es Tyndale bei der Leugnung des freien Willens darum, jede Mitwirkung des Menschen an seinem Heil auszuschließen.411 Als von der Sünde korrumpiertes Wesen ist er dazu nicht 408  Answer, IW 3, S. 202,21 ff: „when Paul saith faith only iustifieth: and Iames / that a man is iustified by werkes and not by fayth only / there is a greate difference betwene Pauls only and Iameses only“. 409  Vgl. WA 18, S. 638,4 ff (De servo arbitrio, 1525): „Quod si omnino vocem eam omit­ tere nolumus, quod esset tutissimum et religiosissimum, bona fide tamen eatenus uti do­ ceamus, ut homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei concedatur“. Vgl. auch Bayer, S. 173: „Unfrei ist der Wille […] nicht im Bezug auf die innerweltliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Menschen, auf jenes liberum arbitrium, das Luther sowie das von Melanchthon verfasste Augsburger Bekenntnis (Ar­ tikel 18) durchaus lehren und bekennen. Unfrei ist der Wille jedoch im Bezug auf den Existenzgrund des Menschen, sofern dieser durch des Menschen Unwesen – durch die Sünde, den Unglauben – bestimmt ist“ (Kursivierung im Original). Zu Luthers Lehre vom unfreien Willen vgl. auch Althaus, Theologie, S. 105.140 f; Lohse, Theologie, S. 181–187.272 f; Schwarz, Art. Luther, Sp. 582 f. Auch Bucer übernimmt Luthers Auf­ fassung des unfreien Willens, vgl. Müller, S. 38 ff; Koch, S. 85–87. 410  Vgl. Answer, IW 3, S. 175,2–12: „when he affermeth that we saye / our wyll is not fre to doo good and to helpe to compell the membres / when god hath geuen vs grace to loue his lawes / is false […] we affirme that we haue no frewyll to preuent god & his grace & before grace prepare oure selues therto / nether can we consent vn to god before grace become“; vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 352,36–353,5: „Item he techeth yt no man hath no fre wyll / nor can eny thynge do therwyth / not though the helpe of grace be ioyned thervnto / but that euery thynge that we do good & badde / we do nothyng at all there in our self / but onely suffer god to all thyng in vs good & badde / as wexe ys wrought in to an ymage or a candell by the mannys hande wythout eny thyng doyng therto yt selfe“; vgl. Wallace, S. 204 f. 411  Vgl. Luthers Vorwurf an Erasmus: „Non enim cogitans, quam magnum tribuas illi [d.i. arbitrio] hoc pronomine SE vel SEIPSAM, dum dicis, potest SE applicare, prorsus scilicet excludis spiritum sanctum cum omni virtute sua tanquam superfluum et non ne­ cessarium“ (WA 18, S. 665,13–16, De servo arbitrio, 1525); vgl. dazu auch Bayer,

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in der Lage, wie seine Unfähigkeit, Gottes Gebote zu erfüllen, offenbar macht.412 Allein durch das Eingreifen Gottes kann der Mensch gerettet wer­ den. Darum ist der Glaube, der diese Rettungstat mithilfe des göttlichen Geistes ergreift und das menschliche Herz zur freudigen Zustimmung zum Gesetz Gottes bringt, das rechtfertigende Moment.413 Folge dieses Verständ­ nisses der Rechtfertigung, das Gott als Subjekt und den Menschen als passives Gegenüber sieht, ist die Prädestinationsvorstellung:414 Gott muss diejenigen, denen er den Glauben schenkt, vorher erwählt haben, wenn er allein souverä­ ner Herr des Geschehens sein soll.415 Mores Kritik an der reformatorischen Leugnung des freien Willens greift nun genau die theologische Schwachstelle dieser prädestinatianischen Zuspit­ zung an, nämlich die Frage nach dem Gottesbegriff: Rettet allein Gott durch sein erwählendes Handeln, ohne dass der Mensch durch sein Verhalten etwas beeinflussen kann, so ist Gott zwar der souveräne Entscheidungsträger, ihm fällt jedoch in letzter Konsequenz auch die Verantwortung für das Böse zu. Die kritische Anfrage Mores, ob Gott nach reformatorischer Sicht also auch S. 169–172. Auski, Reason, S. 43 f, meint hier zu Unrecht, Tyndales angeblich positive Sicht der Vernunft von einer negativen Luthers abgrenzen zu können und verkennt die Stoßrichtung der Argumentation bei Tyndale und Luther. 412  Vgl. Answer, IW 3, S. 174,13 ff: „a man can doo no good werke tyll he beleue that his synnes be forgeuen him in Christe and tyll he loue gods law and haue obtayned grace to worke with“. 413  Vgl. a.a.O., S. 175,12–17: „For vntill god haue preuented vs & powred the spirite of his grace in to oure hertes by the outwarde mynistracyon of his true preacher and inwarde workynge off his spirite or by insperacion only / we know not god as he is to be knowen ner fele the goodnesse or any swetnesse in his law“. Wie schon an anderer Stelle (s.o. 5.3.4) nimmt Tyndale hier keine klare Begrenzung der Wirkung Gottes durch das Wort vor, sondern formuliert mit einer gewissen spiritualistischen Offenheit: „or by insperacion only“. 414  Die Frage nach der Prädestinationsvorstellung bei Luther ist umstritten (vgl. Alt­ haus, Theologie, S. 238 f; Bornkamm, Luther, S. 394–405; Kaufmann, Erasmus, S. 150). M.E. kann man bei Luther nicht von einer „Prädestinationslehre“ sprechen, da Luther in seinen Aussagen zum göttlichen Erwählungshandeln stets vorsichtig bleibt. Aber auch er kann in der Auseinandersetzung mit Erasmus, um Gottes Majestät sicherzustellen, prä­ destinatianisch formulieren (vgl z.B. WA 18, S. 685,25–686,13, De servo arbitrio, 1525). Leppin hat wohl recht, wenn er in Luthers Prädestinationsanfechtungen seiner Kloster­ zeit den Grund für die Vermeidung des Themas bei Luther ausmacht und feststellt: „Nun aber, gedrängt durch Erasmus, konnte er dem Thema nicht ausweichen, denn die Prä­ destination hing unweigerlich mit dem freien Willen zusammen“ (Leppin, S. 251 f). An­ gesichts diese Befundes sollte man daher nicht wie A. Richardson, Quarrel, S. 62, unre­ flektiert von „Lutheran predestinarianism“ sprechen (s.o. 1.4.3). 415  Vgl. Answer, IW 3, S. 175,22 f: „And who shall take those dieseases from them? God only thorow his mercie“. Zur parallelen Argumentation Luthers gegen Erasmus vgl. Kaufmann, Erasmus, S. 150: „Das elementare Interesse christlicher Glaubensgewißheit sei darauf ausgerichtet zu wissen, daß Gott allein der Grund des Heils ist und daß er seine Verheißungen erfüllen wird“.

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„author and cause of the euyll“416 sei, verlangt Tyndale (wie ja auch Luther in der Auseinandersetzung mit Erasmus)417 eine größere theologische Anstren­ gung ab. Er versucht, des Problems Herr zu werden, indem er die eingangs vorge­ nommene Differenzierung zwischen der Willensfreiheit in weltlichen und geistlichen Dingen aufgreift. Mit Bezug auf das Irdische gibt es sehr wohl eine menschliche Entscheidungskompetenz, und insofern diese Möglichkeit von Gott als dem Schöpfer stammt, ist er – freilich nur sehr indirekt – auch als Urheber des Bösen zu sehen.418 Eigentlich ist es jedoch, so Tyndales Ein­ schränkung, die Schwäche des Menschen, die den Grund des Bösen in der Welt darstellt und nicht Gottes Wille. Gegen Mores Vorwurf an Luther, Gott zu einer All-Kausalität zu machen,419 setzt Tyndale sein Verständnis der Sünde als Produkt freier menschlicher Entscheidung: „Ein Mensch sündigt freiwillig“420. Gottes Verantwortung beschränkt sich für ihn darauf, dem Menschen die Möglichkeit zur Sünde einzuräumen. Um Gottes „Mitwir­ kung“ am Bösen noch weitgehender auszuschließen, lastet Tyndale die Ver­ kehrung der ursprünglichen guten Intention Gottes zusätzlich dem Wirken des Teufels an.421 Spätestens dieses Insistieren auf einer Gott widerstreitenden Kraft macht allerdings deutlich, dass Tyndales Argumentation sich in Aporien verfängt. Auf der einen Seite will er Gottes prinzipielles Gutsein auf jeden Fall behaup­ ten, auf der anderen Seite möchte er auch Gottes übergreifende Souveränität 416  417 

More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 353,6 f. Vgl. Leppin, S. 253 f; Bayer, S. 171. Vgl. Kaufmann, Erasmus, S. 150 f: „Luthers ganz von der überwältigenden Gna­ denerfahrung her konzipierte, im gewißmachenden Evan­ge­lium zentrierte Glaubens­ konzeption erfuhr in De servo arbitrio eine in bezug auf das Gottes- und Menschenbild radikal zuspitzende Ausarbeitung, an der sich – auch im Spiegel der Rezeptionsge­ schichte – die Geister scheiden sollten“; vgl. dazu auch Leppin, S. 246–257. 418  Vgl. Answer, IW 3, S. 175,27–33: „I answere / that in respecte of god we doo but sofre only and receaue power to doo all oure dedes whether we doo good or bad […] But in respecte of the thinge wherin or wherwith we worke and sheade out agayne the power that we haue receaued / we worke actually“. 419  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6, S. 377,1–4: „that wrechedly lay all the weyght and blame of oure synne to the necessyte and constraynt of goddys ordynaunce / affyrmyng that we do no synne of oure selfe by eny power of our owne will / but by the compulsyon and handy worke of god“. 420  Answer, IW 3, S. 191,9: „a man synneth voluntaryly“. Tyndale versteht das Böse augustinisch als Mangel an Gutem, vgl. a.a.O., S. 191,9–14: „But the power of the will and of the dede is off god and euery will and deed are good in the nature of the dede and the the euelnesse is a lacke that there is / as the eye / though it be blinde is good in nature in that it is soch a member created for soch a good vse: but it is called euell for lacke of sighte“; vgl. Bayer, S. 188. 421  Vgl. Answer, IW 3, S. 191,29 ff: „the deuel blindeth vs with falshed and lies which ys our worldly wisdome / and therwith stoppethout the true light of gods wisdome / which blindness is the euellnesse of all our dedes“.

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nicht antasten. Die „Lösung“ ist eine Differenzierung im Begriff der Willens­ freiheit und die Einräumung eines widergöttlichen „Gegenspielers“. Ein Gott, der mit dem Teufel streitet, ist jedoch nicht uneingeschränkt souverän. Letzt­ lich bleibt in Tyndales Antwort auf die (unlösbare) Frage unde malum ein apo­ retischer Rest.422 Wie Luther versucht auch Tyndale auf diesem schwierigen theologischen Terrain wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, indem er das Au­ genmerk auf Gottes Gnadenhandeln richtet.423 Der Mensch ist für ihn trotz der Blendung durch den Teufel in der Lage, Gottes Schöpferwillen entsprechend zu leben, weil Gott ihm diese Möglichkeit schenkt.424 Warum der eine mit die­ sem Geschenk bedacht wird, ein anderer aber nicht, entzieht sich jedoch dem menschlichen Urteilsvermögen: „it is to depe for mans capacite“425. – Tyndale verweist auf Röm 9,19 f und beruft sich damit am Ende auf das Geheimnis der göttlichen Erwählung. So dunkel seine hier bedachten Konsequenzen der reformatorischen Recht­ fertigungslehre bleiben, so viel klarer ist Tyndales Gegenangriff auf die papst­ kirchliche Lehre eines freien Willens, die für ihn dem Zeugnis der Schrift widerspricht. 426 Mores – auf Ockham und Biel gestützte427 – Annahme, die Erwählung der Glaubenden erfolge aufgrund der göttlichen Einsicht („tow­ ardnesse“428) in ihre innere Disposition zum Guten, scheitert am Verlust des  

422  Gleiches gilt jedoch auch für Luther, der allerdings differenzierter argumentiert als Tyndale, vgl. Bayer, S. 185: „Luther hält fest an Gottes Güte, an seiner Allmacht und zu­ gleich an seiner Einheit – und zwar eben um der Gewissheit des Heils willen. Eher nimmt er logische Aporien in Kauf, als dass er sich etwas von Gottes Macht und Güte abmarkten ließe oder aber seine Einheit leugnete“ (Kursivierung im Original). 423  Vgl. Bayer, S. 190 ff; Leppin, S. 254 f. 424  Vgl. Answer, IW 3, S. 191,32–192,4: „that a nother man loueth the lawes of God and vseth the power that he hath of God well / and referreth his wyll and hys dedes vn to the honoure off God / cometh off the mercy off God which hath oppened hys wittes and shewed him light to se the goodnesse and rightwysnesse of the law of god and the waye that is in Christ to fulfill it“. 425  A.a.O., S. 192,6 f. 426  Vgl. a.a.O., S. 192,24–32: „I axe the popish one question whether the wyll can preuent a mans wytte and make the witt se the rightwesnesse of the law and the waye to fulfil it in christ? […] For I must beleue the mercy yer I can loue the worke“, darum gilt: „Now faith cometh not of oure frewyl / but is the gyft of god geuen vs by grace yer therbe any wyl in our hertes to doo the lawe of god“. 427  Vgl. a.a.O., S. 417, Anm. 209/16. 428  A.a.O., S. 209,18; vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 401,34–402,5: „Nowe god frome the begynnynge before the worlde was created / foreseynge in hys dyuyne prescyence or rather in the eternyte of hys godhed presently beholdynge / that Peter wolde repent and Iudas wolde dyspayre / and that the one wolde take holde of hys grace and the other wolde reiecte it / accepted and chose the one and not the other / as he wold haue made the contrary choyce / yf he had foresene in them the contrary chaunce“. Mit diesem Vorsehungsverständnis handelt sich More freilich ebenso große Erklärungs­ schwierigkeiten ein, was den Gottesbegriff betrifft, wie Tyndale, denn ist nicht auch die

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inneren Gut-Seins durch den Sündenfall,429 wie Tyndale am Beispiel von Pe­ trus und Judas aufzeigt: „Wenn Gott Petrus erwählt hat, weil er bereute, wa­ rum hat er nicht auch Judas erwählt, der ebenso bereute und seine Sünde ein­ gestand und das Geld zurückbrachte?“430 Mores tyrannischer Gott ähnelt – wie Tyndale sarkastisch erklärt – seinem einstigen Arbeitgeber, Kardinal Wolsey. Tyndales Gott hingegen ist ein lie­ bevoller Vater, der sein Kind zwar züchtigt, aber doch nicht aufhört, es zu lieben: „Er denkt von Gott, dass er so handelt wie sein Kardinal, nämlich dass er [d.i. Gott] ein Monster sei, das Freude hat, wenn Menschen ihm schmeicheln und das, wenn Men­ schen seine Gebote – aus welcher Schwäche auch immer heraus – brechen, vor Wut tobt und auf Rache sinnt, wie der Papst. Nein, Gott ist den erwählten Gliedern seiner Kirche gegenüber väterlich gesonnen. Er liebte sie, noch ehe die Welt begann, in Christus […] Und immer wenn sie aus Schwäche sündigen, hört Gott nicht auf sie zu lieben, auch wenn er zornig wird und ihnen ein Kreuz an Trübsal auferlegt, um sie zu reinigen und um das Fleisch unter den Geist zu zwingen oder wenn er ihre Gewissen bricht durch die Drohungen des Gesetzes und sie mit der Hölle erschrickt. Wie ein Va­ ter, der mit der Rute droht, wenn sein Sohn ihn beleidigt, ihn aber doch nicht hasst“431.

Providenz, mit der Gott die von ihm schon vorausgesehene innere Disposition eines Men­ schen nachvollzieht, eine Form, das Böse zuzulassen und daher auch verantworten zu müssen? 429  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 401,17–21: „Nor god remytteth not the synnes of hys chosen people / nor forbereth not to impute ye blame therof vnto them / by­ cause they be hys chosen people. For he accepteth not folke for theyr persons but for their merytys“. Vgl. dagegen Answer, IW 3, S. 210,18 ff: „Are we not robbed of all towardnesse in Adem and be by nature made the childern of synne / so that we synne naturally and to synne is our nature?“ 430  Answer, IW 3, S. 209,21 ff: „If God chose Peter because he dyd repent / why chose he not Iudas to / which repented as moch as he and knowleged hys synne and brought the money agayne?“ Allerdings will auch Tyndale Petrus und Judas nicht auf eine Stufe stel­ len und weist daher auf ihre unterschiedlichen Motive hin, vgl. a.a.O., S. 209,32–210,5: „Peter sinned of no malice / but of frailtie & soden feare of deeth […] And Iudas was neuer good ner came to christ for loue of his doctrine / but of couetousnesse / ner dyd euer be­ leue in christe“. 431  A.a.O., S. 110,28–111,3–19: „He thinketh of God / as he doeth of his cardenall / that he is a monstre / pleased when men flater him / and if of whatsoeuer frailte it be / men breake his commaundementes / he is then raginge mad as the pope is and seketh to be ven­ ged. Naye / God is euer fatherly minded toward the electe membres of his church. He loued them yer the world beganne / in Christ […] And when they synne of frailte / God ceaseth not to loue them styll / though he be angrie / to put a crosse of tribulacions vppon their backes / to purge them and to subdue the flesh vn to the spirite or to al to breake their consciences with threateninge of the lawe and to feare them with hell. As a father when his sonne offendeth him feareth him with the rod / but hateth him not“.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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5.3.6  Der Streit um die praxis pietatis 5.3.6.1  Der rechte Gottesdienst Intensiv widmet sich Tyndale der Unterscheidung zwischen wahrem und fal­ schem Gottesdienst und begegnet damit Mores Verteidigung der römischen Frömmigkeitspraxis.432 Er bleibt auch hier bei seiner Berufung allein auf die Schrift und macht die praxis pietatis erneut zur Frage, wem ultimative Auto­ rität zukommt, der Schrift oder Schrift und Tradition, vermittelt durch die Kirche (More). Wenn die Schrift von „Gottesdienst“ spricht, meint sie nach Tyndales Auf­ fassung die dankbare Hinwendung des Glaubenden zu Gott.433 Dieser „Dienst an Gott“ vollzieht sich nicht nur in liturgischen Vollzügen, sondern in einer alle Lebensbereiche umfassenden Liebe zu Gottes Gesetz und dem Glauben an seine Verheißungen.434 Die innere und äußere Verweigerung gegenüber dem Gesetz kommt daher einer Nicht-Ehrung Gottes gleich. Dies gilt – wie Tyn­ dale ausdrücklich erwähnt – auch für die Obrigkeit, die meint, sich über Got­ tes Willen stellen zu können.435 Von diesem Gottesdienstverständnis ausgehend, kommt Tyndale auch auf konkrete Formen des „Kultus“ zu sprechen und fällt ein erstaunlich differen­ ziertes und pragmatisches Urteil.436 Für ihn steht fest, dass religiöse Bilder, Gegenstände und Handlungen nicht selbst Objekte menschlicher Anbetung 432  More ging es dabei freilich nicht um einzelne Rituale, sondern vielmehr um das sich dahinter verbergende Prinzip der traditio als neben der Schrift gültigen Offenbarung, vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 145,16–149,36. Vgl. auch Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 146: „The traditions which he defended so fervently were for More part of revelation which was transmitted orally by the church“. Vgl. zum Folgenden auch Knox, Doctrine, S. 27–34. 433  Vgl. Answer, IW 3, S. 55,20–24: „vnderstond / that the wordes which the scripture vseth in the worshepynge or honouringe of god are these: loue god / cleaue to god / dreade / serue / bowe / praye and cal on god beleue and trust in god and soch like“. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 97,26–33, hatte dagegen in Anlehnung an die Scholastiker (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica II-II, Q. 103, Art. 3–4, vgl. dazu auch Answer, IW 3, S. 290, Anm. 55/11) zwischen „dulia“ als der allgemeinen Verehrung von Höherge­ stellten, „hyperdulia“ als der Verehrung der Engel und Marias und „latria“ als der eigentli­ chen Gottesverehrung differenziert; Tyndale lehnt diese Unterscheidung als irreführend und unbiblisch ab (vgl. Answer, IW 3, S. 55,8–25). 434  Vgl. a.a.O., S. 55,31–56,2: „God is honoured in his awne person / when we receaue all thynge both good and bad at his hande / and loue his lawe with al oure hertes / and be­ leue hope and long fore all that he promiseth“. Konkret nennt Tyndale den Gehorsam ge­ genüber der Obrigkeit, sei es der Herrscher eines Staates oder Vater und Mutter (s.o. 3.3.5.1) und den Dienst am Nächsten. 435  Vgl. a.a.O., S. 57,1 ff: „In like maner if the officer abusynge his power / compell the subiecte to doo that which god forbiddeth or to leue vndone that which god commaun­ deth / so he dishonoureth god“. 436  Vgl. a.a.O., S. 57,26–61,33; vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 51,20–59,34. 217,1–229,30.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

sein dürfen,437 sie können jedoch eine sinnvolle Funktion als Hilfsmittel erfüllen,438 die den Glaubenden dazu dienen, sich die Botschaft der Schrift immer wieder neu vor Augen zu führen.439 Religiösen Gegenständen schreibt Tyndale damit in abgeschwächter Form eine ähnliche Funktion zu, wie er sie an anderer Stelle auch für die Sakramente, Taufe und Abendmahl, formu­ liert.440 So wie diese sichtbares, auf Christus zurückgehendes Wort Gottes sind, so spiegelt sich auch in den Bildern, Reliquien etc. eine matter Wider­ schein des verbum divinum, insofern sie zur Erinnerung an die Botschaft des Evan­ge­liums anleiten.441 Während More die rituellen Traditionen der Kirche 437  Vgl. Answer, IW 3, S. 57,29 f: „images be not god / and therfore no confidence is to be geuen them“. 438  Tyndale nennt, a.a.O., S. 58,16 ff: „images / reliques / ornamentes signes or sacra­ mentes / holidayes / ceremonies or sacrifices“. Den gleichen Grundsatz wendet er auch im bezug auf Pilgerfahrten an (vgl. a.a.O., S. 62,1–63,25). Solange ein Christ seinen Haus­ stand nicht sich selbst überlässt, ist er auch frei zu pilgern, um Ruhe zu finden und sich auf Gottes Wort zu besinnen. (vgl. Answer, IW 3, S. 62,23 f). Die Vorstellung, Gott sei an den Pilgerstätten in besonderer Weise gegenwärtig, lehnt Tyndale aber scharf ab und resü­ miert: „So that the outward place nether helpeth or hindred / excepte (as I said) that a mans minde be moare quiett and still from the rage of wordely businesses / or that some thynge stere vpp the worde of god and ensample of our sauioure moare in one place then in a nother“ (a.a.O., S. 63,21–25). Zur besonderen Rolle der Wallfahrten in der spätmit­ telalterlichen Religiösität Englands vgl. Duffy, S. 190–205. 439  Selbst einer Reliquie kann Tyndale positive Bedeutung für das Glaubensleben zu­ gestehen, wenn sie – als eine Art Andachtsbild gebraucht – dazu anleitet, die biblische Botschaft (und nichts anderes) zu vergegenwärtigen, vgl. Answer, IW 3, S. 58,19–27: „If (for an ensample) I take a pece of the crosse of christe and make a litle crosse therof and beare it aboute me / to loke theron with a repentinge hert / at tymes when I am moued therto / to put me in remembraunce that the body of christ was broken and his bloud shed theron / for my sinnes / and beleue stedefastly that the mercyfull trueth of god shall ­forgeue the sinnes of all that repent for his deeth sake and neuer thinke on them moare then it seruith me and I not it and doeth me the same seruice as yf I red the testament in a boke / or as iff the preacher reached it vnto me“. 440  S.o. 3.4.1.4; 4.5.4. In der Auseinandersetzung mit Mores Kritik an der Abend­ mahlslehre der Reformatoren im vierten Buch des „Dialogue“ (vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 353,34–354,27), beschreibt Tyndale noch einmal ausführlicher sein Abendmahlsverständnis, das stark dem oberdeutschen gleicht (vgl. Answer, IW 3, S. 178,11–181,11): Er bestreitet die altgläubige Vorstellung von der Messe als Opfer mit dem Hinweis auf das einmalige Opfer Christi (vgl. a.a.O., S. 178,32–179,5) und lehnt die Wandlung der Elemente im Sinne der Transsubstantiationslehre mit Hinweis auf die physikalische Unmöglichkeit dieser Vorstellung und die Aussagen Christi selbst (Joh 6,63) ab. Das Sakrament ist für ihn kein Objekt des Glaubens, an das man zu glau­ ben hat, sondern das man glauben soll: „For I maye not beleue in the sacrament / but I must beleue the sacrament / that it is a true signe and it true that is signified therby“ (a.a.O., S. 181,5 ff, Kursivierung von mir; vgl. dazu auch a.a.O., S. 397 f, Anm. 181/ 5–10). 441  Auch Luther besteht in seinen Invocavit-Predigten (1521) darauf, dass religiöse Bil­ der und Gegenstände nicht per se schlecht sind, auch wenn er vor ihrem Missbrauch in Form der Bilderverehrung warnt, vgl. WA 10,3, S. 30,28–31,9 (Die vierte Predigt D. Mar­ tin Luthers am Mittwoch nach Invocavit, 1521): „Sonderlich von den byldern, das die abgestelt

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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letztlich auf die von den Aposteln weitergegebene Lehre Christi zurückführt,442 haben sie für Tyndale also allenfalls eine verweisende Funktion, in­ dem sie die einzig in der Schrift bezeugte Offenbarung ins Gedächtnis rufen. 5.3.6.2  Zur Genese des falschen Gottesdienstes Woher aber kommt das falsche Verständnis des Gottesdienstes, das durch den Missbrauch der Bilder etc. die Frömmigkeit der Menschen prägt? Tyndale bleibt seinen Lesern die Antwort nicht schuldig, sondern analysiert ausführ­ lich die Ursprünge der Bilderverehrung. Dabei verbindet er, wie schon an an­ derer Stelle,443 biblische und historische Perspektive. Waren die Zeremonien und Rituale Israels am Anfang noch der Verkündi­ gung dienende Zeichen, die auf Gottes Wort verweisen sollten, so ging diese Bedeutungsebene jedoch schon im Laufe der Geschichte Israels verloren.444 An ihre Stelle trat die sinnentleerte Befolgung von Riten und mit ihr der Irr­ glaube, der Vollzug der Handlungen selbst wäre wirksam im Bezug auf das Gottesverhältnis.445 Die Übernahme des falschen jüdischen Verständnisses, die schon in der Urgemeinde bei einer Mehrheit zum Glauben an die Werk­ sollen sein; wie sie anbetten sollen werden, sonst nicht, wie woll ich wolt, sie weren in der gantzen weldt abgethan von wegen jres myßbrauchs, welchen mann jo nichts laügnen kan […] Dann ich vermeyn, es sey kein mensch oder jr gar wenig, der nit verstandt had: das crucifix, das da steet, ist mein got nicht, dann mein got ist jm hymmel, sonder nur ein ­zeychen“. Zum positiven Verständnis von Bildern bei Luther, vgl. Strecker, S. 247: „Bilder können verschiedenen Zwecken dienen: ‚zum ansehen, zum zeugnis, zum ge­ dechtnis, zum zeychen’ und v.a. als Gedächtnisstütze“. Martin Bucer schließt sich in der Bilderfrage der Auffassung Luthers (und nicht der Zwinglis) an, vgl. Müller, S. 159 f. 442  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 149,33–36: „Many thynges are there lyke / whiche as holy doctours agree / were taught by the appostles by Cryst / and the chyrche by the appostles / and so comen downe to our dayes by contynuall successyon fro theyrs“. 443  S.o. 4.4.2.2. und 5.2.4. 444  Vgl. Answer, IW 3, S. 63,31–64,1: „signes preachinge vn to the people one thynge or a nother“. Tyndale spricht hier noch nicht explizit von „Bundeszeichen“, beschreibt der Sache nach mit Bezug auf den Ritus der Beschneidung aber schon ein konditionales Bun­ desgeschehen: „As circumcision preached vn to them / that god had chosen them to be his people / and that he wold be their god and defende them and encrease and multiplie them […] And on the other syde it preached / how that they had promised god agayne to kepe his commaundementes / ceremonies and ordinaunces“ (vgl. a.a.O., S. 64,1–7). 445  Vgl. a.a.O., S. 65,11–16: „They latt the significacions of their ceremonyes goo and lost the meanynge of them and turned them vn to the workes to serue them / syenge that they were holy workes commaunded of god and the offerars were therby iustified and obtayned forgeuenesse of synnes and therby became good“. Als Beispiele nennt Tyndale die Sabbatheiligung und den Tempelkult (vgl. a.a.O., S. 66,14–67,10). Gegen diese falsche Frömmigkeitspraxis und das Vertrauen auf fromme Werke richtete sich nach Tyndales Deutung die Kritik der Propheten: „But the prophets euer rebuked them for soch faythlesse workes and for soch false fayth in theyr workes“ (vgl. a.a.O., S. 67,11 f).

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gerechtigkeit führte,446 setzt sich nahtlos fort in der falschen Praxis der Papst­ kirche, gemäß Tyndales prädestinatianischem Schema von Mehrheit mit bloß äußerlicher fides historica und der kleinen Minderheit mit „fühlendem Glau­ ben“.447 Als Beispiel für den falschen Mehrheitsglauben dient Tyndale die römische Messfeier, die er als Abkehr von der ursprünglichen Praxis des Gedächtnis­ mahls versteht.448 Die Folge der Vernachlässigung der Inhalte und der Über­ betonung der Form in der Messe ist für ihn die Inkompetenz der Kleriker. Diese konnten mangels Praxis schlicht nicht mehr erklären, welchen Sinn be­ stimmte religiöse Vollzüge einmal hatten.449 Mit der falschen Konzentration auf die Zeremonien ging außerdem eine zunehmende Vernachlässigung des ethischen Engagements für den Nächsten einher: „Denn die zeremoniellen Werke wurden für höher erachtet als diejenigen Werke, die Gott uns zu tun aufgetragen hat für unseren notleidenden Nächsten“450.

5.3.6.3  Zur Verehrung der Heiligen In Tyndales Widerlegung der von More vorgebrachten Argumente nimmt die Thematik der Heiligenverehrung einen breiten Raum ein, berührt sie doch wiederum die theologische Grundsatzfrage nach der letztgültigen aucto­ ritas. Für More entscheidet die Autorität der Kirche darüber, worin die Of­ fenbarung besteht und mit welchen frommen Handlungen man ihr angemes­ 446  Vgl. a.a.O., S. 70,17–22: „because / as I saide / the Iewes ye and the hethen to / were so accustomed vn to ceremonies and because soch a multitude came with a faithlesse faith / they went and cleane contrary vnto the mynde of paul / set vp ceremonies in the new testamente / partely borowynge them of Moses and partely imageninge like / as ye now se / and called them sacraments“. 447  Vgl. a.a.O., S. 69,30–70,4: „That is to saye / they came with a storifaith / a popish faith / a faithlesse faith & a fayned faith of their awne makinge / and not as God in the scripture describeth the faith / so beleuinge in christ / that they woldbe iustified by theyr awne dedes / which is the denienge of christe. As oure papistes beleue. Which moare mad then those Iewes / beleue nothynge by the reason of the scripture / but only that soch a multitude consent therto / compelled with violence of swerde / with falsyfienge of the scripture and fayned lyes“. 448  Vgl. a.a.O., S. 73,7–13: „And in like manner / because christ had institue the sacra­ ment of his body and bloude / to kepe vs in remembraunce of his bodye breakinge and bloud shedynge for oure synnes / therfore went they and sett vpp this facion of the masse and ordeyned sacraments in the ornamentes therof to signifie and expresse all the rest of his passion“. 449  Vgl. a.a.O., S. 74,25 ff: „For assone as the prelates had sett vpp soch a rable of cere­ monies / they thought it superfluous to preach the playne texte any longer“. Insbesondere die Abwehrhaltung der scholastischen Theologie gegenüber den alten Sprachen, an die Tyndale in einer Reminiszenz an sein eigenes Studium erinnert, ist für ihn Symptom für den Verlust des Bezugs zu den Ursprüngen, vgl. a.a.O., S. 75,8–22; s.o. 1.3. 450  A.a.O., S. 76,17 ff: „For the dedes of the ceremonies we count better then the dedes which god commaundeth to be done to our neyboure at his nede“.

5.3.  „An Answer Unto Sir Thomas Mores Dialoge“ (1531)

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sen begegnet,451 für Tyndale ist es allein die Schrift.452 Über diese Differenz in der Frage nach der Autorität in Glaubensdingen kommen beide Protago­ nisten nicht hinaus.453 Tyndale setzt Mores Vorstellung von der Fürbitte der Heiligen für die Sün­ der454 die reformatorische Definition eines/einer Heiligen entgegen: Heilig ist, wer sich in seiner Christusnachfolge bewährt hat, denn an seinem Beispiel können sich die Glaubenden erbauen und bilden.455 Über diese Funktion als exemplarische Christenmenschen hinaus haben die Heiligen keine Aufgabe, auch und gerade nicht als Bittsteller vor Gott.456 Jede äußerliche Verehrung der Heiligen muss darum dem Menschen dienen, indem sie ihn auf das Evan­ ge­lium verweist.457 Die Vorstellung einer intercessio der Heiligen bewirkt da­ gegen nur, dass der Glaube fälschlich von Christus auf die Heiligen verlagert 451  Vgl. Flesseman-Van Leer, Ecclesiology, S. 65 f: „Whether he [d.i. More] defends the various ceremonies, pilgrimages, relics, adoration of saints against the attack of the heretics, or argues fot the eternal virginity of Mary or the Assumption of her body, or at­ tacks the Lutheran doctrine of sola sriptura or sola fide, his final argument and proof of truth is always the general practice and belief of the church now and as it always has been“. 452  Vgl. a.a.O., S. 66: „The matter is different for his adversary Tyndale. It is certainly not the church which is the basis of his theological thinking, but the divine authority of the bible. Scripture takes the place which the church has in More’s system“. Zur Beurteilung zweier aktueller Fälle von Wunderverehrung zieht Tyndale das Wort Gottes als Maßstab heran: Die sog. „Maid of Ipswich“, Tochter des More bekannten Ritters Sir Roger Went­ worth, war angeblich durch das Marienheiligtum in Ipswich von ihrer Besessenheit ge­ heilt worden, nachdem sie auf der Wallfahrt dorthin zahlreiche (später eingetroffene) Pro­ phezeiungen gemacht hatte (vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 92,22–94,5; vgl. dazu auch a.a.O., S. 629, Anm. 92/27–93/30). Elizabeth Barton (ca. 1506–1534), die sog. „Maid of Kent“, machte 1532 durch ihre Visionen und Prophezeiungen von sich reden, in denen sie u.a. den Tod des Königs für den Fall einer Eheschließung mit Anne Boleyn vor­ hersagte. Sie wurde 1534 gemeinsam mit weiteren Scheidungsgegnern in Tyburn gehängt (vgl. Haigh, S. 137 ff; Rex, English Reformation, S. 146 f). Für Tyndale gilt: Nur Wunder, die Menschen helfen, sich dem Wort Gottes zuzuwenden, sind wahrhaftig (vgl. Answer, IW 3, S. 90,1–10). Beim Vergleich der beiden „Maids“ kann er darum weder die Besessen­ heit der einen, noch die göttliche Inspiration der anderen Frau nachvollziehen: „thou mightest with as good reason saye that the deuell was in both / or the holy gost in both“ (a.a.O., S. 90,16 ff). 453  Flesseman-Van Leer, Ecclesiology, S. 86, fasst die Kontroverse darum m.E. kor­ rekt zusammen: „Our conclusion can be that the different view and evaluation of scrip­ ture and tradition in More and Tyndale can be traced back to a different ecclesiology; and their divergence in ecclesiology might well be the outcome of a different understanding of what basically is the christian faith“. 454  Vgl. z.B. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 210,28–216,34. 455  Vgl. CA XXI, BSLK, S. 83bf und Apologie, BSLK, S. 316–325; vgl. auch Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 101,13–102,23. 456  Vgl. Answer, IW 3, S. 79,27 f: „the true worshepynge of saintes is their memorial / to folow them as they did christe“. 457  A.a.O., S. 80,5 ff: „All bodyly seruice must be referred vn to oure selues and not vn to the person of God immediately“.

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wird.458 Tatsächlich fehlt denen nach Tyndales Auffassung aber jegliche Macht zu helfen.459 Sie fallen als Mittler zwischen Gott und Menschen aus, da auch sie erst am Ende der Zeiten bei Christus sein werden und sich zuvor im Zustand des Seelenschlafes (1 Thess 4,14) befinden.460 Aus der Bestreitung des Mittlerdienstes der Heiligen folgt notwendig auch die Ablehnung der von More verteidigten Gebete an sie.461 Dies gilt auch für die Verehrung Marias als Gottesmutter.462 Als „open blasphemy“463 versteht 458  Vgl. a.a.O., S. 118,15 f: „So it appereth that the moare trust we haue in saintes / the lesse we haue in Christe“. Mores Vergleich, ein Christ bitte bei gesundheitlichen Proble­ men ja auch einen Arzt um Hilfe, anstatt Gott direkt anzugehen (vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 214,14–19) weist Tyndale zurück: Auch das Aufsuchen eines Arztes impliziert immer schon die Bitte an Gott, durch das Wirken des Arztes zu helfen (vgl. Answer, IW 3, S. 118,23–27). 459  Vgl. Answer, IW 3, S. 118,20 f: „the saintes haue no naturall remedies ner promise of supernatural“. 460  Auch in seiner Kritik an der römischen Fegefeuerlehre verteidigt Tyndale die Lehre vom Seelenschlaf, allerdings unter dem Vorbehalt, dass derartige Überlegungen in den Bereich der Spekulation gehören: „What god doeth with them / that shall we know when we come to them“; (vgl. a.a.O., S. 181,31 f; vgl. WA 10/3, S. 191,10–200,8, Sermon von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, 1522; dazu auch Althaus, Theologie, S. 343–349; Lohse, Theologie, S. 347 f); vgl. auch Bucer, Summary (1523), BDS 1, S. 101,29–35: „Dann uns die schrifft von ynen [d.i. die Heiligen] nit weiter berichtet dann das sye schlaffen im herren und růgen werden biß das der herr selb würt mit einem feldtgeschrey und stymm des ertzengels und mit der posaunen gottes herniderkummen vom hymmel; alsdann werden sye uffersten und hingezuckt werden in den wolcken dem herren entgegen in dem lufft und werden also by dem herren sein allzeyt“. 461  Tyndale leugnet in diesem Zusammenhang auch den Sinn von Pilgerfahrten und der Verehrung heiliger Orte. More hatte Wallfahrtsorten keine besondere Dignität aus sich selbst heraus zugebilligt, jedoch herausgestellt, dass Gebete der Glaubenden an be­ stimmten Orten wirkungsvoller seien als an anderen, weil Gott selbst dies – in der Tradi­ tion der Kirche – offenbart habe (vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 59,27–34). Vgl. dagegen Answer, IW 3, S. 84,13–17: „if god had said that he wold moare heare in one place then in a nother / he had bound him selfe to the place. Now as god is like good every where generally so hath he he made his testament generally / whersoeuer mine hert ­moueth me and am quiet to pray vn to him / there to heare me like graciously“. 462  Mores Vorwurf, die Reformatoren lästerten Maria und versagten ihr das Salve Re­ gina, lässt Tyndale nicht gelten (vgl. Answer, IW 3, S. 185,7–11; vgl. More, Dialogue, 1528, CWM 6/1, S. 359,27–360,3.). Tyndale erkennt die religiöse Bedeutung Marias, ebenso wie der übrigen Heiligen, in ihrer Christusnachfolge. Eine falsche Verehrung, die sie selbst an die Stelle Christi setzt, lehnt er jedoch ab. Das Gebet einer einfachen gläubigen Frau ist für ihn ebenso wirkungsvoll wie die Fürbitte Marias. Er formuliert daher als Grundlage einer evangelischen Marienverehrung: „our blessed ladies greatnesse is hir faith and loue wherin she exceaded other. Wherfore if God gaue his mercy that a nother woman were in those .ij. poyntes equall with hir / whi where she not like greate and hir prayers as moch herde“ (vgl. Answer, IW 3, S. 185,28–31); vgl. WA 7, S. 548,29 ff, Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt, 1521: „Alszo thut auch hie die zartte Mutter Christi, leret unsz mit dem Exempel yhrer erfarung, und mit wortten, wie man got erkennen, lie­ ben und loben sol“. 463  Answer, IW 3, S. 119,19.

5.4  Theologische Einordnung

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Tyndale Mores Argument, die Gebete müssten deshalb an die Heiligen ge­ richtet werden, da die Betenden zu sündig seien, um direkt mit Gott zu spre­ chen.464 Diese heftige Reaktion erklärt sich wohl dadurch, dass gerade der von More kritisierte „familiäre“ Zugang zu Gott ein Herzstück von Tyndales Theologie darstellt.465

5.4  Theologische Einordnung 5.4.1  Schriftverständnis Die Auseinandersetzung Tyndales mit seinen altgläubigen Gegnern in Gestalt von Kardinal und Kanzler lässt sich verstehen als „reformation struggle in miniature“466, die ihn, insbesondere in der Auseinandersetzung mit More, zur (nochmaligen) Klarstellung seiner Positionen und Argumentationsgrund­ lagen nötigt. Im Verständnis der Heiligen Schrift begegnet Tyndale der Berufung Mo­ res auf beide Elemente, Schrift und Tradition als vom Heiligen Geist gewirkte Offenbarungen Gottes an und für die Kirche, mit einer Bekräftigung des re­ formatorischen Sola scriptura-Prinzips, das er in einen erwählungstheologi­ schen Kontext stellt.467 Allein die Schrift ist auctoritas für Glauben und Han­ deln der Christenmenschen, denn in ihr ist letztgültig und ausreichend Gottes in Christus vollendete Verheißungsgeschichte dokumentiert. Tyndale besteht gegenüber More darauf, dass die sufficientia468 der Heiligen Schrift nicht durch die Beiordnung der Tradition im Sinne eines weitergehenden göttlichen Of­ fenbarungshandelns in Frage gestellt werden darf. Wer wie More den traditio­ nes passivae Offenbarungsrang einräumt und in der unfehlbaren Kirche ihre Hüterin sieht, legt die göttliche Selbstmitteilung in die Hand von Menschen. 464  Vgl. More, Dialogue (1528), CWM 6/1, S. 215,19–22: „He [d.i. Gott] wyll dys­ dayne ones to loke on vs / yf we be so presumptuous & malapert felowes / that vpon bold­ nes of famylyaryte with hym selfe / we dysdayne to make our intercessours his especyall byloued frendes“. 465  S.o. 3.4.1.5 und 4.5.2. 466  Mozley, S. 213. Auski, Proof, sieht darüber hinaus auch in den Argumentations­ strukturen Tyndales und Mores die kontroverstheologischen Konflikte der kommenden Jahre vorgezeichnet. 467  Gregory, S. 177, weist mit Recht darauf hin, dass die Schrift auch für den Huma­ nisten More eine exorbitante Rolle spielt, darum gilt: „the stand-off between Tyndale and More turns on whether Scripture requires an authoritative interpreter, lest it be misread, thus compromising correct Christian belief and practice, and thus jeopardizing prospects of salvation“. 468  Die hier verwendeten Begriffe, auctoritas, sufficientia, necessitas, autopistia und perspi­ cuitas, sind erst in der konfessionellen Orthodoxie als affectiones Scripturae sacrae in das theo­ logische Vokabular eingeflossen; der Sache nach sind sie jedoch schon in der Diskussion Tyndales mit More Thema, vgl. Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 145.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

Daraus folgt für Tyndale ein Verständnis von Gottes Offenbarungshan­ deln, das dieses in einer fest umrissenen Heilszeit als ein für allemal geschehen betrachtet.469 Durch die Kanonisierung der neutestamentlichen Bücher ist diese Phase an ihr Ende gekommen. Während dieser heilsgeschichtlich beson­ deren Phase ihrer Enstehung wurde die Schrift durch die Wunder der Apostel und Prediger und damit letztendlich durch das Wirken des göttlichen Geistes selbst bestätigt. Einer besonderen Legitimierung durch die Kirche bedurfte es darum nicht. Damit weist Tyndale auch mit Bezug auf die neccesitas der Schrift jede Überordnung einer kirchlichen Autorität zurück. Zwar mag die Institu­ tion der Kirche älter sein als der Schriftkanon; sie ist jedoch nicht älter als die Predigt des Evan­ge­liums, sondern allein deren Geschöpf. Auch in seinem Verständnis der autopistia der Schrift grenzt sich Tyndale deutlich von More ab. Die Schrift bedarf, um glaubwürdig zu sein, keiner Vermittlung durch kirchliche Instanzen, da sie aus sich selbst heraus Glauben schafft. In dem Beziehungsgeschehen, das den Glauben hervorbringt, bezeich­ nen die Schrift einerseits und der Mensch andererseits die beiden Pole zwischen denen der Heilige Geist agiert, indem er über das bloße Anerkennen und ra­ tionale Verstehen hinaus eine tief empfundene Gewissheit schenkt – „felynge faith“. Objekt des Geistwirkens ist für Tyndale der einzelne Glaubende, nicht – wie für More – die Kirche.470 Einer kirchlichen Interpretation bedarf es Tyndale zufolge auch deshalb nicht, weil die Schrift in sich selbst schlüssig ist und aus sich selbst heraus ver­ standen werden kann. Mit Bezug auf die perspicuitas der Schrift behauptet sich Tyndale gegenüber More mit dem reformatorischen Bekenntnis zur scriptura sui ipsius interpres.471 Nur als „Hilfsmittel auf dem Weg zur Schrift“ haben auch religiöse Riten und Gegenstände für Tyndale ihren (begrenzten) Ort.472 Indem er das reformatorische Schriftverständnis verteidigt, redet Tyndale jedoch nicht einem Biblizismus das Wort, denn für ihn ist es nicht die Schrift als Ganze, die Anerkennung verlangt. Vielmehr bezieht sich der Glaube, den der Geist aufgrund der Verkündigung nach der Schrift wirkt, stets auf das Evan­ge­lium, die promissio Gottes: „faith can never be founded on an heterono­ 469  Vgl. Beutel, Wort Gottes, S. 367: „Die Bibel war für Luther das hinreichende, ja das vollständige Offenbarungswort Gottes“. 470  Vgl. Greenblatt, S. 99: „The Bible has displaced the consensus fidelium as the prin­ ciple of intelligibility and the justification of all action […] The authority of God’s word is assured by the inner experience of God’s word; the true interpretation of Scripture is made possible by the feeling faith of the believer“ (Kursivierung im Original). 471  Vgl. Beutel, Wort Gottes, S. 367; Lohse, Theologie, S. 208; Müller, S. 114–124; Stephens, Bucer, S. 129–133. 472  S.o. 5.3.6.1. In diesem Punkt teilt Tyndale Luthers großzügige Weite mit Blick auf die Duldung religiöser Objekte und nicht den „reformierten“ Rigorismus, vgl. Strecker, S. 247.

5.4  Theologische Einordnung

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mous authority, even if this authority is the bible. Only the Spirit of God leads to the real truth by writing it in man’s heart“473. Gregory hat in seinem erhellenden Vergleich „Tyndale and More, In life and death“ darauf hingewiesen, dass Tyndale in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen Lehre von der Eindeutigkeit und Selbstevidenz der Schrift zeitlebens nichts intensiver betrieben hat, als eben ihre Worte immer wieder neu auszulegen und zu interpretieren. Dahinter stand – neben dem schlichten Interesse, das Wort Gottes unter seinen Landleuten in der Volkssprache be­ kannt zu machen – wohl auch das Bewusstsein zunehmender Spaltungen im reformatorischen Lager, die trotz bzw. aufgrund unterschiedlicher Deutun­ gen der einen Heiligen Schrift seit 1525 immer stärker zutage traten.474 Gre­ gory folgert daraus, dass Tyndale sich selbst – trotz seiner Bestreitung der Notwendigkeit autoritativer Schriftauslegung – als vollmächtiger Interpret verstanden hat.475 Gregory missversteht hier jedoch, dass für die Reformato­ ren insgesamt die Klarheit der Schrift ihre Auslegung nicht überflüssig macht. Tyndale sah sich als Ausleger der Schrift durchaus in der Position, autoritativ zu seinen Landsleuten, bis hin zum König, zu sprechen.476 Er tat dies jedoch nicht aus einer persönlichen Vollmacht heraus, sondern in dem Bewusstsein, Werkzeug des Schriftwortes selbst zu sein. Gregory übersieht in seiner Zu­ spitzung, dass die Schriftauslegung für Tyndale – wie auch für die anderen Reformatoren – kein aktives menschliches Tun ist, sondern angewiesen bleibt auf das Wirken des Geistes, das die Lektüre der Schrift begleiten muss.477 473  474 

Flesseman-Van Leer, Tradition, S. 156. Vgl. Gregory, S. 183: „As a resident of Germany and later the Low Countries from probably the spring of 1524 it is unimaginable that Tyndale was unaware of the frac­ tious character of the early Reformation in Germany, including the Peasants’ War“. 475  Vgl. a.a.O., S. 187: „the point is that unlike Tyndale, who claimed that Scripture needed no interpreter and yet assumed the role himself, More insisted from the outset that only an authoritative interpreter could prevent Scripture from being read in any number of incompatible ways“. 476  S.o. 3.4.2. 477  Luther unterscheidet hier in der Auseinandersetzung mit Erasmus die äußere, d.h. offen zutage liegende, und die innere Klarheit der Schrift, vgl. Beutel, Wort Gottes, S. 368: „Von dieser äußeren unterschied Luther die innere Klarheit der Schrift, die in der Erkenntnis des Herzens bestehe und darum nicht durch philologisch-exegetische Profes­ sionalität, sondern allein durch den Geist Gottes erlangt werden könne. Der Geist freilich, der dem Glauben die Klarheit der Bibel erschließe, sei weder aus den Traditionen der ­Kirche noch aus innerer Erleuchtung zu schöpfen, sondern allein aus der heiligen Schrift“. Wo Luther vom Wort Gottes her denkt, formuliert Bucer die Abgrenzung pneumatolo­ gisch, vgl. Stephens, Bucer, S. 134: „This affirmation of the authority of scripture over against the authority of the church raises the question of the relation of the church to the Bible – the problem, that is, of the canon of scripture, the understanding of scripture, and the interpretation of scripture. In each of these Bucer asserts the priority of Holy Spirit over the church. It is not the church that decides the canon of scripture, gives the true un­ derstanding of scripture, or authoritatively interprets it, but the Holy Spirit“.

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5.4.2  Kirchenverständnis und Erwählungsvorstellung Wo der Glaube als Geschenk des Geistes direkt aus dem Umgang mit der Schrift entspringt, bleibt kein Platz für eine Kirche, wie More sie versteht, die selbst ein Subjekt der Heilsgeschichte ist. Denn wo der Mensch als Sünder ein­ zig auf Gottes Gnadenhandeln angewiesen ist, das er im Glauben „fühlend“ erfasst, kann das Heil nicht auch in den Händen einer menschlich dominier­ ten Größe wie der (Papst-) Kirche liegen. Tyndale denkt „Kirche“ daher im Rahmen seiner rechtfertigungstheologischen Überzeugung als prädestinatia­ nische Größe. Wie für Luther, gilt auch für ihn: „Nur dann, wenn Gott selbst die Anerkennung des Menschen vornimmt, ist die Einheit und Ganzheit seiner Gnade so gewiß wie die Ergänzung durch unser Handeln überflüssig und aus­ geschlossen. Das bedeutet aber, daß die Kirche als der kommunikative Raum, in dem Gottes Wort laut wird, sich ganz auf das Geschehen und Ergehen die­ ses Wortes zu konzentrieren und sich ihm mit ganzer Hingabe unterzuordnen hat. Das gelingt nur, wenn sich die Kirche selbst als Geschöpf des göttlichen Wortes und nicht als Vermittlerin göttlicher Gnade verstehen lernt“478. Die den Glauben schaffende Begegnung zwischen dem Sünder und Gottes Wort ist Gnadenhandeln, das ohne Mitwirkung des Menschen geschieht, denn die Entscheidung, wem „feeling faith“ geschenkt wird, obliegt allein Gott.479 Stärker als Luther und in größerer Übereinstimmung mit Bucer, bringt Tyndale diese prädestinatianischen Postulate in Verbindung mit sei­ nem Kirchenverständnis: Wo Gott mittels der Schrift Menschen durch seinen Geist berührt und den Glauben schenkt, erschafft und erhält er die Gemeinde der Erwählten.480 Als creatura evangelii versteht er die wahre Kirche darum als die Gemeinschaft derjenigen, die Gott schon von Ewigkeit her zur Rettung bestimmt hat. Die Angewiesenheit des Menschen allein auf Gottes Gnade, die Tyndale erwählungstheologisch absichern will, findet darum ihren ekkle­ siologischen Niederschlag in der Unterscheidung zwischen ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis.481

478  479 

Korsch, Glauben, S. 374. Vgl. Althaus, Theologie, S. 238 f; Bornkamm, Luther, S. 394–405; Kaufmann, Erasmus, S. 150. 480  Wie bereits in früheren Schriften (s.o. 3.4.1.2; 4.5.3) beschreibt Tyndale keine dop­ pelte Prädestination, vgl. Trueman, Legacy, S. 101: „He introduces election only to un­ derline grace, and rarely discusses the other objective aspects of salvation, duch as God’s wrath and Christ’s propitiation“. 481  S.o. 5.3.4.1 (dort auch die entsprechenden Parallelen zu Luther); zu Bucers eben­ falls stark erwählungstheologisch konnotierter Ekklesiologie vgl. Stephens, Bucer, S. 156–160.

5.4  Theologische Einordnung

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5.4.3  Tyndales Konkretion der Zwei-Regimenten-Lehre Seinen Kirchenbegriff stellt Tyndale in „Prelates“ in den Kontext der ZweiRegimenten-Lehre, die er schon in „Obedience“ rezipiert hatte.482 Ihm kommt es mit Luther darauf an, „die mittelalterliche Überordnung der geist­ lichen Macht über die weltliche“483 zu bestreiten. Zugleich will er klarstellen, wie eine dem göttlichen Auftrag angemessene Amtsausübung der weltlichen Herrscher, namentlich seines eigenen Königs, auszusehen hat. Als Inhaber eines von Gott eingesetzten Amtes ist der König dem göttlichen Gesetz verpflichtet, auch und gerade in der seine persönliche Lebensführung betreffende Frage der Ehe.484 Tyndale sieht – wie bereits in „Obedience“ – im göttlichen Gesetz eine Instanz, die der weltlichen Obrigkeit übergeordnet ist.485 Nach seiner Auffassung ist das Gesetz – verstanden als weit gefasstes und in der Bibel verbindlich festgeschriebenes „law of nature“ – normierende In­ stanz des obrigkeitlichen Handelns.486 In seinen Eheangelegenheiten hat sich daher der König als guter Christ dem im Gesetz erkennbaren Willen Gottes unterzuordnen. Tyndale variiert Luthers Vorstellung der beiden Reiche also, 482  Tyndale formuliert hier nur indirekt ein eigenes Verständnis der Ämter und Auf­ gaben im Reich Christi (s.o. 5.2.5). Für eine konkreter ausgefeilte evangelische „Ämter­ lehre“ fehlte ihm möglicherweise schlicht der Anlass, da jede reformatorische Umgestal­ tung der englischen Kirche 1530/1531 in weiter Ferne lag. Sie wurde ja tatsächlich auch später in der englischen Kirche nie konsequent durchgeführt, sondern blieb bis ins 17. Jahr­ hundert eine der Hauptstreitfragen zwischen Vertretern der via media und den sog. Puri­ tanern (vgl. Dickens, S. 418–437; Ohst, Tyndale, S. 154–167). Anhand dessen, was Tyn­ dale in „Prelates“ andenkt, lässt sich vermuten, dass ihm eine auf das ntl. Zeugnis ge­ stützte kirchliche Ämterordnung, etwa nach dem Modell Calvins (vgl. Inst. IV, 3,1–9), vorgeschwebt haben könnte. 483  Lohse, Theologie, S. 339. 484  Vgl. Boehrer, S. 261: „Nor is the king himself God’s vicar, Tyndale continues, except in those limited instances in which he assumes the administrative responsibilities of the kingship“. 485  Vgl. Clebsch, S. 161: „As to the King, should the law of God prohibit the divorce, the ruler must fear God, not man, and follow God’s law“. Auch Luther setzt der Herr­ schaftsgewalt der weltlichen Obrigkeit Grenzen, nämlich da, wo das Gewissen berührt ist (vgl. WA 11, S. 261,25–271,26, Von weltlicher Oberkeit, 1523; dazu auch Althaus, Ethik, S. 128–131). In seiner Amtsführung ist ein frommer christlicher Herrscher – für Luther ohnehin ein „seltsamer Vogel“ (vgl. WA 11, S. 267,30 f: „Und solt wissen, das von anbe­ gynn der wellt gar eyn seltzam vogel ist umb eyn klůgen fursten, noch viel seltzamer umb eyn frumen fursten“) – jedoch nur auf die eigene Vernunft, nicht auf schriftliche Normen, etwa das biblische Gesetz, verwiesen, vgl. a.a.O., S. 272, 13–17: „Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft“ (vgl. Althaus, Ethik, S. 137–140). 486  Vgl. Thompson, Regiments, S. 25: „The prince is bound both by natural law (like Luther Tyndale identifies natural law with the principles of the decalogue) and the law of love, where it is his duty to promote the welfare of his subjects“.

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indem er die unmittelbare Verantwortung der weltlichen Obrigkeiten vor Gott als eine Verantwortlichkeit vor Gottes Gesetz versteht. Hier ist wiederum die Parallele zu Martin Bucer festzuhalten, der ebenfalls die Amtsausübung der Herrschenden an ihrer Befolgung von Gottes Geboten misst.487 Indem Tyndale diese Unterordnung der weltlichen Obrigkeit unter Gottes Gesetz vornimmt, berührt er erneut das Problem des Widerstandes: Wären die Glaubenden nicht gezwungen, den Herrschenden zu widerstehen, soll­ ten diese gegen Gottes Gesetz handeln? Tyndale verneint diese Möglichkeit und gesteht, wie schon in „Obedience“,488 nur ein passives Widersetzen zu, weil die Schrift selbst den Glaubenden Liebe gebietet. „For Tyndale the way to active opposition is blocked, but it is blocked by the militant pacifism of scripture, and not by the inherent sacrality of the king’s person“489. Allerdings bringt Tyndale in seiner Anklage der von den Prälaten korrumpierten Mäch­ tigen die Möglichkeit der Rebellion mehrfach als Drohszenario ins Spiel und äußert zumindest indirekt Verständnis, sollte es zu einer Auflehnung gegen das korrupte System kommen.490 In dieser Zuspitzung zeigt sich womöglich seine wachsende Frustration bezüglich der Person Heinrichs VIII. Offenbar hatte der Exulant Zweifel daran, ob der König in der Lage war, das ihn umge­ bende Netz der von Wolsey und seinen Gefolgsleuten gesponnenen Intrigen zu zerreißen. Die gegenüber „Obedience“ deutlich verschärfte Tonlage – von der Beschreibung des königlichen Amtes zum direkten Appell an den Herr­ scher – macht dies deutlich. 5.4.4  Tyndales Geschichtsverständnis Tyndales wachsende Ungeduld und gesteigerte Sorge erklärt sich aus der his­ torischen Perspektive, mit der er die Situation in England (und in der ganzen Christenheit) wahrnimmt. Zwar verwendet er die geschichtliche Darstellung in „Prelates“ als „Waffe“, um die Verdorbenheit des Klerus aufzuzeigen und an den „besser zu informierenden“ Monarchen zu appellieren.491 Zugleich zeigt sich hier jedoch auch seine theologische Deutung der abendländischen Geschichte, die mit Gottes erwählendem und strafendem Handeln rechnet. Die Abkehr von der in Gottes Wort enthaltenen Wahrheit birgt die Ahndung 487  Vgl. z.B. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 56,1–4: „Diß [d.i. die „wolfart“ des Volkes] kann aber nun nit geschehen, das die underthon nutzlich regiert wurden, zů wo­ rem lob des obresten künigs, wo nit die weltlich oberkeit noch goettlichem gesatz regieret und zů haltung desselbigen gerichtet ist“; vgl. dazu auch Koch, S. 153–160. 488  S.o. 3.3.4, 3.3.5.3 und 3.4.3.1. 489  Boehrer, S. 262; vgl. auch Auski, Reason, S. 46. 490  Vgl. Prelates, PS 2, S. 344: „Now then, if any disobedience rise, are ye not the cause of it yourselves? Say not but that ye be warned!“, vgl. Almasy, Prelates, S. 8 f. 491  Vgl. Pineas, S. 131–138; dazu auch C.H.Williams, S. 96 f; s.o. 5.2.7.2.

5.4  Theologische Einordnung

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dieses Abfalls durch Gottes Zorngericht in sich.492 Nur die Gemeinde der Er­ wählten, die der Wahrheit der Schrift treu geblieben sind, kann auf Bewah­ rung hoffen.493 Tyndales Darstellung der vom Teufel angestachelten Papstkirche, die stets versucht, weltliche Obrigkeiten ihrem Einflussbereich zu unterwerfen, hat ei­ nen apokalyptisch gefärbten dualistischen Grundzug: Gott und Teufel, Schrift und Papst, die kleine Herde der Glaubenden und die mächtige Kirche der Prä­ laten stehen sich in allen Jahrhunderten im Kampf gegenüber.494 Wie vergan­ gene Geschichtsepochen495 deutet Tyndale auch seine eigene Gegenwart, in der durch Luthers Wirken die Wahrheit des Wortes Gottes wieder ans Licht gebracht wurde, als Krisenzeit.496 Nicht zufällig warnt er am Ende von „Pre­ lates“ für den Fall, dass eine Umkehr zur Wahrheit des Wortes Gottes aus­ bleibt, vor einer Katastrophe, die er als Erfüllung des göttlichen Zorngerichts deutet.497 Hatte Tyndale diese apokalyptische Perspektive an anderer Stelle vor allem zum Trost der evangelischen Gemeinde in England eingebracht,498 fungiert sie in „Prelates“ als „paradoxe Intervention“ bzw. Drohung, vor al­ lem gegenüber den weltlichen Machthabern, die eine Veränderung der Ver­ hältnisse herbeiführen sollen. 5.4.5  Praktische Anwendung des Gesetzesverständnisses In der Auseinandersetzung um die Bewertung der beiden Stellen Dtn 25,5 und Lev 18,16 erkennt Tyndale zwar die traditionelle Dreiteilung der alttes­ tamentlichen Gesetzeskorpora in Zeremonial-, Judizialgesetze und natür­ 492  493 

S.o. 4.5.3. In dem so beschriebenen „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ zeigen sich bereits, ohne dass Tyndale in „Prelates“ von der Begrifflichkeit Gebrauch macht, Züge des konditiona­ len Bundesverhältnisses zwischen dem liebenden Gott und der Gemeinschaft der Glau­ benden, das in Tyndales später Theologie zur entscheidenden theologischen Denkfigur wird. Vgl. dazu Clebsch, S. 161: „Here occurred Tyndale’s first mention of the notion that the covenant between God and man in terms of law was a bipartite agreement, equally binding upon God and man“. Ob es sich hier tatsächlich um „Tyndale’s first mention“ der Bundesvorstellung handelt, ist jedoch fraglich, denn auch im (freilich zeitnah 1530 ent­ standenen) Glossar zur Genesisübersetzung findet sich das „appointment made between God and man“ (Prologue Genesis, PS 1, S. 409) beschrieben, s.o. 4.3.2.3. 494  S.o. 5.2.6. 495  Im Prolog zum Jonabuch hatte Tyndale die Zeit des britischen Missionars Gildas und das Wirken Wyclifs genannt (s.o. 4.4.2.2); in „Prelates“ führt er die Verfolgung Jesu selbst an (s.o. 5.2.4). 496  S.o. 5.2.7.2. Dieses Verständnis der eigenen Epoche als Endzeit teilte Tyndale mit vielen Zeitgenossen, u.a. mit Luther selbst, vgl. Slenczka, Hoffnung, S. 442 f. 497  Vgl. Dick, Love, S. 91. 498  Im Vorwort zu „Obedience“ oder in den Vorreden zu Pentateuch und Jonabuch interpretiert Tyndale die sichtbaren Erfolge der Gegner des Wortes Gottes zum Trost der Gemeinde als nur vordergründig. Sie werden in Kürze von Gott zur Rechenschaft gezo­ gen (s.o. 3.3.3, 4.3.3.1 und 4.4.2.2).

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liches Gesetz an, die auch Luther vorgenommen hatte.499 Der Wittenberger hatte jedoch in seinem Gutachten, das er aufgrund der Bemühungen Philipps von Hessen (1504–1567) in der Scheidungsfrage Heinrichs VIII. abgab, signi­ fikant anders argumentiert als Tyndale.500 Zwar lehnte auch Luther eine Auf­ lösung der Ehe des Königs ab, jedoch mit der von Brecht wie folgt zusam­ mengefassten Begründung: „Die alttestamentlichen Bestimmungen banden die Christen nicht, wohl aber waren sie durch göttliches Recht zur Unver­ brüchlichkeit der Ehe verpflichtet“501. Luther argumentiert also letztlich mit dem „Wort Jesu zur Unscheidbarkeit der Gemeinschaft von Mann und Frau“502, das selbst auf das Schöpferwort Gottes (Gen 2,18) verweist. Auch Tyndale lehnt eine Aufhebung der Ehepflichten Heinrichs gegenüber Katharina mit dem Hinweis auf das „law of nature“ ab. Er findet es jedoch gerade in den atlttestamentlichen Texten Lev 18,16 und Dtn 25,5.503 Luther und Tyndale unterscheiden sich also nicht in dem von ihnen vorgebrachten Entscheidungskriterium,504 wohl aber in der „Bemessungsgrundlage“ dessen, was als natürliches Gesetz zu werten ist bzw. als für Christenmenschen unver­ bindliche „Mosetora“. Hinter der Tatsache, dass Tyndale die von Luther über­ nommene Unterscheidung materialiter anders füllt als der Wittenberger, steht wohl seine bereits verschiedentlich festgestellte positivere Wertung des Geset­ zes. Für Tyndale ist tendenziell das ganze Gesetz – und wenn es nur in einem pädagogischen Sinne ist505 – Gottes gute Weisung für das Leben der Glauben­ den.506 In seiner Substanz lässt sich darum – trotz der formalen Übernahme der Differenzierung Luthers – für Tyndales Gesetzesverständnis eher eine Un­ terscheidung in externa und spiritualia feststellen, die sich auch bei Martin Bu­ cer findet.507 In seinen äußerlichen Bestimmungen geht das Gesetz die Chris­ tenmenschen nichts mehr an, in seiner geistlichen Dimension jedoch können die vom Geist erneuerten Glaubenden gar nicht anders, als die Gebote zu er­ füllen.508 499 

S.o. 4.3.3.1, 4.5.2; vgl. Dick, Love, S. 86 f; Clebsch, S. 161 f; zu Luthers Verständ­ nis vgl. Lohse, Theologie, S. 292 f. 500  Vgl. Brecht, Luther II, S. 407; vgl. auch WA.B 6, S. 197 ff (Brief Philipps von Hes­ sen an Luther und Gregor Brück vom 16. September 1531). 501  Brecht, Luther II, S. 407; vgl. auch Wyly, S. 270. 502  Bayer, S. 131. 503  Vgl. Dick, Love, S. 88. 504  Vgl. Prelates, PS 2, S. 324; zu Luther vgl. Althaus, Ethik, S. 36 f; Lohse, Theologie, S. 291 ff. 505  S.o. 4.5.2. 506  Vgl. Dick, Love, S. 90: „Thus the letter of the Mosaic law can be dispensed with (and dispensed with scripturally) in the spirit of love. In other words, the law is a gospel. Those who regard it with the spirit of love give it life“. 507  Vgl. Müller, S. 208 ff; Stephens, Bucer, S. 95 ff. 508  Vgl. z.B. Prelates, PS 2, S. 325: „whosoever hath this law graven in his heart, this

5.4  Theologische Einordnung

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5.4.6  Tyndales Glaubensbegriff In keiner anderen seiner Schriften wird Tyndales Verständnis dessen, was Glaube ist, so deutlich wie in „Answer“, wo er mit seiner Unterscheidung von „historischem“ und „fühlendem“ Glauben die Grenze zwischen sich und More, ja zugleich grundsätzlich zwischen reformatorischer und papstkirch­ licher Theologie überhaupt, markiert.509 Das epochal Neue der religiösen Erkennt­nis Luthers, die Tyndale rezipiert, liegt wohl im Verständnis des Glaubens als eines von Gott initiierten Beziehungsgeschehens, das sich nicht mehr in der Sprache der Scholastik als vita activa und vita contemplativa aus­ drücken lässt,510 sondern nur als inniges Liebesverhältnis begriffen werden kann (vita passiva).511 Mit dieser Zuordnung grenzt sich Tyndale von der ten­ denziell kognitiven Definition Mores ab, indem er die Existenz des Christen­ menschen in immer neuen Bildern als Verhältnis eines Kindes zu liebevollen Eltern beschreibt. Der recht verstandene Glaube geht über das rationale Für­ wahrhalten, über kognitive Anerkennung und Zustimmung hinaus und er­ fasst „fühlend“ das Liebeshandeln Gottes, indem er sich selbst als dessen er­ wähltes Objekt begreift. Damit umfasst der christliche Glaube für Tyndale ganz wesentlich den As­ pekt der fiducia, der für Luther entscheidend ist.512 Bei Tyndale scheint dieses (kindliche) Vertrauen jedoch weniger von Anfechtungen gezeichnet zu sein, als dies bei Luther der Fall ist.513 Der Glaubende kann zwar auch für Tyndale als Sünder durch Verfehlungen seinen Glaubensgrund ins Wanken bringen. Diese „Störungen“ schreibt er doch stets eher schematisch dem Gegensatz von Geist und Fleisch zu und sieht sie im Zuge der fortschreitenden Abtötung des Fleisches auf dem Weg der Heiligung als vergehende Existenzweise des alten Adam. Während für Luther festgestellt werden konnte: „Glauben war für ­Luther das wagende Sich-Gott-in-die-Arme-werfen, über alle noch so wohl begründeten Zweifel hinweg, ein freudiges Vertrauen, da menschlich gese­ same keepeth all laws; and whosoever hath it not written in his heart, the same keepeth no law“. 509  S.o. 5.3.5.1; vgl. Gregory, S. 178 f. 510  Vgl. Bayer, S. 38 ff; Korsch, Prinzipienfragen, S. 354. 511  Vgl. Bayer, S. 40: „Der Glaube ist kein Wissen und kein Tun, weder Metaphysik noch Moral, weder vita activa noch vita contemplativa, sondern vita passiva“; vgl. Schwarz, Art. Luther, Sp. 581. 512  Vgl. Schwarz, Art. Luther, Sp. 575: „Eine willentliche, affektive Komponente ist in der Relation Evan­ge­lium – Glaube enthalten und muß nicht sekundär hinzukommen, so wenig im Glauben primär kirchl. Lehren kognitiv bejaht und sekundär willentlich an­ geeignet und in rel. Verhalten umgesetzt werden. Ist das Evan­ge­lium wesenhaft Heilszu­ spruch Gottes, so ist der Glaube wesenhaft Vertrauen auf Gottes Zusage“; vgl. Knox, Doctrine, S. 8: „Tyndale, following Luther, made fiducia the chief element of faith“. 513  Vgl. Bayer, S. 2–5.

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Kapitel 5:  Gegen Kardinal und Kanzler – Polemische Schriften (1530/1531)

hen nichts mehr zu hoffen ist“514, gleicht Tyndales Verständnis eher dem ver­ lässlichen „Von-Gott-an-der-Hand-geführt-werden“, das dem Christenmen­ schen immer wieder neu bewusst wird. Insofern er den Glauben darum stärker als Luther als eine feste Gewissheit beschreibt, ähnelt Tyndales Verständnis dem Bucers.515 „Für Bucer gab es das Problem der Glaubensgewißheit im Grunde gar nicht, denn Glaube und Ge­ wißheit schienen ihm ein und dasselbe“516. Anders als bei dem Straßburger liegt jedoch für Tyndale der inhaltliche Schwerpunkt des Glaubens nicht auf der rationalen persuasio des Menschen durch den Geist.517 Tyndales „Glaube“ ist im Sinne Luthers vielmehr stets auch fiducia. Für ihn verbinden sich darum geistgewirktes Verstehen und sicher gefühlte Gewissheit: „Was ist nun der Glaube anderes als das geistliche Licht der Erkenntnis und die innere Gewiss­ heit und das Gefühl der Gnade“518.

514  515 

Müller, S. 25; vgl. Lohse, Theologie, S. 102 ff. Vgl. Bucer, Das ym selbs (1523), BDS 1, S. 61,16–228: „Seitenmal aber nun klar ist, das wir durch den glauben kinder gottes werden und den geist der kinder haben, welcher unsern geist auch versichert, das wir kinder gottes seind, uß welchem dann kummen můsß, wie wir gott durch disen geist als ein vatter erkennen und anrueffen, das wir also alle menschen als unser brueder auch erkennen und ynen dyenen, wie das dem vatter auch sonderlich gefalt und uns darzů geschaffen und mit allem seinem gesatz und propheten dohyn gewysen hat“; dazu auch Stephens, Bucer, S. 62 f (Stephens englische Übersetzung des Bucer-Zitats macht die Nähe zu Tyndale augenscheinlich). 516  Müller, S. 25. 517  Vgl. a.a.O., 28–31; Stephens, Bucer, S. 62–64, besonders S. 62, Anm. 1 u. 3, macht allerdings zurecht darauf aufmerksam, dass eine allzu strikte Trennung von persuasio und fiducia, die Müller bei Bucer zu finden meint, diesem auch nicht gerecht wird. 518  Answer, IW 3, S. 199,3 ff: „Now what is faith saue a spirituall lyght of vnderstonn­ dinge and an inwarde knowlege or felynge of marcie“.

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Kapitel 6

Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) 6.1  Biographische Hinführung 6.1.1  „The Silent years“ 1 Das Scheitern der Bemühungen Vaughans,2 Tyndale zur Rückkehr nach Eng­ land zu bewegen, machte für die englische Regierung einen Strategiewech­ sel notwendig, wollte man weitere kritische Publikationen des Reformers im Exil unterbinden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1531 und der ersten des Jahres 1532 bemühte sich König Heinrich bei Karl V. um die Auslieferung sei­ nes Untertanen Tyndale. Der neue Botschafter am habsburgischen Hof, der More-Freund Sir Thomas Elyot (1480–1546), sollte den Kaiser dazu bewe­ gen.3 Er stieß mit seinem Anliegen jedoch auf taube Ohren. Karl V. war nicht gewillt, dem englischen Monarchen, der gerade dabei war, die Auflösung der Ehe mit seiner Tante Katharina zu betreiben, in dieser Angelegenheit entge­ genzukommen.4 Versuche, Tyndale zu entführen und ohne Zustimmung der habsburgischen Behörden nach England zu verschleppen, scheiterten.5 Trotz dieser für Tyndale lebensbedrohlichen Situation war 1531 für ihn ein ausgesprochen produktives Jahr. Neben der umfangreichen „Answer“ veröffentlichte Tyndale seinen Jonaprolog6 sowie zwei weitere Schriften, die er als hermeneutische Schlüssel zur Lektüre des Neuen Testaments verstand: Die Überarbeitung der Vorrede zum Neuen Testament von 1525, die den be­ zeichnenden Titel „A Pathway into the Holy Scripture“7 trägt, und die Ein­ leitung zum 1. Johannesbrief, „The Exposition of the First Epistle of Saint

1  2  3  4 

Clebsch, S. 174. S.o. 5.1.1. Vgl. Daniell, Biography, S. 217. Vgl. Mozley, S. 239: „The general opinion, however, was that Tyndale was only persecuted because of his attachment to the queen’s cause“. 5  Vgl. den Brief Elyots vom 14. März 1532, den er vom Reichstag in Regensburg an den Herzog von Norfolk schrieb, zitiert bei Mozley, S. 240. 6  S.o. 4.4. 7  Pathway, PS 1, S. 7–28.

