Willensfreiheit Und Praktische Vernunft: Eine Systematische, Historische Und Kritische Untersuchung Zu Kant, Reinhold Und Fichte (German Edition) 3956509374, 9783956509377

Das Phanomen Freiheit, das einerseits einen nicht-vorbestimmten Handlungsraum und anderseits ein verfolgbares kausales V

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German Pages 196 [197] Year 2022

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1. Einleitung
1.1. Fragestellung und Forschungsbedarf
1.2. Forschungsmethode
2. Kants Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft
2.1. Die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft in den Schriften der 1780er Jahre
2.1.1. Die intelligible Ursache und die Willkür in der Kritik der reinen Vernunft
2.1.2. Die apriorische Kausalität des Moralgesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
2.1.3. Der Bestimmungsgrund des Willens in der Kritik der praktischen Vernunft
2.2. Die Änderung der Position und die Rückkehr zum früheren Standpunkt
2.2.1. Die Unbestimmtheit und die Wahlfreiheit in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
2.2.2. Die Rückkehr der praktischen Vernunft in der Metaphysik der Sitten
3. Reinholds Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft
3.1. Die anfängliche Distanzierung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens
3.1.1. Die Übereinstimmung mit Kant
3.1.2. Die Einschränkung der Übereinstimmung mit Kant
3.1.3. Der Umbau der Kernargumentation und die Umdeutung der praktischen Vernunft
3.1.4. Die Andeutung einer neuen Position
3.2. Die Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im zweiten Band der Briefe über die kantische Philosophie
3.2.1. Die Autonomie der praktischen Vernunft
3.2.2. Die Theoretisierung der praktischen Vernunft
3.2.3. Die Naturalisierung der praktischen Vernunft
3.2.4. Die Kritik an Kant
3.2.5. Die negative Bedeutung der Freiheit
3.2.6. Die positive Bestimmung der Freiheit
3.2.7. Mehr als eine Moralpsychologie
4. Fichtes Mittelweg zwischen Kant und Reinhold
4.1. Die Rezeption von Kant sowie Reinhold und die neue Entwicklung im Versuch einer Critik aller Offenbarung
4.1.1. Die Prägung durch Kant
4.1.2. Der Einfluss Reinholds
4.1.3. Die neue Entwicklung
4.2. Der vierfach gestufte Freiheitsbegriff im System der Sittenlehre von 1798
4.2.1. Die erste Ebene: das unbestimmte Vermögen der Intelligenz als die Grundbedeutung der Freiheit
4.2.2. Die zweite Ebene: die Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft in Hinsicht auf das Prinzip der Sittlichkeit
4.2.3. Die dritte Ebene: die Vereinigung von Vernunft und Natur in Hinsicht auf die Anwendbarkeit des Sittengesetzes
4.2.4. Die vierte Ebene: die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte in Hinsicht auf das Böse im empirischen Subjekt
4.2.5. Die Einheit verschiedener Ebenen
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
a) Siglen
b) Quellen
c) Literatur
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Willensfreiheit Und Praktische Vernunft: Eine Systematische, Historische Und Kritische Untersuchung Zu Kant, Reinhold Und Fichte (German Edition)
 3956509374, 9783956509377

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Shaomiao Weng

Willensfreiheit und praktische Vernunft Eine systematische, historische und kritische Untersuchung zu Kant, Reinhold und Fichte

Shaomiao Weng

Willensfreiheit und praktische Vernunft

STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE UND PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE Herausgegeben von Christian Bermes, Hans-Helmuth Gander, Lore Hühn, Günter Zöller

BAND 55

ERGON VERLAG

Shaomiao Weng

Willensfreiheit und praktische Vernunft Eine systematische, historische und kritische Untersuchung zu Kant, Reinhold und Fichte

ERGON VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Ergon – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für Einspeicherungen in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Umschlaggestaltung: Jan von Hugo

www.ergon-verlag.de ISSN 1866-4814 ISBN 978-3-95650-937-7 (Print) ISBN 978-3-95650-938-4 (ePDF)

Vorwort Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die mit der heutigen Debatte des Kompatibilismus und Inkompatibilismus eng­ verwandt ist, gilt als eine der schwierigsten bezüglich der Freiheitslehre. Trotz zahlreicher Untersuchungen bleibt es weitgehend unklar, wie die Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit in unterschiedlichsten Abwand­ lungen bei Kant, Reinhold und Fichte ins Spiel kommt und welche Lösungs­ konzepte die drei Autoren in Anschlag gebracht haben. Die vorliegende Studie widmet sich dieser Frage. Sie erforscht gründlich die theoretische Grundlage der Willensfreiheit und der praktischen Vernunft und versucht, orientiert am Leitfaden der Bestimmtheit und Unbestimmtheit Aufschluss für die gegenwär­ tige Freiheitsdebatte zu geben. Die Studie wurde 2021 als Dissertation von der Fakultät für Philoso­ phie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen. An dieser Stelle möchte ich mich für die vielseitige Unterstützung bedanken. Für die Betreuung der Arbeit danke ich vor allem meinem Doktorvater, Herrn Prof. Günter Zöller. Er hat nicht nur unzählige detaillierte Verbesserungshinweise zu dieser Dissertation gegeben, sondern auch den Grundstein zu einer wissenschaftlichen (sowohl historischen als auch systematischen) Forschungsmethode für dieselbe gelegt. Dem zweiten Gutachter meiner Dissertation, Herrn Prof. Ives Radrizzani, danke ich nicht nur für die durchgängige Hilfe beim Verfassen der Arbeit, sondern auch für die Integration in seinen Münchner und sogar weltweiten akademischen Kreis, welcher mir wertvolle philosophische Anregungen gegeben hat bzw. immer noch gibt. Ich danke außerdem meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Manja Kisner und Plato Tse, für die Diskussionen und Rückmel­ dungen. Für die Finanzierung meiner Promotion in München bin ich dem CSC (China Scholarship Council) zu großem Dank verpflichtet. Die Arbeit wurde für den Druck intensiv überarbeitet. Zu den Personen, denen für die sprachliche Korrektur mein Dank gebührt, gehören neben den Obengenannten noch Fabian André Schäfer, David-Benjamin Berger, Andreas Haack, Kerstin Haack, Julia Sacchi, Sandor Haller, Annette Weichert, Friede­ mann Wesner und nicht zuletzt Gregor Gumpert. Beim Ergon-Verlag gilt mein herzlicher Dank Holger Schumacher und Miriam Moschner für die Aufnah­ me dieser Dissertationsschrift in die Reihe „Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie“ sowie für die sorgfältige Vorbereitung der Publikati­ on. Ich danke außerdem The School of Humanities and Social Science an der Xi’an Jiaotong University, an der ich seit 2022 als Dozentin für Philosophie arbeite, für die Unterstützung.

Schließlich danke ich meinen Freundinnen und Freunden sowie meiner Familie, die mich über die Jahre hinweg unterstützt haben. Ohne sie wäre diese Untersuchung unmöglich gewesen.

Xi’an, China, im November 2022

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Shaomiao Weng

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ........................................................................................

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1.1. Fragestellung und Forschungsbedarf ..........................................

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1.2. Forschungsmethode ..................................................................

15

2. Kants Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft ..........................................................................................

25

2.1. Die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft in den Schriften der 1780er Jahre ................................. 2.1.1. Die intelligible Ursache und die Willkür in der Kritik der reinen Vernunft ................................................................ 2.1.2. Die apriorische Kausalität des Moralgesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ................................ 2.1.3. Der Bestimmungsgrund des Willens in der Kritik der praktischen Vernunft ......................................................... 2.2. Die Änderung der Position und die Rückkehr zum früheren Standpunkt ............................................................................... 2.2.1. Die Unbestimmtheit und die Wahlfreiheit in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ........................... 2.2.2. Die Rückkehr der praktischen Vernunft in der Metaphysik der Sitten ........................................................ 3. Reinholds Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft .......................................................................................... 3.1. Die anfängliche Distanzierung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens .............................................. 3.1.1. Die Übereinstimmung mit Kant ....................................... 3.1.2. Die Einschränkung der Übereinstimmung mit Kant .......... 3.1.3. Der Umbau der Kernargumentation und die Umdeutung der praktischen Vernunft .............................. 3.1.4. Die Andeutung einer neuen Position ................................ 3.2. Die Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im zweiten Band der Briefe über die kantische Philosophie ............... 3.2.1. Die Autonomie der praktischen Vernunft ......................... 3.2.2. Die Theoretisierung der praktischen Vernunft ................... 3.2.3. Die Naturalisierung der praktischen Vernunft ...................

25 27 33 37 47 48 58 67

67 68 72 74 79 81 83 88 97

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3.2.4. 3.2.5. 3.2.6. 3.2.7.

Die Kritik an Kant ........................................................... Die negative Bedeutung der Freiheit ................................. Die positive Bestimmung der Freiheit ............................... Mehr als eine Moralpsychologie .......................................

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4. Fichtes Mittelweg zwischen Kant und Reinhold ................................. 123 4.1. Die Rezeption von Kant sowie Reinhold und die neue Entwicklung im Versuch einer Critik aller Offenbarung ................... 4.1.1. Die Prägung durch Kant .................................................. 4.1.2. Der Einfluss Reinholds .................................................... 4.1.3. Die neue Entwicklung ..................................................... 4.2. Der vierfach gestufte Freiheitsbegriff im System der Sittenlehre von 1798 ................................................................................... 4.2.1. Die erste Ebene: das unbestimmte Vermögen der Intelligenz als die Grundbedeutung der Freiheit ................ 4.2.2. Die zweite Ebene: die Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft in Hinsicht auf das Prinzip der Sittlichkeit .......... 4.2.3. Die dritte Ebene: die Vereinigung von Vernunft und Natur in Hinsicht auf die Anwendbarkeit des Sittengesetzes .................................................................. 4.2.4. Die vierte Ebene: die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte in Hinsicht auf das Böse im empirischen Subjekt ........................................................ 4.2.5. Die Einheit verschiedener Ebenen ....................................

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Zusammenfassung ................................................................................ 183 Literaturverzeichnis .............................................................................. 189

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a)

Siglen ....................................................................................... 189

b)

Quellen .................................................................................... 191

c)

Literatur ................................................................................... 192

1. Einleitung 1.1. Fragestellung und Forschungsbedarf Die Motivation zu der vorliegenden Arbeit speist sich aus zwei Quellen. Zum einen teile ich die Begeisterung vieler gegenwärtiger Philosophen für die rätsel­ hafte Natur der Freiheitsproblematik,1 zum anderen interessiere ich mich für die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Willensfreiheit. Mein erstes Motiv könnte man als ein Interesse am Rätsel der Freiheit beschreiben. Dieses Rätsel ist in der gegenwärtigen Debatte folgendermaßen herausgearbeitet worden: Einerseits muss die Freiheit von der Notwendigkeit abgegrenzt werden. Das bedeutet, dass sich eine freie Handlung durch keinen vorhergehenden Grund vollständig bestimmen oder erklären lassen darf. Ande­ rerseits muss die Freiheit von der Zufälligkeit abgegrenzt werden. Dies erfor­ dert, dass die freie Handlung auf einen Bestimmungs- bzw. Erklärungsgrund zurückgeführt wird, der im Urheber der Handlung liegen muss. Mit anderen Worten und in Anknüpfung an die Freiheitstheorien von Reinhold und Fichte: Die Freiheit bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit.2 Die gegenwärtigen Philosophen lassen dieses Rätsel der Freiheit durch die analytische Gestaltung der Debatte, die vielfältigen Entwürfe von Lösungen und das Beiseitelassen des historischen Hintergrunds spannend und intensiv erscheinen.3 Dennoch lassen sie oft außer Acht, dass viele Argu­ mente und Lösungskonzepte bereits Entsprechungen in der Geschichte der Philosophie haben. Ein Grund hierfür ist darin zu sehen, dass sich die meisten Interpreten der klassischen Freiheitstheorie auf die historischen Details und die theoretischen Prämissen konzentriert haben, etwa auf die Subjektivitätstheorie des deutschen Idealismus. Dadurch haben sie den Reichtum der Argumente in Bezug auf das Freiheitsrätsel nicht klar genug geordnet und für die Teilnehmer der aktuellen Freiheitsdebatte nicht hinreichend zugänglich gemacht.

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Einen Überblick über die gegenwärtige Freiheitsdebatte geben McKenna/Pereboom (2016) und Keil (2017). Mein Gebrauch der Ausdrücke „Bestimmtheit“ und „Unbestimmtheit“ schließt sich hauptsächlich an Fichte an. Aber auch Reinhold spricht oft von „bestimmt“ und „unbe­ stimmt“, denn seine Argumente konzentrieren sich der Sache nach ebenfalls auf den Gegensatz zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Bei diesem Gebrauch schließe ich mich ferner an Milz (2005) und Goh (2015) an, wobei Milz den Begriff der Unbe­ stimmtheit vor allem zur Erläuterung von Kants Freiheitstheorie verwendet sowie für die Untersuchung der nachkantischen Freiheitsdebatte. Unten werde ich die systematische Bedeutung des terminologischen Gegensatzes von „Bestimmtheit“ und „Unbestimmtheit“ für die Untersuchung der Freiheitsdebatte ausführlich darlegen. Beispiele sind die Arbeiten von Frankfurt (1969), Kane (1989, 1998) und van Inwagen (2000).

Um einerseits auf das Freiheitsrätsel von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, das die aktuelle Debatte beschäftigt, näher einzugehen, und um anderseits die historische Debatte in ein neues Licht zu rücken und für die heutige For­ schung aufzuschließen, wähle ich die Beziehung zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft bei Kant, Reinhold und Fichte als meinen Forschungs­ gegenstand. Meiner Themenwahl liegen insbesondere folgende Überlegungen zugrunde. Erstens entspricht das Verhältnis zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft bei den drei genannten Autoren dem Verhältnis zwischen Freiheit und Bestimmtheit, weil die praktische Vernunft durch die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit des Moralgesetzes ausgezeichnet ist.4 Die jeweiligen Diskussionen der Beziehung zwischen Freiheit und praktischer Vernunft sind bei Kant um die Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit zentriert, bei Reinhold um den Gegensatz von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, Fichte schließlich diskutiert beide Aspekte. Zweitens entsprechen die Positionen von Kant, Reinhold und Fichte drei unterschiedlichen Lösungskonzepten in der aktuellen Freiheitsdebatte. Kant argumentiert dafür, dass die Freiheit mit der Notwendigkeit des Moralgesetzes kompatibel sei. Er identifiziert so letztlich die Willensfreiheit mit der prak­ tischen Vernunft. Reinhold dagegen unternimmt den Versuch, die Freiheit durch den Ausschluss jeglichen objektiven Bestimmungsgrunds zu sichern, worunter für ihn auch das Moralgesetz fällt. Er hält die Unbestimmtheit, die die Wahlfreiheit impliziert, und die Bestimmtheit, die das Moralgesetz einfordert, für miteinander unverträglich. Deshalb trennt er Willensfreiheit und praktische Vernunft. Fichte schließlich schlägt einen Mittelweg zwischen den beiden Positionen ein: Er übernimmt einerseits die kantische Synthese von Freiheit und Moralgesetz, berücksichtigt anderseits die von Reinhold betonte Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Er lockert die feste Bindung der Willensfreiheit an die Bestimmtheit des Moralgesetzes, indem er das Moment der Unbestimmtheit in den Freiheitsbegriff integriert. Der Vergleich zwischen den drei Philosophen vermag die Argumentationen von Kant, Reinhold und Fichte herauszustellen und sich der aktuellen Debatte anzunähern.5 4

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Es ist zu beachten, dass die Bedeutung der praktischen Vernunft bei Kant, Reinhold und Fichte nicht vollkommen identisch ist. Im Gegensatz zu Kant spricht Reinhold der praktischen Vernunft die Fähigkeit ab, den Willen zu bestimmen bzw. das Moralgesetz zu verwirklichen (Briefe II, S. 289f.; RGS 2/2, S. 196f.). Anders als Kant unterscheidet Fichte die Gesetzgebung als eine Tathandlung vom Moralgesetz als einer Tatsache bei der Deutung der praktischen Vernunft (SL, GA I/5, S. 65–68, bes. S. 65). Aber die drei Philosophen sind sich darüber einig, dass die gesetzliche Notwendigkeit das wesentliche Merkmal der praktischen Vernunft ist. Meine Arbeit beschäftigt sich jedoch weder unmittelbar mit der aktuellen Debatte noch führt sie einen Vergleich zwischen der historischen und der aktuellen Debatte durch.

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Drittens trägt meine Auswahl der Philosophen für die systematische Erörte­ rung der Freiheitsdebatte auch der aktuellen Forschungslage Rechnung. Eine Vielzahl von Studien zu Kant hat bereits hervorragende Arbeit geleistet, um Kants Freiheitstheorie mit einer stärkeren systematischen Orientierung zu er­ läutern: Besonders erwähnenswert sind Beck (1960) und Allison (1990) im eng­ lischsprachigen Raum; Willaschek (1992), Milz (2005) und Bojanowski (2006) im deutschsprachigen Raum. Sie eröffnen eine neue Perspektive auf Kants Frei­ heitslehre und stellen ihre Theoriepotenziale für zeitgenössische Problemstel­ lungen bereit. Untersuchungen von Reinholds und Fichtes Theorien der Wil­ lensfreiheit bleiben dagegen weit hinter diesem Leistungsstand zurück. Obwohl die jüngere Forschung zu Reinhold – zu nennen sind Arbeiten wie Fabbianelli (2000), Lazzari (2004) und Kersting (2008) – mehr Gewicht auf die Erläute­ rung der systematischen Argumente Reinholds gelegt hat, weist Ameriks zu Recht darauf hin, dass Reinholds Freiheitstheorie unter den Teilnehmern der gegenwärtigen Debatte unbekannt geblieben ist.6 Im englischsprachigen Raum haben die jüngsten Studien von Ameriks (2012), Breazeale (2003, 2012) und Walsh (2018) die substanzielle argumentative Eigentümlichkeit von Reinholds Theorie herausgestellt. Doch auch nach diesen anfänglichen Versuchen bleibt noch vieles in Reinholds Freiheitslehre klärungsbedürftig. Was die Fichte-Forschung anbelangt, wird die freiheitstheoretische Dimensi­ on kaum eigens thematisiert, sondern fast ausschließlich im Rahmen von Un­ tersuchungen mit behandelt, die Fichtes Subjektivitätstheorie gewidmet sind.7 Eine gesonderte, systematisch gestaltete Explikation der Fichteschen Freiheits­ konzeption liegt nur in wenigen Forschungsbeiträgen aus neuerer Zeit vor, wie Wallwitz (1999), Goh (2015) und Wood (2016). Analysen, die Fichtes Freiheits­ lehre in einen Diskussionszusammenhang mit Kants und Reinholds Freiheits­ konzeptionen bringen, finden sich nur in Ware (2019) und Noller (2015, 2020). Aber diese Analysen sind kurz und jeweils um einen speziellen Schwerpunkt zentriert. Sie haben das systematische Potenzial der Freiheitstheorie Fichtes, be­ sonders dasjenige der SL8, noch nicht genügend erschlossen. Außerdem haben sie die Problematik nicht anhand der Leitlinie von Bestimmtheit und Unbe­ stimmtheit gründlich beleuchtet. Dadurch, dass Kants Freiheitstheorie stärker

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Es geht ihr vielmehr darum, die historische Debatte mit einer systematischen Methode darzustellen, die der aktuellen Debatte ähnelt. Ameriks (2012), S. 71: „Nonetheless, the philosophical issue of the relation of will to reason and freedom remains at the center of contemporary systematic disputes, especially in ethics, and even among Anglophone writers who appear to have little knowledge of, or interest in, Reinhold’s significant role in spurring Kant and others in his era to clarify their stance on this crucial issue.“ Vgl. Wallwitz (1999), S. 122 f. Fichte, Johann Gottlieb (1798), Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissen­ schaftslehre, GA I/5. Zur Auflösung dieser und weiterer Siglen im gesamten Buch siehe „Literaturverzeichnis“.

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mit der nachkantischen Debatte von Reinhold und Fichte in systematischen Zusammenhang gebracht wird, kann meine Arbeit auch eine neue Interpreta­ tion von Kants Freiheitskonzeption liefern. Da ferner Kants Freiheitslehre als Basis für diejenige von Reinhold und Fichte gilt, nimmt meine Forschung von Kant ihren Ausgang. Das zweite Motiv meiner Forschung ist das Interesse an der Entwicklungs­ geschichte des Begriffs der Willensfreiheit, besonders in Hinsicht auf seine Beziehung zur praktischen Vernunft. Obwohl meine Arbeit die systematische Freiheitsdebatte in Bezug auf Be­ stimmtheit und Unbestimmtheit hervorhebt, ist es für die Untersuchung der Freiheitstheorie von Kant, Reinhold und Fichte sehr wichtig, sich den theore­ tischen und historischen Kontext derselben zu vergegenwärtigen. Sonst läuft man Gefahr, die Freiheitslehren dieser Philosophen übermäßig zu vereinfa­ chen. Der Kontext, in dem diese Freiheitstheorien stehen, soll daher berück­ sichtigt und vorgestellt werden, um die Tiefe ihrer theoretischen Begründung zu zeigen, die Grundannahme ihrer Argumente zu explizieren und um die Beweggründe für die Positionsverschiebungen offenzulegen. Angesichts des Umstands, dass es in der gegenwärtigen Debatte an solchen Reflexionen und Klärungen mangelt, ist dies von großer Bedeutung. Die Philosophen Kant, Reinhold und Fichte bieten sich für diese Forschungsabsicht besonders an. Einerseits wurzelt Kants Begriff der Willensfreiheit tief in seiner Transzenden­ talphilosophie, ebenso wie Fichtes Begriff in seiner Wissenschaftslehre wurzelt, was ideale Bedingungen für eine tiefergehende Analyse bietet. Andererseits hat Reinholds Freiheitstheorie in Briefe II – ähnlich wie die gegenwärtige Debatte – eine dünnere theoretische Grundlage.9 Der Kontrast zwischen Reinhold und den anderen beiden klassischen Idealisten ermöglicht somit einen Einblick in die Rolle der theoretischen Fundierung der Freiheitstheorie, wodurch sich die klassische Herangehensweise an die Freiheitsproblematik von der gegenwärti­ gen unterscheidet.10 9

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Reinholds Freiheitstheorie wird oft als Moralpsychologie bewertet, vgl. Fabbianelli (2000), S. 441; Zöller (2005), S. 75; Heinz (2012). Obwohl ich in meiner Arbeit zeigen werde, dass sich Reinholds Theorie nicht vollständig auf Moralpsychologie reduzieren lässt, stimme ich anderen Forschern zu, dass seine Freiheitstheorie einen starken moral­ psychologischen Charakter hat (vgl. Teil 3.2.3, 3.2.7 der Arbeit). Reinholds Freiheitskon­ zeption steht somit der gegenwärtigen Debatte nahe, die oft von einem moralpsychologi­ schen Standpunkt ausgeht. Aber dies ist nicht die einzige wichtige Ähnlichkeit zwischen den beiden. Die Ähnlichkeit besteht weiter darin, dass Reinhold ebenso wie die gegen­ wärtigen Philosophen die Freiheitstheorie nicht auf einem großen Unterbau von Prämis­ sen entwickelt, sondern auf pointierte argumentative Analyse stützt. Der letztgenannte Begründungsweg gewinnt seine Überzeugungskraft auf eine andere Art. Es wird argumentiert werden, dass Reinholds Freiheitstheorie wegen ihrer mangelnden theoretischen Begründung viele Schwierigkeiten mit sich bringt. Dies bezieht sich nicht nur auf den moralpsychologischen Charakter seiner Theorie, sondern auch auf die Mehr­ deutigkeit und Uneinheitlichkeit mehrerer Theorieelemente; z. B. die Mehrdeutigkeit der praktischen Vernunft (siehe dazu Teil 3.2.2 der Arbeit). Aber es geht um keine einseitige

Der gesamte theoretische Kontext des deutschen Idealismus ist für das Ver­ ständnis der Theorie der Willensfreiheit wichtig. Umgekehrt kann jedoch die Entwicklung der Freiheitskonzeptionen auch einen Schlüssel zum Verständnis des deutschen Idealismus liefern. Die Untersuchung der Entwicklungsgeschich­ te des Begriffs der Willensfreiheit kann dazu beitragen, die historische Frei­ heitsdebatte nachvollziehbar darzustellen, die Rezeption der Freiheitstheorien klar darzulegen und die historischen Formationsbedingungen der Freiheitskon­ zeptionen und der zugrunde liegenden Theorieprofile zu erhellen. Kants Frei­ heitstheorie ist bahnbrechend und einflussreich. Sowohl Reinhold als auch Fichte stehen unmittelbar unter seinem Einfluss, besonders am Anfang ihres philosophischen Werdegangs. Aber ihre Freiheitstheorien ändern sich deutlich, je stärker sie von den Schwierigkeiten der kantischen Freiheitslehre überzeugt sind und je innovativer ihre Lösungsversuche für diese Schwierigkeiten ausfal­ len. Außerdem wird Fichte nicht nur von Kant, sondern auch von Reinhold beeinflusst.11 Diese Entwicklung der Freiheitsproblematik gilt als ein Motor für die Entwicklung des gesamten Theorieentwurfs, und zwar insbesondere bei Fichte.12 Meine Untersuchung der historischen Zusammenhänge zwischen Kant, Reinhold und Fichte wird zeigen, wie sich die Freiheitstheorien und die einschlägigen theoretischen Grundprinzipien dieser drei Denker im Zeitraum von 1781–1798 entwickeln, indem die zwei Nachfolger Kants Freiheitstheorie kritisch rezipieren und modifizieren. Die historische Darstellung des Begriffs der Willensfreiheit, im Hinblick auf seine Beziehung mit der praktischen Vernunft, hat zudem für die Untersu­ chung des Irrationalismus Relevanz, der das postmoderne Zeitalter und die gegenwärtigen Philosophien13 zutiefst prägt. Weder Reinhold noch Fichte ge­ hören zu den Vertretern des Irrationalismus, welche den rationalen Grund des gesamten philosophischen Aufbaus zurückweisen. Selbst Reinhold, der in Hinsicht auf die Freiheitsauffassung als ein radikaler Kant-Kritiker eingeschätzt werden kann, will die Begriffe „Wille“, „Willkür“ und „Freiheit“ nicht kom­ plett von der Vernunft loslösen.14 Aber Reinhold und Fichte äußern aufschluss­

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Abwertung der Herangehensweise Reinholds. Vielmehr wird die Überlegenheit und Stärke seiner Argumentationsmethode gleichfalls untersucht werden. Außerdem werden bei der Analyse von Fichtes und Kants Aufbau der theoretischen Grundlage sowohl die Vorteile als auch die Nachteile von deren Herangehensweise erläutert. Siehe dazu besonders Teil 4.1.2 der Arbeit. Fichtes Überwindung des kantischen Dualismus und sein Entwurf der Wissenschaftsleh­ re werden z. B. durch die Problemstellung geprägt, wie der Bezug des Moralgesetzes auf die Sinnenwelt etabliert werden kann, der innerhalb des kantischen Formalismus schwer zu erklären ist. Dabei wird Fichte von Reinhold geprägt, der bereits vor Fichte auf diese Schwierigkeit in der kantischen Freiheitstheorie aufmerksam machte. Nämlich die existenzialistisch, phänomenologisch und hermeneutisch ausgerichtete Phi­ losophie der Gegenwart. Bei Reinhold wird selbst die Wahl gegen die Forderung der praktischen Vernunft durch Vernunft getroffen (vgl. Briefe II, S. 279, RGS 2/2, S. 191 f.). Diese letztere Vernunft

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reiche Einwände gegen Kants Auffassung der praktischen Vernunft: So machen sie auf die Endlichkeit der menschlichen Vernunft aufmerksam, sprechen der praktischen Vernunft allein die Handlungswirksamkeit auf den Willen ab oder betrachten den sinnlichen Trieb als die Quelle der Handlungskraft des Willens.15 Diese Reflexion auf die, sozusagen, Schattenseiten der Vernunft und die Hinweise auf die Bewegungskraft des unvernünftigen Triebs beim Willen zeigen Ähnlichkeiten mit den Theorien von Schopenhauer und Nietzsche. Sie können für die Erklärung der Entwicklung des Willensbegriffs, der als der zentrale Begriff des Irrationalismus gilt, aufschlussreich sein. Außerdem erweist sich bei diesen kritischen Anmerkungen von Reinhold und Fichte gegenüber Kant ein historischer Zusammenhang zwischen den beiden erstgenannten.16 Schließlich wird der Kernbegriff des Willens in Schopenhauers nicht-rationaler Philosophie von demjenigen Fichtes geprägt.17 Aus all diesen Gründen sind Reinholds und Fichtes kritische Reflexionen auf die Funktion und die Rolle der praktischen Vernunft nicht nur von begrifflicher, sondern auch von histo­ rischer Relevanz für die Analyse des Irrationalismus. Eine historische Darstellung des Freiheitsbegriffs von Kant bis Fichte ist im Hinblick auf die Desiderate der Forschung von Wichtigkeit. Zum einen wird die Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs selten eigens behandelt, zum anderen wird der historische Zusammenhang zwischen den Freiheitstheo­ rien von Reinhold und Fichte nicht hinreichend thematisiert. Ameriks (2000) hat den historischen Zusammenhang der Theorien der deutschen Idealisten im Ausgang von Kant rund um die Thematik von Autonomie und Freiheit vortrefflich dargestellt. Er erforscht zwar den historischen Zusammenhang zwi­ schen Kant, Reinhold und Fichte, aber widmet sich hauptsächlich der zugrun­

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bedeutet allgemeine Reflexion oder Erwägung. Es stellt sich jedoch heraus, dass Reinhold diese bei der Willkür operierende Vernunft nicht verständlich machen kann (siehe meine Ausführungen in Teil 3.2.6). Schon im Versuch hebt Reinhold durch die Einführung des Begriffs „Trieb“ die End­ lichkeit der menschlichen Vernunft hervor (vgl. Versuch, S. 561; RGS 1, S. 355). Diese Einbindung des Triebs wird von Fichte übernommen (vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 142; siehe die Analyse in Teil 4.1.2 der Arbeit). Er behält den Endlichkeitsbezug der Vernunfttätigkeit im Auge und betrachtet die moralische Idee als ein unerreichbares Ziel für die Menschen, weil zur Ausführung des Vernunftgesetzes der Naturtrieb unentbehr­ lich ist. Ferner spricht Reinhold im Gegensatz zu Kant der praktischen Vernunft die Fä­ higkeit ab, das Moralgesetz aufzustellen. Er theoretisiert und naturalisiert die praktische Vernunft und schreibt der Sinnlichkeit die Handlungskraft zu. Fichte theoretisiert und naturalisiert die praktische Vernunft zwar nicht, weist aber ebenfalls darauf hin, dass die praktische Vernunft die Mitwirkung der Sinnlichkeit benötigt, um das Moralgesetz in der Sinnenwelt zu realisieren. Siehe Teil 4.1.2 und Teil 4.2.3 der Arbeit. Zum Zusammenhang zwischen Fichte und Schopenhauer in Bezug auf den Willensbe­ griff siehe Kisner (2016); zum Zusammenhang zwischen Reinhold und Schopenhauer siehe Bondeli (2014). In meiner Arbeit werden diese Zusammenhänge mit Schopenhauer nicht thematisiert. Aber die diesbezügliche historische Verbindung zwischen Reinhold und Fichte wird ausführlich untersucht.

de liegenden Subjektivitätsproblematik, statt der Theorie der Willensfreiheit und der diesbezüglichen Debatte im engeren Sinne. Allison (2013) liefert eine eingehende Diskussion der Freiheitskonzeption, aber legt keine Aufmerksam­ keit auf Reinholds Freiheitstheorie. Nuzzo (1994) lenkt den Fokus auf den Frei­ heitsbegriff und erläutert die Jenenser Rezeption der kantischen Freiheitskon­ zeption aus der Zeit von 1785 bis 1794, wobei sie auch auf Reinhold und Fichte eingeht. Bondeli (2001) studiert die Kant-Reinhold-Kontroverse hinsichtlich der Beziehung zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft und stellt die Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs von Kant, Reinhold, Fichte, Schel­ ling und Hegel dar. Aber diese beiden Studien gehen in ihrer Kürze auf die aus­ führlichen Argumente und die Rezeptionsgeschichte nicht näher ein. In den letzten Jahren zeigt sich ein zunehmendes Forschungsinteresse für Reinholds Freiheitstheorie. So wird die historische Dimension derselben in Lazzari (2004), Zöller (2005) und in vielen Beiträgen des Sammelbandes Wille, Willkür, Freiheit: Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts18 von 2012 ausführlich untersucht. Der Zusammenhang zwischen den Freiheitstheorien von Reinhold und Fichte ist allerdings weiterhin nur wenig erforscht. Eine Ausnahme bildet Ivaldo (2012), der in seinem Beitrag im genannten Sammelband diesen Zusammenhang nebenbei behandelt. Rotta (1997) und Piché (2004) thematisieren diesen historischen Zusammenhang, aber sie fokussieren sich auf Fichtes Kritik an Reinhold und vernachlässigen die Reinhold-Rezeption seitens Fichtes. Die historische Untersuchung von Lazzari (1997) macht auf die konstruktive Rolle aufmerksam, die Reinholds Freiheits­ theorie für die Entwicklung von Fichtes Philosophie in den Jahren 1792–1794 hatte. Allerdings wird darin die reichhaltige und bedeutsame Freiheitstheorie der SL noch nicht untersucht. Analysen der Freiheitstheorie, die Reinholds Rezeption von Kant und Fichtes Rezeption von sowohl Kant als auch Reinhold zentral thematisieren, sind nur in den jüngsten Forschungen von Ware (2019) und Noller (2020) zu finden. Es handelt sich bei diesen Arbeiten allerdings nur um kurze Aufsätze, weshalb sie den sukzessiven Theoriewandel bei Weitem nicht konkret genug darlegen und den Nachweis der Rezeptionsgeschichte nicht erbringen können.

1.2. Forschungsmethode Die Forschungsmethode der vorliegenden Arbeit ist erstens systematisch, zwei­ tens historisch und drittens kritisch. Meine Arbeit ist vor allem systematisch angelegt und konzentriert sich auf die Debatte darüber, ob die Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft zu identifizieren ist. Um diese Debatte zu entfalten, behandle ich die Autonomie18

Heinz/Stolz/Bondeli (Hg.) (2012).

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These und die Zurechenbarkeitsproblematik19 im Rahmen der Moralphiloso­ phie als zwei Ansatzpunkte. Denn die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft beruht auf der Autonomie-These, die besagt, dass das Moralgesetz, das sich die Vernunftwesen selbst geben, alleiniger Bestimmungs­ grund des Willens sein soll. Die Trennung der Willensfreiheit von der prakti­ schen Vernunft stützt sich hauptsächlich auf die Zurechenbarkeitsproblematik. Diese Trennung unternimmt es, einen Handlungsfreiraum sicherzustellen, der nicht vorbestimmt ist, um die gesetzwidrigen Taten dem handelnden Subjekt zuzurechnen. Hinsichtlich der Zurechenbarkeitsproblematik wird die Freiheit als die Wahlfreiheit für oder gegen die Forderung der praktischen Vernunft interpretiert. Sie wird weder durch das Naturgesetz noch durch das Vernunftge­ setz vorbestimmt. Diese zwei Ansatzpunkte sind bei der Kant-Reinhold-Kontro­ verse besonders explizit. Um die systematische Einsicht zu schärfen und zu vertiefen, verbleibe ich jedoch nicht auf dieser Abstraktionsebene. Ich betrachte Bestimmtheit und Un­ bestimmtheit als zwei wesentliche Elemente in der Freiheitsdebatte, die noch bedeutender als die Autonomie-These und die Zurechenbarkeitsproblematik sind. Denn die Spannung in der Freiheitsdebatte besteht nicht nur zwischen der Autonomie-These und der Zurechenbarkeitsproblematik, sondern auch innerhalb des jeweiligen Punktes. In beiden Fällen lässt sich diese Spannung auf den Gegensatz von Bestimmtheit und Unbestimmtheit zurückführen. Dass zwischen der Autonomie-These und der Zurechenbarkeitsproblematik eine Opposition von Bestimmtheit und Unbestimmtheit besteht, ist durch die obi­ gen Erläuterungen naheliegend. Aber die Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist auch jeweils innerhalb der Autonomie-These und innerhalb der Zurechenbarkeitsproblematik aufzufinden. Obwohl die Autono­ mie-These vornehmlich mit der Bestimmtheit zu tun hat, um der Notwendig­ keit und Verbindlichkeit des Gesetzes gerecht zu werden, verbirgt sich darin auch ein impliziter Anspruch der Unbestimmtheit: Nur durch Unbestimmt­ heit vom Moralgesetz kann die autonome Tat der Selbstgesetzgebung durch das Subjekt verständlich werden. Sonst verhält sich das Subjekt dem Gesetz gegenüber leidend. Denn um das Gesetz als durch das Subjekt aufgestellt zu denken, muss das Subjekt als ein dem Gesetz vorhergehender Grund der Gesetzgebung gedacht werden.20 Die Zurechenbarkeitsproblematik betont die 19

20

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Bei diesen zwei Ausdrücke werde ich von Noller (2015) inspiriert, vgl. Noller (2015), S. 24f. Diese Ausdrücke fassen nicht nur die zwei Ansatzpunkte der genannten Studie, sondern auch die allgemeinen roten Faden der aktuellen Diskussionen über die Freiheits­ theorie bei Kant, Reinhold und Fichte, zusammen. Aber meiner Meinung nach kann man mit diesen zwei Ansatzpunkten noch nicht das Wesentliche in der Freiheitsdebatte begreifen. Vgl. SL, GA I/5, S. 59 f., 65, 68. Die Hervorhebung des Moments der Gesetzgebung hinsichtlich der Integration der Unbestimmtheit gehört zu einer der Modifikationen, die Fichte an der kantischen Freiheitstheorie vornimmt. Siehe dazu die Analyse in Teil 4.2.2.

Unbestimmtheit, um die Wahlfreiheit zu sichern; aber um die Zufälligkeit und den Äquilibrismus zu umgehen und um das kausale Verhältnis zwischen dem zu identifizierenden Akteur und der Handlung zu erklären, muss auch sie auf die Bestimmtheit zurückgreifen.21 Durch diese Spannung lassen sich viele Schwierigkeiten in der Freiheitstheo­ rie einordnen. Die Schwierigkeiten in Kants Religionsschrift betreffen beispiels­ weise nicht nur die problematische Vereinigung von „Wille“ und „Willkür“, die sich auf die Spannung zwischen der Autonomie-These und der Zurechen­ barkeitsproblematik bezieht; sondern auch die Verallgemeinerung des Bösen zu einer Grundeigenschaft der menschlichen Willkür, was die Zurechenbarkeits­ problematik in Verlegenheit bringt. Das Problem der Verallgemeinerung des Bösen liegt wesentlich darin, die Bestimmtheit in einen Begriff der Willkürfrei­ heit einzuführen, der gerade als Unbestimmtheit etabliert worden ist.22 Ferner wird Reinholds positive Charakterisierung der Freiheit zur Überwindung des Äquilibrismus, die in der Reinhold-Forschung oft vernachlässigt wird, durch diesen roten Faden von „Unbestimmtheit“ und „Bestimmtheit“ deutlich her­ ausgestellt. Denn Reinhold ist mit einer ähnlichen Verlegenheit konfrontiert wie Kant in seiner Religionsschrift, nämlich die Willkürfreiheit wieder an einen Grund aus dem Subjekt23 anzuknüpfen, nachdem sie durch die Abkop­ pelung von jeglichem Bestimmungsgrund in die Grundlosigkeit und die Unbe­ greiflichkeit geraten ist. Auf eine ähnliche Weise kann Fichtes Zurückführung des Bösen auf die Trägheit problematisiert werden.24 Darüber hinaus zeigt sich durch diese abs­ traktere Fassung der Debatte, dass sich Reinholds Argumente gegen Kant nicht auf die Zurechenbarkeitsproblematik beschränken. Sie betreffen auch die zu­ grunde liegende Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Allgemeinen, die für das Verständnis der Autonomie-These von Relevanz ist. Meine Arbeit liefert ausführliche Erläuterungen zu diesen wenig erforschten Aspekten von Reinholds Philosophie und ihren Wirkungen.25 21

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Dieser Punkt bezieht sich auf einen weniger bekannten Aspekt von Reinholds Freiheits­ theorie, nämlich die positive Bedeutung der Freiheit. Vgl. Briefe II, S. 280, RGS 2/2, S. 192; siehe dazu Teil 3.2.6 der Arbeit. Siehe dazu die Erläuterungen in Teil 2.2.1. Reinhold knüpft die Freiheit weiter an das Vermögen der Person und die Vernunft an. Briefe II, S. 279, RGS 2/2, S. 191. Siehe dazu die Analyse in Teil 3.2.6. Für die konkreten Erläuterungen dazu siehe Teil 4.2.4 der Arbeit. Neben dem Nachweis der Widersprüchlichkeit, in die Kants Identifikation der Willens­ freiheit mit der praktischen Vernunft gerät, wenn sie die Zurechenbarkeit der unmorali­ schen Handlung erklären will, werden von Reinhold noch folgende Argumentationen diskutiert: Reinhold akzentuiert die Bestimmtheit des Moralgesetzes, im Sinne von Zwang und Sklaverei (Versuch, S. 90, 574; RGS 1, S. 55, 363, Briefe II, S. 295; RGS 2/2, S. 200, siehe dazu Teil 3.2.3 ); er unterscheidet zwischen veranlassendem Grund und bestimmendem Grund (Briefe II, S. 280; RGS 2/2, S. 192, siehe dazu Teil 3.2.2 und 3.2.3); er stellt eine Art der Kausalität als Selbstverursachung auf (Briefe II, S. 282f.; RGS 2/2, S. 193, siehe dazu Teil 3.2.6); er führt den Begriff der „Person“ ein und trennt die

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Des Weiteren kann der innige Zusammenhang zwischen der Freiheitstheorie von Fichte und derjenigen von Kant und Reinhold durch den Leitfaden „Be­ stimmtheit-Unbestimmtheit“ gründlich erhellt werden. Wenn man die KantReinhold-Kontroverse in der Freiheitsdebatte ausschließlich in den zwei unter­ schiedlichen Ansatzpunkten von Autonomie-These und Zurechenbarkeitspro­ blematik begründet sieht, muss Fichtes vermittelnde Position zwischen Kant und Reinhold unklar bleiben. Zum einen ist die Zurechenbarkeitsproblematik ein Bestandteil in Fichtes Freiheitstheorie,26 der weniger stark in sie integriert ist, zum anderen scheint Reinholds Einfluss auf Fichte bei dieser Problematik nicht signifikant zu sein. Aus diesem Blickwinkel ist folglich der Zusammen­ hang zwischen Reinhold und Fichte nicht erkennbar. Wenn man die Einsicht vertieft und die Freiheitsdebatte so auffasst, dass sie durch die Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit geprägt ist, wird Fichtes Mittel­ weg zwischen Kant und Reinhold verständlich. Fichte sieht den Vorzug von Reinholds Freiheitskonzeption vornehmlich nicht im Lösungspotenzial für die Zurechenbarkeitsproblematik, sondern im Moment der Unbestimmtheit als Bedingung des Bewusstseins der Freiheit.27 Das Moment der Unbestimmtheit integriert Fichte in verschiedene Aspekte seines Freiheitsbegriffs.28 Durch diese Integration modifiziert er die kantische Freiheitskonzeption, die von der Syn­ these gekennzeichnet ist, die sie zwischen der Freiheit und der Bestimmtheit des Moralgesetzes herstellt. Diese Modifikation vollzieht Fichte einerseits durch die Zuordnung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit zu je verschiedenen Ebenen des Freiheitsbegriffs, anderseits durch die Integration der Instanz der Unbestimmtheit in jede einzelne Ebene – auch in die Ebene, auf der die Freiheit mit der praktischen Vernunft zusammenfällt.29 Die Leitfrage von Be­ stimmtheit und Unbestimmtheit gibt darüber hinaus dem oben genannten Vergleich zwischen Kant, Reinhold und Fichte eine Gestalt, die den Anschluss an die aktuelle Freiheitsdebatte erleichtert – obwohl meine Untersuchung nicht direkt auf die gegenwärtige Freiheitsdebatte eingeht. Somit kann ich diese historische Debatte so darstellen, dass sie für die gegenwärtigen Freiheitstheore­ tiker interessant und zugänglich ist. Trotz der starken systematischen Orientierung hat meine Untersuchung auch eine gewichtige historische Dimension. Diese besteht nicht nur darin, dass die Freiheitstheorie in chronologischer Reihenfolge dargestellt wird, sondern auch darin, dass konkrete Nachweise für die Prägung durch Vorgänger gelie­ fert werden. Diese Nachweise betreffen erstens den historischen Kontext der

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Selbsttätigkeit der Person von der Selbsttätigkeit der Vernunft (Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 192, siehe dazu Teil 3.2.7). Siehe dazu Teil 4.2.4 der Arbeit. Vgl. SL, GA I/5, S. 148 f. Vgl. Teil 4.2 der Arbeit. Siehe die Analyse in Teil 4.2.2 der Arbeit; vgl. dazu Zöller (1995), S. 109.

Abfassung der einschlägigen Werke; zweitens die Rezeption oder Modifikation der allgemeinen theoretischen Grundlage für die spezifische Freiheitstheorie; und drittens den Wandel in der Rezeption der Freiheitstheorie selbst, von anfänglicher Übernahme zu späterer Distanzierung. Weil meine Untersuchung zum einen die systematische Dimension hervorhebt, zum anderen sich auf die Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs fokussiert, werden Nachweise der ersten Art relativ knapp vorgestellt, solche der zweiten Art ausführlicher, aber immer noch sehr begrenzt dargelegt, Nachweise der dritten Art werden dagegen überwiegend und am ausführlichsten behandelt. Der historische Kontext, zum ersten, wird zwar vergleichsweise kursorisch behandelt, aber nicht außer Acht gelassen. Ich mache beispielsweise darauf aufmerksam, dass Kant für den akademischen Werdegang sowohl von Rein­ hold als auch von Fichte eine ausschlaggebende Rolle spielte und dass die beiden anfangs vor allem die Philosophie des großen Vorgängers auszulegen und zu verbreiten suchten; sie begannen ihre Laufbahn als echte Nachfolger Kants. Zur Erörterung von Reinholds Polemik gegen Kant in Briefe II stelle ich Schmids30 historische Wirkung vor. Auf die Rezeption der theoretischen Grundlagen, zum zweiten, wird intensi­ ver eingegangen, weil sie die theoretische Voraussetzung der Freiheitstheorie betrifft und für die Analyse der Freiheitsdebatte von direkter Relevanz ist. Um den kantischen Begriff der Willensfreiheit auszulegen, wird die Kompati­ bilität der Naturnotwendigkeit mit der transzendentalen Freiheit, die durch die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung ermöglicht wird, vor dem Hintergrund der Transzendentalphilosophie und der Vernunftkritik erörtert.31 Bezüglich des mehrstufigen Freiheitsbegriffs bei Fichte werden zum einen seine Ableitungsmethode nach dem Entstehungsprozess des Bewusstseins und zum anderen sein Verständnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit nach dem Denkgesetz des Bewusstseins im Kontext der Wissenschaftslehre ausgelegt.32 Außerdem wird der Einfluss der Entwicklung der theoretischen Grundlage auf die Freiheitskonzeption im engeren Sinn offengelegt. Ich erläu­ tere den kantischen Dualismus, Fichtes Überwindung desselben und die Wir­ kung dieser Änderung auf die Freiheitskonzeption. Ebenfalls wird die Verschie­ bung des Ausgangspunkts von der „Tatsache“ bei Kant und Reinhold zu der „Tathandlung“ bei Fichte thematisiert. Auch meine Beweisführung hinsichtlich des historischen Zusammenhangs zwischen Reinhold und Fichte durch die Erörterung des Begriffs „Trieb“33 lässt sich teilweise hier einordnen. Darüber 30

31 32 33

Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812). Er vertritt den intelligiblen Fatalismus bei der Interpretation der Kantischen Lehre, welcher die Kritik von Reinhold unmittelbar auslöst. Siehe die Ausführungen in Teil 3.2.4. Siehe dazu Teil 2.1.1 der Arbeit. Siehe dazu Teil 4.2, besonders die Einleitung zu demselben. Siehe Teil 4.1.2 der Arbeit.

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hinaus werden Kants und Fichtes klassische und Reinholds unkonventionelle Theorieprofile34 miteinander verglichen, um die Entwicklung der verschiede­ nen Positionen nachvollziehen zu können. Insgesamt jedoch beschränke ich mich bei diesem zweiten Aspekt, der Rezeption theoretischer Grundlagen, auf die Punkte, die für das Freiheitsverständnis unmittelbar relevant sind, da mein Forschungsschwerpunkt auf dem Freiheitsbegriff selbst liegt. Schließlich und zum dritten legt meine historische Forschung den Schwer­ punkt auf den Wandel in der Rezeption der Freiheitstheorie selbst. Um den Wandel der Freiheitsbegriffe genau zu illustrieren und den Rezeptionszusam­ menhang plausibel zu machen, werden die Freiheitstheorien nicht nur in ihren reifen Phasen untersucht –nämlich in den Briefen II bei Reinhold und in der SL bei Fichte –, sondern auch in ihren anfänglichen Versuchen, wie etwa im Versuch bei Reinhold und in der Offenbarungskritik bei Fichte. Denn in diesen ursprünglichen Versuchen sind die Spuren der Einflüsse durch den überragen­ den Vorgänger deutlich. Gleichzeitig ist der Keim der eigenen innovativen Gedanken in diesen Werken bereits angelegt. Bei der Erläuterung der Frei­ heitstheorie in Reinholds Versuch von 1789 werde ich im Einzelnen folgende Punkte behandeln: Reinholds Übereinstimmung mit Kant (Teil 3.1.1), seinen Vorbehalt gegen Kants Freiheitstheorie (Teil 3.1.2), seinen Umbau der Kernar­ gumentation und seine Umdeutung der praktischen Vernunft (Teil 3.1.3) sowie schließlich die Andeutung seiner eigenen neuen Position (Teil 3.1.4). Bei der Untersuchung der Freiheitstheorie in Fichtes Offenbarungskritik werden die Prägung durch Kant (Teil 4.1.1), Reinholds Einfluss (Teil 4.1.2) und Fichtes neue, eigenständige Entwicklung (Teil 4.1.3) ausführlich analysiert. Außerdem dokumentiere ich die Entwicklung von der früheren Position zu der späteren Position bei den einzelnen Autoren. Bei der Auseinandersetzung mit Fichtes Freiheitskonzeption wird die Entwicklung der Freiheitstheorie von der Offen­ barungskritik zur SL dargestellt. Für die historische Forschung über Reinholds Freiheitsbegriff in Briefe II werden die Kontinuität und die Änderung seiner Position im Vergleich zu derjenigen von 1789 aufgezeigt. Auch im Teil zu Kant werden die fünf einschlägigen Werke nach der Zeitreihe separat behandelt, damit die historische Entwicklung seines Denkens klar wird. Seine spätere Freiheitstheorie wird mit der früheren verglichen, und eine Modifikation seiner Position in seiner Religionsschrift (Teil 2.2.1) und die Rückkehr zum früheren Standpunkt in der MS (Teil 2.2.2) werden herausgearbeitet. Nicht zuletzt ist das Verfahren der vorliegenden Untersuchung als kritisch zu charakterisieren. Bei der Ausführung des Vergleichs zwischen Kant, Rein­ 34

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Damit ist nicht gemeint, dass Reinholds theoretische Philosophie unkonventionell ist, sondern dass sich die moralpsychologische Basis und das vom systematischen Aufbau losgelöste Argumentationsverfahren seiner Freiheitstheorie von den gewöhnlichen Be­ gründungswegen unterscheiden, mit denen die typischen deutschen Idealisten ihre Frei­ heitstheorien entwickeln.

hold und Fichte behandle ich keine der Positionen als Vorgabe, die nicht hinterfragt werden könnte, sondern jede Position wird gleichermaßen kritisch überprüft und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile abgewogen. In Bezug auf Kants gesetzkonformes Freiheitskonzept in seinen ethischen Schriften werden einerseits die Vorteile analysiert. Es ist anderen Freiheitskonzepten insofern überlegen, als es den positiven Sinngehalt der Freiheit fruchtbar machen, den Indifferentismus vermeiden und den oben genannten Anspruch der Be­ stimmtheit des Freiheitsbegriffs erfüllen kann. Anderseits werden jedoch die Schwierigkeiten dieses Freiheitskonzeptes benannt. Vor allem kann dieses Frei­ heitskonzept die Willkür im Sinne von Wahlfreiheit, die den unbestimmten Handlungsspielraum verlangt und sich weder mit formellen noch mit materiel­ len Bestimmungsgründen bindet, nicht einordnen.35 Die Freiheitsbegriffe in Kants Religionsschrift, Reinholds Briefe II und dem Teil von Fichtes SL, der die Zurechenbarkeitsproblematik behandelt, besitzen ihren Vorzug darin, die Unbestimmtheit und Wahlfreiheit zu sichern, aber keiner von ihnen entgeht der Unbegreiflichkeit und der Grundlosigkeit. Demnach werden die Verallge­ meinerung des Bösen bei Kant, die Abgrenzung der Wahlfreiheit vom Äquili­ brismus bei Reinhold und die Erklärung des Bösen durch die Trägheit bei Fichte, die sich über diese Unbegreiflichkeit hinwegzusetzen und die Willkür positiv zu bestimmen versuchen, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Eine Vertiefung meiner kritischen Methode besteht in der Auseinander­ setzung mit den grundlegenden Argumentationsverfahren der verschiedenen Philosophen. Ich mache beispielsweise auf die Kantische Methode aufmerksam, die das eigentlich für die theoretische Philosophie gedachte transzendentalphi­ losophische Schema auf das praktische Gebiet überträgt, ohne jedoch die theo­ retische und praktische Philosophie zu vereinigen.36 Bei der Untersuchung der Freiheitstheorie in der Religionsschrift wird in Zweifel gezogen, ob sich Kants dortiges Vorgehen mit den anspruchsvollen kritischen Erfordernissen der Mo­ ralphilosophie verträgt.37 Außerdem wird Reinholds Beweis der Wirklichkeit der Freiheit durch eine Tatsache des Bewusstseins kritisch reflektiert. Hierbei wird eine sorgfältige Bewertung der Moralpsychologie vorgenommen.38 Kritisch ist meine Forschung auch in Hinsicht auf die Erhellung anderer Dunkelheiten bzw. Mehrdeutigkeiten, die in der bisherigen Forschung nicht oder nicht hinreichend geklärt werden. Ich analysiere Kants Ausführungen bezüglich der Vereinigung von „Wille“ und „Willkür“ in der MS und weise auf die Doppeldeutigkeit der Vereinigungsbasis hin,39 durch die die Spannung zwischen „Wille“ und „Willkür“ nicht gelöst, sondern bloß verschoben wird. 35 36 37 38 39

Vgl. Rebentisch/Setton (2011), S. 22. Siehe dazu Teil 2.2.2 der Arbeit. Siehe Teil 2.1.1 der Arbeit. Siehe Teil 2.2.1 der Arbeit. Siehe Teil 3.2.3, 3.2.7 der Arbeit. Siehe dazu Teil 2.2.2 der Arbeit.

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Im Teil zu Reinhold werden neben der oben erwähnten Grundlosigkeit der Freiheit und der zumeist diskutierten moralpsychologischen Basis seiner Frei­ heitstheorie40 auch die Mehrdeutigkeit des Begriffs der praktischen Vernunft und ein geheimes Bündnis zwischen dem Willen und der praktischen Vernunft problematisiert.41 Bei der Auseinandersetzung mit Fichte werden neben seiner Ambivalenz in Bezug auf die Zurechenbarkeitsproblematik auch noch sein Zurückbleiben hinter dem kantischen Rigorismus und seine Umdeutung des Willkürbegriffs im Vergleich zu Reinhold thematisiert.42 Abschließend ist noch der Gebrauch der wichtigsten Termini in dieser Arbeit zu erläutern. Der im Titel verwendete Terminus „Willensfreiheit“ be­ deutet ein Themengebiet oder Theoriekonzept vom volitionalen Vermögen in Hinsicht auf die Autonomie-These und die Zurechenbarkeitsproblematik. Darin sind sowohl die Willensfreiheit im engeren Sinne als auch die Willkürf­ reiheit inbegriffen. Dementsprechend wird „Wille“ im weiteren Sinne benutzt, wenn von allgemeiner Volition die Rede ist. Der Terminus „Willensfreiheit“ wird im engeren Sinn gebraucht, wenn eine Differenzierung zwischen „Wille“ und „Willkür“ (arbitrium liberum) betont wird.43 Dieser zweifache Gebrauch ist aufgrund der langen Tradition leider nicht zu vermeiden. Um kein Miss­ verständnis aufkommen zu lassen, wird der Kontext stets geklärt und der Gebrauch verdeutlicht. Außerdem wird das Begriffspaar „Willkür / Willkürf­ reiheit“ stets von „Wille / Willensfreiheit“ sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne differenziert.44 Darüber hinaus beinhaltet der Haupttitel meiner 40 41 42 43

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22

Siehe dazu Teil 3.2.7 der Arbeit. Siehe dazu Teil 3.2.2 der Arbeit. Siehe dazu Teil 4.2.3 der Arbeit. Obwohl Kant von vornherein die Willkür als arbitrium sensitivum und arbitrium liberum von dem Willen unter dem Moralgesetz unterscheidet (KrV, B562), ist er bekanntlich inkonsequent beim Gebrauch der Termini „Wille“ und „Willkür“. Eine explizite Unter­ scheidung zwischen den beiden findet sich erst in der MS von 1797 (MS, AA VI, S. 213, 226). Reinhold ist auch nicht streng beim Gebrauch der beiden Termini. Er benutzt oft den Ausdruck „Wille“, wo eigentlich nur „Willkür“ gemeint sein kann. Fichte benutzt meistens „Wille“ und „Wollen“ und spricht nur von „Willkür“, wenn die Bedeutung der Wahlfreiheit betont wird (z. B., SL, GA I/5, S. 148 f.). In der Forschungsliteratur wird die Differenzierung zwischen „Wille“ und „Willkür“ expliziert: „Wille“ bezieht sich auf gute, gesetzmäßige Volitionen, während „Willkür“ offene, neutrale Wahlmöglichkeiten impliziert. Vgl. Sidgwick (1888) und Hudson (1991). An einer Stelle der Interpretation der Freiheitstheorie in der MS scheint diese Unterschei­ dung durch Kants Vereinigung von „Wille“ und „Willkür“ unklar zu sein (MS, AA VI, S. 213 f.). Dort betrachtet Kant die „Willkür“ als die exekutive Instanz der praktischen Vernunft, die das vom Willen aufgestellte Moralgesetz ausführt. Die Willkürfreiheit wird von Kant in starkem Bezug auf das Moralgesetz und die Autonomie der praktischen Ver­ nunft definiert. Aber selbst in diesem Kontext ist „Willkür“ von „Wille“ durch die exe­ kutive und regulative Instanz zu differenzieren. Darüber hinaus stelle ich die ungelöste Spannung zwischen „Wille“ und „Willkür“ durch Kants Vereinigung in meiner Analyse heraus. Daher werden die Ausdrücke „Willkür“ und „Wille“ in meinen Ausführungen deutlich voneinander abgrenzt.

Arbeit „Willensfreiheit“ anstelle von „Freiheit“, weil sich meine Studie auf die Freiheitstheorie im praktischen, das meint den moralphilosophischen und handlungstheoretischen, Bereich konzentriert. Die Freiheit als theoretischer Grundsatz oder als ein systematisches Prinzip der Transzendentalphilosophie ist nicht der hauptsächliche Forschungsgegenstand meiner Arbeit, obwohl die­ se Auffassungen von Freiheit mit einbezogen werden, soweit sie als Grundlage für die Freiheitstheorie im engeren Sinne dienen. Aus sprachökonomischen und rhetorischen Gründen werden in meinem Text auch gekürzte Ausdrücke wie „Freiheit“, „Freiheitskonzeption“, „Freiheitstheorie“ und dergleichen ver­ wendet. Dies soll den Leser aber nicht zum Missverständnis verleiten, dass der Forschungsschwerpunkt der Arbeit auf die Untersuchung von Freiheit als theoretischem Grundsatz verlagert würde.

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2. Kants Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft 2.1. Die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft in den Schriften der 1780er Jahre Eine Eigentümlichkeit von Kants Theorie der Willensfreiheit, die sie von vielen gegenwärtigen Freiheitstheorien unterscheidet, besteht in der Zurückweisung des Konzepts der psychologischen Freiheit: […] so sind es immer Bestimmungsgründe der Causalität eines Wesens, so fern sein Dasein in der Zeit bestimmbar ist, mithin unter nothwendig machenden Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subject handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt sind, die also zwar psychologische Freiheit (wenn man ja dieses Wort von einer blos inneren Verkettung der Vorstellungen der Seele brauchen will), aber doch Natur­ nothwendigkeit bei sich führen, mithin keine transscendentale Freiheit übrig lassen, welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß, sie mag nun als Gegenstand des inneren Sinnes blos in der Zeit, oder auch äußeren Sinne im Raume und der Zeit zugleich betrachtet werden, ohne welche Freiheit (in der letzteren eigentlichen Bedeutung), die allein a priori praktisch ist, kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben möglich ist.1

Kant hinterfragt die theoretische Basis der psychologischen Freiheit. Bei der psychologischen Freiheit basiert die Unterscheidung zwischen der Fremdbe­ stimmung und der Selbstbestimmung darauf, ob die Bestimmungsgründe einer Handlung außer dem Subjekt oder im Subjekt liegen, ob sie in der Vorstel­ lung oder in körperlicher Bewegung bestehen und ob sie bloßer Instinkt oder durch Reflexion modifiziert sind.2 Diese Unterscheidung hält Kant für unangemessen. Ihm zufolge ist die Herrschaft der Fremdbestimmung noch mächtiger und noch subtiler als alles, was sich unmittelbar in unserer Psyche und im gemeinen Bewusstsein empfinden lässt. Ein subjektiver, innerlicher Bestimmungsgrund oder eine vermeintlich willentliche Vorstellung könnte durch einen anderen empirischen Grund determiniert werden, wodurch die Selbstbestimmung bzw. die Freiheit eine bloße Täuschung wäre. Um das Verständnis der Freiheit zu erlangen, verlässt sich Kant nicht auf psychologische Empfindungen oder das gemeine Bewusstsein, sondern nur auf die tiefere philosophische Fundierung. Dementsprechend geht er nicht von der Analyse des Phänomens der Spontaneität oder des Wollens aus, sondern von einer transzendentalphilosophischen Untersuchung des Wirkungsumfangs der Naturkausalität. Auf dieser Basis leitet er die Nicht-Widersprüchlichkeit der transzendentalen Freiheit ab. Außerdem unternimmt Kant die Analyse der 1 2

KpV, AA V, S. 96 f. Vgl. KpV, AA V, S. 96.

Freiheit nicht bloß aus Interesse an der theoretischen Spekulation. Wie das obi­ ge Zitat zeigt, dient für ihn die Theorie der Freiheit dem praktischen Zweck, das moralische Gesetz und die Zurechnung gemäß demselben zu begründen. Folglich ist die Freiheitskonzeption bei Kant mit einer Moralmetaphysik ver­ woben. Darüber hinaus behandelt Kant die Freiheitstheorie im Rahmen seiner Vernunftkritik, wodurch die Möglichkeit ebenso wie die Wirklichkeit der Frei­ heit einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Damit legt Kant eine feste, systematisch tief verankerte, theoretische Grundlage für seine Freiheitstheorie. Auf dieser theoretischen Grundlage führt Kant die Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft zusammen. Dies vollzieht er hauptsächlich in drei Wer­ ken der 1780er-Jahre, nämlich in der KrV, der GMS und der KpV; jedes der Werke markiert jeweils einen von drei Schritten auf dem Weg der besag­ ten Zusammenführung. Die vorliegende Untersuchung veranschaulicht diese schrittweise Identifikation der Willensfreiheit mit praktischer Vernunft in den genannten Schriften. Es wird gezeigt, dass Kant die Freiheit dem Wesen nach mit der Bestimmtheit des Moralgesetzes vereinigt. In Teil 2.1.1 erörtere ich Kants erste Konzeption der Freiheit als eine Art der Kausalität. In der KrV beweist Kant die Nicht-Widersprüchlichkeit der Freiheit durch die Unterschei­ dung des Dings an sich von der Erscheinung. Er konzipiert die Freiheit als eine intelligible Ursache, die über „den Charakter des Dinges an sich“3 verfügt. In diesem Kontext bringt er das „Sollen“ statt des „Wollens“, das er als empirisch betrachtet, mit der Freiheit in Verbindung. Außerdem führt er die Willkür und die Zurechenbarkeitsproblematik auf das Moment der Kausalität durch Vernunft zurück. In Teil 2.1.2 wird dargestellt, wie Kant in der GMS die Kausa­ lität der intelligiblen Ursache in die apriorische Kausalität des Moralgesetzes transformiert. Für diese Transformation ist eine Übertragung der transzenden­ talphilosophischen Methode auf den praktischen Bereich am Werk. Kant syn­ thetisiert die Freiheit mit der Allgemeingültigkeit und der Notwendigkeit des Moralgesetzes. Dabei begründet er die Kompatibilität der Freiheit mit der Be­ stimmtheit des Moralgesetzes auf der Ebene der Moralmetaphysik. In Teil 2.1.3 wird gezeigt, wie Kant in der KpV die Identifikation von Willensfreiheit und praktischer Vernunft vollendet, indem er die Praktizität des Moralgesetzes beweist. In der KpV wird die Freiheit von vornherein mit der Bestimmtheit zusammengeführt durch die Leitfrage, ob das Moralgesetz der hinreichende Bestimmungsgrund des Willens ist. Kant bejaht diese Frage, indem er die theo­ retische Verlegenheit beiseitesetzt und die Synthese von Vernunftgesetz und Sinnlichkeit durch den Primat des Praktischen rechtfertigt.

3

KrV, B567.

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2.1.1. Die intelligible Ursache und die Willkür in der Kritik der reinen Vernunft Kants gesamte Lehre der Willensfreiheit hat einen rein theoretischen Ursprung. Sie stammt von einem kosmologischen Lehrstück in der KrV ab. Als trans­ zendentale Idee des Vermögens, „eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von Selbst anzufangen“,4 ist die Freiheit zunächst ein Produkt der spekulativen Vernunft, wobei die Vernunft allerdings in eine Antinomie gerät. In der Auflösung dieser Antinomie wird die Freiheit durch die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung gerettet: Das Ding an sich reißt sich von der Naturkausalität los, indem es die Grenze der Erscheinung sprengt, die als der Geltungsbereich der Kausalitätskategorie gilt. Dementsprechend wird die Freiheit als Unabhängigkeit von der Erscheinung definiert und mit einer Ursache verknüpft, die über „den Charakter des Dings an sich“5 verfügt. In diesem Zusammenhang konzipiert Kant die Freiheit als die intelligible Ursache, die selbst keine Erscheinung ist, aber auf die Erscheinung wirkt. Die Vernunft als dasjenige Vermögen, die Idee durch völlige Spontaneität hervor­ zubringen, lässt sich zunächst nicht der Erscheinung zuordnen. Ferner lässt sich der intelligiblen Handlung der Vernunft der Charakter eines Dings an sich beilegen, und die sinnliche Wirkung einer solchen Handlung lässt sich an den empirischen Charakter des handelnden Wesens anschließen. Dadurch verknüpft Kant die Vernunft mit der Freiheit. Aber als causa noumenon des handelnden Subjekts bezieht sich die Vernunft nicht nur auf die theoretische Spontaneität, sondern auch auf das Vermögen, das „Sollen“, also die Imperative des Handelns, vorzuschreiben. Dass die Vernunft als eine intelligible Ursache des Dings an sich gilt, lässt sich innerhalb des theoretischen Bereichs nicht erklären, weil es wesentlich das Praktische betrifft. Wenn auch die ursprüngliche Fragestellung nach der Freiheit in der KrV rein theoretisch ist, so ist es doch nicht ihre Antwort. Das Ding an sich als ein Grenzbegriff der Erkenntnistheorie kann die Freiheit nicht weiter fundie­ ren, sondern lediglich ihre Denkbarkeit begründen. Kant verlagert die Freiheit in den praktischen Bereich, bevor er weitere ihrer Begriffsbestimmungen auf­ deckt. Diese Bereichsaufteilung ist durch den Unterschied zwischen transzen­ dentaler und praktischer Freiheit gekennzeichnet. Ein Bruch zwischen den beiden wird von Kant ausdrücklich konstatiert: Die transzendentale Freiheit sei problematisch, und die praktische Freiheit vielmehr auf sich selbst angewie­ sen.6 Die Brücke zwischen den beiden Freiheitsverständnissen scheint schwach 4 5 6

KrV, B476. KrV, B567. KrV, B829f.: „Und da ist denn zuerst anzumerken, daß ich mich für jetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstande bedienen werde und den in transscendentaler Bedeutung, welcher nicht als Erklärungsgrund der Erscheinung empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem für die Vernunft ist, hier als oben abgethan bei Seite setze.“

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zu sein. Denn die transzendentale Freiheit vermag nur die logische Möglichkeit der praktischen zu begründen. Es lässt sich fragen, inwieweit Kant die Freiheit durch das Spezifikum des praktischen Bereichs anreichert und privilegiert, und auch, wie dies ihre Beziehung mit der praktischen Vernunft beeinflusst. Die Grenze zwischen theoretischem und praktischem Bereich ist in der KrV verwischt und nicht eindeutig, vielmehr beschäftigt sich die Arbeit in der KrV bezüglich der Freiheit mit einem Übergang der beiden. Kant scheint sogar dem theoretischen Bereich den Vorzug zu geben. In der „Auflösung“7 behauptet er, dass die Freiheit im Rahmen des Transzendentalen betrachtet werde,8 wenn­ gleich ihre Diskussion über die Erkenntnistheorie hinausgehe und sich auf die Bestimmung der Willkür beziehe. Im „Kanon“9 rückt Kant zwar die prakti­ schen Themen ausdrücklich ins Zentrum, dennoch versucht er, möglichst nahe an der Transzendentalphilosophie zu bleiben: Es ist aber Behutsamkeit nöthig, um, da wir unser Augenmerk auf einen Gegenstand werfen, der der transscendentalen Philosophie fremd ist, nicht in Episoden auszu­ schweifen und die Einheit des Systems zu verletzen, andererseits auch, um, indem man von seinem neuen Stoffe zu wenig sagt, es an Deutlichkeit oder Überzeugung nicht fehlen zu lassen. Ich hoffe beides dadurch zu leisten, daß ich mich so nahe als möglich am Transscendentalen halte, und das, was etwa hierbei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite setze.10

Ausdrücklich kommt diese Methodologie zwar nur im Kontext der zum prakti­ schen Bereich überleitenden Bemerkungen vor, zur Anwendung bringt er sie jedoch auch an vielen anderen Stellen. Sie findet sich grundsätzlich in der GMS und teilweise auch in der KpV, wie ich unten weiter ausführen werde.11 Gesetzt, dass die materiellen Aspekte des Praktischen keine Rolle spielen, wie lässt sich der „Charakter des Dings an sich“ im praktischen Bereich auffinden? Wie schließt ihn Kant mit der Vernunft zusammen? Ein Überblick über den Unterschied zwischen „Sein“, „Sollen“ und „Wol­ len“ in der „Auflösung“ hilft uns, Kants wesentliche Grenzsetzung zwischen 7 8 9 10 11

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Der Abschnitt „Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen“, KrV, B560–586. KrV, B586. Das Hauptstück „Der Kanon der reinen Vernunft“, in dieser Arbeit wird hauptsächlich über den ersten Abschnitt davon (KrV, B825–832) diskutiert. KrV, B829. Die Begründung der Methode ist kurz und bündig. Es gelingt Kant an dieser Stelle gleichwohl noch nicht, die methodische Übertragung der Transzendentalphilosophie auf das Praktische ausführlich darzustellen, da die praktische Untersuchung fehlt. Dies ist erst in der GMS möglich. Aber es ist zu beachten, dass diese transzendentale Methode im praktischen Bereich bei Kant nicht durchgängig angewendet wird. Schon in der KpV löst sich die Kantische Lehre zum Beweis der Praktizität der Vernunft etwas davon; siehe dazu die Ausführung in Teil 2.1.3. Bei Kant bleibt eine gründliche Rechtfertigung dieser methodischen Übertragung vom Theoretischen auf das Praktische aus, denn Kant vollzieht keine Vereinheitlichung der beiden Bereiche. Die letztere Aufgabe wird von Fichte übernommen und ausgeführt; siehe dazu die Einleitung zu Teil 4.2 und Teil 4.2.3.

theoretischem und praktischem Bereich zu begreifen. Kant behauptet, dass es sich in der Natur nur um das Erkennen von „Sein“ handele. Identifizierte man die Natur mit dem Erkenntnisbereich des „Seins“, so gingen die praktischen Begriffe des „Wollens“12 über die Natur hinaus, weil das Handeln sich von Wissen unterscheidet. Wenn sich die Grenze der Erscheinung durch diese Trennung überschreiten ließe, käme die Freiheit mit dem „Wollen“ oder der Handlung in Verbindung und bände sich nicht unauflöslich an die Vernunft. Aber an diesem Punkt stellt Kant das „Sollen“ sowohl dem „Sein“ als auch dem „Wollen“ gegenüber. Er schließt das „Wollen“ in die Natur ein, und die Privilegierung des Praktischen gibt er allein dem „Sollen“, welches durch die Vernunft und deren reine Spontaneität gegeben wird. Den Einschluss des Wollens in die Natur begründet Kant damit, dass der Grund einer Handlung immer in der Erscheinung liege. Kein „Charakter des Dings an sich“ wird von Kant dem „Wollen“ eingeräumt, wenn die Handlung mit der Erscheinung in Berührung kommt. Ein wesentlicher Unterschied zur Erscheinung wird nicht anerkannt, wenn auch sie außer der Vorstellungskraft steht.13 Diese Alles-oder-Nichts-Regel liegt der Identifikation der Willensfrei­ heit mit der Vernunft zugrunde. In dieser Hinsicht ist die praktische Freiheit viel abhängiger von der transzendentalen Freiheit, als Kant es zum Ausdruck bringt, weil die letztere nicht nur die Möglichkeit der ersteren begründet, sondern auch den Rigorismus in den praktischen Bereich überträgt. Kant reduziert das Wollen auf einen Naturmechanismus, indem er „Wol­ len“ und „Sein“ in eine Klasse einordnet. Dies führt zur Schwierigkeit, die Zurechenbarkeit der vom Wollen getriebenen Handlung zu erklären, weil der Naturmechanismus keine Verantwortung kennt. Dies gilt als einer der meist­ diskutierten Streitpunkte in Kants Freiheitslehre, den später auch Reinhold deutlich hervorheben wird, was wiederum einen großen Wandel in Kants spä­ terer Freiheitstheorie veranlassen wird. Diese Schwierigkeit erwartet Kant am wenigsten. Schon am Anfang seines Projekts bezüglich der Freiheit, in der Antinomie der KrV, zielt er darauf ab, den „Grund der Imputabilität“14 zu erklären, den er als den Stein des Anstoßes für die Philosophie betrachtet. Er verzichtet auf den psychologischen Inhalt der Willensfreiheit, den er mittels des „Wollens“ aussondert, zugunsten dieses Ziels.15 Wenn das „Wollen“ Kant zufolge unqualifiziert ist, wie kann dann das „Sollen“ bzw. die praktische Vernunft als frei angesehen werden? 12

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Kant behauptet, dass die Gegenstände der Lust oder Unlust, ebenso wie das Gefühl, praktische Begriffe seien, die daher außerhalb der Erkenntnistheorie lägen; vgl. KrV, B829. Kant vertritt nicht nur einen physischen, sondern auch einen psychologischen Determi­ nismus; vgl. Allison (1990), S. 31. KrV, B476. KrV, B476.