336 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) John“8, die im September 1531 erschien.9 Hinzu kam die umfangreiche Auslegung der Bergpredigt, die Tyndale als „Exposition upon the V., VI., VII. Chapters of Matthew“10 im Zeitraum 1532/1533 veröffentlichte.11 Da­ neben entstanden in dieser Zeit vermutlich auch die erst posthum erschiene­ nen Schriften Tyndales zum Sakramentsverständnis („A Brief Declaration unto the Sacraments“12) und die Stellungnahme zum Testament seines Freundes William Tracy (gest. 1530).13 Von diesen Werken fand die Berg­ predigtauslegung, vor allem während der kurzen Phase der Reformation unter Eduard VI. (1547–1553), die breiteste Rezeption in England.14 Über diese – teilweise nur ungenau datierbare – literarische Tätigkeit hinaus wissen wir nahezu nichts über Tyndales Aktivitäten zwischen Sep­ tember 1531 und Januar 1533, als er seinen ersten Brief an den inzwischen im Londoner Tower inhaftierten Freund John Frith schrieb.15 William Clebsch hat dieser Phase in Tyndales Biographie darum den treffenden Namen „The Silent Years“ gegeben.16 Die „Stille“ des Jahres 1532 füllt Clebsch mit einer These, die Tyndales Schweigen erklären soll. Er geht dabei von der Beobach­ tung aus, dass Tyndale nach der Veröffentlichung der „Exposition St John“ bis 1534 keine seiner Schriften mehr veröffentlicht hat.17 8  9 

Exposition St John, PS 2, S. 136–225. Vgl. Mozley, S. 202; Daniell, Biography, S. 220. Da „Pathway“ in der Einleitung zu „Exposition St John“ erwähnt wird (vgl. Exposition St John, PS 2, S. 144), muss das Werk vor der Einleitung zum 1. Johannesbrief, also vor September 1531 entstanden sein. 10  Exposition Matthew, PS 2, S. 3–132. 11  Die genaue Datierung ist unklar. George Joye erwähnt das Werk erstmals in seiner „Apology“ vom Februar 1535, vgl. Clebsch, S. 183. 12  Sacraments, PS 1, S. 349–385. Zur Datierung vgl. Mozley, S. 260; Daniell, Bio­ graphy, S. 222; s.u. 7.5. 13  Tracy’s Testament, PS 3, S. 271–283. Zur Datierung vgl. Mozley, S. 240 f; Dani­ ell, Biography, S. 207; s.u. 7.6. 14  Vgl. Clebsch, S. 184. 15  S.u. 6.1.2. Mozley, S. 263, berichtet davon, dass Tyndale im Herbst 1533 – laut Vaughans Bericht – Kontakte mit englischen Scheidungsgegnern hatte, die ihn um Un­ terstützung baten. Tyndale lehnte dies jedoch ab: „he declined, saying that, ‚he would no farther meddle in his prince’s matter, nor would move his people against him, since it was done’“. 16  Vgl. Clebsch, S. 174; Mozley, S. 240: „Of his doings in the year 1532 we are to­ tally ignorant“. C.H. Williams, S. 131, schließt sich – erstaunlich unkritisch – der Inter­ pretation Clebschs an, nimmt es mit der zeitlichen Abgrenzung aber nicht so genau: „there was a phase, 1530–32, which is described as the ‚silent years’, during which he [d.i. Tyndale] produced no important writings“. Nach dieser Zählung würden die Pentateuch­ übertragung, „Prelates“, „Answer“ und Tyndales hermeneutische Schriften nicht als „im­ portant writings“ gelten! 17  Vgl. Clebsch, S. 175: „he subsequently made for publication during his lifetime no really new works“. Wie Clebsch in diesem Zusammenhang die Exposition Matthew einord­ net und die Tatsache beurteilt, dass die NT-Ausgabe von 1534 viele neue Vorreden Tyn­ dales enthält, lässt er offen.

6.1  Biographische Hinführung

337

Als Ursache hinter dieser Zurückhaltung Tyndales vermutet Clebsch die Hoffnung auf den königlichen Segen zu einer englischen Bibelübersetzung, die Tyndale im Gespräch mit Vaughan geäußert hatte.18 Diese selbstauferlegte literarische Zurückhaltung ging – nach Clebschs Analyse – einher mit einer zunehmenden Kontaktarmut Tyndales. Der Zirkel englischer Reformer habe ab dem Herbst 1531 begonnen, Tyndale zu meiden. Als Grund dafür vermutet Clebsch Tyndales theologische Neuausrichtung als „gesetzlicher“ Theologe.19 Der Tyndale, der nach den „Silent Years“ an die Öffentlichkeit trat, war für ihn ein theologisch gewandelter und innerhalb der englischen Reformatoren­ schar isolierter Einzelkämpfer.20 Clebschs Interpretation des biographischen Dunkels in Tyndales Leben ist jedoch nicht schlüssig und gerät da an ihre Grenzen, wo sie die Chronologie der Ereignisse nicht bedenkt. Tyndales Kontakte mit Vaughan brechen, so­ weit wir wissen, im Juni 1531 ab, als dieser nach England zurückreist. Die Veränderung der Strategie der englischen Regierung im Umgang mit Tyn­ dale machte eine neuerliche Kontaktierung des Exulanten durch Vaughan nach dessen Rückkehr auf den Kontinent im Oktober 1531 überflüssig.21 Selbst wenn Tyndale die Hoffnung gehabt haben sollte, sein Angebot an den König, um den Preis einer englischen Bibel auf weitere Veröffentlichungen zu verzichten,22 könne doch noch angenommen werden, markiert die Veröf­ fentlichung von „Answer“, „Pathway“ und „Exposition St John“ doch das Ende seiner Geduld.23 Tyndale dürfte klar erkannt haben, dass sein Angebot nicht auf Gegenliebe stieß. Seine Reaktion war daher die Veröffentlichung 18  Vgl. a.a.O., S. 176: „Might not Tyndale gladly have delayed printing his Answer to More, and even have stopped all his writing, if the vernacular Bible were to be put forth with royal approval? […] The fact of the matter is that, whereas before September 1531 Tyndale pursued a very busy career of translating, writing, and publishing, interrupted briefly, and only, by known personal dangers and necessary studies, after that date he be­ came strikingly relunctant about publishing“; s.o. 5.1.1. 19  A..a.O., S. 180: „As to whether he was lonely in his final theological stand or in his late professional activity, and whether there was a causal connection between such loneli­ ness and the new direction which his theology took, the extant testimony is mute“; s.o. 4.5.5. 20  Vgl. ebd.: „When the silent years ended, Tyndale had revised his theology radically around the controlling notion of covenant, understood as a moralistic contract between God and man“. Clebschs Darstellung ist hier also nicht ganz stringent, schließlich hatte er zuvor behauptet (vgl. a.a.O., S. 175), Tyndale habe de facto nichts Neues mehr veröffent­ licht. 21  Vgl. Mozley, S. 206; Clebsch; S. 179. 22  S.o. 5.1.1. 23  Auch Clebsch, S. 179, sieht diesen Umstand: „No answer to Tyndale’s proposal could mean only a negative answer. The Answer to More was given the green light, and Frith had it published in high summer 1531“. Den Widerspruch zu seiner eigenen These, Tyndale habe in der Hoffnung auf eine volkssprachige Bibel nichts mehr veröffentlicht, löst Clebsch nicht auf.

338 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) der bisher zurückgehaltenen Schriften. Der Zeitpunkt im September 1531, der für Clebsch den Beginn von Tyndales „Schweigen“ markiert, ist also ur­ sächlich nicht mit dessen Angebot in Verbindung zu bringen. Die Hoffnung auf eine königlich sanktionierte Bibel hatte Tyndale zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben. Es müssen sich also andere Erklärungen für Tyndales literarisches „Schwei­ gen“ des Jahres 1532 finden lassen. Ein äußerer Grund könnte schlicht in der wachsenden Bedrohung durch die englischen Behörden liegen, von de­ ren Strategiewechsel bezüglich seiner Person Tyndale womöglich Kenntnis ­hatte.24 Die Notwendigkeit häufiger Ortswechsel und anderer Maßnahmen zum Schutz von Leib und Leben könnte ihm schlicht nicht viel Zeit gelassen haben, um Werke wie „Sacraments“ oder „Tracy’s Testament“ in den Druck zu geben und diesen zu überwachen.25 Als Erklärung kommt auch die Fortset­ zung seiner Übersetzung des Alten Testaments in Frage. Die 1537 erschienene „Matthew’s Bible“ enthielt neben Tyndales Pentateuch auch den englischen Text der Bücher Josua bis 2. Chronik. Ihr Übersetzer ist mit größter Wahr­ scheinlichkeit ebenfalls Tyndale.26 Bedenkt man den Umstand, dass das Wit­ tenberger Übersetzer-Team um Luther für die Übertragung des Alten Testa­ ments insgesamt (mit Unterbrechungen) etwa zehn Jahre brauchte und Tyn­ dale zwischen der Veröffentlichung seines Pentateuch 1530 und seinem Tod 1536 nur sechs Jahre Zeit zur Verfügung standen – in denen er zudem mehrere Traktate und die Überarbeitungen der Übersetzungen der Genesis und des Neuen Testaments veröffentlichte –, wäre das Jahr 1532 ein vergleichsweise knapp bemessener Zeitraum für die ungestörte Arbeit an den alttestament­ lichen Geschichtsbüchern. Auch dies könnte den Verzicht auf weitere Veröf­ fentlichungen während dieser Zeit erklären. Schließlich wirkt auch die von Clebsch beschriebene Abwendung der Mit­ streiter Tyndales stark konstruiert. Wir wissen recht wenig über die Verbin­ dungen der reformatorisch gesinnten Engländer auf dem Kontinent unterein­ ander, denn diese hatten aufgrund der ständigen Bedrohung, in der sie lebten, großes Interesse daran, dass ihre Kontakte untereinander keinerlei Spuren hin­ terließen. Dementsprechend willkürlich sind auch Clebschs Belege für seine These, Tyndale sei zunehmend isoliert gewesen.27 Insbesondere Frith kann 24  Sollte Tyndale – was eingedenk der mit den Reformern sympathisierenden Zirkel bei Hofe wahrscheinlich ist – davon Kenntnis erhalten haben, dass die Regierung nun auf andere Weise versuchte, seiner habhaft zu werden, wäre ein von Clebsch unterstelltes „Stillhalte“-Versprechen noch absurder. 25  Tyndale berichtet im ersten Brief an John Frith vom Januar 1533 davon, dass sich in Antwerpen Handlanger des Londoner Bischofs John Stokesley aufgehalten haben (vgl. PS 1, S. lvi). Ein Indiz für seine Wachsamkeit. 26  Vgl. Daniell, Biography, S. 333–357. 27  Clebsch, S. 179 f, nennt neben Frith auch Coverdale und Joye, die sich von Tyn­ dale distanziert haben sollen. Über Coverdales Verbleib zwischen 1530 und 1534 wissen

6.1  Biographische Hinführung

339

wohl kaum als Gewährsmann herhalten, denn die Verbindung Tyndales zu ihm blieb auch nach seiner Gefangennahme im Sommer 1532 eng, wie die bewegenden Briefe an den inhaftierten Freund zeigen.28 Aus der Tatsache, dass die Antworten Friths nicht erhalten sind und sich in einzelnen Punkten auch theologische Divergenzen zwischen ihm und Tyndale zeigen, lässt sich nicht auf eine Entfremdung von Tyndale schließen.29 Insgesamt scheint mir Clebschs Deutung der „Silent Years“ darauf abzuzielen, die von ihm unter­ stellte „Hinwendung zum Gesetz“ biographisch abzusichern: Ein von seinen Freunden isolierter Tyndale stellt sich mit seiner „Theology of Contract“30 auch theologisch ins Abseits und verlässt so vollends den Boden des – von Clebsch im Sinne eines konfessionellen Luthertums gedeuteten – reformato­ rischen Konsenses. Dass dies auch auf der Grundlage von Tyndales Theologie nicht haltbar ist, wurde bereits mehrfach herausgearbeitet und zeigt sich er­ neut mit Hinblick auf die hermeneutischen Schriften der Jahre 1531–1533.31 6.1.2  Der Freund: John Frith 6.1.2.1  Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Frith Einen weiteren Grund mag es gegeben haben, der Tyndale an der Veröffent­ lichung zusätzlicher Schriften gehindert hat: die Sorge um John Frith, seinen engsten Vertrauten und Freund, der auf einer heimlichen Reise nach England im Oktober 1532 verhaftet wurde und am 4. Juli 1533 als Märtyrer der Re­ formation auf dem Scheiterhaufen in Smithfield starb.32 Das Verhältnis zu Frith, der Tyndale unter allen Mitstreitern nicht nur persönlich, sondern auch theologisch am nächsten stand, soll im Folgenden dargestellt werden.33 wir jedoch schlicht nichts, er ist aber 1534 zur Stelle, um Tyndale bei der NT-Revision zu unterstützen (s.u. 7.2), was gegen eine inhaltliche Abkehr von Tyndale spricht. Joyes Kon­ flikt mit Tyndale ist dagegen reell und – von Tyndales Standpunkt aus (den Clebsch frei­ lich nicht teilt) – auch gut begründet (s.u. 7.1.2). 28  S.u. 6.1.2.3. 29  Vgl. a.a.O., S. 180. Clebsch versucht einen inhaltlichen Dissens im Abendmahlsver­ ständnis und in der Frage nach dem Seelenschlaf zwischen Tyndale und Frith herzustellen (s.u. 6.1.2.1). 30  A.a.O., S. 181. 31  S.o. 4.5.5 und s.u. 6.2–6.4. 32  Vgl. N.T. Wright, S. 15–20. 33  Es wäre äußerst lohnend, Frith, das theologische „Wunderkind“ der englischen Re­ formation, (vgl. Dickens, S. 116: „had he survived, his must have become one of the great­est names of the age“) und sein Werk eingehender zu betrachten. Ungeachtet der von allen Interpreten hervorgehobenen theologischen Qualität Friths ist sein Werk in den letzten drei Jahrzehnten m.W. in keiner Einzeldarstellung untersucht worden. Die Litera­ tur hat seit der von N.T. Wright edierten Werkausgabe von 1978 (Frith, Wright) keine wesentlich neuen Impulse erfahren. Eine größere Rolle spielt Frith lediglich bei Clebsch (vgl. Clebsch, S. 78–136) und zuletzt in Truemans Studie zum Verständnis von „salva­ tion“ bei den englischen Reformatoren, vgl. Trueman, Legacy, S. 121–155.

340 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Wann und wo genau John Frith, der 1503 in Westerham, Grafschaft Kent, geboren wurde,34 Tyndale zum ersten Mal begegnet ist, wissen wir nicht. Foxe datiert den Erstkontakt auf Tyndales Zeit in Oxford bzw Cambridge35 und macht ihn zugleich zum wesentlichen Impulsgeber für Friths theologische Entwicklung.36 Geht man von Cambridge als Ort des ersten Zusammentref­ fens aus, bleibt problematisch, dass Tyndale nur bis ca. 1522 dort weilte, um dann die Stelle als Lehrer im Hause Sir John Walshs anzutreten.37 Die Univer­ sitätsregister nennen Friths Namen aber erst für das Studienjahr 1523/1524.38 Entgegen seiner eigenen Darstellung in „Acts and Monuments“ verortet Foxe im Vorwort zu seiner Werkausgabe von Tyndale, Frith und Barnes (1573)39 den Beginn der freundschaftlichen Beziehung beider Theologen in London, wo sich Frith nach dem Ende seines Studiums in Cambridge auf­ hielt.40 Damit käme das Jahr 1525 in Frage. Das Problem an dieser Datierung ist jedoch, dass Tyndale England aller Wahrscheinlichkeit nach 1524 bereits verließ.41 34  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 12, S. 2125. Friths Herkunft aus Kent hat – wie Tyndales Herkunft aus Gloucestershire – immer wieder zu Spekulationen über die Beeinflussung durch Lollarden geführt, vgl. dazu das kritische Urteil von N.T. Wright, S. 3. 35  In der Ausgabe der „Acts and Monuments“ von 1563 gibt Foxe an,: „First of all, he began his study at Oxforde“ (Foxe, Acts and Monuments, 1563, S. 501), während er sich in der Ausgabe von 1570 korrigiert und festhält: „First of all, he began his study at Cam­ bryge“ (Foxe, Acts and Monuments, 1570, Book 8, S. 1173). 36  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 501: „at the last he [d.i. Frith] fell into knowledge and acquaintaunce with William Tyndall, through whose instructions, he first receiued into his hart, the seede of the gospell and syncere godlines“. 37  S.o. 1.3.2. Mozley, S. 20, hält eine Begegnung beider Männer in Cambridge in ei­ ner kurzen zeitlichen „Überlappung“ 1522 dennoch für möglich; vgl. dagegen aber N.T. Wright, S. 4 f, bes. Anm. 11. Demaus, S. 56, hat schon früh darauf hingewiesen, dass eine solche kurze Zeitspanne für ein wirkliches Kennenlernen wohl nicht ausreichend ge­ wesen wäre. 38  Vgl. N.T. Wright, S. 3. 39  John Foxe, The vvhole workes of W. Tyndall, Iohn Frith, and Doct. Barnes, three worthy martyrs, and principall teachers of this Churche of England, collected and compiled in one tome togither, beyng before scattered, [and] now in print here exhibited to the Church. To the prayse of God, and pro­ fite of all good Christian readers, gedruckt von John Daye in London 1573 (Short Title Cata­ logue Nr. S117761, im Folgenden abgekürzt mit Foxe/Daye), zitiert bei N.T. Wright, S. 545. 40  N.T. Wright, 4, präferiert London als Ort der Begegnung, geht jedoch nicht auf die Frage ein, wann sich beide dann getroffen haben sollen. Inhaltlich qualifiziert er – in Anlehnung an Foxe – die Begegnung dergestalt, dass erst der intensivere Kontakt mit Tyndale Frith zu dezidiert protestantischen Überzeugungen gebracht habe. Möglich ist m.E. aber auch, das gerade das gemeinsame Interesse an der neuen Lehre der Reformatoren die beiden näher zusammengeführt hat. Frith hatte möglicherweise schon eine vom Hu­ manismus geschulte positive Grundhaltung mitgebracht (vgl. ebd.). Dass vor diesem Hin­ tergrund der ältere Tyndale eine gewisse „Mentorenrolle“ hatte, bleibt natürlich möglich, vgl. auch Demaus, S. 108 f. 41  S.o. 1.5.2.

6.1  Biographische Hinführung

341

Sowohl Cambridge als auch London bereiten also Schwierigkeiten, was die Chronologie der Biographien von Tyndale und Frith betrifft. Da wir jedoch jeweils nur wenige sichere Anhaltspunkte haben, bleiben beide Optionen prinzipiell möglich. In jedem Fall, ob 1522 oder 1524/1525, käme nur ein be­ grenztes Zeitfenster für eine Begegnung der beiden Männer in Frage. Es ist daher m.E. wahrscheinlich, dass die beiden sich erst im Exil näher kennenge­ lernt haben.42 Dies schließt die Möglichkeit einer vorherigen Begegnung in England nicht aus; es ist jedoch auch denkbar, dass beide über gemeinsame Bekannte im Kreis der reformatorisch gesinnten Londoner Kaufmannszunft voneinander wussten und erst im Exil miteinander bekannt gemacht wur­ den.43 Wie Tyndale verfasste auch Frith einen Kommentar zum Testament William Tracys, der im Nachlass Tyndales gefunden wurde.44 Dies lässt auf einen beiden Männern gemeinsamen Londoner Bekanntenkreis schließen. Fest steht jedenfalls, dass Tyndale und Frith nach 1528 gemeinsam bemüht waren, die reformatorische Sache für England voranzutreiben. Inwieweit Frith – selbst ein Kenner des Griechischen45 – Tyndale bei der Bibelüberset­ zung zur Hand gegangen ist, lässt sich nur schwer ermessen. In seiner „Answer to More on the Sacraments“ schreibt Frith: „Gewähre, dass das Wort Gottes, ich meine den Text der Schrift, nach außen dringt in unserer englischen Sprache, so wie andere Nationen es in ihrer Sprache besitzen, und mein Bruder William Tyndale und ich es besorgt haben, und ich werde dir verspre­ chen, nie mehr zu schreiben“46.

Hier zeigt sich nicht nur der große Grad der Vertrautheit zwischen beiden Männern („my brother William“), Frith stellt die Bibelübersetzung darüber hinaus auch als gemeinsame Anstrengung beider dar, was darauf schließen 42  Frith verließ England 1528, nachdem er als „junior canon“ am Oxforder Cardinal’s College (heute: Christ Church) durch den Besitz reformatorischer Schriften auffällig ge­ worden war. Auf dem europäischen Festland verliert sich – wie bei Tyndale – seine Spur zunächst. Es ist möglich, dass er sich nach Marburg wandte (so z.B. Dickens, S. 115, und Trueman, Legacy, S. 15), oder zu Tyndale nach Antwerpen ging (so N.T. Wright, S. 7). 43  S.o. 1.5.2. Sollten sich Tyndale und Frith schon in England kennengelernt haben, könnte Frith auch jener „faithful companion“ sein, auf den Tyndale laut seinem Vorwort zu „Mammon“ (vgl. Mammon, PS 1, S. 37) gewartet hat. Es könnte sich aber auch um Mi­ les Coverdale gehandelt haben, s.o. 4.1 Exkurs Tyndale und Coverdale. 44  Frith, Tracy’s Testament (1531), Wright, S. 243–253. 45  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 501: „he was not only a louer of learning, but also became an exquisite learned man. in the which exercise, when he had diligently laboured certaine yeares, not without great profit both of Latin and Greke“. 46  Frith, Answer to More (1533), Wright, S. 339: „Grant that the word of God, I mean the text of Scripture, may go abroad in our English tongue, as other nations have it in their tongues, and my brother William Tyndale and I have done, and will promise you to write no more“.

342 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) lässt, dass er während seines Aufenthalts in Antwerpen an der Arbeit mit den biblischen Texten beteiligt war.47 Auch in ihrem theologischen Schaffen waren Tyndale und Frith eng aufei­ nander bezogen, sowohl was die Wahl der Themen anging, als auch in Bezug auf ihr methodisches Vorgehen. Beiden ging es um die Verbreitung der refor­ matorischen Lehren unter der englischen Bevölkerung und zugleich um die Auseinandersetzung mit den altgläubigen Positionen. Zu diesem Zweck be­ dienten sich beide der Vorlagen, die ihnen andere reformatorische Theologen boten. Wie Tyndale übersetzte auch Frith lateinische Werke der deutschen Reformatoren ins Englische und ergänzte sie durch eigene Kommentare.48 Wie der ältere Freund stellte sich auch Frith der Auseinandersetzung mit den Protagonisten der Papstkirche in England.49 6.1.2.2  Friths Martyrium Neben dem mit der Feder bzw. mit der Druckerpresse ausgetragenen Kampf um die geistige Vorherrschaft in England, lag Frith auch daran, bei der prak­ tischen Etablierung der reformatorischen Bewegung in seiner Heimat Hilfe zu leisten, die ohne Führungspersönlichkeit den politischen Entwicklungen passiv ausgesetzt war.50 Das erklärt, warum er 1531 die relative Sicherheit sei­ nes niederländischen Exils aufgab, um erstmals die evangelischen Gemeinden in England zu besuchen.51 Von seiner zweiten Reise auf die Insel im Juli 1532 kehrte Frith nicht mehr zurück. Beim Versuch, England zu verlassen, wurde er gemeinsam mit dem ihn begleitenden Prior von Reading am Milton Shore bei Southend (Grafschaft Sussex) von Gefolgsleuten des Bischofs von London 47  48 

Vgl. N.T. Wright, S. 7 f, besonders Anm. 22. 1529 veröffentlichte Frith unter dem Pseudonym Richard Brightwell die Schrift „Antithesis wherein are compared together Christ’s Acts and the Popes“ (Frith, Antithe­ sis, 1529, Wright, S. 299–318) auf der Basis von Luthers De Antichristo (1521) und Melanch­ thons Passional Christi und Antichristi (1521) (vgl. N.T. Wright, S. 9.34–38). 1531 erschien die eingeleitete Übersetzung der Thesen des schottischen Märtyrers Patrick Hamilton (1504–1528) unter dem Titel „Patrick’s Places“ (Frith, Introduction Patrick’s Places, 1531, Wright, S. 475 f, vgl. N.T. Wright, S. 33 f). 49  Sein Hauptwerk, „A Disputation of Purgatory“ von 1531 (Frith, Purgatory, 1531, Wright, S. 81–203 ) wendet sich zugleich gegen John Rastells „New Book of Purgatory“ von 1530 – John Rastell (1475–1536) war der Schwager Sir Thomas Mores –, gegen Mores „The Supplication of the Souls“ von 1529 und gegen John Fishers „Confutation of Lutheran Assertions“ (1523); vgl. N.T. Wright, S. 41 f; Trueman, Legacy, S. 131–137. 50  Vgl. N.T. Wright, S. 14: „It seems highly probable that John Frith’s final return to England was in order to fill this gap; Tyndale could not be risked, and Barnes had recently failed in his mission. Frith was thus to add the role of pastor and leader of the small but active English Protestant church to his other attainments“. 51  Eine erste Reise führte ihn 1531 auf die Insel, vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 501 f. Auch Bischof John Stokesleys Prozesssakten von 1533 berichten von Friths Auf­ enthalt 1531: „quod fuit in Anglia in quadragesima ad duos annos elapsos“ (zitiert nach: Frith, Appendix E, Wright, S. 532).

6.1  Biographische Hinführung

343

und königlichen Offizieren verhaftet.52 Mit dem Versuch, den Prior außer Landes zu bringen, hatte er sich – neben den Häresien, die ihm vorgeworfen wurden – auch eines politischen Vergehens schuldig gemacht.53 Als politi­ scher Gefangener wurde er in den Londoner Tower gebracht, wo er den Rest seines Lebens verbringen sollte. Die Haftbedingungen Friths ließen es zu, dass er weiterhin theologisch ar­ beiten und mit seinen Freunden korrespondieren konnte, den sicheren negati­ ven Ausgang seines Verfahrens allerdings klar vor Augen.54 Insbesondere das Verständnis des Abendmahls beschäftigte ihn, da er von Thomas More in die­ sem Punkt stark angegangen worden war.55 Mit seiner „Answer to More on the Sacraments“ (1533) legte Frith sein umfangreichstes Opus vor. Er tat dies, obwohl ihm sein Freund Tyndale ausdrücklich davon abgeraten hatte, sich schriftlich zum Thema „Abendmahl“ zu äußern, da er um die politische Bri­ sanz der Problematik wusste und die Spaltung des reformatorischen Lagers fürchtete.56 Frith ließ sich jedoch von seinem Freund nicht umstimmen und veröffent­ lichte einen bemerkenswerten Beitrag zur Abendmahlstheologie. Vor dem Hintergrund der erbitterten inner-reformatorischen Abendmahlskontroverse will er widerlegen, dass der Glaube an eine bestimmte Form der Präsenz 52 

Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1174; Vgl. auch den Bericht nach der Werkausgabe von Foxe/ Daye in: Frith, Appendix E, Wright, S. 547. 53  Vgl. N.T. Wright, S. 15. 54  Vgl. Frith, Bulwark against Rastell (1533), Wright, S. 242: „And yet, the truth to say, we play not on even hand; for I am in a manner as a man bound to a post, and cannot so well bestow me in my play, as if I were at liberty, for I may not have such books as are necessary for me, neither yet pen, ink, nor paper, but only secretly, so that I am in conti­ nual fear both of the lieutenant and of my keeper, lest they should bespy any such thing by me“. 55  Frith hatte ursprünglich nur einem Freund gegenüber seine Auffassung zum Abend­ mahl in einem kurzen Traktat dargelegt, der unter dem Titel A Christian Sentence (Frith, Christian Sentence, 1533, Wright, S. 477–484) veröffentlicht wurde. More reagierte mit seinem, Ende 1532 verfassten, Brief: „A letter by syr Tho. More knyght impuguynge the erronyouse wrytynge of Iohan Fryth agaynst the blessed sacrament of the aultare“ (More, Letter against Frith, 1533, CWM 7, S. 231–258); vgl. Marius, Introduction, S. cxvii-clxx; Ders., Morus, S. 533 ff; N.T. Wright, S. 55. 56  1532 waren die Konsultationen zwischen dem englischen König und den reforma­ torischen Reichsständen des Schmalkaldischen Bundes, an denen Robert Barnes maßgeb­ lich beteiligt war, in vollem Gange. Eine „reformierte“ Positionierung eines führenden reformatorischen Theologen in England hätte auf Seiten der Wittenberger zu Irritationen führen können; vgl. Tjernagel, Lutheran Martyr, S. 93–96; McEntegart, S. 11–25. Vgl. PS 1, S. liiif: „Of the presence of Christ’s body in the Sacrament, meddle as little as you can, that there appear no division among us. Barnes willl be hot against you. The ­Saxons be sore on the affirmative; whether constant or obstinate, I remit it to God“. Von Barnes war bekannt, dass er – anders als Tyndale und Frith – in der Abendmahlstheologie (zu diesem Zeitpunkt) mit seinem Freund Luther konform ging, vgl. Clebsch, S. 68–73; McGoldrick, S. 162–169.

344 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Christ im Abendmahl heilsentscheidend ist. Für ihn rettet nicht die Präsenz Christi in Brot und Wein, sondern einzig seine Gegenwart im Herzen des Glaubenden. Nicht die Zustimmung zu einem Dogma bringt die Erlösung, sondern die lebendige Beziehung zu Christus, die aus dem Geschenk des Glaubens kommt. Die aus diesem Glauben erwachsende Liebe macht für Frith auch die Verurteilung eines anderen um seiner Glaubensüberzeugung willen unvorstellbar. Ähnliche Gedanken finden sich in Tyndales Schrift „Brief De­ claration on the Sacraments“, die erst nach seinem Tod erschien.57 Friths „dogma of tolerance“58 war auch der Grund für seine Verurteilung als Häretiker. Er selbst hält dies in den „Articles Wherefore John Frith Died“59 nur elf Tage vor seinem Tod in bewegender Weise fest: „Ich denke, viele Menschen wundern sich, wie ich für diesen Artikel sterben kann, weil sie erkennen, dass es kein heilsnotwendiger Glaubensartikel ist; [es geschieht aber] weil ich zugestehe, dass es überhaupt keinen notwendigen Glaubensartikel gibt, der unter Androhung von Verdammnis zu glauben wäre, sondern sie alle als etwas Gleich­ gültiges betrachte, über das man denken kann, wie Gott es jedem Menschen in den Verstand eingibt und dass aus diesem Grund keiner den anderen verdammen darf, son­ dern sie sich annehmen sollen in brüderlicher Liebe und die jeweilige Schwäche des anderen Gott überlassen“60.

Frith, der sich selbst als „prisoner of Jesus Christ“61 verstand, wurde 1533 als Gefangenem Heinrichs VIII. der Prozess gemacht. Der König war dem be­ gabten jungen Gelehrten gegenüber im Grunde durchaus wohlwollend ein­ gestellt, zeigte aber wenig Toleranz mit Blick auf die Abendmahlstheologie, in der er selbst entschieden an der Transsubstantiationslehre festhielt. Hein­ rich gab Frith die Chance, seine Ansichten bezüglich des Herrenmahls zu wi­ derrufen und ordnete zu diesem Zweck seine Vernehmung durch den neu ernannten Erzbischof Thomas Cranmer und weitere Bischöfe an.62 Foxe’ Be­ 57  Tyndale hält in seinem ersten Brief an Frith mit Bezug auf das Abendmahl fest: „I would have the right use preached, and the presence to be an indifferent thing, till the matter might be reasoned in peace at leisure of both parties“ (PS 1, S. liv). Die inhaltliche Übereinstimmung von Frith und Tyndale im Abendmahlsverständnis widerspricht der von Clebsch, S. 180, unterstellten theologischen Entfremdung der beiden. 58  N.T. Wright, S. 75 (im Original kursiv). 59  Frith, Articles (1533), Wright, S. 450–455. 60  A.a.O., S. 454: „I think many men wonder how I can die in this article, seeing that it is no necessary article of our faith, for I grant that neither part is an article necessary to be believed under pain of damnation, but leave it as a thing indifferent, to think therein as God shall instil in every man’s mind, and that neither part condemn other for this matter, but receive each other in brotherly love, reserving each other’s infirmity to God“. 61  Frith, Letter (1532), Wright, S. 260. 62  Die Beteiligung Cranmers am Verfahren gegen Frith gehört zu den tragischen Mo­ menten der englischen Reformationsgeschichte, denn er selbst starb 23 Jahre später den Märtyrertod nicht zuletzt aufgrund einer Einstellung zum Abendmahl, die der Friths sehr nahekam. Wahrscheinlich sind seine Sympathien für Frith 1533 jedoch noch nicht von einer inhaltlichen Übereinstimmung mit ihm bestimmt, sondern mehr vom Mitleid

6.1  Biographische Hinführung

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richt über dieses Verhör zeigt, dass Frith Unterstützer in höchsten Kreisen hatte, namentlich in Thomas Cromwell und in Cranmer selbst.63 Man legte ihm nahe, aus „taktischen“ Gründen zu widerrufen, um zu einem geeignete­ ren Zeitpunkt mit größerem Erfolg für seine theologischen Überzeugungen einzustehen. Frith jedoch lehnte den Vorschlag mit dem Verweis auf seine ge­ rechte Sache ab.64 Selbst auf das Angebot, ihm zur Flucht zu verhelfen, ging Frith nicht ein: „Wenn ich nun beiseite springe und wegrenne, dann renne ich fort von meinem Gott und vom Zeugnis seines heiligen Wortes“65. In dieser Weise zum Festhalten an seiner Position entschlossen, begegnete Frith verschiedenen Bischofsversammlungen mit großer Ruhe und Gelassen­ heit. Die Verhöre hatten mehr den Stil von Disputationen, bei denen Frith durch seine gute Kenntnis vor allem der Werke des Augustins seinen Rich­ tern oftmals überlegen war. Er unterschrieb schließlich die ihm zu Last geleg­ ten Artikel und nahm das Urteil entgegen, das der Londoner Bischof John Stokesley verfasst hatte.66 Als Häretiker wurde Frith den weltlichen Behör­ den übergeben und am 4. Juli in Smithfield verbrannt. Foxe berichtet davon, Frith habe, als ein Londoner Pfarrer die Menge aufforderte, nicht für den ster­ benden Ketzer zu beten, Gott um Vergebung für ihn gebeten.67 Sein Sterben zeigt John Frith einmal mehr als beeindruckende Persön­ lichkeit, deren Faszination Wright treffend zusammenfasst: „One of the re­ ally attractive features of his character is this utter consistency of life and teaching“68. 6.1.2.3  Tyndales Briefe an Frith Zwei Briefe Tyndales an den Freund sind uns überliefert.69 Sie geben nicht nur Aufschluss über die persönliche Beziehung beider Männer, sondern wer­ fen zugleich ein Licht auf das sie verbindende Anliegen. Der erste Brief wurde wohl im Januar 1533 verfasst, bevor Tyndale von der Gefangennahme Friths Kenntnis erhielt.70 Er ist voll von guten Wünschen für Friths Mission in Eng­ für den jungen Theologen, vgl. N.T. Wright, S. 18.71–74; MacCulloch, Cranmer, S. 100 ff. 63  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 12, S. 2126; vgl. N.T. Wright, S. 18. 64  In Foxe’ Worten: „And almightye GOD knoweth what he hath to doe with his poore seruaunt, whose cause I now defend and not mine owne“ (Foxe, Acts and Monu­ ments, 1583, Book 12, S. 2126). 65  Ebd.: „if I should now start aside and runne away: I should runne from my God and from the testimony of his holy worde“. 66  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 508 f; Frith, Appendix E, Wright, S. 530–535. 67  Vgl. ebd. 68  N.T. Wright, S. 14. 69  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 524 ff; PS 1, S. liii-lvi u. S. lvii-lix bzw. Frith, Appendix B, Wright, S. 492–496.496–498. Ich zitiere nach der Version der PS. 70  Vgl. Frith, Appendix B, Wright, S. 492 (Kommentar).

346 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) land. Als „dearly beloved brother Jacob“71 angesprochen, wünscht Tyndale dem Jüngeren, dass seine Predigt von Gesetz und Evan­ge­lium in der Heimat mithilfe des Heiligen Geistes Frucht bringen möge.72 Heikle theologische Themen, wie das Abendmahl, solle er um der Sache insgesamt willen meiden und sich vor der Verschlagenheit der Geistlichen hüten.73 Besonders eindrücklich beschreibt Tyndale seine Zuneigung zu Frith und erinnert ihn zugleich an die Notwendigkeit zum besonnenen Umgang mit theologischen Streitfragen und zur Unterscheidung von Wichtigem und Un­ wichtigem. Zugleich hält Tyndale aber fest, dass dort, wo das Gewissen und die Wahrheit des Wortes Gottes berührt werden, keine Kompromisse zulässig sind.74 Er bietet Frith jegliche Hilfe an, die ihm zur Verfügung steht. Dabei äußert er eine höchst aufschlussreiche Selbsteinschätzung, in der er den Jünge­ ren im Auftreten, in der Redegewandtheit und seiner ganzen Persönlichkeit als überlegen beschreibt: „Gott hat mich hässlich erschaffen in dieser Welt und ohne Gunst in den Augen der Menschen und stumm, roh, langweilig und schwer von Begriff. Dein Part ist es, das bereitzustellen, was mir fehlt“75.

Auch wenn er seine eigene Wirkung nach außen als kümmerlich beschreibt, wusste er doch wohl auch um das Pfund, das er als der Ältere und im Umgang 71 

PS 1, S. liii. Die Anrede „Jacob“ könnte eine Anspielung auf den jüngeren, gewitz­ teren Sohn Isaaks sein, auf dem der Segen Gottes liegt – eine Stilisierung Friths, der Tyn­ dales Selbsteinschätzung als Esau entspräche, vgl. dazu McCutcheon, S. 245. 72  Vgl. PS 1, S. liii: „expound the law truly, and open the vail of Moses to condemn al flesh, and prove all men sinners, and all deeds under the law, before mercy have taken away the condemnation therof, to be sin and damnable: and then as a faithfull minister set abroad the mercy of our Lord Jesus. And let the wounded consciences drink of the water of him. And then shall your preaching be with power, and not as the doctrine of the hy­ pocrites and the Spirit of God shall work with you“. 73  Vgl. a.a.O., S. liv. 74  Vgl. a.a.O., S. livf: „Brother Jacob, beloved in my heart, there liveth not in whom I have so good hope and trust, and in whom mine heart rejoiceth, and my soul comforteth herself, as in you, not the thousand part so much of your learning, and what other gifts else you have, as that you will creep alow by the ground, and walk in those things that the con­ science may feel, and not in the imaginations of the brain, in fear and not in boldness […] that if you be sure that your part be good, and another hold the contrary, yet if it be a thing that maketh no matter, you will laugh and let it pass, and refer the thing to other men, and stick you stiffly and stubbornly in earnest and necessary things. For I call God to record against the day we shall appear before our Lord Jesus, to give a reckoning of our doings, that I never altered one syllable of God’s word against my conscience, nor would this day if all that is in the earth, whether it be pleasure, honour or riches, might be given me“. 75  Ebd.: „God hath made me evil-favoured in this world, and without grace in the sight of men, speechless, and rude, dull and slow-witted. Your part shall be to supply that lacketh in me“ Wenn Tyndale sich selbst als im Umgang mit Menschen wenig ge­winnende Person beschreibt, erinnert dies wohl nicht zufällig an die Einwände der Propheten im Alten Testament (vgl. Ex 3,10–16; Ri,6,11–24; Jer 14–8), vgl. dazu auch Mc­Cutcheon, S. 247 f.

6.1  Biographische Hinführung

347

mit der Bibel Geschultere in die Beziehung einbrachte. Es wird deutlich, dass Tyndale sich selbst und Frith als Bundesgenossen versteht, die gerade durch die Kombination ihrer Fähigkeiten stark sind. Gerade angesichts dieser engen Verbundenheit muss die Nachricht von der Gefangennahme Friths für Tyndale ein Schock gewesen sein. Im zweiten Brief, den Frith schon im Tower erhielt, nimmt er die Situation seines Freun­ des realistisch wahr und versucht nicht, ihn mit der trügerischen Hoffnung auf Befreiung zu (ver-) trösten (wohl auch deshalb, weil er selbst – vom glei­ chen Schicksal bedroht – sich in die Situation des Todgeweihten gut einfüh­ len konnte). Tyndale versucht, dem Freund Mut und Trost zuzusprechen, in­ dem er Gefangenschaft und drohenden Märtyrertod als Dienst am Evan­ge­ lium versteht. Diese theologische Deutung, die auf heutige Leser befremdlich wirken mag, war Frith als Vergewisserung, dass seine lebensbedrohliche Lage not­ wendige und sinnvolle Folge seiner eigenen Überzeugungen sei, aber wohl durchaus willkommen. Frith soll sich – so Tyndale – daran halten, dass er im Martyrium mit Christus selbst gleichgestaltet werden wird und den Weg der Nachfolge konsequent bis zum Ende geht. Mit dem Bild Christi vor Augen kann er standhaft bleiben,76 denn ihm gilt die Zusage Gottes, ihm in allen Schrecken und Qualen wie ein liebender Vater beizustehen und ihn am Ende zu sich zu nehmen: „Von Herzen Geliebter, was auch immer geschieht, befehle dich selbst ganz und gar deinem innig liebenden Vater und deinem gütigen Herrn an, und fürchte dich weder vor Menschen, die dir drohen, noch vertraue denen, die dir gut zureden, sondern ver­ traue ihm, der wahrhaftig ist in seiner Verheißung und mächtig, sein Wort wahr zu machen. Deine Sache ist das Evan­ge­lium Christi, ein Licht, das brennt durch das Blut des Glaubens […] Obwohl wir Sünder sind, ist doch die Sache gerecht. Immer wenn wir geschlagen werden für unser Wohlverhalten und es geduldig ertragen und aushal­ ten, ist es Gott angenehm; denn das ist es, wozu wir berufen sind, weil auch Christus, der keine Sünde tat, für uns litt und und uns so ein Beispiel hinterließ, seinen Spuren zu folgen. Darin haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gab, darum, dass wir unser Leben für die Brüder hingeben. Freue dich und sei froh, groß ist dein Verdienst im Himmel! Denn wir leiden mit ihm, auf dass wir verherrlicht werden mit ihm, der unseren elenden Körper verwandelt, dass sie seinem verherrlichten Körper gleich werden durch die Kraft, die es vermag, alles zu sich zu ziehen“77. 76  Vgl. PS 1, S. lviii: „bear the image of Christ in your mortal body, that it may at his coming be made like to his immortal, and follow the example of all your other dear ­brethren, which chose to suffer in hope of a better resurrection. Keep your conscience pure and undefiled, and say against that, nothing“. Tyndale erinnert Frith hier auch an das Schicksal Thomas Bilneys, der zuerst widerrufen hatte, um dann doch reumütig für die Wahrheit des Evan­ge­liums zu sterben; vgl. dazu auch McCutcheon, S. 248. 77  PS 1, S. lviii: „Dearly beloved, how so ever the matter be, commit yourself wholly and only unto your most loving Father, and most kind Lord, and fear not men that threat, nor trust men that speak fair: but trust him that is true of promise, and able to make his

348 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Das Ziel, die Wahrheit des Evan­ge­liums unter den englischen Landsleuten zu verbreiten, ist es wert, auch mit dem eigenen Leben dafür einzustehen.78 Tyn­ dales Postscriptum erinnert Frith darum an die vielen anderen, die für das Evan­ge­lium gestorben sind, um der Schar der Erwählten willen.79 Aber auch auch die Verstockten („hard-hearted“) mögen durch Friths Sterben die Wahr­ heit des Evan­ge­liums erkennen.80

6.2  „Pathway into the Holy Scripture“ (1532) 6.2.1  Zu Charakter und Aufbau der Schrift Tyndales „Pathway“ ist eine Neuauflage seines Prologs zum „Cologne Frag­ ment“ von 1525, der aufgrund der unfreiwilligen Unterbrechung des Druck­ vorgangs in Köln keine übermäßige Verbreitung gefunden hatte.81 Zugleich word good. Your cause is Christ’s gospel, a light that must be fed with the blood of faith. […] Though we be sinners, yet is the cause right. If when we be buffeted for well-doing, we suffer paciently and endure, that is acceptable to God; for to that end we are called. For Christ also suffered for us, leaving us an example that we should follow his steps, who did not sin. He­ reby we have perceived love, that he laid down his life for us: therefore we ought also to lay down our lives for the brethren. Rejoice and be glad, for great is your reward in heaven. For we suffer with him, that we may also be glorified with him: who shall change our vile body, that it may be fashioned like unto his glorious body, according to the working whereby he is able even to subject all things unto him“. Im Original sind die von mir kursiv gesetzten Teile des Zitats auf Lateinisch verfasst, vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 525: „Si quidem in hoc ipsum vociti estis: quoniā Christus passus est pro nobis, nobis reliquens exemplum, vt sequamur vestigia eius, qui peccatum nō fecit. In hoc cognouimus charitatem, quoniam ipse animam suam pro nobis posuit & nos debemus animis is pro fratrib[us] ponere. Gaudete & exultate merces vestra copiosa est in celo. Simul enim patimur vt similiter glorificemur cum illo qui transfigura bit corpus nostrum humile vt sit simile corpori suo glorioso, per efficatiam qua potest su­ bucere sibi omnia“. 78  Damit nimmt Tyndale Züge einer urchristlichen Märtyrertheologie auf, wie sie Von Campenhausen, S. 64, schon im 1. Petrusbrief findet: „Die Leiden Christi bezeich­ nen jetzt die brutalen gerichtlichen Verfolgungen und Unterdrückungen der Christen als solche, die in der Nachfolge und nach dem Vorbild Christi getragen werden müssen“, vgl. dazu auch Butterweck, S. 85–89. 79  Vgl. PS 1, S. lix: „Two have suffered in Antwerp, in die sanctae crucis unto the great glory of the gospel: four at Riselles in Flanders; and at Luke hath there one at the least ­suffered, and all the same day. At Roan in France they persecute; and at Paris are five doc­ tors taken for the gospel. See, you are not alone: Be cheerful; and remember that among the hard-hearted in England, there is a number reserved by grace: for whose sakes, if need be, you must be ready to suffer“. Tyndale ergänzt außerdem und für Frith wahrscheinlich noch wichtiger zu wissen: „Sir, your wife is well content with the will of God, and would not, for her sake, have the glory of God hindered“ (a.a.O., S. lx). 80  Sicherlich war sich auch Tyndale selbst dieser Deutung bewusst, als er drei Jahre später dem Ketzertod ins Auge sah, und ihm – nach Foxe’ Bericht – ähnlich heroisch wie Frith begegnete, s.u. 7.8.4. 81  S.o. 2.1.1 und 2.4.

6.2  „Pathway into the Holy Scripture“ (1532)

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verrät der veränderte Titel, dass Tyndale der revidierten Bibelvorrede eine über ihre ursprüngliche Intention hinausgehende Zielsetzung gibt. Der sieben Jahre alte Prolog zum Neuen Testament wird von ihm zu einem Wegweiser für die Leserinnen und Leser auf ihrem „Pfad“ durch die Heilige Schrift umgestaltet. Mithilfe des „Pathway“ sollen sie sich – ausgestattet mit den wichtigsten Inter­ pretationshilfen – alleine in der Bibel zurechtfinden können. Tyndale macht damit die hermeneutische Intention all seiner Einleitungen zu biblischen Tex­ ten explizit:82 Sie sind gedacht als Art „Glaubensfibeln“, die die Lektüre des Al­ ten und Neuen Testaments erleichtern und in bestimmte Bahnen lenken soll.83 Die Erweiterungen im Vergleich mit dem Prolog von 1525 beschränken sich auf einen geänderten Anfangsteil, einzelne Wort- oder Satzergänzungen im Hauptteil und einen neu hinzugefügten Schluss, der sich mit der Bedeu­ tung der guten Werke für die Glaubenden auseinandersetzt.84 Bis auf diesen Schlussteil entspricht die Gliederung des „Pathway“ im Wesentlichen der des Prologs von 1525.85 Inhaltlich haben die meisten Ergänzungen gegenüber dem „Cologne Fragment“ rein additive Funktion86 oder dienen der Illustration des Gesagten.87 Die Stellen im geänderten Anfangsteil und im neuen Schlusspas­ sus, in denen Tyndale über das „Cologne Fragment“ hinaus theologisch neue Akzente setzt, sollen im Folgenden untersucht werden. 6.2.2  Der veränderte Anfangsteil: Klarheit und Verständlichkeit der Schrift Hatte Tyndale 1525 in der Einleitungspassage des Vorworts noch demütig um die Korrektur möglicher Fehler anhand der Schrift gebeten,88 so zeigt sich im „Pathway“ ein gewachsenes Selbstbewusstsein, ja sogar Sendungsbe­ wusstsein des Autors: 82  83  84  85 

S.o. 2.4, 2.6 und 4.3. Vgl. Day, Pathway, S. 132; s.u. 6.2.2. S.u. 6.2.4. Day, Pathway, S. 132 und mit ihm Trueman, Pathway, S. 17, teilen „Pathway“ – im Vergleich zu meiner Einteilung des „Cologne Fragment“ in 2.4 – etwas gröber in drei Teile ein: Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 7–17 u. S. 17–23 sowie den 1532 hingekom­ mene Schlussteil a.a.O., S. 23–28. 86  Etwa wenn er bei der Beschreibung der Gnadengaben Gottes noch weitere anfügt, vgl. a.a.O., Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. S. 11: „For the favour that God hath to his Son Christ, he giveth unto us the favour and good-will, and all gifts of his grace, as a father to his sons“ (die Ergänzungen sind von mir kursiv hervorgehoben). 87  Vgl. z.B. a.a.O., S. 14: „though we shew not forth the fruits of sin as soon as we are born“; Ein weiteres Beispiel findet sich a.a.O., S. 15: „as the just ministration of all manners of laws, and the observing of them, for a worldly purpose and for our own profit, and not of love unto our neighbour, without all other respect, and moral virtues“ (die Ergänzungen sind von mir kursiv hervorgehoben). Tyndales Zusätze können auch polemischen Charakter haben, wie etwa die Spitze gegen das Papsttum und dessen Praxis der Sündenvergebung zeigt (vgl. a.a.O., S. 12). 88  S.o. 2.2.1.

350 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) „Nichtsdestotrotz erkennt man, dass es Gott gefallen hat, unseren Engländern, jenen nämlich, die [sie] ungeheuchelt begehren, die Schrift in ihrer Muttersprache zu sen­ den. Eingedenk der Tatsache, dass es an jedem Ort falsche Lehre und blinde Führer gibt, hielt ich es für überaus notwendig, euch diesen Wegweiser in die Schrift zu ver­ fassen, auf dass Ihr – von keinem Menschen irregeleitet –sicher gehen mögt und im­ mer das Wahre vom Falschen unterscheiden könnt“89.

Der Bibelübersetzer Tyndale versteht sich selbst als Werkzeug Gottes, der dessen Wort an seine englischen Landsleute übermittelt. Freilich nur an jene, denen Gott selbst das Bedürfnis eingegeben hat, die Schrift in der eigenen Sprache lesen zu wollen. Diese Eingrenzung lässt nicht mehr die prophetische Emphase des Jahres 1525 erkennen, sondern vielmehr eine gewisse Resigna­ tion des Übersetzers, dem inzwischen bewusst geworden war, dass seine eng­ lische Bibel längst nicht all seinen Landsleute als Heilsbotschaft galt. „Falsche Lehrer“ und „blinde Führer“ hatten die Verbreitung des Wortes Gottes we­ sentlich effektiver behindert, als Tyndale sich dies womöglich vorgestellt hatte. Er adressiert seinen „Pathway“ darum wohlweislich an die „unge­ heuchelt“ („unfeigned“) Christenmenschen, die er an anderer Stelle auch als wahre Gemeinschaft der Erwählten beschreiben kann.90 Über diese Präzisierung des Adressatenkreises hinaus hat insbesondere der zweite Teil der oben zitierten Ergänzung Anlass zur Diskussion gegeben. Douglas H. Parker hat die Frage aufgeworfen, wie sich Tyndales Intention, den Lesern einen Leitfaden für das Schriftstudium an die Hand zu geben, zu seiner Vorstellung von der claritas und perspicuitas der Schrift verhält.91 Parker unterstellt eine „inconsistency between Tyndale’s theory of exegesis and his practice“92. Tyndale berufe sich zwar auf eine (postulierte) objektiv erkenn­ bare biblische Wahrheit, mache aber andererseits den subjektiven Glauben des Einzelnen zum Kriterium der Wahrheitsfindung.93 Am Ende, so Parkers Fol­ gerung, trete Tyndale selbst, um die Einheitlichkeit der Schriftauslegung zu

89  A.a.O., S. 7 f: „Nevertheless, seeing that it hath pleased God to send unto our Englishmen, even to as many as unfeignedly desire it, the scripture in their mother tongue, considering that there be in every place false teachers and blind leaders; that ye should be deceived of no man, I supposed it very necessary to prepare this Pathway into the scrip­ ture for you, that ye might walk surely, and ever know the true from the false“. 90  S.o. 5.4.2. 91  Vgl. Parker, S. 95 f: „The nature of many of his comments on biblical passages also undermines his oft-expressed view of the simplicity and plainness of God’s word“; s.o. 5.4.1. 92  A.a.O., S. 88, Anm. 3. 93  Vgl. a.a.O., S. 94: „Tyndale’s fideistic methodology, unwittingly I am certain, en­ courages readers to regard the Bible as an interrogative text, a post-modernist document composed of a plurality of meanings, a view that ironically contradicts Tyndale’s own in­ sistent claim about the simplicity, unity, and openness of the Bible’s message“.

6.2  „Pathway into the Holy Scripture“ (1532)

351

bewahren, mit seinen Schriften als objektiver Garant der richtigen Deutung an die Stelle des – von ihm abgelehnten – römischen Lehramts.94 Diese Interpretation trifft m.E. den Kern der Hermeneutik Tyndales nicht, weil sie übersieht, dass Tyndale – wie die Reformatoren überhaupt – die von Parker als „subjektiv“ eingestuften Größen „Glaube“ und „Schrift“ anders wahrgenommen hat. Klarheit und Allgemeinverständlichkeit der Schrift er­ geben sich für Tyndale nicht durch die jeweilige subjektive Aneignung durch das Individuum, sondern sind ihr inhärente Qualitäten. Sie erschließen sich dem Glaubenden, weil Gottes Geist den Prozess des Verstehens lenkt und da­ mit selbst die Objektivität der biblischen Wahrheit garantiert.95 Tyndale setzt darum also nicht die eigene Lehrautorität an die Stelle der Papstkirche, sondern will mithilfe seiner Werke der Interpretation der Schrift durch Gott selbst den Weg bereiten. Aus heutiger Sicht steckt darin freilich (und insofern hat Parker recht), wie Trueman formuliert, das „obvious dilemma that lies at the very heart of Protestantism“, nämlich: „the balance between individual freedom to possess and interpret the Scriptures without the coercion of a ­fallible, and thus potentially corrupt, church, and the need to maintain some kind of stable doctrinal core in order to give notions of truth etc. some kind of meaningful content“96. Hinzu kommt, dass die Schrift für Tyndale nicht schon per se mit der Wahrheit gleichzusetzen ist, sondern das Gotteswort im Menschenwort erst erschlossen werden muss. Die hermeneutischen Schlüssel, die Tyndale – wie schon im Prolog zum „Cologne Fragment“ in Anlehnung an Luthers Vorrede zum Neuen Testament (1522) – entwickelt, machen deutlich, dass er keinem Biblizismus das Wort reden will. Ihm geht es darum, dass seine Leserschaft bei ihrem Studium der Heiligen Schrift Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden kann. Tyndales Werke dienen der „Hervorrufung“ und „Un­ terstützung“ des Geistwirkens an den Glaubenden und haben insofern eine der Predigt vergleichbare Funktion.97 Gerade die Tatsache, dass eine solche mündliche Verkündigung in England nur selten überhaupt möglich war (etwa durch Frith während seiner England­ aufenthalte), machte Tyndales Schriften für die Anhänger der Reformation in England so wichtig. Auf diesen Aspekt weist Tyndale in seiner abschließen­ den Bemerkung am Ende des neu angehängten Schlussteils selbst hin, wenn er 94 

Vgl. a.a.O., S. 100: „one might argue that the more Tyndale tried to move away from the Roman Catholic position on biblical exegesis the closer he came to it“. 95  Mit diesem Wirken Gottes in und durch sein Wort kann Parker, anders als Tyndale und die Reformatoren, innerhalb der von ihm beschriebenen neuzeitlichen Rezeptions­ kategorien nicht mehr rechnen. 96  Trueman, Pathway, S. 17 f. 97  Zur Predigt bei Luther vgl. Beutel, Wort Gottes, S. 369 ff; zu Bucer vgl. Müller, S. 43–46.

352 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) den Nutzen eines hermeneutisch begleiteten Studiums der Schrift in der eige­ nen Sprache gerade für die Laien hervorhebt.98 Er setzt damit – dem Konsens der Reformation folgend – einen bewussten Kontrapunkt zur Hermeneutik eines päpstlichen Lehramtes, das meint, autoritativ über die Auslegung der Schrift entscheiden und Glaubensinhalte setzen zu können. 6.2.3  Der neue Schlussteil: Gesetz und gute Werke 6.2.3.1  Die Befähigung zum Tun des Gesetzes Schon 1525 hatte Tyndale in einer eigenständigen Akzentuierung gegenüber seiner Luther-Vorlage die positive Rolle des Gesetzes für die gerechtfertigten Glaubenden herausgestellt.99 Sein Akzent lag nicht so sehr auf Luthers Dia­ lektik von Gesetz und Evan­ge­lium, auch wenn er diese rezipiert. Im Fokus stand die Erneuerung der Glaubenden durch den Geist. Dies wird auch 1532 deutlich, wenn er an die schon im Prolog von 1525 gemachte Feststellung, dass der Mensch zwar an seinen Werken zu erkennen sei, aber eben nicht durch sie gerechtfertigt werde, anfügt: „Aber, nachdem wir durch den Geist und die Lehre Christi neu geschaffen sind, neh­ men wir allezeit zu im Wandel gemäß der Lehre und nicht in den blinden Werken un­ serer eigenen Einbildung“ 100.

Rechtfertigung impliziert hier auch die effektive Befähigung des Menschen zum Tun des Guten (gemäß der Lehre Christi und nicht gemäß menschlicher bzw. kirchlicher Vorgaben), verstanden nicht als eine plötzliche Veränderung, sondern als stetige Bemühung. Ob die Glaubenden das Gesetz in Gänze erfül­ len können, steht für Tyndale nicht zur Debatte. Unstrittig ist für ihn jedoch, dass diejenigen, die mit dem Geist erfüllt sind, sich von sich aus um die Einhal­ tung der Gebote bemühen.101 „For Tyndale, the healing process which fol­ lows the forgiveness and mercy of Christ, is part of one continuous process of salvation, begun by faith, but growing into love for the Law“102. 98  99  100 

Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 28. S.o. 2.3.2. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 23: „though, after we be created anew by the Spirit and doctrine of Christ, we wax perfecter alway, with working according to the doctrine, and not with blind works of our own imagining“; vgl. auch a.a.O., S. 18: „For it is not possible for a man, till he be born again, to think that God is righteous“ (Kursivierung von mir). Trueman, Pathway, S. 21, bemerkt dazu richtig: „Indeed, for Tyndale, law and gospel, while antithetical to each other from the point of view of unbelievers, are actually complementary to each other when set within the context of faith“. 101  Vgl. Trueman, Pathway, S. 22: „the references to the believer’s inability to fulfil the law are qualified by statements which clearly imply that, while complete fulfilment of the law is out of the question, partial fulfilment is indeed a possibility“. 102  Leininger, S. 68.

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6.2  „Pathway into the Holy Scripture“ (1532)

Vor diesem Hintergrund thematisiert Tyndale die positive Bedeutung der guten Werke für die Glaubenden. Die Werke dienen ihnen auf dreierlei Weise: Zunächst verschaffen sie Gewissheit über den Status vor Gott, nicht im Sinne der Werkgerechtigkeit der Papstkirche, sondern insofern das Tun der Liebes­ werke auf die Berührung durch Gottes Liebe verweist: „Unsere Werke dienen uns in dreifacher Weise: Zuerst versichern sie uns, dass wir Er­ ben des ewigen Lebens sind und dass Gottes Geist, der dessen Anzahlung ist, in uns wohnt, indem unsere Herzen dem Gesetz Gottes zustimmen und unsere Glieder Kraft haben, es zu tun, wenn auch unvollkommen“103.

Zweitens tragen die Werke ganz praktisch dazu bei, das sündige Fleisch zu überwinden, und schließlich dient eine an den vom Gesetz gebotenen guten Werken orientierte Lebensführung schlicht dem Nächsten. 104 6.2.3.2  Tyndales Auslegung der Zehn Gebote Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der Ethik als Liebeshandeln zu­ gunsten des Nächsten auf der Grundlage und zum Erweis der Liebestat Got­ tes am Glaubenden selbst legt Tyndale seinen Lesern im Schlussteil die Zehn Gebote aus, knapp eingeleitet mit: „These things to know“105. Das erste Gebot deutet er mit Dtn 6,9 ff und Mk 12,28 ff als Gebot der Liebe zu Gott.106 Diese Liebe gründet in der Dankbarkeit des Menschen für Gottes Schöpfungs- und sein Versöhnungshandeln in Christus und erhält so­ mit den Charakter einer antwortenden Liebe. Tyndale begreift auch die Ver­ söhnungstat Gottes in Christus als Schöpfungsakt.107 Aus dem ersten Gebot leitet Tyndale die weiteren Gebote der ersten Tafel ab. Die Ehrung des göttlichen Namens verbindet er mit dem Schwurverbot (Mt 5,33);108 die Heiligung des Feiertages soll der Stiftung von Gemeinschaft sowie der religiösen Erbauung und Unterweisung dienen. Der gemeinsam  



103  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 23 : Our deed do us three manner of ser­ vice. First they certify us that we are heirs of everlasting life, and that the Spirit of God, which is the earnest thereof, is in us; in that our hearts consent unto the law of God, and we have power in our members to do it, though imperfectly“. Der Zusatz „though imper­ fectly“ macht noch einmal deutlich, dass für Tyndale die Glaubenden auf dem Weg der Heiligung sind, aber noch nicht vollständig verwandelt. 104  Vgl. a.a.O., S. 23 f: „we tame the flesh therewith, and kill the sin that remaineth yet in us; and wax daily perfecter and perfecter in the spirit therewith“, bzw. a.a.O., S. 24: „thirdly, we do our duty unto our neighbour therewith, and help their necessity unto our own comfort also, and draw all men unto the honouring and praising of God“. 105  A.a.O., S. 24. 106  Vgl. ebd.: „that we have one God to put our hope and trust in, and him to love with all the heart, all the soul, and all our might and power“. 107  Vgl. ebd.: „he hath first created us of nought, and heaven and earth for our sakes; and afterwards when we had marred ourself through sin, he forgave us, and created us again, in the blood of his beloved Son“. 108  Vgl. ebd.: „And that we have the name of our one God in fear and reverence; and

354 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) verbrachte Feiertag wird so zum Ort des Gottesdienstes der evangelischen Gemeinde, in dem die Lektüre der Schrift, Danksagung und Beichte im Zen­ trum stehen: „Es ist richtig und notwendig, dass wir Feiertage haben, um zusammenzukommen und seinen [d.i. Gottes] Willen hören: sowohl das Gesetz, nach dem wir regiert wer­ den sollen, als auch die Verheißungen, denen wir vertrauen sollen und um Gott ge­ meinsam zu danken für seine Gnade, um ihm durch unseren Retter Jesus unsere Schwächen anzuvertrauen und um uns selbst mit ihm zu versöhnen und miteinander, wenn etwas zwischen Bruder und Bruder steht, das es [d.i. die Versöhnung] nötig macht“109.

Auch das Gebot der Elternliebe begründet Tyndale mit der gebotenen Got­ tesliebe, da sich diese auch auf die von Gott gegebenen Ordnungsmächte er­ strecken muss, zu denen neben den Eltern auch „master, lord, prince and king“110 gehören. Wie schon in „Obedience“ lässt Tyndale als Ausnahme nur den Fall gelten, dass die Obrigkeit selbst gegen Gottes Gebote verstößt. Dann ist den Glaubenden „ziviler Ungehorsam“ gestattet, jedoch nicht der offene Widerstand.111 So wie er die erste Tafel aus dem Gebot der Gottesliebe herleiten kann, sieht Tyndale die Weisungen der zweiten Tafel, die er nur kurz erläutert, im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst.112 Auch dieses Gebot ist für ihn letztlich ein Reflex der Liebe, die Gott den Menschen zuerst gezeigt hat. 6.2.4  Vergleich „Cologne Fragment“ und „Pathway“ Die Veränderungen, die Tyndale im „Pathway“ gegenüber dem Prolog von 1525 vorgenommen hat, stellen nach dem Urteil von Clebsch eine subtile, aber in Wahrheit radikale theologische Abkehr von der „evangelischen“ Theologie Luthers und die Hinwendung zu einer „gesetzlichen“ Theologie dar.113 Diese Bewertung entspricht Clebschs Gesamtbild der theologischen that we dishonour it not, in swearing thereby“. Vgl. dazu auch WA 6, S. 204,25–216,39 (Von den guten Werken, 1520); GrKat (1528), BSLK, S. 572.583.586. 109  Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 24 f: „it is right that we have needful holy days to come together, and learn his will, both the law which he will have us ruled by, and also the promises of mercy which he will have us trust unto, and to give God thanks together for his mercy, to commit our infirmities to him through our Saviour Jesus, and to recon­ cile ourselves unto him, and each to other, if aught be between brother and brother that requireth it“. 110  A.a.O., S. 25. 111  Vgl. ebd.: „we may not avenge ourselves, but […] remitting the vengeance unto God, and in the mean season suffer until the hour be come“. 112  Vgl. a.a.O., S. 25 f: „to know that a man ought to love his neighbour equally and fully as well as himself because his neighbour (be he never so simple) is equally created of God, and as full redeemed by the blood of our Saviour Jesus Christ“. 113  Vgl. Clebsch, S. 167 f: „Tyndale by a few emendations turned the very Lutheran

6.2  „Pathway into the Holy Scripture“ (1532)

355

Entwicklung Tyndales, das schon an anderer Stelle fragwürdig erschien.114 Zur Begründung nennt er in seiner Analyse des „Pathway“ folgende Punkte: Tyndale verstehe die Rechtfertigung 1532 als Befähigung zur Gesetzeserfül­ lung, die er 1525 noch gänzlich ausgeschlossen habe.115 Desweiteren über­ trage er im „Pathway“ den Ausdruck „gospel“ auch auf alttestamentliche Texte und lehre nun auch eine Belohnung für gute Taten im Jenseits.116 Auch wenn einzelne Beobachtungen Clebschs am Text zutreffend sind, gilt dies nicht für seine Schlussfolgerungen. Für ihn spielt keine Rolle, dass Tyn­ dale seine Aussagen von 1525 nicht widerrufen, sondern lediglich ergänzt hat. Auch nach Clebschs Verständnis „gut lutherische“ Äußerungen, etwa zur Un­ fähigkeit der Glaubenden, das Gesetz zu erfüllen, finden sich im „Path­way“. Tyndale wollte offensichtlich nichts von dem, was er im „Cologne Fragment“ geäußert hatte, inhaltlich zurücknehmen, sondern hat sich lediglich bemüßigt gefühlt, das Gesagte durch Ergänzungen theologisch zu präzisieren.117 Dabei bricht er jedoch nicht mit seinem Standpunkt von 1525, sondern führt nur da­ mals bereits angelegte Akzente deutlicher aus. Clebsch beachtet nicht, dass be­ reits der Prolog von 1525 über die Rezeption der Luthervorrede hinaus erheb­ liche Eigenanteile Tyndales enthält.118 Auch dort findet sich bereits die positive Wertschätzung des Gesetzes, die Clebsch erst im „Pathway“ meint ausmachen zu können.119 Schon 1525 ist der Veränderungsprozess der Glaubenden vom Zustand der Natur zum Status der Gnade für Tyndale entscheidender als die Dialektik von Gesetz und Evan­ge­lium.120 Insofern lässt sich beim Vergleich prologue to the 1525 New Testament into an explanation of scripture that without exag­ geration can be called the magna carta of English Puritanism […] the entire flow of the ar­ gument was turned from a specifically religious to a specifically moral end, so neatly did Tyndale subsume religion under morality“. 114  S.o. 4.5.5. 115  Vgl. Clebsch, S. 166 f; vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 11: „In the gospel, when we believe the promises, we receive the spirit of life; and are justified, in the blood of Christ, from all things whereof the law condemned us And we receive love unto the law, and power to fulfil it, and grow therin daily“ (Ergänzungen von 1532 kursiv). 116  Vgl. Cologne Fragment/Pathway, PS 1, S. 20: „By faith we receive of God, and by love we shed out again. And that must we do freely, after the example of Christ, without any other respect, save our neighbour’s wealth only; and neither look for reward in the earth, nor yet in heaven, for the deservings and merits of our deeds as friars preach; though we know that good deeds are rewarded, both in this life and in the life to come“ (Ergänzungen von 1532 kursiv). 117  Seine Ergänzungen von 1532 machen nur noch einmal deutlich, dass der von Got­ tes Geist veränderte, geheilte Glaubende auch auf dem Weg der Gesetzeserfüllung Fort­ schritte machen kann, ohne dass damit gesagt wäre, eine vollständige Befolgung der Ge­ bote sei möglich. Tyndale hält andernorts explizit am simul iustus et peccator fest (s.o. 5.3.3.3 und s.u. 6.3.3.4 und 6.4.3.2). 118  S.o. 2.2.2 und 2.4. 119  Sie ist tatsächlich ein durchgehendes Motiv der Theologie Tyndales s.o. 2.7.2.1; 3.4.1.3; 5.4.5; vgl. Trueman, Legacy, S. 119 f. 120  S.o. 2.2.2 und 2.4; vgl. Trueman, Pathway, S. 18–21.

356 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) beider Fassungen zwar von einer (auch sonst zu findenden) Entwicklung im Gesetzesverständnis Tyndales, jedoch keinesfalls von einem Bruch sprechen. Insgesamt lässt Clebschs schlichte Einordnung Tyndales unter die Schlag­ wörter „Lutheran“ und „Puritan“ keinen Spielraum für eine angemessene Be­ urteilung seiner theologischen Aussagen. Clebschs Abneigung gegenüber ei­ nem (wie auch immer verstandenen) „Puritanismus“ ist deutlich greifbar. Of­ fensichtlich ist für ihn jede von Luther „abweichende“ theologische Wertung des Gesetzes oder die Hochschätzung christlicher Ethik schon als „moralis­ tisch“ zu verwerfen. Dies träfe aber – wenn nicht sogar Luther selbst121 – so doch zumindest auch Melanchthon und die gesamte reformierte Tradition.122

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531) 6.3.1  Zu Charakter, Aufbau und möglichen Vorlagen der Schrift Die Einleitung zum 1. Johannesbrief führt in der Forschung zur Theologie Tyndales zu Unrecht ein Schattendasein,123 was möglicherweise auf ihre zeit­ liche (und z.T. auch inhaltliche) Nähe zu den großen Schriften „Prelates“ und „Answer“ zurückzuführen ist sowie auf die Tatsache, dass sie eine eher müh­ sam zu lesende homilieartige Auslegung des biblischen Textes darstellt.124 Dass Tyndale dem 1. Johannesbrief einen eigenen Kommentar widmet, liegt wohl in der Tatsache begründet, dass diese Epistel den für ihn so wichtigen Gedanken der Liebe Gottes in besonderer Weise zur Sprache bringt.125 Hierin stimmt er mit Luther überein, der in seiner Vorlesung 1527 im 1. Johannes­ brief „die an Trost allerreichste Epistel“ erkannte, „die ein unruhiges Herz trösten kann“126. Theologisch orientiert sich Tyndale in der „Exposition St John“ jedoch kaum an Luther, sondern stellt seine eigene theologische Agenda 121  Vgl. z.B. Luthers differenzierte Aussagen im sog. „Kleinen Galaterkommentar“ von 1519, WA 2, S. 492,36–493,2, in denen er unterscheidet zwischen „Werken der Sünde“, „Werken des Gesetzes“, „Werken der Gnade“ und „Werken des Friedens und der vollkommenen Gesundung“. Zur Bedeutung der Werke im Leben der Gerechtfertigten bei Luther vgl. Althaus, Theologie, S. 213–218 u. S. 232–238; vgl. auch Trueman, Le­ gacy, S. 107. 122  Vgl. z.B. Melanchthon, Loci Communes (1521), Pöhlmann, S. 312: „Et leges praescribuntur fidelibus, per quas spiritus mortificet carnem“. 123  Es gibt m.W. keine eigenständigen Untersuchungen zu dieser Schrift, vgl. auch Clebsch, S. 170: „Modern writers in the field mark it down as one of the least valuable of Tyndale’s compositions, for it reiterated the author’s favorite complaints against the Church of the day, and otherwise adhered closely to the text of the epistle“. 124  Tyndale beginnt mit einem „Prologue“, der die grundlegende Relation von Taufe und Schriftstudium thematisiert und behandelt anschließend abschnittsweise den gesam­ ten 1. Johannesbrief. 125  Vgl. Trueman, Legacy, S. 98, Anm. 58. 126  Übersetzung nach Bornkamm, Luther, S. 502 (vgl. WA 20, S. 600,1 f, Vorlesung

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

357

stärker in den Vordergrund. Erstmals führt er sein Verständnis des Bundes aus, den er allerdings noch nicht mit dem Begriff „covenant“ bezeichnet, statt des­ sen spricht er von „appointment“127. Mit ihrer neuen Akzentuierung der theologischen Gedankenwelt Tynda­ les markiert die Einleitung zum 1. Johannesbrief einen theologischen Über­ gang vom Schwerpunkt der als Liebesverhältnis beschriebenen Gott-MenschRelation, die Tyndales Theologie von Anfang an zugrunde liegt, hin zur Bundestheologie seines Spätwerks.128 Der Übergangscharakter der Schrift erklärt auch, dass einige theologisch neue Gedanken nicht ganz stringent dar­ gestellt sind und zum Teil widersprüchliche Aussagen unverbunden nebenei­ nander stehen. Es ist immer wieder vermutet worden, dass Tyndale – wie bei der etwa im gleichen Zeitraum entstandenen Auslegung der Bergpredigt – für die Kom­ mentierung des 1. Johannesbriefes eine literarische Vorlage gehabt habe.129 Aufgrund der hohen Wertschätzung, die beide Theologen der Epistel entge­ genbrachten, ließe sich eine Verwendung von Texten Luthers durch Tyndale vermuten.130 Tatsächlich hatte Luther im Pestjahr 1527 den 1. Johannesbrief ausge­ legt.131 Die Mitschriften der Vorlesung von Georg Rörer und anderen stan­ den Tyndale jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur Verfügung.132 Andere Reformatoren hatten sich zu diesem Zeitpunkt nicht eingehender mit dem 1. Johannesbrief befasst.133 Insofern hat Tyndales Auslegung – neben der Luthers – eine singuläre Position. über den 1. Brief des Johannes, 1527: „Iohannis haec Epistula habet filum et stylum et omnino consolatione plenissima Epistola, quae solari potest cor inquietum“). 127  Der Begriff taucht auch schon im Glossar zur Genesis (1530) auf, s.o. 4.3.2.3, und wird als „Covenant“ 1534 im neu verfassten Genesisprolog in seiner reifen Form zum Zentralbegriff werden (s.o. 4.3.2.2). Vgl. Trueman, Legacy, S. 111; Clebsch, S. 172 f. 128  S.o. 2.7.2; 3.4.1.5. Mit dem Begriff „covenant“ bezeichnet, nimmt die Bundes­ theologie in der „Exposition Matthew“ breiten Raum ein (s.u. 6.4). 129  So Rupp, Making of, S. 51; Clebsch, S. 170. 130  Bornkamm, Luther, S. 502, erkennt der Johannesbriefdeutung Luthers (WA 20, S. 592–801, Vorlesung über den 1. Brief des Johannes, 1527) eine Bedeutung als theologische Grundsatzschrift zu: „Luther fand in dem Brief Antwort auf die wichtigsten Fragen, mit denen es die reformatorische Verkündigung damals zu tun hatte“. Zu Luthers Auslegung vgl. auch a.a.O., S. 502–505; Brecht, Luther II, S. 208.244; Günther, S. 258; Klauck, S. 349 f. 131  Die Quellenlage von Luthers Vorlesung zum 1. Johannesbrief ist komplex, da es mit der „Wolfenbütteler Handschrift“ neben den Mitschriften Rörers eine weitere Quelle gibt, in der jedoch auch eine Predigt Luthers zum 1. Johannesbrief von 1532 mit verarbei­ tet ist, vgl. die Einleitung von Koffmane (WA 20, S. 592–598). 132  Tyndales „Exposition St John“ erschien bereits im September 1531, vgl. Mozley, S. 202 f. 133  Von Bucer erschien freilich 1528 sein Kommentar zum Evan­ge­l ium des Johan­

358 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) 6.3.2  Der Prolog: Unterweisung der Getauften 6.3.2.1  Die Berufung durch die Taufe „Except a man have the profession of his baptism in his heart, he cannot un­ derstand the scripture“134 – Mit dieser These eröffnet Tyndale seine Einlei­ tung und gibt damit das Thema vor. Der im Deutschen am Besten mit „Beru­ fung“ wiederzugebende Ausdruck „profession“ wird von Tyndale in „Expo­ sition St John“ neu entfaltet und umfasst Gottes Erwählung einerseits und den mit ihr verbundenen Anspruch andererseits. Beide Aspekte erfährt der Christ in der Taufe, die damit zum Grunddatum der christlichen Existenz wird und den Zugang zur Grundurkunde, nämlich der Schrift, ermöglicht. Was die Taufe ausmacht, bestimmt Tyndale als den Dreischritt von Geset­ zeserkenntnis, Rechtfertigung und Heiligung, den er schon mehrfach ausge­ führt hat: Ein Christenmensch, der seine Taufberufung im Herzen trägt, hat das Gesetz als geistliches Gesetz erkannt, das in der Liebe erfüllt wird.135 Zu­ gleich weiß er um das Evan­ge­lium als die in Christus erfüllten Gnadenver­ heißungen Gottes („promises of mercy which are in our Saviour Christ“136) und stimmt in seinem Innern dem Gesetz Gottes zu.137 An dieser Beschrei­ bung der christlichen Berufung in der Taufe fällt auf, dass Tyndale die über­ führende Funktion des Gesetzes nicht erwähnt. Er „überspringt“ gewisser­ maßen den usus elenchticus und kommt gleich auf den tertius usus als den eigent­ lichen Gebrauch des Gesetzes zu sprechen. Die pädagogische Funktion des Gesetzes kann er hier wohl deswegen unberücksichtigt lassen, weil er sie als der Taufe vorgelagert versteht:138 Wer aus der Taufe lebt, wurde bereits vom Gesetz seiner Sünde überführt und hat sich Gottes Gnade anvertraut. Für die­ sen Menschen spielt das Gesetz nun nurmehr eine positive Rolle als Richt­ schnur seiner Lebensführung. Hier wird noch einmal deutlich, dass die Dialektik von Gesetz und Evan­ ge­lium von Tyndale zwar rezipiert, jedoch auch mit einer anderen Pointe ver­ sehen wird, als sie sich bei Luther findet. Der Mensch unter dem bedrohlichen, strafenden Gesetz ist für Tyndale nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Wiedergeburt durch die Taufe und zur Erkenntnis des usus in renatis. nes, das auch Bezugnahmen auf den 1 Joh enthielt, vgl. Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2. 134  Exposition St John, PS 2, S. 136. 135  Vgl. ebd. „Which profession standeth in two things: the one is the knowledge of the law of God, understanding it spiritually, as Christ expoundeth it Matt. v. vi. and vii. chapters […] that love is the fulfilling of the law“. 136  Ebd. Tyndale beschreibt sie inhaltlich als „fatherly love and kindness of God“. 137  Vgl. ebd.: „And to have this confession written in thine heart is to consent unto the law that it is righteous and good, and to love it in thine heart“. 138  An anderer Stelle kann Tyndale den usus elenchticus darum auch wieder hervorhe­ ben, vgl. a.a.O., S. 146 f.