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Wie oben dargelegt, beweist Kant durch die intelligible Ursache, dass die Vernunft auf die Erscheinung (Handlung) kausal einwirkt und dass wir immer unter der Macht der Vernunft stehen. Dass die Vernunftkraft dem Menschen zugänglich ist, bedeutet nicht, dass das Vernunftgesetz notwendig verwirklicht wird, sondern dass es hätte verwirklicht werden können.16 Die Verantwortung wird dem handelnden Subjekt zugerechnet, wenn das Gesetz, das hätte ver­ wirklicht werden können, nicht realisiert wird. Kant versteht dieses „Hättenkönnen“ nicht als die Wahlfreiheit, anders zu handeln, sondern als einen Standpunkt, anders zu sehen: Wir können uns nämlich nicht nur als Naturwe­ sen, sondern ebenso als Vernunftwesen ansehen. Kant sieht die Aufgabe der Moralität darin, die Kausalität der Vernunft zu finden als eben dieses „Hättenkönnen“ und ihr allein das Prädikat der Freiheit beizulegen. Die Kausalität der Vernunft sucht er in moralischen Prinzipien. Mit der Erklärung der Zurechenbarkeit zielt Kant nicht darauf ab, ein Ver­ ständnis der Freiheit als einer moralneutralen Willkürlichkeit zu postulieren. Der sittliche Urzustand des Menschen ist Kant zufolge weder die Abwesenheit jeglicher Bestimmung noch die Drohung des Zwangs beider Bestimmungen von Natur und Vernunft, sondern der Zwang der Natur allein.17 Diesem Ver­ ständnis liegt auch Kants Ausgangspunkt im theoretischen Bereich zugrunde, wo die Erfahrung von der Naturkausalität besetzt wird, die im praktischen Bereich als das „Wollen“ und der „Antrieb“ verstanden wird. In dieser Hinsicht bedeutet die Suche nach der Kausalität der Vernunft, nämlich die Festlegung der Prinzipien der Moralität, zugleich die Einführung von Alternativen bzw. von Unbestimmtheit, um die Zurechenbarkeit zu erklären. Kant reduziert die zwei moralischen Aufgaben auf eine einzige, nämlich darauf, die Prinzipien der Moralität zu setzen. Dementsprechend unterscheidet er bei der Bestimmung des Freiheitsbegriffs die Unbestimmtheit, die durch die Kausalität der Vernunft ermöglicht wird, nicht von der Kausalität der Vernunft selbst, die er als das Wesen der Freiheit betrachtet. Aufgrund dieser Überzeugung fokussiert sich Kant darauf, die moralischen Prinzipien als die Kausalität der Freiheit zu bestimmen. Dabei verlässt er sich auf das „Sollen“ allein, sieht vom „Wollen“ ab. Er bedient sich der Metho­ de, sich „so nahe als möglich am Transscendentalen“ zu halten,18 welche er

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Vgl. KrV, B583. Vgl. Religionsschrift, B69: „Denn so früh wir auch auf unseren sittlichen Zustand unsere Aufmerksamkeit richten mögen, so finden wir: daß mit ihm es nicht mehr res integra ist, sondern daß wir davon anfangen müssen, das Böse, was schon Platz genommen hat […] aus seinem Besitz zu vertreiben […].“ Wenn das Böse hier auch etwas anderes als einen Naturzwang bedeutet, so lässt sich doch erschließen, dass die Moralität keine Vorgabe ist, sondern nur durch aktive Tätigkeit zu erreichen ist. Im Kontext der KrV kann das so verstanden werden, dass die Natur den Platz eingenommen hat. KrV, B829.

der Aufgabe der Bestimmung der Moralität anpasst.19 Gemäß dieser Methode trennt er im „Kanon“ die praktische Vernunft vom Antrieb – das „Sollen“ vom „Wollen“ – dadurch, dass die Vernunft von der Sinnlichkeit unabhängig ist, während der Antrieb von derselben bestimmt wird: Eine Willkür nämlich ist bloß thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch bestimmt werden kann. Diejenige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür (arbi­ trium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird praktisch genannt.20

Die Verbindung der Freiheit mit der Vernunft wird im Bisherigen klar darge­ stellt. Die Gegenüberstellung zwischen praktischer Vernunft und Antrieb als eine zwischen Übersinnlichkeit und Sinnlichkeit kann man nach der Struktur der Transzendentalphilosophie leicht begreifen. Die Vernunft in ihrem prakti­ schen Gebrauch scheint letztendlich die Befugnis zu haben, den „Charakter des Dings an sich“ zu aktivieren. Das ist allerdings noch nicht das Ende der Geschichte. Die Voraussetzung für die Vernunft, um als frei betrachtet zu werden, ist viel mehr als die Fähigkeit, Ideen selbstständig zu erzeugen. Diese Fähigkeit besitzt die Vernunft bereits in ihrem spekulativen Gebrauch. Wenn vom Gegenteil der Antriebe bei der Bestimmung der Willkür die Rede ist, gewährleistet die Übersinnlichkeit der Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch nicht zugleich die Übersinnlichkeit in ihrem praktischen Gebrauch. Denn die technisch-prak­ tische Vernunft könnte im Dienst der Sinnlichkeit stehen. Der „Charakter des Dings an sich“ der Vernunft benötigt einen stärkeren Beweis im praktischen Bereich. Darüber hinaus ist der Beweis für die Kausalität der Vernunft in Bezug auf die Erscheinung, sofern es um die Moralität geht, noch zu liefern. Diese Kausalität erörtert Kant in der GMS und der KpV. Aber in der KrV hat Kant bereits die Vernunft mit der Freiheit verknüpft und die Grundstruktur für seine weitere Diskussion gelegt. Es ist merkwürdig, dass Kant noch eine andere Bedeutung der praktischen Freiheit in der KrV einführt, die typischerweise als „Willkür“ (im Unterschied zum „Willen“) bezeichnet wird. Diese Definition steht ganz am Anfang der „Auflösung“ der Antinomie, gleich nach Kants These, dass die transzendentale Freiheit viele Schwierigkeiten für die praktische Freiheit ausmache: Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie heißt thierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch necessitiert werden kann. Die menschliche 19 20

Diese Methode wird in der GMS sehr klar ausgeführt, was im folgenden Abschnitt erklärt wird. KrV, B830.

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Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Ver­ mögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.21

Dem ist zu entnehmen, dass sich die Freiheit der Willkür als arbitrium sensiti­ vum nicht ausschließlich auf die Vernunft bezieht. Es fehlen jedoch weitere Textstellen, um die systematische Grundlage der „Willkür“ und ihre Verbin­ dung mit dem Willen zu erklären; weder in der KrV noch in der GMS oder der KpV wird man fündig. Die Willkür gilt daher als eine Nebenstrecke in Kants früher praktischer Philosophie. Ausgehend von der Definition, kann man doch einsehen, dass sie auf der negativen Bedeutung der Freiheit basiert, und zwar auf der Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben. Wenn sie selbst noch „sensitivum“ ist, ist diese Unabhängigkeit freilich nicht vollständig. Es lässt sich vorstellen, dass eine gänzlich andere Grenze zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit im praktischen Bereich gesetzt werden könnte, wenn der anspruchsvolle Maßstab der Transzendentalphilosophie nicht auf den prakti­ schen Bereich übertragen würde. Wäre das der Fall, würde die Freiheit jedoch nicht ausschließlich mit der Vernunft verknüpft. Der Zusammenhang zwischen transzendentaler Freiheit und praktischer Freiheit bliebe dann so schwach, dass die erstere nur die Denkbarkeit der letzteren begründete. Kant hat in der KrV die Willkür nicht als Wahlfreiheit oder Gleichgültig­ keit22 ausgelegt, auch wenn man anscheinend aus der Unabhängigkeit der Will­ kür vom Antrieb auf die Wahlfreiheit schließen kann. Vor allem findet sich in der KrV kein Beleg dafür, dass Kant die Unabhängigkeit der Willkür von der Vernunft genauso betonte wie ihre Unabhängigkeit von der Natur. Die Willkür weist nur auf eine einseitige Richtung, nämlich diese Unabhängigkeit vom An­ trieb. In dieser Hinsicht kann die Willkür als eine Voraussetzung des „Willens“ betrachtet werden, und insofern ist sie moralisch nicht völlig gleichgültig. Der Hauptunterschied zwischen beiden liegt darin, wie weit Kant die Definition der praktischen Freiheit innerhalb der Schranken seiner systematischen Metho­ de der Transzendentalphilosophie ableitet. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Willkür einem anderen Ansatz von Kant entspricht. Allerdings gilt sie als der Keim für den Willkürbegriff seiner späten Freiheitstheorie, die als Wahlfreiheit interpretiert werden kann.

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KrV, B561f. Sidgwick stellt zum Beispiel die Willkür als “capricious freedom” dem Willen als „ratio­ nal freedom” gegenüber; vgl. Sidgwick (1888), S. 407 f.

2.1.2. Die apriorische Kausalität des Moralgesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In der GMS kommt die Methode deutlich zum Ausdruck, die in der KrV noch halb verborgen ist. Die Ausführungen konzentrieren sich zunächst auf den Willen, nicht auf die Freiheit. Aber beide erweisen sich als gleichbedeutend, weil Kant im dritten Abschnitt den Willen mit der positiven Bedeutung der Freiheit gleichsetzt. Die Ausführungen der GMS bestimmen den praktischen Gebrauch der Vernunft weiter, verknüpfen ihn mit der Freiheit und gelten als eine Fortsetzung des Projekts, das in der KrV seinen Anfang nimmt. Jene Aufgabe, die Kant sich schon in der KrV hoffnungsvoll gestellt hat, liegt im Zentrum der GMS, nämlich „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“.23 Die Methode für die Moralmetaphysik ist dabei mit der Methode der Transzendentalphilosophie eng verwandt. Die Methode ist von solcher Bedeutung, dass ihre Erklärung über eine Hälfte der GMS, die Vorrede und zwei Abschnitte, in Anspruch nimmt. Genau wie in der Transzendentalphilosophie versucht Kant auch in der Moralphilosophie den rationalen Teil vom empirischen Teil abzusondern, wo­ durch das moralische Gesetz des Willens vom Antrieb, wodurch „Sollen“ von „Wollen“ getrennt wird. Moralphilosophie sollte sich nach Kant ebenfalls nur mit den apriorischen Begriffen der reinen Vernunft beschäftigen.24 Sonst wäre sie nicht wissenschaftlich und könnte nur als allgemeine sittliche Weisheit betrachtet werden. Darüber hinaus verletzt die Vermengung der moralischen Prinzipien, die rein rational sind, mit den Prinzipien der Selbstliebe, die empi­ risch und von der Natur gegeben sind, die Allgemeingültigkeit des moralischen Gesetzes, was hinter den Erfordernissen der Moralmetaphysik zurückbleibt. Kant hält das Reine und das Formale für die Kriterien der moralischen Prinzipi­ en, deren Entsprechung er als den „Willen“ konzipiert. Durch die Präzisierung der Methode weist die GMS einige wesentliche Mo­ difikationen und Neugestaltungen auf im Vergleich zur KrV, obwohl die GMS dem Leitfaden der KrV folgt. Zunächst wird nicht nur das „Wollen“, sondern auch die Handlung als Empirisches vom „Willen“ bzw. von der positiven Frei­ heit deutlich abgesondert: Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Principien eines möglichen rei­ nen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und Bedingungen des mensch­ lichen Wollens überhaupt, welche größtentheils aus der Psychologie geschöpft wer­ den.25

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GMS, AA IV, S. 392. GMS, AA IV, S. 389. GMS, AA IV, S. 390.

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Während Kant in der KrV die Kausalität der Vernunft auch durch deren Wir­ kung auf die Handlung erklärt, trennt er in der GMS die Aufstellung der moralischen Prinzipien stets von der Handlung ab. Er fokussiert lediglich auf die Prinzipien. Diese Vorgehensweise begründet er im moralischen Kontext dadurch, dass der Wert der Moralität in der Intention allein, nämlich im Willen, nicht in der Handlung liegt. Die Gültigkeit des moralischen Gesetzes besteht unabhängig davon, ob es in Handlungen verwirklicht wird. Darüber hinaus kann die Handlung trügerisch sein, wenn jemand nicht aus Pflicht, sondern lediglich der Pflicht gemäß handelt. Für Kant hat allein die Handlung aus Pflicht moralischen Wert. Durch diese Absonderung wird die praktische Freiheit ausschließlich durch den „Willen“ erklärt. Des Weiteren wird die Kausalität der Freiheit mit dem moralischen Gesetz identifiziert, was den Kern von Kants praktischer Philosophie ausmacht. Kant verzichtet auf den Ansatz aus der KrV, die Kausalität der Freiheit durch ihre Wirksamkeit auf die Erscheinung zu erklären. Die ursprüngliche transzenden­ tale Freiheit, das ist die kosmologische Freiheit, entspricht diesem Ansatz. Dabei werden das Ding an sich und die Erscheinung in eine gleiche kausale Kette gesetzt. In der GMS verlagert Kant die Kausalität der Freiheit auf den rationalen Bereich allein, wo die Kausalität durch das Gesetz a priori erörtert wird. Die Neugestaltung besteht darin, dass es sich bei der Kausalität der Frei­ heit in dieser Hinsicht nicht mehr um eine causa noumenon handelt, sondern um die Vorschrift des apriorischen Gesetzes. Im ersten Fall wird die Vernunft als eine Ursache sowie als eine Entsprechung des Dings an sich betrachtet, im zweiten Fall als ein transzendentales Gemütsvermögen, das gesetzgebend ist. Durch Absehung vom Wollen und von der Handlung einerseits und durch die Fokussierung der Prinzipien a priori andererseits reduziert Kant die dynamische praktische Tätigkeit auf eine statische Gesetzgebung, die dem Erkenntnisbe­ reich sehr ähnlich ist. Wie werden sich diese Modifikationen in der Beziehung zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft ausprägen? Zuallererst fällt die Identifikation beider sehr deutlich auf. Kant knüpft den Willen an die Vernunft mit der Begründung, dass allein die Vernunft das mora­ lische Gesetz vorstellen kann.26 Er identifiziert die praktische Vernunft mit dem

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GMS, AA IV, S. 410f.: „Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von empiri­ schen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Triebfedern. die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister wer­ den kann; an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen Bewegursachen, die sich unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten können, schwankend machen muß.“

Willen: „[S]o ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft.“27 Dieser Iden­ tifikation liegt zugrunde, dass sowohl der praktische Gebrauch der Vernunft als auch die Definition des Willens bzw. der praktischen Freiheit ausschließlich in der Festlegung der moralischen Prinzipien bestehen. Diese Identifikation lässt sich nicht vollständig begreifen, bevor die Gültigkeit des Moralgesetzes und der praktische Gebrauch der Vernunft erklärt sind. Wenn die praktische Vernunft den Boden der Erfahrung ganz verlässt, ist die praktische Philosophie dafür zuständig, den praktischen Gebrauch der Vernunft zu rechtfertigen. Der Zweifel, dass die praktische Vernunft nur ein Hirngespinst sei und dass die Moralphilosophie in praktischen Dogmatismus geraten könnte, muss beseitigt werden. Kant wirft deswegen die Frage auf: Wie kann die Vernunft praktisch sein? Seine Frage ist doppeldeutig, und er antwortet auf zwei verschiedene Wei­ sen. Eine davon ist fruchtbar, die andere hingegen nicht.28 Die unausgesproche­ ne Variante der Frage ist, wie das moralische Gesetz vorschreibend ist. Diese Frage beantwortet Kant durch die kategorischen Imperative und die Autono­ mie. Die andere Variante drückt Kant am Ende der Schrift aus: Wie kann das formale moralische Gesetz die Triebfeder abgeben und ein Interesse bewirken? Die Antwort auf letztere Frage ist der menschlichen Vernunft unzugänglich. Der ersten Interpretation gemäß beweist Kant die Gültigkeit der moralischen Prinzipien durch eine Verallgemeinerung: „[H]andle nur nach derjenigen Ma­ xime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“29 O’Neill (1989) fasst die Verallgemeinerung des moralischen Gesetzes als die Selbstkritik der Vernunft auf. Diese Vernunftkritik gewährleistet, dass das Vernunftgesetz für alle Vernunftwesen gelten. Damit gewinnt die Vernunft ihre Autorität durch die Selbstdisziplinierung.30 Dem Menschen als sinnlich-af­ fiziertem Vernunftwesen stehen die allgemeingültigen Vernunftgesetze als kate­ gorischer Imperativ bzw. als Pflicht gegenüber. In dieser Hinsicht impliziert die Gültigkeit des Gesetzes für die Menschen einen Zwang der Vernunft. Dieser Zwang verdrängt jedoch nach Kant die Freiheit nicht, insofern die Menschen durch ihre eigene Vernunft als Gesetzgeber betrachtet werden.31 Der Formalis­ mus der GMS ermöglicht nur, die Freiheit mit der Gesetzgebung und deren Be­ zug zu den Menschen zu erklären, insofern diese als Vernunftwesen abstrahiert werden. Der kategorische Imperativ lässt sich in seinem System nicht durch 27 28 29 30 31

GMS, AA IV, S. 413. Walker (1989), S. 111. GMS, AA IV, S. 421. O’Neill (1989), S. 288–291. GMS, AA IV, S. 448: „Sie (Die Vernunft, S. W.) muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen. Folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen beigelegt werden.“

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seine Berührung mit der Endlichkeit des Menschen als Zwang, sondern durch den Bezug auf das gesetzgebende Vermögen des Menschen als frei erfassen, weil diese Endlichkeit im Rahmen des formalistischen Systems keinen Platz hat. Wenn Kant die Endlichkeit der Menschen durch die Unterscheidung zwischen dem „unvollkommenen Willen“ und dem „vollkommenen Willen“ in Betracht zieht, ist er doch nicht so weit gegangen, die Spannung explizit zu thematisie­ ren, die im Zwang der Vernunft liegt. Abgesehen davon ist der Begriff der Frei­ heit sehr fruchtbar; die Freiheit wird mit dem Gesetz verbunden: „[A]lso ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“.32 Die Vernunft ist insofern praktisch und mit der Freiheit gleichzusetzen, als sie allgemeingültige moralische Gesetze für alle Menschen als Vernunftwesen aufstellt. Wenn von der Komplexität des menschlichen Wesens nicht systematisch ab­ strahiert wird, sodass also die Menschen nicht bloß als Vernunftwesen, sondern als Vernunft-Sinnen-Wesen betrachtet werden, fällt die Fragestellung anders aus. Wenn die praktische Vernunft nicht nur die Gesetze durch reine Vernunft aufstellt, in der Form abstrakter Urteilsprinzipien der Moral, sondern auch ihre Anwendbarkeit auf die Menschen als Vernunft-Sinnen-Wesen impliziert, kann die oben erläuterte Systematik der Moralmetaphysik keinen zufriedenstellen­ den Beweis für die praktische Vernunft liefern. Die Schwierigkeit des Beweises einer solchen praktischen Freiheit ist offensichtlich, wenn die durchgehende Sonderung der moralischen Prinzipien von den Triebfedern so vorausgesetzt wird, dass es sich bei diesen um zwei völlig unvereinbare Teile handelt: Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art von Causalität, von der, wie von aller Causalität, wir gar nichts a priori bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen. Da diese aber kein Verhältnis der Ursa­ che zur Wirkung, als zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch bloße Idee (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, uns Menschen gänzlich unmöglich.33

Es zeigt sich, dass Kant durch seine Modifikation des Systems nicht mehr auf die causa noumenon aus der KrV zurückgreifen kann, um das moralische Gesetz mit der Triebfeder zu verbinden. Die Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Handlung als Formen von Übersinnlichkeit und Sinnlichkeit macht die Verwirklichung des Moralgesetzes unbegreiflich. Kant versucht, Freiheit und Naturnotwendigkeit durch zwei unterschiedliche Betrachtungshinsichten der Menschen – Naturwesen und Vernunftwesen – einzuordnen. Diese Lösung

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GMS, AA IV, S. 447. GMS, AA IV, S. 460.

verträgt sich mit seinem System auch schlecht,34 weil das Urteil der Freiheit als eine Betrachtungshinsicht mit dem Moralgesetz nicht mehr in Synthese steht. Diese Vernunft, die mit der Gesetzgebung der Moralität identifiziert wird, wird noch nicht in praktischem Bereich in dem Sinne bewiesen, sobald man ihre Wirksamkeit und Anwendbarkeit auf die Menschen in Betracht zieht. So ist bis hierher zwar die Identifikation der praktischen Vernunft mit der Willensfrei­ heit eindeutig hergestellt, doch die Bestimmung von „praktisch“ ist noch nicht geleistet. Diese bleibt vorerst problematisch. 2.1.3. Der Bestimmungsgrund des Willens in der Kritik der praktischen Vernunft In der GMS legt Kant auf der einen Seite die apriorischen Moralprinzipien fest, auf der anderen Seite wirft er Zweifel auf an der Anwendbarkeit eben dieser Moralprinzipien auf den menschlichen Willen. Damit hängt ein Unterschied zwischen zwei Rollen der Vernunft zusammen: als Rechtfertigungsprinzip (principium diiudicationis) und als Bewegungsprinzip (principium executionis), wie Kant sie in seiner Vorlesung über Ethik unterscheidet.35 In der „Methoden­ lehre“ der KpV wird die letztere als subjektiv-praktisch von der ersteren als objektiv-praktisch unterschieden.36 Wie in der GMS hält Kant auch in der zwei­ ten Kritik die Rolle des principium executionis für einen unentbehrlichen Schritt im Beweis der Praktizität der Vernunft. Denn ohne Bezug auf die subjektiven Bestimmungsgründe des Willens kann die „Legalität der Handlungen“ keine „Moralität der Gesinnungen“ gewährleisten. Die Skepsis, dass die Vernunft als moralisches Motiv für sich allein nicht zureiche und dass sie in dem Fall als

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Schönecker (2011) weist darauf hin, dass Kant an der Stelle im Wesentlichen einem ontologischen Ansatz folgt. Siehe Schönecker (2011), S. 379: „Dieser Gedanke, daß der Wille als intelligibeles Vermögen (betrachtet) das ‚eigentliche‘ Selbst des Menschen ist, im Unterschied zum Menschen, sofern er ‚nur‘ (457, 35, K.v.Vf.) Erscheinung seiner selbst ist (‚Phänomen in der Sinnenwelt‘, 357, 13), bildet den Kern des ontoethischen Grundsat­ zes. Kant begründet die Gültigkeit des kategorischen Imperativs als eines Gesetzes für sinnlich-vernünftige Wesen – also für Wesen, die zugleich Glieder der Verstandeswelt wie auch der Sinnenwelt sind – mit der Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt.“ Vgl. Moralphilosophie Collins, AA XX VII, S. 274: „Wir haben hier zuerst auf 2 Stücke zu sehn, 1) auf das principium der dijudication der Verbindlichkeit, und 2) auf das prin­ cipium der Exsecution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der Dijudication und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so ist alles in der Moral falsch. Wenn die Frage ist: was sittlich gut ist oder nicht, so ist das das principium der Dijudication, nach welchem ich die Bonitaet und pravitaet der Handlungen beurthei­ le. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesem Gesetz gemäß zu leben? So ist das das principium der Triebfeder. “ Vgl. dazu noch Moral Mrongovius, AA XX VII, S. 1422 f., S. 1428. KpV, AA V, S. 151.

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„slave of the passions“37 empirisch-bedingt wirke, wie sie beispielsweise Hume vorgebracht hat, ist abzuwehren. Wenn man die Vernunft vollständig mit dem Bild von leerer Form identifi­ zierte, das die GMS schematisch von ihr zeichnet, sodass ihr aller Antrieb und alle sinnliche Bedingungen geraubt wären, könnte die Vernunft mit der Rea­ lität im dualistischen System nicht in Verbindung treten. Dieses Verständnis von der Vernunft lässt sich auf die der Transzendentalphilosophie entlehnte Methode der GMS zurückführen. Durch sie wird jedes praktische Phänomen, alles, was in Bezug zu Triebfeder und Handlung steht, in der Deduktion vom principium diiudicationis lediglich als eine Äußerung der Naturkausalität im praktischen Bereich38 aufgefasst. Wenn die Vernunft im principium executionis als die intelligible Ursache der Erscheinung interpretiert wird, enthält das Verhältnis zwischen principium diiudicationis und principium executionis in der GMS letztlich eine praktische Entsprechung zur dritten Antinomie der speku­ lativen Vernunft – und nicht zur Dialektik der reinen praktischen Vernunft, wie es Kant im zweiten Buch der KpV darstellt. Denn es geht bei beiden um den Widerstreit, ob eine kausale Beziehung der Freiheit auf die Erscheinung angenommen werden darf. Solange man die moralische Diskussion im Geist der Transzendentalphilosophie führt, gerät die Vernunft unvermeidlich in eine Dialektik, die derjenigen der kosmologischen Freiheit entspricht, wenngleich die Thematik über die Erkenntnistheorie hinausführt. Wenn sich das morali­ sche Gesetz der Vernunft in der GMS nicht als Bewegungsprinzip beweisen lässt, wie gelingt es dann in der KpV? In der KpV betrachtet Kant die Vernunft als ein Bewegungsprinzip („Be­ stimmungsgrund des Willens“ bzw. „Bestimmungsgrund des Begehrungsver­ mögens“), dennoch verbindet er sie weder mit der moralischen Triebfeder, noch mit der causa noumenon. Stattdessen wird die praktische Vernunft zuletzt hinsichtlich ihrer reinen, gesetzgebenden Form expliziert. Die Unabhängigkeit und Reinheit des Vernunftgesetzes entspricht eben der „Freiheit im strengsten, d. i., transscendentalen Verstande“,39 wie sie als Rechtfertigungsprinzip in der GMS genommen wird. Wie schon in der GMS wird der Wille nur in Ansehung der gesetzgebenden Form seiner Maxime gedacht,40 ohne die materiellen und subjektiven Bestimmungsgründe zu berücksichtigen. Allerdings setzt Kant das Vernunftgesetz hier in Verbindung mit den Maxi­ men, nämlich subjektiv-praktischen Prinzipien, und versucht den Übergang zwischen Bewegungsprinzip und Rechtfertigungsprinzip, also zwischen dem subjektiv-praktischen und dem objektiv-praktischen Prinzip, zu schaffen.41 In 37 38 39 40 41

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Hume, Treatise, S. 415. Hier ist „praktisch“ in weiterem Sinn gemeint. KpV, AA V, S. 29. KpV, AA V, S. 27–30. KpV, AA V, S. 27.

den Maximen wird die Materie des Begehrungsvermögens miteinbezogen, die in Ansehung des Rechtfertigungsprinzips zunächst zurückgewiesen wurde. Die Materie der Maxime ist subjektiv-bedingt und nach dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit ausgerichtet, aber sie muss nicht von Maximen vertilgt, sondern nur durch das Gesetz eingeschränkt werden. Also kann zwar die Materie der Maxime bleiben; sie muß aber nicht die Bedienung derselben sein, denn sonst würde diese nicht zum Gesetze taugen. Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen.42

Das Zitat weist in die Richtung, die Materie der Maxime als Bestandteil eines Bewegungsprinzips mit der Form des Gesetzes zu versöhnen, indem die Mate­ rie der Form untergeordnet wird – und dies ist als ein Übergang vom Rechtfer­ tigungsprinzip zum Bewegungsprinzip zu verstehen. Es lässt sich instruktiv mit Fichtes Lehre verknüpfen, in der Natur und Vernunft als Materie und Form in der moralischen Triebfeder vereinigt werden und dadurch die Bewegungskraft des Vernunftgesetzes erklärt wird.43 Aber Kant geht es hier vielmehr um die Bestimmbarkeit der Maxime durch die Form des Gesetzes, anstatt um die Verei­ nigung von Form und Materie der Maximen. Er betrachtet zwar die Materie als unentbehrlichen Bestandteil der Maxime, aber spricht ihr keine positive Rolle bei der Bestimmung der Maxime zu.44 Sie wird nicht als Bedingung der Realität des Bewegungsprinzips angesehen. Mit der Diskussion über die Materie wird nicht die Realität des Vernunftgesetzes als Bewegungsprinzip, sondern lediglich die Nicht-Widersprüchlichkeit der Zusammenführung von Rechtfertigungsprinzip und Bewegungsprinzip erwiesen.45 Für den Beweis der Realität der Freiheit nimmt Kant weder die Materie der Maximen zum Ausgangspunkt noch wendet er sich unmittelbar an die moralische Triebfeder oder die causa noumenon der Vernunft, auf welche er in der GMS und der KrV hinweist. Anstatt auf die praktische Materie näher einzugehen, verwandelt er den Ansatz auf systematischer Ebene. Denn der An­ satz in der KpV unterscheidet sich von dem in der GMS dadurch, dass er sich von der Transzendentalphilosophie etwas löst. Folglich lässt sich die Realität der Freiheit nicht im transzendentalphilosophischen Licht des Dualismus von 42 43 44

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KpV, AA V, S. 34. Dies wird besonders in Teil 4.1.3 und Teil 4.2.3 erläutert. KpV, AA V, S. 34: „Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungs­ grund und Bedingung der Maxime; denn ist sie es, so läßt diese sich nicht in allgemein gesetzgebender Form darstellen.“ Der Stil der Diskussion in diesem Teil ähnelt demjenigen in der „Auflösung“ der KrV. In Teilen bezieht er sich ausdrücklich auf starke Thesen – als wäre die Freiheit real –, dennoch sind auch diese im Ganzen letztlich nur als problematisch anzusehen. Denn es wird nicht die Wirklichkeit der Freiheit, ja nicht einmal die Möglichkeit derselben bewiesen; vgl. KrV, B586.

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Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit betrachten. Während alle praktischen Ele­ mente in der GMS durch die dualistische Struktur der Transzendentalphiloso­ phie eingeordnet werden, werden in der KpV gerade diejenigen Momente, die sich nicht durch diese Struktur erklären lassen, als reale Belege der praktischen Freiheit hervorgehoben. Dies lässt sich vor allem beim Faktum der Vernunft beobachten. Dagegen giebt das moralische Gesetz, wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Factum an die Hand […] [Hervorh. S. W.].46

Man kann diese theoretische Unerklärbarkeit der praktischen Momente eben­ falls bei der moralischen Triebfeder und beim moralischen Gefühl wiederfin­ den: Denn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschli­ che Vernunft unauflösliches Problem mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei. Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, so fern es eine solche ist, sie im Gemüthe wirkt (besser zu sagen, wirken muß), a priori anzuzeigen haben [Hervorh. S. W.].47 […] daß man sich nicht wundern darf, diesen Einfluß einer bloß intellectuellen Idee aufs Gefühl für speculative Vernunft unergründlich zu finden, und sich damit begnügen zu müssen, daß man a priori doch noch so viel einsehen kann, ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden [Hervorh. S. W.].48

Die Unerklärbarkeit der praktischen Datis durch die spekulative Vernunft im­ pliziert die Nicht-Reduzierbarkeit des Praktischen auf die Theorie. Sie akzentu­ iert die von der transzendentalen Freiheit unabhängige Dimension der prakti­ schen Freiheit. In der GMS zeigt sich dagegen die von der transzendentalen Freiheit abhängige Dimension der praktischen Freiheit, indem die transzenden­ tale Freiheit als ratio essendi des Moralgesetzes entfaltet wird. Die Verknüpfung der beiden in der GMS beruht auf einer Methode, die sich eng an die Tran­ szendentalphilosophie anlehnt. Infolgedessen kann für die GMS keine prakti­ sche Ästhetik, sondern nur die praktische Entsprechung der transzendentalen Ästhetik angenommen werden. Das „Factum der Vernunft“49 kennzeichnet die gewandelte Methode in der KpV im Vergleich zur GMS. Ohne diesen Metho­ denwandel lässt sich die Freiheit im praktischen Bereich nicht wesentlich von der Freiheit im spekulativen Bereich unterscheiden, das heißt, die Freiheit, 46 47 48 49

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KpV, AA V, S. 43. KpV, AA V, S. 72. KpV, AA V, S. 80. An manchen Stellen nennt Kant es nicht „Factum“, sondern nur „gleichsam als ein Factum“; vgl. KpV, AA V, S. 47, 55, 91, 104.

selbst wenn sie in Form des moralischen Gesetzes auftritt, könnte den Zweifel, sie sei lediglich eine chimärische Idee, nicht abschütteln. Kant betont das Spezifikum des Praktischen durch die Annahme der synthe­ tischen Grundsätze a priori im praktischen Bereich, wie er wiederholt bei der Erörterung des Faktums der Vernunft zum Ausdruck bringt. Die Ausdruckwei­ se „synthetischer Satz a priori“ artikuliert die Erklärungsmuster der Transzen­ dentalphilosophie und zeigt damit eine Verbindung zwischen der Freiheitsleh­ re der KpV mit der Freiheitslehre der GMS an. Sie kann wohl zu einem einseitigen Verständnis verleiten, wenn man „a priori“ als eine Berufung auf den Dualismus von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit versteht, die so stark ist, dass ein Übergang zwischen „Sein“ und „Sollen“ unmöglich scheint, wie es in der an der Transzendentalphilosophie ausgerichteten GMS der Fall ist. Obwohl eine gewisse Form des Dualismus des Praktischen in der KpV verbleibt, ordnet Kant ihn aber einer Synthese unter, die zwar theoretisch unbegreiflich, im praktischen Bereich aber apodiktisch ist. Diese Synthese kann man die prak­ tische Synthese nennen. Die Überordnung dieser praktischen Synthese zeigt das verstärkte Primat des Praktischen in Ansehung der Methode in der KpV und markiert ihren Unterschied zur GMS. Kants Standpunkt der praktischen Synthese lässt sich vor allem der Diskussion der moralischen Triebfeder entneh­ men: Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet […].50

In der GMS werden objektive und subjektive Bestimmungsgründe des Willens durch den Dualismus von Form und Materie und von apriorisch und aposterio­ risch gegenübergestellt. Während Kant diese Auffassung der GMS übernimmt, wenn er die Unerklärbarkeit der moralischen Triebfeder in der KpV zugesteht, legt er den Schwerpunkt nicht mehr auf die Spekulation über die ratio essendi. Vielmehr nimmt er die moralische Triebfeder als das im Praktischen Gegebene und interpretiert sie als eine apriorische Synthese von Erkenntnis und Gefühl. Schließlich identifiziert er die Triebfeder der Sittlichkeit mit der Sittlichkeit an sich. Somit verwandelt sich der auf der Transzendentalphilosophie basierende Dualismus in eine praktische Synthese, die sich nicht auf die Struktur der Transzendentalphilosophie reduzieren lässt. Durch die praktische Synthese betrachtet Kant den formalen objektiven Bestimmungsgrund, den materiellen objektiven Bestimmungsgrund und den subjektiven Bestimmungsgrund des Willens als verschiedene Manifestationen desselben moralischen Gesetzes.51 Die praktische Synthese ist dafür ausschlag­ 50 51

KpV, AA V, S. 76. KpV, AA V, S. 75: „Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände des Guten und Bösen ist, so ist es auch

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gebend, die Logik mit der Ästhetik der praktischen Vernunft zu vereinigen, ebenso das Rechtfertigungsprinzip mit dem Bewegungsprinzip sowie das „Sol­ len“ mit dem „Sein“. Diese Synthese des Praktischen lässt sich negativ durch eine Beschränkung jener Kritik begreifen, die Kant zu Anfang der zweiten Kritik und schon durch ihren Titel artikuliert: Warum diese Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, ob gleich der Parallelism derselben mit der speculativen das erstere zu erfordern scheint, darüber giebt diese Abhandlung hinreichenden Aufschluß. Sie soll bloß darthun, daß es reine praktische Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes Vermögen. Wenn es ihr hiemit gelingt, so bedarf sie das reine Vermögen selbst nicht zu kritisieren, um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem solchen, als einer bloßen Anmaßung nicht übersteige (wie es wohl mit der speculativen geschieht). Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.52

Man kann davon ausgehen, dass das Praktische in Ansehung der Kritik eine Unterlassung des kritischen Verfahrens mit der spekulativen Vernunft in einem bestimmten Umfang bedeutet. Der Parallelismus zwischen der praktischen und der spekulativen Vernunft muss begrenzt werden.53 Diesen Parallelismus reprä­ sentiert der Dualismus – von dem Reinen und der Empirie in der GMS, von Logik und Ästhetik in der KpV. Er besteht sowohl in der GMS als auch in der KpV, aber seine Bedeutung verändert sich. In der GMS ist der Dualismus dominierend: Der empirische Teil wird dem rationalen Teil, die Sinnlichkeit der Sittlichkeit entgegengesetzt. Die Empirie bedeutet die Unterwerfung unter das Naturgesetz. Praktische Phänomene („Sein“ und „Wollen“) werden als transzendentale Ästhetik behandelt, infolgedessen hat die Kategorie der Frei­ heit („Sollen“) keinen Bezug auf die Realität („Sein“). In der KpV wird eben­ falls ein Dualismus konstruiert, ebenfalls nach einer Analogie der spekulativen Vernunft. Aber dieser Dualismus ist der praktischen Synthese untergeordnet.

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subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die Sinnlichkeit des Subjects Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist.“ KpV, Vorrede, AA V, S. 3. Beck (1960), S. 44: „Since Kant favors the title Critique of Practical Reason, he seems to be using the word here primarily in its negative sense and to have as his chief aim the limiting of the claims of practical reason based on empirical motives. But in the negative sense of the Kritik, there is not, as we have seen, a parallelism between the two works, since it is pure speculative reason and empirical practical reason that stand in need of negative criticism.” Ich befürworte Becks Lesart in Bezug auf die, wenn auch nicht vollständige, Zurückweisung des Parallelismus der beiden Kritiken. Aber ich verstehe den negativen Sinn der praktischen Vernunft als eine Abgrenzung der kritischen Methode für die spekulative Vernunft im praktischen Bereich, anstatt dass mit diesem negativen Sinn nur die empirisch-praktische Vernunft einer Kritik überhaupt unterstellt werden soll. Denn Kant verfährt z.B., bei der reinen praktische Idee der Freiheit nicht dogmatisch, sondern verlangt gewisse ratio cognoscendi zum Beweis der Realität derselben.

Logik und Ästhetik verfügen in der KpV zwar über gewisse identifizierbare Un­ terschiede voneinander, aber sie werden nicht als Apriori und Empirie einander entgegengesetzt, sondern werden beide als Apriori betrachtet. Die Ästhetik der praktischen Vernunft wird zwar als ein Surrogat der Erscheinung konzipiert, aber ihr wird realer Charakter in Ansehung der praktischen Vernunft ohne em­ pirischen Charakter in Ansehung der theoretischen Vernunft zugeschrieben.54 Diese Abwandlung der Methode beruht auf der Ungleichartigkeit des prak­ tischen und theoretischen Gebrauchs der Vernunft, worin „das Rätsel der Kritik“55 besteht. Die Beschränkung der Kritik des reinen Vermögens der prak­ tischen Vernunft kann die Kritik des praktischen Dogmatismus hervorrufen. Aber die neue Methode in der KpV stützt sich nicht lediglich auf die Eigen­ tümlichkeit der praktischen Vernunft; die praktische Synthese bedeutet nicht, dass apriorische Begriffe bloß dogmatisch als Realität behauptet werden. Der Dualismus, der den Parallelismus zwischen den beiden Kritiken anzeigt und der die Kategorien der theoretischen Vernunft nach einer Analogie gebraucht, macht einen Ersatz der Kritik der spekulativen Vernunft (nicht eine Kritik der spekulativen Vernunft überhaupt) über das reine Vermögen der praktischen Vernunft aus. Dadurch wird einerseits das reine praktische Vermögen doch in einer argumentativen Form abgeleitet; obwohl andererseits dessen Wirklich­ keit nicht weiter durch eine unbeschränkte Kritik der spekulativen Vernunft bestätigt werden kann. Diesen Beweis führt Kant durch das „Factum der Ver­ nunft“, welches wegen seiner Mehrdeutigkeit aber gleichfalls Schwierigkeiten bei der Interpretation mit sich bringt. Anhand der erläuterten Unterscheidung zwischen der praktischen Synthese und dem transzendentalen Dualismus lässt sich der Grund für die Mehrdeutigkeit des „Factums der Vernunft“ explizieren. Zunächst ist ein Parallelismus der beiden Kritiken in der Konzeption des Be­ weises der praktischen Vernunftbegriffe festzustellen. In einer Reflexion bringt Kant den Deduktionsansatz zum Ausdruck, dass die praktischen Grundsätze so bewiesen werden müssen, „wie wir die Vorstellung von Raum und Zeit als 54

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Wenn sich die Ästhetik der praktischen Vernunft auch auf die Sinnlichkeit – wie es beim moralischen Gefühl der Fall ist – bezieht, lässt sie sich doch nicht als Erscheinung oder Empirie einordnen. Deshalb ist die Interpretation des „Bewegungsprinzips“ der Vernunft als die Kausale Beziehung des Dings an sich auf die Erscheinung, die Kant in seiner Erörterung der transzendentalen Freiheit übernimmt, für das Verständnis der KpV nicht mehr geeignet. Sobald man eine einseitige Interpretation vornimmt, ist ein realer Beweis des „Bewegungsprinzips“ nicht mehr möglich, weil diese Lesart den Diskussionsrahmen der Transzendentalphilosophie und das kritische Verfahren bei der spekulativen Vernunft aufruft, und somit den negativen Sinn der Kritik der praktischen Vernunft vernachlässigt. Beispielweise laufen die Diskussionen über die Kompatibilität und Inkompatibilität von Freiheit und Natur in der Sekundärliteratur, sofern sie sich auf die KpV bezieht, Gefahr, auf den Dualismus der transzendentalphilosophischen Struktur zurückzufallen und so die wichtige Dimension der praktischen Synthese in Bezug auf die moralische Realität in der zweiten Kritik zu übersehen. KpV, AA V, S. 5.

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Vorstellungen a priori bewiesen“.56 Die reinen praktischen Grundsätze sind als Bedingung der Möglichkeit einer Wirklichkeit zu deduzieren. Damit einher geht eine dualistische Struktur, die eine Deduktion nach der Analogie mit der theoretischen Vernunft ausmacht: Die empirische Realität auf der einen, die transzendentale Idealität auf der anderen Seite. Nach diesem Parallelismus entspricht die „bloße Denkungsart und Gesinnung nach Principien“57 in der praktischen Deduktion der Rolle des Gegenstandes in der Erfahrung in der transzendentalen Deduktion. Wenn auch die Aussage in der Reflexion nicht ausdrücklich auf das „Factum der Vernunft“ verweist, lässt sich die genannte Beweisstrategie am „Factum der Vernunft“ in der KpV gewissermaßen identifizieren. Auf der einen Seite charakterisiert Kant den Status des „Factums“ durch eine Menge von Prädika­ ten: apodiktische Gewissheit, unmittelbare Gegebenheit, Eindringlichkeit und die Berufung auf das Urteil des gemeinen Menschenverstands. Diese Prädikate kennzeichnen die formale Ähnlichkeit des „Factums“ als eines praktischen Phänomens mit den Datis der Sinnenwelt.58 Sie grenzen das „Factum der Vernunft“ von der „Vorstellungsart des Gesetzes durch Umschweife und emp­ fehlende Mittel“59 oder „Vernünfteln über seine Möglichkeit“60 ab. Insofern indiziert „Factum“ das moralische Gesetz qua Erscheinung, oder „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“, nicht das moralische Gesetz qua Kategorie. Auf der anderen Seite erörtert Kant die „Vernunft“ beim „Factum der Vernunft“, indem er ihre Apriorität und die Rationalität des Gesetzes betont, weil es nicht aus der Erfahrung entspringt. Er abstrahiert das moralische Gesetz als 56 57

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Reflexion 7201, AA XIX, S. 275. Reflexion 7201, AA XIX, S. 275f.: „Es ist hier nun der Unterschied, daß da im theoreti­ schen Erkentnis die Begriffe keine Bedeutung und die Grundsätze keinen Gebrauch als nur in Ansehung der Gegenstände der Erfahrung haben, im practischen dagegen viel weiter, nämlich auf alle vernünftige Wesen überhaupt gehen und von allen empirischen Bestimmungsgründen unabhängig, ja, wenn ihnen auch kein Gegenstand der Erfahrung correspondirte, die bloße Denkungsart und Gesinnung nach Principien schon genug ist. “ Die Ähnlichkeit der beiden lässt sich gewissermaßen durch den Typus der Urteilskraft in Bezug auf die Gegenstände des Guten und Bösen verstehen. Kant erörtert nicht direkt durch den Typus der Urteilskraft das „Factum“, sondern er betont die apodiktische Gewissheit des „Factums“. Aber es finden sich auch Stellen, an denen Kant das „Factum“ unmittelbar mit dem „Typus“ verbindet. Siehe z. B. KpV, AA V, S. 47. Dort sagt Kant bei der Erklärung des „Factums der Vernunft“, dass sich das Moralgesetz auf die Möglichkeit einer übersinnlichen Natur bezieht, während sich das metaphysische Gesetz auf die sinnliche Natur bezieht. Etwas später wird klar, dass die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligiblen Natur verstanden werden kann; vgl. KpV, AA V, S. 70. KpV, AA V, S. 152: „Gleichwohl ist es wirklich so bewandt, und wäre es nicht so mit der menschlichen Natur beschaffen, so würde auch keine Vorstellungsart des Gesetzes durch Umschweife und empfehlende Mittel jemals Moralität der Gesinnung hervorbringen. Alles wäre lauter Gleißnerei, das Gesetz würde gehaßt, oder wohl gar verachtet, indessen doch um eigenen Vortheils willen befolget werden.“ KpV, AA V, S. 91.

reine gesetzgebende Form der Vernunft, als einen synthetischen Satz a priori in Sinne einer Kategorie, wie es durch die philosophische Deduktion in der GMS abgeleitet wird. Es lässt sich in diesem Zusammenhang nachvollziehen, dass das „Factum der Vernunft“ nicht nur als „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“, sondern als das moralische Gesetz überhaupt von Kant betrachtet wird. Die zwei identifizierbaren unterschiedlichen Bestimmungen61 in der Formu­ lierung vom „Factum der Vernunft“ erklären, wieso Kant das „Factum der Vernunft“ an manchen Stellen62 als das Bewusstsein vom Moralgesetz, an ande­ ren Stellen63 aber als das moralische Gesetz selbst erörtert. Das Bewusstsein des Moralgesetzes steht in einem ähnlichen Verhältnis zum Moralgesetz wie die moralische Triebfeder, die Kant auf eine analoge Weise ins Verhältnis von Ästhetik und Logik einordnet. Sowohl das Bewusstsein des Moralgesetzes als auch die moralische Triebfeder offenbaren die Praktizität oder Anwendung des Moralgesetzes, wie die Anschauung die Vorstellung a priori von Raum und Zeit. Elemente des Parallelismus zwischen beiden Kritiken sind beim „Factum der Vernunft“ vorhanden, insofern die Unterscheidung zwischen „Factum“ und „Vernunft“ mit der Unterscheidung zwischen der Realität der Anschauung und der Idealität von Raum und Zeit, oder auch noch zwischen Erscheinung und Kategorie, vergleichbar ist. Allerdings wird in der KpV keine Deduktion des moralischen Prinzips durchgeführt, wie es in der KrV für die Vorstellungen von Raum und Zeit als Vorstellungen a priori geschieht. Vielmehr wird einer Deduktion des mora­ lischen Prinzips wegen der Ungleichartigkeit der zwei Kritiken eine Absage erteilt.64 Dem „Factum der Vernunft“ wird keine duale Bestimmung von Ratio­ nalität und Sinnlichkeit zugeschrieben. Trotz einer identifizierbareren Dualität im „Factum der Vernunft“ lässt sich keine Deduktion zwischen den beiden Bestimmungen herstellen, wie sie bei der theoretischen Vernunft geleistet wer­ den kann. Stattdessen wird die Dualität in einer Identität aufgehoben. Das Bewusstsein des Moralgesetzes und das Moralgesetz sind nicht zweierlei, son­ dern eins. Das erstere ist nur eine praktische Äußerung des zweiten, und beide sind nur ein und derselben Vernunft zuzuschreiben.65 Die praktische Synthese bezieht sich einerseits auf die rationale Beschaffenheit des praktischen Faktums, andererseits auf die faktische Beschaffenheit des Vernunftgesetzes. Die Synthese 61

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Beck (1960) differenziert die zwei Bestimmungen voneinander. Er nennt die eine „the disputed fact (that we are conscious of a moral law) “, die andere „the disputed fact“ (that there is a law that can come only from practical reason)”; vgl. Beck (1960), S. 168. Z. B. KpV, AA V, S. 31. KpV, AA V, S. 42, 47, 55, 91, 104. KpV, AA V, S. 47: „Etwas anderes aber und ganz Widersinnliches tritt an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Princips, nämlich, daß es umgekehrt selbst zum Princip eines unerforschlichen Vermögens dient […].“ Beck (1960), S. 169: „ […] it is fact for pure reason only inasmuch as it is the expression of the fact of pure reason, i. e., of the fact that pure reason can be practical. “

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beruht auf keinem theoretischen Vernünfteln, wie es die spekulative Vernunft unternimmt, wenn sie chimärische Ideen erdichtet, sondern sie lässt sich nur im praktischen Kontext begreifen. Aber die praktische Synthese bezieht sich soweit nur auf die Identität vom Bewusstsein des Moralgesetzes mit dem Moralgesetz, nicht auf die von der moralischen Triebfeder bzw. vom moralischen Gefühl mit dem Moralgesetz. Unter den unerklärbaren praktischen Momenten66 wird nur das moralische Bewusstsein, nicht die moralische Triebfeder bzw. das moralische Gefühl in das „Factum der Vernunft“ eingeschlossen.67 Nur die objektive Praktizität, nicht die subjektive Praktizität der Vernunft erweist sich unmittelbar als „Factum der Vernunft“. Das subjektive Moment der moralischen Triebfeder, das „das Wesentliche aller Moralität“ betrifft und mit der Willensfreiheit gleichzusetzen ist, muss abgeleitet werden. In der Deduktion der Freiheit wird ein Parallelismus umgesetzt. Mit dem „Factum der Vernunft“ wird die Rolle des Moralgesetzes als ratio cognoscendi der Freiheit gerechtfertigt. Als „Factum“ zeigt das Moralgesetz die Wirklichkeit der Autonomie, deren Möglichkeit die Idee der Freiheit voraussetzt. Der Paral­ lelismus lässt sich durch eine dualistische Struktur kennzeichnen, nämlich die Struktur von ratio essendi – ratio cognoscendi; von Vorstellung a priori von Raum und Zeit –Anschauung; von Kategorie – Erscheinung. Die Freiheit wird als Bedingung a priori aus der Wirklichkeit der ratio cognoscendi geschlossen. Diese duale Struktur verknüpft das Praktische mit dem Theoretischen sowohl auf der methodischen Ebene durch den Parallelismus als auch auf der inhaltlichen Ebene, denn die ratio essendi ist durch die theoretische Vernunft begründet. Anhand dieser dualen Struktur lässt sich anstelle einer dogmatischen Behaup­ tung ein Beweis führen, der dem transzendentalphilosophischen Vorgehen nahekommt. Aber diese duale Struktur setzt die praktische Synthese voraus, wodurch das Moralgesetz als ratio cognoscendi betrachtet wird. Dadurch unter­ scheidet sich die Deduktion in der KpV von derjenigen in der GMS, die keine praktische Synthese, welche die Eigentümlichkeit des Praktischen ausmacht, sondern bloß einen Dualismus, der das Praktische der Transzendentalphiloso­ phie annähert, auf der methodischen Ebene einführt. Aber der Dualismus wird ebenfalls in die KpV integriert, was die Deduktion in der KpV vor dem prakti­ schen Dogmatismus bewahrt. Auf diese systematische Weise wird die Freiheit, welche die praktische Ver­ nunft bedeutet, bewiesen. Sie wird nicht durch die Analyse von Materien der 66 67

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KpV, AA V, S. 43, 72, 80. Zum einen hat Kant bei der Erörterung des „Factums der Vernunft“ die moralische Triebfeder nicht ausdrücklich miteinbezogen, zum anderen identifiziert Kant die Frage, „woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe“, mit der Frage, „wie ein freier Wille möglich sei“; vgl. KpV, AA V, S. 72. Hätte man eine unmittelbare Einsicht in die moralische Triebfeder, schlösse man auch die Willensfreiheit als Prämisse mit ein – die Deduktion der Freiheit drehte sich dann im Kreis.

Maximen oder Triebfedern abgeleitet; umgekehrt wird dagegen die moralische Triebfeder durch die Freiheit begründet. Wie der negative Sinn der Kritik an­ deutet, wird die Freiheit, wenn sie einmal bewiesen ist, keiner weiteren Kritik unterzogen. Die subjektive Praktizität der Vernunft, die auf der Freiheit beruht, benötigt nunmehr keine weitere Bestätigung – weder durch das „Factum der Vernunft“ noch durch die sinnliche Erscheinung, wenngleich sie sich eventuell auf Sinnlichkeit, in der Form des Gefühls, bezieht. Durch die erläuterte prakti­ sche Synthese werden die moralische Triebfeder und die Sittlichkeit als eins betrachtet. Die Moralprinzipien gelten dann nicht nur als Urteilsprinzipien, sondern ebenso als Bewegungsprinzipien der Vernunft. Somit ist die Identifika­ tion der Freiheit mit der praktischen Vernunft in der KpV vollzogen.

2.2. Die Änderung der Position und die Rückkehr zum früheren Standpunkt Kants Freiheitstheorie, die er in seinen Schriften der 1780er-Jahre ausgebildet hat, erfährt in den in 1790er-Jahren eine große Veränderung. In seiner Reli­ gionsschrift aus dem Jahr 1793 distanziert er sich von seiner früheren Frei­ heitstheorie und ihrer vielschichtigen, komplexen theoretischen Grundlage; vielmehr geht Kant in dieser Schrift von der Zurechenbarkeitsproblematik aus. Um die moralische Verantwortung zu rechtfertigen, sucht er vor allem den Freiraum der Handlung zu sichern. Infolgedessen löst er die Willkür von jegli­ chem weiteren Bestimmungsgrund. Die Freiheit wird als Unbestimmtheit und Wahlfreiheit gedeutet und damit von der praktischen Vernunft getrennt. Diese Positionsänderung erweist sich allerdings als vorübergehend. In der MS von 1797 lässt Kant den Begriff der Wahlfreiheit wieder fallen, weil die Wahlfreiheit seines Erachtens den moralischen Indifferentismus mit sich bringt. Außerdem lässt sich die unbestimmt schwebende Wahlfreiheit nicht in die dualistische Struktur der Transzendentalphilosophie einordnen. Er kehrt deshalb zurück zu seiner frühen Position und identifiziert die Freiheit wiederum mit der prak­ tischen Philosophie. Im Folgenden gehe ich auf diese Wendungen in Kants Freiheitstheorie ein. Teil 2.2.1 und Teil 2.2.2 behandeln jeweils die Änderung von Kants Position in der Religionsschrift und seine Rückkehr zu seinem frühe­ ren Standpunkt in der MS. Neben den bereits angesprochenen Änderungen wird in Teil 2.2.1 überdies thematisiert, dass Kant die Unbestimmtheit der Willkürfreiheit zu überwinden versucht, wenn er das Böse verallgemeinert. Er gerät in eine Schwierigkeit, die ihn zwingt, doch wieder auf die Bestimmtheit zurückzugreifen. In Teil 2.2.2 wird insbesondere noch expliziert, dass Kants Vereinigung von „Wille“ und „Willkür“ die Wahlfreiheit nicht mehr betrifft. In diesem Vereinigungsversuch gibt er die Dimension der Unbestimmtheit im Freiheitsbegriff auf, um die Freiheit erneut auf das Moralgesetz und die praktische Vernunft beziehen zu können. 47

2.2.1. Die Unbestimmtheit und die Wahlfreiheit in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft In April 1792 veröffentlichte Kant in der Berlinischen Monatsschrift den Auf­ satz Über das radicale Böse in der menschlichen Natur.68 Der Text erschien als das erste Stück in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die im Jahr 1793, drei Jahre nach dem Abschluss des kritischen Geschäfts, veröffentlicht wurde. Die Religionsschrift markiert Kants Übergang vom kritischen Unter­ nehmen zur doktrinalen Philosophie. Kant geht eine der wichtigsten Fragestel­ lungen seiner Philosophie programmmäßig an — „Was darf ich hoffen?“69 In der Religionsschrift unternimmt er es, das historische System der Religion auf einen apriorischen Vernunftbegriff in moralisch-praktischer Absicht zurückzu­ führen.70 Daraus entwickelt er den Vernunftglauben und die Moraltheologie. Charakteristisch für Kants Religionslehre ist ihr enger Zusammenhang mit der Moralphilosophie. Kant leitet den Begriff von Gott als einem höheren, mo­ ralischen und allvermögenden Wesen aus der Idee des höchsten Guts ab. Das höchste Gut bedeutet für ihn die Vereinigung von Sittlichkeit mit proportio­ naler Glückseligkeit. Diese Idee geht aus dem Bedürfnis der Zweckbeziehung bei der Willensbestimmung des endlichen Vernunftwesens hervor.71 Obwohl das Moralgesetz nach Kant der alleinige Bestimmungsgrund des guten Willens ist, sei es im Hinblick auf dieses zweckmäßige Verhältnis unzureichend.72 Das höchste Gut, das die Sittlichkeit mit der Glückseligkeit verbindet, gilt Kant zufolge als die formelle Bedingung aller Zwecke – und diese Idee sei nur durch die Annahme von Gott möglich. Außerdem könne die Idee von Gott, der die Glückseligkeit entsprechend der Moralität zuteilt, unserem Naturbedürfnis abhelfen und die moralische Entschließung erleichtern. In dieser Hinsicht leiste Gott in der Moral Beistand.73 Kants Auffassung des Verhältnisses von Religion 68 69

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Kant (1792). Die drei Leitfragen – „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ – hat Kant in der ersten Kritik für sein gesamtes philosophisches Projekt gestellt (KrV, B833). Die ersten zwei Kritiken sollten die ersten zwei Fragen beantworten. Die Religionsschrift widmet sich der dritten Frage des philosophischen Programms. Religionsschrift, BXXII f. Zur Ableitung des höchsten Guts vgl. die Vorrede zur ersten Auflage, Religionsschrift, BIII–BXIII; „Zweiter Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestim­ mungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ in „Des Kanons der reinen Ver­ nunft Zweiter Abschnitt“, KrV, B832–B847; „Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut“, KpV, AA V, S. 198–266. Religionsschrift, BVI. Religionsschrift, B49: „Gesetzt, zum Gut= oder Besserwerden sei noch eine übernatürli­ che Mitwirkung nöthig, so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse beste­ hen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig ma­ chen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d. i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet, und er für einen guten Menschen erkannt werde.“

und Moral rief eine Vielzahl von Einwänden hervor. Zum einen wurde Kant beschuldigt, die Religion auf die Moral zu reduzieren.74 Zum anderen wurde gegen ihn eingewandt, dass sich die Vorgehensweise der Religionslehre mit den anspruchsvollen kritischen Erfordernissen der Moralphilosophie schlecht vertrage.75 In Kants Moraltheologie sind insgesamt viele Spannungen festzustel­ len. Der am meisten diskutierte Kritikpunkt in Kants Moraltheologie besteht in der These, dass der Mensch von Natur böse sei. Sie hängt mit Kants Ansatz zusammen, die theologische These der Erbsünde in Bezug auf die Moral „inner­ halb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu erläutern. In diesem Spannungsfeld befindet sich auf der einen Seite ein allgemeines, überindividuelles und apriori­ sches Urteil über den Charakter der Menschengattung.76 Auf der anderen Seite steht die Willensfreiheit, aufgrund deren die moralische Verantwortung indivi­ duell zugerechnet wird und nach der das moralische Urteil von Individuum zu Individuum und von Tat zu Tat unterschiedlich ausfallen kann. Die Willens­ freiheit gilt als der Kernbegriff, auf den die biblische Ansicht der menschlichen Sünde zurückgeführt werden soll. Die Willensfreiheit wird vorerst in Bezug auf die moralische Verantwortung definiert, besonders in Bezug auf die Verantwortung für das Böse. Kant macht es sich insbesondere zur Aufgabe, den Grund des Bösen von der Natur abzu­ grenzen. Diese Abgrenzung ist in zwei Hinsichten nötig. Die erste Hinsicht ist rein logisch: Folgt die Übertretung des Moralgesetzes bloß aus der Natur anstatt aus der Freiheit, ist die Schuldzuweisung an den Menschen nicht gerechtfertigt. Die zweite Hinsicht ist kontextuell: Die Theorie der Willensfreiheit, wie sie in den ersten zwei Kritiken und in der GMS entwickelt wurde, könnte den Eindruck erwecken, dass die Natur der Bestimmungsgrund der gesetzwidrigen Handlung sei. Denn nach der Freiheitslehre in diesen Schriften folgt das mora­ lisch Gute aus der Autonomie. Dies wiederum aber legt nahe, dass das Böse aus der Heteronomie hervorgeht, welche Herrschaft der Naturnotwendigkeit bedeutet. Auf dieser gedanklichen Grundlage stellt Kant in der Religionsschrift die Verbindung der Willensfreiheit mit der Maxime heraus, um den Unterschied zwischen Willensfreiheit und Naturbestimmung zu verdeutlichen. Unter der Maxime ist eine subjektive Regel des handelnden Subjekts zu verstehen, die direkt auf die Handlung bezogen ist. Sie unterscheidet sich vom Moralgesetz,

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Religionsschrift, BVII f.: „[A]ber diese Idee [des höchsten Gutes, S. W.] ist (praktisch betrachtet) doch nicht leer: weil sie unserem natürlichen Bedürfnisse, zu allem unseren Thun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken, abhilft, welches sonst ein Hindernis der morali­ schen Entschließung sein würde.“ Cassirer (1921), S. 407; Webb (1926), S. 62; Edwards (1979), S. 46. Adickes (1920), S. 846–849. Religionsschrift, B14 f.

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weil sie nur subjektiv gültig und nicht unbedingt gesetzeskonform ist. Ob­ wohl die Maxime, anders als das Moralgesetz, die Erfordernisse der reinen praktischen Vernunft nicht unbedingt erfüllt und auch nicht alle Beimischung der Natur ausschließt, ist sie doch nicht der Naturnotwendigkeit ausgeliefert. Das Verhältnis der Natur zur Maxime besteht darin, dass die erstere lediglich mögliche Triebfedern für die letztere bereitstellt. Die Natur kann die Maxime nicht unmittelbar aufstellen. Die Maxime entsteht erst nach der Aufnahme einer der Triebfedern, die allerdings nicht nur aus der Natur, sondern auch aus der Vernunft stammen können. Diese Aufnahme vollzieht die Willkür, die auf die Triebfedern zugreift. Des Weiteren ist für die Maxime nicht die Materie, nämlich die Angabe der Triebfeder aus der Natur oder aus der Ver­ nunft, entscheidend, sondern die Form, nämlich die Rangordnung der beiden Triebfedern.77 Kant merkt an, dass die beiden Triebfedern für das Gute oder das Böse der Maxime irrelevant seien, da beide bei allen Maximen stets vorliegen.78 Die Differenz von Gut und Böse müsse aus der Form, die von der Freiheit der Willkür hervorgebracht wird, erklärt werden. Daraufhin bezieht Kant die Willensfreiheit auf die Maxime. Er definiert die Willensfreiheit negativ als die Beschaffenheit, die „durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“.79 Das Positive der Willkürfreiheit besteht in der Wahlmöglichkeit, innerhalb der Maxime entweder die Triebfeder der Natur der Triebfeder der Vernunft unterzuordnen oder umgekehrt zu verfahren. Die­ ses Verständnis der Willkürfreiheit basiert auf dem oben genannten Argument, das sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Nicht die Natur, sondern die Willkür bringt das Böse hervor. Die Willkür unterscheidet sich in dieser Kon­ zeption von der Bestimmung der Natur, weil sie andere Attribute und Funktio­ nen aufweist als die Triebfeder der Natur. Diese Argumentation ist zweifellos einleuchtend, aber ist sie vom philosophischen Standpunkt aus gründlich ge­ nug? Schafft es die Willkürfreiheit als solche, sich von der Naturnotwendigkeit loszureißen? Das bleibt fraglich. Denn die Willkür wird noch nichthinreichend fundiert, sodass man sie nach den bisherigen Ausführungen geradezu auf ein psychologisches Vermögen reduzieren könnte. Die Willkürfreiheit, die bloß auf einer psychologischen Basis ruht, könnte ja lediglich eine Täuschung sein, weil sie letztendlich auf einen empirischen Grund zurückgeführt werden könnte.80 Es muss also sorgfältig geprüft werden, ob nicht ein verborgener Grund die 77

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Religionsschrift, B34: „Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der anderen macht.“ Das Gute oder das Böse hängt nicht von den Triebfedern ab, denn sonst wäre der Mensch moralisch gut und böse zugleich, so Kant (vgl. Religionsschrift, B34). Religionsschrift, B10ff. Vgl. KpV, AA V, S. 96 f.

Willkür bestimmt. Erst dann sind Freiheit und moralische Verantwortung gesi­ chert. Auf die Überprüfung der Gründlichkeit geht Kant offensichtlich ein. Er er­ gänzt, dass die Willkür durch keinen weiteren Grund bestimmt werden könne. Er ist sich dessen bewusst, dass die Freiheit aufgehoben würde, wenn man den Grund der Maxime wiederum auf den Naturtrieb zurückführte: „Denn wenn dieser Grund zuletzt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Na­ turtrieb wäre, so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können […].“81 Wenn man hingegen die Maxime auf eine weitere Maxime zurückführte, die als der subjektive Grund der ersten Maxime gälte, so wäre die zweite Maxime ebenso erklärungsbedürf­ tig wie die erste. Das führte die Theorie auf einen unendlichen Regress, wie Kant kritisch fortfährt. Daher müsse die Willkür als der erste subjektive Grund betrachtet werden, aus dem die gute oder böse Maxime angenommen werde: Daß der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z.B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenom­ men habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.82

Kants Strategie, die Willkür als die erste Ursache sicherzustellen, fällt etwas abrupt aus. Sie besteht darin, sich auf keine weitere Erklärung der Willkür ein­ zulassen und es bei der Unerforschlichkeit der Willkür zu belassen. Das taugt mehr zu einem Agnostizismus als zu einer philosophischen Beweisführung. Immerhin wagt Kant einen sehr radikalen Schritt, um die Willkürfreiheit vor allem Bestimmtsein abzusichern. Die Willkür, die nicht mit einem weiteren Grund verknüpft werden kann, ist absolut unbestimmt. Die Unbestimmtheit der Willkürfreiheit unterscheidet sich von der Unbe­ dingtheit der Willensfreiheit in Kants früheren Schriften, auch wenn Kant den Willen ebenso wie die Willkür als den ersten Grund einer kausalen Kette begreift. Bei der Unbedingtheit der Willensfreiheit geht Kant vom transzenden­ tal-idealistischen Verständnis der Naturkausalität aus, die als eine Kategorie im sinnlichen Gebiet bzw. in der Reichweite der theoretischen Vernunft allge­ meingültig ist. Die Freiheit, die sich von der Bedingtheit losreißt, kann nach dieser kritischen Betrachtung nur durch die Trennung des Übersinnlichen von der Sinnlichkeit gesichert werden. Im Freiheitsbegriff als solchem stößt zwar die theoretische Vernunft an ihre Grenze, und insofern hat der Freiheitsbegriff nur eine negative Bedeutung – aber er lässt sich im praktischen Bereich positiv 81 82

Religionsschrift, B7. Religionsschrift, B8.

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bestimmen. Er wird mit der Notwendigkeit des Moralgesetzes synthetisiert und mit der praktischen Vernunft identifiziert. Kurzum: Die Unbedingtheit der Willensfreiheit wird in Abgrenzung zur Bedingtheit der Natur definiert. Die Willensfreiheit wird ein fruchtbarer Begriff, indem sie auf die praktische Vernunft bezogen wird. Im Vergleich dazu verlangt die Unbestimmtheit der Willkür in der Religi­ onsschrift deren Ungebundenheit sowohl von der Natur als auch von der Vernunft. Die Willkür weist nicht nur die Naturbestimmung, sondern jegliche Bestimmtheit zurück. Dies hat zur Folge, dass sie überhaupt keinen Bezugs­ punkt hat und vollkommen unbegreiflich wird.83 Dieser Ansatz weicht deutlich von demjenigen in den Kritiken ab. Er ist zwar sehr radikal, indem er die Unbestimmtheit der Willkür von jeglicher Bestimmtheit abgrenzt, Aber diese Abgrenzung wird transzendentalidealistisch begründet. Die Begrifflichkeit der Willkürfreiheit ist weder für die theoretische noch für die praktische Vernunft zugänglich.84 Sie stößt an die äußerste Grenze aller Vernunft, die eine ganz andere Grenze bedeutet als jene zwischen theoretischer und praktischer Ver­ nunft, die Kant bei der Erörterung der Willensfreiheit und allgemein in seinem Projekt des Kritizismus bestimmt hat.85 Es ist offensichtlich, dass sich die Bedeutung der Willkürfreiheit in der Re­ ligionsschrift von der der Willensfreiheit in seinen früheren Werken scharf unterscheidet. Die unerforschliche Willkür in der Religionsschrift lässt sich nicht wie die Willensfreiheit in Kants Transzendentalphilosophie verankern, 83

84 85

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Cherkasova (2005), S. 578: “While examining the profundity of the will endowed with freedom for good or evil, Kant is steadily moving toward the dangerous territory of unintelligibility. By posing the question about the ground of Willkür's capacity to follow or deviate from the moral law, Kant establishes the first boundary beyond which nothing can be demonstrated with any degree of certainty.” John Silber (1960), S. cxi: „it is logically necessary that freedom [for Kant, S. W.] be incomprehensible“. Ich wende mich gegen die Interpretation von Cherkasova (2005), dass Kant in der Religi­ on eben durch das Herumtappen an der Grenze zur Begreifbarkeit die Grenzbestimmung der Vernunft vollzieht. Vgl. Cherkasova (2005), S. 580 ff. Cherkasova verweist auf einen Auszug in § 57 „Beschluß von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ von Kants Prolegomena. An der Stelle äußert Kant, dass das Unbekannte durch die Verknüpfung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten bekannter werden sollte. Diese Bezug­ nahme ist meines Erachtens in zwei Hinsichten unangemessen. Erstens beziehen sich das Bekannte und das Unbekannte in den Prolegomena auf die Grenze der theoretischen Vernunft, nicht auf die Grenze aller Vernunft überhaupt. Die Ideen, die an der Grenze der theoretischen Vernunft liegen, können zwar nicht als konstitutive Begriffe bestimmt werden, aber sie sind als regulative Prinzipien durchaus erforschbar; während der Will­ kürbegriff, der an der Grenze aller Vernunft liegt, überhaupt unerforschlich ist. Zweitens gründet Kant die Grenzbestimmung der reinen Vernunft in den Prolegomena auf seine kritische Methode. Die Idee der Freiheit, die an der Grenze der theoretischen Vernunft liegt, wird dementsprechend der kritischen Überprüfung unterzogen. In der Religion kann die unerforschliche Willkürfreiheit nicht in Bezug auf den Kritizismus begründet oder auch nur erörtert werden.

geschweige denn mit der praktischen Vernunft identifizieren. Die Bestimmung der Willensfreiheit, die sich als praktische Vernunft versteht, stützt sich auf den Dualismus von Natur und Vernunft, von dem die Transzendentalphilosophie überhaupt ausgeht. Dagegen kann die Willkürfreiheit, die zwischen der Natur und der Vernunft unbestimmt schwebt, weder der einen noch der anderen Sphäre zugeordnet werden. Sie ist im Rahmen der dualistischen Transzenden­ talphilosophie nirgendwo einzuordnen, sie fällt gleichsam aus dem Rahmen heraus. Ferner unterscheidet sich die Willkürfreiheit als solche von derjenigen in der KrV: Dort wird sie nämlich nicht als bezugslose Unbestimmtheit, son­ dern in Beziehung auf die praktische Vernunft definiert.86 Nun thematisiert Kant in der Religionsschrift weder die Vereinigung der Willkürfreiheit mit der Willensfreiheit noch greift er auf die gesamte tran­ szendentalphilosophische Fundierung des Freiheitsbegriffs in seinem früheren ethischen Werk zurück. Deshalb kommt die Spannung zwischen den verschie­ denen Freiheitsbegriffen nicht in vollem Ausmaß zum Vorschein. Dennoch versucht Kant, die Willkürfreiheit in der Religionsschrift mit einigen Kern­ punkten seiner Moralphilosophie in Verbindung zu bringen. Auch in diesen einzelnen Verknüpfungspunkten zeigt sich allerdings eine Spannung zwischen den Freiheitstheorien in seinen früheren Werken und in der Religionsschrift. Ein Kernpunkt seiner Moralphilosophie, den Kant in der Religionsschrift weiterhin herausstellen will, ist, dass die gesetzgebende Vernunft für sich selbst allein praktisch ist.87 Er will die Achtung für das Moralgesetz als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür festlegen, was bedeutet, dass sich die Bestim­ mung der Willkür durch das Moralgesetz vollständig erklären lässt. Dies wäre mit dem Begriff der Willkür kompatibel, wenn ihre Beziehung zur Vernunft weiterhin definiert wäre. Aber die Willkür wird nunmehr von der praktischen Vernunft abgekoppelt, sie wird eine unerforschliche, heterogene Instanz ge­ genüber der Achtung fürs Moralgesetz. Die Willkür muss zur Triebfeder des Moralgesetzes hinzukommen, um die Maxime der Handlung zustande zu brin­ gen. Sodann entsteht eine Lücke zwischen der Triebfeder durch die Achtung fürs Gesetz und dem hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür.88 Kant schwankt zwischen diesen beiden verschiedenen Sichtweisen. Seine Ambiva­ lenz zeigt sich darin, wie er die Anlage für die Persönlichkeit erläutert: Kant bezeichnet einerseits die Achtung fürs Gesetz, angesichts des Zusatzes der Will­ kür, lediglich als eine Anlage für die Persönlichkeit; andererseits findet er diese

86 87 88

Siehe die Analyse in Teil 2.1.1 der Arbeit. Religionsschrift, B19. Zum Zusammenhang zwischen der Achtung fürs Gesetz und der Praktizität des Moralge­ setzes vgl. Teil 2.1.3 der Arbeit.

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Bezeichnung unangebracht und identifiziert die Achtung fürs Gesetz nicht mit der Anlage für die Persönlichkeit, sondern mit der Persönlichkeit selbst.89 Ein weiterer Verknüpfungspunkt mit seiner früheren Moralphilosophie be­ steht in der Unabhängigkeit der Freiheit von der Zeitbedingung und der Charakterisierung der Freiheit als etwas Intelligiblen.90 Das Argument in der Religionsschrift, dass die Freiheit als die erste Ursache keine vorhergehende Ursache in der Zeit habe, stimmt mit demjenigen in der KrV überein. Wie in den Kritiken und der GMS argumentiert Kant in der Religionsschrift dafür, dass die freie Handlung keinen zeitlichen Ursprung habe, sondern aus der Ver­ nunft entspringe. Demnach scheint Kant auf den Dualismus von Reinem und Empirischem, wie er allgemein in der Transzendentalphilosophie vorherrscht, zurückzugreifen. In der Tat tut Kant dies aber in einem sehr beschränkten Ausmaß und verfährt dabei unsystematisch. Er trennt die Freiheit von der Zeitbedingung, ohne sie zugleich vom Einfluss der Naturtriebfeder zu trennen, die doch die Zeitlichkeit in sich trägt. Denn die Willkür könnte so empirische Prinzipien in die Maxime aufnehmen. Mit dem Vernunftursprung betont Kant in der Religionsschrift nur die Zeitlosigkeit, ohne jedoch der zeitlosen Ver­ nunftbestimmung in ihrer Reinheit, Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit gerecht zu werden. Diese Ansprüche können laut der Theorie in der GMS und der KpV nur durch das Moralgesetz erfüllt werden, doch der Vernunftur­ sprung in der Religionsschrift wird mit einer apriorischen bösen Maxime des Menschengeschlechtes in Verbindung gebracht. Mit dieser punktuellen Bezugnahme auf die Moralphilosophie vollzieht Kant freilich keine Integration der Neuauffassung der Willkürfreiheit in seine frü­ here Moral- und Freiheitstheorie. Seine Absicht ist es vielmehr, das radikale Böse im Menschen abzuleiten. Zu diesem Zweck ist der unbestimmte und unerforschliche Freiheitsbegriff unfruchtbar. In der Auseinandersetzung mit der Anlage zum Guten und mit dem Hang zum Bösen tendiert Kant dazu, sich über die Unbestimmtheit zwischen Gut und Böse hinwegzusetzen und auf die jeweilige Bestimmung des Guten und des Bösen einzugehen. Er ver­ schiebt schrittweise die Perspektive von einem Willkürkonzept, dessen Kern in der unerforschlichen Unbestimmtheit zwischen beiden Richtungen besteht, zu einem, das den hinreichenden Erklärungsgrund für jede einzelne bestimmte 89

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Religionsschrift, B18 f.: „Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzer­ trennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet). Aber daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, der subjective Grund hierzu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen.“ Religionsschrift, B40: „[S]o wird die Bestimmung der Willkür zu ihrer Hervorbringung nicht als mit ihrem Bestimmungsgrunde in der Zeit, sondern blos in der Vernunftvorstel­ lung, verbunden gedacht und kann nicht als von irgend einem vorhergehenden Zustande abgeleitet werden […].“

Richtung darbietet. Die oben erwähnten, ambivalenten Ausführungen bezüg­ lich der Achtung fürs Gesetz verraten die Spannung in diesem Perspektiven­ wechsel. Zur Erklärung und Bestimmung des moralisch Guten will Kant die Achtung fürs Gesetz als hinreichenden Bestimmungsgrund ausweisen; indem er dies unternimmt, droht er allerdings die unbestimmte Instanz der Willkür zu verdrängen. Was die „Anlage“ betrifft, lässt Kant jedoch, trotz des oben erwähnten Zö­ gerns, immer noch Raum für die zur Anlage hinzukommende, unbestimmte Willkür. Er meint mit der Anlage nur eine Tendenz, welche eine Bestimmung nicht notwendig herbeiführt. Gerade deswegen bleibt die „Anlage“ allerdings hinter dem Erfordernis zurück, das Gute oder das Böse vollständig zu erklären. Denn Gut und Böse hängen von der Willkür ab, die sich außerhalb der Anlage befindet. Zur Erklärung des radikalen Bösen beim Menschen führt Kant einen weiteren Begriff ein, nämlich den des Hangs zum Bösen. Er definiert den Hang zunächst als den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung bzw. Prädisposition zum Begehren eines Genusses.91 Mit den Ausdrücken „Möglich­ keit“, „Neigung“92 und „Prädisposition“ deutet Kant anscheinend auf einen un­ bestimmten Spielraum für die Willkür, den sie über den Hang hinaus besitzt. Somit scheint der „Hang“, ebenso wie die „Anlage“, lediglich eine Tendenz erklären zu können. Aber Kant macht darauf aufmerksam, dass sich ein Hang von einer Anlage unterscheidet. Ein Hang könne zwar angeboren sein, aber er werde als vom Menschen erworben oder zugezogen gedacht.93 Das heißt, dass der Hang dem Menschen zugerechnet wird. Somit verhält sich die Willkür anders zum Hang als zur Anlage. Sie liegt nicht außerhalb des Hangs, sondern ist im Hang miteinbegriffen. Da der Hang dem Menschen zugrechnet wird, impliziert er eine Maxime der Willkür. Kant definiert den Hang ferner als den subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür, der jeder empirischen Tat vorhergehe und selbst noch nicht Tat sei.94 Dadurch verknüpft Kant die zweite Willkür doch mit einem Bestimmungsgrund – nämlich mit dem Hang, in den die erste Willkür miteinbezogen ist. Gerät Kant dadurch nicht in einen infiniten Regress, vor dem er ursprünglich selbst gewarnt hat? Konzipiert er dadurch den Hang nicht als ein doppeltes Vermögen der Maxime und versucht, die Maxime der Willkür durch eine weitere Maxime zu erklären? Diese Dopplung scheint durch die zwei Tat-Arten bestätigt zu werden. Der Hang betrifft die intelligible Tat, wodurch die oberste Maxime in die Willkür 91 92 93

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Religionsschrift, B20 f. Wood (1970) macht darauf aufmerksam, dass Kant die Neigung eventuell auf eine Voliti­ on verweist, die durch eine Neigung veranlasst wird. Vgl. Wood (1970), S. 216. Religionsschrift, B21: „Er unterscheidet sich darin von einer Anlage, daß er zwar angebo­ ren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.“ Religionsschrift, B25.

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aufgenommen wird. Die andere Tat, die die Handlung gemäß der Maxime ausübt, lässt sich Kant zufolge auch mit der Freiheit vereinigen. Dadurch ver­ sucht Kant, einerseits den Hang mit der Maxime der Willkür zu verbinden, um seinen erworbenen oder zugezogenen Charakter zu rechtfertigen – andererseits versucht er, den Hang von der willkürlichen Handlung fernzuhalten, die stark an die Zufälligkeit und die Unbestimmtheit erinnert. Mit dem Ausdruck „die oberste Maxime“95 weist Kant auf eine Hierarchie der Maximen hin, in der sich die mannigfaltigen niederstufigen Maximen durch die oberste Maxime erklären und verallgemeinern lassen. Durch diese Hierarchie führt der Hang mit seiner Implikation der Maxime nicht zu einem sinnlosen Regress, sondern weist auf etwas Intelligibles, Allgemeines und Bestimmtes hin, das zwischen der Gegebenheit der Anlage und der Unbestimmtheit der Willkür laviert. Anschließend betrachtet Kant den Hang zum Bösen als subjektiv notwendig, weil er allgemein und auch im besten Menschen vorauszusetzen sei. Außerdem hält er ihn für angeboren und radikal, weil die Verderbtheit der obersten Maxime allem zeitlichen Geschehen vorangehe und nicht auszurotten sei. Aber warum sollte es gerade einen Hang zum Bösen und nicht vielmehr einen zum Guten geben? Kant argumentiert im Wesentlichen dadurch, dass er zahlreiche Beispiele des Bösen aus der Erfahrung anführt.96 Er glaubt, dass ein formeller Beweis unnötig sei,97 obwohl er den Hang zum Bösen als etwas Allgemeines betrachtet. Insofern bleibt dieser Teil des Beweises hinter dem philosophischen Anspruch seines Kritizismus zurück, dem zufolge die Allgemeinheit eines Ur­ teils gerade nicht aus der Erfahrung abzuleiten ist.98 Kant lenkt den Fokus seines Beweises nicht auf das Prädikat „böse“ im Gegensatz zu „gut“, sondern darauf, dass das Böse angeboren und allgemein sei und ursprünglich von Natur aus bestehe. Wie gezeigt, stellt Kant eine Hierarchie der Maximen auf, um die Allgemeinheit der Maximen abzuleiten. Man kann jedoch hinterfragen, ob diese gleichsam ontologische Struktur der Maximen angebracht ist; ferner, ob die Maximen niederer Stufen, wenn sie durch die oberste Maxime erklärt werden, nicht ihre Unbestimmtheit und Wahlmöglichkeit verlieren. Damit wird der Spielraum für die Maxime bei einer individuellen Entscheidung infrage gestellt, mit der die Zurechenbarkeit 95 96 97 98

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Religionsschrift, B25. Religionsschrift, B28–31. Religionsschrift, B27f. Kants Erläuterungen der Schwäche, Unlauterkeit und Bösartigkeit des menschlichen Her­ zens sind streng genommen nur anthropologische Beschreibungen und keine apriorische Ableitung. In B33 bringt Kant den Standpunkt ausdrücklich zum Ausdruck, dass das Böse a priori erkannt werden müsse. Aber in den darauffolgenden apriorischen Ausfüh­ rungen wird nur erklärt, was das Böse ist (die Verkehrtheit der Maximen), nicht aber, warum der Mensch radikal böse ist. Ein apriorischer Beweis des radikalen Bösen liegt daher nicht vor. Vgl. Michalson (1987), S. 246: “Kant never really explains moral evil in the discussion of radical evil in Religion. To be sure, he offers a definition of what moral evil is, by the terms of philosophy. Nevertheless, he never accounts for evil […].”

unmittelbar zusammenhängt.99 Um die Unbestimmtheit der Willkür mit der Allgemeinheit des Bösen in Einklang zu bringen, bietet Kant noch eine weitere Lösung an, die darin besteht, den subjektiven Grund der Maxime als mit der Natur der Menschheit verwoben vorzustellen: Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber der Freiheit wegen für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjective oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sei wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radicales, angeborenes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.100

Diese Lösung betont keine ontologische Struktur unter den Maximen, sondern verlegt den Erklärungsgrund für die Maxime der Willkür in die Grundeigen­ schaft der Willkür selbst. Dadurch wandelt Kant die Willkür von Unbestimmt­ heit zu Bestimmtheit. Kant argumentiert, dass die Zurechenbarkeit der Willkür dadurch nicht gefährdet werde, weil diese Grundeigenschaft der Willkür selbst zugewiesen werde und nicht aus einem fremden Ursprung stamme. Er nennt diese Grundeigenschaft der Willkür die menschliche Natur und behauptet, dass das Böse in der menschlichen Natur verwurzelt sei. Die Redeweise von „Natur“ legt die Instanz der Bestimmtheit nahe. Es ist klar, dass Kant die Natur hier anders als gewöhnlich definiert, weil sie der Vernunft offensichtlich nicht ent­ gegengesetzt ist. Aber der transzendentalphilosophische Status der „Natur“ ist an dieser Stelle unklar. Es lässt sich schwerlich beweisen, dass sich die „Natur“ der Menschheit von der Naturkausalität und von der Gegebenheit (wie zuvor bei der Anlage) lösen kann und dass dementsprechend die Selbstbestimmung der Willkür nicht bloß eine Täuschung ist. Diese Schwierigkeit wird dadurch besonders gesteigert, dass Kants Freiheitskonzept in der Religionsschrift auch auf die Absonderung des Intelligiblen vom Empirischen Bezug nimmt. Diese Absonderung legt eine transzendentalphilosophische Einordnung innerhalb der Freiheitskonzeption nahe. Kants Charakterisierung der Freiheit als etwas Intelligibles gilt als ein weite­ rer Schritt dahin, den Begriff der Willkür positiv zu bestimmen. Kant stellt fest, dass die apriorische Eigenschaft der Willkür angeboren sei, weil die Tat der Freiheit nicht in der Zeit geschehe. Dies führt auf die Schwierigkeit, wie es zu verstehen ist, dass das Subjekt sich das Böse gleichsam zuzieht.101 Eine weitere, damit zusammenhängende Schwierigkeit besteht noch darin, zu 99 100 101

Michalson (1990), S. 56 f. Religionsschrift, B27. Laska (1792), S. 390.

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begreifen, wie man seinen moralischen oder unmoralischen Charakter im Lauf des Lebens ändern kann. Laut Kant ist auch die Änderung des Herzens intelli­ gibel. Sie geschehe nicht durch eine allmähliche Reform des Verhaltens und der Gewohnheit, sondern durch eine Revolution in der Gesinnung.102 Diese Änderung sei wie eine Wiedergeburt und eine neue Schöpfung des Herzens. Im Vergleich zum Konzept der transzendentalen Freiheit in seinen früheren Werken, die durch das Vernunftgesetz ihre ratio cognoscendi erhält, ist die Idee der intelligiblen Freiheit in der Religionsschrift hinsichtlich der außerzeitlichen Änderung des Herzens geradezu transzendent. Unabhängig davon, ob die Willkür nun als Unbestimmtheit oder Bestimmt­ heit ausgelegt wird, bringt Kant das Freiheitskonzept in der Religionsschrift nicht mehr mit der gesetzkonformen praktischen Vernunft zusammen. Die Willkür wird entweder als Unbestimmtheit, das heißt Wahlfreiheit, definiert, oder mit einer apriorischen Eigenschaft des Bösen zusammengeführt. Die Span­ nung zeigt sich zwischen diesem Konzept und seiner Freiheitstheorie in den früheren Werken in vielerlei Hinsicht. Die Theorie der Willkürfreiheit in Kants Religionsschrift wird im moraltheologischen Kontext entwickelt. Sie ist ange­ lehnt an gewisse Prinzipien aus der Ethik, wird aber weder in die Systematik der gesamten Moralphilosophie integriert noch mit dem Begriff der Willens­ freiheit vereinigt, wie er in der Moralphilosophie auftritt. In der MS befasst sich Kant mit der Vereinigung von „Wille“ und „Willkür“ und führt seine Untersuchungen fort. 2.2.2. Die Rückkehr der praktischen Vernunft in der Metaphysik der Sitten Im Jahr 1797 wurde Kants Schrift zur Rechts- und Tugendlehre Die Metaphysik der Sitten (MS) veröffentlicht. Dieses Werk ist eine doktrinale Ausarbeitung der praktischen Philosophie, deren Prinzipien in den Schriften GMS und KpV fun­ diert werden. In der Einleitung zur MS thematisiert Kant den Freiheitsbegriff, im Anschluss an die Freiheitslehre von GMS und KpV. Auf dieser Grundlage entwickelt er Explikationen, die seine Freiheitstheorie in ein neues Licht tau­ chen. Zur merkwürdigen Neuerörterung des Freiheitskonzepts in der MS gehört vor allem die Klärung des Verhältnisses von „Wille“ und „Willkür“. Vor 1797 gebrauchte Kant die beiden Termini nicht streng und behandelte sie manchmal als austauschbar, obwohl eine generelle Verschiedenheit zwischen den beiden auszumachen war.103 In der MS differenziert Kant „Wille“ und „Willkür“ expli­ zit, wodurch er, wie schon in der Religionsschrift, dem Begriff der Willkür 102 103

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Religionsschrift, B54. Die Willkür wird als neutrale handlungsnahe Wahlfreiheit von dem Willen als die formelle gesetzgebende Volition unterschieden. Siehe Anmerkung 43 in der Einleitung der Arbeit; vgl. dazu noch Sidgwick (1888) und Hudson (1991).

viel Aufmerksamkeit widmet, der in früheren ethischen Schriften nur marginal auftritt. Auch wenn dieser Begriff in der Religionsschrift eine zentrale Stelle einnimmt, bleibt es unklar, wie er sich zum Willensbegriff in seinen früheren Werken verhält. In der MS erläutert Kant den Zusammenhang von „Willkür“ und „Wille“ so, dass beide durch eine unterschiedliche Rollenaufteilung be­ stimmt sind: Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber für sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.104

Dem Zitat ist zu entnehmen, dass Kant Wille und Willkür als zwei Aspekte des Begehrungsvermögens differenziert, nämlich des legislativen und des exekuti­ ven Vermögens, und zugleich miteinander korreliert. Der Wille schreibe die Prinzipien für die Willkür vor; die Willkür setze sie durch die Handlung um. Ferner entspreche die praktische Vernunft der Einheit von „Wille“ und „Will­ kür“, denn sie verlange, dass die vom Willen vorgeschriebenen Prinzipien die Willkür bestimmen. Man kann „Wille“ und „Willkür“ nach dieser Rollenauf­ teilung an das Moralgesetz als das principium diiudicationis bzw. das principium executionis binden. Diese Einordnung scheint sowohl das Verhältnis von „Wille“ und „Willkür“ zu klären als auch die Vermittlung zwischen der Aufstellung des Gesetzes und der Ausführung desselben zu leisten. Aber wenn man diesen Vereinigungsver­ such näher betrachtet, sieht man, dass er sich auf keine tief gegründete und einheitliche Basis, sondern auf zwei Begriffe stützt, die nicht vereinigt sind und verschiedene Interpretationen zulassen. Der erste Begriff ist das Begehrungsvermögen. Im obigen zitierten Text erläu­ tert Kant das Begehrungsvermögen als „ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen“. Der Ausdruck „nach Belieben“ scheint für das Begehrungs­ vermögen nicht die Verbindlichkeit des Moralgesetzes, sondern vielmehr die Willkürlichkeit zu implizieren. Das Begehrungsvermögen überhaupt beinhal­ tet nicht nur das obere Begehrungsvermögen, das sich dem Moralgesetz unter­ wirft, sondern auch das untere Begehrungsvermögen, das dem Naturtrieb folgt. Darüber hinaus bestimmt Kant den Begriff des Begehrungsvermögens dadurch, dass in ihm, statt im Objekt, der Bestimmungsgrund der Handlung liegt. Kant 104

MS, AA VI, S. 213.

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erörtert nicht näher, wie er die Selbstbestimmung von der Bestimmung durch das Objekt abgrenzt. Aber die Ausdrucksweise erinnert stark an die Auslegung der Willkür in der Religionsschrift, wo der subjektive Bestimmungsgrund – im Gegensatz zum objektiven Bestimmungsgrund – als die Basis der Selbstbestim­ mung, die die Zurechenbarkeit rechtfertigt, angesehen wird. Wenn man das Verständnis von „Wille“ und „Willkür“ am Begehrungsvermögen ausrichtet, wird der Wille so aufgefasst, dass er der Willkür sowohl gesetzmäßige als auch gesetzwidrige Prinzipien vorschreibt.105 Laut dieser Lesart würde der Wille auf das Vermögen der Maximen reduziert, womit die gesetzgebende Bedeutung des Willens für die Einheit „Wille-Willkür“ auf der Basis des Begehrungsvermögens geopfert zu werden droht. Außerdem ist der Begriff des Begehrungsvermögens ursprünglich aus der Psychologie entlehnt;106 er ist dementsprechend nicht sonderlich tief in Kants Transzendentalphilosophie verankert und kann daher auch eine tiefgehende Einheit von „Wille“ und „Willkür“ kaum leisten. Der andere Begriff im obigen Zitat, der die Einheit „Wille-Willkür“ betrifft, ist die praktische Vernunft. Die praktische Vernunft verweist auf das Moralge­ setz und verbindet sich ohne Hindernis mit dem Willen. Aber wie lässt sich die praktische Vernunft mit der Willkür verbinden? Die praktische Vernunft an jener Stelle im erweiterten Sinn als allgemeine Reflexion über das Begeh­ rungsvermögen zu interpretieren (im Sinn von sowohl technisch-praktischer Vernunft als auch von rein praktischer Vernunft), ist meines Erachtens eine unangemessene Lesart. Erstens würde sie den besonderen Bezug auf das Moralgesetz unterschlagen, wie es bei der vom Begriff „Begehrungsvermögen“ ausgehenden Interpretation der Fall ist. Dieser Bezug ist jedoch für das Freiheitsverständnis in der MS wesentlich.107 Zweitens weist Kant in seinen anderen ethischen Schriften und auch an einer anderen Stelle der MS dem Willen das Moralgesetz zu, der Will­ kür dagegen die Maximen.108 Drittens bedeutet der Terminus „die praktische Vernunft“ bei Kant gewöhnlich nur die Vernunft im praktischen Gebrauch, die das Moralgesetz aufstellt und ausübt. Die andere Art der handlungsleitenden Vernunft, die den Geschicklichkeits- oder Klugheitsregeln folgt, wird bei Kant die „technisch-praktische“ Vernunft genannt. Nirgendwo vermischt er diese beiden Arten von Vernunft. Viertens entspricht die Erörterung der praktischen 105

106 107 108

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Allison (1990), S. 130: „To begin with, all of the formulations agree with in equating Wille, or will in its legislative function, with practical reason. Considered as such, Wille is the source of the laws that confront the human Willkür as imperatives. Although Kant is silent on the point, it seems clear that this must include both the categorical und hypothetical imperatives or, more generally, moral and prudential principles. Both, therefore are higher-order rules governing our selection of maxims and both are prod­ ucts of practical reason. “ KpV, AA V, S. 9. MS, AA VI, S. 226f. Dieser Punkt wird unten näher erläutert werden. MS, AA VI, S. 226.

Vernunft im obigen Zitat, dass der Bestimmungsgrund des Willens die Willkür bestimmt, dem principium diiudicationis und dem principium executionis der praktischen Vernunft, wie sie Kant in der KpV erörtert. Die Formulierung „sofern sie die Willkür bestimmen kann“ akzentuiert genau jene Bedeutung von „praktisch“ aus der KpV, der zufolge das Moralgesetz verbindlich und an­ wendbar wird.109 Der gesetzgebende Wille und die durch das Gesetz bestimmte Willkür machen zusammen die Bedeutung der Autonomie aus.110 Daher sollte man die Interpretation der Willkür an der Verbindlichkeit des Moralgesetzes ausrichten, wenn man die praktische Vernunft als die Basis der Einheit „WilleWillkür“ ansieht. Sodann muss man in der Deutung der Willkür Kompromisse eingehen, um die Willkür mit dem Moralgesetz zu verbinden. Dies bedeutet, dass die Wahl wider das Gesetz, die zur Erklärung des Bösen und der morali­ schen Zurechenbarkeit wichtig ist, nicht Teil der Bedeutung der Willkür sein kann. Nach der obigen Analyse stellt sich heraus, dass das Verständnis von „Wille“ und „Willkür“ variiert, je nachdem, ob man vom Begriff des Begehrungsvermö­ gens oder vom Begriff der praktischen Vernunft ausgeht. Ferner ergibt sich, dass weder das Begehrungsvermögen noch die praktische Vernunft eine ideale Grundlage bieten, um die verschiedenen Bedeutungen von „Wille“ und „Will­ kür“ zu vereinigen. Weder der Ausgangspunkt vom Begehrungsvermögen noch der von der praktischen Vernunft können der Spannung zwischen „Wille“ und „Willkür“ gerecht werden. Um „Wille“ und „Willkür“ miteinander zu verbin­ den, müssen in beiden Fällen entweder der Wille oder die Willkür verstümmelt werden. Kant scheint sich dafür zu entscheiden, die handlungsbezogene Willkür in den Mittelpunkt zu stellen und den gesetzgebenden Willen beiseite zu drängen, wenn er festlegt, dass die Freiheit nicht im Willen, sondern in der Willkür liege. Dies legt eine Ähnlichkeit mit seiner Position in der Religionsschrift und eine Abweichung von seiner gewöhnlichen Position in den Grundlegungs­ schriften zur Ethik nahe. Kant führt aus: Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkür kann frei genannt werden.111 109

110 111

Allison übersieht diese Bedeutung von „praktisch“ bei Kant, wenn er die praktische Vernunft lediglich mit der legislativen Instanz verbindet; vgl. Alison (1990), S. 130. Ob­ wohl Kant selbst an einzelnen Stellen die praktische Vernunft mit der gesetzgebenden Funktion gleichstellt (MS, AA VI, S. 226), ist dies aus seiner gesamten Theorie nicht abzuleiten. Allison (1990), S. 131. MS, AA VI, S. 226.

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Wie das Zitat zeigt, betrachtet Kant die exekutive Instanz oder die Nötigungsfä­ higkeit, die dem Willen fehle, als ein Merkmal der Freiheit. Deswegen könne nur die Willkür frei genannt werden. Außerdem scheint Kant das „schlechter­ dings [N]otwendig[e]“ des Gesetzes, das dem Willen angehöre, als das Gegen­ teil von Freiheit anzusehen. Insofern lässt sich weiter interpretieren, dass Kant die Freiheit möglicherweise mit der Unbestimmtheit der Willkür bei der Aus­ wahl der Maximen verbindet. Diesen Standpunkt hat Kant in der MS allerdings nicht expliziert, ja überraschenderweise gibt er kaum eine Erklärung für die oben zitierte Aussage. Zur Unterstützung der obigen Lesart, die die Unbestimmtheit der Willkür im Anschluss an das Freiheitsverständnis in der Religionsschrift suggeriert, kann man eine Äußerung bezüglich der Zurechenbarkeit in der MS112 heranzie­ hen. Demnach setze die willkürliche Handlung das Subjekt an die Stelle des Urhebers und könne so die Zurechnung rechtfertigen. Das spricht anscheinend für eine ähnliche Position wie in der Religionsschrift. Es ist dabei jedoch zu beachten, dass Kant die besagte Handlung den „Gesetzen der Verbindlichkeit“ unterwirft. Insofern wird das Böse, welches in der Religionsschrift intensiv thematisiert wird und welches dort für die Bedeutung der Willkür ausschlagge­ bend ist, an dieser Stelle gar nicht berücksichtigt. Demzufolge lässt sich die In­ terpretation, die Unbestimmtheit der Willkür im Gegensatz zur Bestimmtheit des Willens für die Bedeutung der Freiheit zu halten, nicht begründen. Eine weitere Stelle aus der MS gibt mehr Aufschluss über den Grund von Kants Verortung der Freiheit in der Willkür.113 Dieser Stelle zufolge drückt das Gesetz den Willen des höchsten Gesetzgebers aus. Hinsichtlich der Endlichkeit der menschlichen Vernunft sei „Urheber der Verbindlichkeit“ ein angemessenerer Ausdruck als „Urheber des Gesetzes“. Somit betont Kant mit der allein frei zu nennenden Willkür nicht die Unbestimmtheit und Wahlfreiheit,114 sondern nur die Verbindlichkeit des Moralgesetzes.

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113

114

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MS, AA VI, S. 223: „That heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbind­ lichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Act als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusamt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlich­ keit ruht.“ MS, AA VI, S. 227: „Gesetz (ein moralisch praktisches) ist ein Satz, der einen kategori­ schen Imperativ (Gebot) enthält. Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der Gesetzgeber (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Falle würde das Gesetz positiv (zufällig) und willkürlich sein. Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden […].“ Vgl. Römpp (2006), S. 64 f.

Viele Interpreten legen keinen großen Wert auf Kants außergewöhnliche Aussage zur Verortung der Freiheit in der Willkür.115 Sie verweisen auf eine Äußerung aus Kants Vorarbeiten zur MS: Die Willkühr ist also frey zu thun oder zu lassen, was das Gesetz befiehlt. Aber der Wille ist auf eine andere Art frey, weil er gesetzgebend nicht gehorchend ist, weder dem Gesetz noch einem andern u. so fern ist die Freyheit ein positives Vermögen nicht etwa zu wählen denn hier ist keine Wahl, sondern das Subject in Ansehung des sinnlichen der Handlung zu bestimmen.116

Demnach besteht Kant in der MS weiterhin auf einem Freiheitskonzept, das nicht als Wahlfreiheit zu verstehen ist, sondern in der Unabhängigkeit der gesetzgebenden praktischen Vernunft von der sinnlichen Bedingtheit besteht. Kants weitere Erörterung der Willkür in der MS zeigt, dass er nicht dem Ver­ einigungskonzept nachgeht, welches sich am Begehrungsvermögen und der da­ mit zusammenhängenden Willkürlichkeit orientiert. Stattdessen folgt er einer auf „praktischer Vernunft“ basierenden Kompromisslösung, um die Einheit von „Wille-Willkür“ herzustellen. Kant betont nicht mehr die Willkürlichkeit und Wahlfreiheit wie in der Religionsschrift, sondern kehrt zurück zum Frei­ heitsverständnis seiner früheren Werke, wo es sich an der praktischen Vernunft und am Moralgesetz ausrichtet. Kant definiert die Freiheit der Willkür positiv als „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“, und negativ als „jene Unabhän­ gigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“.117 Diese Definition unter­ scheidet sich nicht von der Willensfreiheit in der GMS und in den ersten zwei Kritiken.118 Kant ist bewusst, dass die menschliche Willkür für sich unrein und dem Moralgesetz nicht unbedingt konform ist. Wie hebt er die Willkür auf die gleiche begriffliche Ebene wie die reine praktische Vernunft? Kant folgt, wie in der KrV, zuerst der Argumentationsstrategie, die Willkür als die negative Bedeutung der Freiheit auszulegen. Die Willkür werde zwar durch den Antrieb affiziert, aber nicht bestimmt. Sie sei nicht arbitrium brutum sondern arbitrium liberum. Somit träfen die Willkür und die praktische Ver­ nunft in der negativen Bedeutung der Freiheit, nämlich der Unabhängigkeit vom sinnlichen Antrieb, zusammen. Aber eine nähere Untersuchung zeigt, dass der Grad der Unabhängigkeit bei der Willkür und bei der praktischen Vernunft verschieden ist: Denn bei der Willkür gibt es nur den Anfang oder die Möglich­ keit der Unabhängigkeit; mit dem arbitrium liberum beginnt der Mensch, sich 115 116 117

118

Wyrwich (2011), S. 146; Bojanowski (2006), S. 241. MS-Vorarbeiten, AA XXIII S. 249. MS, AA VI, S. 213 f.: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestim­ mung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze.“ Vgl. Josifovic/Kok (Hg.) (2016), S. 55.

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vom sinnlichen Antrieb zu lösen. Die praktische Vernunft bedeutet demgegen­ über die Vollendung und die Notwendigkeit der Unabhängigkeit. Sie ist voll­ ständig und ausnahmslos unabhängig von der Bestimmung der Sinnlichkeit. Wenn man ferner Kants Dualismus und Rigorismus – samt dessen Alles-oderNichts-Regel,119 der zufolge nur eine völlige Hingabe an die übersinnlichen Vernunftprinzipien ermöglicht, sich von der Sinnlichkeit loszureißen – berück­ sichtigt, kann nur die praktische Vernunft als unabhängig betrachtet werden. Somit ist dieses Argument unzureichend für die Integration der Willkür in die Freiheitstheorie, die sich nach der praktischen Vernunft richtet. Kant lenkt mit der oben erwähnten Aufteilung der kognitiven und konati­ ven Rolle den Fokus auf einen anderen Unterschied zwischen „Wille“ und „Willkür“, welcher weniger schwer zu überbrücken ist. Die legislativen und exekutiven Instanzen sind an sich leicht zu vereinbaren. Aber diese Rollenauf­ teilung bietet keine Lösung für eine tiefer liegende Schwierigkeit, nämlich die oben angesprochene Kluft zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, welche die Willkür und der Wille jeweils implizieren. Das vom Willen aufgestellte notwendige Gesetz wird nicht unbedingt von der Willkür in ihre Maxime aufgenommen. Daher sind noch zusätzliche Schritte nötig, um die Willkür mit dem Willen zu harmonisieren. In der MS wagt Kant den Schritt, einige Bedeutungsbestandteile der Willkür zu opfern, um das Freiheitskonzept einheitlich auf die praktische Vernunft und das Moralgesetz zu beziehen. Anders als in der Religionsschrift definiert Kant die Willkür nicht mehr als die Wahlfreiheit, nach dem Gesetz oder wider dasselbe zu handeln. Er bringt seinen Standpunkt explizit zum Ausdruck: „Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definiert werden […].“120 Kant weist diese Bedeutung der Willkür zurück, weil sie in einen morali­ schen Indifferentismus (libertas indifferentiae) zu geraten drohe. Ferner verfehle diese Definition das Wesen der Freiheit, nämlich ihren Bezug aufs Moralgesetz. Denn das Vernunftwesen könne sich nur durch das Moralgesetz von der Natur­ notwendigkeit losreißen und seiner Freiheit bewusst werden. Kant gibt zu, dass die Willkür ein beliebiges Tun oder Lassen impliziert. Aber das Phänomen der Wahlmöglichkeit gehöre nicht zum Wesen der Freiheit und tauge nicht zum Unterscheidungsmerkmal der Freiheit, das die menschliche Willkür vom arbitrium brutum unterscheidet. Somit schlägt Kant eine Trennung zwischen dem Phänomen und dem Wesen der Willkür vor. Er abstrahiert das Wesen der Willkür vom gesetzwidrigen Phänomen und bezieht es nur auf das höhere oder ideale Merkmal derselben, nämlich auf die Vernunft oder das Vernunftgesetz.

119 120

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Siehe Teil 2.1.1 der Arbeit. MS, AA VI, S. 226.

Außerdem begründet Kant seine Zurückweisung der Willkür als Wahlfrei­ heit dadurch, dass sich die freie Willkür als ein übersinnliches Objekt durch die sinnliche Erscheinung der Wahl nicht erklären lasse. In der GMS folgt er dem Ansatz, das Reine vom Empirischen zu trennen. Kant hebt den intelligiblen Charakter der Willkür- bzw. der Willensfreiheit hervor. Die Willkürentschei­ dung gegen das Gesetz lasse sich nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die Willkürentscheidung für das Gesetz. Kant nennt allein die Freiheit in Bezug auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ein „Vermögen“; die Wahlmöglichkeit, vom Gesetz abzuweichen, nennt er dagegen ein „Unvermögen“. Die Wahlfrei­ heit, in der die beiden zusammengeführt werden, laufe auf eine unzulässige definitio hybrida hinaus.121 Kants Lösung ist in zweierlei Hinsicht unbefriedigend. Zum einen abstra­ hiert sie so stark vom Bezug der Willkür auf das Phänomenale bzw. auf die Sinnlichkeit, dass dieser kaum noch einzuholen ist. Durch die Abstraktion lässt sich der Übergang vom Reinen zum Empirischen, vom Idealen zum Realen nicht begrifflich erklären. Es wird schwer verständlich, was die Willkür über­ haupt zur Ausführung des Moralgesetzes befähigt. Dies erschwert letztlich den Beweis der Anwendbarkeit und Verbindlichkeit des Moralgesetzes. Zum anderen passt die Wahlfreiheit, besonders die Wahlfreiheit wider das Moralgesetz, nicht in diese Definition der Freiheit hinein. Kant schreibt, „daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Sub­ ject auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann“.122 Dies hat zur Folge, dass die moralische Zurechenbarkeit und das Böse unerklärlich sind. Das Kernverständnis der Willkürfreiheit, wie sie in der Religionsschrift dargestellt wird, wird somit wieder aufgegeben. Es wird nicht mit der Willensfreiheit im Sinn von praktischer Vernunft vereinigt. Kant kehrt in der MS zurück zu seiner früheren Position, wie er sie in der GMS und den ersten zwei Kritiken entwickelte.123 Allison (1990) versucht, Kants Theorie aus dieser Verlegenheit zu retten. Er ist der Meinung, dass es für Kant möglich sei, den Willen mit der Wahlfreiheit gegen das Moralgesetz zu vereinbaren. Er argumentiert, dass das Vermögen, nach dem Moralgesetz zu handeln, nicht die Möglichkeit ausschließe, wider das Moralgesetz zu handeln. In diesem Punkt stimme ich ihm zwar zu, aber das Problem liegt darin, ob das Handeln wider das Moralgesetz in den Freiheitsbe­ griff miteingeschlossen werden darf. Denn es geht in der Diskussion um die Be­ grifflichkeit der Freiheit, weshalb Allisons Argument den Kern der Problematik verfehlt. Außerdem versucht Allison in seinem Argument, die Wahl wider das Gesetz als ein Vermögen zu konzipieren. Er argumentiert, dass nur ein Wesen, das sich für die Befolgung des Gesetzes entscheiden könne, auch die Fähigkeit 121 122 123

MS, AA VI, S. 227. MS, AA VI, S. 226. Prauss (1981), S. 293 f.

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habe, sich für die Übertretung des Gesetzes zu entscheiden.124 Aber dadurch vernachlässigt er das Argument von Kant, dass sich die Wahl gegen das Gesetz hinsichtlich ihrer Heterogenität gegenüber der Wahl für das Gesetz nicht als ein Vermögen betrachten lasse. Allisons Methode kann der Verlegenheit, dass die Wahlfreiheit gegen das Moralgesetz in Rahmen der Transzendentalphiloso­ phie nicht einzuordnen ist, nicht abhelfen. Meines Erachtens kann keine simple argumentative Rekonstruktion, wie etwa die von Allison, die oben erwähnten Schwierigkeiten innerhalb der kan­ tischen Konzeption beseitigen. Denn die Spannung zwischen „Willen“ und „Willkür“, zwischen der Aufstellung und der Ausführung des Gesetzes, ist im kantischen Dualismus tief verwurzelt. Nur durch eine gründliche Neufun­ dierung kann eine sinnvolle Vermittlung zwischen „Wille“ und „Willkür“ zu­ stande kommen. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, wie Reinhold diese Spannung zwischen der Willkürfreiheit und der praktischen Vernunft problematisiert und sogar noch intensiviert; ferner wie Fichte eine Systematik herausarbeitet, um das formale Gesetz auf die konkrete Anwendung in der Sinnenwelt zu beziehen.

124

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Allison (1990), S. 135.

3. Reinholds Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft 3.1. Die anfängliche Distanzierung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens Im Jahr 1789 veröffentlicht Reinhold den Versuch einer neuen Theorie des mensch­ lichen Vorstellungsvermögens. Dieser Schrift liegt eine aufklärerische Absicht zu­ grunde, denn Reinhold nimmt sich vor, Kants Vernunftkritik zeitgemäß auszu­ legen, um die aufklärerische Leistung Kants zu verbreiten. Im Jahr 1787 hatte Reinhold bereits großen Erfolg mit einem ähnlichen Vorhaben, als er durch die Briefe I die erste Kritik bekannt machte. Der Versuch gilt sonach als eine Fortführung des Unternehmens in Briefe I, er widmet sich ausdrücklich der Vermittlung und Auslegung der kantischen Philosophie. Aber darin erschöpft sich Reinholds Vorhaben nicht: Er versucht zudem, Kants Vernunftkritik zu systematisieren. Er beginnt eine selbständige Ausarbeitung seiner Elementar­ philosophie, die er als eine Verbesserung bzw. Vollendung der kantischen Phi­ losophie betrachtet. Somit besitzt der Versuch sowohl eine popularisierende als auch eine innovative Seite. Der Großteil des Versuchs betrifft die Erkenntnistheorie – aber die Schrift enthält auch ein Theoriestück zur Willensfreiheit, das hauptsächlich in den Abschnitten „Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens“ und „Die Theorie der Vernunft“ knapp dargestellt wird. Dieses Theoriestück gilt als eine Vorstudie zu seiner späteren Freiheitstheorie. Reinholds Freiheitstheorie im Versuch wird sowohl durch die Popularisierungsorientierung als auch durch die Innovation geprägt, die, wie bereits angedeutet, seine gesamte Theorie des Vorstellungsvermögens ausmachen. Diese Theorie steht in einem komplexen Zusammenhang mit Kants Vernunftkritik und zeigt einerseits Reinholds KantRezeption und andererseits die ersten Ansätze zu seiner allmählichen Entfer­ nung von der kantischen Philosophie. Im Folgenden werde ich die verschiedenen Ebenen der Freiheitslehre im Versuch darlegen. Ich werde erläutern, wie sich Reinholds Auffassung der Wil­ lensfreiheit von einer Kant nahen Position zu einer Kant ferneren verschiebt. Zunächst wird Reinholds Übereinstimmung mit Kant gezeigt (Teil 3.1.1). Da­ nach wird seine Abweichung von Kant untersucht: Teil 3.1.2 zeigt, dass Rein­ hold nur eingeschränkt mit Kant übereinstimmt, Teil 3.1.3 macht auf Rein­ holds Umbau der Kernargumentation und seine Umdeutung der praktischen Vernunft aufmerksam. Schließlich wird in Teil 3.1. 4 Reinholds Andeutung einer neuen Auffassung der Freiheit im Versuch thematisiert. Indem so die

definitorischen wie argumentativen Modifikationen Reinholds erklärt werden, wird seine anfängliche Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Ver­ nunft dargestellt. 3.1.1. Die Übereinstimmung mit Kant Der Anfang des Versuchs liefert einen Überblick über Reinholds programma­ tische und systematische Vorgehensweise bezüglich der Freiheit. Die Überzeu­ gung der Freiheit wird als die Grundwahrheit der Moralität bezeichnet.1 Da Reinhold die Erörterung der Grundwahrheit von Moral und Religion als den vornehmsten Zweck der Philosophie betrachtet, nimmt der Freiheitsbegriff eine zentrale Stellung in seinem philosophischen Programm ein.2 Diesem Pro­ gramm gemäß soll die Freiheit als der Grundstein der Philosophie fungieren, worin Reinhold Kant nachfolgt. Somit zeigt sich Reinholds Anlehnung an Kant in einer systematischen Hinsicht.3 Eine weitere Bestätigung erfährt dies durch Reinholds programmatisches Vorhaben, die Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit durch die Erkenntnistheorie zu beweisen.4 Für eine vollständige phi­ losophische Begründung der Freiheit, ergänzt Reinhold, muss zudem noch der Beweis der Wirklichkeit der Freiheit5 geliefert werden. Dieses Gefüge der 1 2

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4

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Versuch, S. 91; RGS 1, S. 56. Versuch, S. 74; RGS 1, S. 44: „[…] daß es der vornehmste Zweck der Philosophie sey, der Menschheit über die Gründe ihrer Pflichten und Rechte in diesem, und ihrer Erwartung für das zukünftige Leben allgemeingiltige Aufschlüsse zu geben.“ Reinholds Positionie­ rung innerhalb der Aufklärung spielt dabei eine große Rolle, vgl. Di Giovanni (2010), S. 1–12. Daran schließt sich das Primat des Praktischen im philosophischen Werdegang Reinholds an. Seine anfängliche Rezeption der kantischen Philosophie wird motiviert von der rationalen Auffassung der Religion, welche die KpV liefert. Die KpV sichert einerseits die Religion gegenüber Atheismus und Determinismus ab, gründet andererseits die Reli­ gion auf die Vernunftprinzipien und überwindet somit Aberglauben und Unglauben. Zu Reinholds Rezeption der KpV vgl. RKA 1, S. 312 f.: „Was soll ich Ihnen über diese Abhandlung, was über die Stellen in derselben die meine kleinen Bemühungen betreffen, was über das unschätzbare Geschenk, der Kritik der praktischen Vernunft, wovon ich heut das mir angewiesene Exemplar erhalten, die ich aber bereits vor acht Tag verschlungen habe, sagen? Mein gegenwärtiges Verstummen, und mein ganzes künftiges Leben mag Ihnen danken. […] Wie lieb ist mirs nun daß ich mich in meinen Briefen über die kantische Philosophie bis itzt noch nicht auf die eigentliche Erörterung des moralischen Erkenntnißgrundes der Grundwahrheiten der Religion eingelassen habe.“ Versuch, S. 146; RGS 1, S. 93: „Um dieses Problem [nämlich wie die allgemeingültigen Erkenntnisgründe der Moralität und Religion möglich seien, S. W.] auflösen zu können, muß man vorher eine allgemeingültige Antwort auf die Frage: Was läßt sich überhaupt erkennen? oder: Welches sind die Gränzen des menschlichen Erkenntnißvermögens? ge­ funden haben.“ Dieser Punkt wird im Versuch nicht entfaltet, sondern nur angedeutet. Er soll nach Rein­ holds Plan in einem Werk über das Begehrungsvermögen dargestellt werden, das trotz sei­ ner mehrfachen Ankündigung ausbleibt. In Briefe II gibt Reinhold mehr Aufschlüsse über die Tatsache des Bewusstseins, die ihm zufolge die Wirklichkeit der Freiheit beweisen soll.

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Freiheitsbegründung entspricht Kants Freiheitskonzeption. Denn auch Kant beweist zunächst die Nicht-Widersprüchlichkeit der Freiheit durch die Ausein­ andersetzung mit der transzendentalen Freiheit und thematisiert erst danach den Wirklichkeitsbeweis der Freiheit, wenn er die praktische Freiheit unter­ sucht. Es ist allerdings umstritten, inwieweit Reinhold den programmatischen Plan der Freiheitsfundierung umsetzt6 und dabei dem kantischen Konzept treu bleibt. Darauf werde ich im Folgenden näher eingehen. Die Ausführungen im dritten Buch des Versuchs, vornehmlich im Abschnitt „Die Theorie der Vernunft“, stimmen zunächst mit dem Projekt der Freiheits­ fundierung im ersten Buch überein. Denn sie folgen dem dort entworfenen Ansatz, die Freiheit über die Erkenntnistheorie zu begründen. Obwohl Bemer­ kungen direkt zum Freiheitsbegriff in diesem Text nur definitorisch und frag­ mentarisch ausfallen, lässt sich die Freiheitstheorie in diesem Buch durch den Bezug auf Kant rekonstruieren.7 Zahlreiche Theorieelemente in „Die Theorie der Vernunft“ weisen eine Nä­ he zu Kants Position auf. Zunächst folgt Reinhold Kants kopernikanischer Wende und geht bei der Untersuchung der Freiheit von der Subjektivitätspro­ blematik aus. Er analysiert die Freiheit im Rahmen der transzendentalen Theo­ rie des Vorstellungsvermögens, statt auf einer ontologischen oder metaphysi­ schen Theoriebasis. Im Anschluss an Kant untersucht Reinhold den Ursprung der Freiheit durch die erkenntnistheoretische Analyse der Vermögensgattung der Vernunft.8 Er unterzieht die Freiheit somit einer erkenntnistheoretischen Überprüfung, um ihre Nicht-Unmöglichkeit zu beweisen. Diese subjektivitäts­ theoretische Orientierung ist bei Reinhold noch deutlicher ausgeprägt als bei Kant: Während sich die theoretische Diskussion bei Kant immerhin im Rah­

6

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Aber es ist fraglich, ob dieser Beweis noch im Rahmen der Theorie des Begehrungsvermö­ gens bleibt. Manche Forscher vertreten die These, dass Reinhold im Versuch nur das theoretische Thema behandelt und das praktische Ziel aus den Augen verliert. Vgl. Klemmt (1958), S. VIII: „Zunächst hatte die Elementarphilosophie, als systematisches Ganzes angesehen, eine unleugbare Schwäche, die seit dem Auftreten Fichtes alsbald in die Augen springen mußte. Dies war ihr rein theoretischer Charakter. Bezüglich des Praktischen ging Rein­ hold in der Elementarphilosophie sogar so weit, das ‚Begehrungsvermögen‘ geradezu als ‚Vorstellungsvermögen‘ zu bezeichnen. Seine sich in den letzten Jahren des Jenenser Aufenthalts verstärkenden Bemühungen um Hauptprobleme der praktischen Philosophie […] sind systematisch ohne Bedeutung geblieben.“ Andere Forscher versuchen dagegen, ein holistisches Bild der theoretischen und praktischen Lektüren im Versuch zu rekonstru­ ieren und Anknüpfungspunkte zwischen beiden zu erhellen, vgl. etwa Lazzari (2004), S. 45. Lazzari (2004) unternimmt beispielweise den Versuch, Reinholds Freiheitstheorie zu re­ konstruieren. Zur Rekonstruktion Reinholds Freiheitslehre von 1789 siehe den ersten Teil der Literatur. Dieser Ansatz steht im starken Gegensatz zu dem in Briefe II. In Briefe II wendet sich Rein­ hold von diesem Ansatz ab und einem anderen Weg zu, siehe dazu Teil 3.2, besonders Teil 3.2.4 und 3.2. 7, der Arbeit.

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men einer kosmologischen Fragestellung bewegt, konzentriert sie sich bei Rein­ hold auf das Vorstellungsvermögen per se, das nur die „innere[n] Bedingungen der Vorstellung“,9 nämlich die wesentlichen Bestandteile der Vorstellung, be­ trifft. Des Weiteren übernimmt Reinhold von Kant die Zuordnung von Sinnlich­ keit, Verstand und Vernunft innerhalb des Vorstellungsvermögens. Ebenso übernimmt und unterstreicht er den Unterschied zwischen den verschiedenen Vermögensgattungen in Hinsicht auf die Grade von Rezeptivität und Sponta­ neität. Während die Sinnlichkeit durch das Affiziertwerden bestimmt10 und der Verstand durch die Anschauungsformen gebunden ist, ist die Vernunft an „keine Bedingung der Sinnlichkeit gebunden“ und handelt „nach blossen Formen der Spontaneität“.11 Diese erhebt sich über die Rezeptivität, die die Sinnlichkeit beherrscht. Demnach versteht Reinhold in Übereinstimmung mit Kant die Freiheit im negativen Sinn als die Unabhängigkeit von der Sinnlich­ keit oder Ungebundenheit an sie.12 Das Positive der Freiheit definiert er als die Selbsttätigkeit der Vernunft: In wieferne also das vorstellende Subjekt durch Vernunft handelt, insoferne handelt dasselbe als absolute Ursache, ungezwungen, ungebunden, durch nichts als seine Selbstthä­ tigkeit bestimmt, das heißt frey. Das vorstellende Subjekt muß als eine freye Ursache gedacht werden, in wieferne es als absolute Ursache gedacht wird, und es muß als absolute Ursache gedacht werden, in wieferne es das Subjekt der Vernunft ist.13

Der Ausdruck „freye Ursache“ im obigen Zitat betrifft ein Schlüsselelement auf dem Begründungsweg der Freiheit bei Kant, nämlich die Kategorie der Kausalität. Wie im zweiten Kapitel der Arbeit dargestellt, liegt die Kategorie der Kausalität sowohl der Auffassung der transzendenten Freiheit als einer intelligiblen Ursache, als auch der Allgemeingültigkeit des apriorischen Moral­ gesetzes zugrunde.14 In Anlehnung an Kant verbindet Reinhold im Versuch die Freiheit ebenfalls mit der Kategorie der Kausalität, die er vor allem in § LXXXV 9

10 11 12 13 14

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Versuch, S. 199; RGS 1, S. 127: „Es giebt äussere und innere Bedingungen der Vorstellung. Aeussere, die ausser der Vorstellung selbst vorkommen, von ihr nothwendig unterschieden werden müssen, aber gleichwohl als nothwendige Bedingungen mit ihr verknüpft sind. Innere, die in der Vorstellung selbst vorkommen müssen, wesentliche Bestandtheile der­ selben ausmachen, und nicht von ihr unterschieden werden können, ohne sie selbst aufzuheben.“ Versuch, S. 535; RGS 1, S. 340. Versuch, S. 537; RGS 1, S. 341. Versuch, S. 537; RGS 1, S. 341. Versuch, S. 537; RGS 1, S. 341. Die Verknüpfung der Freiheit mit der Kategorie der Kausalität, deren Allgemeingültig­ keit und Gesetzmäßigkeit die Freiheit charakterisiert, bildet die theoretische Grundlage dafür, erstens die Freiheit formal zu interpretieren und rein apriorisch einzuordnen, zweitens die Freiheit mit moralischen Gesetzen zu verknüpfen, und dadurch drittens die Freiheit mit der praktischen Vernunft zu identifizieren. Im zweiten Kapitel der Arbeit werden diese Schritte ausführlich dargestellt und erklärt.

der „Theorie der Vernunft“ thematisiert. Wegen der Kürze des Textstücks fallen Reinholds Ausführungen relativ dunkel aus. Man kann ihnen jedoch zumindest entnehmen, dass Reinhold die Idee der Freiheit mit der ersten un­ bedingten Ursache in Verbindung bringt. Er schreibt die unbedingte Ursache nicht der Sinnenwelt, das heißt keiner äußeren Erfahrung zu, sondern nur der Vernunft.15 Im Zusammenhang mit der Kategorie der Kausalität fasst Reinhold die Idee der freien Ursache als die Vernunfteinheit der Kausalverknüpfung auf. Ferner knüpft Reinhold die „Kausalität der Vernunft“ an die Handlungsweise der Vernunft, insofern sich die Ursache dieser Kausalität auf das vorstellende Subjekt bezieht.16 Das Moment der Handlungsweise entfaltet Reinhold in den „Grundlinien“, wobei er die Handlungsweise mit dem sittlichen Gesetz eng­ führt.17 Es ist eindeutig, dass Reinhold an dieser Stelle Resultate der kantischen Philosophie rezipiert. Im Zusammenhang mit dem Moralgesetz greift Reinhold in der weiteren Entfaltung der Freiheitstheorie in den „Grundlinien“ auf die kantischen Begrif­ fe von Pflicht und Gebot zurück. Dabei akzentuiert er die Gegenüberstellung von Vernunft- und Naturgesetz, indem er den Gegensatz zwischen rein-ver­ nünftigem und sinnlichem Trieb thematisiert. Im Einklang mit Kant gründet er die Freiheit in der Überordnung des sittlichen Triebs gegenüber dem sinnli­ chen Trieb. Die Freiheit erscheint im Bündnis mit dem rein-vernünftigen Trieb als eine Nötigung oder als ein Zwang dem sinnlichen Trieb gegenüber: Das Bestimmtwerden des sinnlichen Triebes durch die Selbstthätigkeit des Rein-ver­ nünftigen heißt Nöthigung; und die Nothwendigkeit, den sinnlichen Trieb dem Geset­ ze des Reinvernünftigen zu unterwerfen, heißt Pflicht. Diese Nothwendigkeit kündigt sich im Bewußtseyn durch das Sollen an, das in Rücksicht auf die praktische Vernunft freyes Wollen des Gesetzmässigen, in Rücksicht auf das Begehrungsvermögen aber ein Gebiethen ist, dessen Befolgung das durch praktische Vernunft freyhandelnde Subjekt von sich selbst nur durch Zwang erhalten kann, den es seinem eigennützigen Triebe anthut.18

Durch die Verbindung der Freiheit mit der „Pflicht“ und dem „Gebiethen“ schließt sich Reinhold an den Kern der kantischen Freiheitslehre an. Der „Zwang“ der Pflicht ist ein Bedeutungsbestandteil der Freiheit hinsichtlich der Endlichkeit des handelnden Subjekts. Indem Reinhold die übergeordnete Stel­ lung der Vernunft hervorhebt, verknüpft er die Freiheit mit der Vernunft nicht nur im Sinn der Spontaneität der Vernunft und im Sinn der Gesetzmäßigkeit, sondern auch im Sinn von Nötigung und Zwang der Vernunft. Er folgt somit

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Versuch, S. 540, 557f.; RGS 1, S. 343, 353. Versuch, § LXXXVI, S. 558; RGS 1, S. 354. Versuch, S. 573; RGS 1, S. 363: „Die Handlungsweise der reinen Vernunft, in wieferne sie aber dem sittlichen Triebe eigenthümlich ist, heißt Gesetz.“ Siehe dazu noch Versuch, S. 570; RGS 1, S. 361. Versuch, S. 573 f.; RGS 1, S. 363.

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Kant in der Hinsicht, dass er seine rationalistische Auffassung der Freiheit an die äußerste Grenze bringt. 3.1.2. Die Einschränkung der Übereinstimmung mit Kant Obgleich die bisherige Untersuchung zahlreiche Spuren der Übereinstimmung Reinholds mit Kant zeigt, gibt Reinhold den kantischen Freiheitsbegriff nicht in seiner vollen Tiefe wieder. Wenn auch das Absehen von gewissen Merkma­ len des Begriffs für sich allein keine Abweichung bedeutet, spricht der große Strukturwandel in Reinholds Versuch gegen die Lesart, seine Theorie lediglich als Auslegung und Wiedergabe der kantischen Gesichtspunkte zu betrachten. Durch einen Vergleich der einschlägigen Theorieprofile zwischen Kant und Reinhold kann man zur Einsicht gelangen, dass Reinhold nur eingeschränkt mit Kant übereinstimmt. Zunächst besteht der Kern der theoretischen Beweis­ führung für die Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit bei Kant in der Lösung der Antinomie der reinen Vernunft, für welche die Trennung von Ding an sich und Erscheinung fundamental ist. Wie im vorigen Teil dargestellt, gründet das kantische Konzept der Freiheit auf der Dualität von Ding an sich und Erschei­ nung. Diese gilt nicht nur für den Möglichkeitsbeweis der transzendentalen Freiheit, sondern auch für die zugrundeliegende Begrifflichkeit der Freiheit überhaupt. Daran anknüpfend ist das transzendentalphilosophische Gefüge von rein und empirisch bzw. von a priori und a posteriori entscheidend für das Konzept der Freiheit.19 Auf diesem Gefüge basiert außerdem die Bedeutung der Vernunft, die im Gegensatz zur Sinnlichkeit steht und die sich mit der Freiheit verbindet. Bei der Freiheitskonzeption im Versuch spielt dieses Gefüge dagegen keine zentrale Rolle mehr. Stattdessen nimmt Reinhold die Gegensätze von Stoff und Form bzw. von Rezeptivität und Spontaneität zum Leitfaden für seine Freiheitstheorie. Diese Gegensätze gehören zwar zum kantischen Dualis­ mus, aber Kants Dualismus lässt sich bei weitem nicht auf diesen Gegensätzen reduzieren. Insofern ist die reine Spontaneität zu eng gefasst für das kantische Vernunft- und Freiheitskonzept. Darüber hinaus kann die Spontaneität der Vernunft die Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit bei Kant nicht gewährleisten. Denn aus der Spontaneität der Vernunft könnten transzendente Vernunftbe­ griffe folgen, die niemals in irgendeiner auch nur möglichen Erfahrung gege­ ben werden; die Vernunft könnte dabei also in Schwärmerei geraten. Mit der alleinigen Betonung der Spontaneität der Vernunft verfehlt Reinhold demnach den Kernschritt Kants, die Spontaneität der Vernunft einer kritischen Betrach­

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Die Trennung von rein und empirisch, von a priori und a posteriori in der GMS ist der Schlüssel zur Auslegung der Freiheit und der praktischen Vernunft. Diese knüpft sich an die Antinomie, wodurch die Freiheit aus der Erfahrung oder Empirie ausgeschlossen ist. Siehe dazu Teil 2.1.2 der Arbeit.

tung zu unterziehen. Insofern ist die reine Spontaneität zu weit gefasst für das Freiheitsverständnis bei Kant. Ferner unterbleibt im Versuch der Anschluss an die Kernargumentation der Antinomie, wenngleich Reinhold die Antinomie auch nicht ausdrücklich zu­ rückweist. Er kommt der Struktur der kantischen Argumentation, auf der die Antinomie beruht, äußerst nahe, wenn er die Unterscheidung zwischen rein und empirisch, a priori und a posteriori bei seiner Erläuterung der komparati­ ven und der absoluten Freiheit miteinbezieht.20 Aber zumindest bleibt die Trennung des Dings an sich von der Erscheinung unangetastet hinsichtlich der Überprüfung der objektiven Gültigkeit der Vernunftidee. Reinholds Lösungs­ weg bekommt durch die neue Gestaltung einen eigentümlichen Charakter, wo­ bei die reine Spontaneität des Vorstellungsvermögens im Zentrum steht. Für Reinholds Interpretation ist die subjektive Eigenschaft des Gemütsvermögens wesentlich, und er betont den Bezug auf das Merkmal des vorstellenden Sub­ jekts.21 Was die negative Bedeutung der Freiheit betrifft, so setzt er den Stoff und die Empfänglichkeit des Vorstellungsvermögens als den Bezugspunkt, von dem sich die Vernunft befreien muss.22 Im Vergleich dazu wird die Abhängig­ keit von der Sinnenwelt bei Kant aus diversen Perspektiven thematisiert, vor allem durch die Begriffe Erscheinung und Erfahrung. Es ist zu folgern, dass Reinhold an Tiefe und Genauigkeit hinter Kant zurückbleibt bezüglich der Denkbarkeitsdeduktion der Freiheit. Eine weitere bemerkenswerte Einschränkung von Reinholds Kant-Rezeption liegt im Verhältnis von Freiheit und Kausalität bzw. Gesetz. In Teil 3.2.1 wurde gezeigt, dass Reinhold diese kantischen Termini übernimmt, was cha­ rakteristisch für seine Kant-Nachfolge ist. Aber dieses Urteil gilt auch nur eingeschränkt. Kant verwendet die Kausalität in ihrem schematisierten Sinn, nämlich die Form der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, während dies nicht der Schwerpunkt in Reinholds Ableitung des Freiheitsbegriffs ist. Zu­ sammen mit der Allgemeingültigkeit betont Kant den objektiven Wert des Vernunftgesetzes im Reich der intelligiblen Welt in Analogie zum Naturgesetz in der Sinnenwelt. Entsprechend der Parallelität mit dem Naturgesetz ist der Charakter der formellen Notwendigkeit im Sinn einer aufeinanderfolgenden kausalen Kette ebenso bedeutsam wie die Reinheit und Absolutheit der ersten Ursache. Die mit der Freiheit gleichzusetzende Vernunft bedeutet bei Kant nicht ausschließlich die Spontaneität oder das Intelligible, sondern auch das Gesetzgebende. Es mangelt Reinholds Ausdrucksweise am Objektivitätsbezug als Rechtfertigungsgrundlage des Vernunftgesetzes. Er verbindet das Vernunft­ 20 21 22

Versuch, S. 558, GRS 1, S. 354. Versuch, S. 557f, GRS 1, S. 353f. Es bleibt im Rahmen der Theorie des Vorstellungsvermögens fraglich, ob die Vernunft über die reine Spontaneität verfügt, die komplett unabhängig von der Sinnlichkeit ist. Siehe den nächsten Abschnitt die Erläuterung.