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

359

6.3.2.2  Das Wissen um die Taufe und die Erkenntnis der Schrift „The knowledge of our baptism is the key and the light of the scripture“139 – So lautet die zweite These in Tyndales Prolog, der damit die Taufe zum Schlüssel für die Lektüre der Schrift macht: „Wer immer die Berufung der Taufe in sein Herz geschrieben hat, kann nicht anders, als die Schrift zu verstehen, wenn er sich darin übt und eine Stelle mit der anderen ver­ gleicht, die Sprache beachtet und hier und dort diejenigen nach der Bedeutung eines Satzes fragt, die schon geübter sind“140.

In dieser Verhältnisbestimmung der Getauften zur Schrift gewinnen theolo­ gische Aspekte Konturen, die sich in Tyndales vorangehenden Schriften be­ reits angedeutet haben. Dem eher kognitiven Vorgang der „Erkenntnis der Taufe („knowledge of our baptism“), in dem Gottes Geist Erkenntnis und Ein­ sicht in die in der Taufe geschehene Veränderung des Status vor Gott aufgrund des Heilswerkes Christi bewirkt,141 korrespondiert die Einschreibung dieser Erkenntnis ins menschliche Herz („written in his heart“). Sie bleibt also nicht allein rationales „Wissen“, sondern hat darüber hinaus auch eine emotionale und existenzielle Bedeutung. Wie schon in „Answer“ nimmt Tyndales Glau­ bensbegriff auch in „Exposition St John“ also eine Mittelposition zwischen Bucers stärker kognitivem Glaubensverständnis und Luthers fiducia ein. Ein zweiter Aspekt, der Tyndales Schrifthermeneutik prägt, ist die unum­ kehrbare logische Folge von Taufberufung und Schriftlektüre bzw. -verständ­ nis. Wer sich seiner „profession“ in Kopf und Herz bewusst ist, kann gar nicht anders, als das Wort Gottes in der Schrift zu suchen und wird – nachdem er es sicher gefunden hat – auch danach leben. Im Hintergrund steht letztlich die Erwählung Gottes, der sich in seinem Wort denen erschließt, die er selbst dazu bestimmt und in der (Geist-) Taufe berufen hat.142

139  140 

Vgl. a.a.O., S. 138. A.a.O., S. 138 f: „whosoever hath the profession of baptism written in his heart, cannot but understand the scripture, if he exercise himself therein, and compare one place to another, and mark the manner of speech, and ask here and there the meaning of a sen­ tence of them to be better exercised“. 141  Vgl. Bucers Vorstellung des geistgewirkten Glaubens als cognitio Christi; z.B. ­Bucer, Epheserkommentar (1527), de Kroon, S. 152: „Nam a cognitione Christi, et quam nobis paravit salutis“, oder a.a.O., S. 154: „Quia itaque a cognitione Christi et quam nobis restituit salutis omnia pendent“. S.o. 5.4.6. 142  Die Erwählten, die ihre Berufung in der Taufe im Herzen tragen, können darum, wie Tyndale im dritten Abschnitt des Prologs darlegt (vgl. Exposition St John, PS 2, S. 140–144), niemals Häretiker sein, denn die Wurzel der Häresie ist der Stolz. Wer je­ doch durch das überführende Gesetz jedes Stolzes beraubt und sich allein aus Gottes Gnade in Christus angenommen weiß, kann und will nur mehr die Wahrheit des Evan­ge­ liums gemäß der Schrift verkündigen.

360 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Dies schließt interessanterweise jedoch nicht aus, dass auch die Erwählten in ihrem Umgang mit der Schrift Unterstützung und Hilfestellung brau­ chen.143 Tyndale betont die Notwendigkeit einer „Taufunterweisung“: „Was die Lehre angeht, die uns beigebracht werden sollte bevor wir getauft wurden und aufgrund des Mangels an Jahren zurückgestellt wurde bis zu den Jahren der Ein­ sicht [gemeint ist wohl das annus discretionis, also ab dem siebten Lebensjahr], so ist sie der Schlüssel, der das Gewissen der Sünder bindet und löst, verschließt und aufschließt; so ist die Unterweisung, wo sie richtig verstanden wird, der einzige Schlüssel, der die Schrift öffnet […] Und bis du diese Unterweisung erhalten hast, bis dein Herz ihre Süßig­keit fühlt, ist dir die Schrift verschlossen und abgeschottet vor dir“144.

Offensichtlich muss den Erwählten erst „von außen“ ein Schlüssel an die Hand gegeben werden, der sie die eigene Berufung erkennen und fühlen lässt und die Schrift für sie öffnet. Lebensgeschichtlich gehört die beschriebene Unter­ weisung für Tyndale eigentlich in die Zeit vor der Taufe („we should be taught before we were baptized“), jedoch ist sie um ihres (zum Teil) kognitiven Cha­ rakters willen verschoben worden in eine Zeit größerer geistiger Reife. Tyn­ dale ermahnt seine Leserschaft, sich mit der eigenen als Kind erfahrenen Taufe als Grunddatum der christlichen Existenz auseinanderzusetzen. Die „profes­ sion of our baptism“ ist kein selbstverständlich biographisches Faktum, son­ dern muss bewusst angeeignet werden. In Ermangelung eines geregelten Taufunterrichts kann dies nur durch die Lektüre solcher Schriften geschehen, die das Evan­ge­lium auslegen und Hilfen zum Verständnis der Schrift bieten – also vor allem durch Tyndales eigene Werke. In ihnen wird die durch das Christusereignis grundlegend veränderte Beziehung zwischen Gott und Mensch erläutert und verständlich gemacht. Zur dieser eigenen Bemühung um das Verständnis der Bedeutung der Taufe muss jedoch notwendig die vom Geist Gottes geschenkte Einsichtsfähigkeit treten.145 Erst durch sie kommt der Glaubende zur Erkenntnis der eigenen Berufung:

143  144 

S.o. 6.2.2. A.a.O., S. 139: „For as the doctrine which we should be taught before we were bap­ tized, and for lack of age is deferred unto the years of discretion, is the key that bindeth and looseth, locketh and unlocketh, the conscience of all sinners; even so that lesson, where it is understood, is only the key that openeth all the scripture […] And till thou be taught that lesson, that thine heart feel the sweetness of it, the scripture is locked and shut up from thee“. 145  Diesen Aspekt übersieht Clebsch, S. 172, wenn er festhält: „He [d.i. Tyndale] no longer deemed scripture a self-evident, joyous expression of the overflowing mercy of God in accepting the unrighteous as his own. To construe the Bible correctly one must be schooled and personally involved in the intricacies of the negotiations between man and God that it taught“.

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

361

„Die Summe all dessen ist dies: Wenn unseren Herzen die Vereinbarung gelehrt wird, die in Christi Blut zwischen Gott und uns getroffen wurde, wenn wir getauft werden, dann haben wir den Schlüssel, um die Schrift zu öffnen und ihre wahre Bedeutung zu erkennen. Und die Schrift sollte leicht zu verstehen sein“146.

Das Neue dieser theologischen Summa ist, dass Tyndale nicht mehr allein die Lektüre der Schrift als Schlüssel zur christlichen Existenz versteht (bzw. als Ort des Wirkens des Geistes), sondern darüber hinaus die Kenntnis des „appointment“ 147 als Grundxiom der Gott-Mensch-Relation und seine Ver­ mittlung als Voraussetzung zum Schriftverständnis nennt. Seine eigenen Werke werden damit zu notwendigen Hilfsmitteln für das Verständnis der Wahrheit des Evan­ge­liums. Tyndale hält es offenbar für notwendig, seine Übersetzung mit theologischen Schriften zu flankieren, um den Zugang zu den Worten der Bibel auch wirklich sicherzustellen. Er versteht sich selbst als „Erzieher“ der evangelischen Gemeinde in Eng­ land, der Hilfe zur Selbständigkeit im Umgang mit der Schrift leistet.148 6.3.3  Neue Akzente in der Soteriologie (1 Joh 1–3) 6.3.3.1  Gemeinschaft mit Gott als Ziel der Schriftlektüre Gemäß der Intention seiner Vorrede macht sich Tyndale in seiner Auslegung des ersten Kapitels des 1. Johannesbriefes daran, die Ziele zu nennen, auf die sich die Entschlüsselung der Schrift richtet. Die ersten drei Verse des Briefes setzt er in Bezug zum Prolog des Johannesevangeliums und stellt die zwei Naturen Christi, „very God and very man“149, heraus. Dieser Glaubensarti­ kel ist der Bezugspunkt all jener, die, indem sie selbst in ihren Herzen an die Sohnschaft Jesu glauben, ebenfalls zu „Söhnen Gottes“ (Joh 1,12) werden. Die Gemeinschaft mit Gott als Verbindung von Kindern zu ihrem Vater ist für Tyndale also das Ziel der Schrift.150 Den Glauben, in dem diese Gemeinschaft erfahrbar wird, bestimmt Tyn­ dale – wie schon in „Answer“ – nicht als bloßes Fürwahrhalten („historical 146 

Exposition St John, PS 2, S. 141: „The whole sum then of all together is this: If our hearts were taught the appointment made between God and us in Christ’s blood, when we are baptized, we had the key to open the scripture, and light to see and perceive the true meaning of it, and the scripture should be easy to understand“. 147  S.u. 6.3.3.3. 148  Vgl. a.a.O., S. 144: „Howbeit, though God hath so wrought with them that a great part is translated; yet, as it is not enough that the father and the mother have both begotten the child and brought it into this world, except they care for it and bring it up, till it can help itself“. 149  A.a.O., S. 145. 150  Vgl. a.a.O., S. 147: „To bring unto the fellowship of God and Christ, and of them that believe in Christ, is the final intent of all the scripture, why it was given of God unto man, and the only thing which all true preachers seek“.

362 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) faith and belief“151), sondern als vertrauensvolle Hingabe an Gott.152 Zu die­ sem Glauben führt der Weg nur über die Erkenntnis der Sünde durch das überführende Gesetz, das den Menschen zur Reue und dadurch erst zur „Hei­ lung“ bringt.153 Tyndale beschreibt letztere erneut als gelingendes familiäres Verhältnis der Kinder Gottes zu ihrem Vater: „Wenn aber von Christus gepredigt wird und davon, wie Gott uns um seinetwillen in Gnaden annimmt und uns alles, was war, vergibt und uns hinfort unsere verdorbene und vergiftete Natur nicht mehr anrechnet […], sondern uns füttert mit all seiner Gnade und Geduld, wie ein überaus barmherziger Vater, wenn wir uns nur seiner Lehre unterwerfen und seine Gesetze halten […], dann werden unsere eigensinnigen und harten Herzen weich und empfindlich werden, und durch das Vertrauen und die Hoffnung, die wir in Christus haben und durch seine Güte, treten wir unbekümmert vor Gott wie vor unseren Vater und erhalten das Leben, was soviel heißt wie: Liebe zu Gott und auch zum Gesetz“154.

Neu in Tyndales Beschreibung des rechtfertigenden und erneuernden Han­ deln Gottes ist die – von mir kursiv gesetzte – konditionale Komponente: Nur wenn und insofern der Mensch sich Gott und seinem Gesetz unter­ wirft, kann er zu wahrer Gotteskindschaft gelangen. Dabei lässt Tyndale an dieser Stelle offen, ob die Einwilligung des Menschen auf einer freien Wil­ lensentscheidung beruht – diese Möglichkeit hatte er allerdings in „Answer“ verneint155 – oder ob er ein Wirken des Geistes in den Erwählten voraus­ setzt.

151  152 

A.a.O., S. 146; s.o. 5.4.6. Zu Gal 3,11 vgl. ebd.: „‚The righteous liveth by faith;’ that is, in putting his trust, confidence, and whole hope in the goodness, mercy and help of God, in all adversities, bo­ dily and ghostly, and all temptations, and even in sin and hell, how deep soever he be fal­ len therein“. 153  Vgl. ebd.: „it is impossible for any man to believe in Christ’s blood, except Moses have had him first in cure, and with his law have robbed him of his righteousness, and condemned him unto everlasting death […] so that repentance toward the law must go before this belief“. 154  A.a.O., S. 147: „But when Christ is preached, how that God for his sake receiveth us to mercy, and forgiveth us all that is past, and henceforth reckoneth not unto us our corrupt and poisoned nature […] but nurture us with all mercy and patience, as a father most merciful, only if we will submit ourselves unto his doctrine and learn to keep his laws […] then our stubborn and hard hearts mollify and wax soft; and in the confidence and hope that we have in Christ, and his kindness, we go to God boldly as unto our father, and receive life, that is to say, love unto God and unto the law also“ (Kursivierung von mir). 155  S.o. 5.3.5.3.

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

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6.3.3.2  Christologische Aussagen In seiner Auslegung von 1 Joh 2 und 3 fallen vor allem Tyndales ansonsten eher seltenen Aussagen zur Christologie ins Auge.156 Christus wird von ihm im Sinne von 1 Joh 2,1 verstanden als Anwalt („advocate“157) der Glauben­ den, dessen „sempiternum Sacerdotium“158 in seinem Versöhnungsdienst zwi­ schen Gott und den Menschen besteht. Diesen macht Tyndale nicht so sehr im Selbstopfer Christi am Kreuz aus – das Kreuz wird zumindest im ganzen Pas­ sus nicht genannt, wenngleich es inhaltlich mitgemeint sein dürfte –, sondern in der Fürbitte des in seiner menschlichen Natur mitleidenden Christus. Den Christustitel selbst bezieht Tyndale auf das königliche Amt Christi, versteht jedoch dessen Regiment vorwiegend als Schutz und Hilfe für die Glauben­ den.159 Der Ansatzpunkt der Christologie, die in diesen kurzen Passagen zum Ausdruck kommt, ist das Bild des mitleidenden, mitfühlenden Christus. Zwar stellt Tyndale nicht explizit die von Luther (ungleich tiefer) durchdrun­ gene Verlassenheit Christi am Kreuz ins Zentrum, in der dessen Nähe zur Menschheit offenbar wird.160 Aber auch Tyndales Christus „lernt fühlend“161, was die Menschen bewegt und tritt vor seinem Vater für sie ein, um Verge­ bung für sie zu erwirken: „Seine Fürbitte für uns und seine Mittlerschaft besteht darin, dass die Erinnerung an alles, was er für uns tat, gegenwärtig ist vor den Augen Gottes, des Vaters, so frisch wie in der Stunde, als er es tat, ja sogar so, dass dieselbe Stunde ganz gegenwärtig und nicht vergangen ist vor Gottes Augen“162.

Im Bezug auf das „wie“ der Versöhnung bleibt Tyndale theologisch konser­ vativ auf der Linie der anselminischen Satisfaktionslehre. In dem Begriff „&lasm8V“ sieht er zwar den zentralen christlichen Glaubensartikel zusam­ mengefasst, der vom „fühlenden Glauben“ erfasst wird,163 vertiefende Aussa­ 156  Um der Redundanz der länglichen Ausführungen Tyndales zu 1 Joh 2 f zu entge­ hen untersuche ich hier nur die zentralen christologischen Passagen, ohne dem Gedan­ kengang des Textes streng zu folgen. 157  A.a.O., S. 152. 158  Ebd. 159  Vgl. a.a.O., S. 153: „He is also called Christus, that is to say, king anointed, with all might and power over sin, death and hell, and over all sins; so that none that flieth unto him shall ever come into judgement of damnation“. 160  Vgl. Slenczka, Christus, S. 391 f. 161  Exposition St John, PS 2, S. 152 f: „And besides that, our Jesus is God, and Almighty. He took our nature upon him, and felt all our infirmities and sicknesses, and in feeling learned to have compassion on us, and for compassion cried mightily in prayers to God the Father for us, and was heard“. 162  A.a.O., S. 168: „And his praying for us, and being a mediator now, is that the re­ membrance of all that he did for us is present in the sight of God the Father, as fresh as the hour he did them; yea, the same hour is yet present, and not past in the sight of God“. 163  Vgl. a.a.O., S. 154: „Christ is a full contenting, satisfaction and ransom for our

364 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) gen zum Selbstopfer Christi und der Bedeutung des Kreuzes finden sich je­ doch nicht. Wiederum zeigt sich, dass Tyndale der Zugang zur Kreuzestheo­ logie Luthers offenbar fehlte.164 6.3.3.3  Gottes „appointment“ und die Verpflichtung der Glaubenden auf das Gesetz Bedeutsam ist nun aber, dass Tyndale die zugunsten des Menschen geschehene Satisfaktion in den Rahmen eines an Bedingungen geknüpften Friedensschlus­ ses zwischen Gott und Mensch stellt. Die „Vereinbarung“ („appointment“165) umfasst auf der einen Seite Gottes Selbstbindung an den Menschen, die in Christus offenbar geworden ist und die damit verbundene Erlösung von der Verurteilung durch das Gesetz bzw. die Wiedereinsetzung in den Stand der Gnade: „Gott, der allein Macht hat zu helfen oder zu schaden, hat eine Vereinbarung getroffen zwischen sich und uns im Blut Christi, und er hat sich selbst verpflichtet, uns zu geben, was immer wir in seinem Namen erbitten […] und dass er uns ein Vater sein und uns retten will, sowohl in diesem Leben als auch im kommenden, und dass er die Verurtei­ lung durch das Gesetz von uns nehmen und uns unter die Gnade und Barmherzigkeit stellen will „166.

Umgekehrt bedeutet die so qualifizierte Beziehung zu Gott als dem Vater für den Menschen, dass er sich als gehorsames Kind und lernwilliger Schüler auf Gottes Gesetz einlässt und sich bemüht, ihm zu entsprechend; jedoch ohne die Angst, im Fall des Scheiterns verworfen zu sein, denn Tyndale fährt fort: „Einzig damit wir Schüler sind, die das Gesetz lernen; auf dass unsere unvollkomme­ nen Taten angerechnet werden; ja, und obwohl wir zu Zeiten alles durch unsere Schwäche beschädigen, wird uns doch, wenn wir aufs Neue umkehren, alles barm­ herzig vergeben werden, so dass wir nicht der Verdammnis anheim fallen. Dieses Testament ist bestätigt durch Zeichen und Wundern, gewirkt durch den Heiligen Geist“167. sins“. Tyndale erläutert dieses Verständnis der satisfactio ausführlich anhand von Hebr 7, Mt 1,21. 164  Vgl. Trueman, Pathway, S. 21: „Indeed, the theologia crucis plays no real part at all in Tyndale’s theology, and seems to be an aspect of Luther’s thought which had no signifi­ cant impact upon him, as is the case with others, such as Bucer, upon whom Luther had an otherwise important influence“. 165  Auch „appointment“ lässt sich im Deutschen nur unzureichend wiedergeben, der Begriff impliziert auch die Bedeutungsebenen „Berufung“, „Einsetzung“, „Bestim­ mung“. 166  Exposition St John, PS 2, S. 166: „God, which hath alone the power to help or to hurt, hath made an appointment betwixt him and us, in Christ’s blood; and hath bound himself to give us whatsoever we ask in his name […] and that he will be a father unto us, and save us both in this life and in the life to come, and take us from under the damnation of the law, and set us under grace and mercy“. 167  Ebd.: „to be scholars only to learn the law; and that our unperfect deeds shall be

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

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In diesem – noch nicht explizit so genannten – Bundesverhältnis bekommt das Gesetz eine besondere Rolle als Folge der Bundesgnade Gottes. Das neue Sein der Glaubenden wird von Tyndale positiv verstanden als Existenz unter dem Gesetz. Ihm geht es dabei jedoch nicht um einen Nomismus mit Zwang­ scharakter, sondern um die Einübung in ein ethisch am Gesetz orientiertes Leben. So wie Kinder sich bemühen sollen, die Regel, nicht zu stehlen, zu be­ folgen, ohne dass sie gleich verurteilt werden, wenn sie sich einmal nicht an das Gebot halten, werden auch die Glaubenden nicht verdammt, wenn sie in ihrem Bemühen, das Gesetz einzuhalten, scheitern.168 Das Gesetz hat für die Glaubenden eine vorwiegend pädagogische Funktion als Hilfe in der Nach­ folge Christi. Im Gegensatz zur „Drohpädagogik“ des Papstes ist Gottes Pä­ dagogik die eines gütigen Vaters, die Tyndale ganz anthropomorph beschrei­ ben kann: Christus ist derjenige, der Gott „die Rute aus der Hand nimmt“ und ihn als liebenden Vater offenbart. Wahre Gotteserkenntnis entspringt da­ her der Erkenntnis des Sohnes.169 6.3.3.4  Werke als Früchte des Glaubens und Vergewisserung für die Erwählten Gegen die Verunsicherung der Glaubenden in Bezug auf ihr Seelenheil durch die römische Kirche setzt Tyndale mit 1 Joh 2,3 eine Selbstvergewisserung, die aus dem Halten der Gebote kommt.170 In demjenigen, der das Gesetz be­ folgt, wirkt die Liebe Gottes und bringt Früchte des Glaubens hervor.171 Diese sind im Lebenswandel eines Christenmenschen sichtbar, weshalb für Tyndale auch der Rückschluss vom Lebenswandel auf den Glauben möglich taken in worth, yea, and though at a time we mar all through our infirmity, yet, if we turn again, that shall be forgiven us mercifully, so that we shall be under no damnation: which testament is confirmed with signs and wonders wrought through the Holy Ghost“. 168  Vgl. a.a.O., S. 159: „as children are under the law, that they steal not; but not under the damnation, though they steal. So that all they that are graffed into Christ to follow his doctrine, are under the law to learn it only, but are delivered from fear of everlasting death and hell, and all threatenings of the law, and from conscience of sin, which feared us from God“. 169  Vgl. a.a.O., S. 168: „Christ has taken all thy sins from thee; and God hath no rod in his hand, nor looketh sour, but merrily, that it is a lust to behold his cheerful countenance, and offereth thee his hand“; s.o. 5.3.5.3. 170  Vgl. a.a.O., S. 172: „The keeping of God’s commandments certifieth us that we be in the state of grace“. 171  Vgl. a.a.O., S. 173: „For to be in God is to believe in the mercy of God; and to be­ lieve in the mercy is cause of love, and love cause of working. And therefore he that wor­ keth for God’s sake, is sure that he loveth and that he trusteth in God; which is to be in God or in Christ“. In dieser Reihenfolge von Glauben und Werken liegt für Tyndale die Grunddifferenz zwischen dem reformatorischen Verständnis der Werke und der Auffas­ sung der Papstkirche, vgl. a.a.O., S. 186: „A righteous man springeth out of righteous works, saith the bishop of Rome’s doctrine: righteous works spring out of a righteous man, and a righteous man springeth out of Christ, saith Christ’s doctrine“.

366 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) ist.172 Wo ein Mensch seinem Nächsten mit Liebe begegnet, kann er sich sei­ ner Gotteskindschaft sicher sein: „Die Liebe Gottes zu uns ist überwältigend groß und besteht darin, dass er uns zu sei­ nen Söhnen gemacht hat, ohne unser Verdienst und uns durch Christus seinen Geist gegeben hat, um unsere Herzen dessen zu versichern. Darin spüren wir unser Ver­ trauen zu Gott und darin, dass unsere Seelen Heilung und Kraft erhalten haben, Got­ tes Gesetz zu lieben, welches ein sicheres Zeugnis dafür ist, dass wir Söhne und nicht unter der Verdammnis sind“173.

Tyndale kann die prinzipielle Möglichkeit der Befolgung des Gesetzes des­ halb so stark machen, weil er das Rechtfertigungsgeschehen als grundlegende Veränderung der menschlichen Natur durch Gott versteht, als Akt der Hei­ lung („our souls have receiveth health“). Im Kontext der zitierten Passage spricht er von einem Prozess der Durchdringung von Seele und Fleisch durch auf Christus gründenden Glauben und Hoffnung.174 Vor diesem Hintergrund ist die Einhaltung der Gebote für den wahrhaftig Glaubenden keine lästige Pflicht, sondern eigenes inneres Verlangen.175 Auch ein Glaubender bleibt da­ bei ein Sünder und angewiesen auf Gottes Vergebung.176 Das Geschenk des Glaubens jedoch führt ihn immer wieder neu zur Reue und zum Vertrauen auf Gottes Gnade. Insofern muss das von Tyndale immer wieder angeführte 172  In diesem Sinne lehrt Tyndale auch einen gewissen syllogismus practicus, vgl. a.a.O., S. 192: „If thou love thy brother in Christ […] then thou art sure thereby, that thou art the son of God, and heir of life, and delivered from death and damnation. So have Christian men signs, to know whether they be in the state of grace or no“, vgl. Trueman, Legacy, S. 101–108. 173  Expostion St John, PS 2, S. 186: „The love of God to us-ward is exceeding great, in that he hath made us his sons, without all deserving of us; and hath given us his Spirit through Christ, to certify our hearts thereof, in that we feel that our trust is in God, and that our souls have received health and power to love the law of God, which is a sure testi­ mony that we are sons, and under no damnation“; vgl. auch a.a.O., 180: „And he is called Christ, that is to say, anointed; because he anointeth our souls with the Holy Ghost, and with all the gifts of the same. Ye are not anointed with oil in your bodies, but with the Spirit of Christ in your souls: which Spirit teacheth you all truth in Christ, and maketh you to judge what is a lie, and what truth“. 174  Vgl. a.a.O., S. 187: „For when the law through conscience of sin hath slain the soul, then hope and trust in Christ’s blood, through certifying of the conscience that the dam­ nation of the law is taken away […] maketh her to love the law […] And then the said gifts of hope and faith, stretch themselves forth unto the members […] and make them serve the law outward and bear wholesome fruit of love unto the profit of their neighbours, ac­ cording to Christ’s love unto us“. 175  Vgl. a.a.O., S. 194: „Faith is the first, and also the root, of all commandments: and out of faith springeth love; and out of love, works“. 176  Vgl. z.B. a.a.O., S. 151: „First, keep me, O God, from sinning; then, if I shall chance to fall, as no flesh can escape, one time or other, then call me shortly back again, and let me not sink too deep therein: and though I yet fall never so deep, yet, Lord, let not the way of mercy be stopped“.

6.3  „Exposition of the First Epistle of Saint John“ (1531)

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simul iustus et peccator in seinem Sinne verstanden werden als ein iustus in re, das ein lediglich versehentliches peccator in re einschließt. Dass der Mensch in Christus tatsächlich gerechtfertigt ist, erklärt Tyndale in seiner Auslegung von 1 Joh 3,8–10 mithilfe erwählungstheologischer Ka­ tegorien: Gutes wie böses Handeln sind Folge der inneren Disposition des Menschen, die entweder auf das Wirken des Teufels zurückgeht oder auf die Gemeinschaft mit Gott.177 Die prädestinatianische Argumentation, die ihm vom Bibeltext vorgegeben wird, verstrickt Tyndale jedoch in logische Wider­ sprüche. Auf der einen Seite sieht er die Menschen schon vor der Geburt ent­ weder als Werkzeuge Satans oder als Auserwählte Gottes, die entsprechend handeln. Andererseits beschreibt er das Heilswerk Christi an den Glauben­ den (mit inkludierendem „we“) gerade als Ende von Satans Wirken in ihnen. Es bleibt also unklar, ob Tyndale eine praedestinatio gemina zwischen Erwähl­ ten und Verworfenen meint (dafür spricht der Dualismus), oder ob er durch das Wirken Christi doch eine universelle Befreiung von der Fremdherrschaft des Teufels gekommen sieht. Tyndale löst diesen Widerspruch – wie an an­ derer Stelle auch178 – nicht auf und bleibt in seinen prädestinatianischen Aus­ sagen uneindeutig. Aus dem Kontext wird jedoch zumindest seine Intention klar, nämlich die Widerlegung der papstkirchlichen Vorstellung eines freien menschlichen Willens, die letztlich die göttliche Gnade von den frommen Werken des Menschen abhängig macht, anstatt allein den Glauben an Christus zu lehren.179 6.3.4  Theologie der Liebe (1 Joh 4 und 5) Der berühmte Passus des 1. Johannesbriefes über die Liebe Gottes und die Liebe zum Bruder (1 Joh 4,7–21) gibt Tyndale die Gelegenheit, das zentrale Grundaxiom seiner Theologie in immer neuen Formulierungen und il­ 177  Vgl. a.a.O., S. 190: „God and the devil are two contrary fathers, two contrary fountains, and two contrary causes: the one of all goodness, the other of all evil. And they that do evil are born of the devil; and first evil by that birth, ere they do evil […] And on the other side, they that do good are first born of God, and receive of his nature and seed; and, by the reason of that nature and seed, are first good ere they do good, by the same rule. And Christ, which is contrary to the evil, came to destroy the works of the devil in us, and to give us a new birth, a new nature, and to sow new seed in us, that we should, by the reason of that birth, sin no more“. 178  S.o. 3.4.1.2 und 5.4.2. 179  Vgl. ebd.: „This is contrary unto the bishop of Rome in two points: in the one, that he saith, that our good deeds make us first good, and teacheth us not to believe in Christ’s blood […] and in another, that he saith, God chooseth us first for our good qualities and properties, and for the enforcement and good endeavour of our free-will“. Im Hinter­ grund des Erwählungsdualismus steht wohl auch hier die Verfolgungssituation der refor­ matorischen Gemeinde in England, wie Tyndales Ausführungen zu 1 Joh 4,5 f zeigen (vgl. a.a.O., S. 197 f); s.o. 5.3.3.3.

368 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) lustrierenden Figuren darzustellen. Tyndale stimmt ein in den „old song“180 des Johannes von der Liebe Gottes, die in Christus ist und in den Glaubenden Liebe hervorruft. Die Rechtfertigung allein aus Glauben durch die Gnade Gottes wird von ihm auch hier verstanden als ein Prozess, der die Glaubenden effektiv verändert, indem sie befähigt werden, Gottes Gebote zu befolgen.181 In der Neuschöpfung aus Liebe erweckt Gott die Glaubenden mit Christus von den Toten, weist ihnen den Platz zu seiner Rechten zu und versichert sie so zugleich ihrer Rettung.182 Die Liebe ist Medium und zugleich Produkt der Gottesbeziehung und tritt als solche in eine unauflösliche Verbindung mit dem Glauben: „Liebe ist das Werkzeug, mit dem uns der Glaube zu Söhnen Gottes macht und uns nach dem Bilde Gottes gestaltet und uns versichert, dass wir es auch sind“183. Über die so beschriebene Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit hinaus kann Tyndale mit 1 Joh 4,12 sogar so weit gehen, in der wechselseitigen Liebe der Christenmenschen zueinander das einzige le­ gitime Bildnis Gottes zu erkennen.184 Weil aber die Liebe für Tyndale die innerste Essenz des Glaubens ist, ma­ chen die Werke der Liebe den Glauben offenbar.185 Unter der Glaubenden soll es darum einen regelrechten Wettbewerb in der Liebe geben (1 Joh 4,17), um sich gegenseitig zu stärken in der Gewissheit, dass die liebenden Gläubigen „unbekümmert“ („bold“) vor Gott treten und ihn bei seinen Verheißungen behaften können.186

180  181 

A.a.O., S. 198: „John singeth his old song again“. Vgl. a.a.O., S. 207–210. Zeugen der Liebe Christi („witnesses“) sind für Tyndale die Sakramente von Taufe und Abendmahl, die durch den Geist in den Herzen der Glau­ benden wirken. Die Präsenz Gottes im Sakrament wird hier, wie in „Sacraments“ (s.u.7.5) pneumatologisch gedeutet. 182  Vgl. a.a.O., S. 199 f: „God in his grace only, quickened us in Christ; and raised us out of that death, and made us sit with Christ in heavenly things: that is, he set our hearts at rest, and made us sit fast in the life of Christ’s doctrine, and unmoveable from the love of Christ. And finally we are, in this our second birth, God’s workmanship and creation in Christ“. 183  A.a.O., S. 200: „Love is the instrument wherewith faith maketh us God’s sons, and fashioneth us like the image of God, and certifieth us that we so are“. 184  Vgl. a.a.O., S. 201: „If thou love thy neighbour, then art thou the image of God thyself; and he dwelleth in the living temple of thine heart“. 185  Vgl. a.a.O., S. 202: „But yet how shall I see my faith? I must come down to love again, and thence to the works of love, ere I can see my faith“. 186  Vgl. a.a.O., S. 203: „there is faith to go in to God and to stand before him and look him in the face, and to conjure him by all his mercies, and to ask the petitions of his desire“. Beispiele für diese Unbekümmertheit des liebenden Glaubens findet Tyndale bei Paulus (1 Kor 11; Röm 9) und in der Fürbitte des Mose (Ex 32 und Num 14).

6.4  „An Exposition upon the V. VI. VII. Chapters of Matthew“ (ca. 1532/1533)

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6.4  „An Exposition upon the V. VI. VII. Chapters of Matthew“ (ca. 1532/1533) 6.4.1  Zu Charakter und Aufbau der Schrift Tyndales Auslegung der Bergpredigt ist die umfangreichste Schrift, die er ei­ nem biblischen Text gewidmet hat. Warum er ausgerechnet der Bergpredigt diese Aufmerksamkeit zukommen lässt, wird aus der Titelformulierung er­ sichtlich, derzufolge die drei Kapitel des Matthäusevangeliums für ihn nicht weniger sind als „Schlüssel und Tür“ zum Ganzen der Schrift und damit zum Heil.187 Zum Römerbrief (1526) und dem 1. Johannesbrief (1531) tritt also nun die Bergpredigt Jesu als Schlüsseltext für Tyndales Theologie hinzu, die seinem späten Werk einen klaren ethischen Schwerpunkt gibt. Die Dimen­ sion des gottgemäßen Lebens und Handelns eines Christenmenschen ist für Tyndale verankert im Bundesgeschehen zwischen Gott und Mensch, das er in „Exposition Matthew“ breit darlegt. Schon im Prolog wird die – nun zum ersten Mal auch so bezeichnete – Hermeneutik des „covenant“188 entfaltet und fungiert somit als theologisches Vorzeichen für das Folgende.189 In seiner Deutung der Bergpredigt orientiert sich Tyndale, wie schon in „Exposition St John“, am biblischen Text, den er abschnittsweise auslegt. Da­ bei sind seine Ausführungen oft keine exegetischen Kommentare im strengen Sinne,190 sondern vom Text ausgehende theologische Erörterungen, die in ih­ rer Länge sehr unterschiedlich ausfallen.191 Darüber hinaus finden sich pole­ mische Passagen, die in bekannter Weise die Missstände der Papstkirche an­ prangern.192 Es sind m.E. vor allem zwei Themenbereiche, die besondere Beachtung verdienen: Zum einen die bereits angesprochene Bundestheologie, die insbe­ sondere im Vorwort und in der Deutung der Vergebungsbitte des Vaterunsers zum Ausdruck kommt;193 zum anderen die Ethik, die Tyndale auf Grundlage 187 

Exposition Matthew, PS 2, S. 3: „which three chapters are the keye and the dore of the scripture, and the restoring agayne of Moses law“. 188  S.u. 6.4.3.1. 189  Vgl. a.a.O., S. 3–15. 190  An einigen Stellen betreibt Tyndale jedoch auch Exegese, etwa, wenn er seinen Le­ sern Worte und Begriffe erklärt, z.B. a.a.O., S. 42: „What were the scribes and Phara­ sees?“, oder die Brotbitte des Vaterunser vom Hebräischen her erläutert, vgl. a.a.O., S. 83: „By bread is understood all manner of sustenance, in the Hebrew speech“. 191  Von z.T. kurzen Statements, etwa zu den Bitten des Vaterunser (Mt 6,9–13, vgl. a.a.O., S. 82–87, s.u. 6.4.3.2) bis hin zu längeren Ausführungen, z.B. zur Zwei-Regimen­ ten-Lehre (im Zusammenhang mit Mt 5,38–42, vgl. a.a.O., S. 58–70, s.u. 6.4.4.4). 192  So z.B. in der Auslegung von Mt 6 mit der Frage nach Almosen, Beten und Fasten (vgl. a.a.O., S. 72–77.96–99) oder der Warnung vor den falschen Propheten in Mt 7,15 f (vgl. a.a.O, S. 121–128). 193  S.u. 6.4.3.

370 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) der Bergpredigt hier neu definiert, indem er insbesondere die Rolle des Ge­ setzes und seine Version der Zwei-Regimenten-Lehre noch einmal aufs Neue beschreibt.194 6.4.2  Tyndales Vorlage: Luthers Wochenpredigten über Mt 5–7 von 1532 In der Forschung herrscht ein breiter Konsens darüber, dass Tyndale für seine Auslegung der Bergpredigt auf Luthers Wochenpredigten über Mt 5–7 aus dem Jahr 1532 zurückgegriffen hat.195 Völlige Uneinigkeit besteht jedoch in der Frage, wie und in welchem Umfang Tyndale diese Vorlage genutzt hat. Der Tyndale wenig freundlich gesinnte George Joye hatte ihm 1535 in seiner „Apology“ unterstellt, mit „Exposition Matthew“ Luthers Werk zu Unrecht als sein eigenes auszugeben.196 Der Streit über den Wahrheitsgehalt von Joyes Behauptung hält in der Forschungsdiskussion an, denn die Urteile über Tyn­ dales Lutherrezeption reichen von der Annahme einer nahezu wörtlichen Übersetzung der Wittenberger Predigten197 bis hin zu einer bloßen Anleihe in manchen Punkten.198 Diese Uneinigkeit über Tyndales Verwendung von Luthers Predigten ist m.E. auf die sprachliche Barriere zurückzuführen, die es vielen englischspra­ chigen Forschern verwehrt, beide Texte miteinander zu vergleichen. Schon ein erster Blick auf Luthers Wochenpredigten im Vergleich mit Tyndales „Ex­ position Matthew“ macht deutlich, dass der Luthertext wesentlich umfangrei­ cher ist als die Auslegung Tyndales. Eine vollständige wörtliche Übersetzung kann also ausgeschlossen werden.199 Beim inhaltlichen Vergleich der beiden Texte zeigt sich zunächst, dass Tyndale Luthers Predigten tatsächlich gekannt hat. Dies wird dort deutlich, wo er Passagen aus Luthers Auslegung in seine 194  195 

S.u. 6.4.4.4. Vgl. WA 32, S. 299–544 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532, dazu auch Althaus, Ethik, S. 68–72; Bayer, S. 290 ff). Vgl. z.B. Mozley, S. 241; Clebsch, S. 183 f; Thompson, Regiments, S. 27 f; Trinterud, Reappraisal, S. 37 f. 196  „for all his [Tyndales] holy protestacions / yet herd I neuer sobre & wyse man so prayse his owne workis as I herde him praise his exposicion of the v. vj. and .vij. ca. Mat. in so myche that myne eares glowed for shame to here him / and yet was it Luther that made it / T. onely but translating and powldering yt here and there with his own fanta­ sies“, zitiert bei Clebsch, S. 183, s.u. 7.1.2.2. 197  So in Aufnahme der Terminologie Joyes z.B. Rupp, Making of, S. 50 f: „‚Powl­ dering‘ is a good word for Tyndale’s habit of adding phrases and references to give his translation an English setting“. 198  Vgl. Mozley, S. 241 f: „He borrows indeed some thoughts from the great Ger­ man, yet he usually works them out in an independent way, and the bulk of the book is entirely his own“. 199  Thompson, Regiments, S. 28, erkennt das als einer der wenigen richtig: „A quick comparison of the work of Tyndale and Luther shows that Tyndales’s is in no sense simply a translation of Luther’s, even a paraphrastic one like some of his earlier works. It is Tyndale’s own work, and is considerably shorter than Luther’s“.

6.4  „An Exposition upon the V. VI. VII. Chapters of Matthew“ (ca. 1532/1533)

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eigene integriert hat, teilweise durch wörtliches Zitat, teilweise als Textpara­ phrase.200 Vergleicht man jedoch Tyndales frühere Lutherrezeptionen, etwa in „Romans“ oder „Mammon“, so fällt auf, dass sich Art und Weise des Um­ gangs mit Luthers Vorlage in „Exposition Matthew“ deutlich verändert haben. Von wenigen Stellen abgesehen, kann hier keine Rede davon sein, dass Tyn­ dale Luther wörtlich übersetzt habe, und selbst die wörtlich übernommenen Passagen enthalten eigene Ausschmückungen. Eindeutig übernimmt Tyndale bib­lische Referenztexte von Luther,201 an manchen Textstellen ist die Kennt­ nis der Predigten Luthers jedoch nur noch zu erahnen, etwa wenn er einzelne kurze Aussagen (vor allem die Anfangsteile seiner Perikopenauslegung)202 adap­tiert oder sich im Aufbau bestimmter Passagen an Luther anlehnt.203 An vielen Punkten weisen nur Motivübereinstimmungen darauf hin, dass Tyn­ dale Luthers Text vorlag.204 Im Gesamtduktus der Schrift und in ihrer theo­ logischen Schwerpunktsetzung ist Tyndale daher eindeutig „his own man“. George Joyes Behauptung war also ein böswillige Unterstellung. 200  Längere wörtliche Übertragungen des Luthertextes finden sich bei Tyndale an fol­ genden Stellen: Exposition Matthew, PS 2, S. 19 (vgl. WA 32, S. 318,29–35.319,21–38), S. 26 f (vgl. WA 32, S. 330,30–39), S. 44 f (WA 32, S. 360,23–361,3), S. 70 (vgl. WA 32, S. 397,37–398,4), S. 77 (vgl. WA 32, S. 18–24), S. 80 (vgl. WA 32, S. 417,1–26). 201  So z.B. Spr 17,22 und Sir 30,25 in Exposition Matthew, PS 2, S. 18 (vgl. WA 32, S. 315,7 f, Wochenpredigten Mt 5–7, 1532), Jak 2,13 in Exposition Matthew, PS 2, S. 25 (vgl. WA 32, S. 323,33 f), 1 Petr 4,15 in Exposition Matthew, PS 2, S. 28 (Vgl. WA 32, S. 336,19 f), 2 Petr 1,1 in Exposition Matthew, PS 2, S. 87 (vgl. WA 32, S. 423,18 f). 202  So z.B. Exposition Matthew, PS 2, S. 91: „As above of alms and prayer, even so here Christ rebuketh the false intent and hypocrisy of fasting“; vgl. WA 32, S. 428,10 f (Wo­ chenpredigten Mt 5–7, 1532): „Wie er ir Almosen und beten gestrafft hat, so straffet er auch hie ir fasten“. 203  So z.B. in der Deutung der Warnung vor den falschen Propheten, die in „Schafs­ kleidern“ kommen (Mt 7,15). Tyndale übernimmt von Luther die Struktur, verschiedene gegenwärtige „Schafskleider“ („sheep’s clothing“) zu entlarven, vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 121 f; WA 32, S. 509 f (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 204  In Anlehnung an Luther finden sich z.B. folgende Aussagen Tyndales, vgl. zu Mt 5,8: Exposition Matthew, PS 2, S. 25: „It followeth then that thou mayest be pure-hearted, and therewith do all that God hath commanded, or not forbidden“; vgl. WA 32, S. 325,33 f (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Aber das heisset ein reinhertz, das darauff sihet und den­ cket was Gott sagt, und an stat seiner eigen gedancken Gottes Wort setzet“; oder zu Mt 5,13: Exposition Matthew, PS 2, S. 32: „True preaching is a salting that stirreth up persecu­ tion“; vgl. WA 32, S. 344,17 f: „Das ist denn eine unfreundliche predigt, machet uns der welt ungeneme und verdienet, das man uns feind wird und uber das maul schlegt“. Als kritischer Kommentar zu Luther können evtl. folgende Anmerkungen Tyndales aufge­ fasst werden, die jedoch in der Form nur selten vorkommen, vgl. zu Mt 5,5 Exposition Matthew, PS 2, S. 21: „But and if thou be an officer, then thou must be good, kind, and merciful; but not a milksop, and negligent“ (vgl. dagegen WA 32, S. 316,30 f: „Darumb, wo wir jm ampt und oberkeit gehen, da sol und mussen wir scharff und streng sein, zur­ nen, straffen“). Deutlich wird die unterschiedliche inhaltliche Schwerpunktsetzung auch bei der Kommentierung von Mt 6,14 f: Luther sieht darin einen „wuenderlichen zusatz“ (WA 32, S. 422,23), Tyndale hingegen kommentiert: „This is God’s covenant with us“ (Exposition Matthew, PS 2, S. 87).

372 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Wie ist nun diese Veränderung im Umgang mit Luthers Vorlage zu bewer­ ten? Sie erklärt sich m.E. aus einer von der Luthers deutlich unterschiedenen Situation, in der Tyndale seine „Exposition Matthew“ verfasste sowie aus der Andersartigkeit seiner Zielgruppe. Luthers Predigten waren als solche nur bedingt geeignet als hermeneutische Einleitung und ihr Umfang war erheb­ lich größer, als Tyndale lieb sein konnte. Die Kommentare des Wittenbergers zur kaiserlichen Religionspolitik oder zu den Ergebnissen des Augsburger Reichstages waren für Tyndales Leserschaft nicht von Interesse,205 die dro­ hende Verfolgung von staatlicher und kirchlicher Seite dagegen sehr.206 Auch stand Tyndale nicht wie Luther in einer „doppelten Frontstellung“ gegen Alt­ gläubige und Täufer. Seine Gegner waren allein die Vertreter der Papstkirche. All das mag dazu geführt haben, dass Tyndale relativ wenig „Stoff“ aus Lu­ thers Wochenpredigten übernahm. Gewichtiger dürfte jedoch der Umstand sein, dass Tyndales theologische Schwerpunktsetzung mittlerweile eine andere war als die des Deutschen.207 Tyndale fühlt sich in der Ethik der Bergpredigt ganz offensichtlich mehr „zu Hause“ als Luther, weil es ihm stärker um die Liebe als um den Glauben geht. Seine Bundestheologie bringt Rechtfertigung und Ethik, an deren Verbin­ dung ihm schon immer gelegen war, nun endgültig in einen unauflöslichen Zusammenhang. Dabei haben andere theologische „Paten“ als Luther eine Rolle gespielt.208 „Exposition Matthew“ ist daher insgesamt ein Dokument der theologi­ schen „Emanzipation“ Tyndales von Luther.209 Insofern ist Clebsch Recht zu geben, wenn er in den Jahren 1532–1536 eine Entfernung Tyndales von Luther beschreibt.210 Es scheint mir jedoch fraglich, ob diese größer gewordene theo­ logische Differenz von ihm zutreffend als „Verstoßung“ („repudiation“211) der Theologie Luthers durch Tyndale bezeichnet werden kann.212 Tyndale setzt 205  206 

Vgl. z.B. WA 32, S. 358,6–36.365,34–366,14 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). Vgl. z.B. Exposition Matthew, PS 2, S. 29: „It is not enough to suffer for righteous­ ness; but that no bitterness of poison be left out of thy cup, thou shalt be reviled and railed upon; and even when thou art condemned to death, then be excommunicate and deli­ vered to Satan, deprived of the fellowship of holy church […] and shalt be cursed down to hell, defied, detested, and execrate with all the blasphemous railings that the poisonful heart of hypocrites can think or imagine“. 207  Das zeigt sich schon in „Pathway“ und „Exposition St John“, s.o. 6.2.4; 6.3.2 und 6.3.3. 208  S.u. 6.5.1.1. 209  Vgl. Thompson, Regiments, S. 32: „What all this indicates is that certainly by 1530 or very soon after Tyndale had emerged from Luther’s shadow“. 210  Vgl. Clebsch, S. 182–185. 211  A.a.O., S. 183.; s.u. 6.5.2.2. 212  Hier müsste mit Leininger, 59 f, noch einmal gefragt werden, welchen Luther Tyndale eigentlich verstoßen hat? Einerseits war für Luther die Funktion des Gesetzes durchaus vielschichtig (s.o. 2.7.1; 4.5.5), andererseits gab Tyndale die überführende Rolle

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zwar andere Schwerpunkte als Luther, schreibt aber gewiss keine „Gegen­ schrift“ zu den Predigten des Wittenbergers. Allein die Tatsache, dass er nach wie vor für seine eigenen Werke auf Schriften Luthers zurückgreift,213 macht deutlich, dass Tyndale selbst die inhaltlichen Differenzen zu Luther nicht als trennend verstanden hat. Dass Luther für ihn offensichtlich auch 1532/1533 noch als theologische „Vorlage“ geeignet war, zeigt sich darin, dass Tyndale sich an vielen Stellen in der theologisch von Luther geprägten Vorstellungs­ welt bewegt, etwa in den Aussagen zur „Zwei-Regimenten-Lehre“,214 zur Frage nach der Legitimität des Kriegsdienstes für Christen215 oder zum Ver­ ständnis der Rechtfertigung allein aus Glauben.216 Wo Tyndale von Luther abweicht, führt er theologische Gedankengänge fort, die ihn bereits in seiner frühen Lutherrezeption von diesem unterschieden haben.217 Insofern ist „Ex­ position Matthew“ eine konsequente Fortsetzung der bisherigen schriftstel­ lerischen Tätigkeit des Engländers und das Urteil Cargill Thompsons zutref­ fend: „Tyndale’s use of Luther in the Exposition of Matthew shows that even if he differed from Luther in certain aspects he still felt an immense intellectual sympathy for him, and was still prepared to accept much of his teaching“218. 6.4.3  Gottes Bund mit den Glaubenden 6.4.3.1  Titel und Prolog: Entfaltung des Bundesgedankens In Titel und Vorwort der Bergpredigtauslegung entfaltet Tyndale zum ersten Mal ausführlich und explizit das theologische Leitmotiv, das für seine späte Theologie von besonderer Bedeutung ist: Den Bundesgedanken.219 Bundes­ theologische Denkfiguren finden sich bei Tyndale zwar durchgängig von sei­ nen frühen Schriften an, verbunden mit den Begriffen „testament“ bzw. „appointment“.220 Eine umfassende Deutung des Verhältnisses von Gott und Mensch als „covenant“ formuliert er jedoch zum ersten Mal in seiner Ausle­ gung von Mt 5–7. Er erschließt den Bundesgedanken damit im Kontext sei­ ner Schrifthermeneutik. des Nomos nicht auf, sondern hielt auch in „Exposition Matthew“ an ihr fest, vgl. z.B. Exposition Matthew, PS 2, S. 89: „whereunto a man is drawn of the goodness of God, and driven through true knowledge of the law, and of beholding his deeds in the lust und desire of the members unto the request of the law, and with seeing his own damnation in the glass of the law“; vgl. dazu Trueman, Legacy, S. 107. 213  Er wird dies auch in seiner NT-Revision von 1534 tun, s.u. 7.4.1. 214  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 60 ff. 215  Vgl. a.a.O., S. 63 f. 216  Vgl. z.B. die Auslegung von Hab 2,4 (Röm 1,17; Gal 3,11) a.a.O., S. 124 f. 217  S.o. 2.7.2; 3.4.1. 218  Thompson, Regiments, S. 33. 219  Vgl. dazu auch Dembek, S. 113–121. 220  Vgl. Trueman, Legacy, S. 109–112; McGiffert, S. 169.

374 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Als ein beide Testamente umgreifendes Deutungsschema für die Relation Gott-Mensch ist das Bundesmotiv besonders gut geeignet als Interpretations­ hilfe für die Leserinnen und Leser der Bibel. Im „covenant“ sieht Tyndale seine theologischen Leitgedanken – Schrift, Rechtfertigung, Heiligung und Gesetz – aufgehoben und miteinander verbunden. Bereits der Titel der Schrift macht diese Verklammerung deutlich: „Erläuterung zum V., VI. und VII. Kapitel des Matthäus Welche drei Kapitel der Schlüssel und die Tür zur Schrift sind und die Wiederherstel­ lung des Gesetz des Mose, das von Schriftgelehrten und Pharisäern korrumpiert wurde, sowie die Wiederherstellung des Gesetzes Christi, korrumpiert von den Pa­ pisten. Außerdem bekommst du vor dem [eigentlichen] Buch einen sehr wichtigen Prolog, der die ganze Summe des Bundes zwischen Gott und uns enthält, auf den hin wir ge­ tauft sind, um ihn einzuhalten. Dargelegt von William Tyndale“221.

„Schlüssel und Tür zur Schrift“ ist die Bergpredigt, in der Christus das Ge­ setz des Mose wieder aufrichtet, das die Pharisäer und Schriftgelehrten bzw. deren geistige Erben, die Vertreter der Papstkirche, verfälscht haben.222 Ge­ gen die falsche Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit, die Tyndale auch an anderer Stelle schon als Merkmal von Judentum und Papstkirche angepran­ gert hatte,223 will er in seiner Einleitung auf die tatsächliche Bedeutung des Gesetzes für die gerechtfertigten Glaubenden hinweisen. Diese erschließt sich – und diese Formulierung bringt nun das theologisch Neue – im Zusammenhang einer als „Bund“ verstandenen Beziehung zwi­ schen Gott und Mensch, die in der Taufe verwirklicht wird („the couenaunt betwene God and us, uppon which we be baptised to keep it“). Was er in „Ex­ position St John“ als die Taufberufung der Glaubenden herausgestellt hatte, bringt Tyndale nun ein in die als „Bund“ verstandene Verhältnisbestimmung Gottes zu den Getauften. Christus selbst erschließt in der Bergpredigt die Schrift als „Bundesurkunde“, denn hier hebt er aufs Neue Abrahams „Brun­ nen des Lebendigen“224 (Gen 25,11) aus, den die Schriftgelehrten mit ihren 221 

Exposition Matthew, PS 2, S. 3: „Exposition upon the Vth, VIth, VIIth Chapters of Mathew. Which three chapters are the key and the dore of the scripture, and the restoring agayne of Moses law corrupte by the scribes and pharises. And the restoring agayne of Christes Lawe corrupte by the papistes. Item before the booke, thou hast a prologe very necessarie, contayning the whole summe of the couenant made betwene God and us, up­ pon which we be baptised to keepe it. Set forth by William Tyndall“. 222  Die Kernaussage der Bergpredigt scheint also für Tyndale in Mt 5,17 zu liegen, nämlich in der von Jesus selbst ausgesprochenen Verknüpfung seiner Lehre mit dem mo­ saischen Gesetz und damit auch in der – für Tyndale entscheidenden – engen Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament. Das Ganze der Schrift beider Testamente ist so­ mit auch bei der Auslegung der Bergpredigt explizit im Blick, vgl. a.a.O., S. 38 f. 223  S.o. 3.2.9; 3.3.5.3. 224  Vgl. a.a.O., S. 3: „the wells of Abraham“; vgl. TOT, S. 43: „And after the death

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falschen Lehren zugeschüttet hatten. Gemeint ist die Schrift selbst, die für Tyndale zugleich Synonym ist für Heilsgeschehen insgesamt.225 Zur Schrift, also zum Reich Gottes, gelangen die Glaubenden durch das Gesetz, das ihre Sünden kenntlich macht und sie so zu Christus treibt.226 Doch der usus elenchticus bezeichnet für Tyndale nur eine Bedeutung des Ge­ setzes. Dessen Rolle verändert sich für die Gerechtfertigten, denen durch den Glauben an Christus die Gnade zuteil wird, es erfüllen zu können. Christus selbst schreibt es in die Herzen der Glaubenden und führt es auf diese Weise wiederum seiner wahren Bestimmung zu.227 Die Erfüllung des Gesetzes ist also für Tyndale keine menschliche Möglichkeit, sondern gnadenhaftes Ge­ schenk Gottes in Christus.228 Das so beschriebene Verhältnis von göttlicher Gnadenzusage und mensch­ licher Reaktion fasst Tyndale in die Figur des Bundes.229 Der „covenant“ bil­ det die Klammer, mit deren Hilfe er beiden Anliegen Rechnung tragen kann, einmal der Unverdientheit der göttlichen Gnade und zum anderen der ethi­ schen Grundhaltung der Christenmenschen. Insofern der Bundesschluss auf Gottes Initiative hin sola gratia zustande kommt, schließt Tyndale eine mensch­ liche Mitwirkung am Heil durch fromme Werke aus. Indem der so geschlos­ sene Bund jedoch auf Seiten des Menschen die Verpflichtung einschließt, hin­ of  Abraham God blessed Isaac his son which dwelleth by the well of the living and ­seeing“. 225  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 3: „the scripture may well be called the kingdom of heaven, which is eternal life, and nothing save the knowledge of God the Father, and of his Son Jesus Christ“. 226  Vgl. ebd.: „The law is the very way, that bringeth unto the door Christ“, oder a.a.O., S. 4: „The law maketh no man to love the law, or less to do or commit sin; but gen­ dereth more lust and increaseth sin […] The law setteth not at one with God, but causeth wrath“ (vgl. Gal 3,24, Röm 3,20; 7,18 f; 10,4). Ganz im Sinne Luthers kann Tyndale fortfahren:„It is one thing to condemn, and pronounce the sentence of death, and to sting the conscience with fear of everlasting pain: and it is another thing to justify from sin […] the first is the office of the law: the second pertaineth unto Christ only, through faith“. 227  Vgl. ebd.: „Christ giveth grace to do it, and to understand it aright; and writeth it with his holy Spirit in the tables of the hearts of men; and maketh it a true thing, and no hypocrisy“. 228  Vgl. a.a.O., S. 4 f: „Now if thou give the law a false gloss, and say that the law is a thing which a man may do of his own strength, even out of the power of his free-will; and that by the deeds of the law thou mayest deserve forgiveness of thy fore sins; then died Christ in vain, and is made almost of no stead, seeing thou art become thine own sa­ viour“. 229  Vgl. a.a.O., S. 6: „Another conclusion is this: all the good promises which are made us throughout all the scripture, for Christ’s sake […] are all made us on this condition and covenant on our party, that we henceforth love the law of God, to walk therein, and to do it, and fashion our lives thereafter“. Im Umkehrschluss kann Tyndale auch formulieren: „whosoever hath not the law of God written in his heart, that he love it […] the same hath no part in the promises“ (vgl. ebd.); dazu auch McGiffert, S. 172 ff.

376 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) fort („henceforth“) in Liebe zum Gesetz zu leben, wehrt Tyndale den an die Reformation gerichteten Vorwurf ethischer Nachlässigkeit ab. Theologisch problematisch ist, dass Tyndale die Relation der Bundespart­ ner zueinander als konditionales Verhältnis beschreibt und so bisweilen den Vorrang des göttlichen Gnadenhandelns verwischt. Besonders seine zahlrei­ chen „if…, then…“ – Konstruktionen sind missverständlich, da die Liebe zum Gesetz hier als Bedingung erscheint, die der Mensch erst von sich aus zu erfül­ len hat, um in den Bund einzutreten. Damit wird der Anschein erweckt, als sei das Bundesverhältnis vom Verhalten des Menschen abhängig, insofern geset­ zeskonformes Verhalten sein Bleiben im Bund ermöglicht und nicht konfor­ mes Tun das „Herausfallen“ aus dem Bundesverhältnis nach sich zieht.230 Ein Grund für diese Missverständlichkeit in Tyndales Aussagen ist, dass er teilweise darauf verzichtet, die Rolle des Geistes bei der Heiligung der Glau­ benden, oder die göttliche Erwählung der Gemeinschaft der Glaubenden, die den Eindruck eines Synergismus abschwächen könnten, ausdrücklich hervor­ zuheben. Beide Aspekte sind für seine Soteriologie wesentlich,231 sie treten jedoch an manchen Stellen zurück hinter der Emphase, mit der Tyndale seine Leserschaft zu einem tätigen Christentum auffordern will. Ein weiterer Grund scheint mir in der organischen Zusammengehörigkeit der verschiedenen Aspekte von Tyndales Soteriologie selbst zu liegen, in der Glaube und Liebe, Gesetz und Evan­ge­lium als Elemente eines umfassenden Prozesses miteinander „verschmelzen“, zu Lasten der systematisch-theologi­ schen Stringenz. Dies zeigt sich am offensichtlichsten in Tyndales Metapho­ rik: Wo das Miteinander von Gott und Mensch als familiäre Zusammenge­ hörigkeit, d.h. vor allem in emotionalen Kategorien als Liebesbeziehung ver­ standen wird, lässt sich nicht mehr klar zwischen göttlicher Liebesinitiative und Glaube bzw. Gegenliebe des Menschen unterscheiden. Hier gerät das sola fide schnell zu einem sola caritate, das den Menschen in die Pflicht nimmt. In solchen missverständlichen Formulierungen liegt die Ursache für den an Tyndale gerichteten Vorwurf des Moralismus, einer doppelten Rechtferti­ gung aus Glauben und Werken oder einer „Theology of Contract“232. Die umstrittenen Passagen sind jedoch stets eingebettet in Aussagen, welche die allem menschlichen Tun vorausgehende Initiative Gottes herausstellen. Wer dies nicht zur Kenntnis nimmt, kann Tyndales Bundestheologie nur unzurei­ 230 

Vgl. z.B. Exposition Matthew, PS 2, S. 87: „if thou wilt not come within the co­ venant of God, or if, when thou hast professed it, and received it the sign thereof, thou cast the yoke of the Lord from off thy neck, be thou sure thou art bound by these words so fast that none in heaven or in earth can loose thee“. 231  S.o. 2.7.2.2; 3.4.1; 5.4.2. 232  Clebsch, S. 181; auf dieser Linie auch Ohst, Tyndale, S. 150. Dagegen sehen Mc­ Giffert, S. 171–174, und Trueman, Legacy, S. 114–119, Tyndales Bundestheologie durchaus nicht als Aufgabe der reformatorischen Rechtfertigungsidee.

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chend beschreiben und muss einen Bruch mit seinen bisherigen theologischen Standpunkten konstatieren.233 Tyndale selbst unternimmt im Prolog zahlreiche Anläufe, um – entgegen einem nur konditional gedachten Bundesverhältnis – die darin waltende Liebe Gottes hervorzuheben. Er vergleicht Gottes Handeln dem Sünder gegenüber mit dem Verhalten eines Königs, der einen überführten Mörder begnadigt.234 Auch das geschehe nur unter der Bedingung, dass der Mörder fortan das Ge­ setz einhalte. An anderer Stelle beschreibt er den Bund als Verhältnis eines Vaters zu seinen Kindern.235 Die Liebe zum Gesetz, in welcher der Anteil des Menschen an der Bundesbeziehung besteht, versteht sich also für Tyndale ganz von selbst, gehört natürlich zur Bundesbeziehung dazu. Die Erfüllung der menschlichen Verpflichtung im Bund ist daher keine Eigenleistung, son­ dern vielmehr Folge des geschenkten Glaubens, der in der Liebe zum Aus­ druck kommt und somit ebenfalls göttliche Gnadengabe ist. Das zentrale Stichwort ist „Vertrauen“ („trust“):236 Erfüllt vom Vertrauen auf Gottes Zu­ sage, kann sich der Sünder verpflichten, dem Gesetz zu folgen. Der Bund ist daher nicht misszuverstehen als Relation des quid pro quo,237 vielmehr impli­ ziert er bereits die effektive Erneuerung des Glaubenden als Folge der Liebe Gottes; die Konditionalität der Bundesbeziehung steht in der Folge der Hei­ ligung bzw. Heilung des Sünders. Im Sinne eines paulinisch-augustinischen Rechtfertigungsverständnisses erkennt Tyndale in der effektiven Neuschöp­ fung des sündigen Menschen einen wesentlichen Teil der Bundesbeziehung und kann das neue Sein im Bund daher auch als Wiederherstellung der imago Dei beschreiben.238 233  234 

So Clebsch, S. 182 f; vgl. dazu McGiffert, S. 172 ff. Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 7: „For ye see that the king pardoneth no murderer but on a condition, that he henceforth keep the law, and do no more so; and yet ye know well enough that he is saved by grace, favour, and pardon, ere the keeping of the law come: howbeit, if he break the law afterward, he falleth again into the same danger of death“. 235  Vgl. a.a.O., S. 9: „God receiveth both perfect and weak in like grace, for Christ’s sake, as a father receiveth all his children, both small and great, in like love. He receiveth them to be his sons, and maketh a covenant with them, to bear their weakness for Christ’s sake, till they waxen stronger; and how often soever they fall, yet to forgive them if they will turn again; and never to cast of any, till he yield himself to sin, and to take sin’s part, and for affection and lust to sin fight against his own profession to destroy it“. 236  Vgl. McGiffert, S. 174: „For Tyndale, covenant signified above all the drawing together of God and man in a union of which the dominant characteristic on man’s side was trust“. 237  Vgl. a.a.O., S. 175. 238  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 91: „For when such things being before imposs­ ible, and now are easy and natural, we feel and are sure that we be altered, and a new crea­ ture, shapen in righteousness after the image of Christ and God our Father, seeing his laws of righteousness are written in our hearts“.

378 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Indem er damit Gott selbst zum entscheidenden Subjekt macht, stellt Tyn­ dale seine Bundestheologie in einen erwählungstheologischen Kontext. Auch wenn er die prädestinatianische Dimension nicht immer benennt,239 ist es am Ende doch stets Gott, von dem abhängt, wer Glauben und Liebe empfängt bzw. wer sich im Bund bewährt und wer nicht. Damit ist für Tyndale – und auch dies liegt auf der Linie einer augustinisch gesprägten Sichtweise – die Er­ wählung der Glaubenden durch Gott notwendige Voraussetzung der Bun­ desbeziehung. 6.4.3.2  Die Grundlagen der Bundesbeziehung: Das Vaterunser als Bundesgebet Tyndales Intention, den Bund als Klammer seiner Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung herauszustellen, wird besonders deutlich in seiner Deutung des Herrengebets. Die Anrede Gottes als „Vater im Him­ mel“ ist für ihn Ausdruck der den Bund prägende väterlichen Liebe Gottes.240 Deutlicher noch als im Prolog kann Tyndale hier mithilfe der Vater-KindMetapher veranschaulichen, dass es sich bei dem Verhältnis der Glaubenden zu Gott nicht um ein Kontrakt-Verhältnis des do ut des handelt,241 sondern vielmehr um ein familiäres Beziehungsgeschehen, das auf Liebe basiert. Der sich seinen Kindern aus Liebe zuwendende Gottvater erwartet von seinen Geschöpfen nichts anderes, als dass sie seine Liebe erwidern. Er befähigt sie dazu durch die Gabe seines Geistes. Tyndales Deutung der Bitte um die Hei­ ligung des Namens macht dies offenkundig: „Den Namen Gottes zu ehren, heißt, ihn zu fürchten, ihn zu lieben und seine Gebote zu halten. Wenn nämlich ein Kind seinem Vater gehorcht, dann ehrt und preist es sei­ nen Vater, wenn es aber rebellisch und ungehorsam ist, entehrt es seinen Vater. Dies aber ist darum das rechte Verständnis und Deutung: O Vater, ich erkenne, dass du der Vater aller bist, gieße deinen Geist aus auf alles Fleisch und lass alle Menschen dich

239  Meist spricht Tyndale von den „elect“ als Synonym für die Glaubenden, vgl. a.a.O., S. 87: „Peter in the first of his second epistle, commandeth to do good words, for to make our vocation and election sure“ (vgl. WA 32, S. 423,18 f, Wochenpredigten Mt 5–7, 1532: „davon 2. Petri .1. sagt, da er von guten wercken leret: Lieben bruder, thut vleis ewern beruff und erwelung fest zu machen“). Tyndale kann auch dezidiert von der wahren ­Kirche der Erwählten sprechen, vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 12: „The church of Christ, then, is the multitude of all them that believe in Christ for the remission of sin […] And as all they that have their hearts washed with this inward baptism of the Spirit are of the church, and have the keys of the scripture, yea, and of binding and loosing, and do not err“. 240  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 82: „thou have no merits, but because he is thy ­Father, only if thou wilt turn, and henaceforth submit thyself to learn to do his will“. 241  So der immer wieder geäußerte Vorwurf von Clebsch, vgl. Clebsch, S. 172 ff. 187–193.

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fürchten, achten und lieben als ihren Vater und im Halten deiner Gebote dich und dei­ nen heiligen Namen ehren“ 242.

Auf der Grundlage dieses „familiären Verhältnisses“ versteht Tyndale auch die übrigen Bitten des Vaterunsers als Gebetsanliegen, die dem Glaubenden einerseits seine stetige Bedürftigkeit gegenüber Gott bewusst machen und ihm andererseits Gottes Gnade und Güte vor Augen führen. Umfänglich geht er auf das an das Vaterunser anschließende Christuswort Mt 6,14 f ein und entfaltet unter dem Stichwort der „Vergebung“ erneut den engen Zusam­ menhang zwischen Glauben und Werken der Liebe im Rahmen des gött­ lichen Bundesschlusses in Christus.243 Indem er sein Verständnis des Bundes systematisiert und in eine für seine Leserschaft eingängige Formel fasst, be­ schreibt er – bei den äußerlichen Werken einsetzend, also gewissermaßen im „Umkehrschluss“ argumentierend – eine kausale Folge:  

„Dies ist nun die Summe des Ganzen: Werke sind die äußerliche Rechtfertigung vor der Welt und sie können Rechtfertigung der Glieder genannt werden, die aus der Liebe im Innern entspringen. Liebe ist die Rechtfertigung des Herzens und entspringt aus dem Glauben. Glaube ist das Vertrauen in das Blut Christi und ein Geschenk Gottes“ 244.

Die Existenz der in diesem Sinne gerechtfertigten Glaubenden im status gra­ tiae245 versteht Tyndale als Existenzweise simul iustus et peccator, die geprägt ist vom Nebeneinander der schon vollzogenen Rechtfertigung und inneren Ver­ wandlung einerseits und der mangelnden Vollkommenheit eben dieser Ver­ wandlung andererseits. Der Glaubende ist auf der einen Seite Objekt der Hei­ ligung, hat aber durch sein (bewusstes) Mitwirken in der Bundesbeziehung an deren Gelingen auch selbst Anteil. Die guten Werke haben daher verpflich­ tenden und zugleich versichernden Charakter und sind in ihrer Funktion mit den Sakramenten vergleichbar. Wie diese dienen sie als äußerliche Zeichen 242  Exposition Matthew, PS 2, S. 82: „And to honour the name of God is to dread him, to love him, and to keep his commandments. For when a child obeyeth his father, he ho­ noureth and praiseth his father and when it is rebellious and disobedient, he dishonoureth his father. This is then, the understanding and meaning of it. O Father, seeing thou art ­Father over all, pour out thy Spirit upon all flesh, and make all men to fear, and dread, and love thee as their Father, and in keeping thy comandments to honour thee and thy holy name“. 243  Vgl. a.a.O., S. 87–91. 244  A.a.O., S. 89: „This is then the sum of all together: works are the outward righte­ ousness before the world, and may be called the righteousness of the members, and spring of inward love. Love is the righteousness of the heart, and springeth of faith. Faith is the trust in Christ’s blood, and is the gift of God“. 245  Vgl. a.a.O., S. 90: „Now at the first covenant-making with God, and as oft as we be reconciled, after we have sinned, the righteousness cometh of God altogether. But after the atonement is made and we reconciled, then we be partly righteous in ourselves and unrighteous; righteous as far as we love, and unrighteous as far as the love is unperfect“.