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gesetz in einer stärker psychologischen Weise mit Zwang,23 Trieb und Nöti­ gung.24 Somit zeigt sich von Anfang an bei ihm die Tendenz, die objektiven Entsprechungen der Weltordnung in der Bedeutung des Gesetzes auf die sub­ jektive, die innerlich erlebte Nötigung zu reduzieren. Darüber hinaus weist Reinhold in § LXXXV den Ansatz zurück, die Kausalität als Schema auf die ers­ te Ursache anzuwenden; er schließt aus, dass sich die absolute Ursache mit einer erkennbaren, empirisch-kausalen Kette verknüpfen lässt. Das Modell der intelligiblen Ursache in der KrV übernimmt er nicht.25 An der Stelle wird der Vernunft nur die Vernunfteinheit der Kausalverknüpfung zugeschrieben. Dazu bietet diejenige Funktion der Vernunft, welche die systematische Einheit her­ vorbringt, den Anknüpfungspunkt. Dies verfehlt aber noch das genaue gesetz­ gebende Moment. Ferner betont Reinhold den Subjektbezug der absoluten Ur­ sache: Die absolute Ursache wird „durch kein Schema auf einen objektiven Stoff bezogen“ und nur im Umfeld des subjektiven Merkmals eingeschlossen.26 Es lässt sich feststellen, dass der Geist der „Kausalität der Vernunft“, wie er bei Kant vorherrscht, bei Reinhold großenteils nicht mehr gegeben ist. 3.1.3. Der Umbau der Kernargumentation und die Umdeutung der praktischen Vernunft Reinholds Verknüpfung der Freiheit mit der Vernunft hängt von der Gegen­ überstellung von Sinnlichkeit und Vernunft ab. Dieser Gegenüberstellung liegt nicht mehr der Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich zugrunde, son­ dern die Konfiguration von Rezeptivität und Spontaneität bzw. von Stoff und Form, wie sie im Rahmen der Theorie des Vorstellungsvermögens entwickelt wird. Die Vernunft bildet den Gegenpol zur Sinnlichkeit hinsichtlich des Gra­ des der Spontaneität. Dabei wird der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Ver­ nunft als der Gegensatz zwischen Rezeptivität und Spontaneität interpretiert. Aber diese Identifikation gilt nicht, sobald das Begriffspaar Rezeptivität-Sponta­ neität im Rahmen des Vorstellungsvermögens näher betrachtet wird. Denn in dieser Hinsicht ist die Rezeptivität-Spontaneität eine Grundstruktur, die dem Vorstellungsvermögen innewohnt und die der Vernunft und der Sinnlichkeit gemeinsam ist. Die Spontaneität ist bereits bei der Anschauung vorhanden, und umgekehrt ist die Vernunft auch mit dem Stoff und der Rezeptivität verbunden. Demzufolge gibt es keine absolute Spontaneität im Rahmen des Vorstellungsvermögens. Dies lässt sich auch durch die Ausführung im Versuch 23 24 25

26

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Versuch, S. 90, 574; RGS 1, S. 55, 363. Versuch, S. 373; RGS 1, S. 363. Die erste Ursache ist kein Glied in der Reihe der bedingten, erkennbaren Ursachen, vgl. Versuch, S. 557; RGS 1, S. 353. Reinhold betrachtet die intelligible Ursache nicht als den Grund der empirischen Wirkung in der Erfahrung. Versuch, S. 558; RGS 1, S. 353.

bestätigen, dass sich die Vernunft bei Denken nur komparativ frei handele.27 Beim Erzeugen der Idee sei das vorstellende Subjekt vom Stoff abhängig, der ihm gegeben werden müsse.28 Die Ableitung der absoluten Freiheit durch die Theorie des Vorstellungsvermögens ist insofern nicht gelungen.29 Das kenn­ zeichnet den Unterschied zu der kantischen Position. Die Inkonsequenz der Schlussfolgerungen im Versuch zeigt das Schwanken Reinholds zwischen der kantischen Vernunftkritik und seiner neu entwickelten Theorie des Vorstel­ lungsvermögens. Der praktische Teil von Reinholds Ableitung des Freiheitsbegriffs beruht ebenfalls auf den Grundbegriffen von Stoff und Form bzw. von Rezeptivität und Spontaneität. Eine ähnliche Einstufung von sinnlichem Trieb, sinnlich-ver­ nünftigem Trieb und rein-vernünftigem Trieb nach Graden der Spontaneität führt er parallel zu der Zuordnung des Vorstellungsvermögens durch. Dabei gründet sich die praktische Freiheit wiederum auf die absolute Spontaneität der Vernunft. Das erzeugt den Eindruck einer formellen Korrespondenz zwischen theoretischer Argumentationsführung und praktischer Anwendung – wenn man davon absieht, dass die theoretische Schlussfolgerung noch dunkel bleibt. Doch die Theoriebasis ist bereits verschoben, Spontaneität und Rezeptivität sind mit ihr bereits umgedeutet. Sie sprengen den Rahmen der Theorie des Vorstellungsvermögens und unterscheiden sich deutlich vom kantischen Ver­ ständnis. Die praktische Bedeutung der Freiheit bei Reinhold basiert auf dem Triebbe­ griff, in dem die theoretisch etablierte Struktur von Rezeptivität-Spontaneität einer anderen Struktur von Grund der Möglichkeit und Grund der Wirklich­ keit untergeordnet wird. Die letztere Struktur geht über das Theoretische hi­ naus. Die Rezeptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens, die im theoretischen Teil diskutiert wird, betrifft nur den Grund der Möglichkeit. Der Grund der Wirklichkeit, die dem Praktischen noch wesentlicher ist, bezieht sich auf die vorstellende Kraft, geht dennoch über die Theorie des Vorstellungs­ vermögens hinaus. Reinhold zufolge kann die theoretische Vernunft nur das Gesetz des uneigennützigen Triebs verfassen, die Verwirklichung desselben erfordere hingegen die Sanktion der praktischen Vernunft. Hieraus erhellt die ausschlaggebende Rolle des Praktischen.30 Dementsprechend werden die Spon­ taneität der Vernunft und mit ihr die Freiheit umgedeutet. Die absolute Spon­ taneität der Vernunft besteht nicht mehr in der Form des Vernunftgesetzes, 27 28 29 30

Versuch, S. 558; RGS 1, S. 354. Versuch, S. 559; RGS 1, S. 354. Vgl. Lazzari (2004), S. 140. Versuch, S. 572; RGS 1, S. 362: „[…] er handelt hingegen absolut frey und ist absolut frey, inwieferne er das Gesetz des uneigennützigen Triebes befolgt; ein Gesetz, das von der theoretischen Vernunft nur verfaßt wird, seine Sanktion aber als wirkliches Gesetz nur durch die blosse Selbstthätigkeit der praktischen erhält, welche sich dasselbe selbst auflegt.“

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welche bestimmt und gegeben ist, sondern in dem „Realisieren derselben als Form einer wirklichen Handlung“.31 Insofern knüpft Reinhold das Freiheits­ konzept stärker an den Vollzug bzw. die Realisierung durch eine Handlung – weniger an die Absicht bzw. an die Gesetzgebung in der Bestimmung des Willens. Dieses Handeln der Vernunft, in wieferne es Objekt des rein-vernünftigen Triebes ist, besteht in dem Realisieren der Handlungsweise der Vernunft, der Vernunftform, welche nur ihrer Möglichkeit nach im Subjekte gegeben, ihrer Wirklichkeit nach aber ausser dem Subjekte nur durch Handlung des Subjektes hervorgebracht werden kann. Die im Vermögen a priori bestimmte Form der Vernunft ist dem Subjekte gegeben, und hängt folglich nicht von seiner Kraft ab; aber das Realisieren derselben als Form einer wirklichen Handlung, die keinen anderen Zweck hat, als dieses Realisieren selbst, die Wirklichkeit der Vernunftform als Gegenstand des Triebes, ist etwas, das von der Kraft des Subjektes, und zwar von der blossen Selbstthätigkeit dieser Kraft allein abhängt.32

Der oben zitierte Auszug leitet wohl auf folgende Überlegungen: Erstens ist Reinholds Ansicht von der Gegebenheit der Vernunftform mit dem kantischen Begriff vom Faktum der Vernunft vergleichbar und zweitens seine Akzentuie­ rung der Verwirklichung der Handlungsweise der Vernunft mit der kantischen Überlegung der Praktizität der praktischen Vernunft. Daraus kann sich die Mei­ nung ergeben, dass Reinhold lediglich den Geist der kantischen Philosophie neu ausdrücke, statt eine neue Auffassung von der Freiheit auszuarbeiten. Dies soll hier noch genauer untersucht und der Unterschied zwischen den beiden Denkern schärfer bestimmt werden. Bezüglich des ersten Punktes, nämlich der Gegebenheit des Vernunftgeset­ zes, ist bei Reinhold vom leidenden Charakter des Subjekts die Rede. Er vertritt die These, dass die Gesetzgebung nicht vom Subjekt abhänge. Dies lässt sich mit der Ausdrucksweise „Zwang der Vernunft“ am Anfang des ersten Buchs verknüpfen. Zwang impliziert das Gegenteil von Freiheit – obwohl Reinhold beide für kompatibel hält.33 Es ist mit dem Faktum der Vernunft in der Hin­ sicht gemeinsam,34 dass sie nicht vom Entstehungsprozess des Gesetzes durch 31 32 33 34

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Versuch, S. 569; RGS 1, S. 360. Versuch, S. 569; RGS 1, S. 360. Versuch, S. 90, RGS 1, S. 55. Neben dem „Zwang der Vernunft“, besteht bei Reinhold noch ein weiterer Begriff, der dem kantischen Konzept von „Factum der Vernunft“ einigermaßen entspricht, d.h., „Faktum des Selbstgefühls“. Beide sind als der Beweis der Wirklichkeit der Freiheit kon­ zipiert, wodurch die Möglichkeit der Freiheit mitbegründet wird. Aber es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen „Faktum des Selbstgefühls“ bei Reinhold und „Factum der Vernunft“ bei Kant. Reinhold vertritt die These, dass man sich durch das „Faktum des Selbstgefühls“ der Wirklichkeit der Freiheit direkt bewusst sei. Das widerspricht der Meinung von Kant, dass das unmittelbare Wissen der Freiheit für das menschliche Wesen unzugänglich ist. Der Mensch hat laut Kant nur Bewusstsein vom Moralgesetz, durch das sich die Freiheit mittelbar erkennen lässt. Dies macht Freiheit und Gesetz bei Kant untrennbar. Im Vergleich dazu ist die Verbindung zwischen Gesetz und Freiheit bei Reinhold locker.

die Spontaneität der Vernunft in transzendentalem Gesichtspunkt, sondern von der vorkommenden Weise der Forderung der Vernunft in gemeinem Men­ schenverstand die Rede. In beiden Auffassungen „erscheint“ das Vernunftgesetz in einer Form von Gegebenheit bzw. Bestimmtheit. Aber der Unterschied zwischen den beiden ist erheblich. Durch die Gegebenheit des moralischen Bewusstseins, in dem die Autonomie und Selbstbestimmung immer mitbegrif­ fen sind, versucht Kant die Praktizität des Moralgesetzes zu beweisen. Hingegen akzentuiert Reinhold die Zwanghaftigkeit des Vernunftgesetzes, indem er den leidenden Charakter der Gegebenheit des Vorstellungsvermögens dem sponta­ nen Charakter der Tätigkeit der vorstellenden Kraft entgegensetzt. Die letztere Instanz liegt der Sichtweise nahe, dass die Forderung des Vernunftgesetzes und die des Naturgesetzes nach der Form der Gegebenheit gleich zu betrachten sind. Die Freiheit würde dann nicht dem Vernunftgesetz näherstehen als dem Naturgesetz. Das lässt sich als eine Vorbereitung auf Reinholds späteren Stand­ punkt verstehen. Reinholds Position in dieser Phase ist allerdings nicht eindeutig. Einerseits widerlegt er die Spontaneität von Vorstellungsvermögen hinsichtlich der Ver­ nunftform im rein-vernünftigen Trieb, wobei er sich einem Gesichtspunkt von gemeinem Bewusstsein zuwendet; anderseits schreibt er die Spontaneität (wenn auch nur komparative Spontaneität) dem Vorstellungsvermögen im sinnlichvernünftigen Trieb bei der Produktion der Vernunftform zu, die im Dienst des Stoffs der Sinnlichkeit steht. Außerdem wird der reine Trieb, der die konträren Eigenschaften der Gegebenheit der Vernunftform und der Selbsttätigkeit der vorstellenden Kraft impliziert, eindeutig als absolut frei angesehen. Den Grund dafür gibt Reinhold nicht an. 35 Man kann daraus den Schluss ziehen, dass Rein­ hold Kants Standpunkt hinsichtlich des Resultats übernommen hat. Gleichzei­ tig hat er aber seine eigene Position entwickelt, die nicht ganz begründet mit der übernommenen Position vermengt wird. Was den zweitgenannten Punkt anbelangt, lässt sich die Realisierung der Handlungsweise der Vernunft durch die vorstellende Kraft in einer bestimmten Hinsicht als ein Fortgang der Untersuchung in der kantischen praktischen Phi­ losophie betrachten. Denn Kant thematisiert auch den Realitätsbezug des rei­ nen Vernunftgesetzes. Er hält das moralische Bewusstsein und die Achtung fürs Moralgesetz für die Realitätselemente des Moralgesetzes, die die Praktizität des Moralgesetzes beweisen. Aber die kausale Wirkung des apriorischen Vernunft­ gesetzes auf die Sinnenwelt lässt sich bei Kant letztendlich wegen des unüber­ brückbaren Dualismus nicht begreifen. Kants Erklärungen betreffen nur den 35

In der Auslegung des Triebbegriffs hat Fichte auch das Gefüge von Stoff und Form über­ nommen. Aber Fichte wagt sich einen Schritt weiter, indem er den Übergang zwischen Form und Stoff erklärt. Seiner Meinung nach wird der Stoff des rein vernünftigen Triebs ausschließlich von der Vernunftform bestimmt. Form und Stoff sind sodann bei Fichte unzertrennlich. Vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 140.

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Beweis der Realität; sie sind allerdings nicht imstande, die Realisierungskraft des Gesetzes nachzuvollziehen.36 Reinholds Zurückführung der Wirklichkeit auf die vorstellende Kraft verträgt sich schlecht mit der kantischen Position. Er weicht dabei vom kantischen Beweisweg des Realitätsbezugs ab, der sich ausschließlich auf das Bewusstsein des Moralgesetzes stützt. Darüber hinaus interpretiert Kant das Faktum der Vernunft, das als Aus­ gangspunkt aller Realitätsbeweise gilt, als einen synthetischen Satz a priori oder „Gesetz“ überhaupt.37 In dieser Instanz ist die Realisierungskraft des Moralge­ setzes mit dem Vorstellungsvermögen verwoben. Die Realisierungskraft (oder die kausale Wirkung des Gesetzes auf die Realität), die an sich unerklärbar ist, wird durch die a priori gegebene Form des Gesetzes mittelbar erläutert. Kants Vorgehensweise zufolge liegt die gesetzte Vernunftform zentral im Begriff der praktischen Vernunft. Diese ist sowohl ein Rechtfertigungsprinzip als auch ein Bewegungsprinzip. Reinhold setzt das Gegebensein der Vernunftform der Realisierung der Vernunftform deutlich entgegen und legt das Schwergewicht auf letztere. Dies führt zu einer Umdeutung der praktischen Vernunft und damit auch der Freiheit. Es handelt sich dabei nicht hauptsächlich um das Moralgesetz an sich und dessen Bewusstsein, sondern vielmehr um die Realisie­ rung desselben.38 Demnach wird die Handlung anstatt der Vorstellung als das Wesen der praktischen Vernunft betrachtet.39 Die Einführung des Triebbegrif­ fes, wodurch sich das Konzept der Gründe der Wirklichkeit abhebt, verstärkt das Primat des Praktischen. Die Beziehung zwischen Freiheit und praktischer 36 37 38

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Vgl. KPV, AA V, S. 72; GMS, AA, IV, S. 460. KpV, AA V, S. 31. Reinholds Auffassung schwankt zu der Zeit zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von Realisierung oder Verwirklichung. Realisierung lässt sich auf der einen Seite als die innere Handlung innerhalb des Gemütes, als die Gesetzgebung bzw. Zwecksetzung verstehen, sei das Gesetz oder der Zweck erfüllt oder unerfüllt. Auf der anderen Seite verweist Reinhold deutlich auf die wirkliche Handlung „ausser dem Subjekt“ (Versuch, S. 569, RGS 1, S. 360), und sie bedeutet die Erfüllung des Zwecks oder Gesetzes. Die vorstellende Kraft ist auch mehrdeutig. Sie wird in Buch II als ein Bestandteil des Vorstel­ lungsvermögens im weiteren Sinn konzipiert, nämlich die äußere Bedingung der Vorstel­ lung. Sie wird als unabhängig vom Vorstellungsvermögen im engeren Sinn betrachtet. Versuch, S. 263, RGS 1, S. 175: „In wieferne keine endliche Kraft völlig unabhängig von äussern Bedingungen handeln, keine sich den Stoff ihrer Wirksamkeit erschaffen kann, in soferne hängt die Wirklichkeit ihrer Produkte keineswegs von ihr selbst ab. So ist auch die Wirklichkeit der Vorstellung, in wieferne zu derselben Stoff gehöhrt, der dem Gemüthe gegeben seyn muß, und den es sich nicht geben kann, ganz vom Vorstellungs­ vermögen unabhängig. “ Versuch, S. 571, RGS 1, S .361: „Die Vernunft heißt praktisch, in wieferne in ihrer Selbstthätigkeit das Vermögen liegt, das Objekt des rein-vernünftigen Triebes zu realisie­ ren, oder welches eben so viel heißt sich selbst a priori zu einer Handlung zu bestimmen, die keinen andern Zweck als die Wirklichkeit der Handlungsweise der Vernunft hat, und das Vermögen des vorstellenden Subjektes, sich durch die Selbstthätigkeit des reinvernünftigen Triebes zum Handeln zu bestimmen, heißt der reine Wille. Der Wille besteht also überhaupt in der Selbstbestimmung zu einer Handlung. “

Vernunft bleibt zwar unverändert, aber die Verbindung der beiden stützt sich schon auf eine andere Grundlage. 3.1.4. Die Andeutung einer neuen Position Die größte Zerrissenheit in Reinholds Theorie im Versuch besteht in den ver­ schiedenen Bedeutungen von Freiheit, die unüberbrückbar bleiben. Reinhold scheint den Unterschied nicht zu berücksichtigen. Die erste Bedeutung haben wir bereits erläutert, nämlich die absolute Spontaneität, die nahe an der trans­ zendentalen Freiheit in der kantischen Philosophie liegt. Die zweite Bedeutung erwähnt Reinhold auch an sehr bedeutsamen Stellen, jedoch in einer zerstreu­ ten Form. Er bringt sie am Anfang des Textes als das Kernkonzept des ganzen Buchs zum Ausdruck. Diese Bedeutung der Freiheit betrachtet er als die Grund­ wahrheit der Moralität und zudem als den Hauptzweck des Buchs und sogar seiner ganzen Philosophie. In wieferne diese Uebereinstimmung von der Willkühr des Handelnden abhängen soll, muß derselbe das Vermögen haben, die Gesetze der Vernunft gegen die denselben in so manchen Fällen entgegenstehenden Forderungen der Sinnlichkeit durchzuset­ zen. Dieses Vermögen heißt Freyheit, in wie ferne der Handelnde bey der Ausübung desselben weder durch die Vernunftgesetze noch durch die Forderungen der Sinnlich­ keit gezwungen handelt. Nicht gezwungen durch die Gesetze der Vernunft, kann er, wenn er will, der Sinnlichkeit – und nicht gezwungen durch Forderungen der Sinnlichkeit, kann er, wenn er will, der Vernunft den Vorzug geben. (Da ihm beydes gleich möglich ist, kömmt es blos auf ihn an, woran er sich halten will.) Er hat freye Wahl, entweder seinen Entschluß durch seine Vernunft selbst zu bestimmen, oder ihn durch die Objecte der Sinnlichkeit bestimmen zu lassen.40

Reinhold legt an der Stelle die Freiheit als die Wahlfreiheit aus. Diese Bedeu­ tung der Freiheit ist ähnlich der der Willkürfreiheit in Kants Kritik. Die beiden betreffen den Entscheidungsakt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Obwohl beide die gleiche Sachebene berühren, sind die Bedeutungszuschreibungen un­ terschiedlich. Kants Auffassung von Freiheit geht nicht von Wahlmöglichkeit an sich aus, sondern setzt die Wahl immer in Verbindung mit der Vernunft: Vernunft sei die Bedingung der Wahl, und die Wahl ermögliche die Reali­ sierung des Vernunftgesetzes. Wahlfreiheit gelte als ein Moment durch die Vernunft und für die Vernunft. Der Bezug auf die Vernunft ist für die kanti­ sche Interpretation der Willkürfreiheit entscheidend. Dagegen fehlt Reinholds Überlegung dieser Bezug auf die Vernunft. Hervorgehoben wird stattdessen die Gleichgültigkeit des Subjekts sowohl der Sinnlichkeit als auch der Vernunft gegenüber. Mit anderen Worten liegt der Willkürfreiheit bei Kant das Überge­ wicht der Vernunft zugrunde, während dieser Begriff bei Reinhold das Gleich­ gewicht zwischen Sinnlichkeit und Vernunft voraussetzt. Während Kant durch 40

Versuch, S. 90, RGS 1, S. 55.

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die Spekulation die Wahlfreiheit weiter auf ihre Bedingungen zurückführt und Wert auf letztere legt, hält sich Reinhold an die Form der Äußerung der Frei­ heit im gemeinen Verstand, nämlich an die Charakteristik von Ungebunden­ heit und Wahlmöglichkeit. Reinholds Abweichung von Kant wird augenfällig, wenn Reinhold die Willkürfreiheit als die Unabhängigkeit vom Zwang der Vernunft interpretiert. Diese Auffassung trifft auf die Bedeutung der Willkürf­ reiheit bei Kant nicht zu. In weiterer Auslegung betont er den Unterschied zwischen der Notwendigkeit des Vernunftgesetzes der Vernunft gegenüber und der Unbestimmtheit der Willkür, die nicht mit der Vernunft zu identifizieren ist. Dieser Standpunkt gilt als ein Vorgriff auf Reinholds spätere Auffassung der Willkürfreiheit in Briefe II. Aber im Versuch scheint die Willkürfreiheit eine isolierte Instanz zu sein. Reinholds Freiheitstheorie in diesem Buch orientiert sich an der Interpretation der Willensfreiheit als der praktischen Vernunft. Der Kontext dieser Begriffserklärung weist allerdings darauf hin, dass diese andersartige Bedeutung der Freiheit genau diejenige ist, die für die Moral fun­ damental ist und im Zentrum seiner folgenden Forschung steht. Diese soll sich aber laut seinem gesamten Freiheitskonzept auf die Freiheit als die absolute Spontaneität der Vernunft beziehen. Das spricht dafür, dass Reinhold die zwei Bedeutungen von Freiheit nicht klar voneinander trennt. Zumindest hält er die beiden für verträglich. Das lässt sich durch eine weitere Textstelle belegen: Der menschliche Wille ist also frey, 1) in wieferne er als Vermögen der Spontaneität der Vernunft durch kein Affciertwerden gezwungen werden kann; als Vermögen eines Subjektes, das ausser der Vernunft noch Sinnlichkeit besitzt, sich selbst sowohl a priori als a posteriori zu bestimmen vermag, und daher keineswegs ausschliessend weder an das Gesetz des uneigennützigen noch an das Gesetz des eigennützigen Triebes gebunden ist.41

Reinholds Position lässt sich teilweise durch Kants Einfluss erklären. Denn Kant sieht Willkürfreiheit und Willensfreiheit als verträglich an, indem er den Bezug auf Vernunft für eine gemeinsame Grundlage der beiden hält. Reinhold übernimmt vielleicht diese Auffassung unvermerkt, obwohl er die Willkürfreiheit bereits umdeutet. Bondeli (2013) interpretiert die Willkürfrei­ heit an dieser Stelle als die Freiheit überhaupt, die sich in komparative und absolute Freiheit teilen lässt.42 Diese Lesart entspricht der Ausdrucksweise und vielleicht auch dem tatsächlichen Standpunkt Reinholds. Nur lässt sich eine theoretische Schwierigkeit in diesem Verständnis finden. Denn die Willkürfrei­ heit, die von Reinhold umgedeutet wird, setzt sowohl die Unabhängigkeit von der Vernunft als auch die von der Sinnlichkeit voraus. Daher lässt sie sich 41 42

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Versuch, S. 571, RGS 1, S. 362. Bondeli (2013), RGS 1, S. 581: „An vorliegender Stelle wird dieser für Reinholds kom­ mende Auffassung von Willensfreiheit zentrale Freiheitsgedanke offensichtlich im Sinne einer Freiheit überhaupt verstanden, die sich in eine komparative und eine absolute Freiheit aufteilen lässt, je nachdem, welchem Gesetz sich der Wille unterwirft.“

weder mit dem sinnlichen Gesetz noch mit dem Vernunftgesetz bei der kompa­ rativen Freiheit anbinden. Die Willkürfreiheit betrifft die Unbestimmtheit, während bei dem sinnlichen Gesetz und dem Vernunftgesetz eine Form von Bestimmtheit herrscht und die Wahlmöglichkeit ausgeschlossen wird. Somit sind weder Teilung noch Kompatibilität in der oben genannten Lesart begrün­ det. Die Spannung zwischen den verschiedenen Verständnisweisen der Freiheit ist schon vorhanden, nur wird sie noch nicht thematisiert. Im Versuch zeigt sich auf der einen Seite eine Vermischung beider Stand­ punkte, auf der anderen Seite hat die erste Bedeutung der Freiheit laut der Ein­ stufung von absoluter und komparativer Freiheit offensichtlich Vorrang. Die Freiheit des uneigennützigen Triebs wird als absolute Freiheit, die Freiheit des eigennützigen Triebs aber nur als komparative Freiheit angesehen. Während die Überordnung des reinen Willens über den empirischen Willen die Anleh­ nung an Kants Standpunkt charakterisiert, weist die deutliche Aufwertung des empirischen Willens als komparative Freiheit auf gemischte Positionen. Für die letztere sind zwei Erklärungen in „Grundlinien“ vorhanden: Zum einen assozi­ iert Reinhold das Wollen im Allgemeinen, nämlich sowohl das empirische als auch das reine Wollen, mit der Spontaneität der Vernunft. Diese unterscheidet das Wollen vom Begehren im engeren Sinn (oder vom Bestimmtwerden durch den sinnlichen Trieb). In dieser Hinsicht lässt sich der empirische Wille quasi wie die Willkür bei Kant, die sich auf die Vernunft bezieht, verstehen. Zum anderen stützt sich die Redeweise von einer empirischen Freiheit im Gegensatz zu Kant auf die Sichtweise, dass die Freiheit auch in der Unabhängigkeit vom Vernunftgesetz besteht. Dabei wird der empirische Wille nicht in Hinsicht auf seine Verbindung mit der Vernunft, sondern als die Unabhängigkeit sowohl vom Naturgesetz als auch vom Vernunftgesetz definiert.43 Reinhold nährt sich dadurch bereits seiner späteren Position. Man kann davon ausgehen, dass Rein­ holds Ansatz im Versuch den Übergang von seinem Anschluss an die kantische Willensfreiheitslehre zu seiner eigenen Theorie zeigt.

3.2. Die Trennung der Willensfreiheit von der praktischen Vernunft im zweiten Band der Briefe über die kantische Philosophie Reinholds Briefe II aus dem Jahr 1792 widmen sich der Auslegung der KrV.44 Durch die Wahl des Titels deutet Reinhold an, dass für den zweiten Band dieses Werks eine entsprechende Rolle vorgesehen ist, wie sie dem ersten Band bei der Verbreitung der KrV zukam.45 Tatsächlich pflegt er in dieser Schrift den 43 44 45

Versuch, S. 571, RGS 1, S. 362. Briefe II, Vorrede, S. III ff., RGS 2/2, S. 3. Marx (2012) hat die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den zwei Bänden dargestellt: „From the above account of the structure of the second volume of Briefe it is clear that

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begrifflichen und systematischen Bezug seiner Thesen auf die kantische Philo­ sophie durchgehend zu erhellen.46 Reinholds Würdigung von Kants Leistung in der Moralphilosophie kulminiert in seiner Erörterung der Unabhängigkeit der praktischen Vernunft vom Begehren oder vom „Trieb nach Vergnügen“; in diesem Punkt sei Kant am weitesten fortgeschritten.47 Allerdings sprechen viele Evidenzen gegen die Lesart, diese Schrift als eine Auslegung zu betrachten. Reinhold gesteht ausdrücklich ein, selbst innovativ zur Interpretation bzw. Ausarbeitung der Theorie beizutragen.48 Den Begriff des Willens, dessen Bestimmung den Kern dieser Schrift ausmacht, haben die kantischen Schriften „nur erst vorbereitet, keineswegs schon geliefert.“49 Was die Beziehung zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft anbelangt, betont Reinhold in den Briefen II zwar sorgfältig sein Einverständnis mit Kant und richtet seine Kritik nur gegen „die Freunde der kantischen Philosophie“ – in diesem Fall ist vor allem Carl Christian Erhard Schmid gemeint –, aber in einem Brief an Baggesen vom 28. März 1792 räumt er sein Abweichen von Kant ein: Gänzlich entferne ich mich von Kant und den Kantianern im Begriffe vom Willen, den ich weder Kausalität der Vernunft, noch Vermögen[,] nach vorgestellten Gesetzen u.s.w. zu handeln[,] sondern als ein von der Vernunft und Sinnlichkeit gleich verschie­ denes Vermögen der Person halte[,] sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens (:Forderung des eigennützigen Triebes:) zu bestimmen.50

Reinholds spezifisches Verfahren, seine eigene Position in der Hülle der kanti­ schen Philosophie zu vermitteln, erfordert vom Leser eine umsichtige Abgren­ zung von Kants Position, um ein präzises Verständnis von Reinholds Lehre von der Willensfreiheit zu gewinnen. Eine große Anzahl von Forschungsarbeiten51 hat dazu bereits einen wertvollen Beitrag geleistet. Die Reinhold-Forschung ist sich darüber einig, dass Reinhold die Willensfreiheit von der praktischen Vernunft trennt und sichdamit von Kant distanziert. Dies wird auf die unter­

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there are certain similarities to the first volume. This volume also starts with an overview of the relevance of current philosophical disagreements in a wider cultural context. The problems are then discussed in more detail and a solution inspired by Kantian philoso­ phy is proposed. Finally this is placed in a wider historical framework.“ Vgl. Marx (2012), S. 254. Siehe beispielsweise Briefe II, S. 285 ff.; RGS 2/2, S. 194. Briefe II, S. 243; RGS 2/2, S. 172. In Brief 3 spielt Reinhold seine selbständige Interpretation nicht mehr herunter, wenn er ausdrücklich behauptet, dass der Begriff in der KpV unverständlich sei und dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als „denselben durch folgende Resultate meines eigenen Nachdenkens zu beleuchten“. Vgl. Briefe II, S. 65 f.; RGS 2/2, S. 52. Briefe II, S. 268, RGS 2/2, S. 186. RKA 4, S. 85. Vgl. Zöller (2005), Lazzari (2004), Gerten (2003), Fabbianelli (2000), Bondeli (2012), Heinz (2012), Breazeale (2012), Ameriks (2012), Marx (2012), Prauss (1983), Klemmt (1958) und weitere.

schiedlichen philosophischen Ansätze von Reinhold und Kant sowie auf den Einfluss von zeitgenössischen Philosophen, vor allem von Schmid, zurückge­ führt. Umstritten bleiben jedoch bis heute das Ausmaß der Distanzierung, die exakte Bedeutung der praktischen Vernunft bei Reinhold, die Charakteristik seiner Ansätze und die Kohärenz seiner Freiheitstheorie. In Anknüpfung an und als Ergänzungen für die vorhandenen Forschungen wird im Folgenden gezeigt, wie Reinhold die Autonomie der praktischen Vernunft interpretiert (Teil 3.2.1) und die praktische Vernunft theoretisiert (Teil 3.2.2) und naturalisiert (Teil 3.2.3). Diese Studie über Reinholds Umdeu­ tung der praktischen Vernunft veranschaulicht, wie er die Kantische theoreti­ sche Grundlage für die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft abbaut. Danach wird Reinholds Kritik an Kant und die besondere Rolle von Schmid in dieser Debatte untersucht (Teil 3.2.4). Der Fokus dieser Untersuchung wird einerseits auf die Verschiebung des Ansatzes gelegt, die Reinhold im Vergleich zu Kant vornimmt, andererseits auf den Gegensatz von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Im darauffolgenden Teil wird die negative Bestimmung der Freiheit bei Reinhold, nämlich die Unbestimmtheit, erläutert (Teil 3.2.5). In Teil 3.2.6 wird gezeigt, dass Reinhold nach der Betonung der Unbestimmtheit auf die positive Bestimmung der Freiheit zurückgreift, um dem Äquilibrismus zu entgehen. Schließlich wird in Teil 3.2.7 diejenige Di­ mension innerhalb von Reinholds Freiheitskonzeption freigelegt, die diese von bloßer Moralpsychologie unterscheidet und als philosophischer Bezugspunkt gilt. 3.2.1. Die Autonomie der praktischen Vernunft Bei der Bestimmung der praktischen Vernunft in Briefe II geht Reinhold von der Definition des Oberbegriffes „Vernunft“ aus. Vernunft sei „das Vermögen der Person zu den durch ihre übrigen Vermögen möglichen Wirkungen sich selbst Vorschriften (Regeln) zu geben.“52 Auffällig ist, dass die Vernunft vor allem als ein Gemütsvermögen charakterisiert wird. Das gilt ebenfalls für die praktische Vernunft und den Willen.53 Die Akzentuierung des Gemütsvermö­ gens in Briefe II liegt auf der Hand. Dementsprechend wird ein künftiges syste­ matisches Programm,54 nämlich die sogenannte „Wissenschaft der Vermögen 52 53

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Briefe II, 3. Brief, S. 66; RGS 2/2, S. 52. Briefe II, 3. Brief, S. 67; RGS 2/2, S. 53: „[…] das Vermögen der Person eine Vorschrift zu geben, zu welcher der Grund in ihrer bloßen Selbstthätigkeit liegt, heißt praktische Vernunft. [Hervorh. S. W.]“ Briefe II, 6. Brief, S. 183; RGS 2/2, S. 135: „Wille heißt das Vermögen der Person, sich selbst zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes zu bestimmen. [Hervorh. S. W.]“ Vgl. Briefe II, 1. Brief, S. 21; RGS 2/2, S. 21: „Auf durchgängig bestimmte Grundbegriffe läßt sich nur ein einziges System bauen; und es ist nur eine einzige Philosophie möglich, die in ihren Grundsätzen der richtige Ausdruck der ursprünglichen Einrichtung unsres

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des Gemüthes“,55 in dieser Schrift mehrfach angedeutet. Obwohl Reinhold ein paar Merkmale dieses philosophischen Systems vorskizziert, wird es in diesem Werk bei Weitem noch nicht entwickelt. Wegen des Mangels an systematischer Begründung durch „die philosophierende Vernunft“ ist die Theorie überwie­ gend auf die Selbstevidenz des gemeinen Verstandes angewiesen. Infolgedessen erhält die „Vermögenslehre“56 in Briefe II einen stark moralpsychologischen Charakter.57 In diesem Kontext schwindet Kants Einfluss noch weiter als im Versuch. Dies ist daran zu sehen, dass die transzendentale Freiheit als ratio essendi eine geringere Rolle spielt. Wie ich im letzten Kapitel dargestellt habe, beweist die theoretische Philosophie bei Kant nicht nur die Nicht-Unmöglichkeit der praktischen Freiheit, sondern bildet auch den begrifflichen Kern der Freiheit überhaupt.58 Im Versuch wird dieser Ansatz übernommen, wenn auch auf eine reduzierte Weise. Der Inbegriff der Vernunft und der Willensfreiheit wird mit der Ideenlehre und der „Theorie der Grade der Spontaneität“ des Vorstel­ lungsvermögens enggeführt. In Briefe II wird dem Freiheitskonzept hingegen die theoretische und systematische Grundlage entzogen. Die Grundbegriffe der praktischen Philosophie, wie etwa „praktische Vernunft“ und „Freiheit“, beruhen auf der „Tatsache des Bewusstseins“, welche gewissermaßen als ratio cognoscendi fungiert.59 Durch dieses Vorgehen wird nicht nur der theoretische Beweis der Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit undurchführbar, sondern auch der Inbegriff der praktischen Grundbegriffe drastisch verändert. Fast der gesam­ te transzendentalphilosophisch fundierte Inhalt geht verloren. Die praktische Vernunft wird auf ein Vermögen reduziert, das Vorschriften zu geben hat, die lediglich die Ordnung der innerseelischen Kräfte betreffen. So verschieden sein Ausgangspunkt auch ist, so sehr sucht Reinhold doch in der Erörterung des Begriffs der praktischen Philosophie seine Anlehnung

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Erkenntniß- und Begehrungsvermögens, oder der nothwenigen und allgemeinen Gesetze ist, an welche der menschliche Geist durch seine Natur gebunden ist.“ Briefe II, 3. Brief, S. 81; RGS 2/2, S. 63. Heinz (2012) vertritt die Meinung, dass es sich in Briefe II um eine „Vermögenslehre“ handelt. Vgl. Heinz (2012), S. 172 f. Zöller (2005), Bondeli (2012) und Heinz (2012) vertreten die Meinung, dass die Willens­ freiheitslehre sich innerhalb des Rahmens der Moralpsychologie befindet. Mein Urteil ist vergleichsweise milder. Meiner Meinung nach hat die Willensfreiheitslehre einen sehr starken moralpsychologischen Charakter, aber lässt sich dennoch nicht auf eine Moralpsychologie reduzieren. Meine diesbezügliche Argumentation wird in Teil 3.2.7 dargelegt. Vgl. Teil 2.1.1 und 2.1.2 der Arbeit. Damit wird nicht gemeint, dass die „Tatsache des Bewußtseins“ bei Reinhold mit dem „Factum der Vernunft“ identisch ist, sondern dass sie eine vergleichbare Rolle wie das „Factum der Vernunft“ als ratio cognoscendi spielt. Beide gelten als Überzeugungsgründe für die Wirklichkeit der Freiheit, die auf dem gemeinen Verstand beruhen, und beide sind praktische Momente, die unabhängig vom Beweis der spekulativen Vernunft sind.

an Kant aufzuzeigen.60 Er unternimmt beachtliche Arbeit, um im 3. Brief der praktischen Vernunft das Prädikat „Autonomie“ beizulegen. Reinholds Auffas­ sung der praktischen Vernunft scheint ein Kernelement der Transzendentalphi­ losophie Kants berührt zu haben, wenn er die Vorschriften des Begehrens und die der praktischen Vernunft einander als Naturgesetz und Gesetz der Freiheit gegenüberstellt.61 Diese Gegenüberstellung entspricht dem Dualismus von Natur und Freiheit in der Vernunftkritik. Die Einschließung der technischpraktischen Vernunft in das theoretische Feld scheint auch der KU zu folgen.62 Dies bildet wohl die Grundlage solcher Interpretationen wie etwa von Bondeli (2012), die aussagen, dass Reinholds Freiheitstheorie auf der Auflösung der dritten kosmologischen Antinomie und auf Kants Zwei-Reiche-These beruht.63 Ich halte diese Leseart für unangemessen und vertrete dagegen die Ansicht, dass diese kantische transzendentalphilosophische Basis der Sache nach vom Inbegriff der praktischen Vernunft in Briefe II entfernt wurde. Diese Ansicht erkläre ich im Folgenden durch eine Analyse der einschlägigen Textstellen. Ausgehend von der allgemeinen Definition der Vernunft wird die praktische Vernunft durch die Unbedingtheit ihrer Gesetzgebung von der theoretischen Vernunft differenziert.64 Laut Bondeli(2008b) orientiert sich dieser Ober- und Unterbegriff der Vernunft an der Vermögens- und Vernunftkonzeption der KU.65 Dort wird die folgende vergleichbare Textstelle als Beleg angeführt: „Nur allein im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als gesetzkundig vermit­ telst des Verstandes) aus gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen zie­ hen, die doch immer nur bei der Natur stehenbleiben.“66 Tatsächlich ähnelt Reinholds Demonstration der Bedingtheit von theoreti­ schen Vorschriften dem Zitat aus der dritten Kritik. Aber sie ist vielmehr eine Schlussfolgerung aus der Theorie des Vorstellungsvermögens im Versuch67 und der Elementarphilosophie im Fundament.68 Der wesentliche Unterschied ist folgender: Die Bedingtheit der theoretischen Vernunft in Reinholds Defini­ tion besteht in ihrer Abhängigkeit von gegebener Materie, um dem formellen Gesetz, das die Vernunft aufgestellt hat, Geltung zu verschaffen.69 Es basiert 60

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Das kann teilweise daran liegen, dass diese Briefschrift auf einem alten Text von der Ehrenrettung im April 1791 basiert; vgl. Bondeli (2008b), RGS 2/2, S. 330. Zu dieser Zeit stand Reinhold Kants Denken näher. Allerdings wurde dieser Text durch die Überarbei­ tung der neuen Fassung stark revidiert, um zu Reinholds neuer Position zu passen. Briefe II, 3. Brief, S. 68 ff.; RGS 2/2, S. 54 f. KU, AA V, S. 174f. Bondeli (2012), S. 127. Briefe II, 3. Brief, S. 66 ff.; RGS 2/2, S. 52 ff. Bondeli (2008b), RGS 2/2, Anmerkung 57, S. 331. KU, AA V, S. 174f. Versuch, S. 558 f, RGS 2/2, S. 354. Fundament, S. 31 ff. Briefe II, 3. Brief, S. 66 ff.; RGS 2/2, S. 52 ff.

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auf der Vorstellungskonzeption Reinholds, dass die Vorstellung aus Form und Materie bestehen. Im Vergleich dazu ist in der KU das formelle Gesetz im Erkenntnisgebiet der Natur gegeben und enthält keine Mannigfaltigkeit. Es ist zu vermuten, dass diese äußerst knappe erkenntnistheoretische Ar­ gumentation den Rahmen der Moralpsychologie sprengt. Aber sie wird über­ haupt nicht systematisch begründet, weder hinsichtlich der Elementarphiloso­ phie noch hinsichtlich der Vernunftkritik. Die Bedeutung von „Natur“ und „Freiheit“ in Ausdrücken wie „Naturgesetz“ und „das Gesetz der Freyheit“ wird in dieser Hinsicht ganz unterbestimmt gelassen;70 diese Begriffe lassen sich nicht in Bezug auf Kants Zwei-Reiche-These interpretieren. Direkt gegen diese Dualismus-Lesart spricht vor allem Reinholds Unterteilung der Vernunft­ vorschriften in drei Kategorien: Neben dem „Naturgesetz“ und dem „Gesetz der Freyheit“ gehört dazu noch die Maxime, die weder auf praktische noch auf theoretische Vernunft reduziert werden kann.71 Reinholds Suche nach der Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit entstammt einem aufkläreri­ schen Interesse, das noch vor seiner Kant-Rezeption liegt – sie entstammt also nicht dem kantischen Dualismus.72 Weil ihm die kantische transzendentalphi­ losophische Basis entzogen ist, entspricht das Gesetz der praktischen Vernunft bei Reinhold nicht mehr der Bedeutung der transzendentalen Freiheit bei Kant, die Kant als alleiniger Ausweg aus der Fremdbestimmung gilt. Damit zusammenhängend wird jenes Gesetz bei Reinhold nicht so stark mit dem Geltungsanspruch der gesetzlichen Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit verbunden wie in Kants Moralmetaphysik. Die meta-kritische Bedeutung der „Autonomie“ wird der praktischen Vernunft in Briefe II geraubt.73 Insofern ist die „Autonomie“ der praktischen Vernunft bei Reinhold nichts anderes als eine sachliche Formulierung dafür, dass sich die praktische Vernunft allein selbst die Vorschrift gibt, oder dafür, dass sie sich eine andere Vorschrift als die theoretische Vernunft gibt. Ferner bezieht sich der erwähnte argumentative Teil im 3. Brief nur auf die Bestimmung der theoretischen Vorschrift. Der praktische Teil wird im 3. Brief nicht darin integriert. Diese Integration ist Reinhold durch die Theorie 70 71

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Dies zeigt die Ähnlichkeit der Freiheitslehre Reinholds mit vielen gegenwärtigen Frei­ heitstheorien, die sich auf keine tiefende bzw. systematische Grundsätze unterstützen. Briefe II, S. 269; RGS 2/2, S. 186: „[…] und selbst beym Wollen kommen dreyerley Vorschriften der Vernunft: die Maxime, das praktische Gesetz, und das Naturgesetz des Begehrens; vor, bey deren jeder die Vernunft auf eine andere Weise Causalität hat.“ Vgl. Marx (2012), S. 263–267. Heinz (2012), S. 171: „[…] ist die Projektion seiner eigenen Auffassung auf Kant unüber­ sehbar. Das Revolutionäre von Kants praktischer Philosophie, alle Versuche der Bestim­ mung des Moralprinzips durch Konzepte des Guten aufzugeben und stattdessen den so genannten Formalismus zu vertreten, d.h., geltend zu machen, dass das Moralprinzip nur in einem die Gesetzlichkeit von Maximen gebietenden praktischen Gesetz bestehen kann, wird vollkommen übergangen, indem Kants Verdienst in die Neubestimmung des moralphilosophisch ausschlaggebenden Vermögens gesetzt wird.“

des Vorstellungsvermögens im Versuch nicht gelungen. Imhof (2012) sieht im 7. Brief sowie in Reinholds Rezension aus dem Jahr 179274 eine erfolgreiche systematische Integration von praktischer und theoretischer Philosophie.75 Im 7. Brief wird das theoretische Urteil über die Wahrheit mit dem praktischen Urteil über das Angenehme, Schöne und sittlich Gute parallelisiert.76 Das Urteil über das sittlich Gute ist teilweise mit dem Wahrheitsurteil, teilweise mit dem Urteil über das Angenehme verwandt.77 Obwohl eine einheitliche Grundlage, die Imhof als Struktur der Erfüllungs­ bedingungen der Intentionalität artikuliert, zutage tritt, hat Reinhold auf die­ ser gar kein System aufgebaut. Sie wird nur gezielt auf die Argumentation angewandt, dass die Gesetzmäßigkeit des Willens, die anstatt des Vergnügens des uneigennützigen Triebs bestehen soll – nämlich als praktisches Gesetz –, die Erfüllungsbedingung des Urteils über das sittlich Gute ist. Dadurch wird die Verbindlichkeit des praktischen Gesetzes teilweise erklärt. Das praktische Gesetz weist dahingehend einen ähnlichen Charakter wie die Wahrheit auf. Aber mehr systematische Bedeutung hat Reinhold ihm nicht beigelegt, obwohl die Argumentationsbasis über die Moralpsychologie hinausgeht. Daran schließt sich Reinholds Aussage an, dass die praktische Vernunft der Grund des moralischen Gefühls sei. Wie Reinhold in der oben genannten Argumentation dargestellt hat, ist das „Sollen“ allein, ohne Vermengung mit dem Vergnügen, die Erfüllungsbedingung des sittlichen Wohlgefallens. Die Betonung der Reinheit des praktischen Gesetzes und die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen praktischer Vernunft und moralischem Gefühl als Ursache und Wirkung vermitteln den Eindruck, dass das praktische Gesetz von allein seine Kausalität verwirklichen kann. Das praktische Gesetz ist dement­ sprechend nicht nur als Rechtfertigungsprinzip, sondern auch als Ausübungs­ prinzip zu verstehen. Reinholds äußerliche Anlehnung an Kant bestärkt dieses Verständnis. Kant interpretiert nämlich das moralische Gefühl als die Wirkung des praktischen Gesetzes auf die Sinnlichkeit.78 Er betrachtet es als den Beweis der Praktizität der Vernunft.

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Schmid-Rezension, S. 11ff. Imhof (2012), S. 241–249. Briefe II, S. 233, RGS 2/2, S. 167: „Dem Beyfalle der Ueberzegung liegt die Uebereinstim­ mung zwischen Vorstellung und Objekt zum Grunde, und er ist ein Urtheil, durch welches dem Begriffe, den wir vom Objekt haben, das Prädikat Wahr beygelegt wird. Dem Beyfalle des Wohlgefallens liegt die Uebereinstimmung zwischen dem vorstellen­ den Subjekte und dem vorgestellten Objekte zum Grunde, und er ist ein Urtheil, durch welches wir dem Objekte die Prädikate Angenehm, oder Schön, oder Sittlichgut beylegen […].“ Briefe II, S. 234; RGS 2/2, S. 168. KpV, AA V, S. 80, 90; GMS, AA IV, S. 460.

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Verstünde Reinhold das moralische Gefühl ebenso, brauchte er die alte Fas­ sung des dritten Briefs nicht so stark zu überarbeiten.79 Denn durch diese Über­ arbeitung wird gerade die Aussage bezüglich der Praktizität der Vernunft ge­ tilgt. Das aber heißt nicht, dass Reinhold das moralische Gefühl von der prakti­ schen Vernunft abkoppelt und es als das letzte Kriterium der Moralität behan­ delt. Dies wäre das Vorgehen solcher Philosophen, die den moralischen Sinn behaupten. Reinhold grenzt seine Position jedoch von der des moralischen Sinns vorsichtig ab. Seiner Meinung nach ist bei dieser Position der Grund des moralischen Gefühls unbekannt, und das moralische Gesetz bleibt unbegreif­ lich für die Vernunft. Reinhold unterscheidet seine Auffassung des moralischen Gefühls vom moralischen Sinn, indem er das moralische Gefühl nicht als den letzten Grund der Moralität betrachtet, sondern es weiter auf die praktische Vernunft zurückführt.80 Dies ist die eine Seite von Reinholds Verständnis des moralischen Gefühls. Die andere Seite ist, dass Reinhold das moralische Gefühl nur als die Ankündigung des Sittengesetzes interpretiert, nicht als die Befol­ gung desselben. Das moralische Gefühl ist insofern ganz von der praktischen Vernunft unterschieden. Das gemeine Bewusstsein ist sich nur des Gefühls, nicht des Sittengesetzes direkt bewusst. Das wirft die Frage auf, wie das Verhält­ nis zwischen moralischem Gefühl und praktischer Vernunft in Reinholds Theorie genau zu verstehen ist. 3.2.2. Die Theoretisierung der praktischen Vernunft Der sich offenkundig an Kants Moralphilosophie anschließende Ausdruck der „Kausalität“ zwischen praktischer Vernunft und moralischem Gefühl bei Rein­ hold impliziert in der Tat keine Bestimmung des Willens durch die praktische Vernunft oder die „Kausalität der Vernunft“ im kantischen Sinn. Denn Rein­ hold spricht der praktischen Vernunft grundsätzlich die Fähigkeit ab, den Wil­ len zu bestimmen oder eine sittliche Handlung selbständig hervorzubringen. An dieser Stelle grenzt er die praktische Vernunft vom Willen ab und weicht deutlich von Kant ab. Die Abweichung lässt sich vor allem an der wiederholten Äußerung in Briefe II ablesen, dass der praktischen Vernunft nur die Aufstellung des Sittengeset­ zes und nicht die Ausführung desselben zukomme. Diesbezüglich formuliert 79

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Dort wird beispielsweise eine Stelle wie: „Die praktische Vernunft handelt als reiner (mo­ ralischer) Willen, in wiefern sie die Gesetzmäßigkeit des Begehrens bloß um ihr eigenes Gesetz aus einer und eben derselben Fülle ihrer Kraft sich selbst giebt, und befolgt“ – zu folgendem Text revidiert: „Daß die Quelle dieses Gesetzes allein in der selbstthätigen Natur der Vernunft anzutreffen sey, welche, in wie ferne sie dem Willen ein Gesetz giebt, das seine absolute Nothwendigkeit und Allgemeinheit nur durch sie allein erhält, und das nur durch Freyheit des Willens ausgeübt und übertreten werden kann, praktische Vernunft heißt.“ Briefe II, S. 64 f.; siehe Reinholds Text sowie Anmerkung in RGS 2/2, S. 51 f. Briefe II, S. 83–88; RGS 2/2, S. 64–68.

Zöller (2005) seine Interpretation, dass Reinhold der praktischen Vernunft die Praktizität abspreche81 und das Vernunft- und Sittengesetz theoretisiere.82 Dabei ist die Praktizität als die Wirksamkeit des praktischen Gesetzes auf das Motiv bzw. auf die Handlung zu verstehen.83 Der Aspekt des Moralgesetzes, der sich auf die Praktizität bezieht, lässt sich an den kantischen Ausdruck principium executionis anschließen. Hingegen bedeutet das Theoretisieren die Leugnung der praktischen Wirksamkeit und die Abtrennung vom reellen Han­ deln. Das macht das Moralgesetz mit theoretischer Erkenntnis vergleichbar. Der praktischen Vernunft wird nur die Fähigkeit zugemessen, das Moralgesetz aufzustellen. Man kann diese Position so formulieren, dass sich die praktische Vernunft nur auf das principium diiudicationis beziehe. Zöllers Interpretation bleibt unter den Forschern allerdings umstritten. Kersting (2008) behauptet einen Widerspruch zwischen der Theoretisierung der praktischen Vernunft und deren Funktion als uneigennützigem Trieb in Reinholds Theorie.84 Breazeale (2012) sieht beispielweise das moralische Gefühl als einen Beleg der Praktizität der praktischen Vernunft an.85 Meiner Meinung nach ist hauptsächlich die Mehrdeutigkeit der Theorie Reinholds für diesen Meinungsunterschied verantwortlich. Was die Praktizität oder die Theoretisie­ rung der praktischen Vernunft betrifft, lassen sich drei Varianten in Briefe II auffinden. Zöllers Lesart betrifft die erste Variante, nämlich die scharfe Trennung zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis und die komplette Widerlegung der Praktizität der praktischen Vernunft. In der zweiten Variante wird die praktische Vernunft als Trieb charakterisiert. Die praktische Vernunft steht im Verhältnis zum Willen wie der veranlassende Grund zum bestimmenden Grund. Als Trieb wird der praktischen Vernunft die Praktizität nur zum Teil zugesprochen. Die Positionen von Kersting und 81

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Zöller (2005), S. 80: „In formaler Hinsicht erhält damit das Sittengesetz den Status des Gesetzes einer höheren Natur oder eines höheren Naturgesetzes. Eigentliche Praktizität liegt nur noch vor in den willkürlich-freien Entscheidungen […].“ Zöller (2005), S. 80: „Aus dem praktischen Gesetz eines unbedingten Sollens wird ein quasi-theoretisches Gesetz vernünftigen Seins, das erst durch den Sukkurs der Willkür Wirksamkeit erhält. Reinhold selbst bringt diese Naturalisierung und Theoretisierung des Vernunft- oder Sittengesetzes zum Ausdruck, wenn er beide gesetzlich begründeten Vorgaben für die Willkürausübung und die Willensbildung gleichermaßen unter den Titel ‚Trieb‘ bringt und zwischen dem rein vernunftgewirkten ‚uneigennützigen Trieb‘ und dem sinnlich bedingten und fallweise nach Klugheitsregeln durch instrumentelle Vernunft modifizierten ‚eigennützigen Trieb‘ unterscheidet.“ Reinhold interpretiert „das Praktische“ im dritten Brief des zweiten Bandes um. Er ver­ steht es als eine Art Offenbarung des Moralbewusstseins, die nicht durch die Vermittlung der räsonierenden Vernunft, sondern unmittelbar durch das moralische Gefühl erfolgt. Diese Unmittelbarkeit des Praktischen habe sonach den Vorteil, sich von der Verzerrung des Räsonnements zu lösen. Kersting (2008), S. 105. Breazeale (2012), S. 105.

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Breazeale lassen sich generell in diese Kategorie einordnen.86 Darüber hinaus ist eine weitere Variante in Briefe II vorhanden, die zwischen den ersten beiden liegt. Laut dieser Erklärungsart befasst sich die praktische Vernunft zwar mit einer Vorschrift, aber sie ist nicht wie bei der ersten Variante vom Handeln scharf getrennt. Trotz der dargelegten Mehrdeutigkeit bleibt eine Sache ein­ deutig, nämlich dass die Praktizität der praktischen Vernunft bei Reinhold begrenzt wird. Insofern vertrete ich die Meinung, dass die Theoretisierung der praktischen Vernunft als eine Grundtendenz bei Reinhold gilt, deren Aus­ maß sich unterschiedlich interpretieren lässt. Diese Theoretisierung gilt als ein wichtiger Schritt Reinholds, die Willensfreiheit von der praktischen Vernunft abzugrenzen. Diesen Standpunkt erläutere ich in den folgenden Paragraphen näher. Zuerst wollen wir untersuchen, wie Reinhold in der ersten Variante die Einschränkung der Rolle der praktischen Vernunft auf die Gesetzgebung be­ gründet. Reinhold argumentiert, die Handlungsweise der praktischen Vernunft sei von der Notwendigkeit und Unwillkürlichkeit gekennzeichnet.87 Denn sie stelle nur ein einziges eigentümliches Gesetz auf, das die Erfordernisse der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des uneigennützigen Triebs erfülle. Hingegen sei die Ausführung des Moralgesetzes zufällig und ungesichert,88 was der Notwendigkeit und Gesetzlichkeit konträr sei. Sie entspreche daher der Handlungsweise der praktischen Vernunft nicht. Gerade die Zufälligkeit gelte als die Voraussetzung der natürlichen Freiheit, wie durch die Tatsache des Bewusstseins angekündigt. Reinhold wendet sich einem Freiheitsbegriff zu, der auf dem gemeinen Verstand basiert und sich nach dem Entscheidungsund Handlungsprozess richtet. Die Vereinbarung der moralischen Notwendig­ keit mit der Freiheit sei nur möglich, wenn die von der Notwendigkeit ge­ kennzeichnete praktische Vernunft auf die Gesetzgebung eingeschränkt werde; während die Ausführung des Gesetzes, welche zum zufälligkeitsbedürftigen Entscheidungs- und Handlungsprozess gehört, dem Willen überlassen sei.89 Reinhold zufolge „kann eine Wirkung, die lediglich durch Vernunft, und ohne allen fremden Einfluss, ohne Mitwirkung irgend eines andern von ihr 86 87 88

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Es wird weiter unten erläutert werden, dass Breazeales Interpretation des moralischen Gefühls Reinhold nicht ganz treu ist. Briefe II, S. 289; RGS 2/2, S. 196. Briefe II, S. 248; RGS 2/2, S. 175: „Es ist allerdings Thatsache des Bewußtseyns, daß die Person beym Wollen durch Vernunft handele; aber auch nicht weniger, daß sie beym Wollen den Ansprüchen der Vernunft entgegen handeln, die Vernunft mißbrauchen könne.“ Briefe II, S. 290; RGS 2/2, S. 197: „Ich habe also hier noch zu zeigen, daß sich die Eintracht der moralischen Nothwendigkeit mit der Thatsache der natürlichen Freyheit nur in so ferne denken lasse, oder daß das Sittengesetz der Freyheit nur in so ferne nicht widerspreche, als die Vernunft in dem von Kant zuerst festgesetzten Sinne bey der sittlichen Gesetzgebung (aber nicht bey der Ausführung des Gesetzes, die nicht der Vernunft, sondern dem Willen zukömmt) praktisch ist.“

selbst verschiedenen Grundes geschieht, nicht anders, als die bloß um ihrer selbst willen aufgestellte Vorschrift seyn.“90 In Übereinstimmung mit der Wir­ kungsbegrenztheit der praktischen Vernunft deutet Reinhold das moralische Gefühl im dritten Brief um. Er sieht es zwar als eine Wirkung der praktischen Vernunft an, verknüpft aber diese Wirkung nicht mit einer konativen Funkti­ on der praktischen Vernunft, sondern mit einer kognitiven. Die Äußerung des Gefühls wird in Beziehung auf das Moralgesetz so ausgelegt, dass ihre vorreflexive und selbstevidente Eigenschaft die Reinheit und Untrüglichkeit des Moralgesetzes gegen den Trug der räsonierenden Vernunft schütze und daher der ankündigenden Rolle dienlich sei.91 Somit betrifft das moralische Gefühl die Übermittlung des Moralgesetzes und nicht die Anwendung desselben. In dieser Umdeutung kulminiert Reinholds Theoretisierung der praktischen Ver­ nunft. Reinhold bringt die Scheidewand zwischen praktischer Vernunft und Willensfreiheit klar zutage, indem er den Wirkungsbereich der praktischen Vernunft auf die Aufstellung und Ankündigung des Gesetzes einschränkt und sie in diesem Sinne aus dem praktischen Bereich ausschließt oder, mit anderen Worten, sie „theoretisiert“92. Die Aufstellung des Gesetzes bezieht sich auf die reine apriorische Form, die Ausführung des Gesetzes auf die aposteriorische Materie. Die klare Trennung zwischen beiden lehnt sich deshalb an die systematische Dualität des Reinen und des Empirischen in Kants Transzendentalphilosophie an. Einerseits ge­ winnt die besagte Trennung durch diese Anlehnung eine systematische Stütze, anderseits ist sie mit den Schwierigkeiten des Dualismus, nämlich dessen kaum zu überbrückender Kluft, behaftet. Reinholds Zurückweisung von Kants Zu­ sammenführung von principium diiudicationis und principium executionis scheint diese Kluft nur noch stärker zu betonen und zu einer spekulativen Verlegen­ heit zurückzuführen: Die mit dem Formalismus behaftete und übersinnlich eingeordnete praktische Vernunft tritt schlecht in Verbindung mit dem Willen,

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Briefe II, S. 288; RGS 2/2, S. 196. Briefe II, S. 74; RGS 2/2, S. 58f.: „Als Wirkung der praktischen Vernunft hängt das mora­ lische Gefühl eben so wenig als das Bewußtseyn der Persönlichkeit, mit dem es aus einerley Quelle entspringt, von Raisonnement ab. Das Gesetz, das sich durch dieses Gefühl ankündigt, hat seinen Grund in der Vernunft selbst, und zwar in derjenigen Aeußerung, in welcher die Vernunft von nichts außer ihr selbst abhängt. Das Bewußtseyn dieses Gesetzes ist daher immer wahr und untrüglich, ungeachtet das Urtheil über seine Anwendung auf einzelne Fälle darum trüglich seyn kann, und oft wirklich trügt, weil dasselbe von den theoretischen Wirkungen der Vernunft, und durch diese von gegebenen Gründen, die nicht immer in unserer Gewalt sind, abhängt.“ Zöller (2005), S. 80: „Reinhold selbst bringt diese Naturalisierung und Theoretisierung des Vernunft- oder Sittengesetzes zum Ausdruck […]. In formaler Hinsicht erhält damit das Sittengesetz den Status des Gesetzes einer höheren Natur oder eines höheren Natur­ gesetzes. Eigentliche Praktizität liegt nur noch vor in den willkürlich-freien Entscheidun­ gen […]“.

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der die materiale Kraft und den sinnlichen Bezug beansprucht.93 Außerdem verträgt sich die Redeweise vom uneigennützigen Trieb schlecht mit der völlig verstümmelten praktischen Vernunft, worauf Kersting mit Recht hinweist.94 Denn, wenn jeglicher materielle Inhalt und jegliche bewegende Kraft aus der praktischen Vernunft klar ausgeschieden werden, was könnte dann „sinnvoll als Vehikel des uneigennützigen Triebes gelten“95? Aber wir werden sehen, dass Reinhold nicht eindeutig an dieser Dualität festhält, wenn er das Verhältnis zwischen der praktischen Vernunft und dem Willen auf andere Arten und Weisen erläutert. In der zweiten Variante thematisiert Reinhold die praktische Vernunft als einen Trieb, was einem unterschiedlichen Ansatz entspricht. Nicht nur ein statisches, in Form der Vorstellung beschränktes Gesetz, sondern auch eine Forderung bzw. eine Nötigung, welche als eine bewegende Kraft gilt, werden der praktischen Vernunft zugesprochen. Die praktische Vernunft wird mit dem Begehren, nämlich mit dem eigennützigen Trieb, parallelisiert. Die beiden fungieren gleichmäßig als veranlassender Grund in der Willensbestimmung. Könnte die praktische Vernunft lediglich ein quasi theoretisches Gesetz hervor­ bringen, wäre sie weder in der Lage, ein Gegengewicht zum eigennützigen Trieb, welcher über eine reelle treibende Kraft verfügt, zu schaffen, noch könn­ te sie den Willen veranlassen. Sie ist keine theoretische Kontemplation, sondern ist in ein Motiv-Handlungssystem eingebettet. In Briefe II liefert Reinhold keine explizite Erläuterung, wie die praktische Vernunft einen Trieb hervorbringt. Der Zusammenhang zwischen den beiden und die Bedeutung des Triebbegriffs bleiben etwas dunkel. Aber die konative Dimension der praktischen Vernunft lässt sich an die Bedeutung des Triebbe­ griffs im Versuch anschließen. Laut der Definition im Versuch vermittelt der Trieb zwischen dem Vorstellungsvermögen und der vorstellenden Kraft, zwi­ schen der kognitiven Form und der dementsprechenden reellen Handlung.96 93

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Auf diese Schwierigkeit macht Kant besonders in der GMS aufmerksam, siehe GMS, AA IV, S. 461. In der KpV gesteht er auch ein, dass ein theoretischer Beweis der Realität des Moralgesetzes nicht möglich sei (KpV, AA V, S. 80). Er betrachtet jedoch das „Factum der Vernunft“ als den praktischen Beweis derselben, der der theoretischen Sackgasse entkom­ me (KpV, AA V, S. 6, 31). Außerdem sieht er das moralische Gefühl als eine apriorische Synthese von Gesetz und Gefühl, die trotz der theoretischen Unergründlichkeit ihre Geltung in praktischem Bereich habe (KpV, AA V, S. 80). Dadurch beweist Kant, dass die praktische Vernunft nicht nur das principium diiudicationis, sondern auch das principium executionis sei. Reinholds Theoretisierung der praktischen Vernunft gilt gerade als eine Gegenbewegung, die den kantischen Beweis der Praktizität der praktischen Vernunft in der KpV abtut und auf die theoretische Verlegenheit in der GMS zurückführt. Kersting (2008), S. 105: „Wird der Wille aus dem Konzept der reinen praktischen Ver­ nunft herausgeschnitten, ist die der reinen praktischen Vernunft einzig verbleibende Tätigkeit die Gesetzgebung, das Aufstellen des Sittengesetzes, dann fragt sich, was in dieser moralischen Vernunftlegislation dem uneigennützigen Trieb entsprechen kann?“ Kersting (2008), S. 105. Versuch, S. 561; RGS 1, S. 355.

Die praktische Vernunft wird im Versuch als „Trieb nach Form der Vorstel­ lung“97 oder reinvernünftiger Trieb konzipiert, der seine eigene Materie der Form der Spontaneität gemäß hervorbringt.98 Darüber hinaus lässt sich die motivierende Funktion der praktischen Ver­ nunft mit dem moralischen Gefühl verknüpfen. Dazu bringt Breazeale seine Deutung folgendermaßen zum Ausdruck: „[…] our knowledge of the ethical law is not, as some have charged, purely theoretical, but is also practical: to be aware of the dictates of this law is not simply to know what it says, but also to know that one ought to act in accord with it […] simply by virtue of the utterly distinctive feelings it produces in us, the moral law already possesses a certain efficacy within our consciousness.“99

Nach Breazeales Ansicht ist das praktische Gesetz keine bloß theoretische Er­ kenntnis, sondern hat direkte praktische Wirksamkeit. Er betrachtet das morali­ sche Gefühl als Beleg dafür. Das moralische Gefühl impliziere nicht nur die An­ kündigung des Gesetzes, sondern auch die praktische Wirkung des praktischen Gesetzes auf das Motiv. Diese Interpretation des moralischen Gefühls steht der kantischen Auffassung nahe, die Reinhold in vielerlei Hinsicht weiterhin prägt, obwohl er ein neuartiges Verständnis desselben nebenbei entwickelt hat. Bei der Erörterung des uneigennützigen Triebs legt er den Schwerpunkt auf die Explikation, dass die Sittlichkeit an und für sich das Wohlgefallen bewirke und nicht umgekehrt.100 Das sittliche Wohlgefallen lasse sich nicht auf das theoretische Urteil über die Wahrheit reduzieren.101 Es ist bemerkenswert, dass die Praktizität der praktischen Vernunft in der zweiten Variante zwar anerkannt, aber auf den Trieb eingeschränkt wird. Sonst liefe Breazeales Lesart Gefahr, Reinholds Position mit der kantischen zu verwechseln. Bei Kant bedeutet die Praktizität zugleich die Bestimmung des Willens. Bei Reinhold wird die Praktizität des Triebs von der Praktizität des Willens abgegrenzt. Reinhold unterscheidet die zwei voneinander durch das Begriffspaar von veranlassendem und bestimmendem Grund. Der Unterschied besteht darin: Der Trieb erzeuge eine Forderung und eine Veranlassung zur Handlung, ohne das handelnde Subjekt wirklich in Bewegung zu setzen. Der Wille beziehe sich hingegen auf den subjektiv hinreichenden bestimmenden Grund, durch den eine Handlung zustande kommt.102 Der eigennützige und der uneigennützige Trieb können nur durch die Sanktion des Willens, die die 97 98 99 100 101 102

Versuch, S. 561; RGS 1, S. 356. Versuch, S. 569f.; RGS 1, S. 360f. Breazeale (2012), S. 105. Vgl. Briefe II, S. 220–243; RGS 2/2, S. 161–172. Vgl. Briefe II, S. 234; RGS 2/2, S. 168. Vgl. Briefe II, S. 256; RGS 2/2, S. 179: „Die Forderung des eigennützigen Triebes sowohl als die des uneigennützigen können nur durch willkürliche Vorschriften, nur durch Ma­ ximen zu Triebfeder des Willens werden; sie sind nur in so ferne als Bestimmungsgründe der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes beym Wollen denk­

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praktische Vernunft nicht beeinflussen kann, eine Handlung bestimmen. Die Praktizität der praktischen Vernunft wirkt nicht vollumfänglich; sie betreffe nur den Trieb, nicht den Willen. Ihre Wirksamkeit beschränkt sich in der Veranlassung der Handlung, während die Bestimmung einer Handlung über ihre Reichweite hinausgeht. Breazeales Lesart ist insofern angemessen, als er anmerkt, dass wir das Bewusstsein der Aufforderung oder Autorität des Moralgesetzes zwar nicht eliminieren können, aber dass die Vorschrift der praktischen Vernunft nicht zwangsläufig zur Handlung führe.103 Aber er vertauscht meines Erachtens das Reinholdsche Verständnis der praktischen Vernunft mit demjenigen von Kant, wenn er eine überlegene praktische Wirksamkeit des uneigennützigen Triebs entgegen dem eigennützigen Trieb behauptet. Breazeale argumentiert, dass das „Sollen“ noch eine innigere Beziehung zum Kern der Person habe und ihr Scheitern ein sittliches Unvergnügen zur Folge habe, was dem eigennützigen Trieb fehle.104 Letztere Lesart ist aus folgenden Gründen abwegig: Erstens wird eine Gewichtung zwischen beiden Trieben, welche nach Reinholds Auffassung dem Willen überlassen ist, laut dieser Interpretation ohne den Willen schon allein durch die praktische Vernunft vorbestimmt. Die praktische Vernunft überschreitet damit den Einflussbereich des Triebs und mischt sich in die Rolle der Willensentscheidung ein. Zweitens ist die nahe Beziehung zwischen prakti­ scher Vernunft und Person nur im Umfang der Gesetzgebung gültig. Wenn von der reellen Handlung die Rede ist, besteht diese Privilegierung der prakti­ schen Vernunft nicht mehr. Obwohl Reinhold der praktischen Vernunft in Ansehung ihrer Äußerung als moralisches Gefühl eine treibende oder motivie­ rende Kraft zuerkennt, schreibt er dem eigennützigen Trieb eine gleichmäßige Kraft zu. Drittens unterscheidet das „Sollen“ sich zwar vom „Müssen“ durch ein verschiedenartiges Vergnügen oder Unvergnügen, aber diese Differenzierung bedeutet bei Reinhold nicht zugleich ein Übergewicht des uneigennützigen Triebs über den eigennützigen Trieb. Reinholds Unterschied zu Kant besteht genau darin, dass er die praktische Vernunft hinsichtlich ihrer praktischen Wirksamkeit mindestens auf die Ebene des Triebs herabzieht.

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bar, als sie von der Person in ihre Maxime aufgenommen werden. Der Wille bestimmt sich seine Triebfeder selbst. “ Breazeale (2012), S. 105. Breazeale (2012), S. 103: „But there is a vitally important difference between the ways in which these two sorts of demands are experienced by the acting subject. In the latter case, one recognizes the presence of something that is conspicuously absent in the former: namely, that the demand in question is accompanied by the feeling that—despite one’s freedom to do otherwise and despite the fact that one can do so—one nevertheless ought to determine oneself in accordance with the demand of the unselfish drive (and, in cases where one has failed to do this, that one nevertheless should have done so). In contrast, failure to satisfy a demand of the selfish drive is not typically accompanied by such remorse. In this sense, therefore, it cannot be said that Reinhold has “equalized” the status of the demands in question. “

Neben der zweiten Variante liegt in Briefe II eine weitere Variante der Theoretisierung der praktischen Vernunft vor, die auf die Einbettung der prak­ tischen Vernunft im Motiv-Handlungssystem weist. Dieser letzteren Variante zufolge wird zwar die Leistung der praktischen Vernunft auf eine Vorschrift beschränkt, aber die Vorschrift wird nicht von der Ausführung des Gesetzes völlig getrennt. Auf der einen Seite unterscheidet sich die dritte Variante von der zweiten dadurch, dass Reinhold in der dritten Variante der praktischen Vernunft nur eine apriorische gesetzliche Form zuschreibt. Auf der anderen Seite wird eine holistische Botschaft in der dritten Variante deutlich, die zu der scharfen Trennung zwischen der Aufstellung und Ausführung des Gesetzes in der ersten Variante in Kontrast steht. Die gesetzliche Form der praktischen Vernunft ist von vornherein auf die Materie des eigennützigen Triebs gerichtet und anwendbar. Die praktische Vernunft kann diese Materie zwar nicht hervor­ bringen, aber sie hat das Potential, letztere zu transformieren, indem sie diese Materie der Form des Vernunftgesetzes unterordnet. An der dritten Variante ist merkwürdig, dass Reinhold die Rolle der Sinn­ lichkeit deutlich aufwertet und die Funktion der praktischen Vernunft dement­ sprechend einschränkt. Er betrachtet die Sinnlichkeit bei der sittlichen Bestim­ mung nicht nur als die Wirkung der praktischen Vernunft, sondern auch als ihre Mitwirkende. Dies lässt sich außerdem dadurch einsehen, dass Reinhold das reine Wollen in einer bestimmten Hinsicht für empirisch hält.105 Seiner Meinung nach bezieht sich das Wollen inhaltlich immer auf die Befriedigung und Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebs. Der sittliche Wille sei in Rücksicht auf die Anwendung des Gesetzes a posteriori bestimmbar: Da der sittliche Wille nur in wie ferne er mit dem reinen praktischen Gesetze im Verhältnisse steht, a priori, in Rücksicht auf die Anwendung dieses Gesetzes aber in jedem gegebenen Falle, oder in Rücksicht auf die Materie des Gesetzes, die immer vom eigennützigen Triebe herbeygeschafft werden muß, a posteriori bestimmbar ist […].106

Laut diesem Zitat sieht Reinhold die apriorische Form der praktischen Ver­ nunft und die aposteriorische Materie des sinnlichen Triebs als zwei Seiten der Einheit des sittlichen Willens an. Er führt die Sinnlichkeit mit der Sittlichkeit innig zusammen. Diesbezüglich gesteht Reinhold seine Abweichung von Kant in einem Brief an Baggesen ein, er entferne sich sogar über den Begriff der Sittlichkeit von Kant, indem er sich ohne Sinnlichkeit keine Sittlichkeit denken könne.107 Hinter diesem Verständnis ist der kantische Dualismus von Sinnlich­

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Briefe II, S. 273, RGS 2/2, S. 188: „Denn da der Wille überhaupt das Vermögen ist, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes zu bestimmen; diese Forderungen aber mittelbar oder unmittelbar von der Erfahrung abhängen: so ist alles Wollen in dieser Rücksicht empirisch.“ Briefe II, S. 275, RGS 2/2, S. 189. Brief von Reinhold an Baggesen, 28. März 1792, in: RKA 4, S. 85.

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keit und Vernunft kaum erkennbar; am Werk sind hingegen die Vermittlung und Vereinigung der beiden. Diese Position stimmt mit der im Versuch geäußerten These überein, dass die Vernunft den sinnlichen Stoff nicht entbehren kann.108 Gerade wegen der Gebundenheit an die Sinnlichkeit ist der theoretische Möglichkeitsbeweis der Freiheit, die im Versuch die absolute Selbsttätigkeit der Vernunft bedeutet, durch die Theorie des Vorstellungsvermögens gescheitert.109 Man kann ferner dieses Form-Materie-Verhältnis zwischen Sittengesetz und eigennützigem Trieb mit Reinholds aufklärerischem Interesse in Verbindung setzen. In seinem vor­ kantischen philosophischen Werdegang propagiert er die Überbrückung zwi­ schen Vernunft und Sinnlichkeit zur Popularisierung der Philosophie.110 Es wird von Zöller (2005)111 und Marx (2012) diagnostiziert, dass der außerkanti­ sche und populäre Ansatz Reinholds Verständnis der Freiheit zugrunde liegt. Die dritte Variante scheint ein Mittelweg zwischen den ersten beiden zu sein. Sie vermittelt zwischen der Position der ersten Variante, der zufolge die praktische Vernunft an sich nur das Moralgesetz aufstellt, und derjenigen der zweiten Variante, der zufolge die praktische Vernunft sich auf die materielle treibende Kraft bezieht. Es wäre möglich, durch diesen Mittelweg die verschie­ denen Varianten zu vereinigen. Fichte schlägt beispielsweise den Weg ein, das formale Moralgesetz auf die Sinnenwelt zu beziehen, indem er die Einheit von Vernunft und Sinnlichkeit systematisch begründet. Aus dieser Perspektive ist die dritte Variante besonders aufschlussreich. Reinhold ist allerdings in systematischer Hinsicht nicht so weit gegangen. Die drei Varianten sind gleichermaßen präsent und bleiben unsystematisiert. Reinhold lenkt seinen Fokus darauf, die praktische Vernunft vom Willen abzu­ grenzen. Zu diesem Zweck ist die dritte Variante nicht in jeder Hinsicht unpro­ blematisch. Denn sie geht davon aus, dass der eigennützige Trieb im Gegensatz zum Vernunftgesetz den sinnlichen Stoff für die reale Wirkung direkt in sich fasst. Sodann tritt eine Ungleichheit auf, aus der eine Verbindung zwischen der praktischen Vernunft und dem Willen abzuleiten ist. Um diesen Punkt näher zu erörtern, sei folgendes Zitat angeführt: 108 109 110

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Versuch, S559, RGS 1, S. 354. Zum Urteil des Scheiterns der theoretischen Deduktion der absoluten Freiheit im Ver­ such siehe Lazzari (2004), S. 140. Gedanken 1, S. 8: „Man wußte sich der Vernunft nur bey allgemeinen Notionen zu bedienen. Der Gebrauch der Vernunft blieb also auf den engen Kreis der Gelehrten, und den noch engern ihrer Wissenschaft eingeschränkt.“ S. 5: „Indessen wurden selbst die allgemeinen Notionen fürs menschliche Leben in eben dem Grade unbrauchbar, als sie sich von den individuellen Empfindungen, den Triebfedern aller Thätigkeit des Menschen, entfernten […].“ Zu einer ausführlichen Analyse des Zusammenhangs zwi­ schen der Willensfreiheitstheorie in Briefe II und seiner vorkantischen aufklärerischen Botschaft der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft siehe Marx (2012), be­ sonders S. 263–267. Zöller (2005), S. 75.

Die Forderung des uneigennützigen Triebes, oder das praktische Gesetz, kann nie durch sich selbst, sondern nur durch den Willen zur Triebfeder einer Befriedigung oder Nicht­ befriedigung des Begehrens werden, da hingegen die Forderung des eigennützigen Triebes, (oder Lust oder Unlust,) durch sich selbst die Triebfeder aller unwillkührlichen Begehrungen, und der aus denselben erfolgenden Handlungen ist.112

Eine Ungleichheit ist im obigen Zitat naheliegend: Der uneigennützige Trieb benötige den Beistand des Willens, um seine Handlungswirksamkeit zu erwer­ ben, der eigennützige Trieb nicht. Obwohl die Handlung, die direkt der Forde­ rung des eigennützigen Triebs folgt, unwillkürlich ist, und der eigennützige wie der uneigennützige den Willen benötigt, um eine willkürliche Handlung hervorzubringen, lässt sich dennoch eine Ungleichmäßigkeit der Rollen des Willens bezüglich des eigennützigen und des uneigennützigen Triebs ableiten. Angesichts der selbstgenügsamen reellen Handlungskraft der Sinnlichkeit spielt der Wille dem eigennützigen Trieb gegenüber höchstens eine passivere, sank­ tionierende Rolle. Hingegen benötigt der uneigennützige Trieb bzw. die prakti­ sche Vernunft, der diese Handlungskraft fehlt, eine aktivere ausführende Rolle seitens des Willens. Das führt zu dem Verdacht, es bestehe ein geheimes Bünd­ nis zwischen dem Willen und der praktischen Vernunft. Abgesehen von diesem verborgenen Problem ist dem obigen Zitat zu entnehmen, dass Reinhold ei­ gentlich darauf abzielt, die mangelnde Handlungswirksamkeit der praktischen Vernunft zu betonen und die praktische Vernunft vom Willen zu trennen. Nach der Analyse der drei verschiedenen Varianten kommen wir zum Er­ gebnis, dass Reinhold bei der Theoretisierung der praktischen Vernunft nicht explizit und systematisch genug verfährt, um jede Mehrdeutigkeit und alle Schwierigkeiten zu beseitigen. Aber er schärft die Einsicht in die Spannung zwischen der Aufstellung des Moralgesetzes und dessen konkreter Anwendung. Ferner gibt er Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Trotz der erwähnten Mehrdeutigkeit ist Reinholds Meinung be­ züglich der abgeschwächten Funktion der praktischen Vernunft eindeutig. Er schränkt die Praktizität der praktischen Vernunft mindestens in dem Maß ein, dass sie keine direkte Macht über die Willensbestimmung hat und deswegen die Willensfreiheit nicht mehr tangiert. Dies gilt als ein wichtiges Argument, die Willensfreiheit von der praktischen Vernunft zu trennen. 3.2.3. Die Naturalisierung der praktischen Vernunft Als eine weitere Vorgehensweise Reinholds, die die Trennung der praktischen Vernunft von der Willensfreiheit veranlasst, gilt seine Naturalisierung der prak­ tischen Vernunft, d. h., er fokussiert auf die formelle Gleichheit der praktischen Vernunft mit dem Begehren und spielt ihren materiellen Unterschied herunter. 112

Briefe II, S. 255, RGS 2/2, S. 178.

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Die praktische Vernunft wird quasi als ein vernünftiges Sein oder eine höhere Natur charakterisiert. Die transzendentalphilosophische Tiefe der praktischen Vernunft, die bezüglich des principium diiudicationis im Vordergrund steht, tritt beim principium executionis in den Hintergrund. In diesem Sinn zeigt Reinholds Ansatz eine starke Ähnlichkeit mit der Moralpsychologie. Ich übernehme den Ausdruck „Naturalisierung“ von Zöller (2005). Zöller verwendet die Begriffe von Naturalisierung und Theoretisierung parallel, um Reinholds Charakteri­ sierung des praktischen Gesetzes als eines Triebs und als eines Gesetzes des vernünftigen Seins zu beschreiben. Meines Erachtens hängen beide Charakteri­ sierungen zwar zusammen, haben jedoch verschiedene Akzentuierungen. Die Theoretisierung betont die Zurückweisung, sei es zum Teil oder ganz, der Handlungswirksamkeit der praktischen Vernunft; während die Naturalisierung den objektiven Charakter des Gegebenseins und des Bestimmtseins der prakti­ schen Vernunft hervorhebt. Zunächst legt Reinhold das Gewicht nicht mehr auf die Transzendentalphi­ losophie oder die, mit ihr verwandte, Theorie des Vorstellungsvermögens, um die Ungleichheit zwischen Vernunftgesetz und Naturgesetz zu betonen. Er reduziert Kants Leistung durch jene transzendentalphilosophische Systematik darauf, die Pluralität der Vorschriften bzw. Triebe nachgewiesen und dadurch die Voraussetzung der Wahlmöglichkeit des Willens geschaffen zu haben.113 Er interpretiert die Hinterlassenschaft der kantischen Philosophie bezüglich der Dualität der Vernunft und der Sinnlichkeit nur als eine Differenzierung, statt als eine Rangordnung zwischen den beiden in Bezug auf ihr Verhältnis zu der Willensbestimmung.114 Reinholds Auseinandersetzung mit der Kausalität, sobald er die Willensbe­ stimmung in Betracht zieht, geht nicht von transzendentalen Grundsätzen aus, sondern schlägt einen anderen Weg ein. Er greift das Begriffspaar von veranlassendem und bestimmendem Grund auf. Diese Terminologie leitet sich aus Leibniz‘ Diktum „incliner sans nécessiter“ ab.115 Leibniz schließt sich damit an die augustinische Tradition des theologischen Indeterminismus von Gottes Festlegung an und betrachtet gleichzeitig den Indeterminismus auf der psycho­ logischen Ebene, die für die menschliche Willensfreiheit unentbehrlich ist. Durch die Unterscheidung zwischen „incliner“ und „nécessiter“ macht Leibniz darauf aufmerksam, dass die dem Willen vorgegebenen Motive nicht zwingen, sondern nur geneigt machen. Der menschliche Wille hat deswegen Wahlmög­ lichkeiten. Des Weiteren hängen die Termini des bestimmenden Grundes und

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Briefe II, S. 293, RGS 2/2, S. 198. Zu Reinholds Projektion seiner Auffassung auf Kant an der Stelle vgl. Heinz (2012), S. 171. Siehe z. B. Leibniz, Théodicée, § 45, vgl. ebd., § 288.

Reinholds Kausalitätsverständnis bezüglich der Willensbestimmung mit dem Leibniz‘schen Satz vom zureichenden Grund zusammen.116 Eine solche Auffassung der Kausalität ist stark psychologisch gefärbt und vor­ kritisch in ihrer Vorgehensweise; dem gemeinen Verstand liegt sie darum nahe. Einerseits wird die Kausalität ontisch und immanent begriffen: Sie wird nicht auf der Ebene der apriorischen Kategorie aufgefasst, die mit der transzendenta­ len Subjektivität und der Erfahrungsbedingtheit zusammenhängt. Andererseits widmet Reinhold der Heterogenität der Kausalität von veranlassendem und bestimmendem Grund, die dem gemeinen Verstand plausibel vorkommt, keine transzendentalphilosophische kritische Betrachtung. Reinholds Theorie scheint sich daher gegen den kantischen Zweifel einer Täuschung der psychologischen Freiheit kaum zu wehren.117 Durch Reinholds Vorgehen, das nahe bei der Moralpsychologie liegt, wird die Naturalisierung der praktischen Vernunft durchgeführt. Dabei wendet sich Reinhold nicht völlig von Kant ab, sondern es lassen sich in Kants Philosophie Explikationen finden, an die Reinholds Denken anschlussfähig sind. Kant un­ ternimmt eine Parallelisierung von Vernunftgesetz und Naturgesetz, indem er die Freiheit als eine anders geartete Kausalität kategorisiert. Um die Anwen­ dung des moralischen Gesetzes zu erörtern, wird die praktische Vernunft auf der psychologischen Ebene als eine Triebfeder konzipiert. In der anschaulichen Szene, die Kant gern zur Beschreibung verwendet, dass nämlich der Mensch vor dem Kreuzweg zwischen Naturgesetz und Vernunftgesetz stehe, kommt die Parallelisierung deutlich zum Ausdruck. Gleichsam auf einer ontologischen Ebene bringt Kant dementsprechend einen intelligiblen Charakter zur Sprache, der gemeinsam mit dem empirischen Charakter das Wesen der Menschheit ausmacht. Doch diese psychologischen oder ontologischen Bemerkungen über die praktische Vernunft nehmen keine zentrale Stellung in Kants Theorie ein. Stattdessen herrscht die transzendentale und normative Perspektive bezüglich der Auffassung der praktischen Vernunft vor. Reinhold übernimmt zwar von Kant die beiden Gesichtspunkte, verdrängt aber die transzendentale Ebene und verdeutlicht die psychologische, wenn es um den Begriff der Willensfreiheit geht. Ausgehend von der zwiefachen Natur des menschlichen Wesens wird die praktische Vernunft überwiegend in ihrer Wirkungsart als Trieb verankert, der sich in ständiger Konkurrenz zum Naturtrieb befindet. Durch diese verstärkte Parallelisierung, Vergegenständli­ chung und normativ abgeschwächte Interpretation erhält die praktische Ver­ 116

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Leibniz, Monadologie, § 32, S. 27: „Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, dass keine Tatsache [fait] als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage [Enoncia­ tion] als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“ Vgl. KpV, AA V, S. 96 f.; siehe dazu die Analyse in Teil 2.1.1.

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nunft einen objektiven Charakter. Wenn die normative Färbung und Deutung des kategorischen Imperativs nachlassen, verschärft sich der Charakterzug der Triebhaftigkeit und sogar Zwanghaftigkeit der praktischen Vernunft. Die Paral­ lelisierung mit dem Begehren wird radikalisiert, und die praktische Vernunft entfernt sich von der Freiheit. Die Bestimmung der praktischen Vernunft wird schließlich mit „Sklaverey“ identifiziert: Um den Willen von der Sklaverey des Instinktes und der theoretischen Vernunft zu retten, machen sie ihn zum Sklaven der praktischen, oder vielmehr sie vernichteten denselben ganz, um an seiner Stelle bey dem sogenannten reinen Wollen lediglich die praktische Vernunft handeln zu lassen.118

Mit der Bezeichnung der „Sklaverey“ wird nachdrücklich akzentuiert, dass sich das Subjekt leidend verhält, sobald man den Willen ausschließlich an der prak­ tischen Vernunft festbindet. Somit kommt die Bestimmtheit der praktischen Vernunft zur Sprache. Ein weiterer Faden, den Reinhold von Kant aufnimmt, ist das „Factum der Vernunft“ bzw. die Tatsache des Bewusstseins. Als „Factum der Vernunft“ fungiert das Bewusstsein des moralischen Gesetzes bzw. das moralische Gesetz überhaupt als die ratio cognoscendi der Freiheit. Das moralische Gesetz lässt sich dadurch mit der Ästhetik oder Quasi-Erscheinung der Freiheit verbinden. Aber dieses Moment vermittelt Kant nur zum Beweis der Wirklichkeit der Freiheit, ansonsten setzt er das „Factum der Vernunft“ keineswegs mit dem Gegebensein in der Natur auf eine Ebene. Bei Reinhold sieht man allerdings eine naturalisierte Deutung dieses „Factums“. Bevor man sich den Details der Interpretation zuwendet, sind die generellen terminologischen Unterschiede zwischen den beiden Autoren zu klären: Reinhold verwendet oft den Terminus „Tatsache des Bewusstseins“ anstatt „Factum der Vernunft“, und er identifiziert, nicht in völlig gleicher Weise wie Kant, das moralische Bewusstsein mit dem moralischen Gefühl. Die Tatsache des Bewusstseins hat bei Reinhold auch die Aufgabe, die Wirklichkeit der Freiheit zu beweisen. Aber diese Tatsache ist das Bewusstsein der Freiheit, nicht das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, obwohl das letztere bei diesem Beweis unterstützt.119 Da das Bewusstsein des moralischen Gesetzes bei Reinhold von der syste­ matischen Rolle der ratio cognoscendi der Freiheit einigermaßen abgekoppelt ist, verbleibt beim moralischen Bewusstsein hauptsächlich die Verweisung auf das Moralgesetz und deren Manifestation. Reinhold erweitert die Instanz der unmittelbaren Gegebenheit des Faktums zur Bestimmtheit und Gebundenheit der Tatsache des moralischen Bewusstseins. Er treibt die Naturalisierung der praktischen Vernunft auf den Höhepunkt, indem er die praktische Vernunft 118 119

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Briefe II, S. 295 f.; RGS 2/2, S. 200. Zu Reinholds Interpretation der Rolle des Bewusstseins des moralischen Gesetzes siehe: Briefe II, S. 276; RGS 2/2, S. 190.

weitgehend als bestimmt und gebunden charakterisiert und ihr Gesetz gar als „Naturgesetz“ bezeichnet. So wie auf der andern Seite durch das Bewußtseyn einer Vorschrift, die durch sich selbst Gesetz ist, und die keinen andern Zweck hat, als die Vorschrift selbst, die eigent­ liche praktische Natur, der Charakter der reinen Selbstthätigkeit der Person durch bloße Vernunft angekündigt wird. Hieraus läßt sich nun die Handlungsweise bestim­ men, an welche die praktische Vernunft gebunden ist, und welche das Naturgesetz der Selbstthätigkeit der Person ausmacht. [Hervorh. S. W.]120

Das Zitat macht den Perspektivenwechsel in der Betrachtung des praktischen Gesetzes deutlich: Von einem Gesetz aus Autonomie wird es zu einem Ge­ setz von Gebundenheit und Unwillkürlichkeit. Diese Gebundenheit oder Be­ stimmtheit des Vernunftgesetzes folgt dabei nicht aus der Abhängigkeit von der Sinnlichkeit, welche durch die Theorie des Vorstellungsmögens erklärt wer­ den kann, sondern aus der Art und Weise, wie sie dem gemeinen Verstand er­ scheint. Diese Betrachtungsweise Reinholds entfernt sich weit vom kantischen Freiheitsverständnis. Zu diesem neuen Standpunkt hat Reinhold allerdings keine systematische Begründung entfaltet, sondern durch die Unterscheidung zwischen principium diiudicationis und principium executionis diesen Sachverhalt unsystematisch und äußerlich erklärt. Der Perspektivenwechsel schlägt sich im Wechsel der Freiheitsprinzipien nie­ der. Die kantische „Autonomie“, die durch Unbedingtheit und Unabhängigkeit von vorhergehenden Bedingungen gekennzeichnet ist, dient Reinhold nur zur Erklärung der Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft bei der Aufstellung des Gesetzes. Sobald es um die Ausführung des Gesetzes geht, wendet er sich dem Prinzip zu, dass die Freiheit alternative Wahlmöglichkeiten voraussetzt. Dabei wird nur die Singularität oder Pluralität der Triebe bzw. Gesetze geprüft, der jeweilige Triebinhalt spielt hingegen keine Rolle. Insofern kann man behaup­ ten, dass Reinhold die zwei Triebe „egalisiert“121 und die Freiheit „demateriali­ siert“.122 Dieses Prinzip wird nicht systematisch begründet, sondern einerseits in Bezug auf die Tatsache des Bewusstseins als selbstevident angenommen, anderseits anwendungsnah und quasi im Stil einer Reductio ad absurdum plausi­ bilisiert, letzteres durch die Kritik an der kantischen Position in Bezug auf die Zurechenbarkeitsproblematik. 3.2.4. Die Kritik an Kant Reinholds Kernargumentation, die die größte Aufmerksamkeit im philosophi­ schen Umfeld erregt, geht weder von begrifflichen Analysen noch von Tatsa­ 120 121 122

Briefe II, S. 288f.; RGS 2/2, S. 196. Zöller (2005), S. 80. Zöller (2005), S. 79 f.

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chen des Bewusstseins aus. Sie verfährt anwendungsnah und wird im Stil einer Reductio ad absurdum geführt. Seine Kritik der Widersprüchlichkeit, in die Kants Identifikation der Willensfreiheit mit der Vernunft bei der Erklärung der Zurechenbarkeit der unmoralischen Handlung gerate, nimmt einen wichtigen Platz in der Moralphilosophie ein. In Briefe II richtet Reinhold seine Kritik nicht ausdrücklich an Kant, son­ dern an Schmid. Was Schmid angeht, werden seine Aussagen bezüglich der Kausalität des Dings an sich aus dem Versuch einer Moralphilosophie123 von Reinhold unmittelbar bestritten. Während Reinholds Kritik an vielen Stellen die eigentümlichen Schmid‘schen Thesen betrifft, die Kant nicht ganz treu bleiben, richtet sich der Kern seiner Kritik doch gegen die allgemeine Identifi­ kation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft, die zwar von Schmid verdeutlicht und radikalisiert wird, aber ursprünglich von Kant vertreten wurde und auch von anderen kantischen Schülern übernommen worden ist.124 Im Wesentlichen zielt Reinholds Kritik auf die kantische Auffassung der Willens­ freiheit, nicht bloß auf den Schmid‘schen intelligiblen Fatalismus ab. Um dies herauszustellen, gilt es, Schmids Beitrag zur Debatte genau zu bestimmen. Der intelligible Fatalismus, den Schmid vertritt, entspricht der Meinung, dass sowohl die sittlichen als auch die unsittlichen Handlungen dem Satz des zureichenden Grundes unterliegen und somit nicht dem Zufall unterworfen sind. Die intelligiblen bestimmenden Gründe der Handlungen seien zwar für den Menschenverstand unerkennbar, aber sie müssten stets vorhanden sein. Daher stellt Schmid einen Determinismus und Fatalismus fest: Wenn wir keinen (vernunftlosen) Zufall einräumen wollen, so bleibt nichts übrig als Nothwendigkeit; denn es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen beyden. Es muß demnach etwas als vorhanden gedacht werden, was zugleich mit dem Dasein der Vernunft ihre Wirksamkeit auf Erscheinungen und den bestimmenden jedesmaligen Grad derselben bestimmt. Dies ist freylich keine Erscheinung, denn eine Erscheinung kann kein Ding an sich selbst bestimmen.125 Der intelligible Naturfatalismus, d. i. Behauptung der Naturnotwendigkeit aller Hand­ lungen eines vernünftigen Wesens nach Gesetzen der Causalität der Dinge an sich selbst […].126

Schmids Überlegung ist eine doppelte: Einerseits will er dem Phänomen der fallweisen Erfüllung der moralischen Pflicht, welche die Allgemeingültigkeit des moralischen Gesetzes nicht erklären kann, gerecht werden; andererseits

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Briefe II, S. 266; RGS 2/2, S. 185. Bondeli (2008b) identifiziert außer C. C. E. Schmid noch C. J. Kraus, J. H. Abicht, J. G. C. C. Kiesewetter, C. W. Snell, L. H. Jakob, K. H. Heydenreich, S. Maimon und J. L. Ewald als diejenigen Philosophen, deren damalige Stellungnahmen zur Willensfreiheit ausdrücklich kantisch sind. Vgl. Bondeli (2008b); RGS 2/2, S. 367. Schmid (1790), § 255, S. 209. Schmid (1790), § 257, S. 211.

will er diese gelegentliche Erfüllung des Gesetzes vom blinden Zufall abgren­ zen. Bezüglich des ersten Aspekts seiner Überlegung bestreitet er den uneinge­ schränkten Einfluss der transzendenten Freiheit auf das endliche Vernunftwe­ sen. Denn die Verwirklichung des Moralgesetzes kommt in der Tat nur von Fall zu Fall zustande und ist dementsprechend eingeschränkt.127 Bezüglich des zweiten Aspekts seiner Überlegung führt er die Handlung auf einen bestim­ menden intelligiblen Grund zurück. Dadurch wird, Schmid zufolge, die Frei­ heit nicht zwangsläufig ausgeschlossen, da das Intelligible jenseits des materiel­ len Mechanismus bestehe, und insofern besteht er auf der Kompatibilität der Freiheit mit dem Determinismus. Es ist zu beachten, dass Schmid die Freiheit nicht nur dem materiellen Mechanismus, sondern auch der Einschränkung des intelligiblen Grundes gegenüberstellt. Er spricht nicht jeder Handlung, die aus einem intelligiblen Grund entspringt, Freiheit zu, sondern nur der moralischen Handlung, die das Moralgesetz de facto realisiert. Die nichtmoralischen und un­ moralischen Handlungen, bei denen das Vernunftgesetz an der Verwirklichung gehindert wird, werden hingegen als Einschränkungen der Freiheit eingeord­ net: Die Vernunft ist also frey in Absicht auf alles, was in der Zeit geschieht; aber einge­ schränkt durch dasjenige, was die Begebenheiten in der Zeit bestimmt. Sie ist frey und hat keinen Einfluß empfangen in Absicht auf alles, was sie wirklich thut, so wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber abhängig und eingeschränkt in Absicht auf das, was sie nicht thut.128

Schmid wendet sich direkt gegen die Einordnung der unsittlichen Handlung als Ausdruck moralischer Freiheit. Er betrachtet die Freiheit als ein positives Vermögen in Bezug auf das Moralgesetz, genauer formuliert, in Bezug auf die Verwirklichung des Moralgesetzes. Die unsittliche Handlung sei deswegen der Freiheit kontradiktorisch entgegengesetzt.129 Schmids Bezugnahme auf die Verwirklichung des Moralgesetzes unterscheidet seine Definition der Freiheit von der Definition Kants. Denn Kants Auffassung der Freiheit betrifft nicht die Ebene der Verwirklichung oder Nicht-Verwirklichung des Moralgesetzes, sondern nur das formelle Moralprinzip und dessen Allgemeingültigkeit. Selbst sein Realitätsbeweis der Freiheit bezieht sich nur auf die Bestimmbarkeit der 127

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Schmid (1790), § 256, S. 210: „Es ist also nicht nur kein vernünftiger Grund vorhanden, sondern es läuft sogar wider alle Gesetze unsers vernünftigen Denken, transscendente Freyheit, d. i. Unabhängigkeit des intelligiblen Wirkens von intelligiblen Gründen, ein uneingeschränktes Vermögen der Vernunft, auf alle wahrnehmbare Handlungen eines endlichen vernünftigen Wesens einen bestimmenden Einfluß zu haben und sie dadurch moralisch zu machen – anzunehmen.“ Schmid (1790), § 255, S. 209 f. Schmid (1792), § 249, S. 335: „Einige rechnen zu der moralischen Freyheit auch das Vermögen unsittlich zu handeln. Dieß widerspricht aber dem Begriffe von einem sitt­ lichen Vermögen, und eine solche Freyheit wäre ein Vermögen zu contradiktorisch entgegengesetzten Handlungen, welches auf einen Widerspruch hinausläuft.“

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subjektiven Triebfeder des Willens durch das Gesetz, nicht die Realisierung des Gesetzes de facto durch die Handlung. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch zwischen den Auffassungen von beiden Denkern, nämlich dass sie beide das Konzept der Freiheit auf die moralische Gesetzmäßigkeit einschränken und dadurch die Unsittlichkeit von der Freiheit ausschließen. In Briefe II lässt sich der Gegenstand der Kritik Reinholds zwar an einzel­ nen Stellen mit Schmids Position identifizieren, das Wesentliche der Kritik gilt allerdings der allgemeinen Identifikation der Willensfreiheit mit der prak­ tischen Vernunft. Was insbesondere Schmids intelligiblen Fatalismus betrifft, so lautet Reinholds Einwand gegen ihn, dass Schmid der Notwendigkeit der Erscheinung die Freiheit abspreche, während er der Notwendigkeit der Dinge an sich die Freiheit zuspreche: „[…] so kann in diesem Systeme durch Vernunft bestimmt werden nichts anders heißen, als durch den von der Person ganz unabhängigen Zusammenhang der Dinge an sich bestimmt werden; folglich – durch Vernunft von der unvermeidlichen Naturnothwen­ digkeit abhängen.“130

Schmids Betonung des intelligiblen Vernunftgrunds, von dem die Freiheit ab­ hängen soll, sowie seine gleichsam dogmatische Auffassung des Determinismus bilden fraglos den wichtigsten Kontext für die Kritik Reinholds. Aber wie Bondeli (2008b) richtig bemerkt, ist diese Anmerkung auf kanti­ scher Basis nicht in jeder Hinsicht abwegig, da Kant in der KrV die Freiheit an das Ding an sich anschließt und die Möglichkeit der Freiheit durch die causa noumenon konzipiert.131 Diese Bezugnahme auf das Ding an sich liegt nicht nur der Möglichkeit der Freiheit, sondern auch dem Wesen der Freiheit zugrunde.132 Allein das Ding an sich lässt sich im praktischen Bereich bei Kant nicht dogmatisch begreifen, und der übersinnliche Vernunftgrund der Freiheit lässt sich nicht eindeutig als vom Subjekt unabhängig verstehen. Denn Kant verbindet die praktische Vernunft mit der Selbstgesetzgebung und somit mit dem Subjekt, auch wenn das Subjekt der Selbstgesetzgebung bei Kant über­ individuell und transzendental gedacht werden muss, was einen deutlichen Gegensatz zu Reinholds Begriff „Person“ bedeutet. Schmid schwächt hingegen diese Verbindung von Gesetz und Subjekt durch die Betonung des Fatalismus ab. Ein weiterer Gegenstand der Kritik, die Reinhold offensichtlich an Schmid übt, lautet, dass der Grund der unsittlichen Handlungen in äußeren Hindernis­ sen oder Schranken der Freiheit aufgesucht werde.133 Insofern sich die Freiheit und der Wille vom intelligiblen Grund der Hindernisse einschränken lassen, ist 130 131 132 133

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Briefe II, S. 266; RGS 2/2, S. 185. Bondeli (2008b), RGS 2/2, S. 375f. Diesen Schluss habe ich ausführlich hergeleitet in Teil 2.1.2 der Arbeit. Briefe II, S. 296; RGS 2/2, S. 200.

die Freiheit, Reinholds Ansicht nach, von der Abwesenheit dieser Hindernisse und somit letztlich von den Hindernissen überhaupt abhängig. Die Zurückfüh­ rung der unsittlichen Handlung auf einen Grund, der außerhalb des Willens besteht, hebe mithin die Freiheit auf. Die Verwendung des Terminus „Schran­ ken der Freiheit“ weist darauf hin, dass sich diese Kritik primär gegen Schmid richtet, da sich genau dieser Terminus bei Schmid findet, nicht dagegen bei Kant. Darüber hinaus hängt dieser Terminus mit Schmids Zurückweisung des kantischen Konzepts der transzendentalen Freiheit zusammen. Reinholds Kritik kann allerdings als ein Bezugspunkt verwendet werden, um den Unterschied zwischen Schmids und Kants Einschränkung der Freiheit auf die dem Moralgesetz konforme Handlung näher zu betrachten. Dadurch wird sich klären, inwiefern Reinholds Kritikpunkt auch Kant betrifft. Kants Freiheitsverständnis beruht auch auf einer Konkurrenzkonstellation: Ein rei­ ner vernünftiger Teil, welcher der Selbstbestimmung des Vernunftwesens zuge­ schrieben wird, konkurriert mit einem empirischen, sinnlichen Teil, welcher der sinnlichen Natur des Menschen und schließlich der Natur überhaupt zugerechnet wird. Kant betrachtet die unsittliche Handlung ebenfalls als die fremde Bestimmung der Natur, die den freien Willen möglicherweise vereitelt. In dieser Hinsicht entfernt sich Schmid nicht von Kant, wenn er die Unsitt­ lichkeit „Schranken der Freiheit“ nennt. Der Unterschied zwischen Kant und Schmid besteht jedoch darin, dass Schmid die sittliche Bestimmung durch die unsittliche Bestimmung bedingungsgemäß einschränken lässt und auf einen unbekannten objektiven Grund zurückführt. Dadurch substanzialisiert er die sittliche Bestimmung. Indem die Freiheit mit der Verwirklichung des Gesetzes enggeführt wird, wird sie in Zeit und Raum verankert. Während sich bei Kant der Sieg der praktischen Vernunft über die Sinnlichkeit als unbedingte Unabhängigkeit interpretieren lässt – wie vor allem die Idee des kategorischen Imperativs zeigt –, macht Schmid die Freiheit zu etwas Bedingtem, weil er sie mit der nur zufällig gelungenen Verwirklichung des moralischen Gesetzes identifiziert. Kant kann dieser Kritik entgehen, insofern sich sein Freiheitsbe­ griff letztendlich als eine formale Idee versteht und scharf von der konkreten Verwirklichung des Moralgesetzes getrennt wird – auch wenn Kant auf die Praktizität der Vernunft Rücksicht nimmt und die praktische Freiheit von der transzendentalen Freiheit unterscheidet. Es bleibt zu untersuchen, ob die Kritik daran, die unsittliche Handlung auf einen außer dem Willen bestehenden Grund zurückzuführen, auch auf Kants Lehre zutrifft. Kant betrachtet die Bestimmung der unsittlichen Hand­ lung durch die Sinnlichkeit als Heteronomie des Willens und die Bestimmung durch die praktische Vernunft als Autonomie des Willens. Man kann davon ausgehen, dass der Grund der unsittlichen Handlung bei Kant auch außerhalb des Willens besteht, aber man kann diese These nicht eindeutig bei Kant wie­ derfinden. Immerhin schließt er fremdbestimmten Willen in seinen Willensbe­

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griff ein; er nennt einen solchen Willen „empirischen Willen“. Zudem benutzt er den Begriff „Willkür“, der sowohl Fremdbestimmung als auch Selbstbestim­ mung implizieren kann. Aus diesem Grund verfinge diese Kritik nicht ausrei­ chend, wollte man sie gegen Kant richten. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass sich Reinholds Einwand gegen Schmid um den Punkt dreht, dass der Bestimmungsgrund der unfreien wie der freien Handlung außerhalb des wollenden Subjekts gesucht wird. Rein­ holds Kritik betrifft somit die eigentümliche Theorie von Schmid; sie wird unscharf, sobald sie sich gegen Kant richtet, obwohl sie doch in gewisser Weise auch auf Kant anwendbar ist. Die folgende bekannte Kritik, die Reinhold an der Identifikation der Freiheit mit der praktischen Vernunft übt, folgt zwar demselben Leitfaden, hat aber einen anderen Ansatz: Aus der Verwechselung der zwar selbstthätigen, aber nichts weniger als freyen Hand­ lung der praktischen Vernunft, – die nichts als das Gesetz giebt, – mit der Handlung des Willens, – der nur dadurch als der Reine handelt, daß er dieses Gesetz frey ergreift – muß nichts geringeres als die Unmöglichkeit der Freiheit für alle unsittlichen Hand­ lungen erfolgen. Sobald einmal angenommen ist, daß die Freyheit des reinen Wollens lediglich in der Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft besteht, so muß man auch zugeben, daß das unreine Wollen, welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frey sey.134

Zuerst lässt sich bemerken, dass diese Kritik kein konkretes Ableitungsverfah­ ren der Identifikation, sondern nur die logische Lücke in der allgemeinen Iden­ tifikation der praktischen Vernunft mit der Willensfreiheit betrifft. Sie trifft daher nicht bloß Schmid, sondern auch Kant, der diese Identifikation ebenfalls vornimmt. Anders als die oben besprochenen Argumentationen, die sich mehr oder weniger auf die theoretische Spekulation beziehen – auf Kausalität, intelligi­ blen Grund und Ding an sich –, weicht diese Kritik den theoretischen Kom­ plikationen aus. Sie geht ausschließlich von der Zurechenbarkeitsproblematik im praktischen Bereich aus. Anstatt den Freiheitsbegriff mittels des transzen­ dentalphilosophischen Ansatzes und der moralmetaphysischen Systematik zu analysieren, wie es Kant unternimmt, schlägt Reinhold einen gänzlich anderen Weg ein. Er führt seine Argumentation in Gestalt einer Reductio ad absurdum: Angenommen, ausschließlich die dem Moralgesetz konforme Handlung sei frei, so folgt, dass die gesetzwidrige Handlung unfrei sein muss. Daraus aber könne man nur schließen, dass die gesetzwidrige Handlung nicht aus freiem Willen ausgeführt werde. Das Böse, als absichtsvolle Tat, wäre dann unmöglich, denn dem Menschen würde die moralische Zurechenbarkeit für die böse Hand­ lung geraubt. Diese fehlende Anknüpfung der Freiheit an das Böse bringt das Freiheitskonzept in eine Verlegenheit, die seinen ganzen Sinn infrage stellt.

134

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Briefe II, S. 267 f.; RGS 2/2, S. 185 f.

Denn das Konzept der Freiheit wird Kant zufolge vor allem für die Imputabili­ tätsfrage eingeführt.135 Diese Kritik Reinholds ist sehr pointiert. Sie enthüllt ein Kernproblem von Kants Freiheitslehre, das durch die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft entsteht, nämlich die Unmöglichkeit des Bösen. Reinhold verknüpft die Freiheit mit dem Bösen und weist im Gegenzug die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft zurück. „Die praktische Vernunft ist nicht der Wille, und der Wille ist nicht die praktische Vernunft, selbst der reine Wille nicht.“136 Diese Widerlegung von Kants Posi­ tion in dessen früheren ethischen Schriften wird von Reinhold durch den Widerspruchsbeweis bezüglich der moralischen Zurechenbarkeit sehr kraftvoll und eindrücklich begründet. Kant revidiert seine Freiheitstheorie im April 1792,137 also noch bevor Rein­ holds Briefe II erscheinen, und fokussiert ebenfalls auf das Problem des Bösen. Nun identifiziert er die Willensfreiheit nicht mehr mit der praktischen Ver­ nunft. Reinholds Kritik richtet sich daher offensichtlich nicht gegen diese mo­ difizierte Freiheitstheorie von Kant. In dieser genannten Studie von 1792, die später als einen Teil der Religionsschrift ein zweites Mal veröffentlicht wurde, wird der Übergang zwischen den beiden Positionen von Kant selbst nicht ver­ mittelt, er übt auch keinerlei Selbstkritik an seiner früheren Position. Darüber hinaus hält Kant auch an seiner Position aus dem Jahr 1792 nicht fest, sondern ändert seine Position nochmals im Jahr 1797, indem er die Willensfreiheit von dem Bösen wieder abkoppelt.138 In dieser Hinsicht gilt Reinholds Kritik nicht nur für Kants frühere Position, sondern auch für Kants Freiheitsverständnis im Ganzen. 3.2.5. Die negative Bedeutung der Freiheit Die bisherige Darstellung von Reinholds Beweis für die Trennung der Willens­ freiheit von der praktischen Vernunft lässt sich folgendermaßen zusammenfas­ sen. Durch die Umdeutung der Autonomie, erstens, entzieht Reinhold dem Begriff der praktischen Vernunft die moralmetaphysische Bedeutung, die Kants Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft zugrunde liegt. Durch die Theoretisierung der praktischen Vernunft, zweitens, wird dieser die Handlungswirksamkeit abgesprochen, die Reinhold jedoch für ein wesentliches Merkmal der Willensfreiheit hält. Durch die Naturalisierung der praktischen Vernunft, drittens, wird das Vernunftgesetz mit dem Naturgesetz parallelisiert.

135 136 137 138

KrV, B476. Briefe II, S. 70; RGS 2/2, S. 55. Kant (1792). Siehe die Ausführungen in Teil 2.2.2.

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Somit werden der Zwang sowie die Gegebenheit der praktischen Vernunft hervorgehoben, welche zur Ungebundenheit der Willensfreiheit im Gegensatz stehen. Schließlich zeigt Reinhold durch seine Kant-Kritik die Widersprüch­ lichkeit, in welche die feste Bindung der Willensfreiheit an die sittliche Bestim­ mung bzw. praktische Vernunft führt. Aus all dem lässt sich einsehen, dass Reinhold seine Beweisführung stets an der Bestimmtheit der praktischen Vernunft orientiert, um deren Unverträg­ lichkeit mit der Unbestimmtheit der Willensfreiheit zu akzentuieren. Der prak­ tischen Vernunft wird ihre besondere transzendentalphilosophische und moral­ metaphysische Bedeutung genommen. Sie wird lediglich hinsichtlich der Art, wie sie dem gemeinen Verstand erscheint, als etwas Statisches, Gegebenes und Vorbestimmtes charakterisiert. Doch eine solche Beschaffenheit der praktischen Vernunft hält Reinhold für inkompatibel mit der Willensfreiheit. Er bestreitet, dass es eine Kausalität der praktischen Vernunft gebe, die der Naturkausalität überlegen und der allein die Freiheit zuzuschreiben sei. Stattdessen trennt er die Willensfreiheit scharf von der praktischen Vernunft. Dadurch begründet er vor allem die negative Bestimmung der Freiheit: […] so besteht sie [die Freiheit, S. W.] weder in der bloßen Unabhängigkeit des Wil­ lens vom Zwange durch den Instinkt, und von der Nöthigung durch unwillkührliches von der Vernunft modificiertes Begehren, noch auch in der bloßen Unabhängigkeit der praktischen Vernunft, von allem was sie nicht selbst ist, noch auch in diesen beyden Arten von Abhängigkeit zusammengenommen allein, sondern auch in der Unabhängigkeit der Person von der Nöthigung durch die praktische Vernunft selbst.139

Das Zitat zeigt, dass Reinhold bei der negativen Bestimmung der Willensfrei­ heit die Unabhängigkeit von der Nötigung durch die praktische Vernunft unterstreicht. Dies markiert das Eigentümliche seines Verständnisses der negati­ ven Freiheit. Reinhold erweitert Kants frühe Beobachtung, dass die Menschen von etwas fremdbestimmt werden, das ihnen selbst, ihrem Inneren angehört. Während Kant nur die Nötigung durch die Natur als Quelle der Fremdbe­ stimmung betrachtet und die negative Freiheit als Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit definiert, hält Reinhold ebenso die Nötigung durch die praktische Vernunft für eine Quelle der Sklaverei und besteht auf der Unabhängigkeit der Freiheit von derselben. Die Freiheit bei Reinhold wird in ihrer negativen Be­ deutung vom statischen Gesetz, von der Gegebenheit sowie von der Nötigung der praktischen Vernunft nachdrücklich abgegrenzt. Das Negative der Freiheit erfordert nicht nur die einseitige Unabhängigkeit von der praktischen Vernunft, sondern auch die Unabhängigkeit von der Sinn­ lichkeit. Reinholds Definition der negativen Freiheit ist mit derjenigen in Kants Religionsschrift vergleichbar: Wie Reinhold betont Kant dort ebenfalls die Wahlmöglichkeit zwischen der Triebfeder der Natur und der Triebfeder der 139

108

Briefe II, S. 272; RGS 2/2, S. 188.

Vernunft. Allerdings bezieht Kant diese Bedeutung der Freiheit ganz gezielt auf die Zurechenbarkeitsproblematik; abseits derselben hat er lediglich minimale Theoriearbeit zur Wahlfreiheit durchgeführt. Reinhold hingegen verbindet die Wahlfreiheit mit einem allgemeinen Grundzug der Freiheit und setzt sich diesbezüglich theoretisch sehr viel intensiver mit ihr auseinander. Im Kern geht es Reinhold bei dieser Unabhängigkeit der Freiheit von der Natur und von der praktischen Vernunft um eine prinzipielle Inkompatibilität zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Er stellt diesen Punkt auf einer höheren Abstraktionsebene explizit dar. Die Nötigung durch sowohl die prak­ tische Vernunft als auch die Natur sind für Reinhold deshalb gleichermaßen bestimmt, weil sie beide jeweils nur eine einzige, bestimmte Handlungsweise implizieren. Somit ergibt sich eine allgemeinere negative Bedeutung der nega­ tiven Freiheit bei Reinhold. Sie besteht nämlich in der Unabhängigkeit von jeder einzelnen, einzig bestimmten Handlungsweise – ganz gleich, was diese Handlungsweise inhaltlich auszeichnet. Denn es geht Reinhold hauptsächlich darum, ob die Handlungsweise vereinzelt oder mehrfach vorkommt. Anhand dieses Kriteriums zieht er die Linie zwischen der Fremdbestimmung und der Selbstbestimmung. Die Freiheit muss vor der Einzigkeit der Wahloption be­ wahrt werden, um einen Freiraum für die Entscheidung zu erlauben. Sobald man sich einer einzigen Handlungsweise unterwirft, ist die Selbstbestimmung ausgeschlossen: Der Wille hört auf frey zu seyn, wenn man denselben einseitig betrachtet, und seine Natur entweder allein in seinem Verhältnisse zum uneigennützigen, oder allein zum eigennützigen Triebe bestehen läßt, wenn man sich denselben entweder dem prakti­ schen Gesetze oder dem Naturgesetze des Begehrens unterworfen denkt.140

Reinholds Ausführungen weisen starke Parallelen zur gegenwärtigen Freiheits­ theorie auf. In ihrem Zentrum steht das Prinzip, dass Freiheit alternative Wahl­ möglichkeiten impliziert. Dieses Prinzip wird von modernen Handlungstheore­ tikern als Prinzip der alternativen Möglichkeiten gekennzeichnet.141 Reinholds Explikationen stehen, vor diesem Hintergrund, der gegenwärtigen Philosophie sehr nahe. Aber ebenso wie in der modernen Debatte wird dieses Prinzip auch bei Reinhold auf keine systematische Basis gegründet, sondern schlicht als selbstevident angenommen.142 Zentral für das Negative der Freiheit ist dabei, die Wahl unbestimmt zu las­ sen und an keine einzige bestimmte Richtung zu binden. Das Gegenteil davon wäre, dass man eine Wahl, die sich für eine bestimmte Option entscheidet, auf einen Grund zurückführt, um diese Entscheidung zu erklären. Genau durch solch einen Erklärungsgrund würde die Wahl jedoch mit einer bestimmten 140 141 142

Briefe II, S. 275; RGS 2/2, S. 189. Vgl. Frankfurt (1969), Widerker (2000). In der neueren Forschung wird die Selbstevidenz dieses Prinzips seit den Überlegungen von Frankfurt (1969) infrage gestellt.

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Richtung fixiert. Das bedeutet, dass eine Wahl unerklärlich bleiben muss, wenn sie in dieser Weise unbestimmt gelassen wird. Damit zusammenhängend deutet sich eine abstraktere Bedeutung der nega­ tiven Freiheit an. Die negative Bestimmung der Freiheit wird nicht nur als die Unabhängigkeit von einer einzelnen Handlungsweise oder einzigen Wahl­ möglichkeit interpretiert, sondern auch in Bezug auf den Bestimmungsgrund etabliert. Um die Unbestimmtheit zu sichern, darf die freie Entscheidung durch keinen vorhergehenden Grund vollständig bestimmt oder erklärt werden. Die negative Bestimmung der Willkürfreiheit wird zu einer radikalen Zurückwei­ sung jeglichen Bestimmungsgrundes ausgeweitet. Das Negative der Freiheit besteht, so Reinhold, in „der Unabhängigkeit von dem Bestimmtwerden durch die objektiven Gründe“.143 Reinhold hält die Freiheit für den obersten Bestim­ mungsgrund, der sich nicht weiter bestimmen lässt; und demzufolge ist die freie Handlung grundlos: Die freye Handlung ist darum nichts weniger als grundlos […]. Sie ist die absolute, die erste Ursache ihrer Handlung, über welche sich nicht weiter hinausgehen läßt, weil sie wirklich von keiner andern abhängt. Fragen: Warum der freye Wille sich auf diese oder jene Art bestimmt habe, heißt fragen: Warum er frey ist? Voraussetzen, er bedürfe eines von ihm selbst verschiedenen Grundes, heißt ihm seine Freyheit absprechen.144

Reinholds Rede von „grundlos“ und „nicht weiter hinausgehen läßt“ erinnert stark an Kants „unerforschlich“ in der Religionsschrift,145 wo Kant die freie Willkür als den obersten subjektiven Bestimmungsgrund der Annahme der Maxime ableitet. Beide Philosophen haben die Willkür von jedem weiteren Bestimmungsgrund abgeschnitten und somit als absolut unbestimmt charak­ terisiert. Dadurch wird die Unbestimmtheit der Willkür zwar gründlich gesi­ chert, aber in der Folge lässt sich die Freiheit nicht mehr begreifen, weil sie sich durch keinen weiteren Grund erklären lässt. Dabei gerät Reinhold in die gleiche Schwierigkeit wie Kant in der Religionsschrift. Hinsichtlich der Radika­ lisierung der Unbestimmtheit der Freiheit bleibt Reinhold keinesfalls hinter Kants Position der Jahre 1792/1793 zurück. Obwohl sich das Freiheitsverständnis als die radikale Unbestimmtheit bei Kant ebenso wie bei Reinhold finden lässt, nimmt sie jeweils eine unterschied­ liche Stellung in der Freiheitskonzeption der beiden ein. Bei Kant bleibt dieses Freiheitsverständnis eine Randerscheinung seiner praktischen Philosophie. Es wird weder in seinen Schriften der 1780er-Jahre vertreten noch in seinen spä­ teren ethischen Schriften beibehalten. Denn Kant vermag dieses Konzept der Wahlfreiheit, das zwischen Natur und Vernunft unbestimmt schwebt, nicht systematisch in die dualistische Struktur seiner Transzendentalphilosophie ein­ 143 144 145

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Briefe II, S. 280; RGS 2/2, S. 192. Briefe II, S. 282; RGS 2/2, S. 193. Religionsschrift, B8.

zuordnen.146 Sein Hauptanliegen bleibt es, die Autonomie-These zu begründen, wobei der Begriff der Willensfreiheit eine zentrale Rolle spielt. Diesbezüglich ist es wichtig, die Freiheit auf das Moralgesetz zu beziehen, um die Verbindlich­ keit und Allgemeingültigkeit des Moralgesetzes zu erklären. Die Freiheit, die losgelöst vom Gesetz gedacht wird und die zwischen der moralischen und un­ moralischen Wahloption unbestimmt schwebt, gerät für Kant in moralischen Indifferentismus.147 Im Vergleich zu Kant löst Reinhold die Freiheitskonzeption aus der dualis­ tischen transzendentalen Struktur. Er trägt Kants Einordnung der Freiheit in diese Struktur kaum Rechnung. Ferner hat er, im Gegensatz zu Kant, nicht die Absicht, den Freiheitsbegriff gemäß der Gründung der Autonomie-These zu entwerfen. Er ist nicht bereit, die Unbestimmtheit oder die Wahlfreiheit als wichtige Implikationen der Freiheitskonzeption preiszugeben für den Auf­ bau der Moralmetaphysik. Außerdem betont Reinhold die Unbestimmtheit der Freiheit nicht nur hinsichtlich der moralischen Zurechenbarkeit, sondern betrachtet sie als ein grundlegendes Merkmal der Freiheit. Zur Inkompatibilität von Freiheit und Bestimmtheit hat er, wie sich im Bisherigen gezeigt hat, viele Theorieansätze entwickelt, obwohl er diese Theorien nicht systematisiert hat. Durch die Betonung der Unbestimmtheit gerät Reinhold in den Indifferen­ tismus, den Kant vermeiden will. Er egalisiert den Status zwischen Sitten- und Naturgesetz,148 wodurch das unbedingt gebietenden Charakter des Sittengeset­ zes als Inbegriff der Freiheit verloren geht. Obwohl Reinhold den Indifferentis­ mus nicht besonders stark berücksichtigt, hält er einen bloß negativen Begriff der Freiheit aus einem anderen Grund für unzulänglich. Er berücksichtigt nämlich die Gefahr des Äquilibrismus. Um diesen zu vermeiden, sucht er die Grundlosigkeit zu überwinden und einen positiven Begriff der Freiheit zu entwickeln. Dieser Punkt wird uns im Folgenden beschäftigen. 3.2.6. Die positive Bestimmung der Freiheit „Im negativen Sinne begreift sie [die Freiheit] diese drey Arten der Unabhängig­ keit149, und im positiven Sinne ist sie das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz “150 – so bringt Reinhold die positive und negative Bedeutung der Freiheit jeweils zum Ausdruck. Die 146 147 148 149

150

Siehe die Analyse in Teil 2.2.2 der Arbeit. MS, AA VI, S. 226. Vgl. Zöller (2005), S. 80. Die drei Arten der Unabhängigkeit umfassen „die Unabhängigkeit des Willens vom Zwange durch den Instinkt und der Nötigung durch unwillkürliches von der Vernunft modifiziertes Begehren“, „die Unabhängigkeit der praktischen Vernunft von allem was sie nicht selbst ist“ und „die Unabhängigkeit der Person von der Nöthigung durch die praktische Vernunft“; vgl. Briefe II, S. 272; RGS 2/2, S. 188. Briefe II, S. 272; RGS 2/2, S. 188.

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positive Bedeutung der Freiheit, die mit der negativen Bedeutung einhergeht, scheint nicht sonderlich beachtenswert zu sein. Reinhold macht jedoch auf den Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen und gleichfalls auf die Unentbehrlichkeit der positiven Freiheit aufmerksam. Das spiegelt die Tiefe seiner Überlegungen und seine theoretische Behutsamkeit wider. Die positive Freiheit ist ein wichtiger Aspekt von Reinholds Freiheitstheorie, der allerdings bislang noch wenig erforscht ist. Es gilt, auf ihre Bedeutung einzugehen und ihr Verhältnis zur negativen Bestimmung der Freiheit zu erörtern. Reinhold entwickelt den positiven Begriff der Freiheit im Rahmen seiner kritischen Reflexion der Theorie des Äquilibrismus. Diese wird durch das Gleichnis von Buridans Esel veranschaulicht, der zwischen zwei gleich verlo­ ckenden Heubündeln schließlich verhungert. Das Absurde der Situation von Buridans Esel enthüllt die Unzulänglichkeit einer lediglich negativen Freiheits­ auffassung. Die Verfügbarkeit verschiedener Wahlmöglichkeiten, die die Unab­ hängigkeit von den einzelnen Optionen garantiert – wie es bei Buridans Esel der Fall ist –, entspricht der negativen Bedeutung der Freiheit. Doch ohne die aktive Entschluss- und Handlungsfähigkeit ist die negative Wahlmöglichkeit nach Reinhold sinnlos und unrealisierbar, wie es Buridans Esel anschaulich dar­ stellt. Des Weiteren begehen die Äquilibristen, weil sie das Positive der Freiheit nicht richtig einberechnen, laut Reinhold den gleichen Fehler wie die Determi­ nisten, nämlich den bestimmenden Grund aller Handlungen außerhalb der Person aufzusuchen, vor allem in den Nötigungen des Triebs. Bei Determinis­ ten wird der Wille von einem der Triebe, sei es der eigennützige oder der unei­ gennützige, determiniert; bei Äquilibristen wird der Wille vom Gleichgewicht der beiden Triebe bestimmt. In diesem Kontext spielen die Singularität und Pluralität der Triebanforderungen keine Rolle mehr – und in genau diesem Kontext führt Reinhold die positive Freiheit ein, um die Unzulänglichkeit der negativen Freiheit zu überwinden: Allein beym Willen ist außer der Unabhängigkeit von dem Bestimmtwerden durch die objektiven Gründe, worin bloß das Negative der Freyheit besteht, auch noch das Vermögen der Selbstbestimmung, das Vermögen, einen von den veranlassenden Grün­ den zum bestimmenden zu erheben, das Positive der Freyheit vorhanden, wodurch dieselbe zur Freyheit des Willens wird, und wodurch sich die Persönlichkeit, der unter­ scheidende Charakter des menschlichen Willens von dem bloß thierischen Begehren, ankündigt.151

Reinhold versteht also das Positive der Freiheit als „das Vermögen der Selbstbe­ stimmung“ bzw. „das Vermögen, einen von den veranlassenden Gründen zum bestimmenden zu erheben“. Dieses positive Moment entfaltet er weiter durch den Begriff der „Persönlichkeit“: er erblickt in ihr das Unterscheidungsmerk­ mal zwischen menschlichem Willen und tierischem Begehren, die „Persönlich­ 151

112

Briefe II, S. 280; RGS 2/2, S. 192.

keit“ verfügt über eine „Selbstthätigkeit“, wodurch sich der menschliche Wille vom tierischen Begehren abhebe. Reinhold schließt dieses Attribut, das dem Menschen so wesentlich ist und ihn auszeichnet, nicht unmittelbar mit der Vernunft zusammen, wie es in einer langen Tradition von Plato bis Kant gang und gäbe ist. Stattdessen differenziert er die „Selbstthätigkeit der Person“ von der „Selbstthätigkeit der Vernunft“. Diese Unterscheidung ist rein formal: Die Vernunft kennt nur eine bestimmte Handlungsweise, während die Person zwei mögliche Handlungsweisen hat. Nicht die höhere oder übersinnliche Handlungsweise, sondern die Flexibilität in der Handlungsweise, die Wahlmöglichkeit, gehört zum Wesen der „Persön­ lichkeit“. Insofern geht die Bedeutung von „Selbstthätigkeit der Person“ noch nicht über die Pluralität der Wahloptionen hinaus. Aber Reinhold bezieht die Person noch weiter auf „das eigentliche Bewußt­ seyn seines bloßen Selbstes, als handelnden Wesens“.152 Das beinhaltet zwei Ele­ mente: zum einen den Bezug auf die Handlung, die im Gegensatz zur bloß statischen Gesetzgebung steht; zum andern den Bezug aufs Subjekt oder Selbst, dessen Bewusstsein in der Handlung aktiv ist. Sie unterscheidet sich von der Autonomie der Vernunft. Das erste Element erwähnt Reinhold zwar sowohl im Versuch als auch in Briefe II, aber er setzt sich mit ihm nicht weiter auseinander; das heißt, dass er die dynamische Eigenschaft, die Praktizität des Willens, die ihn von der Vernunft unterscheidet, nicht auf systematischem Niveau erörtert und entfaltet. In Fichtes Philosophie wird dieses Moment beispielweise durch die Unterscheidung der Tathandlung von der Tatsache des Bewusstseins thema­ tisiert.153 Reinholds Vorgehen, den Willen sowohl mit der Vorschrift als auch mit der Tatsache des Bewusstseins, ja sogar mit der Vernunft zu verbinden, ver­ dunkelt den Unterschied zwischen Willen und praktischer Vernunft bezüglich Praktizität und Theoretizität. Ausgehend von der Subjekt- und Selbstbezogenheit wird die Auseinander­ setzung noch bedeutend vertieft. Dabei scheint Reinhold das kantische Verfah­ ren zu übernehmen, sich bei der positiven Bestimmung der Freiheit auf die Kausalität zu beziehen. Er geht vom formellen Anspruch des Gesetzes des zureichenden Grundes aus, „daß nichts ohne Grund gedacht“154 werden kann. Diese Kausalität lässt sich, so wie Reinhold sie einführt, jedoch nicht im stren­ gen kantischen Sinn begreifen: Sie betrifft nicht nur die kausale Beziehung zwischen zwei verschiedenen Gliedern, sondern auch die kausale Beziehung zu sich selbst; zudem bleibt diese Kausalität bei Reinhold unterbestimmt und va­ ge, sie wird nicht so stark positiv wie die Gesetzmäßigkeit bzw. Notwendigkeit in Kants Transzendentalphilosophie bestimmt.

152 153 154

Briefe II, S. 277; RGS 2/2, S. 190. Siehe die Einleitung in Teil 4.1. Briefe II, S. 283; RGS 2/2, S. 193.

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An diesem Punkt wird die Spannung zwischen der positiven und negativen Freiheit offenbar. Denn in der negativen Bestimmung spricht Reinhold der Freiheit jeglichen Bestimmungsgrund ab – nunmehr sucht Reinhold jedoch die positive Freiheit wiederum durch eine Art der Kausalität positiv zu charakteri­ sieren. Diese Konstellation erinnert an die dritte Antinomie bei Kant. Denn Kant versucht dabei die Freiheit einerseits von der Naturkausalität zu lösen, an­ dererseits die Freiheit durch eine Art der Kausalität positiv zu charakterisieren. Reinholds Vorgehen, um diese Spannung aufzulösen, unterscheidet sich deutlich von demjenigen Kants. Er wendet sich nicht dem Dualismus von Erscheinung und Ding an sich, von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit zu; statt­ dessen bedient er sich des Moments der Subjekt- und Selbstbezogenheit. Aus diesem leitet er die spezifische Art der Kausalität, nämlich die Selbstverursa­ chung ab. Die Lösung besteht Reinholds Ansicht nach darin, die Ursache nicht in das Ding an sich, sondern in sich selbst zu legen. Schließlich wandelt sich das Moment der Subjekt- und Selbstbezogenheit in ein abstraktes Identitäts­ prinzip, das da lautet, die Freiheit selbst als den einzigen Bestimmungsgrund der Freiheit anzunehmen. Er argumentiert dafür, dass diese Art der Kausalität der Überprüfung durch das Gesetz des ausreichenden Grundes gut standhält. Das logische Gesetz fordert keineswegs für alles was da ist eine von diesem Daseyn ver­ schiedene Ursache, sonst würde das Daseyn Gottes, ja selbst jedes Daseyn von Ewigkeit durch jenes Gesetz unmöglich seyn, sondern es fordert, daß nichts ohne Grund gedacht werde.155

Hier wird deutlich, dass diese Änderung der theoretischen Grundlage des Frei­ heitsprinzips der Grund dafür ist, die Auffassung, die Bestimmung des Willens durch die praktische Vernunft als Willensfreiheit zu betrachten, zurückzuwei­ sen. Denn insofern der endliche menschliche Wille mit der praktischen Ver­ nunft nicht identisch ist, erfüllt die Bestimmung des Willens durch die prakti­ sche Vernunft diese prinzipielle Bedingung der Selbstverursachung nicht. Aber dasjenige, was nun anstelle der praktischen Vernunft das Positive der Freiheit ausmacht, bleibt immer noch recht inhaltsleer und vage. Das abstrakte formelle Prinzip wird nicht durch weitere systematische Grundlegung unterstützt oder ausgelegt. Reinholds Theorie der positiven Freiheit wird daher von einigen For­ schern als schwach beurteilt. So äußert beispielweise Zöller (2005) die Kritik: Gegenüber dem legendären Szenario Buridans vom Esel, der zwischen zwei in glei­ chem Abstand vor ihm plazierten Heubündeln verhungern muß, weil er keine über­ wiegenden Beweggründe für die Wahl eines der beiden Bündel hat, insistiert Reinhold auf der spontanen Entschlußfähigkeit des menschlichen Willens. Doch ändert dies nichts an der tieferen Grundlosigkeit des willkürlichen Freiheitsgebrauchs bei Rein­ hold, die dessen Position, wo nicht als Indeterminismus und Indifferentismus, so doch als Dezisionismus erscheinen läßt.156 155 156

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Briefe II, S. 283; RGS 2/2, S. 193. Zöller (2005), S. 81.

Obwohl Reinhold die Begrifflichkeit der positiven Freiheit nicht systematisch weiter entfaltet und sie folglich in dieser Hinsicht unterbestimmt lässt, bemüht er sich in einer anderen Hinsicht, der Leerheit und Unbegreiflichkeit der po­ sitiven Freiheit entgegenzuarbeiten. Er konkretisiert die positive Freiheit als ein Vermögen, das durch eine Tatsache des Bewusstseins angekündigt wird. Reinhold zufolge ist der Beweis der Wirklichkeit der Freiheit auf die Tatsache des Bewusstseins angewiesen, und die Möglichkeit der Freiheit könne aus ihrer Wirklichkeit erschlossen werden. Die Vernunft hat aber einen sehr reellen Grund, die Freyheit als eine absolute Ursache zu denken; nämlich das Selbstbewußtseyn, durch welches sich die Handlung dieses Vermögen als eine Thatsache ankündigt und den gemeinen und gesunden Verstand be­ rechtigt, von ihrer Wirklichkeit auf ihre Möglichkeit zu schließen.157

Reinholds Ansatz weist erneut eine starke Ähnlichkeit mit dem kantischen auf. Dort, wo die Spekulation nicht weiterkommt, kommt die gegebene Tatsache des Bewusstseins im praktischen Bereich zu Hilfe – dies entspricht dem Primat des Praktischen. Aus diesem Blickwinkel scheint die spekulative Unklarheit der positiven Freiheit bei Reinhold verzeihlich und die Hinwendung zur Tatsache des Bewusstseins berechtigt zu sein. Dennoch ruft Reinholds Ansatz häufig die Kritik hervor, dass er in zu starkem Maße auf die Tatsache des Bewusstseins angewiesen sei und dass er deswegen in Moralpsychologie verfalle, während eine solche Kritik Kant gegenüber nicht geäußert wird. Meines Erachtens gibt es mehrere Gründe, weshalb die beiden Ansätze un­ terschiedlich bewertet werden. Erstens werden die Inhalte der Tatsache des Bewusstseins unterschiedlich behandelt. Während Kant den Inhalt der Tatsache des Bewusstseins als einen formalen Satz a priori transzendentalisiert, welcher sich gut ins Gefüge seiner übrigen Moralmetaphysik einpasst, konzentriert sich Reinhold ganz auf den Äußerungscharakter der Tatsache des Bewusstseins, wel­ cher der Psyche nähersteht als der begrifflichen Fundierung. Was an der Tatsa­ che des Bewusstseins über die Moralpsychologie hinausgeht und im eigentlich philosophischen Bereich liegt, wird von Reinhold als etwas Gegebenes und Be­ stimmtes charakterisiert, was die empirische Bedeutung der Freiheit verstärkt. Zweitens ist der Übergang vom gemeinen Verstand zur philosophierenden Vernunft bei Kant sehr klar. Kant hat diese Überleitung in der GMS vollzogen. Reinhold legt zwar Wert auf die begriffliche Rückführung des moralischen Bewusstseins auf die praktische Vernunft, durch die sich auch Kants Position erst von der Theorie des moralischen Sinns abhebe; aber was die Freiheit betrifft, baut Reinhold keine Brücke zwischen dem gemeinen Verstand und der philosophierenden Vernunft. Eine Zusammenführung von ratio essendi und ratio cognoscendi vollzieht Reinhold nicht. Ferner lässt sich eine solche Zusammenführung schwer rekonstruieren, weil die Definition der Willensfrei­ 157

Briefe II, S. 283; RGS 2/2, S. 193.

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heit nur schwach mit der Erscheinungsform der Tatsache des Bewusstseins korrespondiert. Die philosophierende Vernunft grenzt die Willensfreiheit von der praktischen Vernunft ab. Die letztere und ihre Äußerung als Tatsache des Bewusstseins werden als bestimmt und gebunden charakterisiert, während sich die Willensfreiheit gerade von solcher Bestimmtheit abhebt und im Gegenteil von Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Eine Zusammenführung der Willensfreiheit mit der Form der Tatsache des Bewusstseins ist in diesem Zusammenhang schwer verständlich. Wenn Willens­ freiheit und Tatsache des Bewusstseins nicht aufeinander verweisen, dann ist auf der einen Seite die Spekulation über die Freiheit nicht begreiflich, und auf der anderen Seite liegt die Hinwendung zur Tatsache des Bewusstseins zu nah an der Moralpsychologie. Außer der Tatsache des Bewusstseins greift Reinhold noch weitere Begriffe auf, um die positive Freiheit zu illustrieren. Aber diese Begriffe führen die Willensfreiheit wieder nahe an die praktische Vernunft; zu ihnen zählt unter anderen das „Grundvermögen“. Reinhold schreibt die Entscheidungsfähigkeit des Willens einem Vermögen zu und setzt dieses Grundvermögen auf die gleiche Stufe wie die praktische Vernunft und den Verstand: Die Freyheit des Willens ist daher um nichts unbegreiflicher als jedes andere Grund­ vermögen des Gemüthes, als die Sinnlichkeit, der Verstand und die Vernunft, die sich dem Bewußtseyn nur durch ihre Wirkungen offenbaren, in ihren Gründen aber in so ferne unbegreiflich sind, als sie selbst den letzten angeblichen Grund ihrer Wirkungsar­ ten in sich enthalten.158

Des Weiteren verbindet er das Positive der Freiheit mit den Maximen und der Vernunft, wodurch der Unterschied zwischen dem Willen und der praktischen Vernunft unklar wird. Durch den Rückgriff auf offenbar kantische Begriffe beschreibt Reinhold die Tätigkeit des Willens als Aufstellen von Maximen und als Aufnehmen der Vorschrift des uneigennützigen und des eigennützigen Triebs in Maximen. Dadurch versucht Reinhold, die positive Eigenschaft des Willens begreiflich zu machen – doch gleichzeitig wächst dadurch die Span­ nung zwischen der positiven und der negativen Freiheit stark an. Durch die Charakterisierung der negativen Freiheit wird der Wille von der Tätigkeit, das Gesetz aufzustellen, dissoziiert und ausschließlich mit der Ausführung des Gesetzes verbunden; eben dadurch unterscheidet Reinhold den Willen von der praktischen Vernunft. Wenn Reinhold nun jedoch den Willen mit dem Aufstellen der Vorschrift verbindet, geht der dynamische Bedeutungsgehalt der Willensfreiheit, der den Willen von der praktischen Vernunft unterscheidet, wieder verloren. Eine weitere Begriffsbestimmung im Zusammenhang der Charakterisierung der positiven Freiheit, die den Unterschied zwischen Willensfreiheit und prak­ 158

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Briefe II, S. 284; RGS 2/2, S. 194.

tischer Vernunft verdunkelt, ist die Verbindung des Willens mit der Vernunft. Reinhold zufolge begeht der Äquilibrist genau den Fehler, die Rolle der Ver­ nunft bei der positiven Freiheit zu übersehen. Drittens, wenn auch der Aequilibrist die Abhängigkeit des Willens von den veranlas­ senden objektiven Gründen nicht verkannt hätte: so würde er die Unentbehrlichkeit der Vernunft zum Akt der Selbstbestimmung, der in der Maxime (oder in der will­ kührlichen gegebenen Vorschrift zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung des entweder nach dem praktischen Gesetze oder gegen dasselbe) besteht, verkannt haben. In Rücksicht auf die Maximen hängt der Wille von dem Vermögen der Person, Vorschriften zu geben, oder von der Vernunft, nicht weniger als von der Willkühr ab, die der Grund zu diesen Vorschriften bey den Maximen ist, die aber ohne den Gebrauch, den sie dabey von der Vernunft macht, sich nicht als Bestimmungsgrund der Willenshandlung, nicht als das durch den Entschluß wirkende denken ließe. Die Maxime ist ein Resultat der Willkühr und der Vernunft, eine Vorschrift unter der Sanktion der Willkühr, durch die entweder das praktische Gesetz, oder die demselben entgegen gesetzten Reitze der Lust oder Unlust in den Willen aufgenommen und aus bloß veranlassenden zu bestimmenden Gründen der Handlung gemacht werden.159

Es ist davon auszugehen, dass der Wille die Vernunft in Gebrauch nimmt. Die Vernunft ist mit dem Vermögen, Vorschriften zu geben, identisch; aber sie ist unterschieden von der Willkür. Es scheint, dass sich der Maximen-gebende und vernunftgebrauchende Wille vom Inbegriff der Willkür unterscheidet und dass hier Wille /Willkür doppeldeutig ist. Aber die Beziehung zwischen Wille /Will­ kür einerseits und der Vernunft andererseits bleibt unklar. Darüber hinaus ist die Eigenschaft der Vernunft, sich an Willensentscheidungen zu beteiligen, nicht erfassbar. Denn Reinhold schließt sowohl die theoretische Vernunft als auch die praktische Vernunft von der Willensfreiheit aus. Es lässt sich schwer begreifen, woraus diese dritte Vernunft bestehen und wie sie sich von der praktischen Vernunft unterscheiden soll. Durch den Rückgriff auf die Begriffe der Vorschrift und der Vernunft bei der Charakterisierung des Positiven der Freiheit erhöht sich die Spannung zwi­ schen der negativen Freiheit, die von jeglicher Objektivität und Bestimmtheit losgelöst und daher von der praktischen Vernunft scharf zu unterscheiden ist, und der positiven Freiheit, die mit ihren Entschlüssen nach Begreifbarkeit und Bestimmtheit strebt und daher mit der Vernunft wieder in Verbindung tritt. Wenn man von Einzelheiten abstrahiert, ergibt sich das Bild, dass sich die Freiheit zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit hin und her bewegt. Jedoch kann Reinholds begriffliche Auslegung, in der er sich auf die Vernunft beruft, ohne tiefergehende Erörterung diesem komplexen Verhältnis nicht ge­ recht werden. Vielmehr verwischt Reinhold dabei die Trennungslinie zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft, indem er die positive Freiheit wieder an die Vernunft anschließt.

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Briefe II, S. 279; RGS 2/2, S. 191 f.