380 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) zur Stärkung des Glaubens, indem sie auf die ihnen innewohnende promissio verweisen.246 An ihren Werken können die Glaubenden ihre fortschreiten­ dende innere Verwandlung ablesen. Der homo simul iustus et peccator ist hier verstanden nicht im Sinne eines „schon jetzt und noch nicht“, sondern als ein „schon jetzt und noch mehr“. Gottes Fürsorge für seine Erwählten tritt in Tyndales Auslegung des Christuswortes Mt 6,19–34 vom „Schätzesammeln und Sorgen“ deutlich hervor. Das Wort steht für ihn in scharfem Kontrast zur Verfasstheit der Welt, die er – auch hier gut augustinisch – als Verfallenheit in die Begierde („covet­ous­ness“247) beschreibt. Die Kraft für die Abkehr von den Begierden erhält der Glaubende aus der Sorge Gottes um die Seinen. Gott sorgt – so versichert Tyndale seinen Lesern – für alle Menschen, welchen Standes sie auch sein und welches Amt sie auch innehaben mögen.248 Seine Fürsorge er­ streckt sich zum einen auf die Verheißung jenseitigen Wohlergehens („the hope of a better life in another world“249), geschieht aber auch schon im Diesseits, indem Gott die Seinen mit allem Nötigen ausstattet.250 Gottes Er­ füllung seines Bundesversprechens entspricht der Einsatz des menschlichen Bundesgenossen. Der Mensch im Bund mit Gott soll das Gesetz Christi er­ füllen, darf sich aber dabei der göttlichen Führung und Unterstützung si­ cher sein: 246  Vgl. ebd.: „Finally, our works which God commandeth, and unto which he an­ nexed his promises that he will reward them, are as it were very sacraments, and visible and sensible signs, tokens, earnest obligations, witnesses, testimonies, and a sure certify­ ing of our souls that God hath and will do according to his promise to strength our weak faith, and to keep the promise in mind“. Tyndale erläutert ergänzend: „But they justify us not, no more than the visible works of the sacraments do“. 247  Exposition Matthew, PS 2, S. 99. Tyndale bezeichnet die Begierde als „root of all evil“ (1 Tim 6,10) und als „image-service“ (Kol 3,5). Bereits im Alten Testament zeigt sich die concupiscentia als die Ursünde, die Herzen verhärtet und von Gott wegführt, aber auch seine eigene Epoche deutet Tyndale mit 2 Petr 2 als Zeit der falschen Lehrer der Begierde, die die Menschen verführen und die Wahrheit verfolgen (vgl. a.a.O., S. 100). In die Reihe der Verfolger stellt er auch Thomas Morus, den er beschreibt als jemanden: „which ­knowes the truth, and for covetousness forsook it again“ (ebd.). In dieser Unterstellung spiegelt sich Tyndales Bitterkeit, den Humanisten nicht für die Reformation gewonnen zu haben, wird aber den Motiven Mores im Einstehen für seine Glaubensüberzeugungen (1533 war More schon vom Amt des Lordkanzlers zurückgetreten) nicht gerecht. 248  Insbesondere gilt diese Sorge Gottes den Herrschern, vgl. a.a.O., S. 101: „if thou be king, do the office of a king, and receive the duties of the king, and let God care to keep thee in thy kingdom“. 249  A.a.O., S. 108. 250  Vgl. a.a.O., S. 109: „But if thou follow Christ, all the world (and let them take all the devils in hell to them) shall not be able to disappoint thee of a sufficient living“. Auch hier kommt Tyndale nah an die Vorstellung eines syllogismus practicus. Angesichts der Si­ tuation der Verfolgung geht es ihm dabei jedoch wohl um einen Trost gegen den Augen­ schein.

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„Nun, beim ersten Bundesschluss mit Gott und wann immer wir, wenn wir gesündigt haben, wieder mit ihm versöhnt werden, kommt die Gerechtigkeit ganz allein von Gott. Nachdem jedoch die Sühne vollbracht und wir wieder versöhnt sind, sind wir selbst zum einen Teil gerechtfertigt, zum anderen aber nicht gerechtfertigt; nämlich gerechtfertigt, insofern wir lieben und nicht gerechtfertigt, insofern unsere Liebe un­ vollkommen ist. Der Glaube an die Verheißung Gottes aber: dass er uns als voll und ganz gerechtfertigt ansieht, macht dieses Ungerechtfertigtsein und die Unvollkom­ menheit stets wieder wett, so als ob es wieder unsere unzerstörte Rechtfertigung vom Anfang wäre“251.

In dieser Passage unterscheidet Tyndale ein „first covenant-making“ Gottes und die auf der Grundlage dieses Bundes stets neu zu vollziehenden „Bundes­ schlüsse“ der Glaubenden mit Gott. Diese theologische Präzisierung macht deutlich: Die Konditionalität, die Tyndale beschreibt, bezieht sich nicht auf das Zustandekommen der Bundesbeziehung („first covenant-making“), son­ dern auf das Leben im Bund. Wenn der Mensch im Glauben erkennt, dass Gott ihm die Hand zum Bund reicht, dann soll er sich bemühen, seinem „Bun­ despartner“ gerecht zu werden und seine Gebote zu erfüllen. Doch auch hier ist Gott am Werk, indem er verlässlicher Bundesgenosse an der Seite des Men­ schen ist und ihn zur vertrauensvollen Hinwendung und Zuversicht anhält. Die Existenz des Menschen im Bund mit Gott ist daher für Tyndale nicht als ein Leben unter dem fordernden Gesetz zu verstehen, sondern als Dasein in der gnädigen Gegenwart Gottes. Gleichwohl verlangt dieser Gott auch, dass sein Wort gehört und seine Gebote beachtet werden. 6.4.4  Die Ethik des Bundes 6.4.4.1  Das „Bundesbuch“: Die Seligpreisungen als Grundlagen der Ethik In den Seligpreisungen der Bergpredigt findet Tyndale die Forderungen Got­ tes an seine Bundespartner formuliert. Sie sind für ihn Wiederherstellung und neuerliche Inkraftsetzung der Zehn Gebote durch Christus, werden also – der matthäischen Intention durchaus angemessen – in Analogie zur Gabe der Ge­ setzestafeln auf dem Sinai gedeutet als zentraler neutestamentlicher „Geset­ zestext“ (lex Christi).252 Zugleich fällt auf, dass Tyndale die Seligpreisungen insgesamt weniger als ethische Imperative deutet, sondern vielmehr ihr Po­ 251  A.a.O., S. 90: „Now at the first covenant-making with God, and as oft as we be re­ conciled, after we have sinned, the righteousness cometh of God altogether. But after the atonement is made and we reconciled, then we be partly righteous in ourselves and un­ righteous; righteous as far as we love, and unrighteous as far as the love is unperfect. And faith in the promise of God, that he doth reckon us for full righteous, doth ever supply that unrighteousness and imperfectness, as it is our whole righteousness at the beginn­ ing“. 252  Vgl. a.a.O., S. 16: „Christ here, in his first sermon, beginneth to restore the law of the ten commandments unto her right understanding against the scribes and Pharisees“.

382 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) tential als tröstende Texte aufgreift. Der von ihm angesprochenen Gemeinde sollen sie zur Bewältigung ihrer schwierigen Situation aus dem Glauben he­ raus helfen. Die erste Seligpreisung wendet sich in Tyndales Auslegung gegen das Begehren:253 „Arm im Geiste“ zu sein, bedeutet für ihn, sich die geistige Un­ abhängigkeit von weltlichen Gütern zu bewahren und – ob als armer oder reicher Mensch – sein Vertrauen allein auf Gott zu setzen.254 Auch das „Trauer tragen“ der zweiten Seligpreisung versteht Tyndale als Ausdruck einer geistlichen Haltung, die aus dem Tragen des Kreuzes in der Nachfolge Christi kommt. Den Glaubenden ist es natürlich nicht verboten, fröhlich zu sein, doch ist das Leiden unvermeidlicher Teil der Nachfolge. Es resultiert aus der Einsicht sowohl in die Sündigkeit des eigenen Fleisches als auch in die Schwäche und Verdorbenheit der Mitmenschen.255 Tyndale konkretisiert dieses Leiden in der Nachfolge am Beispiel eines Monarchen: Ein Herrscher soll sich, wenn er sein Amt recht führen will, da­ rüber klar sein, dass Untergebene versuchen, ihn zu Dingen zu bewegen, die sein glaubendes Herz nicht will.256 Tyndales Leserschaft dürfte an dieser Stelle durchaus im Sinne des Autors an Heinrich VIII. gedacht und in seine Klage eingestimmt haben: „Ich erspare es [euch], vom Leiden der wahren Prediger und der einfachen Leute zu sprechen, die keine andere Hilfe haben, als die verborgene Hand Gottes und sein Verheißungswort“257.

Den solcherart Bedrängten und Klagenden verheißt das Wort Christi Trost und ein Ende des Leidens in der kommenden, aber auch schon in der gegen­ 253  254 

Vgl. ebd.: „the inordinate desire and love of riches, and putting trust in riches“. Vgl. a.a.O., S. 17: „Happy and blessed then are the poor in spirit, that is to say, the rich that have not their confidence nor consolation in the vanity of their riches; and the poor, that desire not inordinately to be rich, but have their trust in the living God for food and raiment“. 255  Vgl. a.a.O., S. 18: „Neither forbiddeth it always to be merry, and to laugh, and make good cheer now and then […] if thou profess the gospel there followeth thee a cross (as warmness accompanieth the sun shining), under which thy spirit shall groan and mourn secretly, not only because the world and thine own flesh carry thee away, clean contrary to the purpose of thy heart; but also to see and behold the wretchedness and mis­ fortunes of thy brethren“. 256  Vgl. a.a.O, S. 18 f: „thou shalt be compelled to permit a thousand things against thy conscience, not able to resist them, at which thine heart shall bleed inwardly“. Als Bei­ spiele führt Tyndale neben dem biblischen König David auch die englischen Monarchen Johann Ohneland (1167/99–1216) und dessen Vater, Heinrich II. (1133–1189), an, die er beide als „Opfer“ der sie umgebenden Adligen und Geistlichen versteht, vgl. a.a.O., 19; dazu auch Krieger, S. 126–137 bzw. S. 139–149. 257  Exposition Matthew, PS 2, S. 19: „I spare to speak of the mourning of the true preachers, and the poor common people which have none other help, but the secret hand of God, and the word of his promise“.

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wärtigen Welt. Die Überwindung ihrer widergöttlichen Strukturen kostet jedoch Opfer. Tyndales Metaphorik ist martialisch: „Wahrlich, in jedem Kampf werden einige derer, die den Sieg erringen, erschlagen; jedoch hinterlassen sie den Sieg ihren toten Freunden, um derentwillen sie in den Kampf gezogen sind“258.

Indem er die Seligpreisung also konkret auf die Verfolgungssituation der englischen Protestanten hin auslegt, will Tyndale offensichtlich die Bereit­ schaft zum Martyrium stärken. In der Duldsamkeit und im Vertrauen auf Gott sieht Tyndale den einzigen Schlüssel zum Wohlergehen. Darum gebie­ tet – nach seiner Deutung – die dritte Seligpreisung (Mt 5,5), Ruhe zu be­ wahren und die Lösung der Situation der gottgegebenen Obrigkeit anzu­ vertrauen. Wer Wut und Ungeduld zeigt, handelt gegen Gottes Willen. Zugleich mahnt Tyndale jedoch auch die Obrigkeiten, in ihrer Amtsfüh­ rung Barmherzigkeit und Gerechtigkeit walten zu lassen.259 Zur Erläuterung der vierten Seligpreisung (Mt 5,6) stellt Tyndale – mit Lu­ ther – einleitend klar, dass mit „righteousness“ in diesem Zusammenhang nicht die Gerechtigkeit gemeint ist, die vor Gott gilt,260 sondern die äußer­ liche Gerechtigkeit coram mundo.261 Diese ist freilich Folge der inneren Recht­ fertigung aus Glauben, gemäß der Logik vom guten Baum, der gute Früchte bringt.262 Als solche Früchte versteht Tyndale die getreue Erfüllung des Bun­ desauftrags der Liebe gegenüber dem Nächsten. Dazu gehört die Barmher­ zigkeit („mercy“), von der die fünfte Seligpreisung (Mt 5,7) spricht und die sich unterschiedlich manifestieren kann.263 Die Haltung eines „Barmherzi­ 258  A.a.O., S. 20: „Verily in every battle some of them that win the field be slain: yet they leave the victory unto their dead friends, for whose sakes they took the fight upon them“. 259  Vgl. ebd.: „But and if thou be an officer, then thou must be good, kind, and merci­ ful; but not a milksop, and negligent“. 260  Vgl. a.a.O., S. 22: „Righteousness in this place is not taken for the principal righte­ ousness of a chritian man, through which the person is good and accepted before God“; vgl. WA 32, S. 318, 29 f (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Gerechtigkeit mus an diesem ort nicht heissen die Christliche heubt gerechtigkeit, dadurch die person frum und angenehm wird fur Gott“. 261  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 22: „understand here the outward righteousness before the world“; vgl. WA 32, S. 318,35 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Darumb ver­ stehe hie die eusserlich gerechtigkeit fur der welt“. 262  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 22: „doctrine of the fruits and works of a christian man, before which the faith must be there, to make righteous without all deservings of the works, and as a tree out of which all such fruits and works must spring“; vgl. WA 32, S. 318, 31–34: „eine lere von den fruechten und guten wercken eines Christen, vor wel­ chem der glaube zuvor mus da sein als der baum und heubstuck odder summa seiner ge­ rechtigkeit on alle werck und verdinst“. 263  Tyndale nennt, Exposition Matthew, PS 2, S. 23, die Fürsorge für die Bedürftigen, Trost und Rat für die Angefochtenen, Vergebung, Hoffnung und Gebet für die Sünder sowie das geduldige Ertragen des eigenen Leides.

384 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) gen“ ist jedoch stets dieselbe264 und kommt aus dem ins Herz geschriebenen Gesetz (Mt 5,8).265 In der siebten Seligpreisung (Mt 5,9) fordert Christus, wie Tyndale erläu­ tert, über die eigene innere Friedfertigkeit hinaus auch das aktive Eintreten für den Frieden. Dies gilt insbesondere für die Fürsten, die über Krieg und Frieden zu entscheiden haben.266 Nur wenn alle friedlichen Mittel ausge­ schöpft sind, ist es ihnen erlaubt, zur Verteidigung ihres Landes zur Waffen­ gewalt zu greifen. In einem solchen Fall erfüllt ein Fürst die Forderung des Christuswortes und stiftet Frieden („in doing so he is a peace-maker“267), da er auf diese Weise den von anderen gebrochenen allgemeinen Frieden („com­ mon peace“268) wiederherstellt. In krassem Gegensatz zum Zustand des Friedens steht die in der achten und neunten Seligpreisung (Mt 5,10 ff) thematisierte Verfolgung um Christi wil­ len, auf die Tyndale ausführlich eingeht. Verfolgung ist immer notwendige Folge des Glaubens an Christus und des Lebens nach seinem Gebot. Darum sollen die Glaubenden ihr gelassen begegnen, bis hin zum Tod als vermeint­ liche Ketzer:  

„Selbst wenn du zum Tode verurteilt, exkommuniziert und dem Satan übergeben wirst […] und in dem Augenblick, in dem du in deinen Tod gehst, vor Augen geführt bekommst, wie alle Welt verführt worden ist und fest daran glaubt, dass du Dinge ge­ sagt und getan hast, die du nicht einmal gedacht hast und du darum stirbst, obwohl du schuldlos bist wie ein ungeborenes Kind […] Lass dein Herz dennoch nicht verzagen, verzweifle nicht […], sondern tröste dich selbst mit den alten Beispielgeschichten da­ von, wie Gott selbst darunter litt, dass all seine Freunde so behandelt wurden und auch sein einziger und geliebter Sohn Jesus“269. 264  Vgl. ebd.: „to be merciful is to interpret all to the best; and to look through the fin­ gers in many things; and not to make a grievous sin of every small trifle“; vgl. WA 32, S. 322,29–323,3 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 265  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 26: „If the law be written in thine heart, it will drive thee to Christ; which is the end of the law, to justify all that believe. And Christ will shew thee his Father“. Indem Tyndale hier Röm 10,4 aufnimmt, widerspricht er interes­ santerweise seinem eigenen Gesetzesverständnis, demzufolge das Gesetz zwar zu Chris­ tus treibt, aber vor allem durch die Begegnung mit Christus erst ins Herz der Glaubenden gegeben wird. An dieser Stelle scheint ihm die Reihenfolge weniger wichtig zu sein als die Betonung der Gottesgemeinschaft, die in Christus eröffnet wird und die er als tatsäch­ liche „Gottesschau“ ausführlich beschreibt, vgl. ebd.: „If thou believe in Christ that he is thy Saviour, that faith will lead thee in immediately, and shew thee God with a lovely and amiable countenance; and make thee feel and see how that he is thy Father, altogether merciful to thee, and at one with thee“. 266  Vgl. a.a.O., S. 26 f: „princes, if they will be God’s children, must not only give no cause of war, nor begin any […] and must also seek all ways of peace, before he fight“; vgl. WA 32, S. 330,29–39 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 267  Exposition Matthew, PS 2, S. 27. 268  Ebd. 269  A.a.O., S. 29 f: „even when thou art condemned to death, then be excommunicate and delivered to Satan […] and shalt see before thy face when thou goest to thy death, that

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Auch wenn Tyndale keine konkreten Fälle nennt, wird in dieser einfühlsa­ men Beschreibung deutlich, wie nah ihm das Thema der Verfolgung war. Ei­ nige seiner eigenen Freunde haben die hier beschriebene Situation durchlitten oder standen – wie er selbst – in der Gefahr, in eine solche Lage zu kommen. Ihnen zum Trost und zur Stärkung, erinnert Tyndale an die Unverbrüchlich­ keit der Bundeszusage Gottes, wohl auch im Bewusstsein, dass gerade in der Situation eines Ketzerprozesses viele Grund zum Zweifel und zum Widerruf hatten.270 6.4.4.2  Das Gesetz innerhalb der Bundesbeziehung und die Rolle der Werke Innerhalb der Bundesbeziehung nimmt das Gesetz eine besondere Funktion ein, die Tyndale insbesondere in seiner Deutung der Torainterpretation Jesu entfaltet. Wie bereits im Prolog vorweggenommen, geht es für ihn in der Bergpredigt nicht um eine Aufhebung des Gesetzes, sondern um dessen Auf­ richtung durch Christus. Nur durch ihn gewinnt das Gesetz Bedeutung für die Glaubenden. Tyndale verbindet daher die einschlägige Stellungnahme Jesu zur Tora (Mt 5,17) mit der auf die Erfüllung des Gesetzes durch Christus zielenden Aussage aus Joh 1,17: „I come not to destroy the law, but to repair it only […] Without me the law cannot be fulfilled nor ever could. For though the law were given by Moses, yet grace and verity, that is to say, the true understanding and power to love it, and of love to fulfil it, co­ meth and ever came through faith in me“271.

Christus ist für Tyndale der Schlüssel zum prinzipiell guten Gesetz, indem er Grund und Ursache eines Glaubens ist, der die Befolgung der Gebote erst möglich macht. Mit der Hervorhebung des Glaubens an ihn reinigt Christus die mosaischen Gebote von den falschen Deutungen der Pharisäer und Schriftgelehrten, die für Tyndale immer zugleich Chiffre sind für die papst­ kirchlichen Theologen.272 all the world is persuaded and brought in belief that thou hast said and done that thou ­never thoughtest, and that thou diest for that thou art as guiltless os as the child that is un­ born […] yet let not thine heart fail thee, neither despair […] but comfort thyself with old ensamples, how God hath suffered all his friends to be so entreated, and also his only and dear son Jesus“. 270  Tyndale legt hier Wert darauf, dass das Leiden unter der Verfolgung nicht als Ver­ dienst missverstanden wird. Es kann jedoch als sicheres Unterpfand des eigenen Glaubens verstanden werden, vgl. a.a.O., S. 29: „a sure token that thou hast true faith and true re­ pentance“. 271  A.a.O., S. 38 f. 272  Tyndale lässt Christus daher sagen, vgl. a.a.O., S. 39: „I do but only wipe away the filthy and rotten glosses wherewith the scribes and Pharisees have smeared the law, and the prophets“. Jesu Mahnung, keines der Gebote des Gesetzes aufzulösen (Mt 5,19), wird von Tyndale (a.a.O., S. 39 f; vgl. WA 32, S. 357,35–359,27, Wochenpredigten Mt 5–7, 1532)

386 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Im römischen Klerus findet Tyndale darum auch die „falschen Propheten“ wieder, vor denen Christus in Mt 7,15–20 warnt. Ihr „Schafskleid“ ist gerade ihre vorgebliche Christlichkeit. In Predigt und Wirken geben sie sich recht­ gläubig und fordern von anderen Gehorsam ein. Doch hinter diesem Habitus verbirgt sich ihr „wölfisches“ Wesen, mit dem sie Christus seiner Verdienste berauben und sie dem Schatz der Kirche zusprechen.273 Auf diese Weise füh­ ren sie die Menschen vom Glauben an Christus weg und verletzen überdies die göttliche Ordnung der Welt, indem sie weltlichen Herrschern den Gehor­ sam verweigern, ihre vermeintliche Armut zur Ansammlung von Reichtü­ mern nutzen und die vorgebliche Keuschheit zu Unzucht missbrauchen.274 Gegen diese Missdeutungen durch die Papstkirche stellt Tyndale auch hier die Bezogenheit von Glauben und guten Werken heraus. Nur wer die enge Pforte des Glaubens durchschritten hat und auf dem schmalen Weg zu Chris­ tus geht (Mt 7,13 f), erkennt die wahre Bedeutung des Gesetzes und der Werke, zu denen es anleiten will.275 Ihren Kern findet Tyndale im Liebesge­ bot und in der sog. Goldenen Regel (Mt 7,12) zusammengefasst.276 Der Baum, auf dem die Früchte der Liebe wachsen, ist der Glaube als Geschenk Gottes.277 Tyndale zitiert Hab 2,4 (bzw. Röm 1,17; Gal 3,11): „Justus ex fide vivit“ und er­ gänzt sogleich: „Woraus die Freundlichkeit all seiner Werke entspringt“278. Vor diesem Hintergrund stellt Christus nach Tyndales Auffassung in der Bergpredigt auch den ursprünglichen Sinn frommer Werke, wie Almosen (Mt 6,1–4), Beten (Mt 6,5–6) und Fasten (Mt 6,16–18), eben nicht als ver­ dienstliche Werke, sondern als Lebenshilfen für ein Leben im Glauben mit  

als Warnung an die Adresse der falschen Lehrer bzw. der papstkirchlichen Kleriker ver­ standen. 273  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 122 f: „They rob the law of God of her mighty po­ wer, wherewith she driveth all men to Christ […] they have robbed Christ of all his me­ rits, and clothed themselves therewith. They have robbed the soul of man of the bread of her life, the faith and trust in Christ’s blood […] they have robbed the works commanded by God of the intent and purpose that they were ordained for“. 274  Vgl. a.a.O., S. 123: „And with their obedience they have drawn themselves from under the obedience of all princes and temporal laws. with their poverty they have robbed all nations and kingdoms; and so with their wilful poverty have enriched themselves, and have made the commons poor. With their chastity they have filled all the world full of whores and sodomites“. 275  S.o. 2.7.2.1; 3.4.1.3. Vgl. a.a.O., S. 120: „The strait gate is the true knowledge and understanding of the law, and of the true intend of good works: which whosoever under­ standeth, the same shall be driven to Christ, to fetch of his fulness, and to take him for his righteousness and fulfilling of the law, altogether at the beginning, and as oft as we fall afterward, and for more than the thousandth part of our fulfilling of the law and righte­ ousness of our best works all our life long“. 276  Für Tyndale ist hier eindeutig das ethische Verhalten gegenüber dem Nächsten ge­ meint; vgl. a.a.O., 41. S. 119. 277  Vgl. die Aufnahme des Bildes a.a.O., S. 124 f. 278  A.a.O., S. 125: „out of which the pleasantness of all his works spring“.

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Gottes Gesetz, wieder her.279 Beten und Fasten können dabei helfen, die Ver­ bindung mit Gott nicht abreißen zu lassen und das eigene Fleisch zu bezwin­ gen.280 Das von Tyndale im Zusammenhang mit dem Fasten formulierte christliche Lebensideal kann dabei aufgrund seiner Nüchternheit und der Konzentration auf den Umgang mit Gottes Wort in der Tat als „prä-purita­ nisch“ bezeichnet werden:281 „Das Fasten aber besteht nicht allein darin, nicht zu essen und zu trinken, geschweige denn im Fleisch allein, sondern in der Enthaltsamkeit gegenüber allem, dass das Fleisch gegen den Geist aufbringt, wie langes Schlafen, Faulheit, unflätige Gespräche und weltliches Gerede, Begierde, Karrierestreben und ähnliches, liederlicher Umgang, weiche Kleidung, weiche Betten und so weiter“282.

Vermittler dieser Selbstkontrolle sind für Tyndale die Ältesten und Prediger, die – nach dem Vorbild der alttestamentlichen Priester, Propheten und Kö­ nige – zur Zähmung des Fleisches und damit zur Unterdrückung der sündi­ gen Natur im Menschen ermuntern sollen. Durch den Weg der zunehmen­ den Perfektion wird der Mensch seiner Bundesverpflichtung gegenüber dem Schöpfer und Erlöser gerecht.283 In seiner Deutung der Perikope vom Haus­ bau (Mt 7,24–28) kann Tyndale das Verhältnis von Glauben und Liebe darum abschließend noch einmal wie folgt resümieren: „Glaube ist die Mutter der Liebe. Glaube begleitet die Liebe in all ihren Taten, um, was immer in unserem Tun des Gesetzes noch fehlt, zu ergänzen mit der vollkommenen 279  In einer Polemik parallelisiert Tyndale die Kritik der Pharisäer an Jesu Deutung der Tora mit der Kritik an der Reformation, vgl. a.a.O., S. 72: „What said the scribes and Pharasees of him (think ye) when he rebuked such manner of works? No doubt […] how he destroyed the law and the prophets, interpreting the scripture after the literal sense which killeth, and after his own brain, clean contrary to the common faith of holy church, and minds of great clerks, and authentic expositions of old holy doctors; even so here what other could they say than, ‚Behold the heretic!‘“ 280  Vgl. a.a.O., S. 73: „Christ here destroyeth not prayer, fasting, and alms-deed, but preacheth against the false purpose and intent of such works“; vgl. auch a.a.O., S. 77: „To give alms, to pray, to fast, or to do any thing at all whether between thee and God, or bet­ ween thee and thy neighbour, canst thou never plaese God therewith, except thou have the true knowledge of God’s word to season thy deeds withal“. 281  Vgl. Clebsch, S. 203; s.u. 6.5.2 Exkurs: Tyndale als theologischer Ahnherr des Purita­ nismus? 282  Exposition Matthew, PS 2, S. 94: „So now fasting standeth not in eating and drink­ ing only, and much less in flesh alone; but in abstinence of all that moveth the flesh against the Spirit, as long sleeping, idleness, and filthy communication, and all worldly talking, as of covetousness and promotion and such like, and wanton company, soft clothes, and soft beds, and so forth“. 283  Vgl. a.a.O., S. 96: „God delighteth in true obedience, and in all that we do at his commandment, and for the intent that he commandeth it for“. Indem der Klerus der Papstkirche die Glaubenden gerade nicht an diese Bundeserfüllung gemahnt, sondern sie auf den „covenant of the pope“ (a.a.O., S. 96) verpflichten will, pervertiert er die wahre Bedeutung des Fastens und der guten Werke.

388 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Liebe, die Christus seinem Vater und uns gegenüber besaß, indem er das Gesetz für uns erfüllte“284.

6.4.4.3  Materiale Ethik: Vom Töten und Ehebrechen Tyndales Auslegung von Mt 5 enthält auch einige Aussagen zu konkreten ethischen Fragen. In der Verschärfung des Tötungsverbots der Tora (Mt 5,21– 26) geschieht die Überwindung der Aufweichung des Gesetzes durch die Pharisäer. Diese hatten nur den tatsächlichen Mord mit Strafe belegt und da­ durch – wie schon Saul im Falle Davids und die Inquisitoren Roms in den Ketzerprozessen285 – ihre Hände beim Tod Christi in Unschuld gewaschen. Christus hingegen droht bereits denjenigen, die andere hassen, den Tod als Strafe an. Tyndale kontextualisiert hier das Tötungsverbot mit Blick auf das kirchlich sanktionierte Morden an englischen Protestanten und stellt seine an der Radikalität Jesu orientierte Ethik dagegen. Man dürfe, so Tyndale, dem Nächsten zwar zürnen und auch seine nach Gottes Ordnung Unterge­ benen züchtigen, aber doch nur soweit dies in Liebe und aus guter Intention heraus geschieht. Der Ärger über andere muss ein „loving anger“ sein, der den Nächsten nicht richten, sondern zurecht bringen will.286 Einer Hal­ tung, die den Nächsten nur deshalb duldet, weil sie sich ihm gegenüber gleichgültig verhält, stellt Tyndale die Verpflichtung zur Liebe nach dem ersten Gebot entgegen.287 Wer sich nicht um tätige Hilfe für den Nächsten 284  A.a.O., S. 130 f: „Faith is the mother of love; faith accompagnieth love in all her works, to fulfil as much as there lacketh, in our doing the law, of that perfect love which Christ had to his Father and us, in his fulfilling of the law for us“. 285  Vgl. a.a.O., S. 45: „And as our spirituality now offer a man mercy once, though he have spoken against holy church; only if he will but perjure, an bear a fagot: but if he will not, they do but diet him a season, to win him, and make him tell more; and deliver him to the lay power, saying, He hath deserved death by our laws, and ye ought to kill him, howbeit we desire it not“. Aus dieser Äußerung spricht eine intime Kenntnis der Pro­ zessabläufe der Ketzerverfahren in England. Der Hinweis auf Saul und David findet sich auch bei Luther, vgl. WA 32, S. 360,38–361,3 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532) 286  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 45: „Shall then a man not be angry at all, nor re­ buke or punish? Yes, if thou be a father or a mother, master or mistress, husband, lord, or ruler; yet with love and mercy, that the anger, rebuke, or punishment, exceed not the fault or trespass. […] It is a loving anger, that hateth only the vice, and studieth to mend the person“; vgl. WA 32, S. 362,25 ff (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Summa, Es ist der liebe zorn, der niemand kein boeses gunnet, sondern der person freund, aber der sunde feind ist, wie auch einem jglichen die natur leren mag“. 287  Vgl. a.a.O., S. 46: „Yes, thou must love him: for the first commandment, out of which all other flow is, ‚Thou shalt love the Lord thy God with all thine heart, with all thy soul and with all thy might:’ that is, thou must keep all his commandments with love“. Tyndale fügt neben dem 1. Gebot weitere Textstellen, wie 1 Joh 3,17 und 4,21, an und weist seine Leserschaft durch das Zitat von Ex 23,4 f bzw. Lev 19,17 auch darauf hin: „of love hath Moses texts enough“ (ebd.); vgl. auch WA 32, S. 362,30 ff (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532).

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bemüht und versucht, ihn auf den rechten Weg des Wortes Gottes zu füh­ ren, macht sich mitschuldig an dessen Vergehen und fällt dem göttlichen Urteilsspruch ebenso anheim wie der Sünder.288 Nur in dem Fall, dass der Nächste sich gegen Gott und sein Wort vergeht, ist es dem Glaubenden er­ laubt, ihn zu hassen. Auch die Radikalisierung des Toragebotes zum Ehebruch führt Tyndale auf das Doppelgebot der Liebe zurück: „Vor Gott bin ich ein Ehebrecher, wenn ich meinen Nächsten nicht so sehr liebe, dass mir diese Liebe verbietet, seine Ehefrau zu begehren“289.

Wie das Beispiel Davids zeigt, beraubt der Ehebrecher nicht nur den Nächsten seines wertvollsten Besitzes, er verführt darüber hinaus auch dessen Frau zur Sünde – gegenüber ihrem Ehemann, aber ebenso auch gegenüber Gott: „denn Gott hat sie versprochen und nicht nur ihrem Gemahl; ist doch das Gesetz des Ehestandes Gottes Ordnung“290. Das Verbot des Ehebruchs steht für Tyndale unter Zuspruch und Anspruch des Wortes Gottes: Die Befolgung des Gebots bringt Segen, der Gesetzesbruch Strafen und Plagen. Wie in „Prelates“291 lie­ fert Tyndale auch hier ein Beispiel aus der englischen Geschichte, um seine theologische Position zu erhärten: Wer sich in seiner Gesetzgebung nicht am Gebot Gottes orientiert, wird scheitern und Gottes Zorn auf sich und sein Land lenken, wie das Beispiel des Schicksals Englands nach der Ermordung Richards II. illustriert.292 Jedem zeitgenössischem Leser dieser Zeilen wird bewusst gewesen sein, dass Tyndale hier indirekt noch einmal seine Ableh­ nung der königlichen Scheidung Heinrichs VIII. zum Ausdruck bringt. Er erwähnt in diesem Zusammenhang wohl auch nicht zufällig das englische 288 

Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 47: „For if thou study not to amend thy neighbour, when he sinneth, so art thou partaker of his sins; and therefore, when God taketh ven­ geance and sendeth whatsoever plague it be, to punish open sinners, thou must perish with them. For thou didst sin in the sight of God as deep as they“. 289  A.a.O., S. 49: „I am an advouterer before God, if I so love not my neighbour, that very love forbid me to covet his wife“. 290  A.a.O., S. 50: „for to God promised she, and not to man only; for the law of matri­ mony is God’s ordinance“. In seiner Deutung von Mt 5,31 f zeigt sich einmal mehr Tyn­ dales (vergleichsweise) positives Frauenbild, wenn er auch einer Frau zugesteht, der Ver­ suchung der Unkeuschheit erliegen zu können und sie nicht als „Sünderin“ abstempelt (vgl. a.a.O., S. 52: „What shall the woman do, if she repent and be so tempted in her flesh that she cannot live chaste?“ vgl. dazu auch Mozley, S. 243). Auch Tyndales Appell an den Gesetzgeber, den von ihren Ehemännern verlassenen Frauen eine Wiederheirat zu ge­ statten (vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 54 f), zeigt sein Verständnis für die Situation der verlassenen Frauen. 291  S.o. 5.2.7.2; 5.4.4. 292  Vgl. a.a.O., S. 53: „Even so if we cast off us the yoke of our temporal laws, which are the laws of God, and drawn out of the ten commandments and law natural, and out of ‚Love thy neighbour as thyself;’ God shall cast us off and let us slip, to follow our own wit. And then all shall go against us, whatsoever we take in hand“.

390 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Parlament, das seit dem November 1529 versammelt war und als „Reforma­ tion Parliament“ in die Geschichte einging. „wenn wir ein Parlament versammeln, um zu reformieren oder zu verbessern, wird alles, was wir dort entscheiden, unser eigener Fallstrick, Unordnung und völlige Zer­ störung sein, so dass alle Feinde, die wir unter dem Himmel haben, uns kein größeres Unglück wünschen könnten, als es uns unser eigener Ratschlag bringen wird“293

War dies ein Appell, sich in der Frage der Ehescheidung des Königs nicht auf die Seite des Monarchen zu stellen?294 In jedem Fall mahnt Tyndale die Geist­ lichkeit und die weltliche Obrigkeit dazu, das eigene Verhalten dahingehend zu überprüfen, ob es den Weisungen Gottes folgt und so Schaden vom Land und seinen Bewohnern abwendet.295 6.4.4.4  Zwei-Regimenten-Lehre Der wohl interessanteste Aspekt der Ethik, die Tyndale in „Exposition Matthew“ im Gefolge seiner Bundestheologie entwirft, ist seine neuerliche Verhältnisbestimmung der beiden Regimente, mit denen Gott die Welt re­ giert. Salz- und Lichtwort Jesu (Mt 5,13–16) sowie die Worte vom Vergelten (Mt 5,38–42) und von der Feindesliebe (Mt 5,43–48) nimmt Tyndale zum Anlass, seine bereits in „Obedience“ dargestellte Zwei-Regimenten-Lehre erneut zu entfalten.296 Auch Luther hat in seiner Bergpredigtauslegung im­ mer wieder auf die Unterscheidung zwischen dem Reich Christi und dem Reich der Welt zurückgegriffen,297 jedoch nimmt Tyndale diese Vorlage nicht unmittelbar auf, sondern entwickelt seine Version weitgehend selbstän­ dig, wenn auch in inhaltlicher Übereinstimmung mit Aussagen Luthers.298 293 

Ebd.: „when we gather a parliament to reform or amend aught, that we there deter­ mine shall be our own snare, confusion, and utter destruction, so that all enemies we have under heaven could not wish us so great mischief as our own counsel shall do us“. 294  In jedem Fall zeigt diese Passage, dass Tyndale sich nicht, wie Clebsch vermutet (vgl. Clebsch, S. 176–179), zur politischen Zurückhaltung verpflichtet hat. In dem indi­ rekten Appell an das Parlament wird im Gegenteil deutlich, dass er möglicherweise sogar von der eigenen theologisch-politischen Überzeugung abweichend „revolutionäre“ Ge­ danken gehabt hat. 295  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 54 „let the spirituality take heed and look well about them, and see whether they walk as they have promised God, and in the steps of his Son Christ, and of his apostles […] And let the temporality remember, that because those nations, under which the Isrealites were in captivity, did deal cruelly with them, not to punish them for their idolatry and sin, which they have committed against God, but to have their lands, and goods, and service only, rejoicing to make them worse and more our of their Father’s favour“. 296  Cargill Thompson stellt daher zu Recht fest: „Here he developes a clear statement of Luther’s doctrine of the two regiments and two callings“ (Thompson, Regiments, S. 27). 297  Vgl. z.B. WA 32, S. 351,3–354,27; 389,21–395,10 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 298  Vgl. Thompson, Regiments, S. 28 f.

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Der Christenmensch als Bürger der beiden Reiche.  Jesu Wort vom Vergelten be­ zieht sich – so Tyndales Interpretation – nicht auf die Gewaltanwendung der weltlichen Obrigkeiten gegenüber den Untergebenen, sondern ist gerade als Aussage zugunsten ihres „Gewaltmonopols“ und gegen die Selbstjustiz der Untertanen zu verstehen. Für Untertanen ist es Pflicht, die andere Wange hinzuhalten, nicht jedoch für die regierenden Institutionen.299 Der Verzicht auf Rache und die freiwillige Übernahme von Leiden gründet in der Er­ kenntnis, dass ein Christenmensch Angehöriger zweier Reiche ist: „Du musst verstehen, dass es hier zwei Beschaffenheiten oder Stände in dieser Welt gibt: Das Himmelreich, das unter der Herrschaft des Evan­ge­liums steht und das Reich der Welt, das unter der weltlichen Obrigkeit steht. Im ersten Stand gibt es weder Va­ ter, noch Mutter, weder Sohn, noch Tochter, weder Gebieter oder Gebieterin, noch Magd oder Diener, weder Ehemann, noch Ehefrau, weder Herr, noch Untertan, noch Mann und Frau, sondern Christus ist alles, und jeder ist dem anderen Christus selbst […] Unter dem weltlichen Regiment gibt es Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Gebieter, Gebieterin, Magd, Diener, Herr und Untertan. Darum ist jeder Mensch eine doppelte Person und beiden Regimenten untertan“300.

Im Sinne Luthers versteht Tyndale die christliche Existenz als Zugehörigkeit zum himmlischen Regiment Christi, in dem das Evan­ge­lium verbindliche Norm ist und zum weltlichen Regiment, das durch die von Gott eingesetzte Ordnung bestimmt ist.301 Während im Reich Christi die Liebe das bestim­ mende Motiv des Miteinanders ist, sind im weltlichen Bereich der Gehorsam und die Erfüllung der standesbezogenen Pflichten das maßgebliche Mo­ ment.302 Die Amtsausübung als Vater, Hausfrau, Monarch etc. erlaubt, ja er­ fordert darum die Anwendung von Gewalt zum Ziel der Aufrechterhaltung 299  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 59: „Even so is the meaning here, that we in no wise avenge; but be prepared ever to suffer as much more, and never to think it lawful to avenge, how great soever the injury be“. 300  A.a.O., S. 60: „Ye must understand that there be two states or degrees in this world: the kingdom of heaven, which is the regiment of the gospel; and the kingdom of this world, which is the temporal regiment. In the first state there is neither father, mother, son, daughter; neither master, mistress, maid, manservant, nor husband, nor wife, nor lord, nor subject, nor man, nor woman: but Christ is all; and each to other is Christ himself […] In the temporal regiment is husband, wife, father, mother, son, daughter, master, mistress, maid, manservant, lord, and subject. Now is every person a double person; and under both regiments“; vgl. WA 11, S. 249,24–35 (Von weltlicher Oberkeit, 1523); WA 32, S. 389,21–35 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 301  Vgl. Thompson, Regiments, S. 29: „He [d.i. Tyndale] starts from Luther’s teaching that there are two divine orders or regiments in the world, and the Christian belongs to each. In the spiritual regiment he is bound exclusively by the law of Christ. In the tempo­ ral regiment he has a place in society, and responsibilities to others“. 302  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 61: „in the worldly state, where thou art no private man, but a person in respect of other, thou not only mayest, but also must, and art bound under pain of damnation to execute thine office“.

392 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) der gottgegebenen Ordnung. Auch als Amtsträger bleibt ein Christenmensch aber beiden Reichen zugehörig und beiden Regimenten verpflichtet.303 Um seiner Leserschaft diese Zugehörigkeit zu beiden Bereichen anschau­ lich zu machen, bedient sich Tyndale verschiedener Konkretionen, darunter auch die Frage nach der Möglichkeit des Kriegsdienstes für Christen. Ihm zu­ folge gehört der Dienst an der Waffe zur Pflicht der Christen unter dem welt­ lichen Regiment.304 Er bleibt dabei jedoch zugleich Angehöriger des Reiches Christi und als solcher verpflichtet, auch im Kriegsgegner den Bruder zu se­ hen und sich innerlich jedes Hasses ihm gegenüber zu enthalten.305 Auch im Verhältnis zu seinem weltlichen Besitz muss der Christenmensch als Angehöriger des Reiches Christi in erster Linie seiner Dankbarkeit gegen­ über Gott Ausdruck verleihen, indem er dem Nächsten mit seinen Gaben dient. Als Untertan des weltlichen Regiments aber ist es ihm gestattet, sich dort, wo seine Freigiebigkeit ausgenutzt und missbraucht wird, an die zustän­ digen Gerichte zu wenden, um Schaden vom Gemeinwohl abzuwenden.306 303  Vgl. a.a.O., S. 62: „Even so, when thou art a temporal person, thou puttest not off the spiritual. Therefore must thou ever love; but when love will not help, thou must with love execute the office of the temporal person, or sin against God“; vgl. WA 32, S. 390,8–14 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Darnach ist ein ander frage, ob ein Christen denn auch muge ein weltlich man sein und des regiments odder rechts ampt und werck furen, also das die zwo personen odder zweyerley ampt auff einen menschen geraten und zugleich ein Christ und ein furst, richter, herr, knecht magd sey, welchs heissen eitel welt personen, denn sie gehoren zum weltlichen regiment. Da sagen wir ja, Denn Gott hat solchs weltlich regiment und unterscheid selbs geordnet und eingesetzt“. 304  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 62: „Take an example: thou art in thy father’s house among thy brethren and sisters. There if one fight with another, of if any do thee wrong, thou mayest not avenge not smite; for that pertaineth to thy father only. But if thy father give thee authority in his absence, and command thee to smite if they will not be ruled, now thou art another person“, oder a.a.O., S. 63: „if thy lord or prince send thee at warfare into another land; thou must obey at God’s commandment, and go, and avenge thy prince’s quarrel which thou knowest not but that it is right“; vgl. WA 32, S. 393,23–36 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532); vgl. auch WA 19, S. 629,2–9 (Ob Kriegsleute, 1526): „Denn freylich die Christen nicht streyten noch weltliche oeberkeit unter sich haben. Yhr regi­ ment ist ein geistlich regiment und sind nach dem geiste niemand denn Christo unter­ worffen. Aber dennoch sind sie mit leyb und gut der weltlichen oeberkeit unterworffen und schuldig gehorsam zu sein. Wenn sie nu von weltlicher oeberkeit zum streyt gefod­ dert werden, sollen sie und mussen streyten aus gehorsam, nicht als Christen sondern als gelieder und unterthenige gehorsam leute nach dem leybe und zeitlichem gut“. 305  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 63: „And when thou comest thither, remember what thou art in the first state with them against whom you must fight, how that they be thy brethren, and as deeply bought with Christ’s blood as thou, and for Christ’s sake be­ loved in thine heart“. 306  Vgl. a.a.O., S. 64: „In the first state or degree thou oughtest to be thankful to Christ, and to love, to give, and to lend to them that are bought with his precious blood, all that thou art able“; vgl. WA 32, S. 395,30–397,25 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532); vgl. Thompson, Regiments, S. 29. Auch Mt 5,42 (vom Borgen) und Mt 5,40 (vom Rechtsstreit) legt Tyndale (a.a.O., S. 68 ff) im Sinne der Zwei-Regimenten-Lehre aus.

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Besonders ausführlich geht Tyndale auf das Verhalten der Untertanen ge­ genüber einem ungerechten Herrscher ein. Er diskutiert das Argument, ein Herrscher, der vom Volk eingesetzt sei, könne auch durch dieses wieder abge­ setzt werden.307 Dagegen hält er klar an der Einsetzung der Herrschenden durch Gott fest. Selbst wenn diese mittels des Volkes geschieht, berechtigt das nicht zum Widerstand: „Gott ist der oberste, der sie auswählt und einsetzt, und darum muss er auch der oberste sein, der sie wieder absetzt“308. Die hier­ archische Ordnung der Welt ist für Tyndale gottgewollt und Gott die allei­ nige letzte Appellationsinstanz. Wer auch immer gegen diese Ordnung ver­ stößt, macht sich vor Gott (und dem Nächsten) schuldig. Die Predigt des Wortes im Reich der Welt  Dass ein Christenmensch zugleich Bürger beider Reiche ist und in einer doppelten Verantwortung gegenüber Christus einerseits und den weltlichen Obrigkeiten andererseits steht, hat Tyndale herausgestellt. Doch wie steht es mit dem Verhältnis der beiden Rei­ che zueinander? Zu dieser Frage finden sich Aussagen Tyndales dort, wo er sich mit der Frage nach dem Amt der Prediger des Wortes Gottes beschäf­ tigt. So legt Tyndale das Salzwort (Mt 5,13) und das Wort vom Licht (Mt 5,14 ff) als Aussagen Jesu zum Amt der „apostle and true preacher“309 aus und deutet sie im Sinne des allgemeinen Priestertums: Alle Getauften sind Prediger, nicht im öffentlichen Raum, denn hierzu bedarf es einer ordentlichen Beru­ fung durch die Gemeinde, jedoch in ihrem privaten Bereich, wo sie mit Got­ tes Wort sich und ihrem Nächsten dienen sollen. Dies geschieht für Tyndale zum ersten in Form eines vorbildlichen Lebens nach dem Gesetz, zum zwei­ ten durch die private Verkündigung im häuslichen Raum und schließlich durch religiöse Bildungsanstrengungen und das Studium des Wortes Got­ tes.310 Das Wort Jesu von Salz und Licht wird für Tyndale also Grundlage ei­  

307  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 65: „Thou wilt haply say: ‚The subjects ever choose the ruler, and make him swear to keep their law, and to maintain their privileges and li­ berties, and upon that submit their selves unto him: ergo, if he rule amiss, they are not bound to obey; but may resist him, and put him down again.‘“ Vgl. WA 19, S. 633,10–13 (Ob Kriegsleute, 1526): „Daruemb fragt sichs hie, obs auch billich konne sein, das ist, ob auch ein fal etwa sich muege zutragen, das man widder dis recht muege der oeberkeit un­ gehorsam sein und widder sie streyten, sie absetzen odder binden“; dazu auch Thompson, Regiments, S. 25 f. 308  Exposition Matthew, PS 2, S. 65: „God is the chief chooser and setter up of them: and so must he be the chief putter down of them again“. 309  A.a.O., S. 31. Auch Luther bezieht die Aussage Christi auf das „ampt“ aller Chris­ tenmenschen, vgl. WA 32, S. 343,4 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532). 310  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 36: „no man may yet be a common preacher, save he that is called and chosen thereto by the common ordinance of the congregation […] But every private man ought to be, in virtues living, both light and salt to his neighbour […] Moreover every man ought to preach in word and deed unto his household […] And

394 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) nes umfassenden Verständnisses des christlichen Lebens als „Leben mit der Schrift“, das getragen und gespeist wird aus der Quelle des selbständigen Stu­ diums der Bibel in der Muttersprache.311 Die Aufgabe jedes Predigers, ob im privaten oder öffentlichen Bereich, be­ steht nun darin zu „salzen“, d.h. Schärfe und Geschmack zu verleihen,312 bzw. das Licht Christi („the knowledge of Christ“313) überall anzuzünden. Dieser Verkündigungsauftrag ist für Tyndale umfassend und bezogen auf das Leben in beiden Reichen. Mit dem Salz der Predigt des Wortes Gottes sollen die Ungerechtigkeit der Welt und die vermeintliche Weisheit der mensch­ lichen Vernunft zurückgewiesen und die wahre Bedeutung von Gesetz und Glaube herausgestellt werden: „true preaching is salting; and all that is cor­ rupt must be salted“314. Dementsprechend folgt eine lange Liste der Miss­ stände, die eine solchermaßen „gesalzene“ Predigt verdient haben: Päpstliche Ablässe, Messe, Fasten, Pilgerfahrten, Idolatrie etc.315 Eine besondere Aufgabe im Bezug auf das Wort Gottes kommt den mit ei­ ner Herrschaftsfunktion betrauten Laien zu, denn für sie ist es nicht nur Richtschnur des eigenen Lebens, sondern auch Grundlage ihrer Herrschafts­ ausübung. „Dieses Licht und dieses Salz gehörte damals nicht nur den Aposteln, genauso wenig wie es heute unseren Bischöfen und der Geistlichkeit gehört. Nein, es gehört allen weltlichen Männern ebenso. Denn alle Könige und Herrscher sind verpflichtet, Salz und Licht zu sein, nicht nur als Beispiele der Lebensführung, sondern auch in der Lehre ihrer Untertanen, ebenso wie sie verpflichtet sind, die Übeltäter zu bestrafen“316. thou no man may preach openly, save he that hath the office committed unto him, yet ought every man to endeavour himself to be as well learned as the preacher […] And every man may privately inform his neighbour; yea, and the preacher and bishop too, if need be“. 311  Das Licht, das nicht unter den Scheffel gehört (Mt 5,15 f), bietet Tyndale Anlass für ein erneutes Plädoyer für die Verbreitung des Wortes Gottes in der Volkssprache, vgl. a.a.O., S. 35: „It is a madness that divers men say, ‚The lay people may not know it:’ except they can prove that the lay people be not of the world“. 312  Vgl. a.a.O., S. 31: „And the natur of salt is to bite, fret, and make smart“. 313  A.a.O., S. 34; vgl. die Rede von der „cognitio Christi“ bei Bucer, s.o. 6.3.2.2 314  A.a.O., S. 33; vgl. WA 32, S. 344,18–17 (Wochenpredigten Mt 5–7, 1532): „Nu wie das saltzen zugehe, ist leicht zuvorstehen, nemlich das man sol aufftreten und sagen: Alles was auff erden geboren ist und lebt, das ist kein nutz, faul und verderbt fur Gott […] so mus folgen, das alles was jnn der welt ist und fleisch odder mensch heisst, mus gestrafft und durchsaltzen werden, also das man aller welt heiligkeit, weisheit, Gottes dienst von jn selbs erfunden ausser Gottes wort verdamne, als das des Teuffels ist und jnn abgrund der helle gehoret, wo sich’s nicht an Christum allein helt“. Dabei ist sich Tyndale durchaus der Folgen einer solchen „gesalzenen“ Predigt für die Predigenden bewusst, wenn er festhält, Exposition Matthew, PS 2, S. 32: „True preaching is a salting that stirreth up persecution“; vgl. WA 32, S. 344,17 f: „Das ist denn ein unfreundliche predigt, machet uns der welt un­ geneme und verdienet, das man uns feind wird und uber das maul schlegt“. 315  Vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 32–34. 316  A.a.O., 35: „This light and salt pertained not then to the apostles , and now to our

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Die hier angesprochene Pflicht der Obrigkeiten zur Unterweisung ihrer Un­ tertanen („teaching of doctrine unto their subjects“) lässt sich als Verpflich­ tung zur Verbreitung einer volkssprachigen Bibel verstehen. Dass Tyndale darüber hinaus auch die Rechtsprechung an „Salz“ und „Licht“ des Wortes gebunden sieht, macht deutlich, dass er – wie schon in „Obedience“ – im Ge­ setz Gottes die Richtschnur für das Handeln der Herrschenden erkennt. Bei einer solchen Hochschätzung des Wortes drängt sich die Frage nach der Autorität der Schrift im Verhältnis zu der des weltlichen Regiments auf: Was steht für einen Christenmenschen höher – Schrift oder König? Tyndale beantwortet diese Frage mit einem klaren Vorrang der Schrift: „Das Evan­ge­lium bringt eine andere Freiheit mit sich als das weltliche Regiment. Ob­ wohl jedermans Leib und Gut dem König untersteht, ob er nun richtig oder falsch handelt, ist doch die Autorität des Wortes Gottes frei und steht über dem König“317.

Für den Christen hat das Wort Gottes eine jeder Obrigkeit übergeordnete Autorität. Dies berechtigt zwar nicht zum Umsturz und zum offenen gewalt­ samen Widerstand gegen die Obrigkeit, doch gehört es für Tyndale nun durchaus zur Pflicht eines Christenmenschen im Sinne von Apg 5,29, mit dem Wort Gottes auch den Obrigkeiten mahnend entgegenzutreten: „Der Schlimmste im Reich darf es dem König sagen, wenn er ihm Unrecht tut, dass er nichts [Rechtes] tut und anders handelt, als Gott ihm geboten hat. So warnt er ihn, den Zorn Gottes abzuwenden, welcher der geduldige Rächer aller Ungerechtigkeit ist. Dürfte und müsste ich dann nicht sogar, meinem Vater, meiner Mutter und aller welt­ lichen Gewalt widerstehen mit Gottes Wort, wann immer sie mir Unrecht tun oder mir etwas befehlen, das den Körper verletzt oder tötet? Und habe ich nicht Macht, dem Bischof oder Priester zu widerstehen, der mit falscher Lehre die Seelen tötet, für die mein Gebieter und Herr Christus sein Blut vergossen hat? Unterstehen wir denn den Bischöfen in einer anderen Weise als Christus, seine Apostel und die Propheten den Bischöfen des Alten Bundes unterstanden? Nein, wahrlich nicht, und darum dür­ fen und müssen wir tun, was sie taten und antworten, wie die Apostel taten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“318. bishops and spirituality only. No; it pertaineth to the temporal men also. For all kings and all rulers are bound to be salt and light, not only in example of living, but also in teaching of doctrine unto their subjects, as well as they be bound to punish evil doers“. 317  A.a.O., S. 36: „The gospel hath another freedom with her than the temporal regi­ ment. Though every man’s body and goods be under the king, do he right or wrong, yet is the authority of God’s word free, and above the king“. 318  A.a.O., S. 36 f: the worst in the realm may tell the king, if he do him wrong, that he doth naught, and otherwise than God hath commanded him; and so warn him to avoid the wrath of God, which is the patient avenger of all unrighteousness. May I then, and ought also, to resist father and mother and all temporal power with God’s word, when they wrongfully do or command that hurteth or killeth the body; and have I no power to resist the bishop or preacher, that with false doctrine slayeth the souls, for which my ­master and Lord Christ hath shed his blood? Be we otherwise under our bishops than Christ and his apostles and all the prophets were under the bishops of the old law? Nay,

396 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) Das Zitat enthüllt eine klare Akzentverschiebung gegenüber „Obedience“ in Tyndales Verständnis des Verhältnisses von Herrschern und Untertanen, in der sich seine eigenen Erfahrungen seit 1528 spiegeln. Wo Tyndale, wohl auch in der Hoffnung auf eine positive Reaktion seines Königs, in „Obe­ dience“ den Gehorsam und die Leidensbereitschaft der Untertanen des welt­ lichen Regiments hervorgehoben hatte, stellt er nun die Pflicht des Christen­ menschen zum Zeugnis für das Wort in den Vordergrund. Man könnte zuge­ spitzt formulieren: Wo der Herrscher offenkundig nicht empfänglich ist für die Wahrheit des Gotteswortes, müssen die Untertanen es umso lauter einfor­ dern und das Versagen der Obrigkeiten anprangern. Die rhetorischen Fragen, die Tyndale stellt, lesen sich daher auch als Rechtfertigung seiner unbeugsa­ men Freunde, die um des Wortes Gottes willen die von Bischöfen, Lordkanz­ ler und König bereiteten Scheiterhaufen bestiegen.

6.5  Theologische Einordnung 6.5.1  Die Bundestheologie als reife Soteriologie Tyndales 6.5.1.1  Zur Herkunft von Tyndales Bundesvorstellung Tyndales Bundestheologie, wie sie in den Schriften der Jahre 1531–1533, ins­ besondere in „Exposition Matthew“, vorliegt, stellt die fortgeschrittene Form seiner Soteriologie dar. In ihr verbinden sich alle wesentlichen Elemente, die Tyndales Werk von Beginn an prägen:319 Das unverdiente Geschenk des Glaubens an den Sünder, die Ermöglichung der Befolgung des Gesetzes und die Wertschätzung der Werke der Liebe zugunsten des Nächsten sind in der Bundesfigur aufeinander bezogen. Sie prägt auch die übrigen, z.T. erst post­ hum erschienenen Werke jener Jahre und die Bibelvorreden von 1534.320 Wie dargestellt, entwickelt sich Tyndales Bundesvorstellung in mehreren Schritten. Anfangs stellt das „testament“ für ihn nur eine zusätzliche Meta­ pher für die Gott-Mensch-Relation neben anderen dar.321 Im „appointment“, wie es schon im Glossar zur Genesis und stärker noch in der „Exposition St John“ verstanden wird,322 zeigen sich aber schon die wesentlichen Kompo­ verily: and therefore may we, and also ought to do as they did, and to answer as the apost­ les did, Oportet magis obedire Deo quam hominibus“. 319  Vgl. Trueman, Legacy, S. 118: „Tyndale’s covenant theology emerges late in his career, but it pulls together various theological strands that have been present in his think­ ing from the late 1520s“. 320  S.o. 4.3.2.2; S.u. 7.4–7.6. 321  Vgl. Mammon, PS 1, S. 105: „a testament between him and us, wherein is contained both what he would have us to do, and what he would have us to ask of him“; s.o. 3.2.9.2. 322  S.o. 4.3.2.3; 6.3.3.3.

6.5  Theologische Einordnung

397

nenten eines wechselseitig verbindlichen Verhältnisses, das auf Gottes Initia­ tive hin konstituiert wird. In „Exposition Matthew“ schließlich liegt die aus­ formulierte, wenn auch nicht systematisch geordnete, Bundestheologie vor, die den „covenant“ als maßgebliche Beschreibung des Verhältnisses Gottes zu den Glaubenden begreift. Woher stammt diese theologische Denkfigur? Diese Frage lässt sich nicht mit Eindeutigkeit beantworten, da Tyndale selbst an keiner Stelle darüber Auskunft gibt, wer oder was ihn beeinflusst haben könnte.323 Verschiedene Möglichkeiten kommen in Betracht. So könnte Tyndale schlicht im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Alten Testament – er übersetzte in diesen Jah­ ren die alttestamentlichen Geschichtsbücher und revidierte seine Genesis­ übertragung – mit dem „Bund“ in Berührung gekommen sein und darin eine geeignete Beschreibung seiner soteriologischen Überzeugungen gefunden haben.324 Darüber hinaus ist es jedoch nach dem Urteil der meisten Forscher wahr­ scheinlich, dass Tyndale Anregungen aus Schriften oberdeutscher und schwei­ zerischer Reformatoren übernommen hat.325 Zwingli hatte die Bundesfigur erstmals in seiner Verteidigung der Kindertaufe in der Auseinandersetzung mit den Täufern eingeführt.326 Sein Nachfolger in Zürich, Heinrich Bullin­ ger (1504–1575), machte den Bund von seinen Schriften des Jahres 1525 an 323  Vgl. Strehle, S. 323: „Although the exact relationship between his doctrine and that of Continental theology is indeed obscure, there is to be noted a certain affinity“. 324  Trueman, Legacy, S. 118, Anm. 120, hält es für möglich, dass Tyndale seine Bun­ destheologie vom Hintergrund seiner humanistischen Prägung her entwickelte. 325  Vgl. Clebsch, S. 196.199; Thompson, Regiments, S. 32 f; Trueman, Legacy, S. 117 f; Trinterud, Reappraisal, S. 38 f; Møller, S. 51: „In order to emphasise the reson­ sibility of the Christian Tyndale begins to make use of the covenant. And it is here that we find him developing a theology which is no longer Lutheran, but clearly in the line of the Zürich theology, although it is not possible to point to any explicit relation between Tyn­ dale and Zürich“. Trinterud, Reappraisal, S. 39, fasst zusammen: „Tyndale had learned more from Basel than from Wittenberg“. Zur Entwicklung der Bundestheologie bei den oberdeutschen und schweizerischen Theologen, vgl. Klempa, S. 96–99; Møller, S. 47 f. Eine Forschungsübersicht zur Föderaltheologie des 16. und 17. Jh. bietet Weir, S. 1–50. 326  Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 155,22–172,5, vgl. hier besonders a.a.O., S. 179,1–5: „Ecce, ut fide istorum solummodo electorum aut repudiatorum sive salutem sive naufragium deprehendimus, qui iam eo adoleverunt, ut fidem, electionis fructum, de eis expectemus. Unde infantes ex his natos, qui in foedere populoque dei sunt, ad fidei normam Lydiumque lapidem exigere non debemus“. Anders als Tyndale, der in „Exposition Matthew“ meist darauf verzichtet, bringt Zwingli Bund und Erwählung stets in einen inhaltlichen Zusammenhang; vgl. auch Ders., Auslegung und Begründung der Schlussreden (1523), Z II (CR 88), S. 131,5–12: „Testamentum, pactum und foedus wirdt in der geschrift offt für einandren gebrucht, doch würt testamentum aller meist gebruchet […]und heißt ein erbgmächt; wird aber ouch gebrucht für ein pundt oder verstand […] Der gstalt man spricht: das alt oder das nüw testament, das ist: der pundt, verstand und pflicht, die got mit den alten vätteren getroffen hat oder mit der gant­ zen welt durch Christum“; vgl. Strehle, S. 113–132.

398 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) zur maßgeblichen Kategorie der „Grundsituation des Menschen vor Gott überhaupt“327. Trinterud hat in seinem (sonst durchaus zu kritisierenden) Aufsatz zu den Wurzeln des Puritanismus mögliche andere Quellen genannt, aus denen Tyn­ dale über die Bundesthematik hätte lernen können.328 Wie auch Clebsch,329 vermutet er vor allem in den Schriften des Basler Reformators Johannes Oekolampad (1482–1531) Vorlagen für Tyndale.330 Oekolampad veröffent­ lichte bereits 1525 seinen Jesajakommentar, gefolgt 1527 vom Kommentar zu den „kleinen Propheten“ Haggai, Sacharja und Maleachi. In beiden Werken werden bundestheologische Figuren entwickelt, um das Verhältnis von Mensch und Gott im Zusammenhang mit dem Gesetz der Liebe zu bestim­ men.331 Darüber hinaus hätten auch die Schriften Wolfgang Capitos (1478–1541) eine reiche Quelle für Tyndales bundestheologisches Denken sein können, beispielsweise die Kommentare zu Habakuk und Hosea von 1526 bzw. 1528.332 Auch bei Martin Bucer taucht der Bundesgedanke auf, wenn auch nicht als maßgebliches Motiv.333 Schließlich sollte in diesem Zu­ sammenhang nicht vergessen werden, dass es auch bei Luther bundestheolo­ gische Aussagen gibt, freilich nicht mit der Prominenz eines grundlegenden theologischen Deutungsschemas.334 327  Opitz, S. 340. Zur Entdeckung des Bundesbegriffs bei Bullinger vgl. a.a.O., S. 317–335; Strehle, S. 134–149. 328  Vgl. Trinterud, Puritanism, S. 41; zur Kritik an Trinterud, vgl. Weir, S. 26 f. 329  Vgl. Clebsch, S. 199. 330  Daneben nennt Trinterud, Puritanism, S. 41, auch die Schrift „De operibus Dei“ (1527) des Zwingli-Anhängers und Augsburger Predigers Michael Cellarius (ca. 1490–1548); vgl. dazu auch Heimbucher, S. 317–337. 331  Vgl. Trinterud, Puritanism, S. 41; vgl. auch Staehelin, S. 206.405 f. 332  Vgl. Heimbucher, S. 149–182 bzw. S. 217–283. 333  Bei Bucer findet sich die Rede vom „Bund“ im Zusammenhang mit der Kinder­ taufe bzw. im Kontext erwählungtheologischer Aussagen, vgl. Bucer, Enarratio Iohannis (1528), BOL 2, S. 77,84 f.144.269; vgl. a.a.O., S. 81 f: „Ii dicunt quod Deus eo quod infan­ tes ad Ebraeos quomodolibet pertinentes recipi per circuncisionem in suum foedus volue­ rit [cf. Gen 17,12], significarit et portenderit omnes electos et spirituales pueros in foedus suum admittendos, circuncisos Spiritu quia unica sit divini foederis tessera“; dazu auch Hammann, S. 111 ff.171–175. 334  Schon Heiko A. Oberman hat 1967 in seiner Tübinger Antrittsvorlesung auf Bund und Gnade in Luthers früher Theologie hingewiesen (vgl. besonders Oberman, S. 242–252). Luther beschreibt z.B. auch im „Anti-Latomus“ zwei „Festungen“ („firma­ menta“) Gottes für die Glaubenden: den Gnadenstuhl Christi („Christum propitiato­ rium“) als die eigentliche Versicherung und als zweite (schwächere) Sicherheit des Ver­ sprechens der Glaubenden, nicht mehr zu sündigen, vgl. WA 8, S. 114,30 ff (Rationis Lato­ mianae confutatio, 1521). (Kursivierung von mir): „Alterum est, quod dono accepto non ambulant secundum carnem, nec obediunt peccato, sed prius illud principale et robustis­ simum est, licet et alterum sit aliquid, sed in virtute prioris. Quia pepigit deus pactum iis, qui sunt hoc modo in Christo, ut si pugnent contra seipsos et peccatum suum, nihil sit damnationis“. Mc­ Goldrick, S. 132 f, versucht allein aufgrund dieser Stelle die Bundestheologie Tyndales aus Luthers Theologie abzuleiten. Dies ist sicherlich eine übertriebene Schlussfolgerung.

6.5  Theologische Einordnung

399

Insgesamt lässt sich keine direkte literarische Abhängigkeit Tyndales nachweisen,335 es kann jedoch m.E. davon ausgegangen werden, dass er in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch als „covenant“ Impulse aus den Werken der oberdeutschen und schweizerischen Reformatoren er­ hielt.336 Das Bundesmotiv war hier gängiges Interpretament und wartete ge­ wissermaßen nur darauf, als Summierung der reformatorischen Lehre in Ge­ stalt einer Bundestheologie entdeckt zu werden. Tyndales, wie auch später Bullingers Föderaltheologie, lassen sich durchaus als logische Konsequenz ei­ ner im „reformierten“ Denken angelegten Tendenz verstehen. 6.5.1.2  Tyndales Bundestheologie – Intention und Umsetzung Auch wenn die Frage nach dem „woher“ der Bundestheologie Tyndales nicht eindeutig zu klären ist, lässt sich doch klar erkennen, warum Tyndale in sei­ ner späten Theologie zur Figur des Bundes gefunden hat. Der „covenant“ verbindet für ihn nicht nur Gott und Mensch als (ungleiche) Bundespartner, sondern erlaubt auch die inhaltliche Qualifizierung ihres Verhältnisses als wechselseitig verbindlich: Wo Gott den sündigen Menschen seiner Gnade versichert und ihm den Glauben schenkt, wird der Mensch umgekehrt fähig, Gottes Gesetz einzuhalten und in der Liebe zu Gott und zum Nächsten zu verwirklichen. Beide Aspekte des Bundesverhältnisses, die Gnadenzusage Gottes und das menschliche Verhalten, sind für Tyndale also zunächst kausal aufeinander bezogen. Die Eröffnung und Ermöglichung des Bundesverhält­ nisses durch Gott sind die Ursachen, die sich auf den Status der Glaubenden und ihren Lebenswandel auswirken. Die zentrale Kategorie, in der dieses Verhältnis begriffen werden kann, wird von Tyndale mit „trust“ (Vertrauen, fiducia) bezeichnet. Die Verbindung von Gott und Mensch ist für ihn ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis, in dem die Verlässlichkeit der Zusage Gottes mit der – aufgrund der noch im­ Luther mag gelegentlich zwar auch mit der Figur des Bundes gearbeitet haben (vgl. z.B. WA 6, S. 513,34–514,10, De captivitate babylonica ecclesiae, 1520), eine zentrale Rolle für seine Rechtfertigungslehre spielt der Bund als wechselseitige Verpflichtung Gottes und der Glaubenden jedoch nicht (vgl. dazu auch Trueman, Legacy, S. 117, Anm. 118). Insge­ samt wird man mit Bezug auf Luther wohl Thompson Recht geben müssen: „Certainly there is a sense in which Tyndale’s emphasis in his later writings on the idea of the co­ venant is non-Lutheran: it may reflect his increasing preoccupation with the old testa­ ment in his work as a translator as well as the influence of the Rhineland reformers. But it is dangerous to read too much much into Tyndale’s emphasis on the law, or to argue that it marks a pronounced departure from Luther“ (Thompson, Regiments, S. 30). 335  Trinterud, Puritanism, S. 42 f, behauptet zwar: „Tyndale and Frith both refer to Oecolampadius“, liefert aber leider keine entsprechenden Textstellen. 336  Vgl. Thompson, Regiments, S. 32 f: „While we not know what works of such theo­ logians as Bucer, Zwingli, or Oecolampadius he read – if we did, it might tell us a great deal – there is no reason to suppose that he was not familiar with some of these writ­ ings“.

400 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) mer wirksamen Macht der Sünde – eingeschränkten, aber kraft des Geistes ausgesprochenen Zustimmung des Menschen korrespondiert. Auf die Ver­ bindlichkeit dieses Verhältnisses kommt es Tyndale an, weil sie die Glauben­ den einerseits des göttlichen Beistands und andererseits ihres eigenes Er­ wähltseins versichert, das Ausdruck findet in der ethischen Hinwendung zum Nächsten.337 McGiffert hat m.E. zurecht darauf hingewiesen, dass Tyndale dieses auf Vertrauen beruhende Gottesverhältnis einer Leserschaft darlegt, die von ei­ ner tiefen Vertrauenskrise erschüttert war.338 Für die englischen Anhänger der Reformation war ein Vertrauen in die gottgewollte Obrigkeit in Gestalt ihres Königs nur unter größter Selbstverleugnung möglich.339 Wenn Tyndale daher die Güte und Zuwendung Gottes mithilfe des Bundesgedankens si­ cherstellen möchte, geschieht dies kontrafaktisch zur Situation der Evangeli­ schen in England, indem Tyndale ihnen versichert: Im Gegensatz zum König ist Gott verlässlich und seine Zusage an die Erwählten unerschütterlich. Neben diesem Zuspruch bedurfte die Gemeinde in England aber auch ei­ nes Ansporns, inmitten der Verfolgung ihr reformatorisches Christsein den­ noch zu leben. Allein die göttlichen Gnadenzusage erschien Tyndale hier offensichtlich nicht als ausreichendes Movens. Erst durch eine wechselseitige Verpflichtung, in der vom Menschen eine „antwortende“ Existenz unter dem Zeichen der von Gott geschenkten Befähigung zur Liebe erwartet wurde, meinte er, diese motivierende Wirkung erzielen zu können. Zu­ gleich konnten die Liebeswerke als sichtbare Zeichen für die eigene Erwäh­ lung der Glaubenden gedeutet werden. Bestätigung und Zuversicht in der Verfolgungssituation waren dadurch nicht länger abhängig von der offi­ ziellen Kirche, sondern konnten auch individuell erfahren werden.340 Tyn­ dales Bundestheologie ist also ihrer Intention nach eine Bündelung seiner Soteriologie in einer reziproken Figur, die seiner Leserschaft auf einpräg­ 337 

Vgl. McGiffert, S. 170 f: „the principle of justification by faith translated for Tyn­ dale into justification by trust; covenant, for him, not only guaranteed God’s fidelity but enabled man’s responsive faithfulness“. 338  Vgl. a.a.O., S. 169; „The idea had special appeal for him because it offered to solve the problem of the trustworthiness of power. Covenant became, for Tyndale,the guaran­ tee of God’s reliability and thus the ground of his community with the elect. Tyndale could imagine the Supreme Power quite otherwise – capricious, lawless Sovereign“. 339  Dies erklärt auch Tyndales radikalere Fassung der Zwei-Regimenten-Lehre, s.u. 6.5.2.2. 340  Vgl. McGiffert, S. 175: „Conditionality thus was crucial to the practice of piety: by the conditions of the covenant God secured the tribute of trust from the elect. Conse­ quently, the promissory if/then was, at the deepest level, spiritually affiliative. It represent­ed not a contractual transaction, not a bargain over salvation, not a quid pro quo of any kind, but a way of articulating the mutuality of God and man in a communion of commitment. Piety not legality, supplies the key“.

6.5  Theologische Einordnung

401

same Weise ihres Status vor Gott versichern und sie in ihrer christlichen Existenz bestärken konnte.341 Das von Tyndale in die Bundesbeziehung eingetragene konditionale Mo­ ment soll die Verbindlichkeit noch unterstreichen und die Motivation für die Glaubenden zusätzlich verstärken. Dies ist theologisch problematisch, weil die von Tyndale primär kausal verstandene Bundesrelation – weil Gott seine Verheißungen in Christus wahr macht und dem Menschen zuteil werden lässt, darum kann der Glaubende das Gesetz in Liebe erfüllen – so teilweise vom konditionalen Aspekt überlagert wird. Man wird jedoch nicht davon sprechen können, Tyndale lehre eine Gott-Mensch-Relation, in der das Zu­ standekommen des Bundes von der ethischen Vollkommenheit des Menschen abhängt.342 Aus dem Kontext der konditionalen Aussagen wird stets deutlich, dass der Bundesschluss auf Gottes Intiative beruht („first-covenant-making“) und die Verpflichtung zum Tun des Gebotenen lediglich bezogen ist auf die Glaubenden, die schon im Bund sind.343 Allerdings drängt sich die Frage auf, ob nicht die Erfüllung der Bundesver­ heißung, also die Gabe der Seligkeit, für ihn am Ende doch an der in der Liebe möglichen Befolgung des Gesetzes hängt?344 Tyndale äußert sich dazu nur beiläufig und ist stets mehr am Eintritt in die Bundesbeziehung und an der Existenz im Bund interessiert als am Zielpunkt. Er rechnet jedoch fest damit, dass die Glaubenden in ihrem Streben nach der Erfüllung des Gesetzes, das ihnen zum eigenen inneren Verlangen geworden ist, unaufhörlich voran­ schreiten („we wax perfecter“). Dabei sind zwar auch Rückschläge möglich, insgesamt jedoch erkennt Tyndale ein stetiges Wachstum in der Liebe.345 Die­ ses ist möglich, weil der Geist den Erwählten aufhilft und sie auf dem Weg der renovatio voranschreiten lässt. Insofern Gottes Geist also selbst Subjekt der Heiligung ist, hängt die Erfüllung der Bundesverheißung durch Gott für Tyndale m.E. nicht vom Gelingen der ethischen Erneuerung des Menschen ab. Gott erfüllt seine Verheißungen zwar erst am Ende des Prozesses der reno­ 341  342  343 

Vgl. Trueman, Legacy, S. 117. So Clebsch, S. 181–185. Vgl. Trueman, Legacy, S. 116: „The covenant concept does not introduce the idea of works as a condition of salvation; rather, it provides a convenient framework within which to underline this ethical imperative: it is to make the sons of God obedient rather than the obedient into the sons of God“. 344  Den Hinweis auf diese wichtige Anschlussfrage verdanke ich Berndt Hamm. Vgl. dazu auch Leininger, S. 70: „At times Tyndale’s mature writings become legalistic, giv­ ing the impression that God regards the believer as righteous so long as he strives to fulfil the law“. 345  Vgl. Prologue Hebrews, PS 1, S. 523: „Let every man therefore fear God, and beware that he yield not himself to serve sin; but how oft soever he sin, let him begin again, and fight afresh, and no doubt he shall at the last overcome, and in the meantime yet be under mercy for Christ’s sake, because his heart worketh, and would fain be lossed from under the bondage of sin“; s.u. 7.4.3.1; 7.4.4.2.