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3.2.7. Mehr als eine Moralpsychologie Wegen des Mangels an transzendentalphilosophischer Begründung und der Abhängigkeit von der Tatsache des Bewusstseins wird Reinholds Theorie der Willensfreiheit von vielen Forschern als Moralpsychologie klassifiziert. Fabbia­ nelli (2000) kommt zu dem Schluss, dass Reinhold sich nicht von einem psy­ chologischen Konzept der Freiheit lösen kann, weil seine Diskussion sich auf bloße Tatsachen des Bewusstseins gründet.160 Laut der Diagnose von Zöller (2005) „verbleibt die praktische Philosophie bei Reinhold im Feld der Tatsa­ chen des sittlichen Bewußtseins und von deren logisch-analytischer Erhellung im Rahmen von Moralpsychologie.“161 Ich vertrete dagegen folgenden Stand­ punkt: Trotz der Naturalisierung der praktischen Vernunft und der methodi­ schen Annäherung gibt es einige Elemente in Reinholds Vorgehensweise, die seine Position von Moralpsychologie unterscheiden; im Einzelnen sind dies die folgenden drei Aspekte. Erstens versucht Reinhold den Perspektivenwechsel nicht nur auf eine unsys­ tematische Trennung zwischen Aufstellung und Ausführung des Moralgesetzes zu beziehen, sondern auch auf eine systematische Trennung zwischen philo­ sophierender Vernunft und gemeinem Verstand – wenngleich der letztere Be­ zugspunkt undeutlich und rudimentär bleibt. Die Erzeugung des praktischen Gesetzes durch die Selbsttätigkeit der Person gilt Reinhold als ein Sachverhalt auf dem transzendentalen Standpunkt. Sie bezieht sich auf einen intelligiblen Akt des transzendentalen Subjekts, das jenseits aller Erfahrung aus sich selbst allgemeingültige und notwendige Gesetze aufstellt. Vom Standpunkt des ge­ meinen Bewusstseins aus erscheint das Vernunftgesetz als eine gegebene Tatsa­ che. Zwar weicht Reinhold bei der Deutung der Tatsache des Bewusstseins von Kant ab, indem er die Tatsachen des Bewusstseins vor allem hinsichtlich ihrer Bestimmtheit und Gegebenheit, weniger hinsichtlich ihrer systematischen Stel­ lung als ratio cognoscendi interpretiert; und insofern psychologisiert er die Tat­ sachen des Bewusstseins. Aber immerhin vollzieht er dies mit einer systemati­ schen Ausrichtung: Er macht auf den Unterschied zwischen transzendentalem und gemeinem Standpunkt aufmerksam. Reinhold ist sich der Begrenztheit des Standpunktes des gemeinen Verstandes sowie der Wichtigkeit eines systemati­ schen Ansatzes durchaus bewusst. Denn ohne die Rückführung auf allgemein­ gültige Grundsätze „wird jeder Grundbegriff der Moral und des Naturrechtes mehr oder weniger undeutlich und willkürlich“.162 Er distanziert sich von der Position des moralischen Sinns, „den letzten angeblichen und eigentlichen Grund für Sinnlichkeit und Recht in einem bloßen Gefühle aufzusuchen, das 160 161 162

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Fabbianelli (2000), S. 441. Zöller (2005), S. 75. Briefe II, S. 97; RGS 2/2, S. 74.

sich aus seinem Objekte nicht erklären ließe, weil dieses Objekt nur durch das­ selbe in Bewußtseyn bestimmt würde“.163 Im Gegensatz zu den Theoretikern des moralischen Sinns legt Reinhold Wert auf eine begriffliche, systematische Klärung und Erläuterung des moralischen Gefühls, bei der das moralische Ge­ fühl nicht auf seine sinnliche Manifestation beschränkt bleibt, sondern weiter auf die praktische Vernunft zurückgeführt wird, in Richtung des transzendenta­ len Standpunktes. Zweitens beschränkt Reinhold die Freiheit ausschließlich auf die Wahlfrei­ heit zwischen dem eigennützigen und dem uneigennützigen Trieb. Die Will­ kürfreiheit bezieht sich bei ihm immer auf moralische Entscheidungen. Die Wahlmöglichkeiten innerhalb des eigennützigen Triebs, die im psychologi­ schen Rahmen durchaus vertretbar sind, schließt er vom Inbegriff der Freiheit aus. In diesem Punkt wird Reinhold übrigens von Fichte kritisiert, der ihm vor­ wirft, dass er seine Moralwahl nicht aus einem allgemeineren Konzept der Will­ kürfreiheit ableitet.164 Kersting (2008) wendet ein, dass sich eine solche spezifi­ sche Wahlfreiheit zwischen Sinnlichkeit einerseits und Vernunft andererseits, die von alltäglicher Wahlfreiheit unterschieden ist, überhaupt nicht als Faktum des Bewusstseins manifestieren könne. Denn die übersinnliche Vernunft über­ schreite die Grenze der sinnlichen Empfindungen.165 Gegen Kerstings Einwand lässt sich vor allem argumentieren, dass Reinhold die Tatsache des Bewusstseins zwar im Vergleich zu Kant stark psychologisiert und naturalisiert, sie jedoch nie mit sinnlicher Empfindung identifiziert, die im Rahmen eines strengen Dualismus der Übersinnlichkeit entgegenstünde. Reinholds „Tatsache“ lässt sich also durchaus an das „Factum der Vernunft“ im kantischen Sinn anschlie­ ßen, und zwar in der Hinsicht, dass nicht ihre Materie, sondern nur ihre Manifestationsform mit der Sinnlichkeit vergleichbar ist. Kerstings und Fichtes Infragestellung des ungewöhnlichen Phänomens vom Bewusstsein der Moralwahl, das nicht selbstverständlich und erklärungsbedürf­ tig scheint, folgt aus dem Ansatz Reinholds, der nicht vollständig auf dem gemeinen Verstand und psychologischen Phänomenen beruht. Die Unterschei­ dung zwischen eigennützigem und uneigennützigem Trieb beruht nicht nur auf unmittelbaren Vorgaben im Bewusstsein, sondern wird auch durch den kantischen transzendentalphilosophischen Ansatz gestützt. Daher unterscheidet sich die Moralwahl zwischen den beiden bestimmten Trieben von einer beliebi­ gen psychologischen Wahlfreiheit; obwohl dieser kantische transzendentalphi­ 163 164

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Briefe II, S. 81f.; RGS 2/2, S. 63. Collegium über die Moral, GA IV/1, S. 77 f.: „Eine solche Wahl zwischen mehrern Befrie­ digung[en] ist möglich, geschieht d[urch] Uebergang von d[er] Unbestimmtheit zur Bestimmtheit d[urch]: den Willen, der hier Bewustseyn ist. Demnach ist hier gar keine Rücksicht genommen [au]f Sinnlichkeit; sondern es ist bloß Genuß für Genuß […] nach Reinholds Theorie, wäre also entweder bloß Moralität, oder bloß Immoralität (Bosheit) möglich.“ Kersting (2008), S. 108.

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losophische Ansatz nur die beiden Triebe betrifft, die lediglich zwei Wahloptio­ nen für die Willkür bereitstellen, nicht die Willkür per se. Drittens bietet Reinhold viele terminologische und prinzipielle Aufschlüsse an, die zwar nicht systematisch begründet werden, aber als philosophische Ansatzpunkte fruchtbar gemacht werden können. Dazu zählt beispielsweise der Begriff der Person. Er bezieht sich auf verschiedene Bedeutungen der prak­ tischen Vernunft und fungiert deshalb als Dreh- und Angelpunkt. Im 3. Brief wird die Person als der transzendentale Gesetzgeber bzw. das Vernunftwesen identifiziert. Die praktische Vernunft erweist sich in dieser Hinsicht geradezu als die Selbsttätigkeit der Person. Allerdings wird die Person umgedeutet, was den Willensakt anbelangt. In Bezug auf diesen versucht Reinhold die Person von der praktischen Vernunft zu lösen und die Selbsttätigkeit der Person von der Selbsttätigkeit der Vernunft zu unterscheiden.166 Im Vergleich zur Vernunft verfüge die „Person“ über Handlungswirksamkeit und über Flexibilität in der Handlungsweise.167 Die Person unterscheidet sich vom Begriff des Vernunftwe­ sens, denn sie betrifft die doppelte Natur des Geistes, sowohl seine vernünftige als auch seine sinnliche Natur. Ferner ist der Personbegriff deutlich mit der Individualität und Endlichkeit des Menschen verbunden, welche in Fichtes Freiheitstheorie als besonders wichtige Momente weiterentwickelt werden. Aus diesen Gründen ist es für Reinhold illegitim, die Vernunft zu personifizieren.168 Die Willkürfreiheit wird als Selbsttätigkeit der Person von der Selbsttätigkeit der Vernunft getrennt. Außerdem weist Reinhold darauf hin, dass es bei der aufgezeigten Doppeldeutigkeit immer um dieselbe Person, allerdings um ver­ schiedene Vermögen dieser Person geht.169 Dadurch wird eine dritte Bedeutung der Person eingeführt, die den ersten beiden Bedeutungen zugrunde liegt. Die verschiedenen Bedeutungen der Person werden zwar von Reinhold nicht systematisch verbunden, aber er benennt doch wenigstens einige Elemente, die als Ansatzpunkte einer Systematisierung dienen können. Die „Person“ lässt überdies an das Ich Fichtes denken, das sowohl die individuelle als auch die überindividuelle Dimension des Subjekts umfasst und aus dem Fichte ein weit­ verzweigtes System entwickeln wird. Ein ähnlicher Punkt bezieht sich auf die Aussage der Grundlosigkeit der Willkürfreiheit. Bei der negativen Bestimmung der Freiheit leitet Reinhold aus der konkreten Unabhängigkeit vom eigennützigen und uneigennützigen Trieb eine allgemeine Unabhängigkeit von allen objektiven Gründen ab. Dagegen 166

167 168 169

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Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 192: „Das Positive bey der Freyheit besteht in der Selbstthä­ tigkeit der Person beym Wollen, einer ganz besondern Selbstthätigkeit, die von der Selbstthätigkeit der Vernunft, oder durch Vernunft genau unterschieden werden muß, die von manchen Freunden der Kantischen Philosophie aber mit der praktischen Ver­ nunft, in der sie das Positive des freyen Willens aufsuchten, verwechselt wurde.“ Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 193. Briefe II, S. 257; RGS 2/2, S. 180. Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 192 f.

gilt die Selbsttätigkeit der Willkür als „der einzige subjektive, und durch sich selbst bestimmende Grund“.170 Dabei wird der Trieb mit Objektivität, die Will­ kürfreiheit mit Subjektivität verknüpft. Das ähnelt Fichtes Ansicht in der SL171 und zeigt eine Tendenz zur Systematisierung. Obwohl dieses Moment von Reinhold lediglich sehr knapp formuliert wird und Objektivität und Subjektivi­ tät als Begriffe unentwickelt bleiben, liegt es doch Reinholds Naturalisierung der praktischen Vernunft und der Trennung von praktischer Vernunft von Willkürfreiheit zugrunde. Ebenso knapp formuliert ist die Aussage, dass die Freiheit der einzige Grund der Freiheit sei.172 Nichtsdestoweniger enthält sie ein beachtenswertes prinzipielles Moment: Die These hebt die konkrete Willensautonomie bei der Auswahl zwischen zwei entgegengesetzten Trieben auf die Ebene einer abstrak­ ten formellen Selbstverursachung, die dem Identitätsprinzip ähnelt. Reinhold führt für die These das Argument an, dass die Freiheit nicht mehr bestehen könne, wenn der Wille einen von ihm selbst verschiedenen Grund habe.173 Der Ausweg aus der Fremdbestimmung besteht für Reinhold nicht darin, eine übersinnliche erste Ursache aufzusuchen, sondern die Ursache in sich selbst zu finden oder die Identität der Ursache mit der Wirkung zu sichern. Diese for­ melle Selbstverursachung bzw. Selbstbestimmung unterscheidet sich von der kantischen Autonomie. Die Bestimmung des Willens durch die praktische Ver­ nunft entspricht dem Konzept der kantischen Autonomie, weil die erste Ursa­ che nicht von der Sinnlichkeit bedingt ist; das aber entspricht nicht Reinholds Konzeption der Selbstbestimmung, weil die Vernunft nicht mit dem Willen identisch ist. Reinhold hat dieses Prinzip nicht grundsätzlich fundiert, sondern nur kursorisch angedeutet; es ist in seiner Philosophie schwer zu fassen. Man sieht eine systematische und weiterführende Entfaltung dieses Moments in Fichtes Freiheitstheorie.

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Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 193. Siehe die Erläuterung in Teil 4.2.1. Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 193: „Ihr Grund ist die Freyheit selbst.“ Briefe II, S. 281; RGS 2/2, S. 193.

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4. Fichtes Mittelweg zwischen Kant und Reinhold 4.1. Die Rezeption von Kant sowie Reinhold und die neue Entwicklung im Versuch einer Critik aller Offenbarung Fichte thematisiert die Willensfreiheit zum ersten Mal im Jahr 1793 in der zweiten Auflage seines Versuchs einer Kritik aller Offenbarung. Das Theoriestück ist sehr kompakt, es besteht lediglich aus einem einzelnen Paragraphen mit dem Titel „Theorie des Willens“. Es zeigt die frühe Entwicklung von Fichtes Theorie der Willensfreiheit; sie steht unter verschiedenen Einflüssen, zu denen vor allem die Lehren der Willensfreiheit von Kant und Reinhold zählen. Auf der einen Seite liegt der Einfluss Kants auf der Hand. Zunächst ging Fichte davon aus, mit dem Theoriestück Kant selbst von seiner Position zu überzeugen, schließlich war es Beilage eines Empfehlungsschreibens1 an Kant. Inhaltlich dient es der „Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“,2 welche den Willensbegriff in der kantischen moraltheologischen Struktur verankern soll und den populärphilosophischen Ansatz ausschließt. Angesichts seiner schon vor Jahren kundgetanen Begeisterung und Hochschät­ zung für die KpV3 ist es keine Überraschung, dass der junge Fichte nunmehr seine eigene Willenstheorie an Kants zweiter Kritik ausrichtet. Fichtes explizites Anliegen ist es, die Dunkelheit der zweiten Kritik aufzuheben.4 Folglich steht die Explikation der kantischen Begriffe „Achtung vor dem Gesetz“ und „prakti­ sche Vernunft“ im Zentrum seiner Willenstheorie. Auf der anderen Seite ist Fichtes Willenstheorie keine bloße Auslegung der KpV, sondern er sucht diese weiterzuentwickeln und so zu vollenden. Fichte meint, Kant gelinge in der zweiten Kritik nur, den reinen Teil der Deduktion bezüglich der Seligkeit von der praktischen Vernunft darzulegen. Im Rahmen der Deduktion werden die empirischen Bestimmungen des sinnlichen Wesens nicht berücksichtigt. Das gesamte Deduktionsprojekt müsse durch einen unrei­

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4

Vgl. Fichtes Brief an Kant vom 18.8.1791, in: GA III/1, S. 253f. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 135. Im Brieffragment an den Verleger Friedrich August Weißhuhn von August/September 1790 berichtet Fichte von seiner Begeisterung bei der Entdeckung von Kants KpV: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u. s. w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System giebt! […] Welch ein Segen für ein Zeitalter, in welchem die Moral von ihren Grundfesten aus zerstört, und der Begriff Pflicht in allen Wörterbüchern durchstrichen war […]“. Siehe GA III/1, S. 167. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 147.

nen Teil ergänzt werden, der von empirischen Prämissen ausgehe.5 Fichtes An­ liegen ist es, zu zeigen, „wie es nemlich möglich sey, das Sittengesetz, welches an sich nur auf die Willensform moralischer Wesen, als solches anwendbar ist, auf Erscheinungen in der Sinnenwelt zu beziehen“.6 Dieser Ansatz geht über die zweite Kritik Kants hinaus. Zu der Zeit der Niederschrift der Offenbarungs­ kritik ringt Fichte noch um ein eigenes philosophisches System, die GML wird er erst 1794 veröffentlichen. Neben Kant dient Fichte die Auseinandersetzung mit den Werken seiner Zeitgenossen als Inspiration, hierbei spielt v. a. Rein­ hold eine wichtige Rolle. Der Einfluss Reinholds lässt sich vor allem an Fichtes Anlehnung an die „Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens“ aus Reinholds Versuch erkennen. Zahlreiche Ähnlichkeiten bei der Explikation der Begriffe und selbst in der Gestaltung der Texte belegen dies. Zudem unternimmt Fichte die De­ duktion anhand des Kernbegriff „Trieb“, dessen moralphilosophische Bedeu­ tung auf Reinholds Versuch und Briefe II zurückgeht und in dem die zentrale Botschaft von Reinholds Lehre der Willkürfreiheit anklingt. Die Aufnahme der Reinholdschen Trennung zwischen Selbsttätigkeit der Vernunft und Selbst­ tätigkeit der Person sowie die Betonung der letzteren beim wirklichen Wollen veranlasst Fichte in seiner Offenbarungskritik zu dem Standpunkt, die Will­ kürfreiheit als eine Äußerung der Freiheit zu bestimmen. Neben diesen vielfältigen Einflüssen bringt Fichte in dem Paragraphen „Theorie des Willens“ noch seine eigenen systematischen Gedanken zur Ent­ wicklung. Daher zeigt dieses Theoriestück einen vermittelnden und übergangs­ weisen Charakter. Um die Komplexität des Begriffs der Willensfreiheit in diesem Spannungsfeld zu begreifen, muss man die verschiedenen Momente dieses Paragraphen einander zuordnen. Ich teile daher die folgende Analyse in drei Teile auf. In Teil 4.1.1 zeige ich, dass der transzendentale Standpunkt Kants eine grundlegende Rolle in Fichtes Willenstheorie spielt. Dies grenzt Fichtes Position von derjenigen Reinholds ab und liefert die Grundlage für Fichtes eigene Auffassung der absoluten Freiheit. In Teil 4.1.2 vergleiche ich ausführlich Fichtes „Theorie des Willens“ mit Reinholds „Grundlinien“, um Reinholds Einfluss auf Fichte nachzuweisen, hierbei werde ich zudem auf Fichtes Creuzer-Rezension eingehen. In Teil 4.1.3 werden die anfänglich auf­ kommenden systematischen Gedanken Fichtes in der „Theorie des Willens“ der Offenbarungskritik und in Fichtes Rezensionsschriften aus dem Jahr 1793 erörtert.

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 153. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 152.

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4.1.1. Die Prägung durch Kant In der Offenbarungskritik wird der Einfluss Fichtes durch Kant das erste Mal an folgender Bemerkung ersichtlich, welche Fichtes Missbilligung der Vorgehens­ weise Reinholds in Briefe II7 und seine Befürwortung des kantischen transzen­ dentalen Ansatzes erhellt: Aber man beurtheile das hier gesagte ja nicht zu voreilig, als ob wir es uns hier bequem machten, und aus unserm Bewußtseyn der Selbstthätigkeit im Wollen unmit­ telbar auf die wirkliche Existenz dieser Selbstthätigkeit schlössen. Allerdings könnte nicht blos dies Bewußtseyn der Selbstthätigkeit, oder der Freiheit, welches an sich und seiner Natur nach nicht anders als negativ (eine Abwesenheit des Gefühls der Nothwendigkeit) ist, blos aus dem Nichtbewußtseyn der eigentlich erst aufhaltenden, dann bestimmenden Ursache entstehen; sondern wenn wir keinen anderweitigen Grund für Freiheit, d.i. Unabhängigkeit vom Zwange des Naturgesetzes fänden, müßte es sogar daher entstehen: dann wäre die Jochsche Philosophie die einzige wahre, und einzige consequente: aber dann gäbe es auch gar keinen Willen, die Erscheinungen desselben wären erweisbare Täuschungen, Denken und Wollen wären nur dem An­ scheine nach verschieden, und der Mensch wäre eine Maschine, in der Vorstellungen in Vorstellungen eingriffen, wie in der Uhr Räder in Räder.8

Fichte hält das Bewusstsein der Spontaneität für keinen zulässigen Beweis der Wirklichkeit der Freiheit. Die hier kritisierte Position entspricht derjenigen von Reinhold in Briefe II, der dort die Wirklichkeit der Willkürfreiheit durch das Bewusstsein der Spontaneität zu begründen versucht.9 Fichte wendet ein, dass dieses Bewusstsein der Spontaneität aus dem Nichtbewusstsein des Bestim­ mungsgrunds entstehen und daher lediglich ein Schein der Freiheit sein könn­ te. Für Fichte ist es bei der philosophischen Untersuchung der Willensfreiheit notwendig, diese transzendental zu begründen, um so die Seichtigkeit der auf dem empirischen Bewusstsein basierenden Handlungstheorie zu überwinden. Dies erfordert zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der Naturkausa­ lität und die Überprüfung der theoretischen Möglichkeit der Freiheit – ein Vorgehen analog dem in Kants Transzendentalphilosophie. Die transzendenta­

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8 9

Fichte hat weder an der folgenden zitierten Stelle noch im Rest der Offenbarungskritik Reinholds Briefe II ausdrücklich erwähnt, aber aus seiner Verwendung der Termini und des Inhalts der einschlägigen Debatten lässt sich darauf schließen, dass er bei der Nieder­ schrift der Offenbarungskritik von Reinhold stark beeinflusst wurde. Dies erkläre ich näher im folgenden Teil 4.1.2. Außerdem entspricht die folgende zitierte Stelle einer Aus­ sage in Briefe II (S. 283, RGS 2/2, S. 193). Die Forschungsliteratur weist nach, dass Fichte hier zu Reinholds Ansatz Stellung nimmt. Fichte kritisiert in der Offenbarungskritik gegen Reinholds Position in Briefe II, die Tatsache des Bewusstseins als Beweisgrund der Wirklichkeit der Freiheit zu betrachten; vgl. Lazzari (1997), S. 183; Piché (2004), S. 259. Offenbarungskritik, GA 1/1, S. 139. Briefe II, S. 283, RGS 2/2, S. 193.

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le Freiheit,10 nämlich die „Unabhängigkeit vom Zwange des Naturgesetzes“, muss Fichtes Meinung nach zuvörderst geklärt werden. Dem obigen Auszug ist zu entnehmen, dass die Unterscheidung zwischen Denken und Wollen die transzendentale Freiheit voraussetzt. Auf dieser Un­ terscheidung basiert der Leitbegriff „Trieb“, denn er wird als das Medium zwischen der Vorstellung und der Bestimmung definiert. Trotz der terminolo­ gischen und methodischen Neugestaltung im Vergleich zu Kant ordnet Fichte seine neuartige Deduktion Kants transzendentalem Ansatz unter. Das Bewusst­ sein der Spontaneität, deren markante Rolle für das Wollen und die Anwen­ dung des Moralgesetzes von Fichte akzentuiert wird, bleibt der transzendenta­ len Freiheit gegenüber immer zweitrangig. Diese Rangordnung bei Fichte lässt sich exemplarisch anhand seiner Analyse des Triebes darstellen, den Fichte als vernünftig-sinnlich bestimmt. Im Trieb liegen die Spontaneität des Verstandes und die der Urteilskraft vor, die gemein­ sam ein Bewusstsein der Spontaneität bewirken. Es stellt sich jedoch heraus, dass diese Spontaneität der oberen Gemütsvermögen die Abhängigkeit von der Sinnlichkeit nicht überwindet. Vielmehr steht sie im Dienst der Sinnlichkeit. Denn die Spontaneität ist auf Empfindungen angewiesen, auf einen Inhalt, der durch die Sinne gegeben wird, und die Urteilskraft bzw. der Verstand ordnen nur die sinnlich gegebenen Empfindungen – sie geben dem gegebenen Stoff bloß eine Form. Diese Bestimmung der Spontaneität entspricht Kants kritischem Ansatz; Kant und Fichte weisen beide das bloße Bewusstsein der Spontaneität als zureichenden Beweis der Freiheit zurück. Der Nachweis der absoluten Freiheit muss, nach der kantischen Tradition, weit mehr kritischen Erfordernissen gerecht werden. Mit der ihm eigenen Terminologie sagt Fichte, dass es sich bei der absoluten Freiheit um einen reinsittlichen Trieb handele, dessen Stoff durch die Form der reinen Sponta­ neität hervorgebracht werde. Denn im Kontrast zum vernünftig-sinnlichen Trieb liefere die Spontaneität des oberen Gemütsvermögens im reinsittlichen Trieb nicht nur die Form des Triebs, sondern auch den Stoff desselben. Somit 10

Die „transzendentale Freiheit“ und das diesbezügliche kritische Verfahren dabei stehen im Grunde genommen in der kantischen Tradition. Denn sie setzen Unabhängigkeit der Übersinnlichkeit von der Sinnlichkeit im Rahmen der Transzendentalphilosophie voraus, wie man aus der Offenbarungskritik ersehen kann. Fichtes Kritik an der Unzuver­ lässigkeit der Spontaneität in den Phänomenen des Bewusstseins und seine Verweisung auf eine gründliche Befreiung von der Naturnotwendigkeit erwecken den Eindruck, dass er sich an Kants kritisches Verfahren, das von der Lösung der dritten Antinomie in der KrV ausgeht, anschließt. Allerdings ist ein Vorbehalt gegenüber Fichtes vollkommener Aufnahme des kantischen Ansatzes bezüglich der transzendentalen Freiheit nötig. Denn auf der einen Seite hat er die Befürwortung als solche in der Offenbarungskritik immer­ hin nicht explizit geäußert, auf der anderen Seite trennt er die transzendentale Freiheit von der praktischen Freiheit nicht, was der kantischen Philosophie nicht ganz getreu ist. Trotz dieser Weiterentwicklung fühlt sich Fichte generell dem kantischen kritischen Ansatz verpflichtet.

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erhebe sich die Vernunftbestimmung im sittlichen Trieb grundlegend über die Sinnenempfindung, was im Prinzip der transzendentalen Freiheit bei Kant gleichkommen solle.11 Demzufolge müsse der Begriff der Freiheit mittels des Übersinnlichen ausgewiesen werden. Fichte führt aus, dass die Vernunftideen im sittlichen Trieb auf unsere höhere geistige Natur deuten und den einzigen Übergang zur übersinnlichen Welt ermöglichen.12 Der Freiheitsbegriff setzt hierbei die Struktur von Sinnlichkeit und Übersinnlichen voraus, wie sie in Kants Transzendentalphilosophie gefasst wird: Während die Sinnlichkeit durch die Naturnotwendigkeit unumgänglich beherrscht wird, erhebt sich das Moral­ gesetz durch seine rein vernünftige Bestimmung zum Übersinnlichen, und in dieser Erhebung kommt die Freiheit zustande, denn die Gesetzesform ist durch keine Sinnendaten bedingt, sondern a priori durch reine Vernunft hervorge­ bracht. Der Einfluss der kantischen Freiheitslehre auf Fichtes Denken liegt mithin auf der Hand. Darüber hinaus lehnt Fichte die Bestimmung der absoluten Spontaneität des reinsittlichen Triebs an die kantische Gesetzgebung der praktischen Vernunft an. Die reine Form, die durch die absolute Spontaneität hervorgebracht wird, ist Fichte zufolge nur auf das obere Begehrungsvermögen anwendbar. Die darin gegründete Vorstellung nennt er die „Idee des schlechthin rechten“.13 Der reingeistige Stoff der Vorstellung ist nichts anderes als die notwendige Willens­ form a priori, die dem oberen Begehrungsvermögen innewohnt. Diese Form ist für jeden diskursiven Verstand allgemeingültig, weil dessen Bestimmungen sich auf die Gesetze des reinen Selbstbewusstseins gründen.14 Somit wird die Freiheit mit der allgemeingültigen Form des Sittengesetzes verbunden. Die transzendentale Freiheit entspricht sodann der autonomen Gesetzgebung der praktischen Vernunft.15 Des Weiteren weist Fichte auf die Tatsache des Bewusstseins hin, auf ein Fak­ tum, um die Wirklichkeit eines durch die Spontaneität bestimmbaren Objekts zu beweisen. Obwohl Fichte vermittels des Triebbegriffs ein Stück weit dem Gedankengang von Reinholds „Grundlinien“ folgt, um die Wirklichkeit der

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 147: „Die Vernunft giebt sich selbst, unabhängig von irgend etwas außer ihr, durch absolut eigne Spontaneität, ein Gesetz; das ist der einzig richtige Begriff der transscendentalen Freiheit […]. “ Mit diesem Zitat wird deutlich, dass Fichtes Begriff der transzendentalen Freiheit moralisch geprägt ist. Er trennt die transzen­ dentale Freiheit nicht von der praktischen Freiheit. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass seine Definition der transzendentalen Freiheit in folgender Hinsicht dem Geist der kanti­ schen Philosophie treu ist: dass nämlich die absolute Unabhängigkeit des Übersinnlichen von der Naturnotwendigkeit Wesenskern der Freiheit sein muss. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 144f. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 141. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 141. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 147.

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absoluten Spontaneität zu beweisen,16 schließt er letztendlich seinen Beweis an Kants Konzept vom „Factum der Vernunft“ an. Die Tatsache des Bewusstseins, die als der praktische Beleg der absoluten Freiheit gegeben wird, ist bei Fichte auch nichts anderes als das moralische Bewusstsein.17 Denn das Bewusstsein des Moralgesetzes impliziert die absolute Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit, und dies entspricht dem gesuchten Begriff der absoluten Freiheit. Darüber hinaus verteidigt Fichte diese Freiheitsauffassung gegen die Kritik Reinholds, der bemängelt, dass es dem Moralgesetz an Willkürlichkeit fehle: Denkt man nemlich in den Begriff der Freiheit das Merkmal der Willkühr hinein (ein Gedanke, dessen noch immer viele sich nicht erwehren können), so läßt damit sich freilich auch die moralische Nothwendigkeit nicht vereinigen. Aber davon ist bei der ersten ursprünglichen Äußerung der Freiheit, durch welche allein sie sich überhaupt bewährt, gar nicht die Rede. Die Vernunft giebt sich selbst, unabhängig von irgend etwas außer ihr, durch absolut eigne Spontaneität, ein Gesetz; das ist der einzig richtige Begriff der transcendentalen Freiheit.18

Obwohl Fichtes Identifikation der Gesetzgebung der praktischen Vernunft mit der transzendentalen Freiheit eine Abweichung von Kant darstellt,19 schließt er 16

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Fichte erklärt diese absolute Spontaneität durch ein Modell, nach dem der Stoff des Triebs durch die Form der Spontaneität hervorgebracht wird. Dieses Modell knüpft an­ scheinend an Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens an. Dennoch gelingt weder Reinhold noch Fichte ein theoretischer Beweis dafür, wie mit und durch die Form der absoluten Spontaneität der Stoff gegeben wird, um so die theoretische Möglichkeit der Freiheit zu begründen. Fichte führt diesen Beweis nur soweit, dass in der theoretischen Philosophie eine Form relativer Stoff werden kann. Er nimmt den Raum und die Zeit als Beispiel. Sie seien an sich Formen der Anschauung, aber in Bezug auf die Vorstellung von Raum oder Zeit selbst der Stoff. Dieser Wandel von Form zu Stoff entspricht aller­ dings keinem Bewusstsein der Spontaneität. Folglich setzt Fichte einen Bruch zwischen dem theoretischen und dem praktischen Bereich voraus, um die absolute Spontaneität auf das Begehrungsvermögen einzuschränken. Somit scheitert die theoretische Beweis­ führung durch das Erklärungsmodell von Form und Stoff. Vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 140f. Über Reinholds Versuch des theoretischen Beweises der Freiheit vermittelst der theoretischen Spontaneität des Vorstellungvermögens siehe Versuch, S. 537, 556–572; RGS 1, S. 347, 352–362 und die Auslegung in Teil 3.1.3 dieser Arbeit. Vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 140: „Daß nun wirklich eine solche ursprüngliche Form des Begehrungsvermögens, und ein ursprüngliches Begehrungsvermögen selbst vermittelst dieser Form sich in unserem Gemüthe dem Bewußtsein ankündige, ist That­ sache dieses Bewußtseyns; und über dieses letzte, einzig allgemeingeltende Princip aller Philosophie hinaus findet keine Philosophie mehr statt. Durch diese Thatsache nun wird es erst gesichert, daß der Mensch einen Willen habe.“ Offenbarungskritik, GA I/1, S. 147. Damit identifiziert Fichte die transzendentale Freiheit mit der praktischen Freiheit. Kant dagegen trennt beide voneinander und setzt sie in ein aufeinander verweisendes Verhältnis: ratio essendi und ratio cognoscendi. Fichtes Identifikation der beiden ist darin begründet, dass das moralische Bewusstsein sich seiner Meinung nach mit dem Bewusst­ sein der Spontaneität ankündige. Obwohl diese Identifikation das Verweisungsverhältnis zwischen ratio essendi und ratio cognoscendi nicht zwangsläufig ausschließt, impliziert die Ankündigung der absoluten Spontaneität im Bewusstsein die intellektuelle Anschauung. Dass dies der kantischen Philosophie gemäß ist, lässt sich bezweifeln. Darüber hinaus

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im Hinblick auf die Zusammenführung der Freiheit mit dem Moralgesetz wei­ terhin an Kant an. Diese Zusammenführung stützt sich auf einen transzenden­ talphilosophischen Ansatz.20 Auch wenn sich die Gesetzgebung der praktischen Vernunft mit der Willkürfreiheit nicht verträgt, entspricht sie nach Fichte dem Wesen der transzendentalen Freiheit. Für Fichte ist die transzendentale Freiheit die Voraussetzung aller Äußerungen der Freiheit. Denn nur sie sichert die Mög­ lichkeit, sich von der Kette der Naturnotwendigkeit loszureißen. Daher hat die Gesetzgebung der praktischen Vernunft Primat gegenüber der Willkürfreiheit. Folglich betrachtet Fichte die Gesetzgebung der praktischen Vernunft als die erste Äußerung der Freiheit. Trotz dieser emphatischen Zusammenführung der Freiheit mit der Gesetzge­ bung der praktischen Vernunft scheint Fichte die Freiheit und die praktische Vernunft nicht auf die Gesetzgebung zu beschränken. Stattdessen folgt er Kant darin, dass der praktischen Vernunft eine praktische Wirkung in bestimmter Hinsicht zuzuschreiben ist. Obwohl Fichte bei der Analyse des moralischen Gefühls Ausdrücke wie „Kausalität der Vernunft“ vermeidet und die Rolle der Sinnlichkeit deutlich aufwertet, scheint er gleichzeitig die kantische Ansicht beizubehalten, dass die praktische Vernunft eine negative Bestimmung des nie­ deren Begehrungsvermögens bewirke.21 Es stehe in der Macht der praktischen Vernunft, die Sinnlichkeit, oder genauer formuliert, den sinnlichen Trieb auf eine negative Weise aufzuhalten, einzugrenzen bzw. zu unterdrücken.22 Die praktische Vernunft wirke zudem auch auf eine positive Weise auf den sinnli­ chen Trieb und bringe „Vergnügen des innern Sinnes aus Anschauung des Rechten“23 hervor. Die Gesetzgebung der reinen Vernunft, nicht das sinnliche

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stellt sich die Frage: Wie ist dieses Bewusstsein der Spontaneität zuverlässiger als eine psy­ chologische Täuschung, ein Einwand, den Fichte selbst in Bezug auf Reinholds Beweis der Freiheit vorgebracht hat? Vgl. Lazzari (1997), S. 188. Zu Kants transzendentalphilosophischem Ansatz bei der Vereinigung der Freiheit mit dem Moralgesetz siehe die Analyse in Teil 2.1.2 dieser Arbeit. Lazzari, A. (1997) weist auf die Mehrdeutigkeit der Position Fichtes hin: „Fichte schwankt zwischen der Annahme, der empirische Wille gehe schließlich aus dem Gefühl der Achtung als sittlichem Interesse hervor, und der Auffassung, der Wille bestimme sich selbst zu einer Entscheidung zugunsten des sittlichen und gegen den sinnlichen Trieb.“ Lazzari, A. (1997), S. 189. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 142: „Insofern nun diese Bestimmung auf die absolute Spontaneität zurückbezogen wird, ist sie blos negativ— eine Unterdrückung der willens­ bestimmenden Anmaaßung des Triebes […]“. An derselben Stelle merkt Fichte noch an, dass die absolute Spontaneität (der praktischen Vernunft) nicht direkt auf Sinnlichkeit an sich, sondern auf den sinnlichen Trieb wirkt, der durch die Spontaneität bestimmbar ist. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 146: „[U]nd was sind wir jetzt gegen Neigung verursachen­ de Bestimmungsgrund ihres Willens ist freilich das Vergnügen des innern Sinnes aus Anschauung des Rechten; daß aber eine solche Anschauung ihnen Vergnügen macht, davon liegt der Grund gar nicht in einer etwanigen Affection der inneren Receptivität durch den Stoff jener Idee, welches schlechthin unmöglich ist; sondern in der a priori vor­ handenen nothwendigen Bestimmung des Begehrungsvermögens, als obern Vermögens“.

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Gefühl, sei der Ursprung des moralischen Interesses.24 Diese negative und posi­ tive Wirksamkeit der praktischen Vernunft gilt als Ausgangspunkt von Fichtes Unternehmen in der Offenbarungskritik, das Moralgesetz auf die Sinnlichkeit zu beziehen. Dass Fichte den kantischen Ansatz in vielerlei Hinsicht übernimmt, lässt sich durch den Ausgangspunkt seiner Willenstheorie in der Offenbarungskritik erklären. Seine dort dargelegte Willenstheorie dient der Vorbereitung der De­ duktion der Religion aus Vernunftprinzipien a priori. Die Theorie der Willens­ freiheit steht argumentativ im Zusammenhang mit dem höchsten Gut: nämlich die Kongruenz der Sittlichkeit mit der Glückseligkeit aus der Gesetzgebung der praktischen Vernunft zu deduzieren. Infolgedessen verankert Fichte, ebenso wie Kant, seine Willenstheorie in der Architektonik der Vernunft, die auf der transzendentalphilosophischen Grundstruktur von Sinnlichkeit und Übersinn­ lichkeit basiert. Insofern ist es für Fichte unumgänglich, den Freiheitsbegriff auf die transzendentalen Grundsätze der Vernunft zu beziehen. Gegenüber Reinhold unterscheidet sich Fichtes Konzeption von Freiheit dahingehend, dass sich Reinhold hauptsächlich auf einen moralpsychologischen und populä­ ren Ansatz stützt. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass der vielseitige Einfluss der kanti­ schen Philosophie einen großen Platz in Fichtes Willenstheorie einnimmt, wie er sie in der Offenbarungskritik entwickelt – insbesondere die zweite Kritik, und die dort unternommene Bestimmung der Freiheit als Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft ist für Fichte ein zentraler Orientierungspunkt. 4.1.2. Der Einfluss Reinholds Wir haben schon gezeigt, dass Fichtes Position in vielerlei Hinsicht derjenigen Kants folgt und sich von derjenigen Reinholds scharf unterscheidet. Dennoch wäre diese Lesart einseitig, wenn man den Einfluss von Reinholds praktischer Philosophie auf Fichtes Lehre des Willens übersähe, auch wenn er weniger explizit ist als der kantische Einfluss.25 Dieser Einfluss betrifft nicht nur die terminologische, sondern auch die tiefer liegende systematische Ebene. Die Aufdeckung des Reinholdschen Einflusses ist das Verdienst von Cesa (1993) und Lazzari (1997). Cesa (1993) weist zuerst Reinholds Einfluss auf Fichtes 24

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 145: „Sie haben ganz recht, wenn sie auf Ihrem Selbstge­ fühle bestehen, daß sie zu wirklich guten Entschließungen doch nur durch das Interesse bestimmt werden; nur müssen sie den Ursprung dieses Interesse, wenn ihre Entschlie­ ßung rein sittlich war, nicht im Sinnengefühle, sondern in der Gesetzgebung der reinen Vernunft aufsuchen.“ Fichte erwähnt in diesem Werk Reinhold nicht ein Mal namentlich. Wenn seine Einstel­ lung zu Reinholds Theorie der Willensfreiheit in einer anderen Schrift im gleichen Jahr zum Ausdruck kommt, fällt sie hauptsächlich negativ aus: er wendet sich polemisch gegen Reinholds Freiheitskonzept, dessen transzendentaler Ursprung er widerlegt.

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Trieblehre nach, und Lazzari (1997) macht darauf aufmerksam, wie Fichtes Auseinandersetzung mit Reinholds Philosophie in den Jahren 1792–1794 und seine Reaktion auf die Reinholdsche Argumentation, die ihren Ausgang von der Tatsache des Bewusstseins nimmt, dem Freiheitsverständnis seiner Wissen­ schaftslehre zugrunde liegt. Die vorliegende Arbeit schließt an diese Untersuchungen an. Allerdings lege ich meinen Fokus auf die Bedeutung der Willensfreiheit und der praktischen Vernunft bei Fichte. Damit zusammenhängend liefere ich einen differenzierten Einblick in die Wandlung der transzendentalphilosophischen Struktur von Kant zu Fichte. Dies expliziere ich insbesondere durch Fichtes Auseinander­ setzung mit den unterschiedlichen Auffassungen von Freiheit bei Kant und Reinhold. Dadurch hebe ich die konstruktive Rolle des Reinholdschen Einflus­ ses auf Fichte hervor, die nicht nur im Sinne einer Kritik, sondern vielmehr von Akzeptanz und Integration seitens Fichtes zu verstehen ist. Eingangs gilt es zu klären, was Fichte veranlasst, in manchen Punkten „ver­ deckt“ an Reinhold anzuschließen. Wir haben oben bereits den moraltheolo­ gischen Hintergrund der Willenstheorie in der Offenbarungskritik erwähnt. Nun sieht dieser Kontext auf den ersten Blick so aus, als sei er v.a. durch Kant geprägt. Im Folgenden werde ich zeigen, welche Momente daran als eine Anknüpfung an Reinholds praktische Philosophie zu verstehen sind. Es wird sich erweisen, dass Fichte in der Deduktion des höchsten Gutes den Bezug auf endliche Wesen sowie auf die Erscheinungswelt betont und dass diese Betonung des Endlichkeitsbezugs26 über dasjenige hinausgeht, was Kant in der KpV dargelegt hat. Ohne jeglichen kritischen Ton bemerkt Fichte gegen Ende des zweiten Para­ graphen, dass die KpV nur den reinen Teil der Deduktion, in dem nur das obe­ re Begehrungsvermögen berücksichtigt wird, zustande bringe. Dieser Teil solle, um dem Anspruch der genannten Bezüglichkeit auf endliche Wesen Genüge zu tun, durch einen unreinen Teil ergänzt werden, der von empirischen Prämissen ausgehe und das niedere Begehrungsvermögen zum Gegenstand habe. Dieser von Kant unbearbeitete Teil rückt nun ins Zentrum der Willenstheorie Fichtes. Fichtes Betonung des Endlichkeitsbezugs ist letztendlich nicht so revolutionär gegenüber der zweiten Kritik, wie es in dieser Bemerkung scheint. Denn er greift auf das Lehrstück von „dem Gefühl der Achtung“ aus der KpV zurück, um die negative Bestimmung des niederen Begehrungsvermögens zu erklären. Dennoch führt diese Betonung der Endlichkeit zur Anlehnung an Reinhold. Der Anschluss an Reinhold ermöglicht nicht nur eine neue Herangehensweise, sondern hat auch ein neues Verständnis der Freiheit zur Folge. 26

Fichte betont in der Vorrede der ersten Auflage der Offenbarungskritik, dass diese Idee des höchsten Gutes nicht nur in Ansehung des unendlichen Wesens als ein Postulat, sondern vielmehr in Bezug auf endliche Wesen und ihre praktische Wirkung auf die Erscheinungswelt erörtert werden soll. Vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 20.

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Fichtes Betonung der Endlichkeit, die mit Reinholds Freiheitstheorie in Verbindung steht, verkörpert sich im Triebbegriff. In der Tat wird die Wil­ lenstheorie in der Offenbarungskritik anhand der Definition und Explikation des Triebbegriffs gestaltet, was den „Grundlinien“ von Reinholds Versuch äh­ nelt. Reinhold führt in den „Grundlinien“ den Triebbegriff in die moralphi­ losophische Diskussion ein. Neben anderen Konnotationen des Begriffs, die Reinhold abgeändert oder neu eingebracht hat, ist es hinsichtlich des Zusam­ menhangs mit Fichte vor allem bemerkenswert, dass Reinhold den Triebbegriff von vornherein in der Endlichkeit verankert. Er bestimmt diesen Endlichkeits­ bezug durch die Kluft zwischen dem kognitiven und dem konativen Anteil des Begehrungsvermögens bzw. zwischen dem Vorstellungsvermögen und der vorstellenden Kraft des Begehrungsvermögens. Diese Kluft existiert nicht bei Gott, sondern nur bei einem endlichen handelnden Subjekt.27 Der Trieb wird von Reinhold als das eigentümliche Verhältnis zwischen diesen entzweiten Anteilen des Begehrungsvermögens endlicher Wesen bestimmt.28 Der Trieb kennzeichnet den Verknüpfungspunkt, in dem das Ideale und das Reale des Begehrungsvermögens endlicher Wesen in einen Zusammenhang kommen. Daher ist der Triebbegriff, wie Reinhold ihn einführt, von der Endlichkeit geprägt. Reinholds Triebkonzeption gilt als ein direkter Anstoß für Fichtes Willens­ theorie in der Offenbarungskritik.29 Fichtes Willenstheorie basiert auf der An­ nahme einer ungeheuren Kluft zwischen Gott und den Menschen. Während Gott nach Fichte über ein reines Wollen verfügt, kann beim Menschen nur von einem unreinen Wollen die Rede sein.30 Im reinen Wollen Gottes sind sowohl der kognitive Anteil (nämlich die „Vorstellung“) als auch der kona­ tive Anteil (nämlich die „Bestimmung“) durch die absolute Selbsttätigkeit hervorgebracht.31 Die beiden Anteile sind im Grunde genommen Eins und bedürfen keiner Vermittlung.32 Nur im unreinen Wollen des Menschen sind „Vorstellung“ und „Bestimmung“ so voneinander verschieden, dass eine von beiden leidend sein muss. Der Trieb, so führt Fichte in Anlehnung an Rein­ hold aus, kommt nur durch den Unterschied von „Vorstellung“ und „Bestim­ 27 28

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Versuch, S. 561; RGS 1, S. 355. Zur eingehenden Analyse von Reinholds Triebbegriff siehe Teil 3.1 dieser Arbeit. Versuch, S. 561; RGS 1, S. 355: „Das Verhältniß der vorstellenden Kraft zu der in ihrem Vermögen a priori bestimmten Möglichkeit der Vorstellung, das Verhältniß der Kraft zu ihrem Vermögen, des Grundes der Wirklichkeit zum Grunde der Möglichkeit der Vor­ stellung, oder zur Vorstellbarkeit, nenne ich den Trieb des vorstellenden Subjektes[…].“ Vgl. Cesa (1993), S. 167, S. 174f.; Schrader (1972), S. 26f. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 148. Fichte definiert das Wollen wie folgt: „Sich mit dem Bewußtseyn eigner Thätigkeit zur Hervorbringung einer Vorstellung bestimmen, heißt Wollen“ (Offenbarungskritik, GA I/1, S. 135). Fichte zufolge lässt sich die Achtung vor dem Gesetz nicht denken, wenn Wollen und Denken eins sind. Vgl. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 143.

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mung“ (nämlich zwischen dem kognitiven und konativen Anteil des Wollens) ins Spiel.33 Fichte erweitert Reinholds Definition des Triebs als Verhältnis und Verknüpfungspunkt zwischen dem kognitiven und konativen Anteil des Begehrungsvermögens endlicher Wesen: Er definiert den Trieb als ein Medi­ um zwischen den beiden Anteilen,34 hiermit verdeutlicht er die Mittelbarkeit oder Mittelbedürftigkeit des Wollens endlicher Wesen. Somit wird Fichtes Aus­ gangspunkt von der Endlichkeit mit dem Rückgriff auf den Triebbegriff klar. Fichtes Anknüpfung an Reinhold wird nicht nur bei der terminologischen Definition des Triebs deutlich, sondern auch bei seiner systematischen Ausein­ andersetzung mit der Freiheitsthematik, die er eng an und mit dem Begriff des Triebes entwickelt.35 Die Engführung von Trieb und Freiheit geht beson­ ders auf Briefe II zurück, in diesen hat Reinhold seine eigentümliche Position hauptsächlich dargelegt. Ich werde im Folgenden zeigen wie Fichte durch den Einfluss Reinholds den Endlichkeitsbezug in sein philosophisches System auf­ nimmt und wie er die von Reinhold betonte Spannung zwischen Freiheit und praktischer Vernunft in seine Freiheitsauffassung integriert. Zunächst legt Fichte in Anlehnung an Reinhold mehr Gewicht auf den Sta­ tus des Moralgesetzes im gemeinen Bewusstsein. Obwohl Fichte durchgehend an der transzendentalen Perspektive festhält, nach der das Vernunftgesetz im Wesentlichen durch die Spontaneität generiert und dem Naturgesetz36 entge­ gengesetzt wird, sympathisiert er zugleich mit dem Begriff eines gemeinen Bewusstseins, von dem aus eine gewisse Parallelisierung von Vernunftgesetz und Naturgesetz besteht. Diese Parallelisierung gilt als ein wichtiges Element von Reinholds Freiheitstheorie in Briefe II.37 Denn sie liegt Reinholds Ansatz zugrunde, den Naturtrieb und den reinen Trieb (nämlich die praktische Ver­

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 142. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 136: „Es muß nemlich ein Medium seyn, welches von der einen Seite durch die Vorstellung, gegen welche das Subject sich blos leidend verhält, von der andern durch Spontaneität, deren Bewußtseyn der ausschließende Charakter alles Wollens ist, bestimmbar sey; und dieses Medium nennen wir den Trieb.“ Mit der Übernahme des Triebbegriffs folgt Fichte Reinholds Gedanken von 1789 auch in der Hinsicht, dass die Freiheit durch die Spontaneität und die Form-Stoff-Struktur aufzufassen sei. Die absolute Freiheit äußere sich in der absoluten Spontaneität des Gemütsvermögens, die nicht nur die Form, sondern auch den Stoff hervorbringe. Dieser rein geistige Stoff sei die Idee des schlechthin Rechten. Die absolute Spontaneität sei der praktischen Vernunft zuzuschreiben. Aber diese Position Reinholds von 1789 ist im Grunde genommen kantisch geblieben. Insofern kann man bei Fichtes Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Willensfreiheit und praktischer Vernunft keine regelrechte Abweichung zu Kants Position diagnostizieren, so wie es 1789 bei Reinhold der Fall war. Ich beschränke mich daher im folgenden Text auf einen Vergleich der Offenbarungskri­ tik mit Briefe II. Ich benutze „Naturgesetz“ in einem weiteren Sinne, nämlich Vorschriften, die durch die Sinnesempfindung bedingt sind, ganz so wie Reinhold den Begriff in Briefe II verwendet. Siehe meine Analyse in Teil 3.2.3.

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nunft) zu dematerialisieren und sie gemeinsam der Willkür bzw. der Freiheit gegenüberzustellen. In Fichtes Offenbarungskritik zeigt sich diese Parallelisierung vornehmlich im der folgenden Äußerung „wie der Stoff dieser Vorstellungen, der reingeis­ tig ist, um in’s Bewusstsein aufgenommen werden zu können, durch die uns für Gegenstände der Sinnenwelt gegebnen Formen müsse bestimmt werden“.38 Fichte erklärt an der Stelle nicht explizit, was er mit der Wendung „für Gegen­ stände der Sinnenwelt gegebnen Formen“ gemeint hat, sondern weist lediglich darauf hin, dass diese Formen allgemeingültig seien. Dennoch sind die in diesem Zusammenhang verwendeten Termini „Stoff“, „Objekt“ und „Thatsa­ che“, die ursprünglich in der Sinnenwelt gebraucht werden, selbsterklärend. Sie verweisen auf Bestehen, Fixiertsein und Gesetztsein. Wenn man diese Stelle im Zusammenhang mit der Creuzer-Rezension liest, kann man darauf schlie­ ßen, dass dabei das Bestimmtsein des Moralgesetzes gemeint ist. Denn Fichte erklärt in der Creuzer-Rezension, dass die Selbstbestimmung des Willens nicht erscheint, während das im gemeinen Bewusstsein erscheinende Sittengesetz bestimmt ist und nur auf eine Art bestimmbar ist.39 Fichte geht nicht so weit wie Reinhold in Briefe II, der aus der Bestimmtheit des Moralgesetzes auf eine Trennung zwischen der praktischen Vernunft und der Freiheit schließt; dennoch berücksichtigt er, wie Reinhold, die Spannung zwischen dem Bestimmtsein des Moralgesetzes und der Selbstbestimmung der Freiheit. Er stimmt insoweit mit Reinhold überein, dass sich das Moralgesetz mit der Willkür, welche Fichte als die zweite Äußerung der Freiheit anerkennt, nicht verträgt; wie folgendes Zitat zeigt: „[D] ieses Gesetz nun gebietet, eben weil es Gesetz ist, nothwendig und unbedingt, und da findet keine Willkühr, kein Auswählen zwischen verschiedenen Bestimmungen durch dieses Gesetz statt, weil es nur auf eine Art bestimmt.“40 Des Weiteren betont Fichte die Instanz der Endlichkeit im Triebbegriff da­ durch, dass der Trieb den Bruch zwischen der Vorstellung des Gesetzes und der Verwirklichung desselben als den strukturellen Unterschied des endlichen zum unendlichen Wesen kennzeichnet. Das endliche Wesen steht zwar in der Gewalt der praktischen Vernunft, rein geistigen Stoff zu erzeugen, aber dies be­ trifft nur die ideale Ebene der Willensbestimmung. Um ein wirkliches Wollen zu verursachen, muss zudem ein Realitäts- und Endlichkeitsbezug zustande ge­ bracht werden, und diesen kann die praktische Vernunft aus sich heraus nicht leisten. Dieser Endlichkeitsbezug benötigt neben der idealen Ebene noch eine zweite und eine dritte Ebene der Willensbestimmung. Die zweite Ebene ist die Bezugnahme auf den sinnlichen Trieb. Diese macht Fichte durch den Begriff der Achtung für das Gesetz ganz zentral zum Thema. Als die dritte Ebene gilt 38 39 40

Offenbarungskritik, GA I/1, S. 141. Creuzer-Rezension, GAI/2, S. 9. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 147.

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der Anspruch auf das empirische Bewusstsein der Spontaneität. Diese Ebene thematisiert Fichte hingegen nur knapp, und sie fällt auf den ersten Blick nicht als etwas Besonderes auf – dennoch spielt sie eine sehr wichtige Rolle. Während Kant die dritte Ebene als einen wesentlichen Anteil des Realitäts­ bezugs überhaupt nicht diskutiert, sind diese drei skizzierten Ebenen in Rein­ holds Briefe II benannt, wie ich im letzten Kapitel zu Reinhold gezeigt habe. Sie bleiben aber bei Reinhold unsystematisch und lassen den Leser im Unkla­ ren, v.a. bei der Frage, ob die praktische Vernunft nur die leere Form des Moralgesetzes aufstellt (erste Ebene) oder auch aus sich heraus zusätzlich eine triebhafte Nötigung erzeugt (zweite Ebene). Bei Fichte hingegen ist eine klarere Systematisierung der drei Ebenen und eine einheitliche Rolle der praktischen Vernunft zu erkennen. Der wichtigste Punkt dabei ist, dass Fichte im Bündnis mit Reinhold und im Gegensatz zu Kant das empirische Bewusstsein der Spon­ taneität bzw. die Willkür, nämlich die dritte Ebene, als einen unentbehrlichen Anteil des Wollens ansieht und sie klar von der praktischen Vernunft abgrenzt. Was die zweite Ebene angeht, stellte sich schon im letzten Abschnitt heraus, dass sich Fichte durch den Begriff der „Achtung für das Gesetz“ sehr stark an Kant orientiert. Zahlreiche seiner Aussagen sprechen dafür, dass er die prakti­ sche Vernunft allein als Bestimmungsgrund des moralischen Gefühls betrachtet und damit die praktische Wirksamkeit der praktischen Vernunft zuschreibt. Aber Fichtes Position ist hierbei nicht eindeutig. Im Vergleich zu Kant legt er mehr Gewicht auf die Sinnlichkeit, indem er sie nicht nur als das passive Bewirkte, sondern als das aktive Mitwirkende betrachtet. Der sinnliche Trieb wird nicht eindeutig als der zu besiegende Gegner der praktischen Vernunft, sondern gleichzeitig als ein zu harmonisierender Partner derselben bestimmt. Dieser neue Zusammenhang zwischen praktischer Vernunft und Sinnlichkeit steht der dritten Version der Bestimmung der praktischen Vernunft in Rein­ holds Briefe II nahe: nämlich die praktische Vernunft und Sinnlichkeit als unentbehrliche Bestandteile des sittlichen Triebs zu betrachten. Aber da diese dritte Version bei Reinhold nur nebensächlich und vage ist, ist der innige Zu­ sammenhang zwischen Vernunft und Sinnlichkeit hauptsächlich als eine neue Entwicklung von Fichte zu sehen – dies werde ich in der Untersuchung über die SL41 näher erörtern. Es genügt an dieser Stelle zu erwähnen, dass mit der zunehmenden Gewichtung der Rolle der Sinnlichkeit Fichte wie Reinhold die Funktion der praktischen Vernunft im Hinblick auf die Verwirklichung bzw. Anwendung des Moralgesetzes begrenzen. In dieser Hinsicht wird die Identifi­ kation der praktischen Vernunft mit der Willensfreiheit in Frage gestellt, sollte die letztere nicht nur die ideale, sondern auch die reale Ebene betreffen. Die Begrenzung der Funktion der praktischen Vernunft bei Fichte zeigt sich nicht nur in der zunehmenden Wichtigkeit des sinnlichen Triebs, sondern 41

Teil 4.2, besonders Teil 4.2.3.

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auch in der unentbehrlichen Rolle des empirischen Bewusstseins der Sponta­ neität. Fichte hält das Gefühl der Achtung keineswegs für den Punkt, mit dem die Verwirklichung des Moralgesetzes vollendet ist. Anders als Kant wendet er sich zusätzlich dem empirischen Bewusstsein der Spontaneität zu, welche diese Verwirklichung zu Ende bringt; d. h., selbst die Achtung für das Gesetz wird der Endlichkeit des Menschen noch nicht gerecht. Fichtes Betonung der Endlichkeit reicht bis an das konkrete Wollen und die Handlung heran und geht so über Kants zweite Kritik hinaus. Während es immerhin eine Mehrdeutigkeit bezüglich Fichtes Abweichung von Kant bei der Interpretation der Achtung für das Gesetz gibt, ist Fichtes Ergänzung des empirischen Bewusstseins der Spontaneität, als Bestandteil des wirklichen Wollens, ganz eindeutig eine Hinwendung zu Reinhold. Die kla­ re Unterscheidung der empirischen Spontaneität von der Spontaneität der Vernunft verdankt Fichte nachweislich der Inspiration durch Reinhold. Denn Fichte schreibt selbst in der Creuzer-Rezension: […] Es ist von mehrern Freunden der kritischen Philosophie erinnert, und von Rein­ hold einleuchtend gezeigt worden, daß man zwischen derjenigen Aeußerung der abso­ luten Selbstthätigkeit, durch welche die Vernunft praktisch ist und sich selbst ein Gesetz giebt, und derjenigen, durch welche der Mensch sich (in dieser Funktion seinen Willen) bestimmt, diesem Gesetzte zu gehorchen, oder nicht, sorgfältig zu unterschei­ den habe.42

Fichte hält das empirische Bewusstsein der Spontaneität für den ausschließen­ den Charakter des Wollens. Hinsichtlich der Struktur des Triebs leistet laut Fichte das empirische Bewusstsein der Spontaneität den aktiven Beitrag, wo­ durch das endliche Subjekt sich selbst bestimmt, während dasselbe Subjekt gegen die Vorstellung, sei sie vom Naturgesetz oder vom Vernunftgesetz be­ wirkt, „sich blos leidend verhält“.43 Fichte zeigt ausführlich, dass dieser Beitrag des empirischen Bewusstseins der Spontaneität bei dem sinnlichen Trieb, dem sinnlichen-vernünftigen Trieb und dem sittlichen Trieb ganz gleich vorkommt. Man kann bei dieser Konzeption den Geist der Reinholdschen Theorie der Willkür aus Briefe II leicht wiedererkennen: Der materielle Unterschied zwi­ schen den verschiedenen Gesetzen tritt in den Hintergrund, gleichfalls tut dies der jenem Unterschied zugrundeliegende Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit. In den Vordergrund tritt hingegen die formelle Struktur der Selbstbestimmung oder des Bestimmtseins. Dabei fungiert das empirische Be­ wusstsein als Bezugspunkt, wodurch etwas als selbstbestimmend (bei diesem verhält sich das Subjekt spontan) oder bestimmt (bei diesem verhält sich das Subjekt leidend) beurteilt wird.

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Creuzer-Rezension, GA I/2, S. 7f. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 136.

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Ferner schließt Fichte das empirische Bewusstsein der Spontaneität an die Praktizität der Freiheitsbestimmung an. In der näheren Explikation der Rol­ le des empirischen Bewusstseins beim sinnlichen-vernünftigen Trieb enthüllt Fichte dessen eigentümlichen Charakter, der der gesetzgebenden Spontaneität fehlt — die unmittelbare Wirksamkeit bzw. die Praktizität: Aber mit einer solchen blos mittelbaren Bestimmbarkeit des sinnlichen Triebes durch Spontaneität reichen wir zur Erklärung der wirklichen Bestimmung noch gar nicht aus; denn schon für die Möglichkeit dieser Bestimmbarkeit mußten wir wenigstens ein Vermögen, die durch die Empfindung geschehne Bestimmung des Triebes wenigstens aufzuhalten, stillschweigend voraussetzen, weil ohne dies eine Vergleichung und Un­ terordnung des verschiedenen Angenehmen unter Verstandesgesetze, zum Behuf einer Bestimmung des Willens nach den Resultaten dieser Vergleichung, gar nicht möglich wäre. Dieses Aufhalten nemlich kann gar nicht durch die Urtheilskraft selbst nach Verstandesgesetzen geschehen; denn dann müßten Verstandesgesetze auch practisch seyn können, welches ihrer Natur geradezu widerspricht. Wir müssen demnach den obengesetzten zweiten Fall annehmen, daß dieses Aufhalten unmittelbar durch die Spontaneität geschehe.44

Mit der im obigen Zitat erwähnten „Spontaneität“ verweist Fichte auf den folgenden Absatz und das dort benannte „Bewußtseyn der Selbstthätigkeit im Wollen“.45 Das Praktische dieser Spontaneität im empirischen Bewusstsein be­ steht laut den obigen Ausführungen in der Kraft, die Bestimmung des Triebs aufzuhalten. Hingegen kann die Urteilskraft, die zwar auch über Spontaneität bei der Gesetzgebung46 verfügt, diese praktische Wirkung nicht zustande brin­ gen. Durch den eklatanten Kontrast zwischen den beiden Arten der Spontanei­ tät erhellt sich ein weiterer Punkt, mit dem Fichte an Reinhold anschließt, nämlich die Theoretisierung der gesetzgebenden Vernunft. Bei Fichte betrifft die Theoretisierung bloß die gesetzgebende Vernunft im sinnlich-vernünftigen Trieb, oder mit kantischen Worten, die technisch-praktische Vernunft. Aber da­ mit wertet er wie Reinhold die Wichtigkeit der Willkür in der Willensbestim­ mung auf. Mit all diesen Neugewichtungen gegenüber Kant wird die Willkür als die zweite Äußerung der Freiheit von Fichte anerkannt. Es ist zu beachten, dass sich trotz dieser Ähnlichkeiten Fichtes Position von derjenigen Reinholds unterscheidet. Zum einen identifiziert Fichte die Freiheit nicht mit der Willkür. Denn er berücksichtigt nicht nur den Gesichtspunkt des gemeinen Bewusstseins, sondern behält den transzendentalen Gesichtspunkt weiterhin im Auge und priorisiert sogar den letzteren. Zum anderen modifi­

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 138f. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 139. Das Gesetz an der Stelle ist nicht das Moralgesetz, sondern das Gesetz des Verstandes oder „die Regeln des Systems“ (Offenbarungskritik, GA I/1, S. 137). Fichte bezeichnet die Vernunft, die „den sinnlichen Trieb den Gesetzen des Verstandes gemäß“ bestimmt, als die Urteilskraft (Offenbarungskritik, GA I/1, S. 137). Diese entspricht der Sache nach der technisch-praktischen Vernunft bei Kant.

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ziert er die Bedeutung der Willkür. Für ihn bedeutet die Willkür nicht nur die Wahlfreiheit zwischen der Bestimmung nach dem sittlichen oder nach dem sinnlichen Trieb, sondern auch zwischen mehreren sich widerstreitenden Bestimmungen durch den letzteren. Darüber hinaus opponiert Fichte gegen Reinholds Bezeichnung des sittlichen Triebs als eines uneigennützigen Triebs. Diese Umdeutung der Willkür hängt mit Fichtes neuem Ansatz zusammen, der die Vereinigung des Naturtriebs mit dem sittlichen Trieb ins Zentrum rückt. Dies wird im nächsten Teil konkret erörtert. 4.1.3. Die neue Entwicklung Fichtes Theorie der Willensfreiheit in der Offenbarungskritik kann nicht auf ein bloßes Konglomerat aus Bestandteilen der Theorien Kants und Reinholds reduziert werden. Vielmehr zeigen sich in der Offenbarungskritik allmählich Fichtes erste eigenständige systematische Gedanken. In der Offenbarungskritik wird dies hauptsächlich am Moment der Zusammenführung der Sinnlichkeit mit der Sittlichkeit kenntlich. Aber auch der Zusammenhang zwischen der Be­ stimmtheit des Moralgesetzes und der Formationsbedingung des Bewusstseins47 gilt als der Beginn einer wichtigen theoretischen Entwicklung Fichtes. Dieser Zusammenhang wird in der Offenbarungskritik nur kurz angedeutet; man muss weitere Schriften miteinbeziehen, um den Entwicklungsgang des Den­ kens Fichtes zu fassen. Weil diese Entwicklung für das Verständnis von Fichtes Rezeption und Abgrenzung zu Reinholds Theorie von großer Bedeutung ist, werde ich sie im Folgenden ein wenig näher betrachten. Was die Zusammenführung der Sittlichkeit mit der Sinnlichkeit anbelangt, spielt Fichtes Interpretation der Achtung für das Gesetz eine wichtige Rolle. Obwohl einerseits Fichte in Anlehnung an Kant die Vernunft und die Sinnlich­ keit in das gewöhnliche kausale Verhältnis setzt, bei dem die Vernunft als der einzige Bestimmungsgrund des Willens betrachtet wird, verknüpft er anderseits das Gefühl der Achtung mit dem Triebbegriff, der das kausale Verhältnis durch ein andersartiges Verhältnis, eines zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, ersetzt. Dass es sich beim Trieb hinsichtlich der Achtung fürs Gesetz um ein anders­ artiges Verhältnis als das der Kausalität der Vernunft handelt, erhellt dadurch, dass Fichte beim Triebbegriff einen Bruch zwischen der Vorstellung und der Bestimmung im endlichen Wesen voraussetzt, dies übernimmt er von Rein­ hold. Nur das unendliche Wesen sei in der Lage, sowohl die Vorstellung als auch die Bestimmung durch die Spontaneität hervorzubringen, nämlich die Handlungsweise der Vernunft durch sich allein zu realisieren. Beim endlichen 47

Der reingeistige Stoff muss eine Form des Bestehens oder Bestimmens ebenso wie das sinnliche Objekt haben, um in das Bewusstsein aufgenommen werden zu können (Offen­ barungskritik, GA I/1, S. 141).

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Wesen kann die Vorstellung, die durch die Spontaneität erzeugt wird, nicht direkt eine Bestimmung durch die Spontaneität hervorbringen, sondern sie muss zuerst eine Bestimmung in Form der Affektion zustande bringen. Darüber hinaus verstärkt Fichte die vermittelnde Rolle des Triebs im Ver­ gleich zu Reinhold, was den Trieb zusätzlich von einer kausalen Auffassung fernhält. Im Versuch markiert Reinhold zwar den Bruch zwischen dem Vorstel­ lungsvermögen und der realisierenden vorstellenden Kraft, aber diese orientiert sich an jenem. Nach der Form des Vorstellungsvermögens äußert sich der Trieb entweder der Rezeptivität oder der Spontaneität gemäß. Dabei wird die Bestim­ mung durch die Vernunft von der Bestimmung durch die Sinnlichkeit immer noch klar getrennt. Bei Fichte liefert der Trieb keine Orientierung zwischen der Vorstellung und der Bestimmung. Er gilt lediglich als ein Medium zwischen den beiden. Und weil die Spontaneität und die Rezeptivität bei der Vorstellung oder bei der Bestimmung immer korrelativ vorhanden sind, vermittelt der Trieb auch stets zwischen der Spontaneität und der Rezeptivität. In Übereinstimmung mit der überbrückenden Rolle des Triebs interpretiert Reinhold das Gefühl der Achtung als einen Punkt, „in welchem die vernünftige und die sinnliche Natur endlicher Wesen innig zusammenfließen.“48Auf der einen Seite trägt das Gefühl der Achtung die vernünftige Bestimmung mit sich, auf der anderen Seite benötigt es die Teilnahme der Sinnlichkeit und die Gestalt eines Gefühls, um als treibende Kraft zu wirken. Ferner scheint Fichte den kantischen Rigorismus nicht mehr zu teilen, weil er keine strenge Trennung zwischen der empirischen Form der Achtung und der reinen Form derselben nahelegt, obwohl er die reine Form für theoretisch edler hält. Er priorisiert die Zusammenführung der vernünftigen und sinnli­ chen Anteile im Gefühl der Achtung: Es scheint in der Betrachtung allerdings weit edler und erhabener, sich durch die reine Selbstachtung, – durch den einfachen Gedanken, ich muß so handeln, wenn ich ein Mensch seyn will, als durch die empirische, – durch den Gedanken, wenn ich so handle, werde ich als Mensch mit mir zufrieden seyn können, bestimmen zu lassen: aber in der Ausübung fließen beide Gedanken so innig in einander, daß es selbst dem aufmerksamsten Beobachter schwer werden muß, den Antheil, den der eine oder der andre an seiner Willensbestimmung hatte, genau von einander zu scheiden.49

Fichte zufolge ist die empirische Form der Achtung, nämlich die Selbstzufrie­ denheit, mit der reinen Form derselben, nämlich der reinen Selbstachtung, in der Ausübung des Gesetzes innig verwoben. Im Anschluss daran entwickelt Fichte die positive Bestimmung des sinnlichen Triebs durch das Sittengesetz, „um Einheit in den ganzen, rein- und empirisch-bestimmbaren Menschen zu bringen“.50 Wie es beim Triebbegriff der Fall ist, stützt Fichte diesen Teil 48 49 50

Offenbarungskritik, GA I/1, S. 142. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 143. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 149.

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der Willenstheorie auf die Kluft zwischen Menschen und Gott. Nach Fichtes eigenem Bekunden wehrt sich dieser Teil der Offenbarungskritik gegen den Stoizismus bzw. gegen das Prinzip der Selbstgenügsamkeit in der Sittenlehre, welches die Endlichkeit des Menschen und somit die Existenz Gottes leugnet.51 Fichte leitet die positive Bestimmung des sinnlichen Triebs zur Vereinigung vom Reinen und Empirischen durch den Begriff „Dürfen“ und einen revidier­ ten Begriff der Willkür ein.52 Zunächst steht „Dürfen“ in der Mitte zwischen sinnlichem und sittlichem Trieb, die Kant von vornherein mit seinen Termini „Wollen“ und „Sollen“ durch das Schema von Sinnlichkeit und Übersinnlich­ keit einander entgegensetzt53. „Dürfen“ verweist bei Fichte einerseits direkt auf die Sinnlichkeit (das „Wollen“ bei Kant), indem es sich der Befriedigung des sinnlichen Triebs zuwendet, anderseits ist es nicht dem blinden Trieb ausgelie­ fert, sondern impliziert die Regelung des sittlichen Triebs (das „Sollen“). Eine Vereinigung des sinnlichen mit dem sittlichen Trieb im „Dürfen“ ist dadurch möglich, dass das „Sollen“ das „Wollen“ nicht zu tilgen sucht, sondern ihm einen freien Raum erlaubt. Sodann bedeutet die Regulierung des Moralgesetzes für den sinnlichen Trieb nicht nur eine negative Beschränkung, sondern auch eine positive Berechtigung bzw. ein Recht. In der Berechtigung des sinnlichen Triebs kommt die Willkürfreiheit wie­ derum ins Spiel. „Darf ich nicht wollen, was das Sittengesetz verbietet, so darf ich alles wollen, was es nicht verbietet – nicht aber, ich soll es wollen, denn das Gesetz schweigt ganz; sondern es hängt von meiner freien Willkühr ab.“54 Es liegt nahe, dass die Willkür an dieser Stelle die Wahlfreiheit zwi­ schen verschiedenen Bestimmungen des sinnlichen Triebs bedeutet. Sodann entsteht eine neue Art der Willkürfreiheit des sinnlichen Triebs, die durch die Berechtigung auf Grund des Sittengesetzes gesetzmäßig und gewürdigt wird. Durch das Moment der Würdigkeit und des Rechts, fährt Fichte fort, wird die Anwendbarkeit des Sittengesetzes auf die Sinnenwelt und die Gesetzlichkeit des Glückseligkeitstriebs erklärt. Sodann wird das höchste Gut, als ein für die Menschen unendlich annäherbares und anzunäherndes Ziel abgeleitet. Durch diese Zusammenführung des sinnlichen Triebes mit dem sittlichen Trieb deu­ tet Fichte ein neues Verständnis der Freiheit an, in dem die Freiheit weder dem formellen idealen Vernunftgesetz kompromisslos verpflichtet ist, noch demselben gegenüber gleichgültig gegenübersteht. Sondern es handelt sich um ein quasi-dialektisches Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, bei dem die Vernunft sich entäußert (durch den Bezug auf den sinnlichen Trieb) und zu sich selbst zurückkehrt (durch die Verwirklichung des Gesetzes mittels

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Offenbarungskritik, GA I/1, S. 149. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 149. KrV, B 576. Offenbarungskritik, GA I/1, S. 149.

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des Sinnlichkeitsbezugs). Die Freiheit beruht somit auf einer Synthese der quasi-dialektischen Gegensätzlichkeit von Sinnlichkeit und Vernunft. Ich behaupte hier nicht, dass Fichte bereits in der Offenbarungskritik zu einer systematischen dialektischen Methode gefunden hat, aber die Willens­ theorie enthält dennoch ein über die Offenbarungskritik hinausweisendes syste­ matisches Element in Bezug auf die Zusammenführung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Fichte lenkt seinen Blick auf das Subjekt, für das er mitunter den Ausdruck „Ich“ verwendet, um die Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu vereinigen. „Daß der sinnliche Trieb von einer und der reinsittliche Trieb von der andern Seite im menschlichen Willen sich die Waage halten, ließe sich wohl daraus erklären, weil sie beide in einem und eben demselben Subjecte erscheinen“, so Fichte.55 Das Ich gilt darüber hinaus für Fichte als die Substanz, worauf sich das Gefühl der Achtung unumgänglich bezieht. Die Beziehung auf das Selbst oder das Ich sei für den sittlichen Trieb erforderlich, um ein wirkliches Wollen zu bewirken. Insofern sei die Achtung immer Selbstachtung, was übrigens eine Kritik an Reinholds Bezeichnung des sittlichen Triebs als uneigennützigen Triebs mit sich bringt. Als Substanz ist das Ich auch die Grundlage dafür, dass die reine Form der Selbstachtung mit der empirischen Form der Selbstachtung in der Praxis innig zusammenfließt. Fichtes erste Suche nach einer systematischen Basis für die Vereinigung der Natur mit der Freiheit zeigt sich auch in anderen Publikationen dieser Zeit. In der Creuzer-Rezension entwickelt Fichte die Idee einer „höheren, dritten Gesetzgebung“, die die Harmonie zwischen den Bestimmungen durch Freiheit und denen durch das Naturgesetz erklärt.56 In der Gebhard-Rezension, die im November 1793 veröffentlicht wird, bezeichnet Fichte das Ich als Bewusstsein der Einheit.57 Obwohl Fichte in dieser Phase den Begriff „Ich“ bei Weitem noch nicht vollständig ausgearbeitet hat, lässt sich der Keim einiger Grundge­ danken der Wissenschaftslehre bereits in dieser Zeit finden. Neben der Zusammenführung der Sinnlichkeit mit der Vernunft besteht in der Willenstheorie der Offenbarungskritik ein weiterer Kernpunkt der Entwick­ lung von Fichtes Gedanken. Wie es am Anfang dieses Teils bereits erwähnt wird, geht der Gedankengang von der Bestimmtheit des Moralgesetzes aus. Es hat sich bereits herausgestellt, dass die Betonung der Bestimmtheit des Moral­ gesetzes auf Reinholds Philosophie zurückgeht. Auf Basis der Reinholdschen Gedanken und durch ihre Weiterentwicklung verknüpft Fichte in der Offenba­ rungskritik die Beschaffenheit des Moralgesetzes im gemeinen Verstand mit der Bedingung des gemeinen Bewusstseins, nämlich die Form eines Objekts aufzunehmen.

55 56 57

Offenbarungskritik, GA I/1, S. 145. Creuzer-Rezension, GA I/2, S. 11. Gebhard-Rezension, GA I/2, S. 28.

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In der Offenbarungskritik hat dieser neue Gedanke von Fichte aber bei Weitem noch nicht die systematische Tiefe und Reife der Wissenschaftslehre erreicht. In der Tat ist Fichte nicht konsequent. Denn auf der einen Seite betont er die Erscheinungsform der ersten Äußerung der Freiheit als das unwillkürli­ che Bestimmtsein, auf der anderen Seite meint er, dass das Moralgesetz dem gemeinen Bewusstsein mittels des Gefühls der Freiheit angekündigt wird. Da für das Letztere kein systematischer Bezugspunkt vorliegt und somit der Sach­ verhalt psychologisiert wird, läuft Fichte Gefahr, seinen Beweis der „Tatsache des Bewusstseins“ auf das Reinholdsche Konzept des Bewusstseins der Freiheit zu degradieren. Dieses Konzept trägt eine stark empirische und psychologische Konnotation mit sich und wird von Fichte selbst als unzuverlässig angesehen. Erst in der Creuzer-Rezension, die im Oktober 1793 veröffentlicht wird, stärkt Fichte die Auffassung, dass dem Bewusstsein des Moralgesetzes das Be­ stimmtsein beizulegen ist. Es ist nemlich zu unterscheiden zwischen dem Bestimmen, als freyer Handlung des intelligiblen Ich; und dem Bestimmtseyn, als erscheinendem Zustande des empirischen Ich. – Die oben zuerst genannte Aeußerung der absoluten Selbstthätigkeit des mensch­ lichen Geistes erscheint in einer Thatsache: in dem Bestimmtseyn des obern Begehrungs­ vermögens, welches freylich mit dem Willen nicht verwechselt, aber eben auch so wenig in einer Theorie desselben übergangen werden muß; die Selbstthätigkeit giebt diesem Vermögen seine bestimmte, nur auf Eine Art bestimmbare, Form, welche als Sittengesetz erscheint. Die von jener zu unterscheidende Aueßerung der absoluten Selbstthätigkeit im Bestimmen des Willens erscheint nicht, und kann nicht erscheinen, weil der Wille ursprünglich formlos ist […].58

Es liegt nahe, dass Fichte nunmehr den formellen Unterschied zwischen Selbst­ bestimmung und Bestimmtsein feststellt. Genannt werden an der zitierten Stel­ le nur das Bestimmtsein im Sinne des Sittengesetzes und die Selbstbestimmung der Willkürfreiheit als der zentralen Bedeutung des Willens. Er trennt in der Creuzer-Rezension das Bestimmtsein des Moralgesetzes nicht von der Selbstbe­ stimmung der Willkür als einer Äußerung der Willensfreiheit, sondern von der Selbstbestimmung als der Willensfreiheit überhaupt. Insofern nähert sich hier Fichte Reinholds Position weiter an. Fichte begründet diese Abtrennung dadurch, dass das Moralgesetz durch seine Erscheinungsform im Bewusstsein des gemeinen Verstandes einen Cha­ rakter des Bestimmtseins des Objektes (wie es in der Offenbarungskritik ausge­ drückt wird) – ja der Erscheinung erhält. So überlegen und rein die Vernunft­ gesetze hinsichtlich ihrer ratio essendi in der transzendentalen Perspektive auch sein mögen, müssen sie hinsichtlich ihrer Erscheinungsform im Bewusstsein des gemeinen Verstandes erfasst werden, wodurch sie von der Selbstbestim­ mung abgewandt sind. Insoweit ist der Reinholdsche Geist leicht erkennbar.

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Creuzer-Rezension, GAI/2, S. 9f.

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Anders als Reinhold sieht Fichte eine allgemeinere Gegenüberstellung zwi­ schen dem Bestimmtsein der Tatsache des Bewusstseins und der Selbstbestim­ mung der Freiheit, die er zu der Gegenüberstellung zwischen der Erscheinung und des Übersinnlichen erhebt. Zum einen sieht er, dass nicht nur das Bewusst­ sein des Sittengesetzes, sondern auch das angebliche Bewusstsein der Freiheit, welches in der Tat nur das Bewusstsein der getroffenen Wahl ist, den Charakter des Bestimmtseins und der Erscheinung besitzt. Die Freiheit muss von dieser Art des Bewusstseins getrennt werden, will man konsequent verfahren. Auf­ grund dessen missbilligt Fichte den Reinholdschen Ansatz, die Freiheit durch deren kausale Wirkung mittels der Tatsache des Bewusstseins zu beweisen und die Freiheit als ein Grundvermögen zu bestimmen. Denn dadurch werde die Freiheit in die Reihe der Erscheinungen herabgezogen. Zum anderen trennt Fichte das Bewusstsein des Sittengesetzes nicht nur von der Selbstbestimmung der Willkürfreiheit, sondern auch von der Selbstbe­ stimmung der praktischen Vernunft in der Gebhard-Rezension. Dass Vernunft praktisch ist, bzw. daß praktische Vernunft wirklich ist, sei uns nicht als Tat­ sache des Bewusstseins gegeben, so Fichte.59 Dadurch trennt er die Freiheit konsequent von der Tatsache des Bewusstseins und betont deren intelligiblen Charakter. Fichte sucht nach einem anderen Verhältnis als dem der „Kausalität der Vernunft“, nach einem höheren Prinzip, einer neuen transzendentalen Grund­ lage, um das Bestimmtsein mit der Selbstbestimmung zu vereinigen. Damit entwickelt Fichte neue Identitätsprinzipien. Da es sich bei diesem Bestimmt­ sein und der Selbstbestimmung eigentlich um das gleiche Ich handelt, kommt allmählich das dynamische Bild des Ichs ans Licht. Ferner: Wegen der Tren­ nung zwischen Freiheit und Tatsache des Bewusstseins konzipiert Fichte die Freiheit als eine Tathandlung, die der Tatsache entgegensteht. Dies markiert den wichtigsten Unterschied zwischen Fichte und Reinhold. Diese dynamische Instanz wird sich im Entstehungsprozess der Wissenschaftslehre weiterentwi­ ckeln.60 Daraus wird auf der einen Seite klar, dass Fichte zwar wie Reinhold das Gewicht auf den Unterschied zwischen Selbstbestimmung und Bestimmtsein legt, seine Freiheitstheorie aber keineswegs damit enden lässt. Auf der anderen Seite erweist sich, dass Reinholds Trennung zwischen Selbstbestimmung und Bestimmtsein wichtige Impulse für die Entwicklung der Freiheitstheorie Fich­ tes gibt.

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Vgl. GA I/2, S. 24, 26, 27. Siehe dazu die Erörterungen in der Einleitung zum Teil 4.2 und Teil 4.1.1.

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4.2. Der vierfach gestufte Freiheitsbegriff im System der Sittenlehre von 1798 Im Jahr 1798 veröffentlicht Fichte Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. In diesem Werk leistet Fichte die Deduktion des Prin­ zips der Sittlichkeit und seiner Anwendung. Er entwickelt „einen genetischen Begriff der Freiheit“.61 Diese Entwicklung lässt sich als eine Fortsetzung der Willenstheorie in der Offenbarungskritik ansehen. Wie in dieser Frühschrift von 1793 steht Fichte in der SL weiterhin unter dem Einfluss von sowohl Kant als auch Reinhold. Auf der einen Seite führt Fichte prinzipiell wie Kant die Freiheit mit dem Moralgesetz bzw. mit der praktischen Vernunft zusammen. Auf der anderen Seite legt Fichte wie Reinhold Gewicht auf die Charakteristik der Unbestimmtheit bzw. der Willkürlichkeit bei der Definition und der Reali­ sierung der Freiheit. Darüber hinaus entwickelt Fichte in der SL wie in der Offenbarungskritik eine eigentümliche Freiheitsauffassung, welche die Vereini­ gung von Natur und Vernunft voraussetzt. Abgesehen von diesen Ähnlichkeiten unterscheidet sich die Freiheitstheorie der SL von derjenigen in der Offenbarungskritik in vielerlei Hinsicht. Vor allem ist die SL weiter in die systematische Tiefe vorgedrungen. Schon der Buchtitel verrät, dass die Sittenlehre eine abgeleitete Stellung im System ein­ nimmt, dessen Prinzipien in der Wissenschaftslehre begründet werden. Die Wissenschaftslehre liegt erst seit 1794/1795 vor.62 Sie zeichnet sich durch die Systematisierung der transzendentalen Philosophie vermittels eines einheitli­ chen Prinzips aus – des „Ich“63 nämlich – sowie durch die Vereinigung von Freiheit und Natur. Diese vollzieht Fichte unter dem Einfluss von Kant, Rein­ hold sowie anderen Kritikern Kants. Fichte entwickelt seine Wissenschaftslehre auf der Basis des kantischen trans­ zendentalen Idealismus. Er übernimmt von Kant die kopernikanische Wende, was ihm erlaubt, trotz der Geltendmachung der Naturkausalität im empiri­ schen Bereich die Freiheit zu retten. Außerdem zeigt sich seine Kant-Rezeption im Primat des Praktischen, den er verstärkt und zu einem grundlegenden As­ pekt seiner Wissenschaftslehre entwickelt. Fichte schreibt in der ErE, dass sein „System kein anderes sey als das Kantische“.64 Dennoch nimmt er dazu auch 61 62

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SL, GA I/5, S. 52. Im Jahr 1794/1795 veröffentlicht Fichte die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (GWL). Im Lauf seines Lebens überarbeitet Fichte die Darstellung seiner Wissenschafts­ lehre ständig, sodass insgesamt etwa siebzehn Fassungen entstanden sind. Meine Arbeit beschränkt sich auf eine allgemeine Zusammenfassung der Systematik der Wissenschafts­ lehre und nimmt auf die Ausführungen aus verschiedenen Darstellungen Bezug. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für das höchste Prinzip. In der WLnm heißt es „Wille“, in der BdM „Gott“. Trotz der Unterschiede bleibt das höchste Prinzip der Wissenschaftslehre, nämlich das „Ich“ als „Subjekt-Objekt“, dem Geist nach bestehen. ErE, GA I/4, S. 184.

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Gedanken und Anregungen von anderen Philosophen auf, einschließlich Kriti­ kern Kants.65 Einer dieser unmittelbaren Vorgänger Fichtes ist Reinhold, der den Versuch unternimmt, den auf verschiedene Gebiete aufgeteilten kantischen Kritizismus durch die Zurückführung auf ein erstes Prinzip zu vollenden.66 Ne­ ben Reinhold spielen die Skeptiker Schulze und Maimon ebenfalls eine wich­ tige Rolle für Fichtes philosophischen Werdegang. Maimon bezweifelt Kants Annahme, dass es ein Faktum sei, dass wir Erfahrungssätze haben.67 Schulze wendet direkt gegen Reinhold ein, dass dieser den erklärungsbedürftigen „Satz des Bewußtseins“ als selbstevident voraussetze.68 Damit zusammenhängend richtet sich Schulzes Kritik an der Annahme einer Faktizität, die unabhängig von der Vorstellung existiert, nicht nur gegen Reinhold, sondern auch gegen Kant. Zum Zweck der Widerlegung dieses Skeptizismus69 liefert Fichte eine neue einheitliche Grundlage – das „Ich“ –, das weder als etwas Dinghaftes oder Substanzielles noch als Satz des Bewusstseins, sondern als reine Tätigkeit oder als die Tathandlung70 des Bewusstseins gefasst wird. Mit der nachdrücklichen Betonung der praktischen Tragweite des Prinzips der Philosophie begründet Fichte die theoretische Philosophie durch die praktische Philosophie.71 Das Praktische erhält eine konstitutive Bedeutung für das Theoretische. Durch die 65 66

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Zöller (2013), S. 13–21. In der Vorrede zur Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) schreibt Fichte: „Er ist eben so innig überzeugt, daß nach dem genialischen Geiste Kants der Philosophie kein höheres Geschenk gemacht werden kann, als durch den systematischen Geist Rein­ holds“ (BWL, GA I/2, S. 110). Siehe Maimon (1790/1963), S. 163. Zur Erläuterung Maimons Skeptizismus siehe Radriz­ zani (2013), S. 265–279. Gottlob Ernst Schulze formuliert seine Kritik im anonym veröffentlichten Aenesidemus (1792) unmittelbar gegen Reinholds Elementarphilosophie mit dem Argument, dass deren Ausgangspunkt, der sogenannte „Satz des Bewußtseins“, nicht selbstevident, son­ dern erfahrungsabhängig und begründungsbedürftig sei. Er beschuldigt die Transzenden­ talphilosophie Kants und Reinholds der „Anmaßung der Vernunftkritik“, weil beide Denker eine von der Vorstellung unabhängige Faktizität annehmen. Schulzes Kritik bringt Fichte im Jahr 1793 zur Überzeugung, „daß die Philosophie vom Zustand einer Wissenschaft noch entfernt sey“; vgl. Fichtes Entwurf des Briefs an Wloemer, III/2, S. 14– 17. Im Jahr 1794 veröffentlicht Fichte eine Rezension des Aenesidemus. Darin beginnt er, angeregt von Schulzes Gedanken, die Neufundierung der Philosophie zu konzipieren (Aenesidemus-Rezension, GA I/2, S. 41–67). Imhof (2016), S. 52–70. ZwE, 342 f.; GA I/4, S. 221: „Es ist daher gar nicht so unbedeutend, als es einigen vor­ kömmt, ob die Philosophie von einer ThatSache ausgehe, oder von einer ThatHandlung (d. i. von reiner Thätigkeit, die kein Object voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das Handeln unmittelbar zur That wird). Geht sie von der ThatSache aus, so stellt sie sich in die Welt des Seyns und der Endlichkeit, und es wird ihr schwer werden, aus dieser einen Weg zum Unendlichen und Uebersinnlichen zu finden; geht sie von der ThatHandlung aus, so steht sie gerade auf dem Punkte, der beide Welten verknüpft, und von welchem aus sie mit Einem Blicke übersehen werden können.“ Zur Auslegung des Begriffs „Tathandlung“ siehe Janke (1970), S. 70–83. Vgl. GMS, GA I/2, S. 416; WLnm § 13, IV/2, S. 124–146. Zur Vereinigung der praktischen und theoretischen Philosophie bei Fichte siehe Zöller (2002).

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Einheit der Vernunft begründet Fichte die Vereinbarkeit von Natur und Frei­ heit und baut seine Wissenschaftslehre auf einem einheitlichen Prinzip auf. Dank dieser Systematisierung können die unterschiedlichen Auffassungen der Freiheit, die in der Offenbarungskritik bereits vorliegen, auf einer gemein­ samen Grundlage vereinigt werden. Außerdem wird die Bedeutung der Frei­ heit, die auf die Einheit von Natur und Vernunft abzielt, erweitert und tie­ fer begründet. Eine weitere Eigentümlichkeit der Freiheitstheorie in der SL besteht in ihrer genetischen Methode. Mit „genetisch“ betont Fichte, anders als Kant, die Wie-Frage anstelle der Was-Frage bezüglich der Freiheit. Es geht Fichte nicht bloß darum, was die Freiheit ist, sondern vielmehr darum, wie sich die Freiheit durch unseren Verstand denken lässt, der stets vermittelnd und anknüpfend verfährt.72 Demzufolge wird der Freiheitsbegriff nach dem Denkgesetz des Bewusstseins – das heißt, in Bezug auf die Entgegensetzung und die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt – genetisch abgeleitet; die verschiedenen Bestimmungen der Freiheit werden entsprechend dem Ent­ stehungsprozess des Bewusstseins präsentiert. Schließlich besteht ein letzter Unterschied der Freiheitstheorie zwischen der SL und der Offenbarungskritik darin, dass die Bedeutung der Freiheit im späteren Werk viel reichhaltiger ist. Der Freiheitsbegriff von 1798 beschränkt sich nicht auf die typischen Definitio­ nen von „Wille“ und „Willkür“, sondern die Freiheit wird zuallererst als das Vermögen der Intelligenz definiert, welches sich weder als „Wille“ noch als „Willkür“ einordnen lässt. Ferner wird die Bedeutung der Freiheit in der SL noch in zwei weiteren Hinsichten erörtert, nämlich erstens hinsichtlich der grundsätzlichen Stellungnahme zwischen Idealismus und Dogmatismus und zweitens hinsichtlich der Problematik des Bösen. Die Bedeutung der Freiheit in der SL ist komplex und vielschichtig. Um die Beziehung zwischen der praktischen Vernunft und der Freiheit in dieser Schrift zu begreifen, müssen daher zuerst die unterschiedlichen Ebenen des Freiheitsbegriffs voneinander abgegrenzt werden. Da die Freiheitstheorie in der SL letztendlich ein innig zusammenhängendes System ist, müssen die Zusam­ menhänge zwischen den Ebenen und das allgemeine systematische Verfahren ebenfalls erläutert werden. Diesen Aufgaben widme ich mich in diesem Teil der Arbeit. Meine Untersuchungen haben zum Ziel, sowohl den genetischen 72

SL, GA I/5, S. 52: „Die Freiheit ist, nach Kant, das Vermögen, einen Zustand (ein Seyn und Bestehen) absolut anzufangen. Dies ist eine vortreffliche Nominal-Erklärung. Doch scheint im allgemeinen die Einsicht dadurch nicht viel gewonnen zu haben; denn es sind über die Freiheit beinahe lauter falsche Begriffe im Umlaufe. Es war nehmlich die noch höhere Frage zu beantworten, wie denn ein Zustand schlechthin angefangen werden könne, oder wie sich denn das absolute Anfangen eines Zustandes denken lasse, welches einen genetischen Begriff der Freiheit geben, – diesen Begriff vor unsern Augen erzeugt hätte. Dies ist von uns so eben geleistet worden. Der schlechthin angefangene Zustand wird nicht schlechthin an nichts angeknüpft, denn das endliche vernünftige Wesen denkt nothwendig nur vermittelnd und anknüpfend.“

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Prozess des Begriffs zu ermitteln als auch den Vergleich zwischen Fichte, Kant und Reinhold auszuführen. Meine Darstellung ist in die folgenden fünf Teile gegliedert. In Teil 4.2.1 setze ich mich mit einer eigentümlichen Bedeutung der Freiheit in der SL auseinander, nämlich der Bedeutung, ein unbestimmtes Vermögen der Intelligenz zu sein. Dieses Vermögen lässt sich als eine fundamentale Form der Freiheit begreifen, die eine Versöhnung zwischen der kantischen Willens­ freiheit und der Reinholdschen Willkürfreiheit ermöglicht. Die Freiheit auf dieser Ebene ist weder identisch mit der praktischen Vernunft noch scharf getrennt von ihr. In Teil 4.2.2 stelle ich diejenige Ebene des Freiheitsbegriffs dar, welche die Idee des Prinzips der Sittlichkeit betrifft und die Autonomie bedeutet. Sie versteht sich als Synthese von Vermögen und Gesetz und führt damit auf eine Bedeutung der Freiheit, die im Grunde genommen kantisch ist. Fichte identifiziert die Freiheit auf dieser Ebene zwar mit der praktischen Vernunft, nimmt aber gleichzeitig Elemente der Willkürfreiheit in sie auf und verschiebt so die Bedeutung der praktischen Vernunft. In Teil 4.2.3 erörtere ich den Freiheitsbegriff, der sich auf die Anwendung des Prinzips der Sittlichkeit bezieht. Auf dieser Ebene kulminiert die Eigentümlichkeit der Freiheitslehre von Fichte, die auf der Einheit von Natur und Vernunft basiert. In Teil 4.2.4 befasse ich mich mit Fichtes Verständnis der Freiheit, sofern es das Böse im em­ pirischen Subjekt betrifft. Diesbezüglich entpuppt sich das Verhältnis zwischen Freiheit und praktischer Vernunft als ambivalent: Einerseits nimmt Fichte die Freiheit zum Bösen an, um die moralische Verantwortung zu rechtfertigen; andererseits schreibt er den Grund des Bösen der Trägheit zu, die mit der Freiheit in Spannung steht. Schließlich fasse ich in Teil 4.2.5 die verschiede­ nen Ebenen zusammen und enthülle die gemeinsame Grundbedeutung der Freiheit. Sie ist nämlich die Selbsttätigkeit der Intelligenz und steht nur wegen der unterschiedlichen genetischen Ebenen des Begriffes in unterschiedlichen Verhältnissen zu praktischer Vernunft. 4.2.1. Die erste Ebene: das unbestimmte Vermögen der Intelligenz als die Grundbedeutung der Freiheit Fichte beginnt die Ableitung des Begriffs der Freiheit in § 1 der SL mit dem Selbstbewusstsein, das als „Ich finde mich selbst […]“73 zum Ausdruck kommt. Der Ausgangspunkt dieses Selbstbewusstseins ist eine ursprüngliche Trennung von Subjekt und Objekt, die, so führt Fichte aus, der Aufspaltung von Denken und Wollen entspricht. Da das Denken als die ideale Tätigkeit dem Subjekt angehört, bleibt dem Objekt als Entsprechung nur die reelle Tätigkeit, nämlich das Wollen. Zugleich verknüpft Fichte die Tätigkeiten des Denkens und des 73

SL, GA 1/5, S. 37.

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Wollens mit dem „Ich“ als der einheitlichen Substanz, die ihnen zugrunde liegt. Als Äußerung des Ich erscheint das Wollen durch die erste Selbstreflexi­ on: „Ich finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend“,74 heißt es im ersten Lehrsatz. In der Folge setzt sich Fichte mit dem Phänomen des Wollens auseinander. Damit berührt er einen Punkt der Freiheitstheoriebildung, der zahllose For­ scher bis heute beschäftigt. Fichtes Ansatz hebt sich wie folgt von alternativen Konzeptionen ab. Einerseits wird das Wollen zuerst phänomenologisch aufge­ fasst. Es geht Fichte darum, wie das Wollen gedacht werden muss, wie es dem Bewusstsein erscheint – nicht darum, wie das Wollen ontologisch per se ist. Das Phänomen des Wollens wird deshalb jedoch nicht als ein verzerrender Schein bewertet. Andererseits untersucht Fichte das Wollen nicht als ein isolier­ tes psychologisches Phänomen, sondern verbindet es von vornherein mit der Systematik des Ich. Fichte entfaltet seine Auseinandersetzung mit dem Wollen folgendermaßen: Das Wollen erscheine unmittelbar als ein Absolutes und Erstes, dies sei ein Fak­ tum des Bewusstseins.75 Die philosophische Erklärung für diese Erscheinungs­ weise des Wollens ist, dass das Wollen als die Äußerung des Ich aufgefunden wird. Die Äußerung des Ich impliziert eine Identität, die sich im Denken als die Identität von Denkendem und Gedachtem äußert, beim Wollen als die Identität von Handelndem und Behandeltem äußern soll. Das Wollen muss deshalb als reelles Handeln der Selbstbestimmung gedacht werden.76 Es ist nicht aus irgendeinem anderen, sondern allein aus sich selbst, nämlich aus dem Ich, zu erklären. 77 Die Selbstbestimmung des Wollens begreift sich sodann negativ als von nichts anderem Abgeleitetes, durch nichts anderes Begründetes und durch nichts anderes mittelbar Erkanntes. Positiv ist sie durch das wahre Wesen des Ich näher zu bestimmen. Im Wollen wird etwas Fremdartiges „außer uns“ gedacht.78 Das wahre Wesen ist dasjenige, was nach Abzug von allem IchFremden, das im Wollen gedacht wird, übrigbleibt. Es lässt sich als „absolute Tendenz zum absoluten“79abstrahieren. Das Wollen ist von der Absolutheit des Ich gekennzeichnet. Insofern ist das Wollen in der SL mit dem empirischen Bewusstsein der Spontaneität in der Offenbarungskritik und dem Bewusstsein der Freiheit in Reinholds Briefe II vergleichbar. Denn es handelt sich um ein Faktum des Be­ wusstseins, und dieses Faktum des Bewusstseins hat die Selbstbestimmung zum Inhalt. In der SL ebenso wie in der Offenbarungskritik lehnt sich Fichte an 74 75 76 77 78 79

SL, GA I/5, S. 37. SL, GA I/5, S. 42. SL, GA I/5, S. 40. SL, GA I/5, S. 42. SL, GA I/5, S. 41. SL, GA I/5, S. 45.

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Reinhold dahingehend an, dass er von einem Faktum des Bewusstseins ausgeht und dass er, ebenso wie Reinhold, erstens das Moment der Selbstbestimmung des Wollens als Selbstverursachung entfaltet80 und zweitens den bestimmenden Grund desselben in sich selbst bestehen lässt.81 In der Offenbarungskritik setzt sich Fichte kritisch mit diesem Faktum des Bewusstseins auseinander. Er missbilligt Reinholds Grundüberzeugung, dies für einen ausreichenden Beweis der Freiheit zu halten. Denn ohne zusätzliche Stütze könnte diese Erscheinung der Freiheit auch lediglich eine Täuschung sein, weil sie sich aus einem empirischen Grund erklären lasse. In der SL suggeriert Fichte dann allerdings, dass diese Erscheinung für wahr gehalten werden solle. Bedeutet das, dass Fichte in der SL die kritische Vorgehensweise beiseitesetzt? Keineswegs. Fichte hält den Zweifel stets wach, ob sich diese Erscheinung im Bewusstsein wirklich aus einem Sein erklären lasse. Er stellt fest, dass es keinen schlüssigen Vernunftgrund gegen diese Erklärungsart gebe, aber auch, dass es keinen determinierenden Vernunftgrund für sie gebe. Diese Erscheinung für wahr zu halten, sei dennoch möglich, wenn man sie nicht durch die theoreti­ sche Spekulation, sondern aus dem praktischen Interesse heraus etabliere; zwar nicht im Wissen, aber im Glauben sei eine Fundierung möglich: Wenn man sich nun doch entschließt, diese Erscheinung nicht weiter zu erklären, und sie für absolut unerklärbar, d. i. für Wahrheit, und für unsre einzige Wahrheit zu halten, nach der alle andere Wahrheit beurtheilt, und gerichtet werden müsse, — wie denn eben auf diese Entschließung unsre ganze Philosophie aufgebaut ist — so geschieht dies nicht zufolge einer theoretischen Einsicht, sondern zufolge eines praktischen Interesse; ich will selbständig sein, darum halte ich mich dafür. Ein solches Fürwahrhalten ist ein Glaube. Sonach geht unsre Philosophie aus von einem Glauben, und weiß es […]. Man macht in unsrem Systeme sich selbst zum Boden seiner Philoso­ phie […].82

Dem ist zu entnehmen, dass das Fürwahrhalten der Freiheit im Primat des Praktischen begründet ist, was einen Anschlusspunkt an Kant darstellt.83 Der Primat des Praktischen besteht vor allem auf der systematischen Ebene und impliziert damit eine systematische Tiefe von Fichtes Analyse des Phänomens 80 81

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Briefe II, S. 282; RGS 2/2, S. 193. Der Unterschied besteht darin, dass sich Fichte dabei auf das Ich und auf die Absolut­ heit als Wesen desselben bezieht, die eine weitreichende systematische Bedeutung hat, während Reinhold entweder die Freiheit selbst oder den Begriff „Person“ als Erklärungs­ grund der Freiheit heranzieht. Die beiden Begriffe werden bei Reinhold viel unbestimm­ ter und unsystematischer gebraucht. SL, GA I/5, S. 43. Damit ist nicht gemeint, dass der Primat des Praktischen bei Kant und Fichte identisch ist. Fichte hat dieses Moment viel weiter ausgebaut als Kant, indem er das Praktische als die Grundlage des Theoretischen herausarbeitet. Es gilt, an dieser Stelle zunächst die Ähnlichkeit mit Kant zu erläutern. Unten wird der Unterschied zwischen den beiden erklärt.

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des Wollens. Denn dies ist ein anderer Begründungsweg, als die Freiheit allein auf eine Tatsache des Bewusstseins zu stützen und so quasi als psychologisches Phänomen zu behandeln. Ob man die Absolutheit des Wollens für wahr hält und dem praktischen Interesse den Vorrang gibt, bedeutet für Fichte im We­ sentlichen eine freie Entscheidung zwischen Idealismus und Dogmatismus. Den Unterschied zwischen den beiden Positionen bringt Fichte in der ErE wie folgt zum Ausdruck: Der Dogmatismus leitet die Intelligenz vom Ding an sich ab und stellt somit die Intelligenz in eine durchgehende kausale Linie des Me­ chanismus,84 während der Idealismus eine „ungeheure Lücke“85 zwischen Ding und Vorstellung postuliert und damit die Selbstbestimmung der Intelligenz behauptet. Dort schließt Fichte als transzendentaler Idealist ausdrücklich ein Bündnis mit Kant.86 Handelt es sich dann in Fichtes Analyse um eine bloße Wiedergabe von Kants Theorie? Offensichtlich nicht. Das praktische Interesse bei Kant verweist auf die Freiheit, die den Kern von Moral und Religion ausmacht. Dies gilt zwar grundsätzlich auch für Fichte, doch nimmt dieser eine Akzentverschiebung vor. Kants Ziel ist es, das übersinnliche Gebiet, das von der Sinnenwelt abgetrennt ist, abzusichern und den Anspruch des Moralgesetzes unbedingt zu befestigen. Dabei ist das Moralgesetz als eine Tatsache der Vernunft das A und O. Für Fichte hingegen ist die Tathandlung anstatt der Tatsache der Vernunft der Kernpunkt.87 Wie das obige Zitat zeigt, stellt er den Glaubensakt, welcher vom Bewusstsein begleitet wird, in den Vordergrund. Dementsprechend betrachtet Fichte den bewussten Glaubensakt als den Grundstein der Freiheit. Obwohl Fichte diesen Glaubensakt in der SL nicht ausdrücklich als die Freiheit benennt, entspricht er doch der Bedeutung der Freiheit im Sinn eines Postulates. Die Freiheit ist, wie Fichte gegen Reinholds Position in der CreuzerRezension formuliert, kein Gegenstand eines unmittelbaren Wissens, sondern eines Glaubens.88 Insofern ist die philosophische Entscheidung für den trans­ zendentalen Idealismus in die Bedeutung der Freiheit miteinbezogen. Der Akt „ich will selbständig sein, darum halte ich mich dafür“ entspricht ferner dem selbstsetzenden Akt des Ich bzw. der Intelligenz.89 In § 2 der SL widmet sich 84 85 86 87

88 89

ErE, GA I/4, S. 193. ErE, GA I/4, S. 193. ErE, GA I/4, S. 191. Verweyen (1995), S. XV: „Fichte sieht aber deutlicher als Kant, daß man angesichts dieser Evidenz nicht bei der Behauptung eines bloßen ‚Faktums‘ (der reinen praktischen Vernunft) stehen bleiben darf. Jene ‚Erkenntnis‘ ist nur innerhalb des Entschlusses eines endlichen Vernunftwesens zu unbedingter Selbständigkeit möglich, in dem sich das Ich von aller Geborgenheit in einem vorhandenen und damit geborgten Sein lossagt.“ Creuzer-Rezension, GA I/2, S. 10. Der Zusammenhang zwischen der philosophischen Stellungnahme und der weiteren Bedeutung der Selbstbestimmung des Vernunftwesens erhellt aus dem wohlbekannten Spruch von Fichte „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist“. (ErE, GA I/4, S. 195).

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Fichte der Aufgabe, diesen selbstsetzenden Akt systematisch und genetisch zu erörtern, woraus sich weitere Bestimmungen des Freiheitsbegriffs entwickeln. Fichte rekurriert in seiner Ableitung durchgehend auf die Entgegensetzung und Wechselwirkung von Subjekt und Objekt. Wie oben gezeigt wurde, ist beim Wollen vom objektiven Ich die Rede. Nun wird das Wollen notwendig als Erstes und Absolutes gedacht – und das Wesen des Ich wird auch in diesem Zusammenhang bestimmt. Fichte schreibt die Absolutheit im Wollen einer in­ neren Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen zu und erläutert dies anhand einer Analogie zur Elastizität einer Stahlfeder. Dadurch wird das Ich zwar als eine absolute Tendenz zur Selbsttätigkeit abstrahiert, aber in Form eines Bestehenden und Fixierten. Fichte bemerkt, „ daß das Ich hier lediglich als Object betrachtet wird; nicht aber als Ich überhaupt.“90 Solange das Ich bloß von einem objektiven Blickwinkel aus betrachtet wird, kann von Freiheit noch keine Rede sein. Die absolute Tendenz der Stahlfeder für sich genommen ist ebenso gut wie die „Freiheit eines Bratenwenders“,91 wie Kants berühmte Formulierung lautet, mit der er die täuschende Natur der psychologischen Freiheit herausstellt. Aber das Ich ist nicht durch sein Wesen, nicht durch das Objektive erschöpft. Es wird noch als Subjekt und Intelligenz betrachtet. Wenn die Intelligenz sich der Absolutheit bewusstwird und die absolute Tendenz zur Selbständigkeit als sich selbst setzt, kommt die Freiheit zustande: Das anschauende (intelligente), welches eben durch den postulirten Akt zum intelli­ genten wird, setzt die oben beschriebene Tendenz zur absoluten Thätigkeit, zufolge des Postulats, als – sich selbst; verstehe, als identisch mit sich, dem intelligenten. Jene Absolutheit des reellen Handelns wird sonach hierdurch Wesen einer Intelligenz, und kommt unter die Botmäßigkeit des Begriffs; und dadurch erst wird sie eigentliche Frei­ heit: Absolutheit der Absolutheit, absolutes Vermögen, sich selbst absolut zu machen. — Durch das Bewußtseyn seiner Absolutheit reis’t das Ich sich selbst — von sich selbst — los, und stellt sich hin als selbstständiges.92

Fichte hält die Intelligenz bzw. das Bewusstsein für den Schlüssel, der die Frei­ heit des Vernunftwesens gegen die Zweifel absichert, wie sie in der „Freiheit ei­ nes Bratenwenders“ ausgedrückt sind. Das Selbstbewusstsein ist ausschließlich dem Vernunftwesen zugänglich. Während ein Ding – sei es eine Stahlfeder oder ein Bratenwender oder was auch immer – existiert, ohne selbst von sei­ nem Sein zu wissen, sind beim Vernunftwesen Sein und Bewusstsein immer zugleich gegeben. Durch den Akt des Selbstbewusstseins bzw. der Intelligenz kommt die absolute Tendenz zur Selbsttätigkeit „unter die Botmäßigkeit des Begriffs“. Die Intelligenz wird eins mit der postulierten Absolutheit, sie ist

90 91 92

SL, GA I/5, S. 45. KpV, AA V, S. 97. SL, GA I/5, S. 48.

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somit kein leidendes Zuschauen, sondern verfügt über die „absolute Kraft des Begriffs“,93 die sich frei macht. Die Freiheit der Intelligenz fällt insoweit mit der Bedeutung des obenge­ nannten Glaubensaktes zusammen. Die Identifikation der Intelligenz mit der postulierten Absolutheit ist gleichbedeutend mit der Tathandlung, die Erschei­ nung der Absolutheit des Wollens für wahr zu halten. Daraus erklärt sich, weshalb Fichte das Bewusstsein hervorhebt, wenn die Erscheinung der Absolut­ heit für wahr gehalten werden soll. Nun wird dieses Bewusstsein in § 2 näher erörtert. Die entsprechende Anschauung des Bewusstseins ist kein gewöhnli­ ches, passiv-leidendes Zuschauen, sondern sie wird sich der reellen Tätigkeit unmittelbar bewusst und ist eins mit ihr. Sie ist nämlich die intellektuelle Anschauung.94 Die Freiheit kommt Fichte zufolge also durch die intellektuelle Anschauung zum Vorschein. Daraus ersieht man einen weiteren Unterschied zwischen Kant und Fichte. Während sich Kant beim Beweis der Freiheit auf keine intellektuelle Anschauung stützt und die Freiheit mittelbar als die ratio cognoscendi des Moralgesetzes, auf dessen Bewusstsein Kant verweist, für wahr hält, gründet sich die Freiheit bei Fichte unmittelbar in der intellektuellen Anschauung der Intelligenz. Die letztere beansprucht keinen Bezug aufs Moral­ gesetz und ermöglicht es, den Inhalt des Freiheitsbegriffs zu erweitern. Aber die Freiheit bei Fichte, die sich bezugslos und unmittelbar in der intel­ lektuellen Anschauung einstellt, unterscheidet sich auch von der Freiheit bei Reinhold. Denn bei Reinhold manifestiert sich die Freiheit als eine fixierte und ruhende Tatsache des Bewusstseins – und diese droht, wegen Reinholds po­ pulärphilosophischem Ansatz, einen empirischen, bloß psychologischen Cha­ rakter zu erhalten.95 Dagegen offenbart sich die Freiheit bei Fichte in der intellektuellen Anschauung als einer Tathandlung,96 einem Glaubensakt oder einer reellen Tätigkeit der Intelligenz, die sich selbst setzt. Die Tathandlung der Intelligenz, wie oben zu Beginn von Teil 4.2 erklärt, ist in Fichtes transzenden­ tal-idealistischem System fundiert. Die intellektuelle Anschauung, die der reellen Tätigkeit unmittelbar bewusst ist und sich mit ihr vereinigt, impliziert eine Identität des Subjektiven und des Objektiven. Fichte beschränkt die Ableitung der Freiheit allerdings nicht auf diese Identität, die zwar in der intellektuellen Anschauung unmittelbar einsichtig ist, aber für den Verstand begrifflich dunkel bleiben muss. Denn der diskursive Verstand muss mit den Mitteln von Entgegensetzung und Ver­ 93 94

95 96

SL, GA I/5, S. 45. VnD, GA I/4, S. 277 f.: „Also – die Intelligenz schaut sich selbst an, bloß als Intelligenz oder als reine Intelligenz, und in dieser SelbstAnschauung eben besteht ihr Wesen. Diese Anschauung wird sonach mit Recht, falls es etwa noch eine andere Art der Anschauung geben sollte, zum Unterschiede von der letztern intellectuelle Anschauung genannt.“ Für die detaillierte Analyse siehe Teil 3.2.3 der Arbeit. Vgl. WLnm, GA IV/2, S. 31.

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knüpfung zu Werke gehen und dadurch die begriffliche Klarheit der Freiheit gewinnen. So leitet Fichte den Begriff, gemäß dem genetischen Prozess, weiter ab. Im erstmaligen Selbstbewusstsein, das den Anfang der Entstehung des Be­ wusstseins markiert, entzweien sich Subjekt und Objekt. Die Erörterung der Freiheit im obigen Langzitat betrifft nicht nur die Identifikation von Subjekt und Objekt, sondern ebenso die Entgegensetzung der beiden: „Durch das Be­ wußtseyn seiner Absolutheit reis’t das Ich sich selbst – von sich selbst – los, und stellt sich hin als Selbstständiges.“ Die Freiheit ist in dieser Entgegensetzung von Subjekt und Objekt als die Unabhängigkeit bzw. Unbestimmtheit der Intelligenz vom Sein zu verstehen. Fichte legt den Gegensatz zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit als Ge­ gensatz zwischen der Bestimmbarkeit des Vernunftwesens und der Bestimmt­ heit des Dings aus. Das Ding ist durch das Sein oder seine Natur erschöpft, das heißt vollständig bestimmt. Dank der Intelligenz ist es dem Vernunftwesen hingegen möglich, sich über die Bestimmtheit des Seins zu erheben. Das Ding kann nicht seiner Natur vorausgehen, es ist prädestiniert durch seine Natur; wohingegen die Intelligenz des Vernunftwesens vor seinem Wesen existieren kann. „Das Freie soll sein, ehe es bestimmt ist, — ein von seiner Bestimmtheit unabhängiges Daseyn haben“,97 schließt Fichte. Aber was genau bedeutet die Freiheit im Sinn der Unabhängigkeit von der Bestimmtheit an jener Stelle? Identifiziert Fichte, wie Kant, die Bestimmtheit ausschließlich mit der Naturnotwendigkeit, die Freiheit hingegen mit der prak­ tischen Vernunft? Oder rechnet er, wie Reinhold, auch die Notwendigkeit des Vernunftgesetzes der Bestimmtheit zu und betont somit die Unabhängigkeit von der praktischen Vernunft? Auf der einen Seite lässt sich feststellen, dass die Bestimmtheit bei Fichte nur relativ und perspektivisch als Bestehendes und Festgesetztes beschrieben wird, und zwar durch die Entgegensetzung zum zuschauenden Subjektiven. Selbst das absolute Wesen des Ich lässt sich als bestimmt ansehen. Insofern scheint auch das Vernunftgesetz nicht gegen die Bestimmtheit immun zu sein. Auf der anderen Seite sieht Fichte die Intelligenz des Vernunftwesens, die dem Naturding fehlt, als die Quelle jener Kraft an, die sich von der Bestimmtheit losreißt. Insofern bleiben die Zuordnungen „Natur – Bestimmtheit“ und „Vernunft – Unbestimmtheit“ bestehen. Der Sinngehalt der Bestimmtheit wird erst nach der Einführung des Triebbegriffs klarer wer­ den, weshalb in den entsprechenden Teilen eine genauere Analyse erfolgen wird. Fürs Erste lässt sich feststellen, dass Fichte bei der Auffassung der Unbe­ stimmtheit Elemente sowohl von Reinhold als auch von Kant aufnimmt und zugleich weder mit dem einen noch mit dem anderen völlig übereinstimmt.

97

SL, GA I/5, S. 51.

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Nun entfaltet Fichte die Ableitung des Freiheitsbegriffs jedoch nicht nur auf Basis der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, welche auf eine negative Bedeutung der Freiheit führt. Vielmehr hat der Verstand ebenso die Identität von Subjekt und Objekt zu begreifen, um den Freiheitsbegriff zu generieren. Aber der Verstand, der ausschließlich vermittelnd denkt, kann die Idee des „Subjekt-Objekt“ nicht direkt, sondern nur vermittelst der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt erfassen. Die Freiheit, die auf diese Weise zustan­ de kommt, erweist sich zunächst als die Kausalität des Subjekts auf das Objekt, das heißt als die Wirkung des Begriffs oder des Denkens auf das Sein. Fichte erörtert diese These noch eingehender. Durch den diskursiven Ver­ stand werde das Sein entweder mit einem anderen Sein oder mit einem Gedan­ ken verknüpft. Bei der Verkettung des Seins mit einem anderen Sein ergebe sich immer die Notwendigkeit, denn diese Reihe sei stets gebunden, das Den­ ken bleibe leidend zuschauend und könne sich daher nicht zu einem selbsttäti­ gen Hervorbringen erheben. Wenn sich das Sein aber mit einem Denken kausal verknüpfe, schaue das Denken nicht leidend zu, sondern bringe reelle Tätigkeit hervor. Die Agilität der Intelligenz bringe ihr Sein unter etwas, das höher als alles Sein sei. Fichte betrachtet diese Kausalität des Subjekts auf das Objekt als das Merkmal des Vernunftwesens. Den entscheidenden Unterschied zwischen Vernunftwesen und Ding illustriert Fichte analogisch: Er hängt nicht daran, ob man seine Beweglichkeit einem inneren Grund zuschreiben darf (denn selbst die Stahlfeder hat einen inneren Trieb) oder ob man die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der Bewegung wegdenken darf (dann wäre die Bewegung der Stahlfeder dem blinden Zufall ausgeliefert) – sondern er hängt daran, ob sich der erste innere Grund endgültig auf ein Denken bzw. einen Begriff zurückfüh­ ren lässt. Nur die Intelligenz des Vernunftwesens verfügt über das Vermögen, den Begriff zu entwerfen und ein Sein durch einen Begriff hervorzubringen. „Das Freie ist als Intelligenz mit dem Begriffe seines reellen Seyns, vor dem reel­ len Seyn vorher, und in dem erstern liegt der Grund des zweiten“,98 formuliert Fichte gleichsam als Definition der Freiheit an dieser Stelle. Das Vermögen der Intelligenz, das Sein selbständig hervorzubringen, setzt voraus, dass das Bewusstsein nicht wiederum durch das Sein bestimmt wird. Dies bezieht sich wieder auf den Standpunkt des Idealismus und auf den Glau­ ben an die Selbsttätigkeit. Daraus erhellt, dass die Bedeutung des Glaubensaktes in den genetischen Begriff der Freiheit stets einbezogen ist. Aber es ist zu beachten, dass sich der Begriffsinhalt der Freiheit nunmehr weder im Glaubens­ akt bei der philosophischen Stellungnahme noch in der Selbstreflexion der intellektuellen Anschauung erschöpft. Die Bedeutung der Freiheit wird dem diskursiven Verstand angepasst und bezieht sich auf konkretere Handlungen.99 98 99

SL, GA I/5, S. 51. „Konkretere“ bedeutet hier, dass die Handlungen im Vergleich zu philosophischen Stel­ lungnahmen oder zur Selbstreflexion der intellektuellen Anschauung weniger abstrakt

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Es handelt sich um das Vermögen der Intelligenz, einen Begriff des reellen Seins vor dem reellen Sein hervorzubringen und dadurch eine dem Begriff entsprechende Änderung in der Realität zu bewirken – obwohl der Begriff der Realität noch nicht in Bezug auf das sinnliche Objekt bestimmt wird.100 Die Freiheit, wie sie auf dieser Stufe zu verstehen ist, bezieht sich nur auf ein reines Vermögen der Intelligenz, sie lässt sich noch nicht mit der prakti­ schen Vernunft identifizieren. Obwohl Fichte hinsichtlich ihrer systematischen Bedeutung die Termini „Intelligenz“ und „Vernunft“ an einzelnen Stellen aus­ tauschbar verwendet,101 differenziert er die beiden Begriffe im Fortgang der Ableitung der Sittenlehre meistens voneinander. Fichte verwendet den Begriff der praktischen Vernunft im Anschluss an Kant, sodass die praktische Vernunft mit der Gesetzgebung zusammengedacht wird. Das Wesen der Vernunft kann nicht bloß problematisch, sondern muss kategorisch gesetzt werden.102 Die Selbständigkeit der Intelligenz ist demgegenüber lediglich ein unbestimmtes Vermögen: Hast du durch die beschriebnen Merkmale die Selbstständigkeit gedacht, als Wesen der Vernunft. Keineswegs; sondern lediglich ein leeres unbestimmtes Vermögen der Selbstständigkeit.103

Man kann hierin leicht einen Anknüpfungspunkt an Reinholds Freiheitstheo­ rie finden. Das Vermögen ist hier unbestimmt, die Kausalität wirkt einseitig vom Subjekt aufs Objekt. Das unbestimmte Vermögen der Intelligenz bedeutet lediglich, aus dem Begriff ein reelles Sein hervorgehen lassen zu können, ohne dass dabei vorgeschrieben wäre, um was für einen Begriff es sich handelt. Insofern ist die Bedeutung der Willkürlichkeit präsent, auch wenn diese nicht als Wahlfreiheit artikuliert wird. Fichte stützt die Freiheit nicht auf das Moral­ gesetz als ratio cognoscendi, sondern auf den Glauben an die Unbedingtheit der Intelligenz. Dieser Freiheitsbegriff ist darum nicht fest an das Moralgesetz gebunden. Die Intelligenz muss nicht den Anspruch des Moralgesetzes erfüllen, sondern nur den Entwurf eines beliebigen Zweckbegriffs leisten, um sich als

sind. Sie betreffen nämlich den Begriffsentwurf für eine mögliche Handlung. Aber sie beziehen sich nicht zwangsläufig auf das konkrete Objekt in der Sinnenwelt und ein bestimmtes wirkliches Wollen, die erst später abgeleitet werden. Um dieses Missverständ­ nis zu vermeiden, spreche ich hier von „konkreteren Handlungen“ statt „konkreten Handlungen“. 100 SL, GA I/5, S. 63: „Ein Vermögen ist so etwas, an welches als an seinen Grund, durch ein wirkliches Sein bloß anknüpfen kannst, wenn es dir etwa außerdem gegeben wäre, nicht aber daraus herleiten mußt. Es liegt in diesem Begriffe nicht das geringste Datum, daß eine Wirklichkeit und was für eine zu denken sei.“ 101 SL, GA I/5, S. 21: „Einen solchen Punkt nun stellt unser System auf, und geht von demselben aus. Die Ichheit, die Intelligenz, die Vernunft, — oder wie man es nennen wollen, ist dieser Punkt.“ 102 SL, GA I/5, S. 63. 103 SL, GA I/5, S. 63.

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Freiheit zu qualifizieren. Denn „eine Intelligenz ist nothwendig frei“.104 Rein­ hold betrachtet die Willkür auch als ein Vermögen, das mit Vernunft optiert. Die diesbezügliche Vernunft bei Reinhold ist keine praktische Vernunft, son­ dern eine Form von Reflexion oder Überlegung, die der Intelligenz bei Fichte ähnelt. Die Gemeinsamkeit mit Reinhold schließt allerdings nicht aus, dass sich Fichte auch an Kant anlehnt. Fichte bestimmt, wie Kant, die positive Bedeu­ tung der Freiheit durch die Kausalität. Es gilt nicht nur, die Handlung auf ein Denken zurückzuführen, sondern auch die Bestimmung des Denkens kau­ salitätsmäßig weiter abzuleiten; bei Kant wird dies als „Bestimmungsgrund des Willens“ thematisiert. Dass das Vermögen der Intelligenz an dieser Stelle der Ableitung noch unbestimmt ist, bedeutet für Fichte nicht, dass es alle weitere Bestimmung von sich ausschließt und ein völlig leeres, unbestimmtes Vermö­ gen bleiben muss. Im Gegenteil, in der darauffolgenden Ableitung in § 3 leitet Fichte die Gesetzmäßigkeit des Denkens ab und führt so das Vermögen mit dem Moralgesetz zusammen. Auf der gegenwärtigen Stufe hat Fichte zwar diese Ableitung noch nicht ausgeführt, doch deutet er bereits den Zusammenhang zwischen dem unbestimmten Vermögen und der Vernunft an, indem er den Terminus „Intelligenz“ anstatt „Willkür“ verwendet. Er erörtert die Intelligenz als diejenige Eigenschaft des Vernunftwesens, die es zur Reflexion befähigt und die dem Naturmechanismus entgegengesetzt ist. Diese Bedeutung steht im Einklang mit der praktischen Vernunft, das Vermögen der Intelligenz gilt als die Basis für die praktische Vernunft. Nur wenn das Vernunftwesen das Vermögen hat, die Handlung durch die Reflexion und den Begriff zu steuern, kann es das Moralgesetz für sich aufstellen und befolgen. Es stellt sich somit heraus, dass die Freiheit bei Fichte als unbestimmtes Vermögen der Intelligenz sowohl mit der Willensfreiheit von Kant als auch mit der Willkürfreiheit von Reinhold verträglich ist. Aber mit dieser Auffassung der Freiheit geht Fichte weder so weit wie Kant, der die Freiheit mit der praktischen Vernunft identifiziert – noch pflichtet er Reinhold bei, der die Freiheit radikal von der praktischen Vernunft abgrenzt. Vielmehr handelt es sich bei Fichtes Freiheitsauffassung um die Selbsttätigkeit der Intelligenz, die sowohl an der Willkürfreiheit Reinholds als auch an der Willensfreiheit Kants teilhat. Somit stellt Fichte eine weitere Bedeutung der Freiheit auf, die eine gemeinschaftliche Grundlage dafür bietet, zwischen den widerstreitenden Posi­ tionen zu vermitteln. Trotz des vermittelnden Charakters ist Fichtes Auffassung der Freiheit nicht das Ergebnis eines Eklektizismus; sie geht vielmehr von der Wissenschaftslehre aus und leitet ihren Begriff genetisch ab. Die Freiheit als das unbestimmte Vermögen der Intelligenz kann bei Fichte weder auf eine Fusion von Kants Willensfreiheit und Reinholds Willkürfreiheit noch auf eine 104

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SL, GA I/5, S. 51.

gemeine psychologische Freiheit reduziert werden. Sie ist nur systematisch zu verstehen, indem man sie im Zusammenhang begreift, zum einen mit dem Glaubensakt bezüglich der idealistischen Stellungnahme, zum andern mit der sich-selbst-setzenden Tätigkeit der intellektuellen Anschauung. 4.2.2. Die zweite Ebene: die Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft in Hinsicht auf das Prinzip der Sittlichkeit In § 3 der SL führt Fichte, wie geschildert, die Ableitung des Freiheitsbegriffs weiter, indem er die Kausalität zwischen Subjekt und Objekt in diesen inte­ griert. Dadurch entsteht eine zweite Ebene im Freiheitsbegriff, die sich auf die Synthese von Freiheit und Gesetz bezieht. Diese Synthese gilt als der Kern des Freiheitsbegriffs bei Kant. Somit verfolgt Fichte eine kantische Auffassung der Freiheit und identifiziert die Freiheit mit der praktischen Vernunft. Auch wenn Fichtes Freiheitsverständnis auf dieser Ebene grundsätzlich kantisch ist, geht seine Ableitung anders vor: Zum einen leitet Fichte den Freiheitsbegriff auf der Basis der Wissenschaftslehre ab, zum anderen integriert er einige Elemente von Reinholds Freiheitstheorie in seine Ableitung. Es wurde bereits dargestellt, dass Fichte die Freiheit zunächst als Selbsttätig­ keit der Intelligenz definiert. Auf den ersten Blick scheint die Synthese der Freiheit mit dem Gesetz dieser ersten Definition der Freiheit zu widersprechen. Während die Freiheit auf der ersten Ebene lediglich ein unbestimmtes Ver­ mögen des Begriffs ist und der Kausalität des Subjektiven auf das Objektive entspricht, wird bei der Herleitung der Freiheit auf der gegenwärtigen Ebene eine entgegengesetzte Beschaffenheit (die Bestimmtheit des Triebs) und eine konträre Kausalität (die des Objektiven auf das Subjektive) miteinbezogen. Die­ se Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, besonders sofern sich die Bestimmtheit auf das Moralgesetz bezieht, bildet den Fokus von Rein­ holds Freiheitstheorie. Fichtes Nähe zu Reinhold zeigt sich daran, dass er diese Spannung durch die konträren Kausalitätsrichtungen zwischen Subjekt und Objekt verdeutlicht und vom unbestimmten Vermögen der Intelligenz als der ursprünglichen Definition der Freiheit ausgeht. Trotz dieser anfänglichen Nähe zu Reinhold gelangt Fichtes Behandlung der Freiheit hinsichtlich der Beziehung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmt­ heit zu anderen Ergebnissen. Reinhold schließt aus dieser Gegensätzlichkeit auf die Trennung der Freiheit vom Gesetz. Er weist es zurück, den Freiheitsbegriff durch die Verknüpfung mit einem objektiven Grund weiter zu bestimmen, weil für ihn damit die Unbestimmtheit der Freiheit aufgehoben würde. Da Reinhold jeglichen objektiven Bezugspunkt ausschließt, gerät er jedoch in die Schwierigkeit, wie er die positive Freiheit begreiflich machen könnte – was wiederum für die Abgrenzung seiner Position vom Äquilibrismus erforderlich

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ist.105 Die Deduktion bei Reinhold stützt sich nicht auf ein philosophisches System, sondern hauptsachlich auf einen populären moralpsychologischen An­ satz106 und auf eine reductio ad absurdum bezüglich der moralischen Zurechen­ barkeit.107 Fichte schlägt hingegen den Weg ein, den Freiheitsbegriff durch eine Ver­ knüpfungskette, nämlich durch die kausale Beziehung zwischen dem Subjekti­ ven und dem Objektiven, immer umfassender zu begreifen.108 In der bisherigen Ableitung ist vom Subjektiven ausgegangen worden, in der Fortführung nun muss das Objektive an das Subjektive angeknüpft werden. Ferner impliziert das unbestimmte Vermögen der Intelligenz nur eine Möglichkeit, die ohne weiteren Bezug auf die Wirklichkeit, die ja Bestimmtheit voraussetzt, leer blie­ be. Fichte vertritt die kantische Position und bejaht das Zusammenbestehen der Unbestimmtheit mit der Bestimmtheit, im Sinn einer Einbeziehung der Kausalität bzw. der Gesetzmäßigkeit in die Bestimmung des Freiheitsbegriffs. Kant versteht die Freiheit von vornherein als eine Art der Kausalität, wenn er den Freiheitsbegriff im Antinomie-Abschnitt der KrV einführt.109 Durch die Rückführung der Ursache geht Kant in einem Schritt von der Kausalität des Subjektiven auf das Objektive110 (die Kausalität des Willens auf die Handlung in der Erscheinung) zur Kausalität des Objektiven auf das Subjektive (die Kau­ salität des objektiven Natur- oder Moralgesetzes auf den Willen); seinen Fokus legt er auf die zweite Art der Kausalität. Entscheidend für die Freiheit bei Kant sind nicht Unbestimmtheit und Bestimmtheit hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, sondern ob die Bestimmung einen übersinnlichen oder sinnlichen Bestimmungsgrund zur ersten Ursache hat. Das Moralgesetz entspricht trotz der Bestimmtheit dem Wesen der Frei­ heit, weil es einen reinen apriorischen Ursprung hat und von allen empirischen Bedingungen unabhängig ist. Darüber hinaus manifestiert sich die Freiheit Kant zufolge nur in der bestimmten Form des Moralgesetzes als ein Faktum der Vernunft. Fichte übernimmt von Kant diese Synthese der Freiheit mit dem Gesetz, aber er leitet diese Synthese selbständig aus der Wissenschaftslehre ab. Seine Ablei­ tung basiert nicht auf dem Dualismus von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit, 105 106 107 108 109 110

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Die detaillierte Analyse wurde in Teil 3.2.6 der Arbeit gegeben. Siehe Teil 3.2.1, 3.2.3 und 3.2.6 der Arbeit. Siehe Teil 3.2.4 der Arbeit. SL, GA I/5, S. 56. KrV, B472. Hierzu werden die terminologischen Gegensätze „subjektiv – objektiv“ und „Bestimmt­ heit – Unbestimmtheit“ in dem Sinn verwendet, wie sie Fichte in der SL gebraucht, um einen Vergleich zwischen Kant und Fichte zu erleichtern. Kant selbst verwendet „sub­ jektiv“ und „objektiv“ nicht in diesem Verhältnis. Er verwendet auch „Bestimmtheit“ und „Unbestimmtheit“ nicht buchstäblich und hat ein anderes Verständnis von diesem Gegensatz.

sondern auf der Wechselwirkung zwischen dem Subjektiven und dem Objek­ tiven, wodurch die Spannung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit be­ rücksichtigt wird.111 Im Gegensatz zu Kant geht Fichte nicht vom Moralgesetz als einer Tatsache des Bewusstseins aus, sondern zeigt, wie diese Tatsache des Bewusstseins überhaupt erst generiert wird. Im Einzelnen erörtert Fichte die Synthese von Freiheit und Gesetz wie folgt. Der diskursive Verstand kann das Ich als Subjekt-Objekt = X nicht direkt erfas­ sen, sondern das Subjektive und das Objektive immer bloß nebeneinander und nacheinander begreifen. Nach diesem Denkgesetz muss man sich der unbegreiflichen Einheit von Subjekt-Objekt durch die Kausalität des Subjekti­ ven auf das Objektive und wiederum durch die Kausalität des Objektiven auf das Subjektive schrittweise annähern.112 Daraufhin beginnt die Ableitung mit einem Subjektiven, und zwar der Ansicht des Ich als Intelligenz. Durch die Kausalität des Subjektiven auf das Objektive wird die Freiheit als das Vermögen der Intelligenz abgeleitet. Jetzt muss der diskursive Verstand das Subjektive mit dem Objektiven weiter verknüpfen, um auf dem Gedankenweg zum Sub­ jekt-Objekt voranzuschreiten. Das objektive Ich wurde oben schon durch eine Tendenz zu absoluter Tätigkeit charakterisiert. Diese Tendenz wird nun als Er­ klärungsgrund derjenigen Tätigkeit des Ich gedacht, die bereits als die Tätigkeit der Intelligenz abgeleitet wurde. Das Objektive ist dann ein Trieb, der von der Substanz des Ich abgesondert wird und die Tätigkeit des Ich antreibt.113 Sonach entspricht die Kausalität des Objektiven auf das Subjektive der Be­ stimmung der Intelligenz durch den Trieb. Daraus folgt ein bestimmter Gedan­ ke, nämlich das Bewusstsein des Gesetzes. Fichte leitet das Gesetz wie folgt ab: Zuförderst, denke man das Subjective durch die Objectivität bestimmt. Das Wesen der Objectivität ist ein absolutes, unveränderliches Bestehen. Dies auf das Subjective angewandt, giebt ein beharrliches unveränderliches, oder mit einem andern Worte, ein gesetzlich nothwendiges Denken. Nun ist der bestimmende Trieb der zur absoluten Selbstthätigkeit. Als Inhalt des abgeleiteten Gedankens ergäbe sich sonach dies, daß die Intelligenz, sich selbst das unverbrüchliche Gesetz der absoluten Selbstthätigkeit geben müßte.114 111

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Wie oben erläutertet, wird die Unbestimmtheit als Kausalität des Subjekts auf das Ob­ jekt und die Bestimmtheit als die des Objekts auf das Subjekt gedeutet. Unbestimmtheit und Bestimmtheit werden somit direkt entgegengesetzt. SL, GA I/5, S. 56: „Die Ichheit bestehet in der absoluten Identität des subjectiven, und des objectiven (absoluter Vereinigung des Seyns mit dem Bewußtseyn, und des Bewußt­ seyns mit dem Seyn) wird gesagt. […] Kann nun irgend jemand diese Identität, als sich selbst, denken? Schlechterdings nicht; denn um sich selbst zu denken, muß man ja eben jene Unterscheidung zwischen Subjectivem, und Objectivem vornehmen, die in diesem Begriffe nicht vorgenommen werden soll. Ohne diese Unterscheidung ist ja überhaupt kein Denken möglich. — So denken wir nie beides zusammen, sondern neben einander, und nach einander; und machen durch dieses Nacheinander Denken, wechselseitig eins von dem andern abhängig.“ SL, GA I/5, S. 56. SL, GA I/5, S. 61.

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In Übereinstimmung mit Reinhold unterstreicht Fichte die Bestimmtheit des Vernunftgesetzes, indem er diese als die Bestimmung des Subjektiven durch die Objektivität charakterisiert. Der Trieb wird als wesentlich, bestehend und unaustilgbar gesetzt. Die beharrliche, unveränderliche Objektivität des Triebs überträgt sich auf das Denken und verleiht ihm eine Form der Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit des Vernunftgesetzes ähnelt insofern der Notwendigkeit des sinnlichen Objekts. Das entspricht Fichtes Aussage in der Offenbarungs­ kritik, dass der Stoff der reinen geistigen Vorstellung – das ist die Idee des schlechthin Rechten – durch die Formen, die uns für sinnliche Gegenstände ge­ geben sind, bestimmt werden muss, um ins Bewusstsein aufgenommen werden zu können.115 Fichte weist allerdings Reinholds Ansicht zurück, die Notwendigkeit des Vernunftgesetzes mit der Naturnotwendigkeit auf dieselbe Stufe zu stellen, zumindest was ihre Beziehung zur Freiheit betrifft. Dagegen akzentuiert er, wie auch Kant, den Unterschied zwischen den beiden Arten von Notwendig­ keit. Fichte macht darauf aufmerksam, dass sich der Trieb nicht nur auf das objektive Ich, sondern auf das ganze Ich bezieht. Das subjektive Ich wurde bereits als Intelligenz gesetzt, und die gegenwärtige Reflexion soll auf ihm beruhen. Durch die Intelligenz steht das Ich bereits unter der Herrschaft des Begriffs, die die Äußerung des Triebs auf das ganze Ich von der mechanischen Notwendigkeit der Natur unterscheidet: Wie aber dieser Trieb auf das ganze Ich sich äußere, läßt hier sich schlechthin nicht be­ stimmen; um so weniger, da ja dasjenige selbst, worauf er geht, absolut unbegreiflich ist. Nur negativ läßt sich soviel sagen, daß er nicht mit Nothwendigkeit, und mecha­ nischem Zwange treiben könne, da ja das Ich, als subjectives, welche Subjectivität zum Ganzen ja wohl mitgehört, seine Thatkraft unter die Botmäßigkeit des Begriffs gebracht hat, der Begriff aber schlechthin nicht durch einen Trieb, noch durch irgend etwas ihm Ähnliches, sondern nur durch sich selbst bestimmbar ist.116

Ferner differenziert Fichte zwei Arten, wie das Subjektive durch das Objektive bestimmt werden kann, die von Reinhold nicht unterschieden und der Freiheit gleichmäßig entgegengesetzt werden. Die Art der Bestimmung des Subjektiven durch das Objektive, welche die Bestimmtheit der Natur betrifft, entspricht der Äußerung des Triebs auf das objektive Ich. Aus dieser Art von Bestimmung folgt ein Gefühl. Beim Gefühl hängt das Subjektive bloß leidend vom Objekti­ ven ab, bei ihm ist keine Agilität der Intelligenz am Werk. Das Gefühl drängt sich auf. Das Sittengesetz aber nimmt eine andere Art der Bestimmung des Subjektiven durch das Objektive vor, weil der Trieb dabei auf das ganze Ich geht. Wegen der Anwesenheit der Intelligenz im ganzen Ich geht aus dieser Bestimmung ein Gedanke statt eines Gefühls hervor. Der Gedanke unterschei­ det sich dadurch vom Gefühl, dass er eine Bestimmtheit in der Form, nicht 115 116

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Offenbarungskritik, GA I/2, S. 141. SL, GA I/5, S. 57.

in der Materie; eine Bestimmtheit in Gedanken, nicht in der Wirklichkeit; kurzum ein Sollen und kein Sein betrifft. Der Gedanke integriert den Begriff der Intelligenz und drängt sich, im Gegensatz zum Gefühl, nicht auf: Der abgeleitete Gedanke dringt sich, wie nachgewiesen ist, nicht etwa unbedingt auf, welches völlig unbegreiflich wäre, und den Begriff einer Intelligenz aufhöbe, noch ver­ mittelst eines Gefühls, oder des Etwas, sondern er ist die Bedingung, die nothwendige Weise eines freien Denkens.117

Obwohl Fichte die Bestimmtheit des Sittengesetzes einräumt, reduziert er das Sittengesetz nicht auf die Kausalität des Objektiven auf das Subjektive. Stattdes­ sen weist er darauf hin, dass die Kausalität des Subjektiven auf das Objektive ebenso beim Sittengesetz präsent ist. „Du mußt sonach dies Festgesetztseyn so gedacht haben, daß das Denken der Freiheit dabei doch auch möglich blieb“,118 so Fichte. Man muss sich das Subjektive als bestimmt durchs Objektive, und das Objektive als bestimmt durchs Subjektive denken. Das Gesetz ist bestimmt, aber das bestimmte Gesetz wird durch das unbestimmte Vermögen der Intelli­ genz hervorgebracht. Die Gesetzgebung ist nur dadurch möglich, dass man sich als freie Intelligenz betrachtet. Im Fortgang nimmt Fichte zwei weitere Begriffsbestimmungen vor. Die erste von beiden rückt Fichte näher an Kant. Fichte unterscheidet das Sittengesetz nicht von der Gesetzgebung der Intelligenz, sondern betont die Einheit der beiden. Das Sittengesetz ist nur durch Freiheit möglich, und die Freiheit wiede­ rum muss sich notwendig als Sittengesetz äußern. Das erstere entspricht der Kausalität des Subjektiven auf das Objektive, und das letztere entspricht der Kausalität des Objektiven auf das Subjektive. Man muss zwar die beiden Kausa­ litäten nebeneinander und nacheinander denken, doch die Kompatibilität der beiden lässt sich durch das Ich als die Einheit von Subjektivem und Objektivem erklären. Die Wechselwirkung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist bloß die Weise, wie sich der Verstand der Einheit des Subjekt-Objekt annä­ hert. Die beiden Kausalitäten, also die Freiheit und das Sittengesetz, sind im ursprünglichen Ich eins: Ich denke es als Eins, indem ich es in der angeführten Bestimmtheit wechselseitig durcheinander bestimme, (nach dem Gesetze der Wechselwirkung,) die Freiheit den­ ke, als bestimmend das Gesetz, das Gesetz, als bestimmend die Freiheit. Eins wird ohne das andere nicht gedacht, und wie das eine gedacht wird, wird auch das andere gedacht.119

Die Freiheit als die Synthese von Vermögen und Gesetz entspricht der Bedeu­ tung der praktischen Vernunft. Die Vernunft ist in der Selbstanschauung eine Tätigkeit; aber diese Tätigkeit wird bestimmt und an das Gesetz gebunden, weil 117 118 119

SL, GA I/5, S. 67. SL, GA I/5, S. 63. SL, GA I/5, S. 64.