402 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) vatio, macht sie aber nicht davon abhängig, sondern allein von der Annahme der von ihm ermöglichten Bundesbeziehung im Glauben. Insbesondere die Metaphorik, derer sich Tyndale bedient, um das Bundes­ geschehen zu veranschaulichen, lässt keinen Zweifel daran, dass die Kondi­ tionalität seiner Intention nach ihren Grund in der Kausalität des Bundesver­ hältnisses hat. Die Familie ist seine „master metaphor“346, mit deren Hilfe er die Bundesbeziehung als ein Liebesverhältnis begreift, in dem menschliches Verhalten ein Akt der selbstverständlich antwortenden Liebe ist.347 Trueman stellt zu Recht fest: „In fact, an examination of Tyndale’s covenant doctrine shows that he does regard God’s action as dependent in some sense upon man’s work, but that this takes place within a familial, not a commercial, frame­ work“348. 6.5.2  Tyndales Bundesethik 6.5.2.1  Das Gesetz der Liebe Hatte Tyndale Rechtfertigung und Heiligung schon von Beginn seines Wer­ kes an als organische Einheit gesehen (das Bild vom Baum und seinen Früch­ ten kann hier als die grundlegende Metapher verstanden werden), so findet dieser Konnex nun Eingang in seine Bundesvorstellung. Die Ethik ist im Rahmen des „covenant“ als Bundesverpflichtung des Menschen zu betrach­ ten: Die im Glaubenden wirksame Liebe erfüllt das Gesetz Gottes, dessen Kern Tyndale ebenfalls als Gottes- und Nächstenliebe definiert. Diesem Verständnis der sanctificatio als Heiligung in und durch die Liebe liegt die Vorstellung des Rechtfertigungsprozesses als Verwandlung des Men­ schen zugrunde. Der Mensch, der, obwohl noch immer Sünder, durch Gottes Gnade um Christi willen schon jetzt im status gratiae ist und noch mehr in die­ sen hineinwächst, ist zur Befolgung des Gesetzes befähigt. Tyndale fasst die­ sen Prozess, insbesondere in „Exposition St John“, als ein Geschehen auf, in welchem dem Glaubenden die Liebe zum Gesetz ins Herz gegeben wird. Das Gesetz kann von ihm nun gemäß seiner eigentlichen Intention wahrgenom­ men werden als „law of love“, das Tyndale in vielfältiger Gestalt, etwa in den Zehn Geboten oder den Imperativen der Bergpredigt wiederfindet.349 Die Werke, die aus dem Tun des Gesetzes hervorgehen, sind daher keine opera ­legis, sondern opera gratiae in Gestalt von Gesetzeswerken.350 Als sichtbare Zei­ 346  347 

McGiffert, S. 177. Vgl. a.a.O., S. 178 f: „the familial imaginery gave him a perfect similitude for a co­ venantal relationship bonded not by law but by love“. 348  Trueman, Legacy, S. 113. 349  S.o. 6.2.3.2 ; 6.4.4.1. 350  Vgl. McGiffert, S. 176.

6.5  Theologische Einordnung

403

chen der an ihm geschehenen Verwandlung bezeugen die Werke dem Glau­ benden das Handeln Gottes an ihm und damit seine eigene Erwählung. Dieses Verständnis der Rechtfertigung und Heiligung des Menschen als Befähigung zum Tun des Gebotenen entspricht der augustinischen Lehre,351 wie sie zwar auch beim frühen Luther, insbesondere aber bei Bucer zu finden ist. Thompson hält daher zutreffend fest: „Where Tyndale differs from Luther is in his constant insistence on the Christian’s ‚fulfilling the law’. But he does not imply he is saved by so doing. […] It is also Bucerian, as in Bucer’s Das yin [sic!] selbs niemant sondern andern leben soll (1523). It is possible that Tyndale’s em­ phasis may reflect his reading of Bucer. But it would be wrong to posit a sharp or clear-cut distinction between Bucer and Luther on this topic“352. 6.5.2.2  Die Wiederaufnahme der Zwei-Regimenten-Lehre „What is present in Tyndale, and marks him out from most other English six­ teenth-century protestants, is a clear understanding of Luther’s doctrine of the two regiments and the Christian’s two callings, which he uses to great ef­ fect in the Exposition of Matthew“353. – Diese Einschätzung Cargill Thomp­ sons fasst das Wesentliche der – nach „Obedience“ und „Prelates“354 – dritten Rezeption der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers durch Tyndale zusammen. In der Tat zeigen sich, was die entscheidenden Züge der Verhältnisbestim­ mung der beiden Reiche betrifft, auf den ersten Blick keine großen Dissonan­ zen zwischen Tyndale und Luther.355 Ihre Einbeziehung in die „Bundes­ ethik“ von „Exposition Matthew“ gibt der Zwei-Reiche-Idee bei Tyndale freilich einen anderen Kontext, insofern sich für ihn die Bundesverpflichtung des Christenmenschen auch in der Liebe zu Gottes Ordnung der Welt in zwei Regimenten zeigt. Indem Tyndale, wie schon in „Obedience“, Luthers Lehre auf die spezifi­ sche Situation in England anwendet, zeigen sich auch Akzentverschiebungen, die Frage des Widerstands gegen die Obrigkeit betreffend.356 Offensichtlich 351 

Vgl. Seeberg, S. 529–534, besonders S. 532 f: „Die Formel des Paulus von der Rechtfertigung hat Augustin oft wiederholt. Aber er interpretiert sie etwa dahin, daß wir die Überzeugung erlangen, daß uns die Gerechtigkeit von Gott, ohne vorhergehende Werke, gegeben werde, oder daß der Glaube rechtfertige, sofern er den Anfang bildet in dem Prozeß der allmählichen Heiligung oder Rechtfertigung durch den göttlichen Geist“. 352  Thompson, Regiments, S. 32; zum Augustinismus bei Bucer vgl. auch Trinterud, Puritanism, S. 40 f. 353  Thompson, Regiments, S. 22 f. 354  S.o. 3.4.3.1; 5.4.3. 355  Vgl. a.a.O., S. 28: „In few parts of the work is the dept to Luther closer than in Tyndale’s treatment of the Christian and government in Matthew V, VI, VII where he takes over and expounds Luther’s teaching“. 356  Diese sind jedoch nicht richtig wiedergegeben, wenn man wie Trinterud, Reap­ praisal, S. 37 ff, Luther als „ultra-institutionalist“ (S. 38), Tyndale dagegen als „non-institu­

404 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) enttäuscht vom Verhalten seines Monarchen, gesteht Tyndale den Unterta­ nen zu, den König an seine Verpflichtung gegenüber dem Wort Gottes zu er­ innern, und dies sogar durch passiven Widerstand. Mit dieser Zulassung des Protestes gegen die Obrigkeit auf Grundlage der Schrift bleibt er freilich auf dem Boden dessen, was auch Luther an Optionen einräumt.357 Tyndales Ap­ pell klingt jedoch aufgrund seines direkten Kontaktes mit seinen um ihres Glaubens willen verfolgten Landsleuten weit weniger theoretisch. Aus der spezifischen Situation in England erklärt sich auch, dass Tyndale – anders als noch in „Obedience“ – die Rolle der Geistlichkeit in „Exposition Matthew“ nicht mehr großartig behandelt. Kirchenvertreter tauchen nur noch als Ob­ jekte seiner verbalen Angriffe auf. Stattdessen macht Tyndale das Priestertum aller Getauften stark und betont die Position der vollmächtigen Ausleger des Wortes Gottes, zu denen er sich selbst rechnet. Ihr Amt ist das der alttesta­ mentlichen Propheten, die dazu berufen sind, die Obrigkeiten an den ver­ bindlichen Willen Gottes zu erinnern.358 Exkurs: Tyndale als theologischer Ahnherr des Puritanismus? Im Rahmen der Bundestheologie ist auf die Forschungspositionen einzuge­ hen, die Tyndale als theologischen Ahnherrn des englischen Puritanismus wahrnehmen.359 Hier ist insbesondere Clebsch zu nennen,360 aber auch Ohst sieht eine ungebrochene Traditionslinie zwischen Lollarden, Tyndale und Pu­ ritanern.361 Tatsächlich finden sich insbesondere in Tyndales Beschreibungen tionalist“ (ebd.) bezeichnet. Welche Institution hätte Tyndale in seiner Aufnahme der Zwei-Regimenten-Lehre denn auch konkret stark machen sollen? 357  Vgl. Bayer, S. 288: „Er [d.i. Luther] kommt zu dem Ergebnis, dass die staatliche Gewalt zwar Anspruch auf Gehorsam hat, jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze […] Die Mach der Fürsten und weltlichen Herrscher erstreckt sich nur auf das leibliche Leben. Über den Glauben und dessen Grund, das Wort Gottes, hat sie hingegen keine Gewalt. Daraus folgt für Luther das Recht auf passiven Widerstand in Form öffentlichen Pro­ tests“; vgl. auch Althaus, Ethik, S. 134 ff. 358  Vgl. Almasy, Prelates, S. 1–3.9 f. 359  Als Schimpfwort erstmals in den 1560er Jahren als Bezeichnung für diejenigen ge­ braucht, die das „Elizabethan Settlement“ als nicht weit genug gehende Reformation an­ sahen; vgl. Coffey, Sp. 1833. 360  Vgl. Clebsch, S. 203: „Tyndale gave to Puritanism its first English theological ex­ pression. He founded the theology upon which seventeenth- and eighteenth-century English-speaking Calvinists built Bible commonwealths in Cromwell’s England and in the New England of the Mathers“. Diese Bewertung Clebschs lässt bereits fragen, ob sein Puritanismusbegriff, dessen erster englischer Ausdruck (welcher sonst?) Tyndales Theolo­ gie sein soll, nicht eher gleichbedeutend ist mit den von ihm inhaltlich pauschal abgelehn­ ten nicht-lutherischen reformatorischen Positionen überhaupt. 361  Vgl. Ohst, Tyndale, S. 155: „Ihre konkreten Leitbilder und Formulierungen haben die frühen Puritaner aus der Schweiz bezogen. Aber das waren Waffen in einem Kampf, dessen Frontstellungen schon deutlich vorgebildet waren, bevor die späteren Protagonis­ ten des Puritanismus auf den Kontinent hatten weichen müssen. Sie liegen schon vor im

6.5  Theologische Einordnung

405

des Lebens der Glaubenden mit dem Gesetz Motive, die „puritanisch“ anmu­ ten, etwa wenn er die Nüchternheit des Lebensstils anmahnt und den Verzicht auf alles fordert, was zur Verführung des Fleisches beitragen könnte.362 Es ist auch nicht auszuschließen, dass Tyndale damit in England men­talitätsstiftend gewirkt hat und so Einfluss auf die Bewegung innerhalb der Kirche von Eng­ land genommen hat, die fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod als „Puri­ taner“ beschimpft wurden. Eine zwingend logische Folge, wie Ohst sie for­ muliert, gibt jedoch m.E. der historische Befund nicht her, selbst wenn man zugestände, dass die theologische Bewertung Tyndales mit den Stichwor­ ten „rigoroser Biblizismus“ und „Einschärfung der alleinigen Herrschaft der weltlichen Obrigkeit“ zutreffend wäre, was m.E. nicht der Fall ist.363 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Tyndales Traktate ab den 1570er Jahren, also in der Hoch-Zeit des Puritanismus, nicht mehr neu aufgelegt wurden,364 was bei einer wichtigen Referenzgröße der Puritaner höchst ungewöhnlich wäre. Schlüssiger erklären sich m.E. die in­ haltlichen Übereinstimmungen zwischen Tyndale und den puritanischen Theologen der elisabethanischen Zeit daher aus der Tatsache, dass sie alle den Einflüssen der oberdeutschen und schweizerischen Theologie ausgesetzt wa­ ren.365 Tyndales Soteriologie liegt – wie gesehen – in vielen Punkten auf der Linie Martin Bucers, also des Mannes, der im englischen Exil 1549–51 maß­ geblichen Einfluss auf die von Eduard VI. geförderten englischen Theologen ausübte.366 Viele von diesen, die unter Maria I. Tudor ins Exil nach Genf gin­ problematischen Zwieklang von rigorosem Biblizismus und ebenso strikter Einschärfung der alleinigen Herrschaft der weltlichen Obrigkeit, wie in Wyclifs Gefolge die Lollarden ihn vertreten hatten und wie er dann bei Tyndale im Konnex mit der reformatorischen Botschaft wiederkehrte“. 362  Vgl. z.B. Exposition Matthew, PS 2, S. 94; s.o. 6.4.4.2. 363  Die Betonung der königlichen Herrschaftsposition macht eine Rezeption Tynda­ les durch die Puritaner fraglich. Warum sollten ausgerechnet diejenigen, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen Kritik an der Staatskirche Elisabeths I. übten, eine solche Lehre für sich übernehmen? 364  McGiffert, S. 181, spricht vom „short life of his tracts“; vgl. zur Wirkungsge­ schichte der Schriften Tyndales auch a.a.O., S. 181–184. 365  Vgl. Møller, S. 54: „Naturally enough there is not much evidence of English co­ venant theology in the period which precedes the Elizabethan Settlement. It is, on the other hand, obvious that many a young Englishman must have been deeply impressed by the forceful covenant teaching he found in the works under Tyndale’s own name or in Matthew’s bible. Moreover as Tyndale himself apparently had been influenced by some sort of Zürich theology, so the influence of Bullinger made itself felt in England“. Zur Frage nach dem Eindruck der Werke Tyndales auf die „young Englishmen“ vgl. auch McGiffert, S. 181. 366  Vgl. Trinterud, Puritanism, S. 44: „While the covenant theology made some head­way, therefore, during the reign of Henry VIII, it was during the brief, but exceed­ ingly important reign of Edward VI that the covenant scheme became fixed in English theology“. Zum Einfluss der oberdeutschen Reformatoren in England insgesamt vgl. ­Elton, Oberdeutsche Reformation, S. 6–11.

406 Kapitel 6:  Gottes Bund mit den Glaubenden – Hermeneutische Schriften (1531–1533) gen, kehrten nach dem Regierungsantritt Elisabeths I. beeinflusst von Calvin und Beza in die Heimat zurück.367 Ihr Aufeinandertreffen mit dem konserva­ tiven kirchlichen „Establishment“ war der eigentliche Nährboden für die pu­ ritanische Bewegung.368

367  Vgl. Greaves, S. 28 f. Thiede, S. 298, weist darauf hin, dass die bei den „Rück­ kehrern“ in Gebrauch befindliche „Geneva Bible“ sogar eine Konkurrenz zu Tyndales Übersetzungen darstellte. 368  Auch Trinterud und Møller, die beide einen Einfluss Tyndales auf den Puritanis­ mus annehmen, gestehen zu, dass die Beeinflussung durch die „Rhineland leaders“ in England (Trinterud, Puritanism, S. 44) bzw. durch die Exulanten auf dem Kontinent (Møller, S. 56) ungleich größer war.

407

Kapitel 7

„Lord, open the king of England’s eyes“ – Letzte, nachgelassene Werke und Martyrium (1534–1536) 7.1  Biographische Hinführung 7.1.1  Tyndales Leben im „English House“ Tyndales letzte Lebensjahre in Freiheit waren – wie seine Anfangsjahre auf dem europäischen Festland – bestimmt von der Arbeit an der Bibelüberset­ zung. 1534 erschien zunächst eine revidierte Übertragung der Genesis,1 ge­ folgt von der umfangreichen zweiten Auflage des „New Testament“, der 1535 eine dritte folgte.2 Daneben dürfte sich Tyndale auch der Übersetzung der alttestamentlichen Geschichtsbücher gewidmet haben, die in seinem Nachlass gefunden wurden.3 Zu den hinterlassenen Texten, die erst nach Tyndales Ge­ fangennahme veröffentlicht wurden, zählen auch die Schriften „The Testa­ ment of William Tracy Expounded“ (1535) und „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548), die – neben den im Zusammenhang mit der Über­ setzungsarbeit entstandenen Schriften – in diesem Kapitel behandelt werden sollen.4 Über Tyndales Leben im Antwerpener „English House“ als Gast des Kauf­ manns Thomas Poyntz wissen wir aus dem Bericht von Foxe, der diese Infor­ mationen von Poyntz selbst bekommen haben dürfte.5 Er schildert den Alltag eines Mannes, dessen Tagewerk dem intensiven Studium der Schrift gewid­ met ist und der sich in seiner freien Zeit um das Wohl der englischen Exulan­ tengemeinde und der Armen sorgt: 1  2 

S.o. 4.3.2.2. Tyndales „New Testament“ von 1534 ist 1989 von Daniell neu herausgegeben wor­ den (TNT). 3  S.o. 6.1.1. 4  Von ihrem Entstehungszeitpunkt um 1532/1533 her hätten diese posthum erschie­ nenen Werke auch im vorigen Kapitel behandelt werden können. Aufgrund des ohnehin schon großen Umfangs des 6. Kapitels behandle ich die beiden Schriften jedoch erst hier und orientiere mich damit weniger an ihrer Entstehungszeit, als vielmehr an dem Zeit­ raum, in dem die englische Öffentlichkeit Kenntnis von ihnen nahm. 5  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1227: „The order and maner of takyng of Tyndall, testified by Poyntz his host“; vgl. Mozley, S. 294.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

„Er war ein Mann ohne Bedürfnisse und kärglich von Gestalt, ein großer Gelehrter und ein ernsthafter Arbeiter an der Auslegung der Schriften Gottes. Er behielt sich zwei für ihn heilige Tage in der Woche vor, die er seine Freizeit nannte: Montag und Samstag. Am Montag besuchte er all die armen Männer und Frauen, die aufgrund der Verfolgung aus England nach Antwerpen geflohen waren. Sie unterstützte und trös­ tete er großzügig, sobald er sich von ihren guten Eigenschaften überzeugt hatte […] Am Samstag lief er durch die Stadt, suchte in jeder Ecke und jedem Schlupfloch, in dem er einen Wohnort der Armen vermutete, und wo er eines von diesen bewohnt fand von jemand, der überlastet war mit einer Kinderschar oder alt und schwach, half er auch hier in reichem Maße“6.

Auch wenn diese Beschreibung als Wohltäter der Bedürftigen möglicher­ weise nicht frei ist von der posthumen Verklärung des Märtyrers Tyndale, so scheint sie mir doch ein insgesamt plausibles Bild zu zeichnen, das mit ande­ ren Wahrnehmungen korrespondiert. Foxe’ Darstellung zeigt, wie Tyndale sein enormes Arbeitspensum als Übersetzer und Schriftsteller bewältigt hat, nämlich durch ein hohes Maß an Arbeitsdisziplin. Die klare Strukturierung der Woche und ein wahrscheinlich entsprechend organisierter Tagesablauf ermöglichten ihm das zügige Vorankommen bei der Schreib- und Überset­ zungsarbeit.7 Zugleich wird deutlich, dass Tyndale seine Aufgabe nicht allein darauf beschränkt sah. Bewusst hielt er sich Zeiten frei, um die ethische Di­ mension des Christseins, die er in seinen Schriften so deutlich herausstellt, auch praktisch zu leben. Die Sorge um seine Landsleute und die Hilfsbedürf­ tigen in der Stadt gehörte zu seinen festgelegten Tätigkeiten. Die finanziellen Mittel zur Unterstützung der Armen erhielt er offenbar von den englischen Kaufleuten in Antwerpen (und London?), die seine Arbeit schätzten.8 Vergleicht man Tyndales Leben in Antwerpen mit dem anderer exilierter Reformatoren, etwa mit der Situation Johannes Calvins in Straßburg nur we­ nige Jahre später, so fällt auf, dass Tyndale nur in sehr beschränktem Um­ fang die Rolle eines geistlichen Führers der (sehr kleinen) Exilgemeinde ein­ nahm. Er blieb der Einzelgänger, der zwar Kontakte pflegte und versuchte, 6 

So die Werkausgabe von Foxe/ Daye, zitiert bei Mozley, S. 264 f: „He was a man very frugal and spare of body, a great student, an earnest labourer in the setting forth of the scriptures of God. He reserved or hallowed to himself two days in the week, which he named his pastime, Monday and Saturday. On Monday he visited all such poor men and women, as were fled out of England, by reason of persecution into Antwerp; and these, once well understanding their good exercies and qualities, he did very liberally comfort and relieve […] On Saturday he walked round about the town, seeking every corner and hole, where he suspected any poor person to dwell; and where he found any to be well oc­ cupied, and yet over-burdened with children, or else were aged and weak, these also he plentifully relieved“. 7  Vgl. a.a.O., S. 265: „The rest of the days of the week he gave wholly to his book, wherein he most diligently travailed“. 8  Vgl. ebd.: „And truly his alms were very large, and so they might well be; for his ex­ hibition that he had yearly of the English merchants at Antwerp, when living there, was considerable; and that, for the most part, he bestowed upon the poor“.

7.1  Biographische Hinführung

409

seine privilegierte Situation als „Stipendiat“ der englischen Handelskolonie zum Wohle anderer einzusetzen, aber weder als Prediger noch als Lehrer eine Gemeinde um sich scharte.9 Lediglich im Kreis der Kaufleute innerhalb des „English House“ scheint Tyndale eine gewisse Rolle als „Schriftgelehrter“ innegehabt zu haben, in der er in einer Art privater sonntäglicher Andacht (möglicherweise neu übersetzte) Passagen aus der Bibel vortrug.10 Tyndales Zurückhaltung, über diese Tätigkeit hinaus als Geistlicher aktiv zu sein – er war schließlich Priester und während seiner Zeit in Little Sodbury und Lon­ don auch als Prediger aufgefallen – erklärt sich wahrscheinlich damit, dass er sich nicht zu sehr exponieren konnte, um nicht habsburgischen Behörden oder englischen Häschern aufzufallen.11 Der Mensch William Tyndale, der in Foxe’ kurzer Beschreibung zutage tritt, zeichnete sich wohl nicht durch ein gewinnendes Wesen aus,12 wohl aber durch die Ernsthaftigkeit, mit der er seiner Profession nachging und sein Leben in der Nachfolge Christi zu gestalten suchte. Die Plastizität der Be­ schreibung des aus der Schrift vorlesenden Tyndale lässt jedoch erahnen, dass auch der asketisch diszipliniert lebende Gelehrte von einer großen Leiden­ schaft beseelt war. 7.1.2  Die Auseinandersetzung mit George Joye 7.1.2.1  Der Hintergrund des Konflikts Leidenschaftlich reagierte Tyndale auch auf eine Störung seiner schriftstelle­ rischen Tätigkeit durch seinen ebenfalls exilierten Landsmann George Joye.13 Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung stand der Streit um die Rechtmäßig­ keit von Joyes Vorgehen bei seiner Überarbeitung von Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments von 1526, die im August 1534, drei Monate vor Tyn­ dales eigener Neuausgabe, erschien.14 9  10 

Zu den Evangelischen in Antwerpen vgl. Dickens, S. 104 f. Vgl. Foxe/ Daye (zitiert bei Mozley, S. 265): „When the Sunday came, then went he to some one merchant’s chamber or other, whither came many other merchants, and unto them would he read some one parcel of scripture: the which proceeded so fruitfully, sweetly, and gently from him, much like to the writing of John the evangelist, that it was a heavenly comfort and joy to the audience to hear him read the scriptures“. Der Bericht von Foxe hat zur Vermutung Anlass gegeben, Tyndale sei als Kaplan im „English House“ regelrecht angestellt gewesen, dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass diese Position seit 1534 John Rogers (1500–1555), der spätere Editor der „Matthew’s Bible“, innehatte, vgl. Mozley, S. 265 f. 11  Zur aufgrund stärkerer Verfolgungen zunehmend schwierigen Situation der „Hä­ retiker“ in den Niederlanden vgl. a.a.O., S. 261 ff. 12  S.o. 6.1.2.3. 13  Zu George Joyes Biographie und Werk vgl. Clebsch, S. 205–219; C.H. Wil­ liams, S. 110 ff; Daniell, Biography, S. 322 ff. 14  Vgl. Mozley, S. 270. Tyndales Beitrag zu der Auseinandersetzung war sein zweites

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Fast zehn Jahre waren seit Tyndales erster Übersetzung, in deren Vorrede er bereits eine Revision angekündigt hatte,15 verstrichen, und die Nachfrage nach dem Neuen Testament in englischer Sprache war ungebrochen hoch. Mindestens drei „schwarze“ Editionen erschienen in den Jahren 1527, 1531 und 1533 bei Christoffel van Endhoven in Antwerpen.16 Mit jedem neuen Drucksatz stieg jedoch auch die Anzahl der Fehler, da die niederländischen Drucker aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht in der Lage waren, die englischen Texte korrekt wiederzugeben. Vor diesem Hintergrund fragte die Witwe van Endhovens, die das Gewerbe ihres Mannes fortführte, bei Joye an, ob er den Druck überwachen und die nötigen Korrekturen an der neuen Edi­ tion vornehmen könnte.17 Joye hatte bereits die Psalmen (1530) und das Buch Jesaja (1531) auf Grundlage lateinischer Übersetzungen ins Englische übertra­ gen, und war daher durchaus bewandert in der Übertragung biblischer Texte in seine Muttersprache. Er nahm den Auftrag an und offensichtlich auch ernst, denn die Veränderungen, die er an Tyndales Übersetzung vornahm, waren nicht nur Korrekturen am Drucksatz, sondern auch inhaltlicher Art, was den Konflikt mit dem eigentlichen Übersetzer heraufbeschwor. Der Streit zwischen Joye und Tyndale,18 die sich wohl 1528/1529 erstmals in Antwerpen begegnet waren,19 entzündete sich nicht an der Tatsache, dass Joye Tyndales Übersetzung korrigierte. Tyndale selbst hatte in seiner „Epistle to the reader“20 1526 die Leserschaft dazu ermuntert, seine Übertragung zu berichtigen und war auch sonst – wie sein Angebot an Vaughan zeigt21 – be­ reit, persönlich zurückzustehen, wenn es der Sache der Schrift diente. Auch hatte er grundsätzlich nichts dagegen, dass sein „New Testament“ in von ihm nicht autorisierter Form nach 1526 weiter gedruckt wurde, zumal sich die Idee eines „Copyright“ für Autoren im 16. Jahrhundert erst allmählich ent­ wickelte und sich auch nicht auf die Heilige Schrift bezog.22 Vorwort zum Neuen Testament von 1534 „William Tyndale, yet once more to the Chris­ tian reader“, im Folgenden zitiert nach der Ausgabe TNT als Yet once more. 15  Vgl. Epistle to the Reader, PS 1, S. 390: „In time to come (if God have appointed us thereunto) we will give it [d.i. die NT-Übersetzung] his full shape, and put out, if ought be added superfluously, and add to, if ought to be overseen through negligence“; s.o. 2.6. 16  Vgl. C.H. Williams, S. 112 f; Juhász, S. 107 f. 17  Vgl. Mozley, S. 269 f; Daniell, Copyright, S. 97; Juhász, S. 108 f. 18  Wir wissen von dieser Kontroverse durch die Schriften der beiden Protagonisten (s.u. 7.1.2.2) und aus verschiedenen Briefe, etwa von Cromwells Agent Thomas Theobald (vgl. Mozley, S. 303 ff), die auf den Streit Bezug nehmen. 19  Vgl. Clebsch, S. 208; C.H. Williams, S. 110. 20  Vgl. Epistle to the Reader, PS 1, S. 390 f; s.o.2.6. 21  S.o. 5.1.1. 22  Vgl. Daniell, Copyright, S. 93 f; C.H. Williams, S. 114: „neither party would have considered there was any question at issue of rights of translation“. Tyndale selbst hat ja auch – ohne auf ein Copyright zu achten – auf die Schriften anderer zurückgegriffen.

7.1  Biographische Hinführung

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Problematisch war für Tyndale jedoch die Art und Weise, wie Joye seine Übersetzung veränderte, denn dieser hatte nicht nur auf Grundlage der Vulgata kleinere Veränderungen am Text, sondern auch eine theologisch höchst relevante Umdeutung vorgenommen.23 Das von Tyndale mit „re­ surrection“ („Auferstehung“) wiedergegebene „!n2stasiV“ hatte Joye mit „life after this“ oder „life after death“24 („Leben nach diesem/ nach dem Tod“) übertragen – „Here was something much more serious than appears on the surface, for by using this phrase Joye was introducing his own ideo­ logy instead of that of Tyndale“25. Hinter dem vordergründigen Streit um Worte verbarg sich die theologi­ sche Debatte um den Seinszustand der Verstorbenen, die im Kontext der Aus­ einandersetzung mit der römischen Partei um Heiligenverehrung und Feg­ feuerlehre das reformatorische Lager in England beschäftigte.26 Während Tyndale sich, was das Dasein der Toten betraf, streng an die Aussagen der Schrift halten wollte und mit Luther nur die Vermutung äußerte, dass die Seelen der Toten in einem Zustand des Schlafes den Jüngsten Tag erwarteten, um dann leiblich auferweckt zu werden,27 schloss sich Joye mit seiner Aus­ drucksweise der Meinung an, dass die Seelen der Verstorbenen schon im Tod zu Christus gelangten und am Ende „nur noch“ mit ihren neuen Leibern ver­ eint würden. Diese Auffassung vertraten auch Zwingli und später Calvin.28 Im Hintergrund steht eine jeweils unterschiedliche Anthropologie, die ein­ mal den Menschen als Einheit von Leib und Seele versteht (Luther, Tyndale) oder – platonisch geprägt – den Leib nur als Hülle der Seele sieht.29 Tyndales vehemente Reaktion auf Joye muss vor dem Hintergrund dieser divergieren­ 23  24 

Vgl. Daniell, Copyright, S. 97; C.H. Williams, S. 113. Vgl. Yet once more, TNT, S. 13: „where he findeth the word resurrection, he chan­ geth it into the life after this life, or very life, and such like, as one thet abhorred the name of the resurrection“. 25  C.H. Williams, S. 113. 26  Vgl. Tyndales Äußerungen hierzu in Exposition John, PS 2, S. 185 und gegenüber More in Answer, IW 3, S. 117,17–118,8: „There he steleth awaye Christes argument with he proueth the resurreccion / that Abraham and all saintes shuld rise againe & not that their soules were in heuen which doctrine was not yet in the worlde“. Offensichtlich sorgte die Frage nach dem Dasein der Verstorbenen innerhalb der evangelischen Ge­ meinde Englands für Diskussionen, wie erhaltene Briefe Joyes dokumentieren (vgl. Moz­ ley, S. 271 ff; Clebsch, S. 221 f). Tyndale hatte möglicherweise bereits mündlich mit Joye gestritten und ihn zur Zurückhaltung aufgefordert. Joye berichtet (zitiert bei Moz­ ley, S. 273) allerdings erst nach Ausbruch des Konflikts von einem direkten Streit mit Tyndale. 27  Vgl. Slenczka, Hoffnung, S. 442; Bayer, S. 298–301; vgl. Frith, Purgatory (1531), Wright, S. 142.192 f. Clebsch, S. 219, behauptet dagegen, Frith hätte inhaltlich mit Joye übereingestimmt, verzichtet aber auf Belege; vgl. dagegen N.T. Wright, S. 28 f. 28  Vgl. Juhász, S. 111, Anm. 23. Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 188 f; Calvin, Inst III, 25, 3–7. 29  Vgl. Juhász, S. 110 ff.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

den Grundauffassung gedeutet werden.30 Hinzu kam für Tyndale wohl, dass Joye es nicht für nötig befunden hatte, ihn über sein Projekt in Kenntnis zu setzen.31 Er hatte den von Joye redigierten Piratendruck seiner eigenen Über­ setzung mitsamt den theologischen Abweichungen unvorbereitet in die Hände bekommen. Um so schärfer fiel seine Antwort aus.32 7.1.2.2  Tyndales Vorwort und Joyes Reaktion Tyndale reagierte auf Joyes Verhalten, indem er seiner 1534 fertiggestellten re­ vidierten Übertragung ein zweites Vorwort voranstellte, in dem er Joye scharf attackierte und die eigene Übersetzung verteidigte. Er unterstellt Joye, dieser habe schon seit längerer Zeit eine unorthodoxe Position vertreten, weil er der leiblichen Auferstehung kritisch gegenüberstehe und statt dessen eine geistliche Auferstehung behaupte.33 Dies sei – so Tyndale – nicht nur ihm selbst, sondern auch dem jüngst hingerichteten John Frith aufgefallen, der noch als Gefange­ ner im Tower schrieb: „that we should warn him [d.i. Joye] and desire him to cease, and would have then written against him, had I not withstood him“34. Nun will sich Tyndale diese Zurückhaltung gegenüber Joye nicht mehr leis­ ten, geht es doch – über die persönliche Verletzung und sogar über inhaltlichen Dissens in der Sache hinaus – um die grundsätzliche Frage nach dem Umgang mit der Schrift. In Joyes Übersetzungspraxis sieht Tyndale den menschlichen Versuch, den biblischen Text den eigenen theologischen Überzeugung gefü­ gig zu machen. Während er für sich in Anspruch nimmt, Wortlaut und Sinn des griechischen Textes gefolgt zu sein, hat Joye seines Erachtens das Schrift­ wort nach eigener Willkür korrigiert und damit andere in die Irre geführt.35 Für Tyndale geht es um Grundlegendes: Damit die Schrift als norma nor­ mans menschliche Glaubensvorstellungen korrigieren kann, ist es nötig, dass ihr Text so wortgetreu und sinngemäß wie möglich übertragen wird. Er be­ hauptet damit keineswegs die Unfehlbarkeit seiner eigenen Übertragung,36 30  Yet once more, TNT, S. 13: „But of this I challenge George Joye, that he did not put his own name thereto and call it rather his own translation“. 31  Vgl. ebd.: „George Joye secretly took in hand to correct it also by what occasion his conscience knoweth, and prevented me, insomuch, that his correction was printed in great number, ere mine began“. 32  Vgl. a.a.O., S. 16: „I neither can nor will suffer of any man, that he shall go take my translation and correct it without name“. Zur Verteidigung Joyes vgl. dagegen Clebsch, S. 220 f. 33  Vgl. Yet once more, TNT, S. 16. 34  A.a.O., S. 14. 35  Vgl. ebd.: „yet if it were lawful after his example to every man to play boo peep with the translations that are before him, and to put out the words of the text at his plea­ sure and to put in everywhere his meaning: or what he thought the meaning were, that were the next way to stablish all heresies and to destroy the ground wherewith we should improve them“. Tyndale nennt als Beispiel die Übertragung von Joh 5,28 f (vgl. ebd.). 36  Dies behauptet Clebsch, S. 220: „by 1534 he [d.i. Tyndale] regarded not only

7.1  Biographische Hinführung

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hält jedoch beim Übersetzen ein am Text orientiertes, sorgfältigen Vorgehen für unerlässlich. Nur in einer Übertragung, die dem Sinn des biblischen Wor­ tes gerecht wird, kann das Wort Gottes in der Schrift seine heilsbringende Wirkung entfalten.37 Darum beruft sich Tyndale auf das, was in der Schrift gesagt ist, und stellt in der strittigen Sachfrage die leibliche Auferstehung heraus.38 Zugleich ver­ wahrt er sich gegen jede über die Schrift hinausgehende Spekulation, was den Zustand der Seelen der Verstorbenen betrifft. Gerade weil diese hierzu keine eindeutigen Aussagen macht, darf die Frage nicht zu einem Glaubensartikel stilisiert werden.39 Gegen die Vorstellung, die Seelen der Toten seien schon bei Christus, spricht für ihn allerdings die Tatsache, dass in diesem Fall die bi­ blische Rede von der Auferstehung unsinnig wäre. Tyndale gesteht zu, sich durch die Schrift – und nur auf dieser Grundlage – auch eines Besseren beleh­ ren zu lassen. Doch gerade was diese schriftgebundene Begründung angeht, sieht er Joye in der Pflicht.40 Wahrscheinlich um den Vorwurf täuferischer Häresie und Separation abzu­ wehren – das Münsteraner Täuferreich stand 1534 auf seinem Höhepunkt –, hält Tyndale ausdrücklich fest, dass er mit seiner Übersetzung und seinem gan­ scripture but his own translation of it as sacrosanct, for, what he earlier conceived as hu­ man testimony to divine mercy, he later took to be a contract binding God as well as man“. Clebsch übersieht m.E., dass Tyndale hier nicht als Bundestheologe spricht (seine theologische Referenzgröße ist hier ohnehin die „knowledge of Christ“), sondern als Übersetzer, der Joye schlicht vorwirft, nicht sauber am Text gearbeitet zu haben. Dass Tyndale seine eigene aus dem griechischen Text vorgenommene im Gegensatz zu Joyes an der Vulgata orientierte Übersetzung als die bessere ansah, bedeutet noch nicht, dass er seine Arbeit als unfehlbar verstand. Er erwartete bei der Korrektur seiner Übertragungen jedoch eine angemessene fachliche Expertise, die Joye seines Erachtens fehlte. 37  Vgl. Yet once more, TNT, „If the text be left uncorrupt, it will purge herself of all manner false glosses, how subtle soever be feigned, as a seething pot casteth up her scum. But if the false glosses be made the text, diligently overseen and correct, wherewith then shall we correct false doctrine and defend Christ’s flock from false opinions, and from ­wicked heresies of ravening of wolves?“ Tyndale muss sich freilich fragen lassen, ob nicht jede Übersetzung aus dem biblischen Urtext schon eine theologische Interpretation in sich birgt. 38  Vgl. Yet once more, TNT, S. 15: „Wherefore, concerning the resurrection, I protest before God and our saviour Jesus Christ, and before the universal congregation, that be­ lieveth in him, that I believe according to the open and manifest scriptures and catholic faith, that Christ is risen again in the flesh“. 39  Vgl. Mozley, S. 271. 40  Vgl. Yet once more, TNT, S. 15: „I confess openly, that I am not persuaded that they be already in the full glory that Christ is in, or the elect angels of God are in. Neither is it any article of my faith: for if it so were, I see not but then the preaching of the resurrection of the flesh were a thing in vain. Notwithstanding yet I am ready to believe it, if it may be proved with open scripture. AndI have desired George Joye to take open texts that seem to make for that purpose […] For I receive not in the scripture the private interpretation of any man’s brain, without open testimony of any scriptures agreeing thereto“. Vgl. die ähn­ liche Argumentation in Exposition John, PS 2, S. 185; vgl. hierzu auch Juhász, S. 111 f.

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zen Schrifttum nicht die Intention einer Gemeinschaftsbildung verfolgt hat.41 Seine Motivation bestand allein in der lauteren Verbreitung des Evan­ge­liums, denn allein dem Zweck, zu Christus zu führen, dient das Studium der Schrift. Tyndale ruft darum abschließend Joye und seine Leserschaft auf: „Ich ersuche alle Menschen, es zu dem Zweck zu lesen, für den ich es geschrieben habe, nämlich um ihnen die Schrift zur Kenntnis zu bringen […] Ich ersuche George Joye, ja und auch alle anderen, die Schrift selber zu übersetzen“42.

Joye war nicht der Typ, die Zurechtweisung durch Tyndale unwidersprochen hinzunehmen. Auch wenn es so scheint, als habe es nach der Veröffentlichung von Tyndales revidiertem „New Testament“ im November 1534 aufgrund der Intervention gemeinsamer Freunde eine Art „Waffenstillstand“ zwischen beiden gegeben, veröffentlichte Joye im Januar 1535 eine weitere Ausgabe der von ihm überarbeiteten Version des Neuen Testaments und ergänzte sie um ein Nachwort, in dem er seine Übersetzung die Auferstehung betreffend rechtfertigte.43 Im Februar 1535 schließlich erschien seine „Apology“44, in der er sich gegen die „verleumderischen Lügen“ Tyndales zur Wehr setzte, seine Überarbeitung des Neuen Testaments erneut verteidigte und die Qua­ lität von Tyndales Übersetzung und dessen Charakter scharf angriff. Joye schildert Tyndale als hochfahrenden, aufbrausenden Menschen, der nicht in der Lage ist, andere neben sich gelten zu lassen.45 Joyes Reaktion auf Tyndales Vorwort ist in der Forschung unterschiedlich bewertet worden.46 In der umstrittenen Übersetzungsfrage fällt eine ab­ 41  Vgl. Yet once more, TNT, S. 15: „I take God (which alone seeth the heart) to record to my conscience […] if I wrote of all that I have written throughout all my book, ought of an evil purpose, of envy or malice to any man, or to stir up any false doctrine or opinion in the church of Christ, or to be author of any sect, or to draw disciples after me“. 42  A.a.O., S. 15 f: I beseech all men to read it for the purpose I wrote it: even to bring them to the knowledge of the scripture […] I beseech George Joye, yea and all other too, for to translate the scripture for themselves“. 43  So behauptete jedenfalls Joye, vgl. Mozley, S. 278 ff. 44  „An Apologye made by George Joye to satisfye (if it maye be) W. Tindale: to pourge and defende himself against so many sclaunderouse lyes fayned vpon him in Tindals ­vncharitable and vnsober Pystle so well worthye to be prefixed for the Reader to induce him into the vnderstanding of hys new Testament diligently corrected and printed in the yeare of oure lorde. M.CCCC. and xxxiijj in November“ (zitiert nach C.H. Williams, S. 116, vgl. Clebsch, S. 219 f). 45  „He is unwilling to believe that others may be able to instruct him“ (zitiert bei Mozley, S. 281). In diesem Zusammenhang äußert Joye auch die Vorwürfe, nicht Tyn­ dale, sondern Frith sei der Verfasser von „Answer“, und „Exposition Matthew“ sei in Wahrheit ein Plagiat von Schriften Luthers (vgl. a.a.O., S. 283; s.o. 5.1.1 und 6.4.2). 46  Vgl. C.H. Williams, S. 110: „This clash has been given prominence by two rea­ sons. First, it has been used by unfriendly critics ass yet another illustration of Tyndale’s quarrelsome nature and, in the second place, it has been exploited by others as an episode wholly discreditable to Joye, confirming an impression that he was a tricky character“. Zur ersten Gruppe darf Clebsch gezählt werden (vgl. Clebsch, S. 220 ff)), zur zweiten

7.2  Die Revision der Übersetzung des Neuen Testaments 1534 und 1535

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schließende Bewertung schwer. Wo Tyndale, der sicherlich über die größeren Sprachkenntnisse (Joye konnte kein Griechisch) verfügte, auf der wörtlichen Bedeutung von !n2stasiV bestand, hat Joye – wie Juhász anhand von Apg 23,8 nachgewiesen hat47 – möglicherweise den neutestamentlichen Kontext stärker berücksichtigt. Beide Übersetzungen, „Auferstehung“ und „Leben jenseits des irdischen Daseins“, werden jedenfalls in der exegetischen Diskus­ sion bis heute vertreten.48 Die Schuld an der Eskalation des Konflikts trägt m.E. eher Joye, der bei der Revision von Tyndales Übersetzung unlauter vorging und in seiner „Apo­ logy“ deutlich überreagierte. Tyndale verzichtete dagegen bei der letzten Ausgabe des „New Testament“ im Frühjahr 1535 darauf, das zweite Vorwort gegen Joye erneut abzudrucken.49

7.2  Die Revision der Übersetzung des Neuen Testaments 1534 und 1535 7.2.1  Die Ausgabe des Neuen Testaments von 1534 Tyndales vordringliches Projekt in den letzten Jahren vor seiner Inhaftierung war die Überarbeitung seiner Übersetzung des Neuen Testaments, die 1534 in Antwerpen bei Martin de Keyser erschien und – anders als in der anonym erschienenen Wormser Ausgabe – Tyndale erstmals als Übersetzer im Titel nannte.50 Sie ist wesentlich umfangreicher als das – unter erschwerten Bedin­ gungen entstandene51 – „Worms New Testament“. Neben der gegen Joye ge­ richteten Adresse, die er erst kurzfristig vor der Fertigstellung des Drucks ergänzte, wendet sich Tyndale auch in einer „regulären“ Vorrede an die Leser („W.T. Unto the Reader“).52 Das Buch umfasste zudem z.T. ausführliche Ein­ leitungen Tyndales zu allen neutestamentlichen Schriften (mit Ausnahme von Apg und Offb).53 Außerdem konnte der Übersetzer nun Verweise und Partei gehören Tyndales Biographen Mozley und Daniell (vgl. Mozley, S. 273 f.282 f; Daniell, Copyright, S. 98 f). 47  Vgl. Juhász, S. 112–115. 48  Vgl. a.a.O., S. 115–121. Vgl. dazu auch Gerhard Sellin, Art. Auferstehung I. Auferste­ hung der Toten 4. Neues Testament, RGG4 1, Tübingen 1998, Sp. 917 ff. 49  Vgl. Mozley, S. 279. 50  Vgl. TNT, S. 1: „The New Testament diligently corrected and compared with the Greek by William Tyndale and finished in the year of our Lord God A. 1534 in the month of November“; vgl. auch Daniell, Copyright, S. 98. Auffällig ist, dass Tyndale schon im Titel hervorhebt, dass er seine Übersetzung aus dem griechischen Original vorgenom­ men hatte. 51  S.o. 2.1.1. 52  PS 1, S. 468–479. Da das Vorwort in der Edition der Parker Society den missver­ ständlichen Titel „Prologue upon the gospel of St Matthew“ trägt, (vgl. darum auch TNT, S. 3–12), zitiere ich es unter dem Titel: W.T. unto the Reader; s.u. 7.3. 53  S.u. 7.2.1.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Marginalien einfügen, die den Lesern zusätzlich von Nutzen sein sollten.54 Insgesamt war auch das Druckbild der Ausgabe wesentlich ansprechender als das ihrer Vorgängerin.55 Über den Textbestand der neutestamentlichen Schriften hinaus umfasste das „New Testament“ von 1534 auch die Übersetzungen derjenigen alttesta­ mentlichen und apokryphen Texte, die englischen Christen aus der Liturgie vertraut waren. Orientiert am „Salisbury Service Book“, dem in England am weitesten verbreiteten Lektionar, das auch Thomas Cranmer später als Vorbild seines „Book of Common Prayer“ dienen sollte,56 fügte Tyndale seine – aus dem Urtext vorgenommenen – Übersetzungen der Epistellesungen, geordnet nach den Sonntagen des Kirchenjahres, hinzu.57 Offensichtlich war es Tyndale wichtig, eine Erneuerung des Gottesdienstes voranzutreiben, die auf den Ge­ brauch der englischen Bibel bezogen war bzw. in der Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift dessen wesentliches Zentrum fand. Der Textbestand der 1534er-Ausgabe ist im Vergleich mit der von 1525/ 1526 einer gründlichen Überarbeitung unterzogen worden.58 Mozley zählt viertausend Veränderungen, von denen die meisten in den Evangelien und der Apostelgeschichte zu finden sind und dem Zweck dienen, die englischen Übersetzungen noch näher an den griechischen Urtext heranzuführen.59 An­ dere Modifikationen sind dem Stil der Prosa geschuldet, die Tyndale durch­ gängig rhythmischer und im Ganzen eingängiger gestaltete.60 Er verzichtet z.B. auf Lehnwörter zugunsten von englischen Vokabeln, wenn er „elder“ (Äl­ tester) statt „senior“ oder „health“ (Heil) statt „salvation“ verwendet. Moz­ley stellt – nicht ohne Ironie – in diesen Zusammenhang fest: „sometimes Tyndale is not above taking a hint from his enemy, Thomas More“ 61. 7.2.2  Die Rezeption der Übersetzung des Neuen Testaments und die Ausgabe von 1535 Die kompakte, wenn auch mit vierhundert Seiten durchaus umfangreiche,62 revidierte Ausgabe des Neuen Testaments muss bei ihrer Zielgruppe in Eng­ land einen reißenden Absatz gefunden haben, denn nur einen Monat später 54  55  56  57 

S.u. 7.4.4.4. Vgl. Daniell, Introduction, S. xivf. Vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 410–421. Vgl. TNT, S. 391–408. Tyndale ergänzt überdies ein liturgisches Register: „wherin you shall find, the Epistles and the Gospels, after the use of Salisbury“ (a.a.O., S. 409–428); vgl. Mozley, S. 286 f; zur spätmittelalterlichen Messpraxis in England vgl. auch Duffy, S. 91–130. 58  Zu Tyndales Übersetzung vgl. Daniell, Introduction, S. xxi-xxviii. 59  Vgl. Mozley, S. 287 f. Hier auch zahlreiche Beispiele. 60  A.a.O., S. 288 f, gibt auch hierfür einige Beispiele. 61  A.a.O., S. 288. 62  Vgl. Daniell, Introduction, S. xiv.

7.2  Die Revision der Übersetzung des Neuen Testaments 1534 und 1535

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war eine weitere Auflage im Druck.63 Sie erschien Anfang des Jahres 1535 und enthielt – trotz der Kürze der zwischen beiden Ausgaben liegenden Zeit – erneut über vierhundert Veränderungen.64 Die meisten sind kleine­ rer Art,65 die Ersetzung von „resurrection from death“ durch „resurrection from the dead“ stellt aber wohl eine durch den Konflikt mit Joye notwendig gewordene Klarstellung dar. Die letzte von Tyndale herausgegebene Aus­ gabe des Neuen Testaments war auch diejenige, die – über Coverdales Bibel (1535) und die „Matthew’s Bible“ (1537) – Eingang fand in die „Authorized Version“ (1611) und damit in alle englischsprachigen Bibeln bis zum heuti­ gen Tag.66 Ein Exemplar des Neuen Testaments von 1534 verdient mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte besondere Aufmerksamkeit. Das im Britischen Mu­ seum vorhandene Unikat ist eine Luxusausgabe des biblischen Textes (ohne Vorworte), auf Pergament gedruckt und mit bunten Holzschnitten versehen. Schriftzug und Wappen weisen als seine Besitzerin „Anne Regina Angliae“ aus. Das Neue Testament Anne Boleyns, die Heinrich VIII. im Januar 1533 geheiratet hatte und die am 1. Juni desselben Jahres zur Königin gekrönt worden war, weist möglicherweise einmal mehr auf ihre Sympathien zur Reformation hin.67 Mozley hat überzeugend den englischen Kaufmann ­Richard Herman, einen Unterstützer Tyndales, als wahrscheinlichen Geber des Bibel-Geschenks ausgemacht. Anne hatte sich im Mai 1534 bei Crom­ well für Herman eingesetzt, nachdem dieser noch unter Kardinal Wolsey aufgrund reformatorischer Umtriebe gefangengenommen und seiner Pri­ vilegien beraubt worden war.68 Offensichtlich war die Königin erfolgreich und erhielt zum Dank von Herman – sicherlich nicht ohne Wissen Tyndales – die „De-Luxe-Ausgabe“ des Neuen Testaments. Der Verzicht auf Vorwort und Vorreden Tyndales erklärt sich dabei leicht aus der politischen Gefahr, die – wohl auch für eine Königin – mit dem Besitz seiner Schriften verbunden war.

63  Diese Auflage besitzt in den erhaltenen Exemplaren zwei Titelseiten, die von 1534 und eine neue mit dem Titel: „The new Testament yet once again corrected by William Tyndale, 1535“, vgl. Mozley, S. 291. 64  Mozley (vgl. ebd.) zählt 350 Modifikationen in den ntl. Texten und mindestens 80 in den Episteltexten. 65  Vgl. die Beispiele a.a.O., S. 291 f. 66  Vgl. a.a.O., S. 292 f. 67  S.o. 4.1.3. 68  Der Brief Anne Boleyns ist erhalten und abgedruckt bei Mozley, S. 290.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

7.3  Tyndales Vorwort: „W.T. unto the Reader“ (1534) 7.3.1  Zur Notwendigkeit eines Vorworts „Hier hast du, hochgeschätzter Leser, das Neuen Testaments oder den Bund, der mit uns geschlossen wurde durch Gott im Blut Christi“69 – Mit diesem einleitenden Satz präsentiert Tyndale der Leserschaft seine überarbeitete Übersetzung des Neuen Testaments und qualifiziert sie zugleich als Bund mit den Glaubenden in Christus. Wie das Vorwort zum „Cologne Fragment“70 soll seine Vorrede eine Verstehenshilfe für die Leser sein, die dabei hilft, den biblischen Text besser zu erschließen. Der Übersetzer gibt daher zuerst Re­ chenschaft über die gegenüber der Ausgabe von 1525/1526 vorgenommenen Veränderungen und stellt anschließend die interpretatorischen „Hilfsmittel“ vor, die bei der Einordnung des biblischen Textes helfen sollen. Tyndale weist darauf hin, dass er seine Übersetzung von 1525/1526 noch einmal einem Vergleich mit dem griechischen Urtext unterzogen hat und da­ bei zusätzlich auch seine zwischenzeitlich erworbenen Kenntnisse der hebräi­ schen Sprache heranziehen konnte.71 Mithilfe der von ihm neu eingefügten erklärenden Marginalien und der Aufmerksamkeit für den Kontext einiger möglicherweise auf den ersten Blick unklarer Textstellen sind die Leser ge­ rüstet, um die Lektüre des Neuen Testaments auf eigene Faust zu wagen.72 Dass das Wort der Schrift nicht bei allen, die es lesen oder hören, auch tatsäch­ lich verstanden und in seiner Heilsbedeutung73 erfasst wird, schreibt Tyndale der falschen Schriftauslegung, von den Pharisäern bis zu deren Epigonen, „den papistischen Doktoren der dunklen Lehre des Duns [Scotus]“74, zu. Ge­ gen sie will er auf die entscheidenden theologischen Parameter aufmerksam machen, derer es zum Verständnis der Schrift bedarf: „Ich hielt es für meine Pflicht, hochgeschätzter Leser, dich vorab zu warnen und dir den rechten Weg hinein [d.i. in die Schrift] zu zeigen und dir den wahren Schlüssel zu geben, sie zugleich zu öffnen und dich zu wappnen gegen falsche Propheten und heim­ tückische Heuchler“75. 69 

W.T. unto the Reader, PS 1, S. 468: „Here hast thou, most dear reader, the new Testa­ ment, or covenant made with us of God in Christ’s blood“. 70  S.o. 2.3. 71  Tyndale hatte erkannt, dass das Griechisch einiger ntl. Schriften deutliche Anleihen im Hebräischen macht (vgl. ebd.) . 72  Tyndale ermutigt – Joye zum Trotz – erneut dazu, seine Übersetzungen, wo diese ungenügend sind, zu verbessern (vgl. ebd.). 73  Vgl. a.a.O., S. 468 f: „the kingdom of heaven, which is the scripture and word of God“. 74  A.a.O., S. 469: „the popish doctors of Duns’s dark learning“. 75  Ebd.: „I thought it my duty, most dear reader, to warn thee before, and to shew thee the right way in, and to give thee the true key to open it withal, and to arm thee against false prophets and malicious hypocrites“.

7.3  Tyndales Vorwort: „W.T. unto the Reader“ (1534)

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In einer Art Kurzglossar erläutert Tyndale seinen Lesern zum Schluss des Vor­ worts die Schlüsselbegriffe direkt.76 Das Evan­ge­lium („Gospel“) versteht er als Synonym für die Bundesbeziehung, die im Neuen Testament als ewiger Bund Gottes zutage tritt, im Alten nur als „temporal covenant“ auf den neuen Bund hin existierte.77 „Reue“ („repentance“) entspricht für ihn der Grundhaltung des Menschen in der Bundesbeziehung.78 Zur Erläuterung von „Elders“ knüpft Tyndale an seine Aussagen in „Answer“ an und beschreibt die „Ältesten“ vom Gebrauch im Alten Testament und bei Paulus her als „officers and servants of the word of God“, denen der Respekt und Gehorsam der Gemeinde gilt, „as long as they preach and rule truly“79. Schließlich weist Tyndale auch „Rulers“ und „Commons“ auf ihre Pflichten hin, die in der Liebe zur Gerechtigkeit bzw. in der Verantwortung gegenüber dem Nächsten bestehen.80 7.3.2  Der Bund als Schlüssel zur Schrift Was in den Schriften der Jahre 1531–1533 theologisch vorbereitet wurde, fin­ det nun in der kompakten Form des Prologs seinen angemessenen Ort als „Doppelpunkt“ vor dem Neuen Testament: Die Schrift ist für Tyndale ihrem Wesen nach Zeugnis des „covenant“81 zwischen Gott und den Menschen, die Bemühung des Menschen um seine in der Taufe vollzogene Berufung „the only way, to understand the scripture unto salvation“82. Indem er den Aspekt der wechselseitigen Verpflichtung aufgreift, den er in „Exposition Matthew“ und „Exposition St John“ entwickelt hat,83 formuliert Tyndale die grundsätzliche Struktur des Bundes folgendermaßen: 76  Diese Form der Erklärung zentraler theologischer Begriffe erinnert entfernt an das Programm von Melanchthons Loci Communes (1521). 77  Vgl. W.T. unto the Reader, PS 1, S. 476: „The Gospel is glad tidings of mercy and grace, and that our corrupt nature shall be healed again for Christ’s sake […], yet on that condition, that we will turn to God, to keep his laws spiritually, that is to say, of love for his sake, and will also suffer the curing of our infirmities“. 78  Vgl. a.a.O., S. 477: „And the very sense both of the Hebrew and also of the Greek word is, to be converted and to turn to God with all heart, to know his will, and to live ac­ cording to his laws; and to be cured of our corrupt nature with the oil of his Spirit, and wine of obedience to his doctrine“. Von diesem Verständnis ausgehend, beschreibt Tyndale, wie die Elemente des mittelalterlichen Bußsakraments zu verstehen sind. Die Confessio ist da­ nach keine Ohrenbeichte vor einem Priester, sondern Bekenntnis vor der Gemeinde. Die Contritio übersetzt Tyndale als „sorrowfulness that we be such damnable sinners, and not only have sinned, but are wholly inclined to sin still“ (a.a.O., S. 478). Die Satisfactio bezieht er auf das Verhältnis der Menschen untereinander, nicht auf das Gottesverhältnis: „satisfac­ tion, or amendsmaking, not to God with holy works, but to my neighbour, whom I have hurt, and to the congregation of God, whom I have offended“ (vgl. ebd., s.o. 3.3.7.1). 79  A.a.O., S. 479. 80  Vgl. ebd. 81  Vgl. a.a.O., S. 469–474. 82  A.a.O., S. 469. 83  S.o. 6.3.3.3 und 6.4.3.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

„Der allgemeine Bund, in dem alle anderen umfasst und eingeschlossen sind, ist folgen­ der: Wenn wir uns selbst Gott unterwerfen, um all seine Gesetze gemäß dem Beispiel Christi zu halten, dann bindet sich Gott selbst an uns, um alle Gnaden, die in Christus in der gesamten Schrift verheißen sind, zu bewahren und wahr­zu­machen“ 84.

Die göttliche Gnadengabe wird hier gebunden an das menschliche Bemühen um die Befolgung des Gesetzes.85 Wer Gott und seinen Nächsten liebt, darf – nach dem konditionalen Schema „wenn…, dann…“ 86 – fest darauf ver­ trauen, dass auch er von Gott geliebt wird und die Verheißungen an ihm wahr werden. Wer jedoch diese Gebote nicht einhält und einen Glauben ohne Werke lebt, der irrt, wenn er glaubt, sein (vermeintlicher) Glaube würde ihn vor Gottes gerechtem Urteil bewahren. 87 Aufgrund dieser Einseitigkeit, mit der Tyndale den menschlichen Anteil am Gelingen des Bundes herausstellt, lässt sich an dieser und anderen Stellen tatsächlich mit Clebsch von einer „Theology of Contract“ 88 sprechen. Die Passagen, in denen Tyndale ein konditionales Vertragsverhältnis zwi­ schen Gott und den Menschen formuliert, stehen jedoch auch im Vorwort zum Neuen Testament von 1534 nicht allein. Das „Vertragliche“ wird dort relativiert, wo Tyndale – wie schon in „Exposition Matthew“89 – das Gottes­ verhältnis wesentlich als „Glauben“ und „Vertrauen“ bestimmt: „Glaube aber, an Gott, den Vater, durch unseren Herrn, Jesus Christus, gemäß den zwischen Gott und uns geschlossenen Bundesschlüssen und Vereinbarungen, ist un­ sere Rettung“ 90. 84  A.a.O., S. 470: „The general covenant, wherein all other are comprehended and in­ cluded, is this: If we meek ourselves to God, to keep all his laws, after the example of Christ, then God hath bound himself unto us, to keep and make good all the mercies pro­ mised in Christ throughout all the scripture“. 85  Tyndale selbst verwendet den Terminus „condition“, wenn er schreibt, vgl. a.a.O., S. 472: „For God offereth mercy upon the condition that he [d.i. der Mensch] will mend his living“. 86  Vgl. z.B. a.a.O., S. 470: „Now if we love our neighbours in God and Christ […] then may we be bold to trust in God“ (Kursivierung von mir). 87  Vgl. ebd: „Now read all the scripture, and see where God sent any to preach mercy to any, save unto them only that repent, and turn to god with all their hearts, to keep his commandments“. 88  Vgl. Clebsch, S. 185–193. Die „vertragliche“ Konnotation, die Tyndale dem Bund in seinem Prolog gibt, zeigt sich z.B. auch in seiner Deutung der Seligpreisungen der Bergpredigt. Jesu Wort Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen! (Mt 5,7) versteht Tyndale als konditionale Aussage: „Lo, here God hath made a covenant with us, to be merciful unto us, if we will be merciful one to another“ (W.T. unto the ­Reader, PS 1, S. 469). Clebsch spekuliert möglicherweise zurecht, dass diese „Härte“ in Tyndales später Bundestheologie eine Folge zunehmender Frustration im Hinblick auf die Rezeption der englischen Bibel und der reformatorischen Botschaft in seiner Heimat war (vgl. Clebsch, S. 189). 89  S.o. 6.4.3. 90  W.T. unto the Reader, PS 1, S. 471: „Faith now in God the Father, through our Lord

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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Hier wird deutlich: Der Glaube und nicht die Einhaltung der Gebote wirkt das Heil. Als unverzichtbares, aber eben doch nachgeordnetes Moment, folgt die Hingabe an ein heiliges christliches Leben in der Erfüllung der Gebote.91

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen 7.4.1  Luthers Vorreden zum Neuen Testament von 1522 als Vorlagen Tyndales Für seine Vorreden hat Tyndale in unterschiedlichem Maße auf die Einleitun­ gen zum Septembertestament zurückgegriffen,92 allerdings nicht ohne den Worten Luthers an einigen Stellen durch eigene Ergänzungen ein eigenstän­ diges theologisches Gepräge zu geben.93 Wie schon in früheren Schriften setzt der Engländer seine theologischen Schwerpunkte an bestimmten Stellen anders als der deutsche Reformator, zum Beispiel dort, wo er den von ihm neu erschlossenen Bundesbegriff einbringt, die Rolle von Gesetz und Werken positiv beschreibt oder stärker als Luther die Rolle des Geistes herausstellt. Jesus Christ, according to the covenants and appointment made between God and us, is our salvation“. 91  Vgl. ebd. (Kursivierung von mir): „you see that two things are required to be in a christian man. The first is a steadfast faith and trust in almighty God, to obtain all the mercy that he hath promised us through the deserving and merits of Christ’s blood only without all respect to our own works. And the other is, that we forsake evil and turn to God, to keep his laws, and to fight against ourselves and our corrupt nature perpetually, that we may do the will of God every day better and better“, vgl. auch a.a.O., S. 474: „as Christ’s works justify from sin, and set us in favour of God, so our own deeds, through working of the Spirit of God, help us to continue in the favour and the grace into which Christ hath brought us“. Dies ist eine von wenigen Passagen, an denen Tyndale die Heiligung als Werk des Geistes benennt. Auch die Erwählungsvorstellung, die einen solchen Synergis­ mus relativieren könnte, kommt in der Vorrede selten zu Sprache. Lediglich an einigen Stellen, die von der Annahme bzw. Ablehnung des Wortes Gottes sprechen, nimmt Tyn­ dale den Verstockungsgedanken auf. Vgl. z.B. a.a.O., S. 471: „For the nature of God’s word is, that whosoever read it, or hear it reasoned and disputed before him, it will begin immediately to make him every day better and better […] or else make him worse and worse, till he be hardened that he openly resist the Spirit of God and then blaspheme after the example of Pharao, Korah, Abiram, Ballaam, Judas, Simon Magus, and such other“. Im Anschluss nimmt Tyndale Bezug auf Joh 3,19; Röm 1,24 f, d.h. ebenfalls auf Texte, welche die „Verstockung“ thematisieren. 92  Vgl. Brecht, Luther III, S. 104 ff. 93  Clebsch, S. 189–193, nimmt diesen Umstand in seiner Darstellung des „New Testament“ von 1534 gar nicht zur Kenntnis. Trinterud, Reappraisal, S. 39, behauptet: „The apparatus of Luther’s New Testament underwent certain changes in its various edi­ tions up to, and including, 1534, but these seem to have played no role in Tyndale’s edition of November, 1534. He [d.i. Tyndale] was working from his own resources“. Dass Tyn­ dale jedoch noch in seinen letzten Veröffentlichungen nicht darauf verzichtet, die Werke des Wittenbergers zu rezipieren, stellt m.E. eindeutig klar, dass er sich dessen Theologie noch immer verbunden und verpflichtet fühlte.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Diese inhaltliche Abgrenzung wird in den Vorreden besonders dort deutlich, wo Tyndale von Luthers Vorreden abweicht, diese ergänzt oder sogar ganz eigene Vorreden verfasst,94 die sich bisweilen als regelrechte „Kommentare“ zu Luthers Texten lesen. Zu nennen sind hier Tyndales Einleitung zum He­ bräer- und – noch bezeichnender – zum Jakobusbrief.95 7.4.2  Tyndales Übersetzungen von Luthers Vorreden Bei den neutestamentlichen Briefen hat Tyndale in den meisten Fällen Luthers Einleitungen ins Englische übertragen. Die Vorreden zum 2. Korinther-96, zum Epheser-97, Philipper-98 und Kolosserbrief 99, zu den Briefen an die Thes­ salonicher,100 an Timotheus,101 Titus102 und Philemon103 sowie zu den drei 94  95  96 

S.u. 7.4.3.1. S.u. 7.4.4. Prologue 2nd Corinthians, PS 1, S. 512; vgl. WA.DB 7, S. 138 (Vorrede zum 2. Korinther­ brief, 1522). 97  Prologue Ephesians, PS 1, S. 514 vgl. WA.DB 7, S. 190 (Vorrede zum Epheserbrief, 1522). In Tyndales Paraphrasierung von Luthers Text findet sich eine kontroverstheologische Zuspitzung gegen die Zeremonien der Papstkirche. Luthers: „das alle die dran glewben, gerecht, frum, lebendig, selig vnd vom gesetz, sund vnd todt frey werden“ (a.a.O., S. 190,5 ff) wird zu: „thereby to be justified, made righteous, living and happy, and to be delivered from under the damnation of the law and captivity of ceremonies“ (Prologue Ephe­ sians, PS 1, S. 514). Tyndale fasst also Luthers Trias „Gesetz, Sünde, Tod“ zusammen unter dem Begriff der „damnation of the law“ – auch dies ist m.E. ein Indiz dafür, dass er durch­ aus mit dem usus elenchticus des Gesetzes rechnet. 98  Prologue Philippians, PS 1, S. 514 f; vgl. WA.DB 7, S. 210 (Vorrede zum Philipperbrief, 1522). Lediglich der Schluss ist bei Tyndale anders gestaltet als bei Luther. Er verzichtet darauf, den zweiten Teil von Luthers Zusammenfassung von Phil 4 zu übersetzen und verstärkt statt dessen den Aspekt des ersten Teils: „for further than they may safely, and without all peril and suffering, will they not preach Christ“. 99  Prologue Colossians, PS 1, S. 515; WA.DB 7, S. 224 (Vorrede zum Kolosserbrief, 1522). 100  Prologue 1st Thessalonians / Prologue 2nd Thessalonians, PS 1, S. 516 f; vgl. WA.DB 7, S. 238 (Vorrede zum 1. Thessalonicherbrief, 1522); WA.DB 7, S. 250 (Vorrede zum 2. Thessalo­ nicherbrief, 1522). Beim Prolog zum 1 Thess kürzt Tyndale Luthers Zusammenfassung des vierten Kapitels ein wenig. Bei der Beschreibung des Antichrist in 2 Thess 2 ergänzt er zur Verstärkung: „wrought by the working of Satan“ (Prologue 2nd Thessalonians, PS 1, S. 517). 101  Prologue 1st Timothy / Prologue 2nd Timothy, PS 1, S. 517 ff; vgl. WA.DB 7, S. 258 (Vorrede zum 1. Timotheusbrief, 1522) und vgl. WA.DB 7, S. 272 (Vorrede zum 2. Timotheus­ brief, 1522). Im Prolog zum 1 Tim ergänzt Tyndale in der Zusammenfassung des ersten Kapitels in einem Satz das, was er offenbar bei Luthers Summarium vermisst hat, nämlich dass Paulus hier (vermutlich 1 Tim 1,12–20) auch eine „short conclusion of all Christian learning“ (Prologue 1st Thessalonians/ Prologue 2nd Thessalonians, PS 1, S. 517) gibt. 102  Prologue Titus, PS 1, S. 520 (vgl. WA.DB 7, S. 284, Vorrede zum Titusbrief, 1522). Auf­ fällig ist der markante Zusatz Tyndales an der Stelle, an der er den Zweck beschreibt, zu dem die Christen das durch sein Blut erworbene Eigentum Christi sind, nämlich: „to glo­ rify God with good works“. Dieser Zusatz fehlt bei Luther und passt zur hervorgehobe­ nen Rolle der guten Werke im Leben eines Christenmenschen, die Tyndale andernorts herausstellt. 103  Prologue Philemon, PS 1, S. 520; vgl. WA.DB 7, S. 292 (Vorrede zum Philemonbrief,

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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Jo­hannesbriefen104 und zum Judasbrief 105 sind Übersetzungen Luthers mit nur geringen Veränderungen. Maßgebliche inhaltliche Eingriffe Tyndales in Luthers Vorreden finden sich bei den Vorreden zum Galater- und Römerbrief, sowie zu den beiden Petrusbriefen.106 Eigene Prologe, die den Lesern im We­ sentlichen exegetische Informationen bieten sollen, verfasst Tyndale zu den Evangelien und zum 1. Korintherbrief. Seine Einleitungen zum Hebräer- und Jakobusbrief sind dagegen theologische Abhandlungen, die noch einmal sein besonderes theologisches Profil herausstellen.107 Eine Vorrede Tyndales zur Offenbarung des Johannes fehlt, obwohl Luther diesem Buch eine seiner aus­ führlichsten Einleitungen widmet.108 Womöglich teilte Tyndale das Urteil des Wittenbergers, „das Christus, drynnen widder geleret noch erkandt wirt“109 und verzichtete deswegen auf ein Vorwort. Auch die Apostelgeschichte erhielt von Tyndale kein eigenes Vorwort, weil er sie in seiner kurzen Einleitung zum Lukasevangelium mitbehandelt. 7.4.3  Tyndales Ergänzungen zu Luthers Vorreden 7.4.3.1  Die Vorreden zum Römerbrief und zum Galaterbrief Tyndales Vorrede zum Römerbrief auf der Grundlage von Luthers Einlei­ tung war bereits 1526 erschienen.110 Tyndale integriert sie 1534 in sein Neues Testament und nimmt dabei einige Ergänzungen vor, die seine theologische Weiterentwicklung seit 1526 spiegeln.111 1522). Tyndale folgt Luther in der Zusammenfassung des Briefes, übernimmt aber dessen Übertragung des Beziehungsdreiecks Paulus – Onesimus – Philemon auf die Relation Christus – Mensch – Gott nicht. 104  Prologue 1st – 3rd John, PS 1, S. 529 f; WA.DB 7, S. 326 (Vorrede zu den drei Johannesbrie­ fen, 1522). Tyndale paraphrasiert Luthers Text an zwei Stellen in größerer Ausführlich­ keit, ohne dabei von der Aussage Luthers abzuweichen. Markant ist allerdings, dass er Luthers wenig freundlichen Verweis auf den Jakobusbrief weglässt. 105  Prologue Jude, PS 1, S. 531; vgl. WA.DB 7, S. 384 (Vorrede zum Jakobus- und Judas­ brief, 1522). Luthers kurze Bemerkung zum Judasbrief, die an die Vorrede zum Jakobus­ brief anschließt, übernimmt Tyndale nur in ihrem ersten Satz. Auch er stellt fest, dass diese Schrift textlich mit dem 2. Petrusbrief übereinstimmt. Tyndales Urteil fällt jedoch – anders als das Luthers, der die Schrift als „unnötige Epistel“ beschreibt – positiver aus: „yet, seeing the matter is so godly, and agreeing to other places of holy scripture, I see not but that it ought to have the authority of holy scripture“ (Prologue Jude, PS 1, S. 531). 106  S.u. 7.4.3. 107  S.u. 7.4.4.2 und 7.4.4.3. 108  Vgl. WA.DB 7, S. 404–421 (Vorrede zur Offenbarung des Johannes, 1522). 109  Vgl. a.a.O., S. 404,27. 110  S.o. 2.6. 111  Die Ergänzungen sind in der Ausgabe der PS mit Asterisci gekennzeichnet (vgl. Romans, PS 1, S. 490, Anm. 2), weil sie in der ihr zugrunde liegenden Werkausgabe von Foxe/ Day nicht enthalten sind, wohl aber in der NT-Ausgabe von 1534 (vgl. TNT, S. 207–224). Die Passagen (Romans, PS 1, S. 488 f.490 f.508 ff) fallen schon allein durch ihre Bezugnahme auf den „covenant“ ins Auge.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Die von Luther übernommene Aussage, „All unsere Rechtfertigung kommt darum aus Glauben, und Glaube und Geist kommen aus Gott und nicht aus uns“112, ergänzt Tyndale nun um folgende Erläuterung: „Wenn wir sagen, Glaube bringe den Geist mit sich, so ist dies nicht so zu verstehen, dass Glaube den Geist verdiene oder dass der Geist nicht schon vor dem Glauben in uns präsent wäre, denn der Geist ist immer schon in uns, und der Glaube ist das Geschenk und ein Werk des Geistes. Aber durch die Predigt beginnt der Geist in uns zu arbeiten: durch die Predigt des Gesetzes bewirkt er die Furcht Gottes, ebenso wie er durch die Predigt der frohen Botschaft den Glauben wirkt. Wenn wir nun also glauben und zum Bund Gottes gehören, dann sind wir des Geistes sicher durch die Verheißung Gottes, und der Geist begleitet den Glauben untrennbar, und wir beginnen, sein Wirken zu spüren“113.

Anders als im Vorwort zu NT-Ausgabe von 1534 ist für Tyndale hier die pneu­ matologische Dimension wieder von entscheidender Bedeutung. Der Geist er­ scheint – wie schon 1526114 – als Mittler im Geschehen der Rechtfertigung und Heiligung, das hier neu als Bundesgeschehen begriffen wird: Gottes Geist bewirkt im Menschen – durch die Predigt des Evan­ge­liums – den Glauben. Im Glauben weiß sich der Mensch in den Raum des Bundes mit Gott gestellt und erkennt das Wirken des Geistes in sich selbst, das ihn dazu befähigt, Gott und den Nächsten zu lieben. Die guten Werke, die aus dieser Liebe erwachsen, be­ zeugen es ihm. Eine ähnliche theologische Stoßrichtung hat auch die zweite Ergänzung, die sich speziell mit dem Verhältnis von Glauben und Liebe befasst.115 Ausge­ hend von Luthers Feststellung, dass Christus in Joh 16,9 den Unglauben als Sünde bezeichnet, fügt Tyndale zahlreiche weitere Bibelzitate an und erklärt seinen Lesern so, wie die Erkenntnis Christi im Glauben („the knowledge of Christ“116) und die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zur Liebe und zum Dienst am 112  A.a.O., S. 488 f: „All our justifying then cometh of faith, and faith and the Spirit come of God, and not of us“; vgl. WA.DB 5, S. 621,26 f (Praefatio in Epistolam Pauli ad ­Romanos, 1529): „Tota igitur iustificatio ex deo est, fides et spiritus ex Deo sunt et non ex nobis“. 113  Romans, PS 1, S. 489: „When we say, faith bringeth the Spirit, it is not to be under­ stood, that faith deserveth the Spirit, or that the Spirit is not present in us before faith: for the spirit is ever in us, and faith is the gift and working of the Spirit: but through pre­ aching the Spirit beginneth to work in us. And as by preaching of the law he worketh the fear of God; so by preaching the glad tidings he worketh faith. And now when we believe, and are come under the covenant of God, then are we sure of the Spirit by the promise of God, and the Spirit accompanieth faith inseparably, and we begin to feel his working“. Der Zusammenklang von Gottesfurcht und Glaube erinnert auch an Luthers Auslegung der Zehn Gebote im Kleinen Katechismus, vgl. KlKat (1528), BSLK, S. 507–510. 114  S.o. 2.6.3. 115  Vgl. Romans, PS 1, S. 490 f. 116  A.a.O., S. 490 (Joh 12,36; Eph 4,17.22; Röm 13,12; 1 Petr 1,14; 1 Joh 2,10); s.o. 5.4.6.

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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Nächsten zusammenhängen: Wer wahrhaft glaubt, kann nicht sündigen, denn er ist erfüllt von der Liebe zu Gott, die dieser ihm zuvor hat zuteil wer­ den lassen. Der Urgrund jeder Sünde liegt daher im Verstoß gegen das Gebot der Gottesliebe.117 Eindrücklich formuliert Tyndale die liebevolle Hingabe Gottes an seine Erwählten, die es im Glauben zu ergreifen gilt: „Wenn mein Herz glaubte und die unendlichen Wohltaten und Freundlichkeit Gottes mir gegenüber spürte und ernsthaft die vielfältigen Bundesschlüsse annähme, mit de­ nen Gott sich ganz gar, mit all seiner Macht, seiner Liebe, seinem Erbarmen und seiner Gewalt mir zu eigen gemacht hat, dann sollte ich ihn doch mit ganzem Herz, ganzer Seele und ganzer Kraft lieben und aus Liebe stets seine Gebote halten“118.

In heilsgeschichtlicher Perspektive ist hier die Rede von den Bundesschlüssen als „covenants of mercy“, die Gott aus Gnade eingeht und die darum jedem menschlichen Handeln vorausgehen, im Sinne dessen, was Tyndale in „Expo­ sition Matthew“ als „first covenant making“ beschrieben hatte.119 Das Kon­ ditionale der Bundesbeziehung tritt zurück hinter die von Gott gestiftete Lie­ besbeziehung. Die Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben ist also auch 1534 für Tyndale der Schlüssel zu Paulus und zur Schrift insgesamt.120 Die Zusammenfassung dieses Verständnisses von Rechtfertigung und Heiligung liefert Tyndale in einem Anhang zur Übertragung von Luthers Vorrede,121 in dem er das Heilsgeschehen für seine Leser in drei Schritte zu­ sammenfasst und sie ermutigt: 1. durch das Gesetz ihre Verwerfung zu erken­ nen, 2. in Christus die Gnade Gottes zu erfassen und 3. diese Gnade auch für sich anzunehmen und ein Leben als „neue Kreatur“ zu führen: 117  Vgl. a.a.O., S. 490 f: „it is impossible that he knoweth Christ truly should hate his brother. Furthermore, to perceive this more clearly, thou shalt understand, that it is not possible to sin any sin at all, except a man break the first commandment before […] the whole cause why I sin against my inferior precept is, that this love is not in mine heart; for were this love written in mine heart, and were it full and perfect in my soul, it would keep mine heart from consenting unto any sin. And the whole and only cause why this love is not written in our hearts is, that we believe not the first part, that ‚our Lord God is one God’“. Das sündige Fleisch hält den Geist bzw. den Menschen von seiner „Nahrungs­ quelle“, der Nähe zu Gott, ab: „the flesh through negligence hath choked the spirit and oppressed her, and taken her from her the food of her strength; which food is her medita­ tion in God, and in his wonderful deeds, and in the manifold covenants of his mercy“ (ebd.). 118  Ebd.: „If mine heart believed and felt the infinite benefits and kindness of God ­toward me, and understood and earnestly believed the manifold covenants of mercy where­with God hath bound himself to be mine wholly and altogether with all his power, love, mercy, and might; then should I love him with all mine heart, soul and power, and might, and of that love ever keep his commandments“. 119  S.o. 6.5.2. 120  Vgl. a.a.O., S. 508 f: „And when I say, God justifieth us, understand thereby, that God for Christ’s sake, merits, and deservings only, receiveth us unto his mercy, favour, and grace, and forgiveth us our sins“. 121  Vgl. a.a.O., S. 508–510.

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„Zuerst, erkenne dich selbst eifrig im Gesetz Gottes und entdecke dort deine gerechte Verurteilung. Zweitens, wende deine Augen Christus zu und erkenne dort die über­ mäßige Barmherzigkeit deines überaus gütigen und liebevollen Vaters. Drittens, erin­ nere dich, dass Christus seine Versöhnungstat nicht vollbracht hat, damit du Gott aufs Neue erzürnst. Er starb nicht für deine Sünden, damit du, wie ein Schwein, in deinen alten Pfuhl zurückkehrst, sondern damit du eine neue Kreatur wirst und ein neues Le­ ben lebst nach dem Willen Gottes und nicht nach dem Fleische“122.

In ähnlicher Weise summiert Tyndale auch in seinem kurzen Zusatz zur Übertragung von Luthers Galaterbriefvorrede die Botschaft dieser Epistel.123 Paulus predigt für ihn hier zunächst die Verdammung durch das Gesetz, dann die Rechtfertigung durch den Glauben und schließlich die Werke der Lie­ be.124 Weil Tyndale aber letztere als vom Menschen zu erfüllenden Part der Bundesrelation so überdeutlich hervorhebt und rückwirkend zur Bedingung der Rechfertigung erklärt, gewinnt hier wieder die Konditionalität des Bun­ desverhältnisses an Gewicht. 7.4.3.2  Die Vorreden zum 1. und 2. Petrusbrief Auch Tyndales Prolog zum 1. Petrusbrief nimmt Luthers Vorrede auf und er­ gänzt sie an drei Stellen, die seine eigene theologische Handschrift sichtbar machen.125 Die Verheißung der „zukunfftigen selickeyt“126 durch die Pro­ pheten (1 Petr 1,10) wird von Tyndale mit einem Hinweis auf die Heiligung erläutert, die aus der Heiligkeit Christi selbst resultiert.127 Zugleich erinnert er seine Leser daran, dass diese Verheißung eine Verwandlung impliziert, die sich in ihrem Leben vollziehen soll. Die Heiligkeit ihrer Existenz, die aus dem

122 

Vgl. a.a.O. S. 510: First, behold thyself diligently in the law of God, and see there thy just damnation. Secondly, turn thine eyes to Christ, and see there the exceeding mercy of thy most kind and loving Father. Thirdly, remember that Christ made not this atone­ ment that thou shouldest anger God again; neither died he for thy sins, that thou shouldest return, as a swine, unto thine old puddle again; but that thou shouldest be a new creature, and live a new life after the will of God, and not of the flesh“. 123  Vgl. WA.DB 7, S. 172 (Vorrede zum Galaterbrief, 1522). 124  Vgl. Prologue Galatians, PS 1, S. 513: „So that in all his epistle he observeth this or­ der; first he preacheth the damnation of the law, then the justifiying of faith, andthirdly the works of love. For on that condition, that we love henceforth and work, is the mercy given us; or else, if we will not work the will of God henceforward, we fall from favour and grace; and the inheritance that is freely given us for Christ’s sake, through our own fault we lose again“. 125  Vgl. WA.DB 7, S. 298 (Vorrede zum 1. Petrusbrief, 1522) und WA.DB 7, S. 314 (Vor­ rede zum 2. Petrusbrief, 1522). 126  WA.DB 7, S. 298,7 (Vorrede zum 1. Petrusbrief, 1522); Tyndale übersetzt „the hope of the life to come“ (Prologue 1st Peter, PS 1, S. 527). 127  Vgl. Prologue 1st Peter, PS 1, S. 527: „he exorteth to lead an holy conversation; and, because we be richly bought and made heirs of a rich inheritance, to take heed that we lose it not again through our own negligence“.

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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Werk Christi erwächst, ist etwas, für dessen Bewahrung sie selbst Sorge zu tragen haben („take heed“).128 Tyndales zweite Ergänzung zum Luthertext verweist ebenfalls auf den Le­ benswandel der Gläubigen. Indem er dem Vergleich der Glaubenden mit Priestern (1 Petr 2,9 f) die Konkretion anfügt: „to flee the lusts of the flesh, that fight against the soul“129, stellt Tyndale das Heiligungsgeschehen in den Kontext des Gegensatzes von Geist/Seele und Fleisch: Obwohl die Seele hei­ lig geworden ist, bleibt der Leib fleischlich und muss durch Züchtigung und Disziplin überwunden werden, um in Heiligkeit zu wandeln.130 Theologisch signifikante Erweiterungen finden sich auch im Prolog zum 2. Petrusbrief, der wohl aufgrund seiner Thematik Tyndales besonderes In­ teresse gefunden haben dürfte. Dass hier jene angesprochen werden, „die dachten, dass christlicher Glaube faul wäre und ohne Werke“131, kann Tyn­ dale zum Anlass nehmen, um dem Vorwurf ethischer Nachlässigkeit die Spitze zu nehmen. Erneut stellt er Verheißungen und Werke in ein Bedin­ gungsverhältnis: „the promise of Christ is made us upon that condition, that we henceforth work the will of God, and not of the flesh“132. Die Hervorhe­ bung der „condition“ lässt auch hier die Rechtfertigung in Christus als ein Geschehen „auf Widerruf“ erscheinen. Tyndales Ergänzungen zum dritten Kapitel machen seine Beweggründe für diese ständig wiederkehrende Betonung der Verbindlichkeit ethischen Handelns sichtbar.133 Er greift die endzeitliche Perspektive des 2. Petrusbrie­ fes auf und hält seine Leser dazu an, den kommenden „Tag des Zorns“ „mit heiligem Verhalten und gottgemäßem Leben“134 zu erwarten. Die Hervorhe­ bung der Ethik geschieht also vor einem eschatologischen Horizont. Tyndales Zukunftsaussichten für die christliche Gemeinde sind tatsächlich düster. Den drei Kapiteln des Briefes ordnet er drei Zeitphasen zu: die Zeit des wahren unverfälschten Evan­ge­liums (Kap. 1), die Zeit der Herrschaft des Papstes und damit der Menschensatzungen (Kap. 2) und schließlich die kom­  

128 

Auch hier stellt sich die Frage, ob die Hervorhebung der Heiligung des Menschen nicht verwechselt werden kann mit seiner Mitwirkung am Heil. 129  Ebd. Tyndales dritte Ergänzung bezieht sich auf die christliche Hoffnung in der Verfolgung. Christen dürfen sich auch in schweren Zeiten um Christi willen freuen: „see­ ing as they be here partakers of his afflictions, so shall they be partakers of his glory to come“ (a.a.O., S. 528). 130  S.o. 3.3.7.1; 5.3.4.1; 6.2.3.1. 131  Prologue 2nd Peter, PS 1, S. 528: „which thought that christian faith might be idle and without works“. Vgl. WA.DB 7, S. 314,2 f (Vorrede zum 2. Petrusbrief, 1522): „die da meynen, der Christliche glawb muge on werck seyn“. 132  Prologue 2nd Peter, PS 1, S. 528. 133  Auch zu 2 Petr 2 ergänzt Tyndale längere Textpassagen, sie dienen aber lediglich der Erläuterung des von Luther Gesagten und der Aktualisierung der Polemik gegen die Irrlehrer durch den Bezug auf „the pope’s holy spirituality“, vgl. a.a.O., S. 529. 134  Ebd.: „with holy conversation and godly living“.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

mende Zeit, in der die Menschen noch den letzten Rest an Glauben verlieren werden (Kap. 3).135 Möglicherweise klingt in dieser Passage die Frustration Tyndales angesichts der Situation der Sache des Evan­ge­liums an, die schon im Vorwort zu spüren war.136 Erneut zeigt sich jedenfalls die Verschiedenheit der Situation der evangelischen Gemeinde in England von derjenigen der im Aufbau begriffenen reformatorischen Kirchentümer auf dem Kontinent. Die von Tyndale konditional eingeforderte Ausrichtung der Glaubenden auf Got­ tes- und Nächstenliebe ist Mahnung an die kleine Schar der Aufrechten in zunehmender endzeitlicher Bedrängnis. In ihr sieht Tyndale die einzige Mög­ lichkeit, seiner als Zeit des Abfalls empfundenen Epoche zu begegnen. 7.4.4  Tyndales eigene Vorreden 7.4.4.1  Die Vorreden zu den Evangelien und zum 1. Korintherbrief: Exegetische Informationen In eigenen kurzen Einleitungen zu den Evangelien stellt Tyndale die Evange­ listen als Autoren vor und informiert kurz über den historischen Hinter­ grund. Matthäus wird als Apostel Christi eingeführt,137 Markus mit der kirchlichen Tradition (Apg 12,12) als Begleiter von Paulus und Barnabas iden­ tifiziert.138 Lukas stellt Tyndale mit der Tradition als Reisebegleiter des Pau­ lus vor und billigt ihm zu, von den Taten der Apostel aus erster Hand zu be­ richten.139 Im Evangelisten Johannes sieht Tyndale den bei den Synoptikern beschriebenen Lieblingsjünger Jesu, dessen Schrifttum vor allem der Abwehr zweier Häresien gewidmet ist:140 Johannes will einmal der Irrlehre begeg­ nen, die Christi Gottheit leugnet. Zum anderen wendet er sich gegen die Leugnung der Menschheit Christi, wie Tyndale mit Joh 1,1 ff und 1 Joh 1,1 ff darlegt. Die Frage, warum sich das vierte Evan­ge­lium inhaltlich von den drei  



135  Vgl. ebd.: „Finally, the first chapter sheweth how it should go in the time of the pure and true Gospel: the second, how it should go in the time of the pope and men’s dec­ trine [sic!]: the third, how at last men should believe nothing, nore fear God at all“. 136  S.o. 7.3.2. 137  Vgl. Prologue Matthew, TNT, S. 10 f: „Matthew […] was one of Christ’s apostles, and was with Christ all the time of his preaching, and saw and heard his own self almost all that he wrote“. 138  Vgl. Prologue Mark, PS 1, S. 480: „whereof ye see of whom he learned his gospel, even of the very apostles, with whom he had continual conversation; and also of what au­ thority his writing is, and how worthy of credence“. Tyndale verweist auch auf Kol 4,10; 2 Tim 4,11 u. 1 Petr 5,13. 139  Prologue Luke, PS 1, S. 481: „he himself was at the doing of them, at the least of the most part, and had his part therein, and therefore wrote of his own experience“ (Kol 4,14; 2 Tim 4,11; Apg 16 ff). 140  Prologue John, PS 1, S. 482: „The cause of his writings was certain heresies that arose in his time, namely two; one of which denied Christ to be very God, and the other to be very man and to be come in the very flesh and nature of man“.

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7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

anderen unterscheidet, beantwortet Tyndale mit dem Hinweis auf seine späte Entstehungszeit.141 Auch den 1. Korintherbrief versieht Tyndale mit einer eigenen kurzen Ein­ leitung, die im Wesentlichen den Inhalt der Epistel zusammenfasst und ihren Entstehungshintergrund erläutert.142 Theologisch interessant ist hier ledig­ lich seine Zusammenfassung der paulinischen Paränese in 1 Kor 12–14, bei der er die Bedeutung der Liebe als Haltung der Christen untereinander her­ ausstellt: „Denn dass wir einander lieben ist alles, was Gott von uns er­war­ tet“143. Im Leitmotiv der Liebe, das für Tyndales eigene Theologie von Be­ deutung ist, weiß er sich mit Paulus einig. 7.4.4.2  Die Vorrede zum Hebräerbrief Tyndales Prolog zum Hebräerbrief setzt Luthers Vorrede voraus, der Text ist jedoch keine Übersetzung Luthers, sondern vielmehr kritischer Kommen­ tar.144 Wie Luther beschäftigt sich Tyndale dabei zunächst mit der Frage nach der Verfasserschaft des Hebräerbriefes. Wo der Wittenberger mit Gal 1,1.12 klar gegen eine Verfasserschaft des Paulus argumentiert, will er diese Frage jedoch offen halten.145 Mit Blick auf die inhaltlichen Kriterien, die für die Apostolizität des Briefes sprechen, liest sich seine Vorrede als Gegenvotum zu Luther, denn er nimmt die drei von diesem gegen die „Rechtgläubigkeit“ des Hebräerbriefes ins Feld geführten Textstellen auf und deutet sie entgegenge­ setzt. Luther hatte die Aussagen, in denen der Hebräerbrief die Möglichkeit ei­ ner zweiten Buße nach dem Empfang der Taufe verneint (Hebr 6,4 ff; 10,26 f; 12,16), als den „harten knotten“ des Briefes bezeichnet, der „widder alle Evan­ geli und Epistel Sanct Pauli ist“146. Tyndale referiert diese Position147 und führt dann den Nachweis, dass die angeführten Stellen gerade nicht im Wider­  



141  Vgl. ebd.: „John also wrote last, and therefore touched not the story that the other had compiled, but writeth most of faith, and promises, and of the sermons of Christ“. 142  Tyndale selbst stellt fest, vgl. Prologue 1st Corinthians, PS 1, S. 511: „This epistle de­ clareth itself from chapter to chapter, that it needeth no prologue, or introduction to de­ clare it“. 143  A.a.O., S. 512: „For that one should love another is all that God requireth of us“; vgl. ebd. die entsprechende Marginalie: „Love fullfilleth the law“. 144  Vgl. WA.DB 7, S. 344 (Vorrede zum Hebräerbrief, 1522). 145  Vgl. Prologue Hebrews, PS 1, S. 521: „About this epistle hath ever been much doub­ ting, and that among great learned men, who should be the author thereof“. Tyndale hält bezeichnenderweise schon in der Überschrift an der traditionellen Zuordnung des He­ bräerbriefs zum Corpus Paulinum fest, vgl. ebd.: „A Prologue upon the epistle of St Paul to the Hebrews“. 146  WA.DB 7, S. 344,13.15 f (Vorrede zum Hebräerbrief, 1522). 147  Vgl. Prologue Hebrews, PS 1, S. 521 f: „Which texts, say they, sound, as if a man sin any more after he is once baptized, he can be no more forgiven; and that is contrary to all scripture, and therefore to be refused to be catholic and godly“.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

spruch zur Gesamtaussage der Schrift stehen. Für ihn thematisieren auch die Schriftstellen in den Evangelien, die von der unvergebbaren Sünde wider den Heiligen Geist handeln (Mt 12,31 f; Mk 3,28 ff; Lk 12,10), genau die Proble­ matik, von der der Hebräerbrief spricht. Gleiches gilt für weitere Episteltexte, die ebenfalls von der Unmöglichkeit einer zweiten Buße sprechen (1 Joh 5,16b; 2 Petr 2,20; 2 Tim 4,14). Das exegetische Verfahren, das Tyndale wählt, wird damit offensichtlich: Umstrittene Texte werden durch die Hinzuziehung weiterer biblischer Be­ lege erläutert. Den reformatorischen Grundsatz Scriptura sui ipsius interpres ver­ steht Tyndale im Sinne einer konkordanten Lektüre des Ganzen der Heiligen Schrift, mit deren Hilfe die zum Verständnis des fraglichen Textes wertvol­ len Passagen herausgefiltert werden können.148 Anders als Luther, der von Christus als der Mitte der Schrift her die Aussage des Hebräerbriefes ablehnt,149 versucht Tyndale auf der Grundlage einer breiten Bezeugung im biblischen Text zu einem exegetischen Urteil zu kommen. Die Schrift als Ganze ist hier hermeneutische Referenzgröße, nicht so sehr die inhaltlich qualifizierte Bot­ schaft von der gerechtmachenden Gnade Gottes in Christus. Tyndale inter­ pretiert daher die umstrittenen Stellen im Hebräerbrief im Lichte der breiten neutestamentlichen Bezeugung einer Verweigerung der zweiten Buße (v.a. in Mt 12,31par). Die unvergebbare Sünde all jener, die Gottes Wort zwar als Wahrheit erkennen, aber ablehnen („willingly refuse the light“150), besteht in der Zurückweisung des Heiligen Geistes. Ihnen wird darum die Vergebung, die Gabe des Geistes ist, verweigert.151 Mit dieser Exegese berührt Tyndale wiederum das Spannungsfeld zwi­ schen göttlichem Wirken und menschlichem Verhalten: Einerseits wirkt der Geist im Menschen Erkenntnis der Sünde und Hinwendung zu Gott. Ande­ rerseits können sich offenbar auch Menschen selbst durch Ablehnung des gött­ lichen Geistwirkens vom Heil ausschließen. Tyndale versucht wohl auch hier beides zugleich festzuhalten: Die göttliche Souveränität (Gabe bzw. Verwei­ gerung des Geistes) und menschliche Mitwirkung (Annahme bzw. Ableh­ nung der Gnade). Damit nimmt er zwar ernst, dass auch im biblischen Motiv  



148  Vgl. Prologue Hebrews, PS 1, S. 522: „Wherefore seeing no scripture is of private in­ terpretation, but must be expounded according to the general articles of our faith, and agreeable to other open and evident texts, and confirmed or compared to like sentences“. 149  Zu Luthers Prinzip der Schriftauslegung vgl. Althaus, Theologie, S. 71–83; Bayer, S. 73 ff; Beutel, Wort Gottes, S. 367 ff. 150  Prologue Hebrews, PS 1, S. 522. 151  Vgl. a.a.O., S. 523: „For them that sin of ignorance or infirmity, there is remedy; but for him that knoweth the truth, and yet willingly yieldeth himself to sin […] I say, there is no remedy; the way to mercy is locked up […] Truth it is, if a man can turn to God and believe in Christ, he must be forgiven, how deep soever he hath sinned; but that will not be without the Spirit, and such blasphemers shall no more have the Spirit offered to them“.

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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der „Verstockung“ göttliche Vorherbestimmung und menschlicher Willen zusammenfallen,152 läuft jedoch Gefahr, die menschlichen Anteile an der Er­ langung des Heils zu Lasten des göttlichen Gnadenhandelns hervorzuheben. Dass ihm so viel an der menschlichen Haltung liegt, ist auch hier wohl aus der Situation seiner Adressaten zu erklären. Die englischen Leser mussten in jenen, die als „blasphemers“ Gottes Willen zwar erkannt hatten, ihn aber den­ noch ablehnten, ihre papstkirchlichen Widersacher erkennen. Von ihnen soll­ ten sie sich klar abgrenzen: „Lasst darum jeden Menschen Gott fürchten und sich in Acht nehmen, dass er sich nicht hingibt, der Sünde zu dienen, sondern: wie oft er auch immer sündigt, lass ihn wieder beginnen und von Neuem kämpfen und ohne Zweifel wird er am Ende obsie­ gen. In der Zwischenzeit aber wird er unter der Gnade stehen um Christi willen, denn sein Herz arbeitet und wäre gerne befreit von den Fesseln der Sünde“153.

Indem er festhält, dass der Hebräerbrief durchaus seinen Ort im Kontext der Heiligen Schrift als „holy, godly and catholic“154 beanspruchen darf, fasst Tyndale die Ergebnisse seiner Exegese zusammen. Zwar legt der Hebräer­ brief nicht selbst die Grundlage für den Glauben an Christus, „yet it buildeth cunningly thereon pure gold, silver, and precious stones“155. Insbesondere die Bezugnahme auf das Alte Testament findet Tyndale dabei – wie auch Lu­ ther156 – bemerkenswert. Ebenfalls wieder an Luther anschließend äußert Tyndale zum Abschluss die Vermutung, dass es sich beim Verfasser des Heb­ räerbriefes um einen Apostel (-schüler) handeln könnte. Fest steht für ihn je­ denfalls, „that he was a faithful servant of Christ“157. 7.4.4.3  Die Vorrede zum Jakobusbrief Angesichts der Ausprägung der Theologie Tyndales ist es nicht verwunder­ lich, dass sich auch seine Vorrede zum Jakobusbrief anders liest als die Luthers. In der Tat scheint es so, als ob er sich in der Beurteilung der theologischen 152  Tyndales Beispiel ist die biblische Gestalt Esaus: „For Esau in selling his birth-right despised not only that temporal promotion, that he should have been lord over all his bre­ thren, and king of the country; but also refused the grace and mercy of God, and the spi­ ritual blessing of Abraham and Isaac, and all the mercy that is promised us in Christ, which should have ben his seed“ (ebd.). 153  Ebd.: „Let every man therefore fear God, and beware that he yield not himself to serve sin; but how oft soever he sin, let him begin again, and fight afresh, and no doubt he shall at the last overcome, and in the meantime yet be under mercy for Christ’s sake, be­ cause his heart worketh, and would fain be lossed from under the bondage of sin“. Wie anders klingt da Luthers Aussage im Brief an Melanchthon vom 1.8.1521: „pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo“ (WA.B 2, S. 372,84 f). 154  Prologue Hebrews, PS 1, S. 524. 155  Ebd., vgl. WA.DB 7, S. 344,25 f (Vorrede zum Hebräerbrief, 1522): „So bawet er doch seyn drauff, golt, sylber, edelsteyne“. 156  Vgl. WA.DB 7, S. 344,20–24 (Vorrede zum Hebräerbrief, 1522). 157  Prologue Hebrews, PS 1, S. 524.

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Qualität des Briefes bewusst von Luther absetzen wollte. Zwar nimmt er For­ mulierungen aus dessen Prolog auf, kommt aber zu entgegengesetzten Be­ wertungen. Besonders augenfällig wird dies, wenn Tyndale Luthers Urteil, die Schrift stamme nicht von einem der Apostel, widerspricht und festhält: „methinketh it ought of right to be taken for holy scripture“158. Gerade in der Herausstellung der Werke im Jakobusbrief erkennt er den Einklang mit der gesamten biblischen Botschaft, denn nur der Glaube, dem gute Werke folgen, ist schließlich rechtfertigender Glaube.159 Tyndale unterscheidet hier zwar eine Rechtfertigung aus Werken coram mundo von der im Glauben geschehen­ den Rechtfertigung coram Deo,160 aber auch hier scheint er an einer Stelle die Zusage der Gnade von den guten Werken abhängig zu machen: „Denn Gott verspricht nur denen Vergebung ihrer Sünden, die zu Gott umkehren, um seine Gesetze zu halten. Weshalb jene, die beabsichtigen, weiter in der Sünde fort­ zufahren, keinen Anteil an den Verheißungen haben, sie täuschen sich vielmehr, wenn sie glauben, dass Gott ihnen ihre alten Sünden um Christi willen vergeben hätte“161.

Deutlich kommt die Abgrenzung gegenüber all jenen zum Ausdruck, die (vordergründig) glauben, ohne von der Liebe Gottes so durchdrungen zu sein, dass sie versuchen, die Sünde überwinden. Ihnen gesteht Tyndale Gottes Gnade nicht zu und will seinen verfolgten Landsleuten damit möglicherweise ein Bewusstsein der eigenen Überlegenheit gegenüber den Vertretern der Papstkirche vermitteln. 7.4.4.4  Marginalien zum Neuen Testament von 1534 Anders als das Neue Testament von 1526 besaß die revidierte Fassung Rand­ notizen Tyndales, die den Text beleuchten sollten.162 Neben der Angabe von Vergleichstexten enthalten die Marginalien vor allem Stichworte zu den ein­ 158  Prologue James, PS 1, S. 525. Das für Luther entscheidende Kriterium bei dieser Be­ urteilung des Jakobusbriefes ist freilich, dass er in der Schrift nichts erkennen kann, was „Christum treibet“; vgl. Althaus, Theologie, S. 80 f. 159  Vgl. Prologue James, PS I, S. 515: „that faith, which hath no good deeds following, is a false faith, and not the faith that justifieth, or receiveth forgiveness of sins“. 160  Vgl. a.a.O., S. 526: „And as faith only justifieth before God, so do deeds only ­justify before the world […] faith, wherewith he was righteous before God in the heart, did cause him to work the will of God outwardly, whereby he was righteous before the world, and whereby the world perceived that he believed in God“. Vgl. dazu auch Trueman, Legacy, S. 102–105. 161  Prologue James, PS 1, S. 525 f: „For God promiseth them only forgiveness of their sins, which turn to God to keep his laws. Wherefore they that purpose to continue still in sin, have no part in that promise; but deceive themselves if they believe that God hath for­ given them their old sins for Christ’s sake“. 162  Vgl. W.T. unto the Reader, PS 1, S. 468: „I have also in many places set light in the margin to understand the text by“. Die Marginalien enthalten nur noch Anklänge an die des „Cologne Fragment“ (s.o. 2.4); vgl. dazu auch Mozley, 285 f; Daniell, Biography, S. 329 f.

7.4  Tyndales Vorreden und ihre Vorlagen

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zelnen Perikopen, die kurze Inhaltsangaben163 geben oder das theologische Stichwort nennen, das in der Passage zentral ist.164 So weist Tyndale seine Le­ serschaft beispielsweise immer wieder durch den Hinweis „covenants“ auf Stellen hin, an denen ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Men­ schen angesprochen wird.165 Manche Randbemerkungen enthalten darüber hinaus kurze theologische Zusammenfassungen dessen, was nach Tyndales Auffassung ausgesagt wird.166 Die Behauptung Clebschs, Tyndale habe in seinen Marginalien 1534 im Vergleich zu denen im „Cologne Fragment“ (1525) systematisch alle Hin­ weise auf die Unverdientheit der göttlichen Gnade getilgt und stattdessen die Verbindlichkeit der Bundesverpflichtung des Menschen betont, ist nur in Tei­ len zutreffend.167 Tatsächlich spiegelt der Befund eher ein unausgeglichenes Nebeneinander von Bemerkungen, in denen Tyndale sehr wohl daran fest­ hält, dass die Werke einen Menschen nicht rechtfertigen168 und Aussagen, die die Konditionalität des Bundesverhältnisses betonen.169 Auch hier bleibt Tyn­ dales Bundestheologie widersprüchlich. Exkurs: Die Veränderungen in der zweiten Auflage des Pentatauch von 1534: Genesis als „Bundesbuch“ Auch seine Pentateuchübersetzung brachte Tyndale 1534 in einer Neuaus­ gabe heraus, die jedoch nur in der Genesis einige wenige textliche Verände­ rungen gegenüber der 1530er Ausgabe aufwies.170 Allerdings veränderte Tyndale das Vorwort: Den einleitenden Passus von 1530 strich er zugunsten 163  So z.B. in der Passionsgeschichte „Jesus is annointed“ (TNT, S. 82), „He is be­ trayed“ (a.a.O., S. 83), aber auch in den Briefen, vgl. z.B. a.a.O., S. 276 „Paul defendeth the liberty of the gospel“ (Gal 2). 164  So vor allem bei den ntl. Briefen, wo Tyndale u.a. auf „sin“ (a.a.O., S. 210), „The Lord’s supper“ (a.a.O., S. 254) oder „Antichrist“ (a.a.O., S. 339) hinweist. 165  Vgl. a.a.O., S. 25 (Mt 5,1–12), S. 27 (Mt 6,12), S. 29 (Mt 7,7 f). 166  Vgl. z.B. a.a.O., S. 276 (Gal 2,16): „Deeds of the law justify not: but faith justifieth. The law uttereth my sin and damnation, and maketh me flee to Christ for mercy and life. As the law roared unto me that I was damned for my sins: so faith certifieth me that I am forgiven and shall live through Christ“. 167  Vgl. Clebsch, S. 187: „Consistently the 1534 book eliminated the 1525 comments on human undeserving and inserted notes on covenants as binding agreements between God as first party and good or bad men as the second party“. 168  Vgl. z.B. TNT, S. 228 (Röm 4,2): „Deeds justify not before God: neither may a man before God put trust in them“; oder a.a.O., S. 233 (Röm 8,29): „God chooseth of his own goodness and mercy: calleth through the gospel: justifieth through faith and glori­ fieth through good works“. 169  Vgl. z.B. a.a.O., S. 235 (Röm 10,10): „Through faith justify from sin, and though Christ deserved the reward promised, yet is the promise made on the condition that we embrace Christ’s doctrine and confess him with word and deed. So that we are justified to do good works, and in them to the salvation promised“. 170  Vgl. Mozley, S. 264; TOT, S. xi (Introduction); s.o. 4.3.1.

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eines neuen Textes, der – wie auch die Vorrede zum Neuen Testament dessel­ ben Jahres – einen weitergehenden Akzent setzt.171 An die Stelle der dualen Struktur von Gesetz und Evan­ge­lium treten „the covenants made between God and us“172. Der Bundesbegriff, der für Tyndale hier zum neuen Schlüs­ selbegriff geworden ist, hebt „Gesetz“ und „Evan­ge­lium“ in sich auf und bin­ det sie in die konditionale Struktur eines Kontraktverhältnisses zwischen Gott und Mensch ein.173 Tyndale beschreibt den Bundesschluss näher als: „the law and commandments which God commandeth us to do; and then the mercy promised unto all them, that submit themselves to the law“174. Gott verspricht demnach, seine Verheißungen an denen zu erfüllen, die ihrerseits seine Gebote beachten und versuchen, sie (wie unvollkommen auch immer) in ihrem Leben zu verwirklichen.175 Die Gebote sind dabei für Tyndale zusam­ mengefasst im doppelten Liebesgebot, so dass er festhalten kann: „Lass die Liebe das Gesetz interpretieren, damit du sie als Ende des Gesetzes verstehst […], um dich zur Erkenntnis Gottes zu bringen: Wie er alle Dinge nur getan hat, da­ mit du ihn liebst mit ganzem Herzen und deinen Nächsten um seinetwillen wie dich selbst […] Wer immer in seinem Herzen fühlt, dass jederman seinen Nächsten lieben sollte, wie Christus ihn geliebt hat, und dem zustimmt und sich anstrengt, dies zu tun, der allein versteht das Gesetz richtig und kann es deuten“176.

Vor diesem Hintergrund fordert Tyndale die Leser – wie schon 1530 – zum Studium der Schrift auf, um das dort Gelesene ausdrücklich auf die eigene Gegenwart zu beziehen.177 Die Bibel bleibt für ihn auch 1534 das „Beispiel­ buch“ für die grundlegenden Parameter des menschlichen Lebens und Got­ tesverhältnisses, die sich auch in der Gegenwart wiedererkennen lassen.

171  172  173 

Prologue Genesis, PS 1, S. 403–405. A.a.O., S. 403. Tyndale verwendet für tyriB] darum nicht mehr wie 1530 verschiedene Über­ setzungen („testament“, „bond“), sondern durchgängig „covenant“, vgl. Daniell, Bio­ graphy, S. 331; s.u. 6.5.1. 174  Prologue Genesis, PS 1, S. 403. 175  Vgl. ebd.: „God bindeth himself to fulfil that mercy unto thee only if thou wilt en­ deavour thyself to keep his laws; so that no man hath his part in the mercy of God, save he only that loveth his law, and consenteth that it is righteous and good, and fain would do it, and ever mourneth because he now and then breaketh it through infirmity, or doth it not so perfectly as his heart would“. 176  Ebd.: „And let love interpret the law, that thou understand this to be the final end of the law […] to bring thee to the knowledge of God, how that he hath done all things for thee, that thou mightest love him again with all thine heart, and thy neighbour for his sake as thyself […] Whosoever feeleth in his heart that every man ought to love his neigh­ bour as Christ loved him, and consenteth thereto, and enforceth to come thereto, the same only understandeth the law aright, and can interpret it“. 177  Vgl. ebd.

7.5  „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548)

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7.5  „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548) 7.5.1  Zu Entstehung und Aufbau der Schrift Tyndales kleiner Traktat zu den Sakramenten178 erschien erst zwölf Jahre nach seinem Tod 1548 in der Druckwerkstatt Robert Stoughtons in London.179 An der Verfasserschaft Tyndales besteht aufgrund der theologischen und stilis­ tischen Übereinstimmung mit seinen anderen Schriften und der regionalen Anspielungen auf seine Heimat Gloucestershire kein Zweifel.180 Eine andere in der Forschung immer wieder Tyndale zugeschriebene abendmahlstheolo­ gische Schrift aus dem Jahr 1533 mit dem Titel „The Supper of the Lord“181 stammt nicht aus Tyndales Feder, sondern aus der George Joyes.182 Um die Entstehungszeit des Werkes zu ermitteln, ist man vor allem auf Angaben bei Tyndale selbst angewiesen, die von seiner Beschäftigung mit dem Abendmahl zeugen, etwa im Brief an Frith aus dem Jahre 1532.183 Von der Chronologie seiner Biographie her liegt es nahe anzunehmen, dass Tyn­ dale seine Schrift zum Abendmahl im Zeitraum 1532/1533 verfasst hat.184 Foxe zufolge veröffentlichte er sie deshalb nicht, um nicht Anlass zur Ausein­ andersetzung mit anderen reformatorischen Theologen zu geben und so Un­ einigkeit und Verwirrung zu stiften.185 178  179 

Sacraments, PS 1, S. 345–385. Vgl. Short Title Catalogue Nr. S118858. Aus dem schlechten Zustand des Textes, der beispielsweise bei der Wiedergabe hebräischer Begriffe im Englischen große Unge­ nauigkeiten aufweist, ist zu schließen, dass die Druckfahnen nicht mehr überarbeitet wurden. 180  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 383, besonders Anm. 5. 181  Vgl. Short Title Catalogue Nr. S123315: „The supper of the Lorde. After the true meanyng of the sixte of Iohn and the. xi. of the fyrst Epystle to the Corynthians, wher­ unto is added an epystle to the reader. And incidently in the exposicio[n] of the supper: is co[n]futed the letter of master More agaynst Ihon Fryth“. Als Werk Tyndales fälschlich abgedruckt in PS 3, S. 216–268. 182  Vgl. die gründliche Untersuchung von O’Sullivan, in der die Forschungsergeb­ nisse zur Ermittlung der Autorenschaft Joyes von William Clebsch (Clebsch, S. 216 ff) und Cargill Thompson (Thompson, Supper, S. 77–91) aufgenommen und anhand eines ausführlichen Vergleichs der Quelle selbst mit den übrigen Schriften Joyes inhaltlich un­ termauert werden. 183  S.o. 6.1.2.3. 184  Vgl. Mozley, S. 260 f; Daniell, Biography, S. 220 ff; Lund, S. 187; s.o. 6.1.1. 185  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 519: „then he came down from thence into the netherlandes, and had his moste abiding in the towne of Andwarpe, vntill the tyme of his apprehension, there beynge not idle but labouryng in setting forth þe plain declaratiō and vnderstāding of the scriptures, of the whiche all were not put forth in prynte, as one worke that he made for the declaration (as it was called at that tyme) of the sacramēt of the altar, the whiche he kept by him, for in that he folowed the counsell of saynt Paule, that to suche as be not yet stronge, feede them with mylke, and afterwards as they may bear it with strong meate. So he considered the people were not as yet fully per­ swaded in other smaller matters tending to superfluous ceremonies, and grosse idolatrie“.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Tyndales Sakramentstheologie stammt damit aus einer Zeit, in der er seine Theologie neu um das Thema „Bund“ formierte. Der Bundesbezug prägt auch seine Ausführungen zu Taufe und Eucharistie. Zugleich stand Tyndale unter dem Eindruck der Gefangennahme und Ermordung seines Freundes John Frith,186 mit dem er sakramentstheologisch weitgehend übereinstimmte.187 Tyndales Sakramentstraktat lässt sich in drei Teile gliedern, von denen der erste die Sakramente im Rahmen der Bundestheologie verortet und Taufe und Abendmahl als Bundeszeichen näher definiert. Auf das Hauptthema, die Frage nach dem rechten Abendmahlsverständnis, kommt Tyndale in einem kurzen Mittelteil zu sprechen, in dem er sich mit den Einsetzungsworten be­ fasst. Es folgen eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl und die abschließende Verortung der eigenen Position im Kontext der sakramentstheologischen Diskussion zwischen Alt­ gläubigen, Wittenbergern und Schweizern. 7.5.2  Die Sakramente als Gottes Bundeszeichen 7.5.2.1  Die Bundeszeichen Tyndales Anliegen ist es, die theologische Bedeutung der Sakramente, ihre Entstehung und den rechten Umgang mit ihnen für seine Leser verständlich zu machen.188 Der Weg, den er dazu wählt, ist eher ungewöhnlich, denn er beginnt nicht bei der Einsetzung der Sakramente durch Christus, sondern Die Schrift befand sich, wie der Kommentar zu Tracys Testament, unter den Manuskrip­ ten, die nach Tyndales Festnahme 1535 im English House gefunden wurden, s.u. 7.8.1. 186  Vgl. Lund, S. 184: „Apparently as a result of his [d.i. Frith] imprisonment and death, several other early English Protestants, including William Tyndale, became more outspoken in their attacks on traditional Catholic sacramental theology“. 187  Frith hatte sich 1531/1532 in Answer to More und Christian Sentence zu den Sakra­ menten geäußert. Einen erhellenden Vergleich der Abendmahlstheologien der beiden Theologen hat Eric Lund vorgelegt, er kann darum hier entfallen. Auf die Ergebnisse Lunds werde ich im Folgenden jedoch immer wieder Bezug nehmen ( vgl. Lund, beson­ ders S. 195 f). 188  Sacraments, PS 1, S. 347: „To understand the pith of the sacraments, how they came up, and the very meaning of them“. DeCoursey, Sign theory, S. 194–214 versucht Tyndales Verständnis der „Zeichen“, das ihn nach seiner Analyse mit Erasmus ver­bindet, vor dem Hintergrund der semiotischen Theorien und Begrifflichkeiten der Diskussion des 20. Jahrhunderts zu deuten. Eine solche Überfrachtung der ohnehin komplexen sakra­mentstheologischen Terminologie des 16. Jahrhunderts mit semiotischen Bezügen schafft m.E. eher Unklarheit. DeCoursey überstrapaziert Tyndales Text, dessen In­ tention es nicht war, „a model of semiotics“ (a.a.O., S. 213) zu konzipieren, sondern die Bedeutung der Sakramente in elementarer Weise klar zu machen. Da Tyndale dabei so­ gar oft an der Oberfläche der Diskussion seiner Zeit und in seinen Definitionen vage bleibt,lässt sich aus seiner kurzen Schrift über die Sakramente keine semiotisch durch­ dachte Abendmahlslehre konstruieren, wie DeCoursey dies tut (vgl. a.a.O., S. 215– 243).

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führt seine Leser an den Beginn der biblischen Geschichte zurück, zu den „manners and fashions of the Hebrews“189. Ganz biblischer Theologe, wird Tyndale auf der Suche nach der Erklärung dafür, was ein Sakrament eigent­ lich ist, fündig in der alttestamentlichen Praxis der Gedenkorte und -zeichen, mit denen seit der Väterzeit an besondere Ereignisse erinnert wurde. Insbe­ sondere Vereinbarungen zwischen zwei Parteien – man beachte die Vokabel Tyndales – sollten durch äußerlich sichtbare Zeichen im Gedächtnis bewahrt werden: „Ebenso haben sie sich in all ihren Bundesschlüssen nicht nur gegenseitig etwas ver­ sprochen und darauf geschworen, sondern sie haben auch entsprechende Zeichen und Gedenkorte aufgerichtet und den Orten Namen gegeben, um das Geschehene im Ge­ dächtnis zu behalten“190.

Die menschliche Praxis der Bundesschlüsse wird – so Tyndales Darstellung – von Gott dort übernommen, wo er sich dem Menschen zuwendet: Der Regenbogen in der Sintflutgeschichte (Gen 9) symbolisiert den Bund mit Noah, die Beschneidung den Bund mit Abraham (Gen 17).191 Gottes Umgang mit dem Menschen manifestiert sich also für Tyndale von Anfang an in Form von Zeichen, die sein Handeln sichtbar und für spätere Zeiten nachvollziehbar machen. Dabei ist es ihm wichtig herauszustellen, dass das Zeichen selbst nie mit dem gleichzusetzen ist, was es symbolisiert: Gottes Versprechen an Abraham und seine Nachkommen beispielsweise gilt jedem jüdischen Kind, unabhängig davon, ob es tatsächlich beschnitten wird oder nicht. Die Beschneidung dient lediglich der Sichtbarmachung der ergangenen Verheißung. Darum sind auch christliche Kinder, die ungetauft sterben, nicht ohne Gottes Heilszusage,192 denn der Bund Gottes mit den Menschen, der durch Christi Blut geschlossen wurde, gilt „as soon as it has life in the mother’s womb, before the sign be put on it“193. 189  190 

Sacraments, PS 1, S. 347. Ebd.: „And likewise in all their covenants they not only promised one to another and sware thereon, but also set up signs and tokens thereof, and gave the places names to keep the thing in mind“ (Kursivierung von mir). Tyndales Beispiele sind Abraham u. Abi­ melech (Gen 21) sowie Jakob und Laban (Gen 31). 191  Vgl. a.a.O., S. 348: „such fashion as they used among themselves, did God also use to themward, in all his notable deeds, whether of mercy in delivering them or of wrath in punishing their disobedience and transgression, in all his promises to them and covenants made between them and him“. 192  Vgl. a.a.O., S. 350: „it followeth, that the infants that die unbaptized, of us Christ­ ians, that would baptize them at due time and teach them to believe in Christ, are in as good case as these that die baptized […] For it is the covenant only, and not the sign, that saveth us“. 193  Ebd. (Kursivierung von mir).

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Tyndales Verständnis der Sakramente als Zeichen berührt sich mit dem Zwinglis, der ebenfalls von „Zeichen oder Zeremonien“194 spricht und – be­ sonders in der Auseinandersetzung mit den Täufern – ihre Begründung im Bundesgeschehen verortet.195 Auch Zwingli ist es wichtig, zwischen Zeichen und Bezeichnetem genau zu differenzieren. Anders als für den Schweizer sind jedoch die Zeichen für Tyndale nicht nur sichtbare Signale an andere, sondern haben versichernde Funktion für die Glaubenden selbst.196 Die hinter Zwing­ lis Sakramentsverständnis stehende Unterscheidung zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen, derzufolge die Sakramente über die Sinneswahr­ nehmungen nur den äußeren Menschen erreichen, den inneren aber nicht tan­ gieren, findet sich bei Tyndale nicht.197 Er hält an sakramentstheologischen Positionen fest, die er vermutlich beim frühen Luther kennengelernt hat,198 denn auch dieser hatte die Sakramente als sichtbare Zeichen zur Glaubensstär­ 194 

Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 761,22: „Sunt ergo sacramenta signa vel ceremoniae“; Ders., Über D. Martin Luthers Buch, Be­ kenntnis genannt (1528), Z VI/2 (CR 93/2), S. 200,6–201,18. vgl. dazu auch Stephens, Zwingli, S. 180 f.188. 195  Vgl. Zwingli, Subsidium sive coronis de eucharistia (1525), Z IV (CR 91), S. 499,1–502,5 (dazu auch Stephens, Zwingli, S. 185 f). Aber auch Luther kann 1520 noch festhalten, vgl. WA 6, S. 359,6–12 (Sermon von dem Neuen Testament, 1520): „Dan wir arme menschen, weyl wir in den funff synnen leben, muessen yhe zum wenigsten ein eußerlich zeychen haben neben den worten, daran wir uns halten und zusammen kummen mugen, doch alßo, das das selb zeychen ein sacrament sey, das ist, das es euserlich sey, und doch geystlich ding hab und bedeut, damit wir durch das euserliche in das geystliche getzogen werden, das euserlich mit den augen des leybs, das geystliche, ynnerliche mit den augen des hert­ zen begreyffen“. 196  Vgl. Stephens, Zwingli, S. 187 ff.; vgl. dazu auch Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 773,1–8: „Externa vero res est, qum tinguntur con­ currentibus sacris verbis: „In nomine patris, et filii et spiritus sancti“, ac verae rei signum et ceremonia. Ut cum aliquid per manus traditur, ipsa manum copulatio non est rei tradi­ tio, sed visibile signum, quo testamur contractum esse ex utraque parte prefectum. Sic sunt ceremoniae exteriora signa, quae accipientum aliis probant eum se ad novam vitam obligavisse, aut Christum confessurum esse usque ad mortem“. 197  Vgl. Stephens, Zwingli, S. 182 f. 198  Im Sinne von Leiningers These (Leininger, S. 59 f) ist hier festzustellen, dass Tyn­ dale den „jungen“ Luther des Jahres 1520 (wenn auch in seiner eigenen Interpretation) re­ zipiert und von daher die Sakramente als verba visibilia versteht, die den Glauben stärken sollen. Vgl. z.B. WA 6, S. 363,1–9 (Sermon von dem Neuen Testament, 1520): „So last uns nu lernen, das in eynem yglichen gelubd gottis seyn zwey ding, der man muß warnehmen, das seyn wort und zeychen, als yn der tauff die wort des teuffers und das tauchen yns was­ ser, in der meß seyn die wort und das brott und weyn. Die Wort seyn gottlich gelubd, zu­ sagung und testament, die zeychen sein sacrament, das ist heylige zeychen. Nu als vil mehr ligt an dem testament den an dem sacrament, also ligt vil mehr an den worten den an den zeychen, dan die tzeychen muegen wol nit sein, das dennoch der mensch die wort habe, und also on sacrament, doch nit an testament selig werde“. Zu Luthers Sakrament­ verständnis insgesamt vgl. auch Althaus, Theologie, S. 297–303. Freilich hat auch Zwingli Luthers frühe Abendmahlsschriften positiv aufgenommen, vgl. Grötzinger, S. 73–80.

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kung gedeutet. 199 Eine solche Aufnahme Luthers verbände Tyndale aufs Neue mit Bucer, der die Zeichen ebenfalls als „psychologisch notwendige Be­ kräftigungs- und Stabilisierungshilfen des Glaubens“200 deutet. 7.5.2.2  Die Taufe als Eintritt in die Bundesbeziehung Tyndale setzt Beschneidung und Taufe als Bundeszeichen des alten und des neuen Bundes parallel und hält für beide fest, dass nicht das Zeichen selbst entscheidend ist, sondern die promissio, die durch dieses symbolisiert wird. Die Taufe macht den Eintritt des Menschen „into the religion of Christ“201 sicht­ bar, die inhaltlich bestimmt ist als Eintritt in das Bundesverhältnis zwischen Gott und den Menschen.202 Zur Bundesverpflichtung des Menschen gehört die Weitergabe des Bundeszeichens an die Kinder, doch gibt es dafür nach Tyndales Auffassung keinen verbindlichen Zeitpunkt, da die Taufe als bloßer Ritus in keiner Weise heilsrelevant ist, sondern nur im Zusammenhang mit der Aneignung der in ihr symbolisierten Inhalte. Tyndale verbindet die Kin­ dertaufe deshalb auch hier eng mit der christlichen Unterweisung.203 Nur durch die so vermittelte Erkenntnis Gottes und die eigene Einwilligung in die Bundesvereinbarung wird aus der empfangenen Wassertaufe die wahre „Her­ zenstaufe“204: 199  Auch beim Luther der Jahre 1519/1520 finden sich Passagen, in denen er die atl. Bundesschlüsse als „Siegel oder Notarszeichen“ versteht, die zur Sicherung und Stärkung des Glaubens dienen WA 6, S. 358,35–359,12 (Sermon von dem Neuen Testament, 1520); vgl. Lohse, Theologie, S. 318. 200  Kaufmann, Abendmahlstheologie, S. 165. Stephens, Zwingli, S. 189, macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass der Unterschied Bucers zu Zwingli gerade darin liegt, dass der Straßburger den Zwinglis Sakramentsverständnis prägenden Gegensatz von ­außen und innen nicht übernimmt. 201  Sacraments, PS 1, S. 350. 202  Vgl. ebd.: „So now by baptism we be bound to God, and God to us, and the bond and seal of the covenant is written in our flesh; by which seal or writing God challengeth faith and love, under pain of just damnation: and we (if we believe and love) challenge (as it is above rehearsed) all mercy, and whatsoever we need“. Auch Zwingli versteht die Sa­ kramente als Selbst-Verpflichtungen, vgl. Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 759,5–9: „Unde adducimur, ut sacramentum nihil aliud esse vi­ deamus, quam initiationem aut oppignorationem. Sicut enim, qui litigaturi erant, certum pecuniae pondus deponebant, quod auferri non licebat, nisi vincenti, sic, qui sacramentis initiantur, sese adstringunt, oppignorant, ac velut arrabonem accipiunt, ut referre pedem non liceat“, vgl. dazu auch Stephens, Zwingli, S. 183 ff. 203  S.o. 3.3.7.1, 6.3.2.; vgl. Zwingli, In catabaptisarum strophas elenchus (1527), Z VI/1 (CR 93), S. 155,22–172,5. Zwingli bezieht sogar noch deutlicher als Tyndale den Bundes­ gedanken in die Begründung der Kindertaufe ein, vgl. Stephens, Zwingli, S. 203– 206.214 ff. 204  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 351: „And as the circumcised in the flesh, and not in the heart, have no part in God’s good promises; even so they that be baptized in the flesh, and not in heart, have no part in Christ’s blood“. Um die Bedeutung der Beschneidung (und damit auch der Taufe) als reines Zeichen deutlich zu machen, führt Tyndale weitere atl. Zeichen an, die in den Israeliten Glauben hervorrufen und die Erinnerung an Gottes

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„Gott hat uns Christenmenschen verpflichtet, dieses Zeichen zu empfangen um unse­ rer Schwächen willen, damit es ein Zeuge sei zwischen ihm und uns, und außerdem, um dieses Zeichen unseren Kindern aufzulegen; nicht in der Weise, dass wir an ir­ gendeine bestimmte Zeit gebunden wären, sondern so [dass wir es tun], wenn es uns am geeignetsten erscheint, um sie [d.i. die Kinder] zur Erkenntnis Gottes, des Vaters, und zu der Christi sowie zu ihrer Pflicht gegenüber Gott und seinem Gesetz zu bringen“205.

Die Taufe markiert als äußeres Zeichens den Eintritt des Menschen in die Bundesbeziehung, in der ihm Gottes Verheißungen in Christus zuteil werden und von der zugleich Befähigung und Auftrag zum Liebeshandeln ausge­ hen.206 Zugleich ist es Aufgabe des Sakraments, den Glaubenden als „Zeuge“ („witness“) an das Bundesgeschehens zu erinnern und ihn an die eingegan­ gene Beziehung zu erinnern. Damit grenzt Tyndale sich deutlich von einem Verständnis der Taufe ab, das Gottes Gnadenhandeln im Akt der Taufe, unab­ hängig vom Glauben der Getauften, behauptet.207 Als bloßes äußeres Zeichen wäre die Taufe für Tyndale darum auch verzichtbar, wenn nur der vom Geist gewirkte Glauben und das aus ihm folgende Liebeshandeln vorhanden sind.208 Wohltaten wach halten sollten. Er nennt beispielsweise die Kinderfrage (Ex 13,14), das Sabbatgebot (Ex 20,8), das Aufstellen der zwölf Steine in Jos 4 u.a.m. Auch im NT findet Tyndale Zeichenhandlungen Gottes, etwa bei den Offenbarungen an Zacharias (Lk 1,18 ff) oder Maria (Lk 1,31) (vgl. a.a.O., S. 351–357). 205  Sacraments, PS 1, S. 350 f: „God hath bound us christian man to receive this sign for our infirmities’ sake, to be a witness between him and us, and also to put this sign upon our children; not binding us to any appointed time, but as it shall seem to us most con­ venient, to bring them to the knowledge of God the Father, and of Christ, and of their duty to God and his law“. Hier zeigt sich wiederum der Unterschied zu Zwingli, für den die Taufe als Möglichkeit zur Selbstvergewisserung der Glaubenden keine solch entschei­ dende Rolle spielt, vgl. Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), Z III (CR 90), S. 759,18 ff: „Sacramentum ergo, qum aliud porro nequeat esse quam initiatio aut ­publica consignatio, vim nullam habere potest ad conscientiam liberandam“. 206  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 350: „instead of circumcision came our baptism; whereby we are bound to believe in Christ, and in the Father through him, for the remission of sins; and to keep the law of Christ and to love each other, as he loved us“. 207  Auch für Luther gehört der Glauben zunächst wesentlich zur Taufe hinzu, und er setzt sich darum ausführlich mit der Frage nach dem „Kinderglauben“ auseinander. Seine entscheidende Begründung für die Kindertaufe liegt aber im Gebot Christi. Im Großen Katechismus von 1528 geht Luther weiter und leugnet die Notwendigkeit des Glaubens für die Wirksamkeit der Taufe (vgl. Althaus, Theologie, S. 314): „Die Taufe beruft mich zum Glauben, aber ihre Wirklichkeit und Gültigkeit hängt nicht an meinem Glauben“. Entscheidend ist für Luther nun alleine der im Wort Gottes gegebene Auftrag: „Wenn das Wort bei dem Wasser ist, so ist die Taufe recht, obschön der Glaube nicht dazu kömmpt; denn mein Glaube machet nicht die Taufe, sondern empfähet die Taufe“ (GrKat, 1528, BSLK, S. 701). 208  Tyndale kann darum provokant behaupten: „even so a Turk unbaptized (because he either knoweth not, that he ought to have it, or cannot for tyranny,) if he believe in Christ, and love as Christ did and taught, then hath he his part in Christ’s blood“ (Sacra­ ments, PS 1, S. 351).

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Die Betonung des „Herzens“ als eigentlichem Ort der Taufe legt jedoch nahe, dass Tyndale das Taufbekenntnis als Folge des Wirkens von Gottes Geist ver­ steht.209 Das Kirchenbild, das diesem Taufverständnis entspricht, ist das einer Be­ kenntnisgemeinde, die sich als Gemeinschaft von Erwählten versteht und versucht, dem mit der Taufe vollzogenen Eintritt in den Bund durch ihre in­ nere Haltung und entsprechenden Lebenswandel gerecht zu werden. Tyndale hat hier nicht das Corpus Christianum der römischen Kirche vor Augen, son­ dern die kleine Gemeinschaft seiner durch die reformatorische Botschaft neu zum Glauben gekommenen Landsleute. Nicht die (in der Papstkirche emp­ fangene) Taufe, sondern ihr eigenes Bekenntnis zur Taufzusage macht sie zur Gemeinde Jesu Christi. 7.5.2.3  Das Abendmahl als Zeichen für die Begründung der Bundesbeziehung im Opfer Christi Auch für seine Deutung des Abendmahls nimmt Tyndale Bezug auf die alttes­ tamentlichen Zeichen, insbesondere auf das zentrale Symbol des Passalamms (Ex 12). Es steht für die Befreiung Israels aus Ägypten, ist aber vor allem zu verstehen als Vorverweis auf Christus. Ebenso wie die Taufe die Beschneidung als Bundeszeichen aufgehoben hat, ist auch das Passalamm durch das Abend­ mahl als Zeichen seines heilbringenden Sterbens überboten worden.210 Sym­ bolhaft erinnert die Gemeinde im Abendmahl an das einmalige Opfer Christi. Dessen Wiederholung im römischen Messritus lehnt Tyndale eindeutig ab. Durch die geistige Vergegenwärtigung der Passion erhalten die Glaubenden jedoch die Gewissheit, dass Christus für ihre Sünden gestorben ist: „Ebenso bezeugt uns die Feier des Leibes und Blutes Christi, dass dieser sich selbst um unsretwillen in den Tod gab und uns schon jetzt erlöst hat, wenn wir glauben und an der Berufung unserer Taufe festhalten, auf dass wir darin wandeln oder (wenn uns ein Sturm vom rechten Kurs abgebracht hat) wieder auf den richtigen Weg zurück­fin­ den“ 211. 209  Dieser Aspekt ist bei Tyndale allerdings weniger stark herausgehoben als bei Zwingli, dessen Spiritualismus (vgl. Stephens, Zwingli, S. 129–138) prägenden Einfluss auch auf seine Sakramentstheologie hat (vgl. auch a.a.O., S. 192). 210  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 354: „In whose stead [d.i. Passa] is the sacrament of the body and blood of Christ come, as baptism in the room or stead of circumcision“. Tyndale nennt einige Analogien, welche die enge Verbindung der Passasymbolik mit der Passion deutlich machen (Reinheit des Lamms, Alter und Zeitpunkt der Schlachtung, die Rolle des Blutes, vgl. a.a.O., S. 354 f). Den maßgeblichen Beleg findet er bei Christus selbst (Lk 22,18): „And when this Pesah was fulfilled spiritually in the kingdom of heaven by the death and bloodshedding of Christ, it ended there: and in the room thereof (concerning the spiritual signification) came the sign of the sacrament of the body and blood of our Sa­ viour Christ, as baptism instead of circumcision“ (vgl. a.a.O., S. 355 f). 211  A.a.O., S. 356: „even so doth the ceremony of the body and blood of Christ testify unto us, that he hath given himself to death for us, and redeemed us already, if we believe

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Auch das Abendmahl wird von Tyndale so einbezogen in den Bund zwischen Gott und den Glaubenden, indem es zur Vergewisserung des denselben stif­ tenden Versöhnungshandelns in Christus dient, sowie als Mahnung, stets im Bewusstsein der eigenen Berufung in der Taufe zu leben. Auch hier ist die Bundeszusage Gottes konditional an das Bleiben im Bund gebunden. Zugleich wird jedoch deutlich, dass Tyndale das menschliche Festhalten an der Bundesverpflichtung nicht als permanenten Zustand versteht, son­ dern als Weg, der geprägt ist von Sünde und reumütiger Umkehr. In diesem Sinne nimmt er die paulinische Metapher vom Stachel des Todes und der Sünde (1 Kor 15,55) auf: Wer vom Stachel der Sünde gestochen ist, hat keine andere Möglichkeit, als sich als reumütiger Sünder zu Christus und seinen Verheißungen zu flüchten.212 Nur so kann er erneut in den Bund aufgenom­ men werden. Der Sünder muss dabei seinen Willen zur Umkehr deutlich machen und die Sühneleistung, die ihm die Gemeinde im Namen Christi auferlegt, annehmen.213 Insofern ist das Abendmahl für Tyndale auch der Ort der Vergebung durch Gott und der Kirchenzucht innerhalb der christ­ lichen Gemeinde. 7.5.2.4  Tyndales Sakramentsverständnis Den Sakramentsbegriff, der sich aus dem Bisherigen ergibt, fasst Tyndale in eine einprägsame Formulierung: „Unsere Sakramente sind lediglich Verkörperungen von Geschichten und haben keine andere Wirkung, als die Bundesschlüsse und Verheißungen, die in Christi Blut ge­ macht sind, zu bezeugen und vor Sinn und Verstand darzustellen“214.

Jenseits jeglichen römischen Sakramentalismus’ sind die Sakramente dem­ nach zu verstehen als „Verkörperungen“ der biblischen Verheißungsge­ schichte, die in ihrem Vollzug eben diese Verheißung wieder ins Gedächtnis rufen, indem sie sie sinnlich erfahrbar machen. Das verbum Dei, welches das elementum erst zum sacramentum macht, setzt Tyndale mit den Bundesschlüs­ and cleave fast to the profession of our baptism, to walk therein, or will (if any tempest had driven us out of the right course) return to the right way again“. 212  Vgl. a.a.O., S. 357: „If thou be stung with conscience of sin, and the cockatrice of thy poisoned nature hath beheld herself in the glass of the righteous law of God, there is none other salve for remedy, than to run to Christ immediately, and to the Father through him; and to say: ‚Father I have sinned against thee, and thy godly, holy, and righteous law, and against my brother, whom I ought to of all right to love, for thy sake, as well as my­ self: forgive me, O Father, for thy dear son Jesus Christ’s sake“. 213  Vgl. ebd.: „And I will submit myself to the wholesome ordinance of the congrega­ tion, according to the doctrine of thy son Jesus and his faithful apostles“. 214  A.a.O., S. 357 f: „our sacraments are bodies of stories only; and that there is none other virtue in them, than to testify, and exhibit to the senses and understanding, the co­ venants and promises made in Christ’s blood“.

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sen und mit den Verheißungen gleich.215 Weil die Sakramente in diesem Sinne „nur“ äußere Zeichen der Verheißungen Gottes sind, bedarf es der angemes­ senen inneren Einstellung, um sie zum eigenen Heil zu empfangen. Erst der Glaube macht das Zeichen zum Sakrament.216 Wer dieses Zeichen ohne Glau­ ben und ohne die Bereitschaft zur Befolgung der Gebote annimmt oder sich Falsches von ihm verspricht, dem bleibt seine heilsame Bedeutung verschlos­ sen und er empfängt es sich selbst zum Gericht.217 Dem Abendmahl kommt die Bedeutung zu, die in der Taufe eingegangene Beziehung des Menschen zu Christus mit noch größerer Eindringlichkeit („more might and vehemency“) und vor allem „by daily repeating“218 immer wieder neu bewusst zu machen. Den angefochtenen Sündern dient das Abend­ mahl gleichsam als seelsorgliche Maßnahme Gottes, die ihn des Erbarmens versichert: „Mit seinen Sakramenten lockt er [d.i. Gott] sie gewissermaßen zu sich wie eine Henne ihre Küken, um sie unter den Fittichen seines Erbarmens zu sammeln“219.

Dabei ist es gerade die sinnliche Erfahrbarkeit dieser fürsorglichen Zuwendung Gottes, die das Abendmahl (noch vor der Taufe) auszeichnet und die – wie ein 215  Zur Grundlegung dieses Sakramentsverständnisses bei Augustin vgl. Seeberg, S. 451–456. 216  Noch stärker als Tyndale hebt Frith auf das Glaubensgeschehen ab, vgl. Lund, S. 194 f: „While Tyndale focuses on the power of the Lord’s Supper to imprint faith more deeply in the soul, Frith states, several times, that believers who eat the sacramental bread with their mouths eat inwardly, with their hearts ‚the very thing itself, which the sacra­ ment outwardly doth represent’“. 217  In diesem Zusammenhang greift Tyndale auf prädestinatianische Erklärungsmo­ delle zurück, um die „Wirkung“ der Sakramente zu erläutern. Er stellt die Souveränität des Schöpfers im Umgang mit seinen Geschöpfen heraus, legt aber auch Wert darauf, dass seine Verwerfung mit der menschlichen Verweigerung gegenüber der Verheißung korre­ spondiert, vgl. Sacraments, PS 1, S. 358.: „for though God hath right to all men, because he hath created and made man, yet to all such persons by reason of the sign and bagde, and of their own consent, grant and promise, he hath more right to the calling of them to the keeping of his law, if they trust in him only; or to damn them, because they know their duty, or might if they would, the sign moving them, and giving them an occasion to ask thereafter, and yet do it not“. 218  Beide Zitate a.a.O., S. 359. Tyndale verneint die (rhetorische) Frage, ob denn nicht die Taufe allein als Sakrament ausreichend wäre, weil sie ja schon den Eintritt des Men­ schen in die Bundesbeziehung verkörpert: „Some will say, This sacrament [d.i. das Abend­ mahl] needed not, baptism is enough; baptism is a receiving into religion, and there is the covenants made, what we shall do and what we shall have: and baptism is a sign whereby God hath right to us and we to God and to Christ“. Zwar bedürfe es prinzipiell überhaupt keiner äußerlichen Zeichen, solange das Wort Gottes gepredigt wird, aber dass Gott selbst die Sakramente einsetzt, macht ihre Praktizierung unumgänglich: „Nevertheless God hath written his will, to have his benefits kept in memory, to his glory and our benefit“ (ebd.). 219  A.a.O., S. 360: „with this sacrament he (as it were) clucketh to them, as a hen doth for her chickens, to gather them under the wings of his mercy“ (vgl. Mt 23,37).

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Handschlag bei einem Vertragsschluss oder der Ehering eines Paares220 – als verlässliches Unterpfand der Bundeszusage Gottes wirkt.221 Die Sakramente, insbesondere das Abendmahl, sind daher für Tyndale letztlich Zeichen der Zu­ wendung Gottes: „ein Zeugnis und eine Bekundung zwischen ihm und uns, um den Glauben an die Verheißungen zu bekräftigen, damit wir weder wanken, noch an ihnen zweifeln“222.

Hier berührt sich sein Verständnis mit dem des frühen Luther, der ebenfalls die im Glauben erfahrene promissio und die daraus resultierende Verwandlung der Glaubenden hervorhebt.223 7.5.3  Tyndales Auslegung der Einsetzungsworte Nachdem Tyndale sein Verständnis der Sakramente als Verkörperungen der biblischen Verheißungsgeschichten erläutert hat, wendet er sich im zweiten Teil der Schrift dem Wortlaut der Einsetzungsworte des Abendmahls zu.224 Hier findet sich ein Stück frühneuzeitliche Exegese, denn Tyndale untersucht den biblischen Hintergrund der Opfervorstellung und vergleicht kritisch die verschiedenen Versionen der Einsetzungsworte bei den Synoptikern und bei Paulus, wobei er seine theologischen Vorklärungen in den Texten bestätigt sieht. Die Worte, mit denen Christus sein Opfer deutet, versteht Tyndale zu­ nächst vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Bundesschlusses zwischen 220  Vgl. a.a.O., S. 360 f. Lund, S. 190 f, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Tyndale die Metapher des Eherings von Frith übernimmt. 221  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 360: „For the sacrament doth much more vehemently print lively the faith, and make it sink down into the heart, than do bare words only: as a man is more sure of that he heareth, seeth, feeleth, smelleth and tasteth, than that he heareth only“. 222  A.a.O., S. 362: „a witness and testimony between him and us, to confirm the faith of his promise, that we should not waver not doubt in them“. 223  Vgl. WA 6, S. 359,7–14 (Sermon von dem Neuen Testament, 1520): „Also, wiltu das sacrament und das testament wirdig emphahen, sich zu, das du diße lebendig wort Christi fur bringist, drauff dich bawest mit starckem glauben und begerest, was dir Christus drynnen zugesagt hatt, ßo wirt dirß, ßo bistu sein wirdig und bist wol bereyt. Der selb glaub und zuvorsicht muß und wirt dich froehlich machen, und eyne freye lieb zu Christo erwecken, durch wilch du dan ein recht gutt leben anfahist mit lust zu furen und sund auß hertzen zu meyden“. Althaus, Theologie, S. 298, hält für die Entwicklung Luthers fest: „Dieser Bestimmung des Sakraments als Zeichen für den Glauben ordnet Luther 1520 auch das Abendmahl ein, einschließlich der Realpräsenz und des Genusses des wahren Leibes und Blutes Christi: die Gabe von Leib und Blut ist Zeichen, das die Zusage der Sün­ denvergebung vergewissert. Später freilich führte das Eigengewicht der Realpräsenz des Leibes und Blutes über die Wertung als Zeichen hinaus“. Zur Veränderung des Abend­ mahlsverständnisses bei Luther auch a.a.O., S. 318–338; Wendebourg, S. 417 f. 224  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 363: „ Now let us consider the words of this testament and promises, as they be rehearsed of the three evangelists, Matthew, Mark and Luke, and of the apostle Paul“.

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Gott und Israel, der ebenfalls mit einem Opferritus besiegelt wurde (Ex 24, vgl. Hebr 9). Schon im Alten Bund bestand der Sinn des Opfers darin, den Bundesschluss zu bestätigen und beide Bundesgenossen an ihn zu binden („to confirm the covenant and to bind both parties“225). Das Opfer Jesu im Neuen Testament überbietet nun freilich die Opfer des Alten Bundes und wird von Tyndale verstanden als unübertroffenes Zeichen der Liebe Gottes.226 Beim Vergleich der Abendmahlsperikopen bei den Synoptikern und bei Paulus macht Tyndale die exegetische Entdeckung, dass sich einerseits die Überlieferungen bei Paulus und Lukas, andererseits die bei Matthäus und Markus ähneln. Der matthäisch-markinischen Version eigen ist die ausdrück­ liche Nennung der Sündenvergebung „für viele“. Tyndale deutet diese Viel­ zahl auf die wahrhaft Glaubenden, die sich um die Befolgung des Gesetzes bemühen. Die „Vielen“ sind daher für ihn nur die kleine Schar derer, die ihre Bundesverpflichtung ernst nehmen.227 Bei Paulus und Lukas findet Tyndale die Verknüpfung des Kelches mit dem „neuen Bund in meinem Blut“ (Lk 22,20; 1 Kor 11,25), die ihm aufgrund der direkten Identifikation – „This cup is the new testament in my blood“228 – Schwierigkeiten bereitet. Er erklärt das „is“ – anders als Luther und mit Zwingli229 – zur bloßen Redeweise, mit der Christus gerade keine Gleichset­ zung von Kelch und Bund vornimmt, sondern lediglich ausdrücken will, dass der Kelch das Zeichen für den Bund ist.230 Die symbolische Deutung der Ein­ setzungsworte korrespondiert mit dem Auftrag zur Wiederholung des Mahles „zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19, 1 Kor 11,25), in dem Tyndale die Bestäti­ gung seiner Definition des Sakraments als symbolische Vergegenwärtigung der promissio Gottes wiederfindet.231 Mit dieser Interpretation der Einsetzungsworte im Sinne eines „significat“ anstatt eines „est“ und dem damit verbundenen Verständnis des Abendmahls 225  226  227 

A.a.O., S. 364. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., S. 363: „But who are these many? Verily, they that turn to God to be­ lieve in him only, and to endeavour themselves to keep the law from henceforth. Which many yet, in respect of them that love not the law, are but very few, and even that little flock that gave themselves wholly to follow Christ“. 228  A.a.O., S. 365 (Kursivierung von mir). Im Gegensatz dazu übersetzt Tyndale die Stellen bei Mk und Mt wie folgt: „This is my blood in the new testament“ (ebd.). 229  Zum Abendmahlsstreit insgesamt vgl. Bornkamm, Luther, S. 443–488; Lohse, Theologie, S. 187–195, Kaufmann, Zwingli, S. 155–161. Zu Luthers Deutung des „est“ vgl. Althaus, Theologie, S. 324–330. 230  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 365: „This is a strange speaking, and far from the use of our tongue, to call the sign and confirmation by the name of the thing that is signified and confirmed“; vgl. Stephens, Zwingli, S. 185: „Zwingli makes a sharp distinction between the sign and what it signifies: signs cannot be what they signify, or they are no longer signs“. 231  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 365 f.

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als Gedächtnis- und Erinnerungsmahl, positioniert sich Tyndale eindeutig im Streit um das Abendmahlsverständnis, der die Reformatoren seit der zweiten Hälfte der 1520er Jahre bewegte. 7.5.4  Der Streit um die Präsenz Christi im Abendmahl 7.5.4.1  Die drei Parteien im Abendmahlsstreit In einem dritten Teil versucht Tyndale, seine Leser an diese Auseinanderset­ zung um die Interpretation des Brot- und Weinwortes als Aussage über die Präsenz Christi in den Elementen heranzuführen. Er unterscheidet drei ver­ schiedene Streitparteien, referiert ihre theologischen Positionen und analy­ siert ihre Argumentationsstrukturen. Auch wenn er dabei auf die Nennung von Namen verzichtet, wird schnell deutlich, dass mit der ersten Partei die altgläubige Seite gemeint ist, die auf der Wandlung der Elemente in Leib und Blut Christi im Sinne der Transsubstantiationslehre besteht: „Brot und Wein, sagen sie, können niemals Christi kreatürlicher Körper sein; darum werden Brot und Wein ausgetauscht, verändert und im Sinne der Transsubstantiation in den wahren Leib und das wahre Blut Christi verwandelt“232.

Die zweite Partei, die mit der lutherischen Position identifiziert werden kann, geht mit der ersten darin konform, dass auch für sie Christus in Brot und Wein tatsächlich präsent ist.233 Die Anhänger Luthers unterscheiden sich aber von der römischen Partei dadurch, dass sie auf philosophische Erklärungsver­ suche der Realpräsenz verzichten.234 Für sie ist die Abendmahlsvorstellung nach Tyndales Analyse eng mit der Vorstellung einer communicatio idiomatum verknüpft: „Sie sagen: ‚Weil Gottheit und Menschheit in Christus solcherart miteinander verbun­ den sind, dass der Mensch wahrer Gott und Gott wahrer Mensch ist, sind auch der wahre Leib und das Brot so miteinander verbunden, dass es wahr ist zu sagen: Das Brot ist der Leib Christi, und das Blut ist dem Wein so einverleibt, dass ebenso wahr ist zu sagen: Der Wein ist das Blut Christi‘“235 232 

A.a.O., S. 367: „bread and wine, say they, can never be Christ’s natural body; there­ fore the bread and wine are changed, turned, altered, and transsubstantiated into the very body and blood of Christ“. 233  Zwischen Altgläubigen und Lutherischen erkennt Tyndale darum eine Art Al­ lianz: „The first, though they have slain so many in and for the defence of their opinion, yet they are ready to receive the second sort to fellowship, not greatly striving with them or abhorring the presence of bread and wine with the very body and blood, so that they yet by that means my keep him there still, and hope to sell him as dear as before, and also some to buy him, and not to minish the price“ (vgl. a.a.O., S. 367 f). 234  Vgl. a.a.O., S. 367: „We be not bound to believe that bread and wine are changed; but only that his body and blood are there presently“. 235  Ebd.: „they say, ‚As the Godhead and manhood in Christ are in such manner ­coupled together, that man is very God, and God very man; even so the very body and the

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Der römischen und der lutherischen Partei gegenüber steht schließlich eine dritte Position, die man als „nicht-realpräsentisch“ oder – anachronistisch konfessionell gesprochen – als „proto-reformiert“ bezeichnen könnte.236 Ihr zufolge sind die Abendmahlsworte Christi dem biblischen Sprachgebrauch entsprechend metaphorische Rede, die auf den Glauben der Empfänger ab­ zielt. Tyndale ordnet auch sich selbst dieser Position zu: „Die dritte Sorte behauptet, dass die Worte nichts anderes meinen, als ausschließlich das, was wir geistig fassen können, durch die Dinge, die dort gezeigt werden: Das nämlich Christi Körper gebrochen und sein Blut vergossen wurde für unsere Sünden, wenn wir unserer Sünden aufgeben und uns zu Gott wenden, um sein Gesetz zu hal­ ten. Sie sagen, dass diese Aussagen: ‚Dies ist mein Leib‘ und ‚Dies ist mein Brot‘, bei denen man Brot und Wein vorzeigt, wahr sind, so wie Christus sie gemeint hat und wie sie die Menschen dieses Landes, zu denen Christus sprach, zu verstehen gewohnt waren, und wie auch die Schrift sie an tausend Stellen zu gebrauchen pflegt“237.

Im Folgenden wägt Tyndale nun verschiedene Argumente der ersten beiden Parteien ab und stellt seine Argumente (bzw. die der dritten Partei) dagegen. Dabei geht es ihm vor allem darum, die von ihm wahrgenommene Front von Altgläubigen und Lutheranern gegen die Gegner der Realpräsenz aufzubre­ chen und deutlich zu machen, dass die Trennungslinie eigentlich zwischen Lutheranern und „Proto-Reformierten“ auf der einen und den Altgläubigen auf der anderen Seite verlaufen müsste. 7.5.4.2  Geistliche oder leibliche Präsenz Christi? Im Dialog mit der lutherischen und altgläubigen Position verteidigt Tyndale seine schon vorher geäußerte Auffassung, dass die Gegenwart Christi im Abendmahl nicht als leibliche Realpräsenz misszuverstehen ist. Dazu führt er eine ganze Reihe von Argumenten an, von der Untersuchung einschlägiger Textstellen und Betrachtungen zum biblischen Sprachgebrauch, über die Kirchen­väter, bis hin zu rein logischen Argumenten. Zunächst untersucht er mit Joh 6,53 f einen Schlüsseltext der Abendmahls­ kontroverse.238 Jesu Wort von seinem Fleisch und Blut kann – so Tyndale –  

bread are so coupled, that it is as true to say that bread is the body of Christ, and the blood so annexed there with the wine, that it is even as true to say that the wine is Christ’s blood.‘“ 236  Diesen Formulierungsvorschlag verdanke ich Volker Leppin. 237  A.a.O., S. 368: „The third sort affirm, that the words mean no more but only that we believe, by the things that are there shewed, that Christ’s body was broken and his blood shed for our sins, if we will forsake our sins and turn to God to keep his law. And as they say that these sayings ‚This is my body,‘ and, ‚This is my bread,‘ shewing bread and wine, are true as Christ meant them, and as the people of that country, to whom Christ spake, were accustomed to understand such words, and as the scripture useth in a thousand places to speak“. Tyndale verwendet hier bisweilen auch ein inklusives „we“, vgl. z.B. a.a.O., S. 372. 238  Vgl. Lohse, Theologie, S. 329.

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jedoch gar nicht auf das Abendmahl bezogen werden. Das „Leben“, das ­Christus verheißt, steht für das Leben im Glauben im Sinne von Hab 2,4 bzw. Gal 3,11.239 Dass auch in den Einsetzungsworten nicht von einer leiblichen Realpräsenz Christi in den Elementen gesprochen wird, versucht Tyndale mithilfe eines Ar­ guments zu beweisen, das auch Zwingli gebraucht:240 Christus kann nicht leib­ lich im Abendmahl präsent sein, weil er nach der Auferstehung nurmehr geist­ lich – „by his spiritual being“241 – auf Erden gegenwärtig ist (Mt 28,20; 18,20; Eph 3,16 f). Es widerspräche der Ordnung Gottes, wäre Christus leiblich an zwei Orten zugleich präsent, als Auferstandener im Himmel und real in Brot und Wein.242 Seine Gegenwart im Abendmahl muss daher geistlich sein – eine Präsenz, die sich nur im Glauben erschließt.243 Insofern der Glaubende sie je­ doch im Sakrament erfährt, dient ihm dieses zur Stärkung des schwachen Ge­ wissens („confirmation to weak consciences“244). Neben der Bezweiflung der Ubiquität der Menschheit Christi sprechen für Tyndale auch andere „rationale“ Gründe gegen die Annahme einer Realprä­ senz. So scheint es ihm nicht vernünftig nachvollziehbar, wie Christus bei der Einsetzung des Abendmahls zugleich vor den Jüngern stehen und in einem kleinen Stückchen Brot stecken sollte.245 Auch widerspricht die Vorstellung,  

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Vgl. Sacraments, PS 1, S. 369: „But the truth it is, that the righteous liveth by his faith; ergo, to believe and trust in Christ’s blood is the eating that there was meant, as the text well proveth“. Auch Luther bestreitet in der Auseinandersetzung mit Zwingli einen Zusammenhang dieser Stelle mit dem Abendmahl. Seine Position bringt er in der Wo­ chenpredigt über Johannes 6–8, 1530/1532 (WA 33, S. 178,21–34) auf den Punkt: „Der glaube ist der esser, der do isset undt gleubet an Christum. Die Seele aber undt der glaube hat nicht ein maul, zeene, hals undt bauch, wie der leib hat, Sondern hat ein maul, bauch undt ohren, die heissen Sinn, wille, muth, verstandt, lust oder vernunfft, das einer ein dieng verstehen kan undt lust darzu hat, das, wen man diese wortt höret, das Christus eine Speise undt himmelbrodt sei, das man sich mit dem glauben hinan henge undt fellet mit verstande undt lust hinan“). Zwingli hatte sein Verständnis der geistlichen Präsenz Christi mit Joh 6,63 begründet (vgl. Stephens, Zwingli, S. 228–235; Gäbler, S. 119 f), was Tyn­ dale hier interessanterweise nicht tut. Vgl. dazu auch Bucers Ausführungen zu Joh 6,51–63, zitiert bei Lang, S. 446–463. 240  Vgl. Zwingli, Eine klare Unterrichtung vom Nachtmahl Christi (1526), Z IV (CR 91), S. 830,29–834,12; vgl. dazu auch Stephens, Zwingli, S. 238.245 ff; Lohse, Theologie, S. 190–194. 241  Sacraments, PS 1, S. 369. 242  Vgl. a.a.O., S. 379: „I answer, That God cannot make every of his crea­tures God too; neither can it be proved less repugnant that a creature should be every where, than that he should be God“. 243  Vgl. a.a.O., S. 369: „Where the heart then believeth in Christ, there dwelleth Christ in the heart; though there be no bread in the heart, neither yet in the maw“. 244  Ebd. 245  Vgl. a.a.O., S. 383: „Ye say that Christ was so mighty, that though he stood mortal before his diciples’ eyes, yet he was able to make the same body that same time to be in the sacrament immortal, and to be under every little piece of bread“.

7.5  „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548)

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Christus sei mit Leib und Blut auch in nur einem der beiden Elemente präsent, der metaphorischen Logik des Bildes von Brot – Leib bzw. Wein – Blut: „Christus macht das Brot nur zum Sakrament seines Leibes, weil das Brot kein Eben­ bild seines Blutes ist. Darum bin ich nicht gebunden oder genötigt zuzugestehen, dass sein Blut darin präsent ist“246.

Die Aussage Christi „Dies ist mein Leib… Dies ist mein Blut“ symbolisch zu verstehen, entspricht für Tyndale dem allgemeinen biblischen Gebrauch von Metaphern, demzufolge Bildworte stets als Erinnerungs- und Gedächtnis­ hilfe dienen.247 Dabei liegt es am Sprachgebrauch des Hebräischen, dass das Zeichen mit dem Bezeichneten identifiziert wird und „der Wein, der nur ein Zeichen für das Blut ist, mit der Wort „Blut“ bezeichnet wird“248. Christi Be­ zeichnung von Brot und Wein als sein Leib und sein Blut dient darum schlicht dazu, den Jüngern den Bund249 zu veranschaulichen. Die Inanspruchnahme der Kirchenväter durch die „lutherische“ und die altgläubige Seite schließlich entkräftet Tyndale mit dem Hinweis darauf, dass sich bei den Vätern sowohl Aussagen zur realen Präsenz wie auch zur bloßen figürlichen Gegenwart Christi im Abendmahl finden lassen.250 Luthers An­ hänger selbst lehnen ja die Aussagen der Kirchenväter über das Abendmahl als Opferhandlung ab und betonen stattdessen das einmalige Opfer Christi am Kreuz. Es besteht darum – so Tyndale – kein Grund, der „nicht-realpräsenti­ schen“ Partei vorzuhalten, sie entferne sich in der Frage nach der Realpräsenz von den Kirchenvätern.251 Eine doppelte Hermeneutik im Umgang mit ih­ nen lässt Tyndale den Anhängern Luthers nicht durchgehen.252 246  Ebd.: „Christ made the bread the sacrament of his body only: wherefore as the bread is no similitude of his blood, so am I not bound or ought to affirm, that his blood is there present“. 247  Vgl. a.a.O., S. 376–379, besonders S. 376: „that the very name might the better keep the thing in mind“; s.o. 4.5.1. 248  A.a.O., S. 379: „calling the wine, which only signifieth the blood, with the name of the blood“. 249  Ebd.: „the testament […] that his blood was shed for our sins“. 250  Vgl. a.a.O., S. 370: „The two first parties taking the old doctors to be on their side, I answer, Many of the old doctors spake so mystically that they seem sometimes to affirm plainly that it is but bread and wine only concerning the substance, and that it is a figure of the body and blood of Christ only; and simetimes that it is his very body and blood; therefore it were needless to wade any further therein“. Zur unterschiedlichen Rezeption der Kirchenväter bei Frith und Tyndale vgl. Lund, S. 191 f. 251  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 370 f: „Wherefore ye ought of no right to be angry with them of the third opinion, though they deny the doctors, where they seem to say that the sacrament is the very body of Christ; as they be not angry with you, when ye deny them, where they as earnestly affirm that it is a sacrifice“. 252  Vgl. a.a.O., S. 372: „Why should they [d.i. die lutherische Partei] then of right be offended, if we understand the doctors after the same manner, when they call it his body and blood; and that they so call it after the use of the scripture, because that it is only a me­ morial of his body and blood?“

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

7.5.4.3  Der Stellenwert der Abendmahlsdiskussion: Tyndales „Doctrine of Tolerance“ Der Streit der Parteien über das Verständnis des Abendmahls darf nach Tyn­ dales Auffassung nicht dazu führen, dass die wesentliche Errungenschaft der Reformation, das neue Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung, ver­ loren geht und das evangelische Lager geschwächt wird.253 Weil das Wirken Christi ganz auf die Liebe zum Nächsten ausgerichtet war, muss auch in der Frage des Abendmahls ein liebevoller Umgang mit dem Andersdenkenden herrschen: „In dem aber, was nicht für alle Parteien gleichermaßen offenkundig ist, lasst uns de­ mütig, nüchtern und kalt sein und unsere geheime Weisheit für uns selbst behalten und geduldig solange aushalten, bis Gott sie auch den anderen eröffnen wird“254.

Im Gegensatz zu Luther, dem gerade diese Argumentation zuwider war,255 kann Tyndale die Bedeutung der Auseinandersetzung um das Abendmahl ge­ ring ansetzen, weil dieses für ihn keiner anderen Intention dient, als den oh­ nehin vorausgesetzten Glauben an Christus zu stärken und die Hinwendung zum Nächsten zu fördern. Aus der Frage nach der Präsenz Christi im Abend­ mahl einen heilsnotwendigen Glaubensartikel zu machen, liegt ihm fern.256 Solange ein Glaube erkennbar ist, der durch Werke bezeugt wird, kann Tyn­ dale in der Abendmahlsfrage andere Positionen (wie die der Anhänger Lu­ thers) gelten lassen, solange sie nicht – wie die römische Position – idolatrische Züge tragen.257 Christus selbst lehre schließlich, so Tyndale, das Gebet zum 253  Vgl. Lund, S. 187: „There were obvious pragmatic reasons for adopting this stance. Both Frith and Tyndale wanted to free themselves from the requirement to believe in transubstantiation and they were also concerned to maintain peace and unity among the disparate group of Protestant Reformers“. 254  Sacraments, PS 1, S. 375: „And in that which is not opened to all parties, let us be meek, sober, and cold; and keep our wisdom secret to ourselves, and abide patiently, till God open it to other also“. Vor allem gegen die Altgläubigen richtet sich daher Tyndales Vorwurf: „True faith maketh a man to love his brother: but that opinion maketh them to hate and slay their brethren, that better believe in Christ than they of that opinion do“ (a.a.O., S. 373), vgl. Lund, S. 188. 255  Luther ging es im Streit um das Abendmahl vor allem um die darin impliziten Dif­ ferenzen in der Christologie (vgl. Bornkamm, Luther, S. 484: „Was Luther an Zwingli vor allem bekämpft, ist die Uneigentlichkeit seiner christologischen Aussagen“). Er konnte darum die Frage nach der Präsenz Christi in Brot und Wein nicht zum Adiapho­ ron erklären, denn mit dieser Frage steht und fällt für ihn das reformatorische Bekenntnis insgesamt, vgl. WA 26, S. 499–509 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, 1528); dazu auch Bornkamm, Luther, S. 486 ff. 256  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 381: „to be taught thereby to believe in Christ our Saviour, and to do good to his neighbour […] ergo, where the scripture compelleth to no such be­ lief, it is wickedness to make it a necessary article of our faith, and to slay them that cannot think that it ought to be believed“. 257  Eine „Vergötzung“, wie im Messopfer, darf nicht unwidersprochen bleiben, weil sie Gottes Souveränität anzweifelt; vgl. a.a.O., S. 362: „Neither is idolatry any other thing

7.5  „A Brief Declaration upon the Sacraments“ (1548)

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Vater im Himmel und nicht „to his Father in the sacrament“258. Mit dieser toleranten Haltung befindet sich Tyndale wiederum in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Martin Bucer, für dessen – programmatisch durch­ dachteren259 – Haltung im Abendmahlsstreit Berndt Hamm festhalten kann: „Die Kontrahenten im Abendmahlsstreit [sollen] nicht die gegensätzlichen Lehrmeinungen bei der Auslegung der Einsetzungsworte isoliert sehen, son­ dern wahrnehmen, daß zusammen mit diesen Meinungen in den Herzen ih­ rer Gegner ein wahrer Glaube und eine echte Liebe wohnen, die – wie man deutlich sehen kann – lebendige Früchte hervorbringen“260. Am Ende bietet Tyndale den anderen Parteien, wobei er wahrscheinlich vor allem an die „lutherische“ Seite denkt, die Hand zur Einigung an. Chris­ tenmenschen sollten andere theologische Positionen ertragen, solange diese dem Kern der christlichen Botschaft, wie sie in der Schrift bezeugt wird, nicht widersprechen.261 Die Schrift aber sei zu allen Zeiten in vielfältiger Weise ausgelegt worden, ohne dass dadurch Schaden entstanden wäre.262 So­ lange darum die Ausrichtung auf den „covenant“ Gottes in Christus eindeu­ tig bleibt, ist es für Tyndale nicht verwerflich, die leibliche Präsenz Christi in Brot und Wein zu bestreiten: „which covenant only is which saveth. And to testify this, was the sacrament instituted“263.

than to believe that a visible ceremony is a service to the invisible God“; vgl. Lund, S. 188 f: „both authors [d.i. Tyndale und Frith] also indicate that there are limits to their acceptance of divergent beliefs about the sacrament if these views lead to certain religious practices that they deem incompatible with the necessary articles of the Creed“. Diese Be­ tonung der Souveränität Gottes findet sich noch stärker bei Zwingli, vgl. Stephens, Zwingli, S. 188 f; Hamm, Zwinglis Reformation, S. 34–44. 258  Sacraments, PS 1, S. 383. 259  Vgl. Hamm, Toleranz, S. 87–98. 260  A.a.O., S. 95. Zu Bucers tolerantem Denken insgesamt vgl. auch a.a.O., S. 99–106. Dass die Abendmahlsauffassung Bucers in Antwerpen bekannt war, macht der von Ger­ hard Hammer untersuchte Streit um die niederländische Übersetzung der Psalmausle­ gung Bugenhagens von 1526 und ihren Anhang deutlich, vgl. Hammer, besonders S. 395 f u. S. 417–440. 261  Vgl. Sacraments, PS 1, S. 384: „therefore methinketh that the party that hath pro­ fessed the faith of Christ, and the love of his neighbour, ought of duty to bear each other, as long as the other opinion is not plain wicked through false idolatry, nor contrary to the salvation that is in Christ, nor against the open and manifest doctrine of Christ and his apostles, not contrary the general church of Christ, which are confirmed with open scrip­ tures, in which articles never a true church in any land dissenteth“. Luther und seine An­ hänger hätten den Dissens im Abendmahlsverständnis freilich gerade auf die Frage nach der „salvation that is in Christ“ zurückgeführt und die reformierte Position Tyndales als nicht mit „open scriptures“ begründet eingeschätzt. Zum hier anklingenden Kirchenver­ ständnis Tyndales als Kirche der Erwählten s.o. 5.4.3.4 und 5.4.2. 262  Vgl. ebd.: „yet that hurteth not“. 263  A.a.O., S. 385.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

7.6  „The Testament of William Tracy Expounded“ (1535) 7.6.1  Zur Entstehung der Schrift Unter den Unterlagen, die nach Tyndales Verhaftung im English House ge­ funden wurden,264 fanden sich auch die Kommentare von Frith und Tyndale zum Testament des William Tracy.265 Der letzte Wille dieses 1530 gestorbe­ nen angesehenen Landbesitzers aus Gloucestershire266 war in den Jahren nach seinem Tod zu einer Art „heiligem Text“ der evangelischen Gemeinde in England geworden, da er die reformatorischen Überzeugungen und die Glau­ bensstärke seines Verfassers im Angesicht des Todes bezeugte.267 In Abschrif­ ten kursierte das Testament Tracys unter seinen reformatorisch gesinnten Landsleuten und wurde bald auch von deren Gegnern zum Beweis ihrer „Hä­ resie“ herangezogen.268 Doch nicht nur die Besitzer dieser Manuskripte wurden als Häretiker ver­ folgt, auch der Verfasser selbst – obgleich schon nicht mehr unter den Leben­ den – wurde von den offiziellen kirchlichen Stellen juristisch belangt. Die Konvokation der Erzdiözese von Canterbury verhandelte vom März 1531 bis zum März des Folgejahres mehrfach über den Fall Tracy. Am Ende stand seine Verurteilung als Ketzer.269 Tracys Leichnam wurde im Oktober 1532 auf Befehl des Kanzlers der zuständigen Diözese Worcester exhumiert und öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.270 Diese Aufsehen erregende 264  S.u. 7.8.1. Möglicherweise waren die Schriften Tyndales dort bereits vor seiner Festnahme an einem sicheren Ort untergebracht worden, so dass sie möglichen Feinden nicht in die Hände fallen konnten, vgl. Mozley, S. 302. 265  „The Testament of Master William Tracy, Esquire, expounded by William Tyn­ dale; wherein thou shalt perceive with the charity the chancellor of Worcester burned, when he tookup the dead carcass, and made of it after it was buried, 1535“, Tracy’s Testa­ ment, PS 3, S. 269–283 (der Titel stammt nicht von Tyndale, sondern wurde erst bei der Veröffentlichung 1535 vorangestellt). 266  Zur Person Tracys vgl. Day, Legal Problems, S. 104 ff; Litzenberger, S. 29 ff. 267  Vgl. Short Title Catalogue Nr. S114878. Gerade die Tatsache, dass der Text auf Englisch verfasst und so kurz war, dass er gut in handschriftlichen Abschriften verbreitet werden konnte, haben wohl zum „Erfolg“ von Tracys Testament beigetragen, vgl. Day, Legal Problems, S. 107. 268  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1189, vgl. auch Day, Legal Prob­ lems, S. 108. 269  Vgl. Mozley, S. 189 f. Day, Legal Problems, S. 108 ff, hat herausgearbeitet, dass die Dauer dieses Verfahrens wohl auch der heiklen kirchenpolitischen Situation geschuldet war, da sich die Bischöfe mit einem gleichzeitig tagenden reformfreundlichen Parlament konfrontiert sahen und ihre Beschlüsse genau abwägen mussten. 270  Eine interessante historische Fußnote ist die Tatsache, dass Tracys Sohn Richard den Kanzler 1534 erfolgreich verklagte, da dieser die Exhumierung vollzogen hatte, ohne vorher den ausdrücklichen Willen des Königs einzuholen – ein Indiz für die ungewisse kirchliche Situation in der Zeit der Ablösung der englischen Kirche von Rom, vgl. Day, Legal Problems, S. 111.

7.6  „The Testament of William Tracy Expounded“ (1535)

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posthume Verurteilung als Ketzer trug freilich zusätzlich zur Verbreitung des Testaments bei.271 Was den letzten Willen des Landedelmannes aus der Provinz zu einem „häretischen“ Dokument macht, ist sein Charakter als ein theologisches State­ ment. Sein Verfasser bereitet sich auf seinen Tod vor, indem er Rechenschaft gibt über seinen Glauben und die Hoffnung für sein Seelenheil. Damit ver­ bunden sind seine Wünsche für sein Begräbnis und die Regelung seines Nach­ lasses. In all diesen Punkten gibt er sich als Vertreter reformatorischer Positio­ nen zu erkennen. So steht am Beginn des Schriftstücks Tracys commendatio an Gott, der aus Gnade aufgrund der Verdienste Christi Sünden vergibt und die Hoffnung auf die Auferstehung schenkt: „Zuerst und vor allen anderem, befehle ich mich Gott und seiner Barmherzigkeit an, darauf ohne allen Zweifel und Argwohn vertrauend, dass durch seine Gnade und die Verdienste Jesu Christi und durch die Wirksamkeit seiner Passion und seiner Auferste­ hung, ich der Vergebung meiner Sünden und der Auferstehung von Leib und Seele schon jetzt teilhaftig bin und teilhaftig sein werde, wie geschrieben steht (Hiob xiv [sic!]): ‚Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und das ich am letzten Tag aufstehen werde aus der Erde und in meinem Fleische meinen Retter sehen werde‘. Diese Hoffnung wohnt in meiner Brust“272.

Für sein Seelenheil ist Christus alleinige Bezugsgröße Tracys, da er als einzi­ ger Mittler zwischen Gott und Mensch denen, die der Verheißung glauben, Erlösung schenkt.273 Menschliche Vermittlungsbemühungen in Form von Seelenmessen lehnt er daher strikt ab.274 Auch sein Begräbnis soll nicht von 271  Vgl. a.a.O., S. 103: „The story of William Tracy’s life, his last will and testament, his posthumous condemnation as a heretic, the exhumation of his body, the burning of his remains at the stake two years after his death, and the outraged response this caused has a lurid, grisly, macabre fascination, and has been frequently retold“ (vgl. auch ebd., Anm. 1). Der Text wurde im 16. Jh. mindestens dreizehn Mal gedruckt, vgl. dazu a.a.O., S. 113, Anm. 40. 272  Tracy’s Testament, PS 3, S. 272: „First, and before all other thing, I commit me unto God and to his mercy, trusting without any doubt or mistrust, that by his grace and the merits of Jesus Christ, and by the virtue of his passion, and of his resurrection, I have and shall have remission of my sins, and resurrection of body and soul, according as it is writ­ ten, (Job xiv.) ‚I believe that my Redeemer liveth, and that in the last day I shall rise out of the earth, and in my flesh shall see my Saviour.‘ This my hope is laid up in my bosom“; vgl. auch Foxe, Acts and Monuments (1563), Book 4, S. 514 f. 273  Vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 272: „And as touching the wealth of my soul, the faith that I have taken and rehearsed is sufficient (as I suppose) without any other man’s work or works. My ground and my belief is, that there is but one God, and one mediator between God and man, which is Jesus Christ: so that I accept none in heaven, nor in earth, to be my mediator between me and God, but only Jesus Christ; all other be but petitioners in receiving of grace, but none able to give influence of grace“. 274  Vgl. ebd.: „And therfore will I bestow no part of my goods for that intent, that any man should say or do to help my soul: for therin I trust only to the promise of God, ‚he that believeth and is baptized shall be saved, and he that believeth not shall be damned.‘“

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(vergeblichen) Anstrengungen um sein Seelenheil bestimmt sein,275 die vor­ gesehene Spende an die Armen nicht als religiöses „gutes Werk“, sondern als Frucht des Glaubens verstanden werden.276 Dieses Bekenntnis zur Rechtfertigung allein aus Glauben und die damit verbundene Absage an die kirchliche Sorge um seine Seele sowie die Verwei­ gerung der üblichen finanziellen Hinterlassenschaft an den Inhaber der örtli­ chen Pfarrei waren für den römischen Klerus in der Tat ausreichende Gründe für die Verurteilung Tracys als Ketzer.277 Zugleich macht seine im Testament zum Ausdruck kommende Gesinnung auch deutlich, warum Tyndale und Frith es für nötig erachteten, ihm sozusagen posthum theologisch „beizu­ springen“. Einem solch klaren Bekenntnis zur reformatorischen Wahrheit konnten sie ihre Unterstützung nicht verweigern. Es ist nicht ganz klar, in welcher persönlichen Beziehung Tyndale zu Tracy stand. Eine mögliche Verbindung zwischen beiden stellt ihre gemeinsame Heimat Gloucestershire dar. Tracy war nicht nur ein bekannter Mann in der Grafschaft, sondern besaß auch ein Herrenhaus in der Nähe von Tyndales ehemaliger Wirkungsstätte Little Sodbury.278 Eine persönliche Bekannt­ schaft beider Männer aus dieser Zeit, evtl. vermittelt durch Sir John Walsh,279 ist anzunehmen. Tyndale spricht von Tracy in den höchsten Tönen als von einem Mann, der sich nicht nur durch seinen vorbildlichen christlichen Le­ benswandel,280 sondern auch durch seine Gelehrsamkeit, insbesondere durch seine Kenntnis Augustins, ausgezeichnet habe.281 Tracy könnte darum zu den Freunden und Förderern Tyndales gehört haben, die – früh selbst zu reforma­

275 

Tracy zitiert in diesem Zusammenhang Augustin, vgl. ebd.: „As touching the bury­ing of my body, it availeth me not what be done thereto; wherein St Augustine, De cura agenda pro mortuis, saith, that ‚they are rather the solace of them that live, then the wealth or comfort of them that are departed’: and therfore I remit it only to the discretion of mine executors“ (vgl. ebd., Anm. 1). 276  Vgl. a.a.O., S. 273: „And touching the distribution of my temporal goods, my pur­ pose is, by the grace of God to bestow them to be accepted as fruits of faith: so that I do not suppose that my merit be by good bestowing of them; but my merit is the faith of Jesus Christ only“. 277  Vgl. Day, Legal Problems, S. 106; Clebsch, S. 107 f. 278  Vgl. Day, Tracy’s Will, S. 167 f. 279  Auch Tyndales Antwerpener Gastgeber, Thomas Poyntz, könnte über die „Glou­ cestershire-Connection“ mit Tracy bekannt gewesen sein, vgl. Day, Legal Problems, S. 104; Smeeton, Lollard Themes, S. 51.73 f. 280  Tyndale erklärt, Tracy sei „not only [of] a good christian man, but also [of] a per­ fect christian man“ (Tracy’s Testament, PS 3, S. 280) und hält fest: „the man was virtuous, wise, and well learned, and of good fame and report, and sound in the faith while he was alive“ (a.a.O., S. 282). 281  Vgl. a.a.O., S. 279: „M. Tracy, which was a learned man, and better seen in the works of St Austin twenty years before he died, than ever I knew doctor in England“.

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torischen Überzeugungen gelangt 282 – sein Wirken als Übersetzer und Au­ tor unterstützt haben. Auch das Gefühl persönlicher Verpflichtung gegenüber Tracy mag Tyn­ dale daher dazu veranlasst haben, dessen letzten Willen, als dieser Gegenstand eines Häresieprozesses wurde, in einem Kommentar zu würdigen. Viel spricht dafür, dass Tyndale seine Schrift 1532 nach Abschluss des Verfahrens gegen Tracy und dessen posthumer Verbrennung verfasst hat. Eine genaue Datie­ rung ist nicht möglich.283 Das 1535 im „English House“ gefundene Manu­ skript wurde gemeinsam mit dem Testament selbst und Friths Kommentar noch im selben Jahr in Antwerpen gedruckt.284 Es ist damit die letzte Schrift Tyndales, die zu seinen Lebzeiten erschien. Aufgrund ihrer Kürze und Präg­ nanz bietet sie eine Zusammenfassung der theologischen Grundanschauun­ gen Tyndales, die als solche gut ans Ende dieser Untersuchung passt. 7.6.2  Tyndales Kommentar zu Tracys Testament In seiner Auslegung zu Tracys Testament vollzieht Tyndale dessen theologi­ schen Aussagen nach und deutet sie mithilfe des Apostolikums und verschie­ dener Bibelstellen als „rechtgläubig“. Am ausführlichsten geraten seine Aus­ führungen zur Soteriologie. Gottes Gnade in Christus, die Rechtfertigung aus Glauben und die Rolle der Werke werden von ihm bundestheologisch er­ läutert. Von dieser theologischen Grundlegung ausgehend äußert er sich auch zu den von Tracy angesprochenen Themen im Zusammenhang von Sterben und ewigem Leben. Die Vorbildlichkeit des Christen William Tracy besteht nach Tyndales Ur­ teil vor allem darin, dass er sich in seinem Testament zuallererst Gott anbe­ fiehlt.285 Im Vertrauen auf Gott allein und nicht etwa in der Anrufung von Heiligen besteht das exemplarische Christsein, das Tyndale bei Tracy vorfin­ det. Der Glaube als Fundament der christlichen Existenz wird von ihm zu­ 282 

Vgl. Smeeton, Lollard Themes, S. 51.70.73 f; für Smeeton ähnelt der Fall Tracys dem spektakulären Fall Richard Hunnes (1514/1515), den er als „Lollard sympathizer“ (a.a.O., S. 70) beschreibt. Eine eindeutige Verbindung Tracys zum Lollardentum kann Smeeton jedoch nicht nachweisen. 283  Day, Legal Problems, S. 112, diskutiert die Frage, ob die negativen Nachrichten aus England, von denen Vaughan 1531 an Cromwell berichtet, dass sie Tyndale verstört hät­ ten (s.o. 5.1.1), sich auf das Verfahren gegen Tracy bezogen. Dies ist jedoch – so Days Er­ gebnis – unwahrscheinlich, da der Prozess gegen Tracy vor der Bischofsversammlung erst im Februar 1531 begann, Vaughans Brief aber schon vom Januar 1531 datiert ist. 284  Der Schrift vorangestellt ist eine kurze Einleitung „To the Reader“ (vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 271), die vermutlich von John Rogers stammt, vgl. Day, Tracy’s Will, S. 163; vgl. Frith, Tracy’s Testament, Wright, S. 243–253. 285  Vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 273: „to commit ourselves to God above all is the first of all precepts; and the first stone in the foundation of our faith, that we believe and put our trust in one God“.

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gleich näher bestimmt als Glauben an Christus als denjenigen, der den Zu­ gang zum Vater erst ermöglicht. Auf Christus verweisen das Erste Gebot und der erste Artikel des Credo, Tracys Hervorhebung dieses Glaubens ist daher in keinem Fall ketzerisch: „That this lively faith is sufficient to justification, without adding to of any more help“286. Wie auch in anderen Schriften kommt es Tyndale nun darauf an, den alt­ gläubigen Einwand, dass eine Rechtfertigung, die einzig aus dem Glauben kommt, unethisch sei, zu widerlegen.287 Er differenziert daher auch hier zwi­ schen zwei Formen des Glaubens: Einem bloß äußerlichen,288 der sich in Wahrheit nicht auf die Gnade Gottes einlässt, und dem wahren Glauben, den er in der Beschreibung des Bundesgeschehens zwischen Gott und Mensch nä­ her erläutert. Der rechte Glaube ist die Zustimmung zum Bundesschluss, mit der sich der Glaubende zum Versuch der Einhaltung der Gebote verpflichtet und der darum immer begleitet wird von der Sorge um den Nächsten und dem Kampf gegen die eigene Sündigkeit: „Er meint den Glauben, der sich auf die Verheißung, beruhend auf der Vereinbarung zwischen Gott und uns, bezieht, dass wir sein Gesetz mit allen unseren Kräften einhal­ ten sollen, das bedeutet: Wer an Christus glaubt um der Vergebung der Sünde willen und getauft ist, den Willen Christi zu tun, sein Gesetz der Liebe zu bewahren und sein Fleisch abzutöten, der wird gerettet werden“289.

Tyndale hebt die enge Verbindung von Verheißung und Bundesschluss her­ vor, die für ihn notwendig miteinander verbunden sind, „denn Gott macht keine Versprechen außer auf eine Vereinbarung oder einen Bund hin. Wer auch immer nicht bereit ist, sich unter diesen zu stellen, kann auch kein Teilha­ber der Verheißung sein“290. Zugleich betont er die Rolle des Geistes, der zur Einhaltung der Bundesverpflichtung befähigt.291 Die Spannung 286  A.a.O., S. 274; vgl. a.a.O., S. 273 f: „so that we come to him the way he hath ap­ pointed; which way is Jesus Christ only, as we shall see followingly. This first clause, then, is the first commandment, or at least the first sentence in the first commandment, and the first article of our creed“. Dass der Glaube das einzig notwendige „Mittel“ zum Heil ist, belegt Tyndale mit einer Collage von Bibelstellen (vgl. a.a.O., S. 274 f: Röm 8,31; Mt 28,18; Hebr 7; 1 Tim 2,5 f). 287  Vgl. Day, Tracy’s Will, S. 173: „in the paragraph at hand, he wants to deal with the problem of those who presume upon faith alone and care little about behavior“. 288  Tracy’s Testament, PS 3, S. 275, spricht Tyndale von: „the blind imagination, falsely called faith, of them that give themselves to vice without resistance“. 289  A.a.O., S. 276: „he meaneth that faith that is in the promise made upon the ap­ pointment between God and us, that we should keep his law to the uttermost of our ­power; that is, he that believeth in Christ for the remission of sin, and is baptized to do the will of Christ, and to keep his law of love, and to mortify the flesh, that man shall be ­saved“. 290  Ebd.: „for God never made promise, but upon an appointment or covenant, under which whosoever will not come can be no partaker of the promise“. 291  Vgl. ebd.: „For the preaching of the faith ministereth the Spirit (Gal iii., and

7.6  „The Testament of William Tracy Expounded“ (1535)

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zwischen Selbstverpflichtung des Menschen im Bund einerseits und prä­ destinatianisch konnotierter Geistbegabung andererseits scheint Tyndale auch selbst aufgefallen zu sein.292 Ähnlich wie in „Exposition Matthew“ und mithilfe derselben Beispiele293 stellt er klar: Der Glaube geht den Wer­ ken notwendig voraus, weil er die Verwandlung des menschlichen Status von der Sünde zur Gnade vollzieht. Ist diese „Heilung“ (zumindest in ihren Anfängen) vollzogen, so folgt das Fortschreiten auf dem Weg der Heiligung ganz natürlich: „Glaube rechtfertigt dich, d.h. er bringt Vergebung aller Sünden und setzt dich in den Stand der Gnade, vor allen Werken und gibt dir Kraft zu handeln, bevor du irgendein Werk tun kannst. Wenn du aber nicht zurückfallen willst, sondern fortfahren in der Gnade und zur Rettung und herrlichen Auferstehung Christi gelangen willst, musst du Werke tun und sie deinem Glauben hinzufügen […] und wann immer du fällst, dich an deinem Glauben wieder aufrichten, ohne die Hilfe der Werke“294.

Trueman hält darum zu Recht fest: „It is within the context of this salvation that the conditions of the covenant must be understood. In other words, ini­ tiation into the covenant by adoption is the work of God; however, once the believer is adopted, then the conditions become operative“295. Vom Glauben an die Rechtfertigung her kann Tyndale die übrigen gegen das Testament vorgebrachten Vorwürfe entkräften. Er verneint – wie schon an anderer Stelle296 – die Möglichkeit der Fürbitte für die Verstorbenen mit dem Hinweis auf die allein seligmachende Versöhnungstat Christi: Weder 2 Cor. iii). And the Spirit looseth the bands of Satan, and giveth power to love the law, and also to do it“. 292  Vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 276: „‚Ah well’ (wilt thou say), ‚if I must profess the law, and work; ergo, faith alone saveth me not“; vgl. Day, Tracy’s Will, S. 174: „Tyndale himself seems aware of possible misinterpretation because, in the very next paragraph, he anticipates this objection“. 293  Tyndale nennt auch hier den vom König begnadigten Verbrecher und das vom Va­ ter gezüchtigte Kind, vgl. Exposition Matthew, PS 2, S. 7.9. Die Ähnlichkeit der Beispiele verweist auf einen ähnlichen Entstehungszeitraum beider Schriften 1532/1533. 294  Tracy’s Testament, PS 3, S. 276: „Faith justifieth thee; that is, bringeth remission of all sins, and setteth thee in the state of grace before all works, and getteth thee power to work before thou couldst work. But if thou wilt not go back again, but continue in grace, and come to that salvation and glorious resurrection of Christ, thou must work and join works to thy faith […] and as oft as thou fallest, set thee on thy faith again, without help of works“. Clebsch, S. 108 f, meint, in Friths Kommentar zu Tracys Testament einen Dissens zu Tyndale in der Rechtfertigungstheologie feststellen zu können. In der Tat fin­ det sich bei Frith keine Theologie des „Covenant“, stattdessen arbeitet er das Verhältnis von Glauben und Werken anhand des Bildes vom Baum und den Früchten heraus. Daraus auf einen bewussten inhaltlichen Widerspruch zu Tyndale zu schließen, erscheint mir aber doch zu gewagt. Zur Problematik von Clebschs These vgl. auch Day, Tracy’s Will, S. 175 f und Trueman, Legacy, S. 101–108.140 ff. 295  Trueman, Legacy, S. 115. 296  S.o. 5.3.6.3.

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

Priester noch Heilige sind nötig, um für den Toten vor Gott Vergebung zu erwirken, denn dies vermag allein der im Glauben bekannte Sohn Gottes.297 Auch Tracys Wunsch nach einer schlichten Beerdigung findet Tyndales Zu­ stimmung, ist er doch Ausdruck eben jenes alleinigen Vertrauens auf Chris­ tus.298 Die von Tracy verfügten Gaben an die Armen versteht Tyndale als Zeichen der Dankbarkeit für die zu Lebzeiten erfahrene Güte Gottes, nicht aber als Bezahlung für die Fürbitte der Armen.299 Er kritisiert die Anmaßung der Papstkirche, die Seelen im Purgatorium zu binden und zu lösen, als Aus­ druck klerikaler Habgier. Zwar will er nicht ausschließen, dass es nach dem Tod einen befristeten Aufenthalt an einem Ort der Lehre und Zurechtbrin­ gung für die Glaubenden gibt,300 dies jedoch höchstens als „Durchgangssta­ tion“ zur verheißenen Gnade Gottes.301 William Tracy ist für Tyndale ein „Modellchrist“ und die gegen ihn vor­ gebrachten Anschuldigungen sind haltlos. An dieser Einschätzung sollen sich die Leser auch nicht durch die Verurteilung Tracys durch die Papstkirche irre machen lassen. Für Tracy wie für sich selbst als seinen Interpreten nimmt Tyndale in Anspruch: „he held no other doctrine than that was true“302.

297  Vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 278: „Christ is my Lord, and hath deserved and also obtained power, to give me all that can be desired for me; and all that others desire for me, is desired in Christ’s name, and given at the merits of his blood“. 298  Vgl. a.a.O., S. 280: „what greater sign of infidelity is there, than to care, at the time of death, with what pomp the carcass shall be carried to the grave?“ 299  Vgl. ebd.: „And that bestowing of a great part of his goods (while he yet lived) upon the poor, to be thankful for the mercy received, without buying and selling with God; that is, without binding those poor unto any other appointed prayers than God hath already bound us already, one to pray for another“. 300  Vgl. a.a.O., S. 281: „Though it seem not impossible haply, that there might be a place where the souls might be kept for a space, to be taught and instructed; yet that there should be such a jail as they jangle, and such fashions as they feign, is plainly impossible, and repugnant to scripture“. Day, Tracy’s Will, S. 180, erkennt hierin einen Widerspruch zu Frith, der das Fegfeuer gänzlich verneint. Tyndales Formulierung macht m.E. jedoch deutlich, dass er hier nur vorsichtig einer theoretischen Möglichkeit („might be“) Raum gibt. An anderer Stelle verneint er ebenso klar wie Frith die Existenz des Purgatoriums (s.o. 3.3.7; 5.3.6.3). 301  Vgl. Tracy’s Testament, PS 3, S. 281 f: „For when a man is translated utterly out of the kingdom of Satan, and so confirmed in grace that he cannot sin, so burning in love that his lust cannot be plucked from God’s will, and being partaker with us of all the pro­ mises of God, and under the commandments; what could be denied him in that deep in­ nocency, of his most kind Father“. 302  A.a.O., S. 282.

7.7  Theologische Einordnung

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7.7  Theologische Einordnung 7.7.1  Die Grenzen der Bundestheologie Tyndales Die im vorigen Kapitel anhand der Schriften von 1531–1533 gemachten Be­ obachtungen zur Bundestheologie Tyndales gewinnen in Vorwort und Vor­ reden zum Neuen Testament von 1534 sowie in der Schrift zu den Sakramen­ ten und dem Kommentar zu Tracys Testament noch einmal an Kontur. Besonders im Vorwort lässt sich eine verstärkte Betonung des menschli­ chen Anteils am Gelingen der Bundesbeziehung beobachten und ein Zurück­ treten der Aussagen, die Gottes vorausgehende Gnade hervorheben. Das kau­ sale Element verschwindet hier an einer Vielzahl von Stellen hinter dem kon­ ditionalen. Gerade in seinen hermeneutischen Einleitungen zum „New Testament“, bei denen er mit einer großen Zahl von Leserinnen und Lesern rechnen konnte, scheint es Tyndale wichtig gewesen zu sein, neben Gottes im Glauben empfangener Gnade die menschliche Verpflichtung zu guten Wer­ ken stark zu machen. Er begegnet damit dem Vorwurf der mangelnden ethi­ schen Komponente in der reformatorischen Rechtfertigungsvorstellung. Durch die schlichte „wenn…, dann…“ – Struktur des „covenant“ bietet er seiner Leserschaft außerdem die Möglichkeit zur Vergewisserung über den eigenen Status vor Gott und den Ansporn zur eigenverantwortlichen ethi­ schen Lebensführung. Gerade mit der schematischen und damit leicht auf das eigene Leben anwendbaren Struktur der Bundesbeziehung konnte Tyndale der evangelischen Gemeinde, die ihr Christentum im Untergrund und in ständiger Bedrohung von außen lebte, ein Medium des Zuspruchs an die Hand geben, das zudem half, sich mit dem eigenen schriftgemäßen „Leben im Bund“ vom ethisch verdorbenen papstkirchlichen Klerus (und dem Hof­ staat) abzugrenzen. Tyndale ruft seinen Leserinnen und Lesern also mithilfe seiner konditionalen Bundesfigur gleichsam zu: „Wenn ihr wissen wollt, wie es um euer Christsein bestellt ist, schaut auf eure Werke, denn sie sind sicht­barer Ausdruck eures Glaubens. An ihnen erkennt ihr, dass ihr geret­ tet seid. Lasst darum nicht nach in euren Anstrengungen!“

Das Beispiel eines William Tracy dient in diesem Zusammenhang als vor­ bildliche Leitfigur, der man in Lebenswandel und privater Frömmigkeit nachfolgen konnte. Für die Möglichkeit, mithilfe der Bundesfigur die ethische Dimension her­ vorzuheben, zahlt Tyndale freilich den Preis der Überbetonung des mensch­ lichen Anteils am Heilsgeschehen.303 Er sieht sich daher selbst verschiedent­ lich genötigt, umgekehrt das „prae“ des von Gott geschenkten und vom Geist 303  Hier liegt das relative Recht von Clebschs Beschreibung der Gott-Mensch-Rela­ tion bei Tyndale als Kontraktverhältnis (vgl. Clebsch, S. 185–193).

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Kapitel 7:  „Lord, open the king of England’s eyes“

bewirkten Glaubens herauszustellen. Diese unaufgelöste Ambivalenz der bundestheologischen Aussagen Tyndales liegt möglicherweise in der Sache der reformatorischen Rechtfertigungslehre selbst begründet, die auf der ei­ nen Seite gegen jede Werkgerechtigkeit die vollkommene Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Gnade herausstellen will, auf der anderen Seite aber auch die ethische Verpflichtung betonen möchte.304 Tyndale versucht, mit­ hilfe der Bundesfigur beide Aspekte in Einklang zu bringen, indem er den „covenant“ zugleich als gnadenhafte Zuwendung Gottes („first covenant ma­ king“) und als (Selbst-) Verpflichtung der Glaubenden versteht. Die Zuord­ nung beider Elemente – der Initiative Gottes und des Menschen – geschieht hier jedoch nur begrifflich. Innerhalb der Bundesvorstellung bleibt die Aporie zwischen dem Interesse an reiner Gnade einerseits und der konsequenten Ethik andererseits bestehen. Beide Pole können von Tyndale nur ungenügend miteinander verbunden werden. 7.7.2  Tyndales späte Sakramentstheologie Die Tyndaleforschung ist sich weitgehend darin einig, dass das Sakramentsver­ ständnis des Engländers, insbesondere seine Deutung des Abendmahls, deut­ liche Parallelen zur Position Zwinglis aufweist.305 Vergleicht man „Sacra­ ments“ mit den Schriften des Schweizer Reformators, so bestätigt sich dieser Eindruck. Neben der alle Reformatoren einenden Ablehnung von Messopfer und Transsubstantiationslehre und der Beschränkung auf die beiden Sakra­ mente Taufe und Abendmahl, zeichnet sich Tyndales Auffassung durch Ele­ mente aus, die sich auch bei Zwingli finden. Hier ist vor allem die Verbindung des Sakramentsbegriffs mit dem Bundesgedanken zu nennen. Die Taufe wird verstanden als Eintritt in den Bund, der verknüpft ist mit der Selbstverpflich­ tung der Getauften, entsprechend der eingegangenen Bindung zu leben.306 Auch die Parallelen zwischen der Beschneidung als Bundeszeichen des Alten Bundes und der Taufe als Zeichen des Neuen ziehen beide Theologen. Außer­ dem verbindet Tyndale mit Zwingli ein Verständnis der Sakramente als bloßer Zeichen, die affirmativ ein inneres Geschehen äußerlich sichtbar machen, deren Vollzug jedoch nicht selbst etwas performativ geschehen lässt. Dieses Sakra­ mentsverständnis führt beide dazu, die Bedeutung des Abendmahls im Ge­ 304  Vgl. Knox, Doctrine, S. 20: „By insisting on the forward looking nature of the co­ venant Tyndale hoped to avoid the stigma that the reformers brought against the papal doctrine that it made works a ground of confidence in a man’s approach to God, when that confidence should rest only on God’s gracious promises in Jesus Christ. But he did not suc­ ceed, as such error flows naturally from this type of covenant doctrine“ (Kursivierung im Original). 305  Vgl. z.B. Trinterud, Reappraisal, S. 41; Trueman, Legacy, S. 76 f; Knox, Lord’s Supper, S. 44 ff; Lund, S. 195; Bowman, S. 424. 306  Vgl. Trueman, Legacy, S. 114.

7.7  Theologische Einordnung

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dächtnis und der geistigen Vergegenwärtigung des Sühnopfers Christi zu se­ hen. Die leibliche Realpräsenz Christi in den Elementen bestreiten sie dagegen mit dem Verweis auf die Gegenwart des Auferstandenen im Himmel. Trotz dieser großen Zahl an Übereinstimmungen würde der Befund m.E. zu sehr vereinfacht, sähe man in Tyndale einen eindeutigen Schüler Zwing­ lis.307 Eine direkte literarische Abhängigkeit von dem Zürcher lässt sich nicht nachweisen, auch wenn Tyndale – wie seine erkennbare Kenntnis über die re­ formatorische Abendmahlskontroverse nahelegt – dessen Schriften höchst­ wahrscheinlich zustimmend gelesen hat.308 Tyndale selbst ordnet sich ja im Abendmahlsstreit klar der „dritten Partei“ zu. Er tut dies jedoch im Bewusstsein, im Grunde nur die „ur-reformatorische“ Position beizubehalten, die er seit seiner ersten Berührung mit den Schriften der deutschen Reformatoren eingenommen hat. Einige der genann­ ten Punkte, die ihn mit Zwingli verbinden, konnte Tyndale schließlich auch in den frühen Schriften Luthers, die ihn geprägt haben, finden: Die Bezug­ nahme auf die Zeichen im Alten Bund, das Verständnis der Sakramente als „sichtbare Wortverkündigung“ und die Notwendigkeit des Glaubens für den rechten Empfang der Sakramente. Selbst in seine Bundestheologie mag Tyn­ dale Aussagen Luthers zum „testamentum“309 integriert haben. Anders als Zwingli – aber durchaus mit dem frühen Luther – hält es Tyndale darum für die vordringliche Aufgabe der Sakramente, den Glauben zu stärken. Auch kommt es ihm weniger als Zwingli darauf an, die Ungebundenheit Gottes gegenüber der Welt, d.h. auch gegenüber den Sakramenten, herauszustellen,310 selbst wenn er einige der Argumente Zwinglis übernimmt. Tyndales Fokus liegt nicht in der Sicherstellung der Souveränität Gottes, sondern auf dem konditional verstandenen Bundesgeschehen, in dem er die liebevolle Zuwen­ dung Gottes und die verpflichtende Antwort des Glaubenden zusammen­ fasst. Die Sakramente bezeugen diesen Bund und bestärken so den Glauben­ den in seinem Kampf gegen die Sünde. 307 

Bowman, S. 422–426, versucht herauszuarbeiten, dass sich Tyndales Abend­ mahlsverständnis aus zwei Quellen speist: der Theologie Zwinglis und der Theologie der Lollarden. Diese Perspektive stellt, trotz vieler richtiger Einzelbeobachtungen, eine Ver­ engung dar, weil sie andere mögliche reformatorische Bezüge (z.B. Luther) von vorne­ herein außen vor lässt. Was den lollardischen Hintergrund betrifft, besteht dieser nach Bowman in der scharfen Ablehnung der Transsubstantiation und einer nicht-wörtlichen Auslegung der Einsetzungsworte – m.E. ein magerer inhaltlicher Befund. Bowman selbst gibt zu, dass diese „marked similarity between Lollard and Zwinglian interpretations of the Mass“ (a.a.O., S. 425) eine genaue Herleitung der Einflüsse auf Tyndale schwierig macht. 308  Vgl. a.a.O., S. 432 f. 309  Vgl. WA 6, S. 513,22–515,16 (De captivitate Babylonica ecclesiae, 1520), besonders a.a.O., S. 514,4 f: „Inde usitatissima sunt illa in scripturis verba ‚pactum, foedus, testamen­ tum domini’“; vgl. Oberman, S. 246–252. 310  Vgl. Hamm, Zwinglis Reformation, S. 41–44.

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Einzig auf dieses Liebeshandeln Gottes und die menschliche Reaktion kommt es Tyndale an, weshalb er auch der Diskussion um das Abendmahl nicht den gleichen Stellenwert einräumen kann, wie Luther und Zwingli dies in ihrer Auseinandersetzung tun. Für Tyndale – wie auch für Martin ­Bucer311 – ist der Streit um das Verständnis der Präsenz Christi im Abend­ mahl kein Anlass für dauerhafte Verwerfungen, weil das für ihn Wesentliche, die Zuwendung Gottes im Bundesgeschehen, hier nicht tangiert wird. Auch in seiner letzten Schaffensphase hält Tyndale im Grunde immer noch an der schon zu Beginn seines Wirkens gewonnenen Einsicht fest, die er nun in die Bundesfigur kleidet: Gottes Liebe in Christus wird erfahrbar im Wort der Schrift und im Sakrament als sinnlich erfahrbarem Wort. Ihr sollen die Glaubenden mit Gegenliebe begegnen. Die Frage des „wie“ interessiert Tyn­ dale nicht ernsthaft, weil er sie für diese existentielle Dimension des Liebesge­ schehens zwischen Gott und Mensch als nicht relevant ansieht.312

7.8  Tyndales Ende 7.8.1  Verrat und Gefangennahme Nach mehr als zehn Jahren im Exil, in denen Tyndale zwar unter teilweise widrigen Umständen, aber doch in Freiheit, eine hohe literarische Produkti­ vität entfalten konnte, ereilte ihn 1535 das Schicksal, das er schon lange er­ ahnt und befürchtet hatte: Er fiel seinen Gegnern in die Hände.313 Das Ende seines Lebens in Freiheit kam für Tyndale wohl dennoch überraschend, denn es war der Verrat eines Mannes, dem er vertraute, der ihn in die Fänge der habsburgischen Behörden führte. Der Engländer Henry Philipps314 war im Frühjahr 1535 in Antwerpen aufgetaucht und hatte dort sogleich die Bekanntschaft Tyndales gesucht. Von Anfang an scheint es seine Absicht gewesen zu sein, Tyndale verhaften und als Ketzer verurteilen zu lassen. In wessen Auftrag und mit welcher Motivation, wird noch zu klären sein. Vorerst soll jedoch kurz der Gang der Ereignisse dargelegt werden. 311  312 

Vgl. Müller, S. 133 ff; Greschat, Bucer Reformator, S. 112–115. Dies erklärt wohl auch die Tatsache, dass es Tyndales sakramentstheologischer Ar­ gumentation oft an Schärfe und Klarheit mangelt. 313  Das Thema der Verfolgung ist in Tyndales Schriften durchgängig präsent. Beson­ ders seine Briefe an den gefangenen Frith machen deutlich, dass Tyndale sich der Mög­ lichkeit eines ähnlichen Schicksals bewusst war (s.o. 6.1.2.3). 314  Die Schreibweise des Namens variiert von Forscher zu Forscher von Philips (True­ man) zu Phillips (so z.B. Mozley und Daniell). Ich verwende die bei Foxe („Phylippes“) angelegte Schreibweise: Philipps.

7.8  Tyndales Ende

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Foxe berichtet – wohl basierend auf dem Zeugnis von Tyndales Gastge­ ber Thomas Poyntz –, dass Philipps, der Tyndale bei Gastmählern der engli­ schen Kaufleute kennengelernt hatte, schon bald dessen Vertrauen genoss.315 Als Tyndales Vertrautheit mit dem Neuling aus England das Misstrauen seines Freundes Poyntz erregte, versicherte Tyndale diesem: „Er [d.i. Philipps] ist ein ehrlicher Mann, von erheblicher Bildung und sehr angenehm“316. Daraufhin ging Poyntz davon aus, dass Philipps Tyndale wohl von Freunden empfohlen worden sein musste und unternahm keine weiteren Nachforschungen. Henry Philipps jedoch bemühte sich bei der habsburgischen Obrigkeit in Brüssel um die Verhaftung Tyndales, und es gelang ihm, den Generalstaats­ anwalt („procurator-general“) der Niederlande, Pierre du Fief (gest. 1553),317 für ein Vorgehen gegen Tyndales zu gewinnen.318 Mit dieser Unterstützung versehen, suchte Philipps nun nach einer Gelegenheit, Tyndale aus dem „Eng­ lish House“ zu locken, um ihn verhaften zu lassen. Die Chance dazu bot sich, als Poyntz zu einer Reise aufgebrochen war. Philipps suchte Tyndale im „English House“ auf und lud ihn zum Essen ein, nachdem er sich zuvor zu diesem Zweck noch vierzig Schilling von seinem ahnungslosen Opfer ge­ borgt hatte – Foxe kommentiert: „So gab Meister Tyndale ihm vierzig Schillinge, die leicht von ihm zu bekommen wa­ ren, wann immer er sie besaß, denn in Sachen weltlicher Raffinesse war er sehr naiv“319.

Beide verließen das Haus durch einen engen Durchgang, der zur Straße führte. An diesem hatte Philipps die Häscher des Generalstaatsanwaltes pos­ tiert. Als Tyndale zuerst den Durchgang durchschritt, geschah nach dem Be­ richt von Foxe Folgendes: „So ging nun Meister Tyndale, der nicht von großer Statur war, voran, und der groß­ gewachsene Bursche Philipps hinter ihm; er hatte aber Beamte an beiden Seiten des Tores auf zwei Plätzen postiert, die von dort sehen konnten, wer durch den Eingang kam. Als Philipps durch eben jenen Eingang kam, zeigte er mit dem Finger hinunter auf Meister Tyndales Kopf. Die Beamten, die am Tor saßen, sollten auf diese Weise er­ 315 

Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 519: „within shorte space Maister Tyndall hadde a great confidēce in hym, & brought hym to his lodging to the house of mayster Pointz“. 316  Ebd.: „He is an honest man, hansomly learned, & very confirmable“. 317  Vgl. Mayer, S. 289 f, besonders S. 290, Anm. 19; auch Mozley, S. 326 f. 318  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 520: „And so the sayd Phylippes did so muche there, that he procured to bryng from thence with hym to Andwarp the Procurour general, the whiche is the Emperours atturney, with other certaine officers as after fol­ loweth“; vgl. dazu insgesamt auch Mozley, S. 294–301; Daniell, Biography, S. 361–373; Mayer, S. 288–294. 319  Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 520: „So maister Tyndall toke hym fortie shyl­ linges, the whiche was easy to be hadde of hym if he hadde it, for in worldlye wylenes he was verie simple“.

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kennen, wen es festzunehmen galt. Hinterher, nachdem sie ihn ins Gefängnis gewor­ fen hatten, berichteten die Beamten, die Tyndale ergriffen hatten, Poyntz, wie leid es ihnen tat, im Moment seiner Festnahme seine Arglosigkeit zu sehen“320.

Auf diese Weise von einem vermeintlichen Freund verraten und aus der Si­ cherheit der Handelsniederlassung gelockt, gelangte Tyndale in die „Obhut“ Pierre du Fiefs, der ihn schnellstmöglich aus Antwerpen, wo ihm die engli­ schen Kaufleute Schwierigkeiten machen konnten, in die Festung Vilvoorde nordöstlich von Brüssel bringen ließ.321 Am 21. Mai 1535 traf Tyndale an dem Ort ein, den er von nun an nicht mehr verlassen sollte. Wie aber kam es zu dieser tragischen Wendung in Tyndales Leben? Was veranlasste Henry Philipps, Tyndale an die habsburgischen Strafverfolger auszuliefern? Wer waren seine Hintermänner? Diese Fragen lassen sich nicht mit Bestimmtheit beantworten, jedoch finden sich einige Indizien, die Licht ins historische Dunkel bringen. Philipps stammte aus einer angesehenen Familie und war selbst – wie Tyn­ dale – ein „Oxford man“, der als Bachelor of Law graduiert worden war.322 Doch anstatt nach dem Abgang von der Universität eine vielversprechende Karriere im Dienst seines Vaters, der u.a. Parlamentsmitglied war, zu begin­ nen, veruntreute Philipps Geld und verspielte es. Seine Briefe an die Eltern und andere potentielle Geldgeber sind erhalten.323 Die Familie versagte ihm schließlich ihre weitere finanzielle Unterstützung. Philipps Spur führt auf den Kontinent, wo er sich in Löwen aufhielt, einem Zentrum anti-reformato­ rischer Kräfte. Dort schien er auf einmal über ausreichende Geldmittel verfü­ gen zu können, was den Schluss nahe legt, dass er im Auftrag einflussreicher 320  Ebd.: „So maister Tyndall beyng a man of no great stature, goyng before, and Phi­ lippes beynge a tall comely fellowe behynde him, who had set officers on either syde of the dore vpon two seates whiche were there, and beyng there, they myght se who came in the entrie, and cōming through the same entrie, Phylippes poynted with his fynger ouer ­maister Tyndalles head downe to hym. That the officers whiche satt at the dore, myght see that it was he that they should take. As the officers that toke mayster Tyndall, afterward tolde Poyntz, and sayd to Poyntz, when they hadde layde hym in pryson they pytied to see the symplicitie of maister Tyndal when they toke hym“. 321  Zu Vilvoorde vgl. Mozley, S. 301 f. Das kleine Städtchen beherbergt heute ein Museum, das dem Leben und Werk Tyndales gewidmet ist (William Tyndale Museum, Lange Molensstraat 58, 1800 Vilvoorde). Auch ein von 1903 stammender Obelisk im „William Tyndalepark“ erinnert mit folgender Inschrift an den Engländer: „Aan een En­ gelschman William Tyndale. Onder het Spaansche Bewind werd den 6en october 1536 William Tyndale, na eerst door beulshand geworgd te zijn, verbrand te Vilvoorde. Zijn laatste woorden waren ‚Heer, open de oogen van Engeland’s koning’. Eer een jaar was voorbygegaan was zyn gebed verhoord door de uitgave van den bybel in het Engelsch op last des konings“ (vgl. www.vilvoorde.be). 322  Die biographischen Informationen zu Philipps sind erstaunlich zahlreich, vgl. Mozley, S. 297–300; Mayer, S. 289. 323  Daniell, Biography, S. 362 kommentiert ihren Inhalt wie folgt: „their tone is not healthy. He is both fawning and full of self-pitying complaint“.

7.8  Tyndales Ende

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Geldgeber in die Niederlande gereist war. Aus dem, was dann folgte, lässt sich auf den Inhalt dieses Auftrags schließen: „His covert mission was to find a means to break the security of the English House at Antwerp, and arrest Wil­ liam Tyndale“324. Wer der geheime Auftraggeber von Philipps Mission war, lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln. Foxe berichtet davon, Philipps habe auch nach Tyndales Verhaftung noch weitere Gelder erhalten, um die Sache voranzutreiben.325 Philipps selbst äußerte sich gegenüber Thomas Theobald, einem Agenten Cranmers, dahingehend, dass sich sein Vorgehen neben Tyn­ dale auch gegen Barnes und Joye richten sollte.326 Theobald schloss daraus, dass Philipps im Auftrag englischer Bischöfe handelte.327 In der Tat ist es wahrscheinlich, dass Philipps auf Veranlassung konservati­ ver kirchlicher Kreise handelte, denen Tyndale schon jahrelang ein Dorn im Auge war.328 Mozley hat den Londoner Bischof John Stokesley, einen erbit­ terten Gegner der „lutherischen Ketzerei“, dessen Agenten im fraglichen Zeitraum in den Niederlande waren,329 als Drahtzieher der Aktion identi­ fiziert.330 Thomas F. Mayer hat über Mozleys Befund hinaus darauf hinge­ wiesen, dass Stokesley aus politischen Gründen ein Interesse daran hatte, den reformatorischen Schriftsteller zu beseitigen, konnte er dies doch als Erfolg gegen den reformfreundlichen Cromwell verbuchen.331 Mit ihm lagen die 324  325 

Ebd. Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 523: „This traytour Phylippes con­ trarywyse, not lamentyng but reioysing in that he had done, not declaring the honest goodnes & trouthe of his frende, but applyed in all that he could deuise, to declare him to be false and sedicious, not despysyng the money that he had receiued, not bryngyng it agayn, but procured & receiued more, wherewith to followe the suyte againste that inno­ cent bloude to the deathe“. 326  „he had a comission out also to have taken Dr Barnes and George Joye with other“ zitiert bei Mozley, S. 304. 327  „Either this Philipps hath great friends in England […] or […] he is well beneficed in the bishopric of Exeter“, zitiert bei a.a.O., S. 305. 328  Der Zeitpunkt war möglicherweise günstig, da der Antwerpener Rat ab 1534 ri­ gider gegen „Ketzer“, vor allem gegen Täufer vorging, die in der Stadt immer zahlreicher geworden waren, vgl. Andriessen, S. 210. Möglicherweise war die Verhaftung eines englischen Häretikers, sofern die städtischen Autoritäten davon Kenntnis hatten, nun auch politisch opportuner. 329  Tyndale schreibt an Frith: „My Lord of London hath a servant called John Tisen, with a read beard, and a black reddish head, and was once my scholar; he was seen in Ant­ werp, but came not among the Englishmen: whither he is gone, and ambassador secret, I wot not“ (PS 1, S. lvi). 330  Vgl. Mozley, S. 300 f: „All this, together with the cruelty of his character, his zeal for persecution, his boasts on his deathbed of the number of heretics whom he had robbed of life, makes it reasonable enough to see in him the chief backer, if not the prime en­ gineer, of the plot which destroyed Tyndale“. Daniell, Biography, S. 368, schließt sich Mozleys Vermutung an. 331  Zu Stokesleys Rolle 1534 und sein Verhältnis zu Cromwell vgl. Chibi, S. 121–149; Brigden, S. 232–241. Zur Charakterisierung Stokesley insgesamt vgl. Chibi, S. 18 f.

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konservative Partei bei Hofe und Stokesley persönlich in den Jahren 1534/1535 im Dauerkonflikt um den Einfluss auf den König, der auch mit dem tiefen Fall Anne Boleyns bei Hofe zusammenhing.332 Viel spricht dafür, dass die konservativen Kräfte, deren wichtigster Exponent Stokesley war, ein großes Interesse an der Beseitigung Tyndales hatten. 7.8.2  Vergebliche Bemühungen um Tyndales Freilassung Während Tyndale in Vilvoorde seines Schicksals harrte, bemühte sich sein Freund Thomas Poyntz um seine Freilassung. Nach dem Bericht bei Foxe in­ terventierten Poyntz und andere englische Kaufleute aus Antwerpen sofort nach Tyndales Verhaftung sowohl direkt beim kaiserlichen Hof in Brüssel als auch bei der englischen Regierung zugunsten des prominenten Gefangenen. Poyntz selbst überbrachte die Schreiben nach Brüssel und setzte sich vor Ort für seinen Freund ein.333 Er konnte erreichen, dass sich Cromwell in Brüssel für den gefangenen Tyndale stark machte und – wie Briefe vom August und Sep­ tember 1535 belegen wohl mit Zustimmung des Königs334 – seine Kontakte am flandrischen Hofe nutzte. Der politische Spielraum war jedoch begrenzt. Tyndale wurde nach den in den Niederlanden geltenden Gesetzen – der „Con­ stitutio Criminalis Carolina“ von 1530 – als Ketzer angeklagt. Der Rechtsweg war aufgrund der eindeutig nachweisbaren reformatorischen Gesinnung Tyn­ dales praktisch ausgeschlossen. Es blieb nur die Möglichkeit der politischen Einflussnahme, die sich jedoch aufgrund des angespannten Verhältnisses zwi­ schen dem – soeben exkommunizierten – englischen König und Karl V. schwie­ rig gestaltete. Dennoch gelang es Cromwell, den Grafen von Bergen-opZoom, einen einflussreichen Ratgeber am habsburgischen Hofe, dazu zu be­ wegen, Poyntz zu empfangen. Nach einigem diplomatischen Hin und Her zwischen Brüssel, Antwerpen und London, wurde ihm tatsächlich Tyndales Auslieferung zugesagt. Es kam jedoch nicht dazu, denn wiederum wendete Henry Philipps das Geschick Tyndales und verhinderte seine Freilassung. Die berechtigte Sorge, eine Entlassung Tyndales aus Vilvoorde könnte ihm nachhaltig schaden, trieb Philipps dazu, Poyntz am Brüsseler Hof zu denunzieren.335 Dieser wurde da­ 332  Zum Fall Anne Boleyns im Mai 1536 vgl. MacCulloch, Cranmer, S. 154–160; Nicholls, S. 48 f. 333  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 520–523. Bei Mozley, 309 ff, findet sich auch ein Brief von Poyntz an seinen Bruder John, der von den Bemühungen um Tyndale berichtet. 334  Vgl. Mozley, S. 311 ff. 335  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563), S. 521: „The sayd Henry Phylippes beynge there followed the sute against maister Tyndal. And hearing that he should haue bene de­ liuered to Poyntz, and so he to haue bene put from his purpose the sayde Philippes knewe none other remedy but to accuse poyntz, saying, þt he was a dweller in the same countrey

7.8  Tyndales Ende

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raufhin verhaftet und später in Antwerpen unter Hausarrest gestellt, was ein weiteres persönliches Engagement für seinen gefangenen Freund unmöglich machte. Mozley würdigt seine Rolle dennoch wie folgt: „He was the life and soul of all the efforts made in the Low Countries, and when he was removed from the scene, the other merchants did nothing“336. Zwar konnte Poyntz im Februar 1536 aus Antwerpen nach England fliehen,337 doch es gelang ihm nicht, Cromwell dort zu einer weiteren Inter­ vention zugunsten Tyndales zu bewegen. Vaughan, im März als Agent Crom­ wells in die Niederlande zurückgekehrt, schrieb noch am 13. April an seinen Arbeitgeber: „Wenn Ihr mir jetzt nur Euren Brief an den Privy Council schickt, kann ich Tyndale vor dem Feuer bewahren, sofern er noch rechtzeitig ankommt, sonst kommt er schon bald zu spät“338.

Doch Cromwell blieb untätig. Mayer hat die Hintergründe dieses Verhaltens ausgeleuchtet und die fragile politische Position des Staatsministers als Haupt­ ursache für seine Untätigkeit ausgemacht.339 In einer Situation, in der die stark mit seinem Einsatz verbundene Ehe des Königs mit Anne Boleyn im Scheitern begriffen war und konservative Kräfte bei Hofe nach seinem Kopf trachteten, war Cromwell gezwungen, darauf zu achten, dass er sich nicht allzu sehr als Befürworter kirchlicher Reformen exponierte. Überdies fehlte ihm ein An­ sprechpartner auf habsburgischer Seite, da das Verhältnis zwischen England und Habsburg nicht zuletzt aufgrund der Religionspolitik Heinrichs VIII. zerrüttet war. Selbst wenn Cromwell sich mit maximaler Kraft für Tyndale eingesetzt hätte, wäre ein Erfolg womöglich dennoch ausgeblieben. Mozleys Einschätzung ist daher zuzustimmen: „It may be that Vaughan was deluded by his sanguine hopes, and that Cromwell judged the position of things more truly than his agent“340.

in the towne of Andwarpe, and there he hadde bene a succourer of the sayde Tyndall, euen of the same opinion. And that it was onely his owne labour and suyte to haue maister Tyn­ dal at lybertie, and and no mans els“. 336  Mozley, S. 318. 337  Vgl. a.a.O., S. 318 f. 338  Zitiert a.a.O., S. 320: „If now you send me but your letter to the privy council, I could deliver Tyndale from the fire, so it come by time, for else it will be too late“. 339  Vgl. Mayer, S. 292 ff. 340  Mozley, S. 320. Cromwell hat es jedoch verstanden, das weitere Leben des Verrä­ ters Henry Philipps so unangenehm wie möglich zu gestalten. Dessen Versuche, im Reich, am päpstlichen Hof und schließlich in Frankreich Beschäftigung zu finden, wur­ den durch englischen Einfluss vereitelt. Über das Ende seiner kriminellen Karriere wissen wir nichts, es scheint jedoch nicht besonders rühmlich gewesen zu sein (vgl. a.a.O., S. 320–323).

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7.8.3  Tyndales Prozess und die Auseinandersetzung mit Jakobus Latomus Die Anklage, die gegen Tyndale vorgebracht wurde, lautete auf „Häresie“. Tyndales Räume im „English House“ waren zu diesem Zwecke durchsucht und die gefundenen Dokumente als Beweismaterial sichergestellt worden.341 Auch seine gedruckten Schriften lagen vor und wurden von zwei Engländern – darunter evtl. Philipps – ins Lateinische übertragen.342 Der Prozess spielte sich vor einer von der Regentin Maria von Ungarn (1505–1558) eingesetzten Kommission ab, der neben dem Hauptankläger Pierre du Fief, dem Sekretär des päpstlichen Gesandten und vier Mitgliedern des kaiserlichen Rates auch drei Professoren der nahen Fakultät von Löwen angehörten:343 Ruwart Tap­ per, genannt Enchusanus (1487–1559),344 Jan Doye (gest. 1549),345 und Jaco­ bus Latomus (ca. 1475–1544)346. Ihre Beteiligung macht deutlich, dass das Ziel des Prozesses nicht nur im Nachweis der häretischen Gesinnung des An­ geklagten bestand. Man wollte auch sicherstellen, dass seine ketzerischen Auffassungen theologisch widerlegt wurden. Die Verhöre Tyndales fanden in lateinischer Sprache statt und zogen sich über mehrere Monate hin. Foxe berichtet summarisch: „Als er in der Festung gefangen saß, gab es viel Schriftverkehr und große Disputatio­ nen hin und her zwischen ihm und jenen von der Universität Löwen (welches nicht weiter als neun oder zehn Meilen von dem Ort entfernt liegt, an dem er gefangen war), solcherart, dass sie alle genug damit zu tun hatten und sogar mehr als sie bewältigen konnten, auf die Belegstellen und Zeugnisse der Schrift zu reagieren, auf denen er seine Lehre im Kern gründete“347.

Nach dieser Darstellung ist Tyndale seinen altgläubigen Gegnern mit dem Zeugnis der Schrift entgegengetreten. Einen genaueren Einblick in die theo­ logischen Auseinandersetzungen, die sich in Vilvoorde abgespielt haben, ver­ danken wir dem wohl prominentesten unter Tyndales Kontrahenten: Jako­

341 

Hier müssen die habsburgischen Behörden sich also über die von der Stadt ge­ währte „Neutralität“ hinweggesetzt haben, s.o. 3.1.1. 342  So Poyntz im Brief an seinen Bruder, zitiert a.a.O., S. 311. 343  Vgl. a.a.O., S. 324. 344  Vgl. Vercruysse, S. 199, besonders Anm. 8. 345  Vgl. ebd., besonders Anm. 9. 346  Vgl. a.a.O., S. 197 f. 347  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1230: „as hee was in the Castle priso­ ner, there was much writyng, and great disputation to and fro, betwene hym and them of the Vniuersitie of Louaine (whiche was not past ix. or x. myles frō þe place where he was prisoner) in such sort, that they all had enough to do, & more then they coulde well weld, to aunswere the authorities and testimonies of the Scripture, wherupon hee moste pithely grounded his doctrine“.

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bus Latomus.348 Er berichtet in den drei Büchern seiner „Confutationes ad­ versus Guilielmum Tindalum“349 von seiner Begegnung mit Tyndale.350 Nach Latomus’ Bericht hat Tyndale selbst die literarische Auseinanderset­ zung gesucht, indem er zu seiner Verteidigung eine lateinische Schrift mit dem programmatischen Titel „Sola fides iustificat apud Deum“ verfasste.351 Dieses letzte Werk Tyndales ist leider nicht erhalten.352 Robert Wilkinson hat versucht, die Schrift anhand der Entgegnung von Latomus zu rekonstru­ ieren.353 Dies gelingt ihm jedoch m.E. nur teilweise, da er gezwungen ist, die „Leerstellen“ mit Gedanken aus anderen Schriften Tyndales zu füllen. Dabei greift er jedoch ungeachtet ihres Entstehungszeitpunktes auf alle Werke Tyn­ dales zurück und kann damit nur ein ungefähres Bild der Theologie Tyndales zeichnen, das Entwicklungen (etwa in der Bundestheologie) nicht berücksich­ tigt. Sein Ergebnis bleibt daher eine Art „Patchwork“ aus bei Latomus gefun­ denen Versatzstücken und Elementen aus früheren Schriften Tyndales. Den­ noch kann Wilkinsons Ergebnis einen gewissen Aufschluss darüber geben, welche Themen Tyndale in der Auseinandersetzung mit Latomus beschäftigt haben. Wilkinson geht davon aus, dass Tyndale in einem ersten Buch den Glauben als Schlüssel zur Schrift herausgestellt und gegen eine Gerechtigkeit aus Werken abgegrenzt hat. Das zweite Buch habe dann diese Grundthese an­ hand der Bundestheologie entfaltet.354 Anhand dieser Themenschwerpunkte wird schon deutlich, dass der Verlust dieses letzten Werkes schmerzlich ist, weil es wohl Zeugnis von Tyndales später Soteriologie gegeben hätte. Viel­ leicht hat Tyndale hier das Verhältnis von göttlichem und menschliche Anteil am Bundesgeschehen, das in seinen Schriften oft unausgeglichen war, in ei­ 348  349 

Vgl. zum Folgenden auch Mozley, S. 328–333. Das Werk wurde erst in Latomus’ „Opera Omnia“ 1550 veröffentlicht, zusammen mit einem Brief an seinen Freund Livinus Crucius, der vom 12 Juni 1542 datiert ist. Spä­ testens zu diesem Zeitpunkt wollte der Theologe sein Werk gegen den sechs Jahre zuvor hingerichteten Tyndale veröffentlichen; vgl. dazu Vercruysse, S. 199 f (hier auch der Brief an Crucius, vgl. a.a.O., S. 214). 350  Zu Latomus’ Zeugnis von Tyndale, vgl. a.a.O., S. 200–213. 351  Dieser Titel korrespondiert mit den thematischen Schwerpunkten bei Latomus, der im ersten Buch der „Confutatio“ die Frage nach Tyndales Schriftbelegen für seine Rechtfertigungstheologie behandelt (vgl. a.a.O., S. 201–205), im zweiten Buch die (aus scholastischer Perspektive) logischen Gründe gegen eine Gerechtsprechung der Glauben­ den allein aus Gnade (vgl. a.a.O., S. 205–209). Das dritte Buch beschäftigt sich mit Ein­ zelthemen, die Tyndale in seiner Schrift angesprochen hat, z.B. Sakramentsverständnis und Frömmigkeitspraxis (vgl. a.a.O., S. 209–212). 352  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1230, berichtet davon, dass Tyndale am Tag seiner Hinrichtung verschiedene in der Haft entstandene Schriften in der Obhut des Gefängniswärters hinterließ. Bedauernd stellt er jedoch fest: „which letter, with his examinations and other his disputations, I would might haue come to our hands: all which I vnderstād, did remaine, & yet perhaps do, in the handes of the kepers daughter“. 353  Vgl. besonders Wilkinson, S. 253. 354  Vgl. ebd.

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nen schlüssigen systematischen Zusammenhang gestellt?355 Es bleibt unge­ wiss; in jedem Fall hat sich Tyndale gegenüber Latomus noch einmal eindeu­ tig zu der für ihn so zentralen reformatorischen Botschaft von der Rechtfer­ tigung des Glaubenden bekannt.356 7.8.4  Tyndales Martyrium Über Tyndales Ergehen in der Gefangenschaft gibt der oben schon zitierte, einzig erhaltene Brief vom Herbst 1535 Auskunft, in dem er um eine He­ bräische Grammatik und ein Wörterbuch bittet.357 In ihm fragt er außerdem nach wärmerer Kleidung, um besser gegen die Kälte der Zelle und einen Ka­ tarrh, unter dem er offensichtlich litt, gewappnet zu sein. Der Brief gibt auch Aufschluss über die psychische Verfassung des Gefangenen Tyndale: „Ich glaube, vortrefflichster Herr, Dir ist nicht verborgen geblieben, was über mich beschlossen werden könnte. Weswegen ich Deine Herrschaft bitte, und das im Namen des Herrn Jesus, dass Du, wenn ich über diesen Winter hier bleiben soll, bei dem Herrn Kommissar anregst, mir, wenn er geruht, von meinen Habseligkeiten, die er in seinem Besitz hat, eine wärmere Mütze zu schicken. Denn ich friere außerordentlich am Kopf, bedrängt von einem andauernden Katarrh, der sich in der Zelle einigermaßen aus­ wächst. Auch ein wärmerer Mantel, denn derjenige, den ich bei mir habe, ist dünn. Ebenso ein Stück Stoff, um meine Beinkleider auszubessern. Mein Mantel ist abge­ nutzt, ebenso die Hemden. Er besitzt ein Wollhemd, wenn er geruhte, es zu schicken. Ich habe auch ein Beinkleid aus dickerem Stoff bei ihm, das darüber getragen wird. Er hat auch wärmere Nachtmützen. Auch bitte ich, am Abend Licht haben zu dürfen, denn es ist ermüdend, allein in der Dunkelheit zu sitzen […] So möge Dir zuteil wer­ den, was Du am meisten wünschst, wenn es nur dem Heil deiner Seele dient. Wenn aber, bevor der Winter zuende ist, eine andere Entscheidung über mich getroffen wer­ den sollte, werde ich geduldig sein und Gottes Willen erwarten, zur Verherrlichung der Gnade meines Herrn Jesus Christus, dessen Geist immer Dein Herz leiten möge. Amen. W. Tindalus“ 358. 355  Die Themen, die Wilkinson rekonstruiert, lassen dies vermuten, vgl. a.a.O., S. 279 ff. 356  Vgl. Daniell, Biography, S. 377 ff. Die genauere Untersuchung der Schrift des La­ tomus bleibt ein Desiderat, das aus Platzgründen in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. 357  S.o. 4.2.2. 358  „Credo non latere te, vir praestantissime, quid de me statutum sit. Quam ob rem tuam dominationem rogatum habeo, idque per Dominum Jesum, ut si mihi per hiemem hic manendum sit, solicites apud dominum commissarium, si forte dignari velit, de rebus meis quas habet, mittere calidiorem birettum; frigus enim patior in capite nimium, op­ pressus perpetuo catarro, qui sub testitudine nonnihil augetur. Calidiorem quoque tu­ nicam; nam haec quam habeo admonum tenuis est. Item pannum as caligas reficiendas. Duplois detrita est; camiseae detritae sunt etiam. Camiseam laneam habet, si mittere velit. Habeo quoque apud eum caligas ex crassiori panno ad superius induendum. Nocturna bi­ retta calidiora habet etiam. Utque vesperi lucernam habere liceat; tediosum quidem est per tenebras solitarie sedere. […] Sic tibi obtingat quod maxime optas, modo cum animae

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Ob ihm seine Bitte gewährt wurde, bleibt ungewiss. Tyndale scheint seinem Schicksal, das er ohne Zweifel kommen sah, offenen Auges und mit innerer Ruhe und Glaubensgewissheit entgegengesehen zu haben.359 Diese Standfes­ tigkeit hat, wenn man Foxe Glauben schenken will, auch Menschen in seiner Umgebung, bis hin zu seinem Ankläger, beeindruckt: „So groß war die Kraft seiner Lehre und die Aufrichtigkeit seines Lebens, dass erzählt wird, er habe während seiner Haftzeit (die eineinhalb Jahre dauerte), seinen Wärter, dessen Tochter und andere aus dessen Haushalt bekehrt. Auch die Übrigen, die im Schloss mit ihm vertraut waren, berichten über ihn: Wenn dieser kein guter Christen­ mensch gewesen ist, dann wüssten sie nicht, wem sie sonst glauben sollten. Der Gene­ ralstaatsanwalt, der Anwalt des Kaisers, der dort war, hinterließ dieses Zeugnis von ihm, dass er ein Homo doctus, pius & bonus gewesen sei, ein gelehrter, guter und got­ tesfürchtiger Mann“360.

Nach eineinhalb Jahren im Gefängnis wurde Anfang August 1536 das Urteil gegen Tyndale verkündet, das ihn als Ketzer im Sinne des Augsburger Reichs­ tagsdekretes von 1530 verurteilte. Nachdem er bereits vor dem 10. August seines priesterlichen Amtes enthoben und den weltlichen Behörden überstellt worden war, die das Todesurteil fällten, verzögerte sich die Hinrichtung noch einmal um nahezu zwei Monate.361 Möglicherweise wollte der kaiserliche Rat noch abwägen, ob der Tod eines Ketzers, für den sich Cromwell einge­ setzt hatte, politisch tragbar war.362 Anfang Oktober jedoch war die Ent­

tuae salute fiat. Verum si aliud consilium de me ceptum est, ante hiemem perficiendum, patiens ero, Dei expectans voluntatem, ad gloriam gratiae Domini mei Jesu Christi, cujus Spiritus tuum semper regat pectus. Amen. W. Tindalus“ (zitiert bei Mozley, S. 333 f). Ein Autograph des Briefes ist abgedruckt bei Daniell, Biography, Abbildung 14; vgl. auch McCutcheon, S. 253 f. 359  Mozley, S. 335 f, schreibt zu Recht ergriffen: „This is a beautiful letter, and it has often been compared to St Paul’s last words in the fourth chapter of the second epistle to Timothy. A noble dignity and independence breathe through it. There is no touch of flat­ tery, much less of cringing, yet it is perfectly courteous and respectful. Tyndale accepts his present plight with an equal mind, though he will lighten its burden so far as he can. But through it all, his chief thought is for the gospel which is committed to him. A burning love of God fills his heart“. 360  Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1230: „Such was the power of hys doctrine, and sinceritie of hys life, that during the tyme of hys imprisonment (which endured a yeare and a halfe) it is sayd, hee conuerted hys keper, his daughter, and other of hys housholde. Also the rest that were with hym conuersant in the Castle, reported of hym, that if he were not a good Christen man, they could not tell whom to trust. The Pro­ curour generall the Emperours Atturney being there, left thys testimonye of hym, that he was Homo doctus, pius, & bonus: that is, a learned, a good, and a godly man“. 361  Ein Brief an des Engländers John Hutton an Cromwell vom 12. August berichtet noch: „William Tyndale is degraded, and condemned into the hands of the secular power, so that he is very like to suffer death this next week“ (zitiert bei Mozley, S. 338). 362  Vgl. ebd.

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scheidung gefallen und Tyndale wurde an einem Oktobermorgen in Vil­ voorde hingerichtet.363 Foxe erzählt die Ereignisse so: „Zuletzt, nach vielen Begründungen, wo doch kein Grund genügt hätte und obwohl er den Tod nicht verdient hatte, wurde er aufgrund des kaiserlichen Dekrets, erlassen auf dem Reichstag in Augsburg (wie zuvor beschrieben) verurteilt und diesem gemäß zur Hinrichtungsstätte geführt, dort an den Pfahl gebunden und daraufhin zuerst vom Henker erwürgt und anschließend im Feuer verbannt, am Morgen, in der Stadt Vilvoorde, im Jahr 1536“364.

Tyndales letzte Worte, die Foxe überliefert, sind Zeugnis von der tiefen Glau­ bensüberzeugung Tyndales und werfen zugleich ein bezeichnendes Licht auf die Grundfrage der englischen Reformation insgesamt, die Frage nach der Rolle des Königs: „crieng thus at the stake with a feruente zeale, and a loud voyce: Lord open the King of Englands eyes“365.

7.9  Epilog: Tyndales Wirkung Tyndales Ruf nach dem König verhallte, betrachtet man die englische Refor­ mation insgesamt, nicht ungehört. Bereits in den folgenden zehn Jahren der Herrschaft Heinrichs VIII. gab es Phasen, in denen Tyndale vermutlich ein göttliches Einwirken auf den Monarchen erkannt hätte. Eine englische Bibel wurde kurz nach seinem Tod zunächst geduldet, dann 1537 offiziell als „The King’s Great Bible“ eingeführt.366 Zeitweise bewegte sich auch die dogma­ 363  Tyndale wurde auf dem Scheiterhaufen durch die Garrotte zu Tode gebracht und sein Leichnam anschließend verbrannt (die Verbrennung bei lebendigem Leib war nur für Täufer und rückfällige Ketzer vorgesehen, vgl. a.a.O., S. 340). Die Kirche von England gedenkt seiner am 9. Oktober. Tyndale ist im Anglikanismus seit den Feiern anlässlich seines 500. Geburtstages 1994 wieder mehr ins Blickfeld des Interesses gerückt, wie auch seine Aufnahme in das Buch „Anglican Identities“ des amtierenden Erzbischofs von Can­ terbury zeigt (R. Williams, S. 9–23). 364  Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1079: „At last, after muche reasoning, when no reason woulde serue, although he deserued no death, he was condemned by ver­ tue of the Emperours decree made in the assemble at Ausbrough (as is before signified) and vpon the same, brought forth to the place of execution, was there tied to þe stake, and then strangled first by the hangman, and afterward with fire consumed in the morning at the towne of Filford, an. 1536“; vgl. Mozley, S. 341 f; Daniell, Biography, S. 382 ff. 365  Foxe, Acts and Monuments (1583), Book 8, S. 1079. 366  1535 erschien die erste vollständige englische Bibelübersetzung, besorgt von Miles Coverdale (s.o. 4.1 Exkurs: Tyndale und Coverdale). Er integrierte Tyndales bereits erschie­ nene Übertragungen und ergänzte sie durch seine eigenen, vorwiegend aus dem Latei­ nischen vorgenommenen Übersetzungen. 1537 erschien unter dem Namen „Matthew’s Bible“ die zweite englische Vollbibel, für die John Rogers verantwortlich zeichnete. Er übernahm auch Tyndales zu Lebzeiten unveröffentlichten Übersetzungen von Jos – 2 Chr aus dem Hebräischen (s.o. 4.1.4; 6.1.1; vgl. Daniell, Biography, S. 334–357). Durch den Einfluss Cromwells wurde „Matthew’s Bible“ als erste englischsprachige Bibel offiziell

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tische Ausrichtung der englischen Kirche unter der Ägide von Cranmer und Cromwell in eine Richtung, die Tyndale gefallen haben dürfte. Vollends zu einer reformierten Kirche, die Tyndales Vorstellung entsprochen haben könnte, wurde die „Church of England“ jedoch erst unter Heinrichs Sohn Eduard VI. (1547–1553), und sie blieb es (mit Einschränkungen) auch unter Elisabeth I. (1558–1603).367 In die Phase des „Elizabethan Settlement“ fällt das, was man die „Hagio­ graphisierung“ Tyndales nennen könnte. Foxe’ Märtyrerhistorie, 1563 zum ersten Mal erschienen und danach bis 1583 mehrfach erweitert, ordnete Tyn­ dale in die Reihe der herausragenden Zeugen ein, mit dessen Tod „in ent­ scheidender Eindeutigkeit mitten in der Zweideutigkeit des geschichtlichen Lebens die metahistorische Wahrheit ins Licht tritt“368. Das Martyrium Tyn­ dales übertraf das anderer dadurch, dass er nicht nur für die Wahrheit des Evan­ge­liums gestorben war, sondern der Nachwelt ein durch sein Martyrium besonders autorisiertes Schrifttum hinterließ. Es ist daher nicht verwunder­ lich, dass Foxe neben der Lebensbeschreibung in „Acts and Monuments“ 1573 auch die gesammelten Werke Tyndales, gemeinsam mit denen Friths und Barnes’, herausgab.369 Die Position, die Foxe Tyndale in der sich etablieren­ den elisabethanischen Kirche zudachte, war die nach dem Vorbild des Paulus gestaltete Rolle des „Apostels Englands“370, dessen Schrifttum und Lebens­ weg seinen Landsleuten Wegweisung und Vorbild sein sollte. Doch die historische Entwicklung nahm eine andere Richtung. Die Ge­ samtausgabe der Werke von Tyndale, Frith und Barnes wurde nach 1573 nicht mehr aufgelegt. Tyndales Schriften, von denen in der Zeit vor 1560 ei­ nige, wenn auch längst nicht alle, verschiedene Auflagen erlebt hatten, wur­ den auch einzeln nicht mehr gedruckt. Eine größere Nachfrage bestand also geduldet. Auf ihrer Basis edierte Coverdale im Auftrag Cromwells die offiziell vom Kö­ nig sanktionierte „Great Bible“ (1538), die zur Vorlage aller weiteren englischen Bibel­ übersetzungen werden sollte; vgl. Beutel, Bibelübersetzungen, Sp. 1502. 367  Zur Regierungszeit Eduards und Elisabeths vgl. MacCulloch, Church Militant und Ders., Later Reformation. 368  Ohst, Hagiographie, S. 281. Vgl. auch Collinson, S. 72. 369  John Foxe, The vvhole workes of W. Tyndall, Iohn Frith, and Doct. Barnes, three worthy martyrs, and principall teachers of this Churche of England, collected and compiled in one tome togither, beyng before scattered, [and] now in print here exhibited to the Church. To the prayse of God, and pro­ fite of all good Christian readers, gedruckt von John Daye, London 1573 (Foxe/Daye, Short Title Catalogue Nr. S117761). 370  Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 8, S. 1224. Auch andere, etwa der „Oxford Martyr“ Hugh Latimer, galten der Nachwelt als „Apostle to the English“( vgl. Zschoch, Latimer, S. 119). Bei Foxe scheint dieser Ehrentitel aber für Tyndale reserviert zu sein, vgl. auch Foxe, Acts and Monuments (1576), Book 11, S. 1787: „the Scripture was translated into English by the faythfull Apostle of England, W. Tyndall“ oder Foxe, Acts and Monuments (1570), Book 6, S. 834: „maister VVilliam Tindall, þe true Apostle of these our latter dayes“.

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lediglich in der kurzen Regierungszeit Eduards VI. und in den Anfangsjah­ ren der Herrschaft Elisabeths,371 in jenem Zeitraum also, in dem die englische Kirche die größte inhaltliche Nähe zu den reformatorischen Kirchen auf dem Kontinent aufwies. Für die sich von den 1570er Jahren an verstärkende Aus­ differenzierung der „Church of England“ in einen „puritanischen“ und einen hochkirchlichen Flügel spielten Tyndales Schriften (wie die von Frith und Barnes) keine Rolle mehr. Patrick Collinson fasst darum zusammen: „It is impossible to connect Tyndale with any of the mature and formalized expres­ sions of English Protestantism in the age of establishment, whether Anglican or Puritan“372. Dabei bot das Werk Tyndales inhaltlich ausreichend Potential, um in der sich unter Heinrich VIII. und Eduard VI. etablierenden Staatskirche rezipiert zu werden.373 Als eine um Verständlichkeit und Lebensnähe bemühte Zu­ sammenfassung der zentralen Inhalte der Reformation wären Tyndales Schriften gut geeignet gewesen, eine Katechetisierung der englischen Chris­ tenheit im Sinne der evangelischen Lehre zu ermöglichen. Eine offiziell ver­ breitete englische Bibel mit seinen Einleitungen hätte ein wirkungsvolles In­ strument sein können, um in pragmatischer Kürze die reformatorischen Grundinhalte mit einem starken ethischen Zuschnitt „unters Volk“ zu brin­ gen. Insbesondere „Obedience“ hätte – wenngleich nicht unbedingt auf der Linie von Tyndales Intention – das Potential gehabt, zur Magna Charta des königlichen Supremats über die Kirche zu werden. Die vergleichsweise starke Nachfrage nach den Schriften Tyndales unter Eduard VI. spricht dafür, dass ein solches Szenario durchaus denkbar gewesen wäre. Hätte er diese Zeit noch erlebt – das Bild eines Bischofs William Tyndale, der Seite an Seite mit Cran­ mer und Bucer die englische Kirche in eine reformierte Staatskirche verwan­ delt, ist sicher nicht aus der Luft gegriffen.374 Dass es nicht dazu kam, hängt mit dem Lauf der Ereignisse, insbesondere mit dem frühen Tod Eduards VI. zusammen. Die Herrschaft seiner Schwester Maria I. (1553–1558) und ihr Versuch, in England ein katholisches Reform­ kirchentum zu etablieren, vertrieb viele, die nicht als Märtyrer auf dem Schei­ terhaufen enden wollten, auf den Kontinent. Dort war jedoch – anders als zu 371  Der Short Title Catalogue führt für „Obedience“ fünf (1537, 3 x 1548, 1561), für „Mammon“ vier (1536, 1547, 1549, 1561) und für „Exposition Matthew“ vier (1536, 1537, 1548, 1549) Auflagen auf. „Prelates“ und „Exposition John“ erlebten noch zwei (1548, 1549 bzw. 1537, 1538) und „Romans“, „Pathway“ (beide 1564) und „Prologue Jo­ nas“ (1537) nur noch jeweils eine Auflage. 372  Collinson, S. 84, gegen Clebsch, S. 203; Trinterud, Puritanism, S. 38 ff; Hill, S. 103–107. 373  Zum Verschwinden lutherischen Gedankengutes in England nach dem Ende der Herrschaft Heinrichs VIII. insgesamt vgl. Ryrie, Strange Death, S. 78–92. 374  Vgl. Hill, S. 102: „I have often wondered whether, if Tyndale had survived until Edward VI’s reign, he would have become a bishop“.

7.9  Epilog: Tyndales Wirkung

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Tyndales Zeiten – nicht mehr Wittenberg ihr Ziel und Orientierungspunkt, sondern das neue reformatorische Zentrum im Süden. In und von Genf aus empfingen die englischen Exulanten der zweiten Generation ihre theologi­ schen Impulse. Nach 1558 waren die Schriften ihrer Vorgänger im Exil für viele der aus Genf und anderen Exilsgemeinden heimkehrenden Kirchen­ männer nicht mehr von Interesse. Ihnen stand mit den Werken Calvins und seiner Schüler ein ungleich geordneteres und gehaltvolleres Œuvre zur Ver­ fügung, um ihre theologischen Positionen im Kampf um die weitergehende Reform der Kirche von England zu formulieren und zu begründen. Die geg­ nerische Fraktion, die eine starke bischöfliche Verfassung und liturgischen Traditionalismus propagierte, hatte ohnehin andere theologische Referenz­ größen als die Reformatoren, seien sie nun kontinentaleuropäischer oder bri­ tischer Provenienz.375 Aufgrund dieser Überlagerung durch andere theologische Einflüsse und infolge der veränderten äußeren Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnte sich Tyndales Theologie nicht weiter entfalten. Er verschwand – von Foxe zum Heiligen stilisiert – aus dem Bewusstsein seiner Landsleute und blieb bis zu seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhun­ dert vergessen.376 Tyndales Übersetzungen flossen in die englischsprachi­ gen Bibeln ein und machen über die „King James Bible“ von 1611 bis heute deren maßgeblichen Textbestand aus.377 Sein Einfluss auf die Entwicklung der englischen Sprache ist damit nicht hoch genug zu veranschlagen.378 Tyndales Bibel bleibt darum auch seine wirkmächtigste Hinterlassenschaft. Ihm, dem es zeitlebens vor allem anderen darum ging, seinen Landsleuten das Evan­ge­lium in ihrer Muttersprache zugänglich zu machen, hätte das vielleicht gereicht. Für die direkte Wirkungsgeschichte seiner Theologie hält Collinson fest: „In locating and contextualizing William Tyndale in the English Reforma­ tion, we encounter a paradox. […] The paradox consists in the fact that the 375  Die Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen „Puritanern“ und „Anglika­ nern“ in der Kirche von England beschreibt prägnant MacCulloch, Reformation, S. 382–393.502–512. 376  Die „Tyndale-Renaissance“ war eine Reaktion auf den Erfolg der anglokatholi­ schen „Oxfordbewegung“ (vgl. Butler, S. 34 f). Deren Kirchenväteredition („Library of the Fathers“) stellte die „Parker Society“ 1840–1855 ihre „Works of the Fathers and Early Writers of the Reformed English Church“ gewissermaßen als reformatorisches Gegenge­ wicht entgegen. 377  Zum Anteil der Übersetzungen Tyndales in den englischen Bibeln vgl. Daniell, Biography, S. 1–6. 378  Zu Tyndales Einfluss auf die englische Sprache vgl. Mueller, S. 177–201; Nor­ ton S. 10–17.19–26; Lewis, S. 181–207. Die in Tyndales Werk exemplarisch sichtbar werdende Veränderung des frühneuzeitlichen Bewusstseins beschreibt anschaulich Greenblatt, S. 84–114.

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pioneer should be so soon forgotten“379. Die Beobachtung ist richtig, jedoch sollte nicht zu vorschnell vom „Vergessen“ die Rede sein, denn Tyndales Theologie blieb – ungeachtet der Rezeption seiner Schriften – gleichwohl in aller Munde. Fällt sein direkter Einfluss auf nachfolgende Theologengenera­ tionen auch gering aus – seine grundsätzliche Bedeutung als Wegbereiter re­ formatorischer Theologie in englischer Sprache darf deshalb nicht unter­ schätzt werden.380 Tyndale bot den englischen Theologen unter Elisabeth I., gleich ob puritanischer oder hochkirchlicher Couleur, nicht nur ihre Refe­ renzgrundlage in Form seiner Bibelübersetzungen, er bestimmte durch seine Schriften auch den theologisch-begrifflichen Rahmen ihres Diskurses. Inso­ fern er als erster reformatorische Theologie in englischer Sprache formulierte, waren (und sind) alle nachfolgenden Generationen indirekt stets auf Tyndale bezogen, selbst wenn sie die Begriffe inhaltlich teilweise anders füllten.381 Wie die Sprache, in der er die Heilige Schrift seinen Landsleuten nahe brachte, bis in die Umgangssprache hinein bis heute präsent ist, so steht da­ rum auch jedes Theologietreiben in englischer Sprache in der Schuld des Mannes, der als erster in ihr den Kern reformatorischer Theologie formu­ lierte: „In Christ God loveth us first, forgiveth us, and hath mercy on us; then love we again, and the deeds of our love declare our faith“382.

379 

Collinson, S. 72. Vgl. speziell zur Rezeption der Bundestheologie McGiffert, S. 181–184. 380  Vgl. Trueman, Reformers, S. 165: „Tyndale’s theology is a microcosm of the intel­ lectual theological life in the England of his day, which consisted essentially of an ecleltic appropriation of the results of continental theological debates within an educational and political context that was shaped by the rising humanism of the English universities and the exigencies of the king’s plans to reform church and state. As such, it reflected a pattern that was to continue throughout the reigns of Edward and Mary, when Protestant theolo­ gians found themselves at first a rising force and then a persecuted minority“. 381  Vgl. Trueman, Legacy, S. 198–201; McGrath, S. 300. 382  Mammon, PS 1, S. 83: „In Christus liebt uns Gott zuerst, vergibt uns und hat Mit­ leid mit uns; dann lieben wir aufs Neue und die Taten unserer Liebe bezeugen unseren Glauben“.

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Fazit

Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung – Tyndales theologisches Profil Als humanistisch geprägter Gelehrter kommt Tyndale durch Luther zur re­ formatorischen Theologie. Beide verbindet das gemeinsame Anliegen der Bi­ belübersetzung und eine theologische Arbeitsweise, die stark an den bibli­ schen Texten orientiert ist und weniger an der Darstellung von Theologie in ihrem systematischen Zusammenhang. Die Schrift ist für Tyndale norma normans aller Theologie und Frömmig­ keit. Das Wort Gottes in der Schrift legt sich selbst aus und ist Richtschnur allen theologischen Redens und christlichen Handelns. Es muss daher jedem Christenmenschen zugänglich sein. Tyndales Wirken ist wesentlich Schrift­ hermeneutik für die englische Öffentlichkeit. Zielgruppe seiner Theologie ist die verfolgte evangelische Gemeinde in England. Ihr will Tyndale die Heilige Schrift in der Volkssprache und die wesentlichen Inhalte reformatorischer Theologie nahe bringen. Tyndales Theologie ist daher stets kontextuell ge­ prägt. Seine theologischen Argumentationen erschließen sich erst in der Zu­ sammenschau mit den jeweiligen historischen Situationen und Frontstellun­ gen, in denen er sich befindet. Vor allem ist seine Theologie bestimmt von der Ablehnung der Lehren und Praxis der Papstkirche, die Tyndale als korrupte Unterdrückungsmacht erlebt. Aus einer Situation des Widerstands gegen die Repression der evangelischen Gemeinde in England entwickelt er eine apo­ kalyptisch gefärbte Geschichtstheologie, die Geschichte als Historie der Re­ zeption von Gottes Wort versteht. Tyndales Theologie ist in sich konsistent, auch wenn sie Entwicklungen durchmacht. Die bestimmenden Leitmotive tauchen in seinem gesamten Werk auf. Zentral ist besonders der Aspekt der Liebe Gottes, der von Tyndale immer wieder mithilfe einer familiären Metaphorik anschaulich gemacht wird: Gott agiert in der Heilsgeschichte aus einer elterlichen Liebe heraus, die den Glau­ benden als seinen Kindern in einer Weise zuteil wird, dass sie selbst mit einer Liebe zum Gesetz erfüllt werden, die ihren Nächsten zugute kommt. In den wesentlichen theologischen Gesichtspunkten geht Tyndale mit Lu­ ther konform und betont wie er stets die Rechtfertigung des Sünders propter Christum per fidem, die er in der Schrift bezeugt findet. Er ist in seinem theolo­ gischen Denken aber weniger tiefschürfend.

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Fazit:  Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung

Tyndale rezipiert Luthers reformatorische Theologie aus seiner eigenen augustinisch-humanistischen Perspektive und gibt ihr an mehreren Punkten eine eigene Akzentuierung: Die Unterscheidung von Gesetz und Evan­ge­lium wird nicht zum dialektischen Grundprinzip seiner Theologie, auch wenn Tyndale sie bisweilen anführt. Rechtfertigung wird von ihm weniger als im­ putative Zurechnung sondern vielmehr als effektive Veränderung (Heilung) verstanden. Der Gedanke des simul peccator et iustus tritt dabei teilweise in den Hintergrund zugunsten der Vorstellung einer fortschreitenden Heiligung der Glaubenden als Kampf zwischen Seele/Geist und Fleisch. Der tertius usus legis, der bei Luther nur indirekt zu finden ist, wird bei Tyndale betont. Er hebt deutlicher als Luther hervor, dass Werke eine versichernde Funktion für die Glaubenden haben. Die Christozentrik des Wittenbergers wird von Tyndale nicht übernommen. Eine Kreuzestheologie findet sich bei ihm nur am Rande. An ihre Stelle tritt eine Aufwertung des Geistes als Subjekt der Rechtferti­ gung. Selbstverständlicher als Luther spricht Tyndale von „Erwählung“. In seiner Aufnahme der Zwei-Regimenten-Lehre schließlich schreibt Tyndale vor dem Hintergrund der Situation in England der weltlichen Obrigkeit die Aufsicht auch über die Kirche zu. Zugleich sieht er sie dem göttlichen Gesetz unterstellt. In ihren von Luther abweichenden Aspekten weist Tyndales Theologie ei­ nige Parallelen zu der Martin Bucers auf: Beide verbindet die nur graduelle Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament und die Betonung der Rolle des Geistes in der als fortschreitender Prozess verstandenen Heili­ gung der Glaubenden, in dem das Gesetz als Orientierungshilfe der christ­ lichen Lebensführung dient. Sie erkennen beide die dahinter stehende ewige göttliche Gnadenwahl. Für Bucer wie Tyndale hat die weltlichen Obrigkeit eine zentrale Rolle als Herrschaft unter Gottes Gesetz. Über die Verbindungen zu Luther hinausgehend, bündelt Tyndale in der Spätphase seines Wirkens sein Verständnis von Rechtfertigung und Heili­ gung in einer Bundestheologie, die den „covenant“ als ein von Gott gestifte­ tes und auf seiner Gnade basierendes Liebes-Verhältnis versteht. Tyndales In­ tention ist einerseits die Betonung der völligen Angewiesenheit des Menschen auf das göttliche Erbarmen. Auf der anderen Seite will er das ethische Enga­ gement der aus Glauben Gerechtfertigten sicherstellen und die Reformation gegen den Vorwurf verteidigen, sie lehre einen ethischen Liberalismus. Mit­ hilfe der Bundesfigur versucht Tyndale beide Anliegen miteinander zu ver­ binden und so aufeinander zu beziehen, dass der Widerspruch zwischen gött­ licher und menschlicher Initiative aufgehoben wird. Dies gelingt ihm aber oft nur auf einer begrifflichen Ebene. In seiner Betonung der ethischen Verantwortung des Menschen kann Tyn­ dale in einigen Aussagen so weit gehen, das Verhältnis von Gott und Mensch als wechselseitiges Vertragsverhältnis zu beschreiben, dessen Gelingen am

Fazit:  Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung

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menschlichen Handeln hängt. Er selbst relativiert diese Aussagen jedoch stets mit dem Verweis auf Gottes gnadenhafte Zuwendung, die allem mensch­ lichen Tun vorausgeht. In seinem symbolischen Abendmahlsverständnis positioniert sich Tyndale klar an der Seite der oberdeutschen und schweizerischen Reformatoren. Ihm liegt jedoch daran, dass das Thema nicht zum Trennungsgrund innerhalb des reformatorischen Lagers wird. Auch hier sind Parallelen zu Bucer evident. Seinem Selbstverständnis nach war Tyndale ein „reformatorischer“ Theo­ loge jenseits der aufbrechenden konfessionellen Unterscheidungen. Er ist da­ mit für unsere heutigen Kategorien schwer zu fassen. An seinem Beispiel wird darum auch deutlich, wie wenig heutige konfessionelle und nationale Kate­ gorien für das 16. Jahrhundert greifen. Auch wenn Tyndales Theologie auf­ grund ihrer Überlagerung durch andere theologische Einflüsse und infolge der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verändernden historischen Rahmenbedingungen wenig direkte Wirkung entfalten konnte, stellt sie doch ein bis heute aufschlussreiches Bindeglied zwischen der von Mitteleuropa aus­ gehenden Reformation und der reformatorischen Umgestaltung der Kirche von England dar. An Tyndale zeigt sich einerseits, dass die auf Luther zurück­ gehende Reformation ein deutlich weiteres Wirkungsspektrum hatte, als ge­ meinhin gesehen wird. Andererseits lässt sich an Tyndale erkennen, dass die anglikanische Kirche Teil der reformatorischen Erneuerungsbewegung war, die von ihrem Selbstverständnis her auf die ganze Christenheit zielte.

480

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Anhang [William Tyndale] A compendious introduccion, prologe or preface vn to the pistle off Paul to the Romayns, Worms, P. Schöffer, 1526. Transkription des Faksimile des einzigen erhaltenen Exemplars des Drucks von 1526 in der Bodleian Library, Oxford (Short Title Catalogue Nr. S105358); aus: Early Eng­ lish Books Online (EEBO) (http://eebo.chadwyck.com.proxy.nationallizenzen.de). EEBO Abbildung 18 Here foloweth a treates (to fill vpp the leefe with all) of the paternoster / very nece=ssary and profitable / wherein (yff you marke) thou shalt perceave what prayer is and all that belongeth to prayar. The sinner prayeth the pe=ticions off the pater noster / and God answereth by the lawe / as though he wolde putt hym from hys desyre. The sinner knowlegeth that he is wo=rthy to be put ­backe / neverthelesse fayth cleveth fast to god’s promises / and compelleth hym / for hys truethes sake / to heare her peticion. Marke this well and take it for a sure conclusion / when god commaundeth vs ī the lawe to doo any thin=ge / he commaundeth not therefore / that we are able to do yt / but to bryng vs vn to the knowlege of oureselves / that we might se what we are an=d in what miserable state we are in / and to kno=we oure lack / that there­by we shuld torne to god and knowlege oure wretchednes vn to hym / ād to desyre him that of his mercy he wold make vs that he biddeth vs be / ād to geve vs strength and power to doo that which the lawe requireth of vs. Noote this also / that prayar is nothinge else save a morninge of the sprite / a desyre / and a longyng for that which he lacketh / as the sick moreth and soroweth in his hert longynge af=ter health. And vn to prayars re­ quered the la=we ād also the gospell / that is to saye the promy=ses of God. The office of the lawe is only to vtt=er sinne and to declare in what misera=ble damnacion and captivite that we are in / when oure very hertes are so fast bound and locked vnder the po= EEBO Abbildung 19 wer off the devill / that we can not once mo[more?] as consent vn to the will of ­allmyghty God / ou=re father / creator / ād maker ye and yet se not th=is so greate / so sharpe / so cruel / and terrible vē=geance of God apon vs / vntyll the lawe come. The law then bringeth a man vn to the knowle=ge of him selfe / and compelleth him to morne / to complayne / to sorowe / to confesse and knowled=ge hy synne and ­miserie / and to seke helpe. The gospell entyseth draweth and sheweth from wh=ence to fetche helpe / and coupleth vs to God th=orowe farth. Fayth ys the ancre of all

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Anhang

health ād kepeth vs fast vn to the promyses of God which are the sure haven or porte of all quietnes of the con­science. Nothyng / nether the lawe nether wo=rkes nether y.r [or?] any othery thynge cā quiette a ma=ns conscience save only fayth and trust in the pr=omises of God. Fayth fostreth no wynde no stor=me no tempest of adversite or temptaciō / no thr=eatenynges of the lawe / no crafty sotylte off the devyll to seperatt vs from the love of God in Ch=riste Jesu / that ys to save / to make vs beleve th=at god loveth vs not in Christe and for Christes sake. Prayar ys the effecte and work of fayth / and the sprite thorowe fayth prayeth continnally wyth mornynges passynge all ­vtterance of spe=che / confessing ād know­leginge hir grevous bōdage / hir lacke and wekenes / and desyringe hel=pe and succre. Nowe seiste thou that there is not so greate distaunce betwene ­heven and erth / as betwene prayar and momblynge a prayre of ­matenses or nūbryng pater nosters and honouryn=ge God wyth the lyppes / I passe over wyth syl=ence / howe wyth oute all frute / ye wyth howe te=reble ig­noraunce the laye a[n]d vnlerned people sa= ye the pater noster and also the crede in the laty=ne tonge. Moreover they never prae which fe=le not the workynge of the lawe in their hertes / and have their con­ sciences shaken and broyles and as it were beaten to ponder wyth the thun=derbolte theirof. Consyder and beholde thi sylfe theirfore in the lawe diligently as in a glasse / ād then come and confesse this synne / thi lack ād po=verte vn to god wyth out all ­amner saynynge ād ypocrisy / morninge and complaynynge over thi=ne horrible damnacion / bondage and capitivite and wyth a stronge fayth praye god have mer=cy on the son Christ’s sake / to fulfyll hys promys=ses / to geve the hys sprite / to loose the / to strengt=he the / to fullfyll all hys Godely wyll in the to poure the ryches and treasures off hys spirituall gyftes in to the / and to make the soche a wone as hys herte hath ­pleasure and delectacion in. And above all thynges desyze hym to encreace thy fayth / and praye after the maner and ensample of this treates here folo­wynge.

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Literaturverzeichnis Die Abkürzungen richten sich (soweit nicht die in eckigen Klammern abgegebenen eigenen Abkürzungen verwendet werden) nach: Schwertner, S., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenz­ gebiete, Berlin/New York ²1994 (IATG) bzw. nach: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Reli­ gionswissenschaft, Tübingen 1998–2007 (RGG4).

1.  Quellen 1.1.  Schriften William Tyndales 1.1.1  Ausgaben Die Schriften Tyndales werden in der Regel nach der von Henry Walter edierten Aus­ gabe der Parker Society zitiert: Walter, Henry (Hg.), Doctrinal Treatises and Introductions to Different Portions of the Holy Scripture by William Tyndale, martyr, 1536, The Parker Society [PS 1], Cam­ bridge 1848. Ders. (Hg.), Expositions and Notes on Sundry Portions of Holy Scriptures, together with he Practice of Prelates by William Tyndale, martyr, 1536, The Parker Society [PS 2], Cam­ bridge 1849. Ders. (Hg.), An Answer to Sir Thomas More’s Dialogue, the Supper of the Lord after the True Meaning of John VI. and 1 Cor. XI. and Wm. Tracy’s Testament Expounded by William Tyndale, martyr, 1536, The Parker Society [PS 3], Cambridge 1850. Schriften, die in neueren Ausgaben vorliegen, werden nach diesen zitiert: O’Donnell, Anne M. S.N.D./Jared Wicks S.J. (Hg.), The Independent Works of William Tyndale 3 [IW 3], Washington D.C. 2000. Daniell, David (Hg.), The Obedience of a Christian Man (Antwerpen 1528), Penguin Classics [PC], London 2000. Ders. (Hg.), Tyndale’s New Testament. Translated from the Greek by William Tyndale in 1534. In a modern-spelling edition and with an introduction by David Daniell [TNT], Yale 1989. Ders. (Hg.), Tyndale’s Old Testament. Being the Pentateuch of 1530, Joshua to 2 Chronicles of 1537, and Jonah. Translated by William Tyndale. In a modern-spell­ ing edition and with introduction by David Daniell [TOT], Yale 1992.

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Literaturverzeichnis

1.1.2  Einzelschriften Die angegebenen Titel richten sich nach der angegebenen Ausgabe, nicht nach dem Originaldruck. In der Regel finden sich die Texte Tyndales in der Werkausgabe der Parker Society.1 Sie werden in der Arbeit mit dem angegebenen Kurztitel zitiert. Prologue to the Gospel of St Matthew (Köln 1525), PS 1, S. 1–28. Kurztitel: Cologne Frag­ ment/Pathway2 Marginal Notes on the First Twenty-One Chapters of St Matthew’s Gospel (Köln 1525), PS 2, S. 227–236. Kurztitel: Marginalien Cologne Fragment A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Romans (Worms 1526), PS 1, S. 484–510. Kurztitel: Romans Epistle to the Reader; subjoined to his first published version of the New Testament (Worms 1526), PS 1, S. 389–391. Kurztitel: Epistle to the Reader The Parable of the Wicked Mammon. Published In the year 15273, the 8th of May, By William Tyndale. Romans III. Chap. We Hold that a man is justified by faith, without the works of the law (Antwerpen 1528), PS 1, S. 37–126. Kurztitel: Mammon The Obedience of a Christian Man and how Christian rulers ought to govern, wherein also (if thou mark diligently) thou shalt find eyes perceive the crafty converyance of all jugglers (Ant­ werpen 1528), Penguin Classics, London 2000 bzw. PS 1, S. 131–344. Kurztitel: Obedience4 Tyndale’s Old Testament. Being the Pentateuch of 1530, Joshua to 2 Chronicles of 1537, and Jonah. Translated by William Tyndale. In a modern-spelling edition and with introduction by David Daniell, Yale 1992. Kurztitel: TOT The Preface of Master William Tyndale that he made before the five books of Moses, called Ge­ nesis. Ann. 1530. Januar 17. (Antwerpen 1530), PS 1, S. 393–397. Kurztitel: Preface Moses Prologues by William Tyndale shewing the use of Scripture, which he wrote before the five books of Moses (Antwerpen 1530), PS 1, S. 398–410. Kurztitel: Prologue Genesis A Prologue into the second book of Moses, called Exodus (Antwerpen 1530), PS 1, S. 411–420. Kurztitel: Prologue Exodus A Prologue into the third book of Moses, called Leviticus (Antwerpen 1530), PS 1, S. 421–428. Kurztitel: Prologue Leviticus A Prologue into the fourth book of Moses, called Numeri (Antwerpen 1530), PS 1, S. 429–440. Kurztitel: Prologue Numeri A Prologue into the fifth book of Moses, called Deuteronomy (Antwerpen 1530), PS 1, S. 441–446. Kurztitel: Prologue Deuteronomy The Practyse of Prelates. Wether the kinge’s grace may be separated from hys quene, because she was his brother’s wyfe. Marborch. In the yere of oure Lorde, MCCCCC. & XXX (Ant­ werpen, 1530), PS 2, S. 240–344. Kurztitel: Prelates 1  2 

Die hier angegebenen Titel entsprechen ebenfalls der Version der PS. Die Ausgabe der Parker Society fasst das Vorwort von 1525 mit der 1532 erschiene­ nen Schrift „A Pathway into the Holy Scriptures“ zusammen und macht die unterschied­ lichen Textanteile nur durch Klammern im Text kenntlich. 3  Hier irrt der Herausgeber der PS, „Mammon“ erschien erst im Mai 1528, vgl. Short Title Catalogue Nr. S105358. 4  Bei „Obedience“ wird in der Arbeit auf beide angegebenen Ausgaben verwiesen. Die neuere Ausgabe der Reihe „Penguin Classics“, nach der ich zitiere, wird dabei in Klammern angegeben.

1. Quellen

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An Answere Vnto Sir Thomas Mores Dialoge (Antwerpen 1531), IW 3. Kurztitel: Answer The Prologue to the Prophet Jonas (Antwerpen, 1531), PS 1, S. 449–466. Kurztitel: Pro­ logue Jonas The Exposition of the First Epistle of Saint John set forth by M. William Tyndale, in the Year of our Lord 1531. Septemb (Antwerpen, 1531), PS 2, S. 136–225. Kurztitel: Exposition St John A Pathway to the Holy Scriptures (Antwerpen 1532), PS 1, S. 1–28. Kurztitel: Cologne Fragment/Pathway An Exposition upon the V, VI, VII chapters of Mathew (Antwerpen, 1533), PS 2, S. 1–132. Kurztitel: Exposition Matthew Tyndale’s New Testament. Translated from the Greek by William Tyndale in 1534. In a mo­ dern-spelling edition and with an introduction by David Daniell, Yale 1989. Kurztitel: TNT William Tyndale, yet once more to the Christian reader (Antwerpen, 1534), TNT, S. 13–16. Kurztitel: Yet once more. Prologue upon the Gospel of St Matthew (Antwerpen, 1534), PS 1, S. 468–479. Kurztitel: W.T. unto the Reader5 Prologue upon the Gospel of St Mark (Antwerpen 1534), PS 1, S. 480. Kurztitel: Prologue Mark Prologue upon the Gospel of St Luke (Antwerpen 1534), PS 1, S. 481. Kurztitel: Prologue Luke Prologue upon the Gospel of St John (Antwerpen 1534), PS 1, S. 482. Kurztitel: Prologue John A Prologue upon the First Epistle of St Paul to the Corinthians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 511–512. Kurztitel: Prologue 1st Corinthians A Prologue upon the Second Epistle of St Paul to the Corinthians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 512. Kurztitel: Prologue 2nd Corinthians A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Galatians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 513. Kurztitel: Prologue Galatians A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Ephesians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 514. Kurztitel: Prologue Ephesians A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Philippians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 514–515. Kurztitel: Prologue Philippians A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Collosians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 515. Kurztitel: Prologue Collosians A Prologue upon the First Epistle of St Paul to the Thessalonians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 517. Kurztitel: Prologue 1st Thessalonians A Prologue upon the Second Epistle of St Paul to the Thessalonians (Antwerpen 1534), PS 1, S. 517–518. Kurztitel: Prologue 2nd Thessalonians A Prologue upon the First Epistle of St Paul to Timothy (Antwerpen 1534), PS 1, S. 517–518. Kurztitel: Prologue 1st Timothy A Prologue upon the Second Epistle of St Paul to Timothy (Antwerpen 1534), PS 1, S. 519. Kurztitel: Prologue 2nd Timothy 5  Da sich dieser Titel bei Tyndale nicht findet, wird der Prolog zur NT-Ausgabe von 1534 in der Arbeit mit seiner ursprünglichen Überschrift zitiert als: „W.T. unto the Reader“.

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Literaturverzeichnis

A Prologue upon the Epistle of St Paul to Titus (Antwerpen 1534), PS 1, S. 519–520. Kurz­ titel: Prologue Titus A Prologue upon the Epistle of St Paul to Philemon (Antwerpen 1528), PS 1, S. 520. Kurz­ titel: Prologue Philemon The Prologue upon the Epistle of St James (Antwerpen 1534), PS 1, S. 525–526. Kurztitel: Prologue James The Prologue upon the Epistle of St Jude (Antwerpen 1534), PS 1, S. 531. Kurztitel: Pro­ logue Jude A Prologue upon the Epistle of St Paul to the Hebrews (Antwerpen 1534), PS 1, S. 521–524. Kurztitel: Prologue Hebrews The Prologue upon the First Epistle of St Peter (Antwerpen 1534), PS 1, S. 527–528. Kurz­ titel: Prologue 1st Peter The Prologue upon the Second Epistle of St Peter (Antwerpen 1534), PS 1, S. 528–529. Kurztitel: Prologue 2nd Peter The Prologue upon the Three Epistle of St John (Antwerpen 1534), PS 1, S. 529–530. Kurz­ titel: Prologue 1st – 3rd John The Testament of Master W. Tracie, Esquire, Expounded by William Tyndale; wherein you shalt perceive with what charity the chancellor of Worcester burned, when he took up the dead carcass, and made ashes of it after it was buried (Antwerpen, 1535), PS 3, 271–283. Kurz­ titel: Tracy’s Testament A Brief Declaration of the Sacraments; expressing the first original, how they came up and were institute, with the true and most sincere meaning and understanding of the same. Very ne­ cessary for all men, that will not err in the true use and meaning thereof. Compiled by the godly learned Man, William Tyndale (London, 1548), PS 1, S. 345–385. Kurztitel: Sacra­ ments

1.2 Schriften anderer Autoren Aus den Werken der angegebenen Autoren wird mit Namen und der genannten Aus­ gabe zitiert (bei Martin Luther verzichte ich auf die Namensnennung). Ich gebe zu­ sätzlich den Titel der zitierten Schrift an. Bei der Zitation frühneuhochdeutscher Texte werden Buchstaben, die bei Umlauten im Original hochgestellt sind, im norma­ len Textfluss wiedergegeben. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Ge­ denkjahr der Augsburgischen Konfession 1530, Göttingen 51963. Bucer, Martin, Opera Omnia, Abt. Deutsche Schriften [BDS], Gütersloh 1960 ff, Abt. Briefwechsel [BCor], Leiden 1979 ff, Abt. Opera Latina [BOL], Paris 1955 ff, Leiden 1982 ff. Ders., Kommentar über den Brief des Paulus an die Epheser (1527), in: Marijn de Kroon, Martin Bucer und Johannes Calvin. Reformatorische Perspektiven. Einlei­ tungen und Texte, Göttingen 1991, S. 142–169. Bugenhagen, Johannes, Epistola Ioannis Bvgenhagij Pomerani ad Anglos. M.D. XXV., The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More [CWM], 7, New Haven 1990, S. 393–405 (Appendix A.). Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 61997.

2. Sekundärliteratur

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Erasmus, Desiderius, Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch und Deutsch, Darmstadt 1968–1980. Fisher, John, The English Works of John Fisher, Bishop of Rochester (1469–1535). Sermons and Other Writings, 1520–1535, hg. v. Cecilia A. Hatt, Oxford 2002. Foxe, John, The Acts and Monuments of John Foxe (1563, 1570, 1576, 1583), vgl. http://www.hrionline.ac.uk/johnfoxe6 Frith, John, The Work of John Frith, hg. v. N.T. Wright, The Courtenay Library of Reformation Classics 7, Oxford 1978. Luther, Martin, Werke. Kritische Ausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff [WA]. Abt. Briefwechsel, Weimar 1930 ff [WA.B], Abt. Deutsche Bibel, Weimar 1906 ff [WA.DB], Abt. Tischreden [WA.TR], Weimar 1912 ff. Melanchthon, Philipp, Loci Communes. 1521. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Horst Georg Pöhlmann, hg. v. Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh 21997. More, Thomas, Complete Works, The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More [CWM], New Haven 1963 ff. Nazarei, Judas (Pseudonym), Vom alten und neuen Gott, Glauben und Lehre (1521), Flugschriften der Reformationszeit XII, Halle 1896. Platina, Bartolomeo, Platynae Historici. Liber de vita Christi ac omnium Ponti­ ficium (AA. 1 – 1474), L. A. M. G. C. V. Fiorini, RIS ser. 2 III/1, Città di Castello 1913. Zwingli, Huldrych, Sämtliche Werke; CR 88 ff, Berlin 1905 ff.

2. Sekundärliteratur Die Zitation der angegebenen Sekundärliteratur erfolgt mit dem Autorennamen (bei Namensgleichheit mit Initialen und Zunamen). Sind von einem Verfasser mehrere Werke verzeichnet, wird zusätzlich der kursive Kurztitel angegeben. Almasy, Rudolph P., Contesting Voices in Tyndale’s The Practice of Prelates, in: John A. R. Dick/Anne Richardson (Hg.), William Tyndale and the Law, SCES 25, Kirksville 1994, S. 1–10. Ders., Tyndale Menedemus, in: John T. Day/Eric Lund/Anne M. O’Donnell S.N.D. (Hg.), Word, Church, and State. Tyndale Quincentenary Essays, Washington D.C. 1998, S. 128–140. Althaus, Paul, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh, 1965. Ders., Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 21969. Andriessen, Jos, Het gestelijke en godsdienstige Klimaat, in: Genootschap voor Antwerpse Geschiednis (Hg.), Antwerpen in de XVIde Eeuw, Antwerpen 1975, S. 203–232. Angenendt, Arnold, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 32005. 6  1993 beschloss die British Academy eine neue virtuelle Editon des „Book of Mar­ tyrs“ von John Foxe auf den Weg zu bringen. Sie liegt seit 2006 in zweiter überarbeiteter Version vor, ermöglicht den Zugriff auf alle Ausgaben des Werkes und besitzt einen kriti­ schen Apparat.

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501

Register 1. Bibelstellen Gen 218 315 316 4 9 15 17 2218 2511

332 70 133 199 151, 201, 437 201 201, 437 70 222, 374

Ex 12 2012 226 ff 24

441 132 134 143, 445

Lev 12 16 18 185 1816 2021 23

209 208 286 134 248, 285 f, 331 f 248f 208

Num 30 Dtn 516 65 ff 69 ff

214

132 219 353

8 9 10 255 28 f 2928

219 219 219 248 f, 285 f, 331 f 219 220

2 Sam 712–14

70

1 Kön 18

257

Hiob 14

453

Psalter 32

85

Jes 714

79

Hos 1314

70

Mi 51

70

Hab 2 4

386, 448

502 Mt 39 315 4 48 ff 5–7 55–10 ff 513–16 513 514 ff 517 520 512–26 529 533 538–42 543–48 6 61–18 612 614 f 619–34 622 712–20 715 ff 716f 724–28 1033 1231 f 1235–37 1241 1617 f 1618 1724 ff 181 ff 1815 f 1818 1820 1821 2411 2531 f 2626–28 2652 ff 2818 f 2820

Register

80 138 274 273 369–396 383 f 390 393 393 385 80 388 80 353 390 390 57, 108 386 269 379 380 81 f 386 128 112, 114 387 155 213, 430 80 229 81 157, 275 138 138 269 81 448 275 128 112, 115 151 138 64, 275 448

Mk 328 f 109 1228 ff 136

430 285 353 147

Lk 736 f 1210 161–9 169 2219 f

115 430 102–123 103, 117 445

Joh 11 ff 117 653 f 1125 f 169 1836 2021 f

428 71, 385 447 70 424 267 275

Apg 529 1212 192 238

395 428 146 415

Röm 11–3 117 328 55 6 7 826–39 835 f 919 f 922 104 105 1010 1219 f 131–10 135 f

70 386 314 92 170 302 88 79 317 119 168 134 155 134 134 137

503

1. Bibelstellen

1 Kor 1 f 118–31 7 71 ff 1125 12–14 13 1555

127, 143 122 304 217 445 429 268 442

2 Kor 313

72

Gal 1 f 11.12 216 311 316 324 56

143 429 314 386, 448 70 205 145

Eph 316 f 521 f 522 f 525 ff 528.31 f 61–4 65 ff 69

448 131 133 140, 302 140 140 133 141

Phil 3

84

Kol 318 ff

131

1 Thess 414

324

1 Tim 3 63 f

304 23

2 Tim 224 f 414

62 430

1 Petr 110 29 218 f 31 f 37

426 427 133 131, 133 140

2 Petr 1–2 220

427 430

1 Joh 1–3 11 ff 18 21 2 3 218 ff 38–10 39 4–5 41 47–21 412 417 516b

361–367 428 302 363 365 128 367 302 367 f 128 367 368 368 430

2 Joh 7

128

Hebr 414 64 ff 7–10 9 1026 f 12 1216

143 429 153 445 429 127 429

Jak 224

314

504

Register

2. Personen und Orte Almasy, Rudolph P. 257 Antwerpen 8, 29, 44, 60, 94–99, 182, 186–189, 192, 220, 239, 241 f, 246, 342, 407–410, 415, 455, 462, 464, 466 f Barlowe, Jerome 61 f, 99 Barnes, Robert 24, 26, 47, 51 f, 59, 183, 254, 258, 340, 465, 473 f Blouw, Paul Valkema 95 Boleyn, Anne 102, 142, 188, 246–248, 254, 323, 417, 466 f Bugenhagen, Johannes 48, 51, 186 Brüssel 97, 463 f, 466 Bucer, Martin 6–10, 24, 76, 86, 92–94, 165, 168 f, 172–174, 177, 179, 181, 184, 199, 208, 215, 231–234, 238, 241, 311, 328, 330, 334, 359, 398, 403, 405, 439, 451, 462, 474, 478 f Cambridge 25–28, 34, 60, 183, 187, 247, 340 f Capito, Wolfgang 398 Cochläus, Johannes 46, 49, 54 f Clebsch, William 4–6, 9, 236–238, 336–339, 354–356, 372, 398, 404, 420, 433 Colet, John 22 Collinson, Patrick 474 f Coverdale, Miles 26, 185–187, 417 Cranmer, Thomas 26, 247, 254, 344 f, 416, 465, 473 Cromwell, Thomas 19, 180, 188 f, 220, 240 f, 244, 246 f, 345, 465–467, 471–473 Daniel, David 14, 18, 26, 29 f, 45, 98, 105, 123, 125, 221, 252 DeCoursey, Matthew 208, De Keyser, Martin 95, 97, 182, 188 f, 220, 239, 246, 415 Demaus, Robert 3, 28 Emersen, Margarethe 47, 186 Erasmus, Desiderius 25, 31, 33, 34–38, 43 f, 50, 66, 110, 215, 316

Flesseman-Van Leer, Ellen 310 Fisher, John 55, 65, 100, 124, 138, 142–146, 202, 248 f Foxe, John 11, 15 f, 18 f, 21, 24–26, 28–34, 37, 40 f, 45–47, 50 f, 58, 60, 98, 101, 183–185, 193, 340, 344 f, 407–409, 435, 462 f, 465 f, 468, 471–473, 475 Frith, John 14, 26, 52, 184, 336, 338–348, 351, 412, 435 f, 452, 454 f, 473 f Genf 405, 475 Hamburg 43, 45, 47, 53, 185–188, 240 Hammond, Gerald 194, Heinrich VIII. 12 f, 48 f, 54 f, 58, 102, 142, 179 f, 188, 190 f, 216, 239 f, 242–249, 253–257, 272, 279–289, 327, 329 f, 332, 335, 337, 344, 382, 389 f, 396, 417, 466 f, 472–474 Holeczek, Heinz 44, 60, 66, Hoochstraten, Johannes 95 Hudson, Anne 10 f Joye, George 58, 220, 370 f, 409–415, 417, 435, 465 Karl V. 96, 188, 272, 280, 287, 335, 466 Katharina von Aragon 188, 246–249, 254, 283, 285, 287, 332, 335 Köln 45, 53–58, 61, 68, 99, 348 Kronenberg, M.E. 95 Latomus, Jacobus 468–470 Little Sodbury 25–33, 36–38, 409, 454 London 17, 19, 22, 27 f, 37–45, 47, 52, 55, 59, 61, 98, 109, 138, 142, 183 f, 187, 195, 197, 336, 340–345, 408, 435, 465 f Luther, Martin 2–11, 24–26, 36 f, 43–52, 66–75, 79–81, 82, 83–87, 88–93, 102–106, 111–120, 124, 131, 134–140, 144 f, 151–156, 162–165, 167–175, 176–181, 193–195, 199, 205 f, 211, 218, 220–226, 230–232,

2. Personen und Orte

236–238, 246, 250–253, 258, 265 f, 282, 288 f, 294, 296, 312, 314–317, 328–334, 338, 351 f, 354–359, 363 f, 370–373, 390 f, 398, 403 f, 411, 421–432, 438 f, 444–446, 449 f, 461 f, 477–479 MacCulloch, Diarmid 247 Marburg 94 f Marc’hadour, Germain P. 143, Marius, Richard 251, 277 Mayer, Thomas F. 465, 467 McDiarmid, John F. 260 f McGiffert, Michael 400 McGoldrick, James Edward 4 Melanchthon, Philipp 47 f, 51 f, 181, 184, 238, 309, 356 Monmouth, Humphrey 40–44 Morus, Thomas 22, 25, 40, 46 f, 65, 100 f, 183 f, 188, 190, 220, 238, 239 f, 246, 249–255, 288–293, 296, 298–302, 304–320, 322–328, 333, 335, 343, 416 Mozley, James Frederick 14, 18, 29, 33, 37, 47 f, 94, 102, 106, 185–189, 241 f, 255, 416 f, 465, 467 Oekolampad, Johannes 55, 398 Ohst, Martin 15, 124, 148, 155, 177 f, 404 f Oxford 16 f, 19, 21–26, 28, 34, 60, 340, 464 Parker, Douglas H. 350 f Philipps, Henry 462–466, 468 Pineas, Rainer 262 Platina, Bartolomeo 258–260 Poyntz, Thomas 29, 98, 407, 462–467 Quentell, Peter 54, 68

505

Rex, Richard 11, 27 f, 39, 180 f, 188 Rinck, Hermann von 55 Rom 28, 40, 179 f, 188, 212, 252, 262, 265, 271, 275, 278, 294, 300, 388 Roye, William 45–49, 54 f, 59–62, 99, 108 Rupp, E. Gordon 4 Schoeffer d.J., Peter 56, 83 Smeeton, Donald S. 180 f Stokesley, John, 19, 22, 183 f, 465 f Stinchcombe 18 f Straßburg 12, 61, 94A, 408 Thompson, W.D.J.Cargill 373, 403 Trinterud, L.J. 89, 398 Trueman, Carl Russel 6 f, 9, 166 f, 234, 351, 402, 457 Tunstall, Cuthbert 38–40, 59, 183, 196, 250 Vadian, Joachim 259 Vaughan, Steven 189, 220, 240–246, 253, 335–337, 410, 467 Vilvoorde 14, 464, 466, 468, 472 Weitzman, Michael 192, 194 f Wilkinson, Robert 469 f Wittenberg 4–6, 12, 36 f, 45–53, 61, 97, 100, 104, 192, 211, 258, 475 Wolsey, Thomas 22, 48, 61, 65, 99 f, 109, 183, 185, 188, 247, 256, 277–281, 287–289, 318, 330, 417 Worms 54–58, 60–62, 83, 94–96, 99, 192 Wyclif, John; Lollarden 5, 10–12, 20, 28, 39, 60, 178–182, 228, 404 f Zürich 211, 397 Zwingli, Huldreich 6, 181, 210 f, 235, 397, 411, 438, 445, 448, 460–462

506

Register

3. Sachen Abendmahl 151 f, 169 f, 210–212, 235 f, 303, 320, 343, 346, 435 f, 441–462, 479 – Einsetzungsworte 151, 436, 444–446, 448, 451 – Messopfer 187 – Realpräsenz 446–449, 460 f Amt – Ämter, Amtspersonen 141 f, 380, 391 f – Geistliches Amt, Priesteramt 142 f, 146 f, 152–154, 174 f, 177 f, 179, 235 f, 251, 256, 267–268–270, 284, 302–305, 327, 404 – Kirchliches Lehramt 307 f, 351 f R König Antichrist 37, 103, 108 f, 128, 131, 147–152, 159 f, 259, 282 Beispielerzählung 198–200, 202 f, 207–209, 212, 223–230, 231–233, 384, 434 Bibel – Bibelübersetzung 2, 4, 8 f, 22, 29, 31–34, 38–40, 43–46, 48 f, 52, 54–68, 100, 103, 109, 125, 129, 134, 151, 182–187, 189–195–197, 200, 220, 236, 244 f, 291, 295 f, 302 f, 337 f, 341 f, 361, 397, 407, 409–418, 433, 475 f, 477 – Schriftauslegung 24, 30, 65, 110 f, 147, 149–152, 154 f, 160–162, 169 f, 177–179, 206–209, 214, 222–224, 227, 230–232, 245–246, 255–257, 259 f, 266–268, 274–276, 282, 285 f, 290, 292, 296, 299 f, 308, 348–352, 359–362, 373–375, 393 f, 411–414, 418, 430, 451, 468 f, 477 – Schriftverständnis 65 f, 82, 86, 111, 113 f, 122 f, 125–130, 137 f, 143 f, 149, 151–162, 171–175, 177, 197–199, 203–206, 228, 232, 235, 251–253, 284, 294, 297 f, 300, 306, 309–312, 320, 322 f, 325–328, 346, 350–352, 358–362, 369, 381, 395 f, 412–414, 419–421, 425, 430 f, 462, 477 – Schrift und Tradition 222, 305–309, 319–321, 325–328 Bund, Bundestheologie 122, 201, 232,

234 f, 307, 357–365, 369, 372–381, 385–388, 390, 396–404, 418–421, 424–426, 433–434, 436–442, 444–446, 449, 455–457, 459–462, 469, 478 Buße; Bußsakrament 82, 154–157, 170, 289, 313, 329 f, 354 Ehe; Ehescheidung 131–133, 152–154, 188, 240, 242 f, 246–249, 253–256, 263, 272 f, 279–287, 304, 329 f, 332, 335, 388–390, 391 Ethik 35 f, 78 f, 93, 100, 103, 120–122, 165, 167, 169, 176–179 f, 214, 322, 353, 356, 365, 369 f, 372, 375 f, 381–396, 400–402–406, 408, 427, 456, 459 f, 474, 478 R Werke Erwählung; 6 f, 75–78, 116–118 f, 121 f, 126 f, 130, 136 f, 156, 162 f, 166 f, 170–172, 206, 222–224, 227, 231, 233–235, 291–293, 296–302, 307–310, 315, 317 f, 325, 328, 348, 350, 358–362, 365–367, 376, 378, 380, 400–403, 425, 441, 478 Evangelium 68–70, 74–79, 84, 88, 173 f, 198 f, 305 f, 326 f, 358, 419 R Gesetz und Evangelium Familie 130, 132 f, 140 f, 176 – Tyndales Familie 16, 18–20, 98 – Familienmetaphorik 139, 163, 207, 232, 325, 362, 376, 378 f, 402, 477 Frömmigkeit 80, 133, 150–162, 169, 180, 291 f, 319–325, 459 (Rolle der) Frau 131–133, 140–142, 152 f, 303 f, 332, 389–391 Gehorsam R Obrigkeit Geist Gottes; Pneumatologie 71, 73, 75 f, 78, 80, 82, 85–87, 91–93, 106, 112–115, 118–123, 136–139, 146 f, 154–158, 162–172, 200, 203, 205 f, 210–215, 223–225, 232 f, 238, 268 f, 293 f, 296–302, 305, 310–313, 315, 318, 325–328, 332–334, 346, 351–353, 359–362, 364, 366, 376, 378, 399–401, 421 f, 424, 430, 440 f, 456 f, 459 f, 470, 478

3. Sachen

Gebet 87 f, 120, 160, 219, 229, 324 f, 378–381, 450 f – Vaterunser 87 f, 369, 378–381 Geschichte, Geschichtsverständnis 129 f, 228, 235, 255 f, 288, 330 f, 477 Glaube 23, 36 f, 69–78, 80, 82, 85 f, 88,-91, 93, 111–115, 145, 163–166, 297 f, 305 f, 309–312, 315, 326 f, 328, 333 f, 343 f, 359, 361–364, 376–381, 420 f, 424 f, 469, 478 – Glaube und Anfechtung 127, 158, 198, 202 f, 235, 298, 301 f, 333, 382, 384, – Glaube und Werke 116 f, 120–122, 167–169, 201, 215, 218 f, 224 f, 232 f, 284, 313 f, 352 f,-365–368, 376–381, 383, 385–388, 402 f, 427, 432, 455–460 R Rechtfertigung Heilige; Heiligenverehrung 104, 116, 159 f,-251, 293, 322–325, 411, 455, 457 f, 475 Heiligung R Rechtfertigung und Heiligung Humanismus 22–26, 33–36, 44 Jesus Christus; Christologie 64, 75 f, 91 f, 126, 162–166, 170, 227, 363–365, 375, 385, 442, 455 f R Rechtfertigung Gottesdienst 201, 205, 291, 295, 319–322, 353 f, 416 Gesetz 69–79, 85–87, 106, 118–120, 134, 136–139, 141 f, 157 f, 166–169, 176–179, 203–207, 212–214, 223 f, 233, 236–238, 269, 283–286, 293 f, 296–298, 303, 312 f, 315, 318 f, 329–332, 339, 352–356, 358 f, 362, 364–366, 374–377, 380 f, 383–389, 393 f, 396, 398 f, 401, 404 f, 420 f, 424–426, 432, 434, 440, 445, 447, 456, 477 f – Gesetz und Evangelium 68, 71–74, 82, 88–92, 111, 144 f, 157, 168, 205 f, 231, 236 f, 352 f, 376, 434, 478 – Lust am Gesetz 82, 85, 112 ,167 f, 200, 268 R Liebe zum Gesetz, Gesetz der Liebe

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Kirche; Ekklesiologie 66, 135 f, 146 f, 149 f, 174 f, 178–180, 197, 251, 253 f, 267–269, 291 f, 294–311, 319–323, 325 f,-328–331, 441, 473 f, 478 f R Papst, Papstkirche König 124, 135 f,-139, 141 f,-148–150, 175, 178–180, 145, 284 f, 288, 327, 329 f, 377, 382 f, 394–396, 400, 403 f Kreuz – Christi 211, 227, 363 f, 449 – der Christen R Märtyrer; Martyrium – Kreuzestheologie 91 f, 127, 163–166, 364, 478 R Jesus Christus; Christologie Klerus; Kleruskritik 30–35, 37 f, 56, 58–62, 84, 109–111, 129 f, 133, 135 f, 138, 146, 179, 197, 213, 229 f, 236, 256 f, 264, 269, 295, 304, 330, 386, 454, 459 R Antichrist Liebe – Gottes Liebe zum Menschen 76, 78, 88, 92, 119–123, 127, 155, 158, 160, 162–165, 169, 170–172, 200, 205, 215, 219, 223 f, 225 f, 231–234, 293, 297, 318, 333, 347, 353 f, 356 f, 365–368, 372, 376–379, 402, 426, 432, 445, 461 f, 477 f – Liebe zum Gesetz, Gesetz der Liebe 88, 92 f, 119–121, 141, 232, 237, 268, 297, 313, 319, 352, 358, 362, 375–378, 385, 398, 401 f, 456, 477 – Liebe als Folge des Glaubens 72, 77, 78, 115 f, 119–121, 130, 132, 136, 138, 140 f, 145, 156, 161, 163–165, 170–172, 203–206, 218 f, 223 f, 232–234, 236, 285, 289, 293, 304, 312 f, 344, 353 f, 366–368, 372, 376–379, 381, 383, 386–391, 396, 399–403, 419, 424–426, 428 f, 434, 440, 450 f, 478 Märtyrer/ Martyrium 2, 15, 26, 52, 97, 177, 184, 203, 275, 301–303, 318, 339, 342–348, 382 f, 408, 470–472, 473 f Obrigkeit – Kirchliche Obrigkeit 60 R Papst, Papsttum

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Register

– Royal Supremacy 179 f, 247, 474 – Weltliche Obrigkeit 13, 58, 99–101, 129–136, 140–142, 146–150, 175–177, 182–185, 190, 195 f, 257, 264–266, 271, 281 f, 289, 319, 329–331, 354, 383, 390–396, 400, 403–405, 463, 478 – Zwei-Regimenten-Lehre 134–137, 176–179, 267, 282, 329 f, 369 f, 373, 390–393, 403 f, 478 Pädagogik (Gottes) 167 f, 202–206, 224–227, 232–234, 332, 358, 365 Papst; Papsttum; Papstkirche 34, 37, 40 f, 64 f, 101, 108 f, 124, 126, 128–131, 133, 135, 137–139, 142–152, 154–157, 160 f, 167, 172, 175, 177, 178–180, 188, 196 f, 213 f, 222 f, 228 f, 236, 240, 248 f, 251, 253–256, 258–276, 269–282, 285, 288, 291–301, 304. 309, 317 f, 322, 328, 331, 333, 342, 351, 365, 367, 369, 372, 374, 385 f, 427, 431 f, 441, 458 f, 477 R Antichrist Prädestination R Erwählung Predigt; Prediger 30,41 f, 56, 59, 75, 78, 113 f, 129 f, 134, 143, 152–154, 156–159, 162, 177, 232, 264, 295, 303 f, 306, 311, 326, 346, 351, 382, 386 f, 393–396, 409424, 426 R Amt Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre 4, 36, 69, 72 f, 76, 78–80, 82, 84, 88 f, 91–93, 103–107, 109–120, 123 f, 137–139, 145, 155, 160, 162–170, 174, 176, 217 f, 232–238, 328, 352, 355, 362, 366–368, 373, 377, 381, 424–427, 433, 454–457, 459 f, 477 f – Freier Wille 213, 225–227, 314–318, 367 – Doppelte Rechtfertigung 165, 206, 376, 379, 432, – Rechtfertigung und Heiligung 35, 85 f, 93, 100, 155, 163, 165 f, 312–314, 200, 232 f, 237 f, 297, 312–315, 333,

358, 372, 374–379, 402 f, 424–427, 450, 457, 478 Sakramente 151–155, 157 f, 169 f, 201, 209–212, 235 f, 303, 320, 336, 379, 435–446, 448 f, 460–462 R Abendmahl R Taufe Sünde; Sünder 70, 75–82, 87–91, 111–113, 115–117, 119 f, 134 f, 137, 139, 146, 152 f, 155–158, 163, 167, 169, 178, 199 f, 212–214, 217 f, 223, 225–227, 237, 241, 268, 286, 297–299, 302, 304, 312–318, 328, 333, 347, 358, 360, 362, 366, 375, 377, 388 f, 396, 399 f, 402, 424–426, 430–432, 441–443, 445, 447, 453, 456 f, 461, 477 R Rechtfertigung Taufe 127, 151 f, 154, 169 f, 201, 209–211, 229, 235, 283, 303, 320, 374, 429, 436, 439–443, 460 – Berufung durch die Taufe 358–361, 419 – Kindertaufe 56, 235, 397 R Sakramente Toleranz 96, 344, 450 f Verheißung 69–72, 85 f, 88, 91 f, 111 f, 120, 139, 144, 151–153, 156–159, 164, 169, 171, 173 f, 199 f, 201 f, 204, 206, 208–212, 230 f, 307, 319, 325, 347, 354, 358, 368, 380–382, 401 f, 420, 424, 426 f, 432, 434, 437, 440, 442–444, 453, 456 Werke, Werkgerechtigkeit 57, 69, 72, 77, 80, 84, 86, 103–108, 110–123, 138, 145, 158–160, 164, 167–171, 199, 201 f, 205 f, 213–215, 233, 236–238, 297, 314, 322, 349, 352–354, 365–368, 375 f, 379 f, 385–388, 396, 400, 402 f, 420 f, 424, 426 f, 432 f, 450, 455, 457, 459, 478 R Glauben und Werke Zwei-Regimenten-Lehre R Obrigkeit