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die Vernunft endlich ist. „So ist die Vernunft durch sich selbst bestimmend ihre Thätigkeit; aber — eine Thätigkeit bestimmen, oder praktisch sein, ist ganz dasselbe“, ergänzt Fichte.120 Die praktische Vernunft nimmt keinen fremden Zweck in sich auf, sondern setzt für sich einen Zweck aus sich selbst. Dadurch ist sie vollkommen unbestimmbar durch irgendetwas außer ihr, und vollkom­ men bestimmt durch sich selbst. Aufgrund dessen setzt Fichte, ebenso wie Kant, die Willensfreiheit auf dieser Ebene mit der praktischen Vernunft gleich. Mit der zweiten Begriffsbestimmung betont Fichte den Vorrang der Unbe­ stimmtheit mit Blick auf den Freiheitsbegriff und unterscheidet zwischen dem Moralgesetz und der Gesetzgebung der Intelligenz. Die zwei konträren Kausa­ litäten, die eben erläutert wurden, können nach Fichte zusammen bestehen, indem die Kausalität des Objektiven auf das Subjektive der Kausalität des Subjektiven auf das Objektive, folglich die Bestimmtheit der Unbestimmtheit, untergeordnet wird.121 In dieser Hinsicht versteht sich die Freiheit vornehm­ lich als der gesetzgebende Akt der Intelligenz bzw. der Vernunft.122 Fichtes Auslegung der Freiheit als Autonomie der Vernunft betont die Tätigkeit der Vernunft, nämlich das Moment ihrer Selbstgesetzgebung. Fichte legt diese Instanz der Selbsttätigkeit bei der Autonomie dreifach aus. Erstens: Die Intelligenz unterwirft sich durch die freie Reflexion einem voraus­ gesetzten Gedanken des Gesetzes. Das Ich als Intelligenz macht das Gesetz selbsttätig zur Maxime all seines Wollens.123 Zweitens: Obwohl das allgemeine 120 121

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SL, GA I/5, S. 68. SL, GA I/5, S. 59 f.: „Es ist dabei dies noch anzumerken, daß dieses Verhältniß des subjectiven zum objectiven wirklich das ursprüngliche Verhältniß im Ich sey, und daß das entgegensetzte, wo der Gedanke von dem Seyn abhängen soll, sich erst auf dieses gründe, und davon abgeleitet werden müsse […].“ Senigaglia (2009), S. 215: „Es handelt sich dabei nicht um ein Gesetz der Freiheit, die ihre Fähigkeit darauf beschränkt, dass die Überprüfung der logischen Form dem Sub­ jekt selbst überlassen wird. Was dadurch geleistet wird, ist etwas mehr, und zwar, dass die Norm der Selbständigkeit durch einen Akt der Freiheit und des Wollens in Kraft gesetzt wird. Das ‚Sich-Anmuten‘ ist eben, was den Unterschied macht, und impliziert einen freien Akt, welcher der Notwendigkeit vorangeht und sie begründet. [Hervorh. S. W.]“ Zöller (1995) weist auch auf die Ähnlichkeit hin zwischen Fichtes erster Deutung der Autonomie und Reinholds Definition der Willensfreiheit. Er ist der Auffassung, dass die Freiheit in der ersten Rücksicht der Wahlfreiheit bei Reinhold gleichkomme. Vgl. Zöller (1995), S. 109. Auf der einen Seite pflichte ich Zöllers Interpretation insofern bei, als dabei ein Zusammenhang mit Reinhold zu identifizieren ist. Dies zeigt sich vor allem in der Überordnung des unbestimmten Vermögens der Intelligenz gegenüber der Bestimmtheit des Moralgesetzes. Aber auf der anderen Seite gibt es doch eine kleine Diskrepanz zwischen meiner Interpretation und derjenigen Zöllers. Zum einen ist das unbestimmte Vermögen der Intelligenz meiner Meinung nach mit der Wahlund Willkürfreiheit bei Reinhold nicht völlig identisch, obwohl ein Zusammenhang zwischen den beiden unleugbar ist. Dies habe ich im ersten Teil meiner Ausführungen bereits demonstriert. Auf der anderen Seite ist diese Instanz der Unbestimmtheit, die der Reinholdschen Grundaussage nahesteht, auch in zwei anderen Rücksichten der Autonomie enthalten. Der Zusammenhang mit Reinhold besteht meines Erachtens in allen drei beschriebenen Autonomie-Aspekten.

Gesetz bestimmt ist, muss die Urteilskraft in jedem besonderen Fall den vom Gesetz geforderten Inhalt finden. Drittens: Das Ich gibt sich die Gesetze für die Willensbestimmung aus dem vernünftigen Wesen an sich selbst durch die Intelligenz. Durch eine Reflexion auf sein wahres Wesen gibt sich das Ich selbst die Gesetzmäßigkeit. In diesen drei Aspekten der Autonomie geht es jeweils nicht um das sta­ tisch fixierte Gesetz, sondern um die Tätigkeit der Gesetzgebung. Obwohl das Vernunftgesetz an sich bestimmt ist, soll die Weise, wie das Vernunftwesen mit ihm umgeht, nicht leidend, sondern selbsttätig sein. Fichtes Interpretation integriert insofern ein Reinholdsches Element, als sie die Freiheit von der Bestimmtheit des Gesetzes gewissermaßen unterscheidet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Fichte von Kant. Obwohl Kant die Freiheit ebenfalls als Gesetzgebung auslegt, unterlässt er, anders als Fichte, diese Differenzierung von Gesetzgebung und Gesetz und betrachtet sie stets als eins. Fichte zielt mit diesen Überlegungen allerdings nicht darauf ab, die kanti­ sche Identifikation von Freiheit und praktischer Vernunft zu widerlegen. Die­ sen Kern der kantischen Freiheit behält Fichte bei, anders als Reinhold. Um der Differenzierung zwischen Freiheit und Bestimmtheit gerecht zu werden, deutet Fichte die praktische Vernunft um; er betrachtet die Vernunft nicht als Sein, sondern als Tun: „Die Vernunft ist nicht ein Ding, das da sey und bestehe, sondern sie ist Thun, lauteres, reines Thun“.124 Während Kant vom Faktum der Vernunft ausgeht, geht Fichte von der Tathandlung der Vernunft aus. In diesem Zusammenhang interpretiert Fichte die kantische Ableitung der Freiheit aus dem Sittengesetz um. Für Fichte gehört das Sittengesetz zur Er­ scheinung der Freiheit, es ist ein unmittelbares Faktum der Freiheit. Als Er­ scheinung der Freiheit allein beweist das Sittengesetz allerdings noch nicht die Wahrheit derselben. Die Wahrheit der Freiheit ist erst dadurch zu vollziehen, dass man das Bewusstsein des Sittengesetzes nicht nur für die Erscheinung der Freiheit, sondern auch für die Wahrheit der Freiheit hält. Dieser Glaubensakt, der zur Erscheinung des Sittengesetzes hinzukommt, ist dabei entscheidend. „Das Thun ist nicht aus dem Seyn abzuleiten, weil das erstere dadurch in Schein verwandelt würde, aber ich darf es nicht für Schein halten; vielmehr ist das Sein aus dem Tun abzuleiten.“125 Dieser Glaubensakt entspricht der Tathandlung der Vernunft, womit sich Fichtes Umdeutung der Vernunft im Vergleich zu Kant klärt, obwohl er im Einklang mit Kant die Freiheit als Autonomie mit der praktischen Vernunft identifiziert. Die Auslegung des Glau­ bensaktes auf dieser Ebene verbindet sich mit der Bedeutung der Freiheit auf der vorangehenden Ebene. So zeigt sich die Einheitlichkeit des Freiheitsbegriffs auf verschiedenen Ebenen. 124 125

SL, GA I/5, S. 68. SL, GA I/5, S. 65.

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4.2.3. Die dritte Ebene: die Vereinigung von Vernunft und Natur in Hinsicht auf die Anwendbarkeit des Sittengesetzes Die Definition der Freiheit als Autonomie betrifft nur das ideale Prinzip der Sittlichkeit. Mit dem Prinzip der Sittlichkeit sind die Sittenlehre im Allgemei­ nen und die Ableitung des Freiheitsbegriffs im Besonderen noch nicht voll­ endet. Fichte legt großen Wert auf die Anwendbarkeit und mit ihr auch auf die Wirksamkeit des Sittengesetzes. Zum einen ist das Prinzip der Sittlichkeit für Fichte nur sinnvoll, wenn es Menschen als endliche Vernunftwesen anwenden können, zum anderen ist das Moment der Wirksamkeit ein unentbehrlicher Be­ standteil des Bewusstseins von Selbsttätigkeit. Fichte kritisiert Kants ethischen Formalismus und propagiert dagegen eine konkrete Ethik. Um diese zu realisie­ ren, verankert Fichte die Willensfreiheit in der Sinnenwelt: Die Freiheit, die auch als praktisches Gesetz im vorigen Hauptstücke erwiesen wurde, bezieht sich auf jene Weltbestimmungen, und fodert, dieselben zu erhalten, und zur Vollendung zu bringen.126

Die Willensfreiheit auf dieser Ebene bezieht sich nicht bloß auf eine Vernunf­ tidee, sondern auch auf die Bestimmung der Sinnenwelt – das ist die Bestim­ mung des Nicht-Ich. Die praktische Vernunft für sich allein kann Fichtes An­ sicht nach nicht auf die Sinnenwelt wirken. Demzufolge kann sich die Freiheit nicht nur auf die praktische Vernunft beziehen, wenn sie wirksam sein soll. Wie in der Offenbarungskritik liegt Fichtes Position in dieser Frage nahe bei der Position von Reinhold, der der praktischen Vernunft die Selbstgenügsam­ keit bei der Verwirklichung des Sittengesetzes abspricht. Fichte führt aus: Der Begriff der Sittlichkeit bezieht, zufolge seiner Deduction, sich gar nicht auf etwas, das da ist, sondern auf etwas, das da seyn soll. Er geht rein aus dem Wesen der Ver­ nunft hervor, ohne alle fremde Beimischung, und fodert nichts als Selbstständigkeit; nimmt auf keine Erfahrung Rücksicht, und widerstreitet vielmehr aller Bestimmung durch irgend etwas aus der Erfahrung geschöpftes. Wenn von seiner Realität geredet wird, so kann dies nicht, — wenigstens nicht vor‘s erste, — die Bedeutung haben, daß durch sein bloßes Denken zugleich in der Welt der Erscheinungen etwas realisiert werde.127

Dass die praktische Vernunft allein die Wirksamkeit nicht zustande bringen kann, lässt sich daraus erklären, dass sich die Wirksamkeit auf einen Stoff bezie­ hen muss. Wegen der Endlichkeit solcher Vernunftwesen wie der Menschen kann die Vernunft den Stoff der Sinnenwelt nicht aus Nichts erschaffen. Wie aber kann dann diese Heterogenität überwunden werden und die Freiheit sich auf die Sinnenwelt beziehen? Fichtes Ansatz stimmt mit demjenigen in seiner Offenbarungskritik überein und ist geprägt von Reinhold: Hinsichtlich dieses 126 127

164

SL, GA I/5, S. 82. SL, GA I/5, S. 74.

Endlichkeitsbezugs soll der Trieb eine vermittelnde Rolle einnehmen, soll ver­ mitteln zwischen der Selbsttätigkeit und dem Erleiden, zwischen der Form und dem Stoff, oder in den Worten der Wissenschaftslehre: zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich. Diese vermittelnde Rolle des Triebs wird im Rahmen der Wissenschaftslehre tiefer begründet als in Fichtes Frühschrift von 1793.128 Schon in der GWL führt Fichte den Begriff „Streben“ ein, eine Vorform des Triebs, um den Wider­ spruch zwischen reiner und objektiver Tätigkeit der Vernunft bzw. zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich zu lösen. Auf der einen Seite kann das Ich keine direkte Kausalität auf das Nicht-Ich ausüben, weil das Nicht-Ich dem Ich entge­ gensteht und das Ich beschränkt; auf der anderen Seite muss das Nicht-Ich aus dem Ich erklärt werden, denn sonst wäre die Einheit von Ich und Nicht-Ich un­ möglich aufzustellen. Fichte konzipiert das Streben als das Vereinigungsband von Ich und Nicht-Ich; es wirkt auf das Nicht-Ich nur mittelbar als eine Ten­ denz nach der Kausalität. Durch das Streben erweitert das Ich die Schranken der Endlichkeit in die Unendlichkeit. Fichte definiert in der GWL den Trieb als „[e]in sich selbst producierendes Streben aber, das festgesetzt, bestimmt, etwas gewisses ist“.129 Abgesehen von den begrifflichen Nuancen zwischen Streben und Trieb bleibt die Kernbedeutung der Vermittlung zwischen Ich und NichtIch im Triebbegriff bestehen. Im Anschluss an die Wissenschaftslehre übernimmt der Trieb in der SL ebenfalls eine vermittelnde Rolle zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen reiner und objektiver Tätigkeit der Vernunft.130 In § 8 stellt Fichte die These auf, dass ohne die Selbsttätigkeit keine Erkenntnis von Objekten entsteht. Denn die Er­ kenntnis entstehe durch die Reflexion eben der Beschränktheit, die erst in der Tätigkeit des Ich zum Vorschein komme. Die Antithesis, dass ohne Erkennt­ nis keine Selbsttätigkeit möglich ist, hält Fichte allerdings ebenso für wahr. Sie lässt sich dadurch begründen, dass ohne Erkenntnis kein Zweckbegriff für die Selbsttätigkeit entworfen werden könnte. Der Widerspruch zwischen beiden Thesen ist nur durch die Synthese von Bedingtem und Bedingung zu lösen. Die Tätigkeit und die Erkenntnis müssen deshalb in einem Punkt zusammengeführt werden. Fichte hält den Trieb, der gefühlt wird, für diesen Vereinigungspunkt: Dieses ursprüngliche Gefühl des Triebes ist nun gerade das synthetische Glied, wel­ ches wir oben beschrieben. Der Trieb ist eine Thätigkeit, der im Ich nothwendig 128 129 130

Über die Trieblehre in der SL, welche durch die Wissenschaftslehre fundiert wird, siehe De Pascale (1994) und Binkelmann (2006). GWL, GA I/2, S. 418. De Pascale (1994), S. 237: „Der Trieb ist danach in der Tat ein Element der Vermittlung, das dem Streben ermöglicht, das zu bleiben, was es ist, und sich nicht zu objektivieren (sonst würde es nämlich zu etwas werden, das über die bloße Tendenz hinausginge); gleichzeitig bietet der Trieb dem Streben die Möglichkeit, sich auf etwas hinzuwenden, das verschieden ist vom Nicht-Ich als wirklichem Objekt.“

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Erkenntniß wird, und diese Erkenntniß ist nicht etwa ein Bild oder des etwas von der Thätigkeit des Triebes; sie ist diese Thätigkeit selbst unmittelbar dargestellt. Ist die Thätigkeit gesetzt, so ist unmittelbar auch die Erkenntnis derselben gesetzt; und ist diese Erkenntniß gesetzt, ihrer Form nach, als Gefühl, so ist die Thätigkeit selbst gesetzt.131

Im Gefühl des Triebs ist die Erkenntnis eins mit der Tätigkeit. Das Gefühl drückt die Endlichkeit des Vernunftwesens aus.132 In der Bedürftigkeit des Gefühls erfährt der Mensch unmittelbar einen Mangel, dem der Trieb abhelfen will; anders ausgedrückt, geht der Trieb auf eine Realität, die dem endlichen Vernunftwesen mangelt. Folglich sind die Erkenntnis der (mangelnden) Reali­ tät einerseits und die Tätigkeit andererseits, die auf die mangelnde Realität abzielt, im Trieb und Gefühl vereinigt.133 Es ist zu beachten, dass sich der Trieb an der Stelle nicht auf das ganze Ich, sondern nur auf das objektive Ich bezieht. Er äußert sich als Gefühl, das als „bloße Bestimmtheit der Intelligenz ohne alles Zuthun ihrer Freiheit“134 gilt. Durch den gefühlten Trieb wird keine Beziehung auf die Freiheit, sondern vielmehr eine Gebundenheit an die Bestimmtheit des Ich, an meine Natur gesetzt. Um meine Natur zu erklären, wird ferner die ganze Natur durch die produktive Einbildungskraft gesetzt. Das Bewusstsein des Objekts bzw. des Nicht-Ich entsteht somit aus der Beschränkung der Selbsttätigkeit des Ich, die aber durch die Tätigkeit überwunden werden kann. Demnach wird das NichtIch aus dem Ich abgeleitet. Die vermittelnde Rolle des Triebs stützt Fichte auf die Überwindung des kantischen Dualismus,135 wie sie die systematische Einheit der Wissenschaftslehre leistet. Fichte greift das in der Creuzer-Rezension angedeutete Konzept auf und spricht von einer „höheren, dritten Gesetzgebung“, die die Harmonie zwischen Freiheit und Natur erklärt.136 Dieses Konzept zur Vereinigung von Natur und Freiheit basiert auf der Wissenschaftslehre. Die Heterogenität von Freiheit und Natur lässt sich dadurch überwinden, dass die Natur nicht als Natur an sich, sondern als die Beschränkung des Ich angesehen wird. Dies erläutert Fichte in der SL folgendermaßen: […] Von dem transscendentalen Gesichtspunkte aus haben wir schon oben diese Frage beantwortet. Es giebt keine Natur an sich; meine Natur und andere Natur, die gesetzt wird, um die erste zu erklären, ist nur eine besondere Weise, mich selbst zu erblicken. 131 132 133 134 135

136

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SL, GA I/5, S. 106. GWL, I/2, S. 421; WLnm, IV/2, S. 63 ff., S. 139. Für die Auslegung hierzu siehe Soller (1984), S. 57 f. SL, GA I/5, S. 105. WLnm, IV/2, S. 129: „Von diesem Zirckel hängt die Einsicht nicht nur in unseres, sondern in das System des ganzen Kritischen Idealismus ab. Diese Schwierigkeit kann nur synthetisch gelößt werden, nemlich so, daß Zweckbegrif und Objekt als eins gedacht werden muß.“ Creuzer-Rezension, GA I/2, S. 11.

Ich bin nur beschränkt in der intelligiblen Welt, und durch diese Beschränkung mei­ nes Urtriebs wird allerdings meine Reflexion auf mich selbst, und umgekehrt, durch meine Reflexion auf mich selbst mein Urtrieb beschränkt, für mich […].137

Dem Zitat ist zu entnehmen, dass Fichte die Natur aus dem Ich erklärt. Sie ist jene Beschränkung des Urtriebs, die mit der Reflexion auf mich selbst einhergeht. Sie weist auf die theoretische Tragweite des Ich, die durch die Beschränkung und Bestimmtheit der Tätigkeit desselben ermöglicht wird. Die theoretische Erkenntnis der Natur ist durch diese Tätigkeit des Ich herzuleiten, die einen bestimmten Bezugspunkt hat. Die Natur als solche ist daher nicht der Freiheit entgegengesetzt, sondern dient dem Weltbezug und ebenso der Wirksamkeit der Freiheit.138 Es liegt nahe, den gefühlten Trieb, den Weltbezug der Selbsttätigkeit des Ich, mit dem Naturtrieb zu identifizieren. Alles wirkliche Wollen betrifft ein Handeln an und mit Objekten und verlangt den Weltbezug, deswegen bezieht es sich immer auf den Naturtrieb. Fichte hält konsequenterweise die Teilnahme des Naturtriebs für eine Bedingung alles wirklichen Wollens.139 In Bezug auf den Naturtrieb wird zunächst der Begriff der formalen Freiheit abgeleitet. Die formale Freiheit entsteht, wenn das Ich auf sich selbst, als Naturwesen, reflektiert. Die Reflexion greift auf den Naturtrieb aus, welcher die reelle Kraft der Natur besitzt, ohne jedoch die kausale Wirkung der Natur auszuüben. Denn die Reflexion des Vernunftwesens bricht die kausale Kette der Natur ab und bringt den Naturtrieb unter die Herrschaft des Begriffs. Fichte definiert die formale Freiheit wie folgt: Was auf den Trieb folgt, wirkt nicht die Natur, denn sie ist mit Erzeugung des Triebes erschöpft; ich wirke es, zwar mit einer Kraft, die von der Natur abstammt, die doch nicht mehr ihre, sondern meine Kraft ist, weil sie unter die Botmäßigkeit eines über alle Natur hinausliegenden Princips, unter die des Begriffs, gefallen ist. Wir wollen die Freiheit in dieser Rücksicht nennen die formale Freiheit.140

Die formale Freiheit im engeren Sinn folgt nur dem Naturtrieb, nimmt ihre Materie aus demselben. Sie wirkt genauso, wie auch die Natur wirken würde. Trotzdem spricht Fichte einem solchen Handeln Freiheit zu, weil es dem Ver­

137 138

139 140

SL, GA I/5, S. 127. Zöller (2014), S. 292: „By contrast, Fichte’s formula of his philosophy being the “first system of freedom” announces the priority of freedom over nature and the subordina­ tion of nature under freedom. In order for freedom to serve as the principle of all philosophy, the knowledge of nature, too, has to be governed by the conception of freedom. On Fichte’s assessment, nature is not a sphere opposed to freedom but the latter’s extension from practice into theory, In particular, nature functions as the arena for the exercise and realization of freedom under moral constraints. Accordingly, nature for Fichte is not opposed to freedom and morality, but is joined with the latter as the sphere of their efficacy.” SL, GA I/5, S. 132. SL, GA I/5, S. 129.

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nunftwesen, nicht der Natur zugerechnet werde.141 Fichte zufolge markiert der Trieb das Ende der Naturkausalität, während die Reflexion bzw. das Be­ wusstsein den Anfang der Freiheit kennzeichnet. Das auf Materie gerichtete, naturbedingte Handeln wird durch die Teilnahme der Reflexion zu einer Frei­ heitstätigkeit transformiert. Die formale Freiheit in diesem Sinn verfügt offen­ sichtlich über keine Autonomie der praktischen Vernunft. Daraus wird ersicht­ lich, dass Fichte den kantischen Rigorismus nicht teilt. Zwar hat Fichte, wie auch Kant, die Freiheit mit dem Sittengesetz zusammengeführt, doch bindet er die Freiheit, im Gegensatz zu Kant, nicht ausschließlich an das Sittengesetz. Dies bestätigt die These vom letzten Teil, dass in der Bedeutung der Freiheit bei Fichte Nuancen unterschieden werden müssen, die auf die Unabhängigkeit des unbestimmten Vermögens der Intelligenz vom bestimmten Moralgesetz weisen. Fichte macht die Unzulänglichkeit der formalen Freiheit deutlich, indem er ihr die materiale Freiheit gegenüberstellt. Im Unterschied zur formalen Freiheit nimmt die materiale Freiheit keine fremde Materie aus der Natur in sich auf, sondern bildet ihre eigene Materie aus. Die materiale Freiheit entspricht der Bedeutung von Freiheit als Autonomie. Ich will diese Art der Freiheit zum Unterschiede von der vorherbeschriebenen nennen die materiale Freiheit. […] Die Freiheit in der zweiten Rücksicht besteht darin, daß nicht nur eine neue Kraft, sondern auch eine ganz neue Reihe der Handlungen ihrem Inhalte nach eintrete. Nicht nur die Intelligenz wirkt von nun an, sondern sie wirkt auch etwas ganz anderes, als die Natur je bewirkt haben würde.142

Die materiale Freiheit muss aus dem reinen Trieb, nämlich aus dem Trieb nach Freiheit um der Freiheit willen, erklärt werden. Der reine Trieb wird dem Naturtrieb entgegengesetzt. Die Wahrnehmung der Freiheit hebt mit dem Bewusstsein der Unbestimmtheit an und nimmt mannigfaltige Triebe als Wahloptionen in Anspruch. Dabei wird der reine Trieb als dasjenige gesetzt, was dem Naturtrieb entgegenwirkt. Darüber hinaus lässt sich der reine Trieb dadurch ableiten, dass die Reflexion auf den Naturtrieb vom Naturtrieb abstra­ hiert. Diese abstrahierte Reflexion ist reine absolute Tätigkeit. Das Ich wird sich dieser absoluten Tätigkeit bewusst durch Selbstanschauung. Durch das Bewusstwerden der absoluten Tätigkeit denke Ich eine neue Kraft ein, die sich vom Naturtrieb losreißt. Wenn diese Kraft als etwas dem Ich Immanentes, der Naturtrieb hingegen als etwas dem Ich Fremdes betrachtet wird, ist der reine Trieb im Gegensatz zum Naturtrieb abgeleitet. Dem Anschein nach fällt Fichte wieder zurück in den kantischen Dualismus. Wenn der reine Trieb dem Naturtrieb, die materiale Freiheit der formalen Freiheit entgegengesetzt wird, wie können dann die vernünftige Forderung des 141 142

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Vgl. dazu noch SL, GA I/5, S. 132. SL, GA I/5, S. 132.

Sittengesetzes und die reelle Kraft des Naturtriebs zusammenfallen? Steht der Naturtrieb lediglich im Dienst einer beschränkten Form der Freiheit, nämlich der formalen Freiheit, die aber hinter den Erfordernissen des Sittenprinzips zurückbleibt? Fichte konzediert, dass es streng genommen nur der Naturtrieb ist, der in der formalen Freiheit operiert. Weil sich alles wirkliche Wollen auf den Naturtrieb beziehe, gebe es in der Realität nur die formale Freiheit. Aber Fichte beabsich­ tigt keineswegs, auf den Dualismus zurückzugreifen. Er setzt die formale und die materiale Freiheit, den Naturtrieb und den reinen Trieb einander nicht absolut entgegen – er versucht vielmehr, sie zu verbinden. Die formale Freiheit kann zwar die Idee des Prinzips der Sittlichkeit niemals vollständig erreichen, aber sie kann sich der Idee durch stetiges Fortbewegen stetig annähern. Als Idee lässt sich die Autonomie der praktischen Vernunft mit keiner frem­ den Bestimmung verbinden, aber in der Wirklichkeit können sich der reine Trieb und der Naturtrieb im Sittentrieb vereinigen, ohne die Sittlichkeit zu verlieren. Das ermöglicht, dass der Sittentrieb den Naturtrieb in sich integriert, aber nur als seine Materie. Seine Form dagegen nimmt er nur aus dem reinen Trieb. Der Naturtrieb bietet mehrere Wahlmöglichkeiten an, während der rei­ ne Trieb nach den sittlichen Erfordernissen auswählt. Durch solches Handeln aus Pflicht stellen wir in der Wirklichkeit unsere Vernünftigkeit dar. Sie gilt als die Ausübung unserer Sittlichkeit und fordert die unendliche materiale Freiheit. Dadurch vermag der Naturtrieb dem sittlichen Zweck zu dienen. Die Vereinigung von Naturtrieb und reinem Trieb ist laut Fichte deswegen möglich, weil beide eigentlich eins sind: der Urtrieb. Die Trennung entsteht lediglich durch verschiedene Betrachtungsweisen eines und desselben Urtriebs. Der reine Trieb entsteht, wenn man den Urtrieb subjektiv betrachtet; der Naturtrieb entsteht, wenn man den Urtrieb objektiv betrachtet. Aber die ur­ sprüngliche Einheit im Urtrieb bietet die Basis für die Zusammenführung der beiden Triebe, wodurch sich der Dualismus von Natur und Vernunft überwin­ den lässt.143 Fichte führt formale und materiale Freiheit zusammen. Er definiert den Wil­ len als das Vermögen des Wollens, das sich im Übergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit äußert. Durch die Auswahl des Naturtriebs produziert der Wille das Objekt für sich selbst. Der Wille ist deswegen materialiter frei. Der Wille ist auch formaliter frei, weil der Naturtrieb in ihm wirkt. Fichte hält die formale Freiheit für „die Wurzel aller Freiheit“.144 Er stellt die Kontinuität zwischen formaler und materialer Freiheit heraus, insofern beide im weiteren Sinn genommen werden. Das Vernunftwesen wird sich bloß des Naturtriebs bewusst und beginnt mit der formalen Freiheit, in welcher die Agilität der 143 144

SL, GA I/5, S. 125f. SL, GA I/5, S. 129.

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Intelligenz vorhanden ist. Obwohl die Intelligenz anfangs dem Naturtrieb zu Diensten steht, reißt sie sich mit der Kultivierung ihrer Kraft allmählich vom Naturtrieb los. Zunächst kommt der Antrieb aus der Natur, und ein wirklicher Genuss wird ohne Zutun der Intelligenz erlebt. Aber ab einer gewissen Menge von Erfah­ rungen ist die Einbildungskraft in der Lage, einen Genuss zu reproduzieren. Um dieses eingebildeten Genusses willen wird der gegenwärtige Genuss aufge­ schoben oder gar aufgeopfert. Die Einbildung der Intelligenz fungiert nun als der Antrieb anstatt des wirklichen Genusses. Sie ist ein Produkt der Freiheit. Im weitesten Sinn des Wortes, so Fichte, bildet das Vernunftwesen das Objekt seines Willens. Mit anderen Worten verfügt das Vernunftwesen über die mate­ riale Freiheit im weiteren Sinn. Die formale Freiheit fällt mit der materialen Freiheit zusammen. Im Unterschied zu Kant und Reinhold betont Fichte nicht die Gegensätzlichkeit zwischen den Bestimmungen durch den Naturtrieb und durch den reinen Trieb, sondern legt den Fokus auf die Vermittlung zwischen beiden. Er weist auf den Weg der Kultur hin: Durch die Bildung sei es dem endlichen Vernunftwesen möglich, den Naturtrieb zu transformieren und die Sittlichkeit zu kultivieren. 145 In der Vereinigung von formaler und materialer Freiheit und ebenso in der Vereinigung von Naturtrieb und reinem Trieb spielt die „Willkür“, verstanden als das Vermögen zu wählen, eine wichtige Rolle. Das Wählen zwischen ver­ schiedenen Bestimmungen des Naturtriebs ermöglicht es dem Vernunftwesen, die Materie des Willens gemäß dem Anspruch des reinen Triebs zu bilden. Mit­ tels des Bewusstseins der Unbestimmtheit, das die Willkür impliziert, wird das Vernunftwesen zum Bewusstsein seiner Freiheit emporgehoben. Fichte betont die Bedeutung der Willkür und betont zudem seine Anlehnung an Reinhold in § 14 der SL: Geht der Wille von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit — und daß dies die Bedin­ gung des Bewußtseyns der Freiheit, und mit ihm des Ich, als eines solchen, sey, ist oben streng erwiesen; es ist sonach erwiesen, dass ein Wille sey, und daß er so bestimmt sey, wie wir ihn beschreiben — ist dies, sage ich, so, so ist der Wille stets ein Vermögen zu wählen, wie ihn Reinhold sehr richtig beschreibt. Es ist kein Wille ohne Willkühr. Willkühr nemlich nennt man den Willen, wenn man auf das so eben angegebene Merkmal sieht, daß er nothwendig unter mehrern gleichen möglichen Handlungen eine Auswahl trifft.146

Verträgt sich Fichtes eigentümliches Verfahren wirklich mit Reinholds Ver­ ständnis von Willkür? Es gilt, Fichtes Auffassung der Willkür näher zu be­ trachten. Fichtes Auslegung der Willkür hat in zwei Hinsichten besonders gro­ ße Übereinstimmungen mit Reinholds Willkürverständnis. Erstens verbindet Fichte, ebenso wie Reinhold, die Willkür mit dem Bewusstsein der Freiheit. 145 146

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SL, GA I/5, S. 152. SL, GA I/5, S. 148 f.

Die Wahrnehmung der Freiheit hebt Fichte zufolge mit dem Bewusstsein der Unbestimmtheit an. Die Unbestimmtheit gilt somit auch bei Fichte als zentra­ les Freiheitsmerkmal, das insbesondere in Fichtes Deutung der Freiheit als des unbestimmten Vermögens der Intelligenz integriert ist. Insofern hat die Will­ kürfreiheit bei Reinhold einen weitreichenden Einfluss auf Fichte. Zweitens verbindet Fichte, wiederum wie Reinhold, die Willkür mit dem Gegensatz von Naturtrieb und reinem Trieb. Die Unbestimmtheit muss aus der Angabe verschiedener Triebe geklärt werden. Deswegen wird der reine Trieb dem Na­ turtrieb gegenübergestellt. Es gibt allerdings auch Diskrepanzen zwischen Fichtes und Reinholds Auf­ fassung der Willkür. So wird bei Reinhold die Willkürfreiheit strikt von allen Trieben getrennt. Bei Fichte kommt die Willkür nicht eigens zum Sittentrieb hinzu, sie macht vielmehr den Sittentrieb aus. Indem sie zwischen mehreren Optionen, die der Naturtrieb bestimmt, entscheidet, baut sie den Sittentrieb auf. Der Mangel einer klaren Trennung zwischen Willkür und Sittentrieb spitzt sich noch zu, wenn Fichte in Bezug auf den Willen des empirischen Individuums sagt, dass das Handeln gegen das deutliche moralische Bewusst­ sein unmöglich sei.147 Bei Reinhold ist es der Willkürfreiheit wesentlich, dass sie von keinem objektiven Grund, vornehmlich von keinem Moralgesetz, vor­ herbestimmt wird.148 Die Willkürfreiheit in der SL ist demgegenüber nicht gleich unverbindlich. Denn insofern die Willkür zum Aufbau des Sittentriebs beitragen soll, muss sie immer diejenigen Bestimmungen des Naturtriebs aus­ wählen, die den Anspruch der Moralität möglichst weitgehend erfüllen.149 Bei Reinhold sind sowohl der Naturtrieb als auch der reine Trieb als Tatsachen des Bewusstseins vorgegeben, während die Willkür als ein Drittes zwischen den beiden erstgenannten entscheidet. Bei Fichte wird nur der Naturtrieb als gegeben angesehen, die Entstehung der Willkür hängt dagegen vornehmlich vom reinen Trieb ab, der nicht als gegeben, sondern als ein Erklärungsgrund der Willkür und als ein Ziel des Strebens zu verstehen ist. 147

148 149

Diese Aussage betrifft die Freiheit des empirischen Individuums, die die Zeitlichkeit des Subjekts einbezieht. Diese Ebene der Freiheit wird im nächsten Teil thematisiert. Fichte leugnet auf dieser Ebene die Willkür, die zwischen verschiedenen Trieben wählt. Das Verständnis der Freiheit auf jener Ebene ist ein anderes als dasjenige im gegenwärtigen Kontext. Trotzdem erhellt die obengenannte Aussage eine generelle Eigenschaft von Fichtes Freiheitsauffassung, nämlich dass er, anders als Reinhold, nicht klar zwischen Freiheit und reinem bzw. sittlichem Trieb trennt. Briefe II, S. 272, RGS 2/2, S. 188. Zöller (1995) weist ebenfalls auf die Spannung zwischen der Wahlfreiheit und dem Anspruch der überindividuellen moralischen Forderung hin. Vgl. Zöller (1995), S. 112: „Mit diesem überindividuellen Ichbegriff verträgt sich aber schlecht das Verständnis des Willens als eines individuellen Entschlußvermögens im Verhältnis zum mannigfaltigen Triebangebot. Wenn die sittliche Willensbildung auf das reine Ich abzielt, dann kann der Wille nicht mehr in der freien Auswahl durch Willkür bestehen. Der Wille muß dann am überindividuellen Status der reinen Ichheit teilhaben.“

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Die Willkür im Reinholdschen Sinn – das ist die Wahlfreiheit zwischen Na­ turtrieb und reinem Trieb – gibt es strenggenommen bei Fichte nicht. Fichtes Verständnis von Willkür enthält viele kantische Elemente, die eine Verbindung zwischen Freiheit und Moralität aufrechterhalten. Doch Fichte übernimmt auf der Ebene der Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit keine rigide Defini­ tion der Willensfreiheit, die sich bloß der Autonomie der praktischen Vernunft zuordnen ließe, wie es bei Kant der Fall ist. Er nimmt die Einflüsse von Rein­ hold auf und betont die Unbestimmtheit der Intelligenz. Man kann davon aus­ gehen, dass Fichte einen Mittelweg zwischen Kant und Reinhold einzuschlagen bestrebt ist. Aber der Ansatz von Fichte unterscheidet sich sowohl von Kant als auch von Reinhold, insofern die beiden Vorgänger von einem Dualismus von Natur und Vernunft ausgehen. Fichte geht mit seiner Wissenschaftslehre hinge­ gen von einem idealistischen Monismus aus, um zwischen Natur und Vernunft zu vermitteln. Die Freiheit zielt zwar auf die vernünftige Idee des Prinzips der Sittlichkeit ab, aber um anwendbar und wirksam sein zu können, muss die Freiheit in der Kooperation von Natur und Vernunft bestehen. 4.2.4. Die vierte Ebene: die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte in Hinsicht auf das Böse im empirischen Subjekt Obwohl die soeben betrachtete Ebene der Freiheit das Objekt der Sinnenwelt betrifft, endet Fichtes Konkretisierung der Freiheit damit noch nicht. Die bishe­ rigen Stufen der Freiheit betreffen allesamt das ursprüngliche Ich, bei dem von der Zeit abstrahiert wird. Das ursprüngliche Ich fasst alle Bestandteile, alles, was uns konstituiert, in sich zusammen. Dabei wird nicht nur der Naturtrieb, sondern auch die Selbsttätigkeit der Intelligenz zum Bewusstsein erhoben. Das ursprüngliche Ich setzt sich durch einen freien Akt vollständig.150 In § 16 son­ dert Fichte eine weitere Ebene der Freiheit ab, die die Zeitlichkeit des Subjekts betrifft. Das konkrete Ich in der Zeit ist Fichte zufolge ein Abdruck vom ur­ sprünglichen Ich. Das Zeitwesen strebt, wie das ursprüngliche Vernunftwesen, danach, sich selbständig zu setzen – aber sein selbstsetzender Akt ist nicht jenseits der Zeit vollendet. Der Akt muss sich schrittweise in einer sukzessiven Zeitreihe entfalten.151

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SL, GA I/5, S. 165. SL, GA I/5, S. 165: „Nun soll, zufolge des Sittengesetzes, das empirische Zeitwesen ein genauer Abdruck des ursprünglichen Ich werden. Das Zeitwesen ist das Subject des Bewusstseyns, es ist etwas in demselben, bloß in wie fern es durch einen freyen Akt seiner eignen Selbstthätigkeit mit Bewusstseyn gesetzt wird. Aber es ist begreiflich, daß dieses Setzen, diese Reflexionen auf das ursprünglich uns constituirende, da sie insge­ samt begränzt sind, fallen müssen in eine successive Zeitreihe; daß es sonach eine Zeit dauern werde, ehe alles das, was ursprünglich in uns und für uns ist, zum deutlichen Bewußtseyn erhoben werde.“

Es liegt nahe, dass das zeitaufwendige Selbstsetzen des empirischen Subjekts der Identifikation der Intelligenz mit dem Wesen des Ich als der absoluten Tendenz zur Selbständigkeit entspricht. In den vorangegangenen Teilen geht Fichte vom Selbstsetzen des absoluten Wesens des Ich aus und leitet den Freiheitsbegriff im Anschluss an die Genese des Bewusstseins ab. Er zeigt, wie sich die Selbsttätigkeit des Ich in Bezug auf den Urtrieb und weiter in Bezug auf den Sittentrieb äußert. Fichte nimmt auf der gegenwärtigen Ebene der Freiheitstheorie den Faden des Triebbegriffs dennoch nicht wieder auf,152 sondern greift andere Begriffe auf, und zwar „Maxime“ und „Charakter“ bzw. „Reflexionspunkte“. Er konzentriert sich darauf, die Problematik des Bösen an­ zugehen, anstatt die Begriffe durch die genetische Methode systematisch weiter abzuleiten. Insofern ändert sich sein philosophischer Ansatz in diesem Teil. Im Rückgriff auf den kantischen Begriff der „Maxime“ beschreibt Fichte die Regel, die das empirische Subjekt für seine Handlung setzt. Die Maxime impliziert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Handlung und dem jeweiligen handelnden Subjekt. Die Zuweisung der Verantwortung setzt diesen Zusammenhang voraus. Erfolgt die Handlung nicht aus einer Maxime des Subjekts, sondern aus dem Naturmechanismus oder aus blindem Zufall, trägt das empirische Subjekt keine Verantwortung. Fichte verknüpft die Maxime mit dem unbestimmten Vermögen der Intel­ ligenz, das er in § 2 thematisierte. Die freie Handlung des empirischen Sub­ jekts ist auf einen Begriff zurückzuführen, der vom Subjekt entworfen wird, und die Maxime hängt direkt mit dem Zweckbegriff zusammen. In § 2 hebt Fichte die Unbestimmtheit des Zweckbegriffs hervor. Im Kontrast dazu fragt Fichte in § 16 mittels des Begriffs der „Maxime“ nach dem tieferen Grund des Zweckbegriffs. Denn die Maxime impliziert, dass der Entwurf des Zweck­ begriffs aus einem bestimmten vernünftigen Grund153 und nach einer Regel er­ folgt. Einerseits fordert dies die Begreifbarkeit der Bestimmung der Handlung und begründet damit, wie oben erklärt, die Zurechenbarkeit der Handlung. Andererseits droht die Verknüpfung mit einem weiteren Erklärungsgrund, Un­ bestimmtheit in Bestimmtheit zu verwandeln. Wie bereits bei der Ableitung

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Fichte verwendet auf dieser Stufe den Triebbegriff äußerst selten. Er erwähnt den Na­ turtrieb an einzelnen Stellen, allerdings ohne die systematische Bedeutung desselben miteinzubeziehen. Vom reinen und vom sittlichen Trieb redet Fichte gar nicht mehr. Stattdessen deutet er einen blinden Trieb an, der sich vom Naturtrieb unterscheidet und unbeschränkte Kausalität fordert. Dieser Trieb ist fähig, heroische Akte hervorzu­ bringen, die Bewunderung erregen; aber da er vom Eigendünkel begleitet wird, hat er keinen moralischen Wert. Siehe SL, GA I/5, S. 172–176. Fichte verankert diesen Trieb nicht im System seiner Trieblehre. Hier ist der vernünftige Grund im weiteren Sinn zu nehmen, denn die Maxime folgt nicht unbedingt dem Moralgesetz. Der vernünftige Grund impliziert nur, dass die Erstellung der Maxime durch Reflexionen und Überlegungen erfolgt.

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des Sittengesetzes in § 3 besteht eine Spannung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit.154 Die Bestimmtheit tritt tatsächlich zutage. Fichte führt die Wahl und den Zweckbegriff auf die Maxime zurück, anschließend die Maxime weiter zurück auf den Reflexionspunkt, das heißt auf den Charakter des empirischen Sub­ jekts. Fichte führt die Termini von „Reflexionspunkt“ bzw. „Charakter“ nicht systematisch ein. Man kann jedoch einige Ähnlichkeiten zwischen dem Reflexi­ onspunkt und dem Trieb ausmachen. Beide gehen vom Naturtrieb aus und ent­ wickeln sich durch die Reflexion der Intelligenz auf eine höhere Ebene. Auch werden beide als etwas Bestehendes und Bestimmtes sowie als Erklärungsgrund der Tätigkeit der Intelligenz konzipiert. Fichte macht darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang zwischen der Maxime und dem Reflexionspunkt notwendig ist. Die Maxime ist gänzlich durch den Reflexionspunkt determiniert. Sofern sich das Subjekt auf dem Reflexionspunkt befindet, ist es sich nur seines eigennützigen Triebs bewusst und kann keine andere Maxime bilden als die, seine Glückseligkeit zu maximie­ ren. Erwacht es hingegen zum moralischen Bewusstsein, wird es ihm unmög­ lich, gegen die moralische Pflicht zu handeln. „In beiden Fällen also herrscht Nothwendigkeit; und wir scheinen hier in einen intelligiblen Fatalismus, nur von einem niedern Grade, als der gewöhnliche, zu gerathen“,155 schließt Fichte. Es gibt somit keine Willkür auf einem bestimmten Reflexionspunkt. Insofern scheint der Konflikt zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit anders aufgelöst zu werden als bei der Ableitung des Sittengesetzes in § 3. Trotz der ersichtlichen Ähnlichkeiten werden die Begriffe „Reflexionspunkt“ und „Charakter“, im Gegensatz zum Triebbegriff, nicht in Bezug auf das ganze Ich systematisch eingeführt. Der erstere gehört vielmehr dem unvollkommenen Ich in der Zeit an. Während Fichte in § 3 die Bestimmtheit des Gesetzes hin­ sichtlich der Äußerungsweise des Triebs auf die Unbestimmtheit der Intelligenz bezieht und von der Notwendigkeit abgrenzt, gesteht er hier die Herrschaft der Bestimmtheit bzw. der Notwendigkeit zu. Fichte weist die Unbestimmtheit auf einem bestimmten Reflexionspunkt zurück. Anders als in § 3, wo er die gesetzgebende Tätigkeit der Intelligenz von der Bestimmtheit des Gesetzes abgrenzt und somit Raum für Unbestimmtheit lässt, trennt er hier nicht zwischen der Entscheidung gegenüber dem Moralbe­ wusstsein und dem Moralbewusstsein an sich. Fichte argumentiert so: […] Wir beweisen dies folgendermaßen; der Mensch ist sich seiner Pflicht klar be­ wußt, heißt; er als Intelligenz fordert von sich schlechthin etwas zu thun: — er entschließt sich mit gutem Bewußtseyn gegen seine Pflicht zu handeln, heißt; er fodert von sich in demselben ungetheilten Momente, dasselbe nicht zu thun. Es wären sonach in demselben Momente durch dasselbe Vermögen in ihm wiedersprechende 154 155

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Siehe Teil 4.2.2 der Arbeit. SL, GA I/5, S. 177.

Foderungen, welche Voraussetzung sich selbst vernichtet, und der klärste offenbarste Widerspruch ist.156

Die Entscheidung gegenüber dem Moralbewusstsein und das Moralbewusstsein selbst sind Fichte zufolge deswegen „in demselben ungetheilten Momente“, weil beide von der Intelligenz gefordert werden. Diese Aussage radikalisiert seine oben erläuterte Position, keine klare Trennung zwischen Willkür und Sit­ tentrieb vorzunehmen. Aufgrund des Fehlens dieser Trennung kann die Will­ kür nicht von der sittlichen Forderung abweichen. Somit scheint die Willkür, die in einer gegebenen Handlung zwischen moralischer und unmoralischer Forderung entscheidet, überhaupt nicht mehr bestehen zu können. Hieraus wird vor allem der Unterschied zu Reinholds Position deutlich. Denn die Trennung zwischen dem moralischen Bewusstsein und dem Bewusst­ sein der Entscheidung bildet den Kern von Reinholds Theorie der Willensfrei­ heit. Für Reinhold ist diese Trennung der einzige Maßstab, anhand dessen zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit sowie zwischen Freiheit und Un­ freiheit unterschieden werden kann. Dagegen scheint Fichtes Position Kant na­ hezustehen. Wenn das empirische Subjekt sich dem deutlichen Moralbewusst­ sein unterwirft, bestätigt sich, dass das Moralgesetz wirksam und anwendbar ist. Dies birgt den Vorteil, gegen den Indifferentismus argumentieren und die Verbindlichkeit des Moralgesetzes erklären zu können.157 Aber auch wenn Fichte bis hierher mehr Gemeinsamkeiten mit Kant als mit Reinhold zeigt, identifiziert er an der Stelle doch die Freiheit nicht mit der praktischen Vernunft. Denn der Schwerpunkt auf dieser Ebene besteht für ihn darin, die moralische Verantwortung für das Böse zu erklären. Wäre seine Position tatsächlich in einen intelligiblen Fatalismus übergegangen, ließe sich keine moralische Verantwortung rechtfertigen. Für die letztere ist ein Raum der Unbestimmtheit erforderlich, in dem die freie Entscheidung des handeln­ den Subjekts stattfindet. Fichtes Ausführungen schlagen darum einen anderen Weg ein. Er ergänzt, dass das Individuum zwar nicht auf einem bestimmten 156 157

SL, GA I/5, S. 176 f. Das heißt jedoch nicht, dass Kants Position dem intelligiblen Fatalismus gleichkommt. In der darauffolgenden Auslegung zeigt Fichte, dass das deutliche moralische Bewusst­ sein ein Produkt der Freiheit ist, weshalb der Vorwurf des intelligiblen Fatalismus nicht gerechtfertigt ist. Dasselbe trifft auch auf Kants Theorie der Freiheit zu. Außerdem sind dabei einige feine Unterschiede zwischen Kant und Fichte auszumachen. Während Kant das subjektive moralische Bewusstsein mit dem objektiven Moralgesetz ansieht – und die Wirkung des ersteren als die Verbindungskraft des letzteren interpretiert –, verweist Fichte das moralische Bewusstsein in diesem Zusammenhang sehr stark auf den subjektiven Status der Reflexion, nämlich die Reflexionsstufe. Das moralische Bewusstsein tendiert bei Fichte dazu, sich ständig zu verdunkeln; es aufrechtzuerhalten, kostet dauernde Anstrengung. Ferner schließt das moralische Bewusstsein bei Fichte die Teilnahme des Naturtriebs nicht aus, wie oben dargestellt wurde. Auf den Punkt gebracht, ist Kants Verständnis des moralischen Bewusstseins formell und abstrakt, während Fichtes Verständnis sich vergleichsweise konkret ausnimmt.

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Reflexionspunkt frei entscheiden kann, aber dass es entscheiden kann, auf wel­ chem Reflexionspunkt es sich befindet. Daher ist seine Handlung letztendlich doch abhängig von seiner freien Entscheidung, und der Mensch trägt somit moralische Verantwortung. In Fichtes Worten: Aber daß er auf diesem Reflexionspunkte stehen bleibt, ist gar nicht nothwendig, sondern hängt ab von seiner Freiheit; er sollte schlechthin sich auf einen höhern schwingen, und könnte es auch. Daß er es nicht thut, ist seine Schuld […].158

Aus diesem Zitat lässt sich ersehen, dass Fichte die Instanz der Unbestimmtheit auf die Reflexionspunkte legt. Denn das Subjekt hat seiner Ansicht nach die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Reflexionspunkten zu bewegen. Die­ se Bewegungsmöglichkeit definiert Fichte als Freiheit. Die Verantwortung für das Böse wird also dadurch erklärt, dass der Mensch die Freiheit hat, anders zu handeln, indem er sich auf einen höheren Reflexionspunkt erhebt. Die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte könnte sich in Bestimmtheit verwandeln, wenn man den Akt der Freiheit, die über die Reflexionspunkte entscheidet, wieder durch einen Grund bestimmen ließe. Um dies zu umgehen und die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte zu sichern, bemerkt Fichte fer­ ner, dass sich die Freiheit mit keinem weiteren Grund verknüpfen lässt: Ferner bemerke man wohl, daß auch dieser Akt der Freiheit, durch welchen man jenes Bewußtseyn entweder klar erhält, oder es verdunkeln läßt, ein absolut erster und darum unerklärlicher Akt ist. Nemlich, es geschieht nicht etwa nach einer Maxime, also mit dem Bewußtseyn dessen, was ich thue, und der Freiheit, mit welcher ich es thue, daß ich die Anforderung des Gesetzes in mir verdunkle. Dies wäre die oben als widersprechend aufgezeigte Empörung wider das Gesetz. Es geschieht schlechthin, weil es geschieht; schlechthin ohne einen höhern Grund.159

Mit diesem Zitat, das die Grundlosigkeit des Freiheitsaktes herausstellt, geht Fichte über zum unbestimmten Extrem der Definition der Freiheit. Diese De­ finition steht, formal betrachtet, der Reinholdschen Freiheitsauffassung nahe, obwohl die Definitionsinhalte unterschiedlich sind.160 Wie Reinhold stellt auch Fichte eine Freiheitsdefinition auf, die von der Unbestimmtheit gekennzeich­ net ist. Diese Freiheit ist nicht diskursiv zu erfassen. Sie ist grundlos, unerklär­ lich und somit auch unbegreiflich. Einerseits ist diese Freiheit losgerissen von jeglicher Gebundenheit, weil sie sich nicht weiter bestimmen lässt; andererseits

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SL, GA I/5, S. 168. SL, GA I/5, S. 177. Bei Reinhold betrifft die Unbestimmtheit die Wahlmöglichkeit zwischen eigennützi­ gem und uneigennützigem Trieb. Bei Fichte betrifft die Unbestimmtheit die Wahlmög­ lichkeit zwischen verschiedenen Reflexionspunkten. Aber beide Philosophen nehmen eine Unbestimmtheit in Anspruch, die sich durch keinen zusätzlichen Grund weiter bestimmen lässt.

gerät sie in die Verlegenheit der Unbegreiflichkeit, weil der Verstand sie nicht durch die Verknüpfung mit irgendetwas anderem diskursiv erfassen kann.161 Es stellt sich die Frage, ob die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte dem blinden Zufall ausgeliefert ist. Was nützt es, die Handlung über ihre Maxime weiter auf die Reflexionspunkte zurückzuführen, um auf den Grund der Hand­ lung zu rekurrieren, wenn die Reflexionspunkte an sich unbegreiflich sind und im Verdacht stehen müssen, ein Produkt des blinden Zufalls zu sein?162 Darauf könnte man erwidern, dass die Auswahl der Reflexionspunkte nicht vollkommen zufällig ist, denn die verschiedenen Reflexionspunkte müssen sich in einer bestimmten Reihenfolge ergeben: Ein Vernunftwesen wird sich immer zuerst des Naturtriebs bewusst und entwickelt sich danach allmählich zu höheren Reflexionspunkten der Selbständigkeit und Sittlichkeit. Außerdem, so ließe sich diese Verteidigung fortsetzen, muss das empirische Subjekt ja mit den begrenzten Bezugspunkten anfangen, die innerhalb des Bereichs seines In­ teresses liegen.163 Meines Erachtens können diese Argumente der Verlegenheit allerdings nicht abhelfen. Selbst wenn diese Verteidigungslinie den Verdacht des blinden Zufalls beseitigte, könnte sie den Wechsel der Reflexionspunkte doch nicht verständlich machen, insofern dieser nämlich erwiesenermaßen un­ ter der Macht des Subjekts steht. Die Rückführung auf und die Anknüpfung an einen weiteren Grund ist die Verfahrensweise des Verstandes. Der Verstand gerät in ein Dilemma, wenn er das Erste und das Unbestimmte zu erfassen versucht, denn er darf in diesen Fällen das erste Glied mit keinem Erklärungsgrund weiter verknüpfen. In der SL hat Fichte mehrmals auf das Dilemma des Verstandes hingewiesen, wie oben gezeigt wurde. Die Problematik tritt auf der gegenwärtigen Ebene erneut auf. Auf den früheren Ebenen verfolgt Fichte die Strategie, diesem Dilemma durch den Glaubensakt zu entkommen. Der Glaube an die Freiheit macht den Boden für die Freiheit aus. Allerdings erwähnt er den Glaubensakt auf

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Das Problem taucht ebenfalls in Kants Religionsschrift auf. Dort konzentriert sich Kant ebenfalls auf die Thematik des Bösen. Um die moralische Verantwortung zu begründen, stößt er auf einen Begriff der Freiheit, die sich durch keinen höheren Grund erklären lasse und unerforschlich sei. Vgl. Religionsschrift, B7f. Kants Überlegungen wurden in Teil 2.4 der Arbeit analysiert. Im aktuellen Teil führe ich den Vergleich hauptsächlich zwischen Fichte und Reinhold aus – anstatt zwischen Fichte und Kant –, weil dieses Verständnis einer unerklärlichen Freiheit für Kant nur marginale Bedeutung hat, wäh­ rend es für Reinhold zentral ist. Goh (2015), S. 442: „What is the point of arguing that the way in which I choose can be comprehended and predicted in terms of the point of reflection from which I choose, if the act that determines the point of reflection from which I choose is in turn utterly incomprehensible and unpredictable? It only begs the question of how the incomprehensible and unpredictable act of reflection is supposed to lend any stability to the way in which I choose.“ Goh (2015), S. 442.

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der gegenwärtigen Stufe nicht mehr.164 Stattdessen scheint er sich an Reinhold anzulehnen und es bei der Bodenlosigkeit und Unerklärlichkeit der Freiheit bewenden zu lassen. Trennt Fichte dadurch wie Reinhold die unbestimmte Freiheit auf dieser Ebene von der praktischen Vernunft? Fichtes Position bleibt etwas ambivalent. Auf der einen Seite scheint er auf der absoluten Unerklärlichkeit der Freiheit zu bestehen, wie es das letzte Zitat gezeigt hat. Dieses Freiheitsverständnis ist der Willkürfreiheit bei Reinhold sehr ähnlich. Insofern die extreme Unbe­ stimmtheit von aller Bestimmtheit abgelöst ist, lässt sich die Freiheit mit der praktischen Vernunft freilich nicht verknüpfen. Es ist Fichte wichtig, dass diese Unbestimmtheit der Reflexionspunkte gesichert wird, damit den Menschen ge­ rechtfertigterweise Schuld zugesprochen werden kann. Er nennt die Entschei­ dung zum Bösen auch Freiheit.165 In dieser Hinsicht ist die Freiheit von der praktischen Vernunft getrennt. Auf der anderen Seite gibt Fichte es in der Tat nicht vollständig auf, das Moment der Reflexionspunkte weiter diskursiv zu analysieren. Er verknüpft den Reflexionspunkt, auf dem man sich für das Böse entscheidet, weiter mit der Trägheit des Menschen. Dadurch versucht er, die Ursache des Bösen doch erklärlicher zu machen als durch eine Freiheit, die sich auf eine unerklärliche Weise für den niedrigeren Reflexionspunkt entscheidet. Der Begriff der Träg­ heit wird klarer bestimmt als die unbegreifliche Freiheit. Fichte definiert die Trägheit als die Tendenz von etwas, so zu bleiben, wie es ist.166 Sie ist eine Kraft gegen die Selbsttätigkeit der Intelligenz, oder sie impliziert wenigstens einen Mangel an Selbsttätigkeit. Angenommen, dass die Selbsttätigkeit der Intelligenz wie auf der Ebene des Freiheitsbegriffs als ein Vermögen zu verstehen ist, ist die Trägheit eher als ein Unvermögen zu verstehen, sie ist eher Unfreiheit als Freiheit.167 In diesem Zusammenhang bezeichnet Fichte den Grund des Bösen als Nichtgebrauch der Freiheit.168 Das deutet darauf hin, dass eine Verbindung zwischen der Freiheit und dem moralisch Guten verbleibt. Fichte betrachtet die Freiheit in dieser Hinsicht wie zuvor die Selbsttätigkeit der Intelligenz. Er scheint, ganz wie Kant, seinen Freiheitsbegriff nicht gegen die Moralität etablie­ ren zu wollen, obwohl er es nicht ausdrücklich zurückweist – wie Kant in der MS.169 Die Anlehnung an Kant besteht gleichwohl. Fichte ist unzufrieden mit

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Das zeigt wieder, dass sich Fichte auf dieser Stufe der Freiheitstheorie mehr auf die Problematik des Bösen und weniger auf die allgemeine Systematik fokussiert. SL, GA I/5, S. 169, 177. SL, GA I/5, S. 183. SL, GA I/5, S. 184: „[…] aber eher er durch Freiheit sich losreißen kann, muß er erst frei seyn. Nun ist es gerade seine Freiheit selbst, welche gefesselt ist; die Kraft, durch die er sich helfen soll, ist gegen ihn im Bunde.“ Vgl. SL, GA I/5, S. 169. MS, AA VI, S. 231.

einer vollkommen gleichgültigen Freiheit und will die Freiheit nicht gänzlich von Vernünftigkeit und Moralität abkoppeln. Die oben dargestellte Ambivalenz Fichtes kulminiert in den folgenden Sät­ zen, in denen Fichte den Grund des Bösen gleichzeitig als Nichtgebrauch der Freiheit und als Freiheit bezeichnet: In so fern ist ihm [dem Menschen, S. W. ] das Böse angeboren. Aber es ist doch nicht nothwendig, daß er darauf stehen bleibe, da es auch nichts giebt, daß ihn auf denselben zurückhalte. Es ist ihm ebenso möglich, sich sogleich auf den höchsten Punkt zu versetzen; und wenn er es nicht gethan hat, so liegt dies am Nichtgebrauche seiner Freiheit: ob er gleich in seinem gegenwärtigen Zustande seiner Verschuldung sich nicht bewußt wird. In sofern hat das Böse im Menschen seinen Grund in der Freiheit.170

Fichtes ambivalente Position lässt sich dadurch erklären, dass er zwischen ver­ schiedenen Auffassungen der Freiheit zu vermitteln versucht. Die Trägheit, die den Mangel der Selbsttätigkeit der Intelligenz impliziert, bezieht sich auf den Naturtrieb, dessen Kraft von der Natur entliehen ist. Fichte merkt an, dass die Kraft der Trägheit, die aus der Natur entliehen ist, durch die Freiheit belebt wird.171 Somit verknüpft Fichte die Trägheit dem Wesen nach mit der formalen Freiheit, obwohl er an dieser Stelle nicht ausdrücklich diesen Terminus verwen­ det. Aber die formale Freiheit setzt die Selbsttätigkeit der Intelligenz voraus, die doch gerade mit der Trägheit im Widerspruch steht. Man kann nun eine Argumentation führen, die durch eine Rekonstruktion von Fichtes Systematik den Widerspruch zwischen der Trägheit und der Selbsttätigkeit der Intelligenz aufhebt, indem sie ihn auf die Basis der Vereinigung von Natur und Vernunft zurückführt. Aber es reicht nicht aus, die Trägheit mit der Selbständigkeit der Intelligenz zu synthetisieren, um die obengenannte Ambivalenz aufzulösen. Denn die Freiheit, die Fichte auf dieser Stufe etabliert hat, besteht vor allem in der extremen Unbestimmtheit bei der Auswahl der Reflexionspunkte. Es bleibt eine große Herausforderung für jede Argumentation, diese mit nichts zu ver­ knüpfende Unbestimmtheit erstens mit der Selbständigkeit der Intelligenz und zweitens mit der Trägheit zu synthetisieren. Erst durch eine solche zweiteilige Argumentation könnten die zwei Erklärungen für das Böse zusammentreffen. Eine Demonstration zu diesem Zweck hat Fichte selber jedoch nicht zustande gebracht, um die verbleibende Ambivalenz zufriedenstellend zu beseitigen. Es lässt sich zusammenfassen, dass Fichtes Thematisierung des Bösen zu einem Freiheitsbegriff führt, der von Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Die­

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SL, GA I/5, S. 169. SL, GA I/5, S. 183: „Wir selbst sind auf dem angezeigten Gesichtspunkte nichts mehr als Natur. Unsere Kräfte sind Kräfte der Natur; und ob es gleich die Freiheit ist, die sie belebt, indem die Kausalität der Natur mit dem Triebe zu Ende ging, so ist doch die Richtung absolut keine andere, als diejenige, welche die Natur, ihr selbst überlassen, gleichfalls genommen haben würde.“

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ser Freiheitsbegriff gerät, wie derjenige in Reinholds Briefe II, in die Grundlo­ sigkeit und Unerklärlichkeit. Trotz dieser formellen Ähnlichkeit hinsichtlich der Unbestimmtheit unterscheidet sich der Sinngehalt der Unbestimmtheit bei Fichte von demjenigen bei Reinhold. Fichte spricht nicht der einzelnen Handlung auf einem bestimmten Reflexionspunkt, sondern nur der Auswahl der Reflexionspunkte die Freiheit zu. Seine Auffassung der Freiheit wird von der kantischen Freiheitslehre geprägt. Ähnlich wie Kant versucht Fichte, die Verbindlichkeit des Moralgesetzes in sein Freiheitsverständnis zu integrieren und den Zusammenhang zwischen Freiheit und Moralität aufrechtzuerhalten – obwohl eine Identifikation der Freiheit mit der praktischen Vernunft auf dieser Stufe natürlich nicht mehr in Frage kommt. Fichtes Begriff der Freiheit auf dieser Stufe scheint von anderer Art als der Freiheitsbegriff der früheren Stufen zu sein. Im Gegensatz zu den anderen Ebenen liegen hier Bestimmtheit und Unbestimmtheit in extremer Form vor. Fichte kombiniert eine extreme Bestimmtheit der Maxime, die er zunächst als „intelligiblen Fatalismus“ bezeichnet, und eine extreme Unbestimmtheit der Reflexionspunkte, die geradezu unbegreiflich ist. Wegen dieser Polarisierung vergrößert sich die Spannung zwischen der moralisch neutralen Freiheit, die die Unbestimmtheit impliziert, und der moralisch guten Freiheit, die die Be­ stimmtheit voraussetzt. Es zeigt sich, dass Fichtes Freiheitsauffassung auf dieser Ebene beide extremen Instanzen in sich fasst. Die Ambivalenz in seiner Auffas­ sung lässt sich dadurch erklären, dass er diese Gegenpole doch noch irgendwie zu vermitteln versucht. Trotz dieser Unterschiede ist der Zusammenhang zwischen dem Freiheitsbe­ griff auf der letzten Ebene mit demjenigen auf den vorigen Ebenen einsichtig. Wie zuvor auch interessiert sich Fichte für den Mittelweg, der einerseits den Anspruch der Unbestimmtheit ernst nimmt, andererseits trotzdem der Forde­ rung des bestimmten Moralgesetzes nachkommt. 4.2.5. Die Einheit verschiedener Ebenen Aus der Analyse von Fichtes Freiheitbegriff lässt sich folgern, dass seine Defini­ tion der Freiheit auf verschiedenen Ebenen vielfältig ausfällt. Dementsprechend vieldeutig nimmt sich auch die Beziehung zwischen Freiheit und praktischer Vernunft aus. Auf der ersten Ebene definiert Fichte die Freiheit als das un­ bestimmte Vermögen der Intelligenz. Diese ist zwar nicht identisch mit der praktischen Vernunft, aber sie lässt sich als die Basis derselben betrachten; so stellt sich heraus, dass diese Definition grundlegend ist. Sie vermittelt zwischen Kant und Reinhold und ermöglicht die Vermittlung verschiedener Gegensätze auf den weiteren Ebenen des Freiheitsbegriffs. Die Freiheit auf der zweiten Ebene basiert auf der Synthese vom unbestimmten Vermögen der Intelligenz mit dem bestimmten Moralgesetz. Mit dieser Synthese nähert sich Fichte der

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kantischen Position und identifiziert die Freiheit mit der praktischen Vernunft. Es ist zu beachten, dass dennoch Abweichungen von Kant bestehen bleiben. Unter dem Einfluss von Reinhold bleibt die Differenzierung der Freiheit von der Bestimmtheit des Gesetzes bei Fichte in gewisser Hinsicht erhalten. In diesem Sinn bleibt auch das unbestimmte Vermögen der Intelligenz weiterhin die Grundbedeutung der Freiheit. Fichte deutet die praktische Vernunft um, indem er die gesetzgebende Tätigkeit der Vernunft betont. Auf der dritten Ebene vereinigt Fichte die Freiheit mit der Natur, um die Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Sinnenwelt zu begründen. Fichte wendet sich vom kanti­ schen Formalismus und Rigorismus ab. Die Freiheit ist auf dieser Stufe nicht mit der praktischen Vernunft identisch, sondern bezieht sich stark auf den Na­ turtrieb. Der Naturtrieb lässt sich nicht als die Natur an sich begreifen, sondern als die Beschränkung der Selbsttätigkeit der Intelligenz – die allerdings durch eben diese Selbsttätigkeit der Intelligenz überwunden werden kann. Sodann entspricht die Freiheit auf der dritten Ebene der Selbsttätigkeit der Intelligenz. Auch auf der letzten Ebene ist die Freiheit nicht einfach mit praktischer Ver­ nunft gleichzusetzen. Fichte thematisiert die Verantwortung für das Böse. Er lenkt den Fokus auf die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte des empirischen Vernunftwesens in der Zeit. Diese extreme Form der Unbestimmtheit weist viele Ähnlichkeiten mit der Willkürfreiheit bei Reinhold auf, aber Fichte ist nicht so radikal wie Reinhold hinsichtlich der Trennung von Freiheit und mo­ ralischer Forderung. Er versucht vor allem, die Freiheit mit der Selbsttätigkeit der Intelligenz zu verbinden. Mit diesem allumfassenden Begriff der Freiheit versucht Fichte, zwischen Kant und Reinhold zu vermitteln – und dies ist ihm in vielerlei Hinsicht auch tatsächlich gelungen. Meine Untersuchung hat gezeigt, dass Fichtes Freiheits­ verständnis auf allen Ebenen sowohl Elemente der Willensfreiheit bei Kant als auch solche der Willkürfreiheit bei Reinhold durchgehend integriert. Er will bei der Auslegung der Freiheit weder das Charakteristikum der Unbestimmt­ heit verlieren noch die Freiheit vom Anspruch des Moralgesetzes ablösen. Al­ lerdings opfert Fichte diesem Mittelweg die Originalität und Radikalität der Freiheitstheorien von Kant und Reinhold. Zum einen teilt er Kants Rigorismus nicht, zum andern fehlt ihm eine Willkürfreiheit wie bei Reinhold, die streng vom Moralgesetz abgegrenzt wäre. Nach der obigen Zusammenfassung des vierstufigen Freiheitsbegriffs sollte vielleicht betont werden, dass die Grundbedeutung der Freiheit über die Stufen gleichbleibt. Sie ist nämlich die Tätigkeit der Intelligenz, die nach absoluter Selbsttätigkeit strebt. Dieses Streben der Intelligenz überbrückt die Kluft zwi­ schen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, zwischen Endlichkeit und Unend­ lichkeit, zwischen Natur und Vernunft. Fichtes eigentümliche Philosophie der Freiheit liegt darin, diese Gegensätze zu vermitteln und ihre ursprüngliche Einheit aufzuweisen. Die Vielfalt der Definitionen entsteht lediglich aus den

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verschiedenen genetischen Stufen des Bewusstseins. Der Freiheitsbegriff bei Fichte ähnelt einem Lichtstrahl, der durchs Prisma gebrochen wird. Die grundlegende Einheit von Fichtes Freiheitstheorie in der SL belegt, dass die Theorie keinen Eklektizismus bedeutet, obwohl sie vieldeutig zu sein scheint und die Einflüsse verschiedener Philosophen aufnimmt. Die Vereini­ gung verschiedener Gegensätze in der Freiheitslehre stützt Fichte auf seine Wissenschaftslehre, die von der ursprünglichen Einheit des Ich als Subjekt-Ob­ jekt ausgeht. Der Widerspruch zwischen der Unbestimmtheit der Intelligenz und der Bestimmtheit des Gesetzes, ebenso wie derjenige zwischen Natur und Vernunft, sind dadurch zu lösen, dass sie lediglich aus verschiedenen Betrach­ tungsweisen des einen ursprünglichen Ich hervorgehen. Auf Basis der Wissen­ schaftslehre leitet Fichte die verschiedenen Bestimmungen des Freiheitsbegriffs auf verschiedenen Reflexionsebenen genetisch ab. Er lenkt den Fokus auf den genetischen Prozess, auf die Tathandlung des Bewusstseins. Dementsprechend wird der Freiheitsbegriff dynamisch entfaltet, und Fichte akzentuiert am Grund seiner Freiheitstheorie den Glaubensakt anstelle der Tatsache des Bewusstseins. Ferner betont er die gesetzgebende Tätigkeit der praktischen Vernunft im Gegensatz zum bestimmten Moralgesetz. Letztendlich konzipiert er die Selbst­ tätigkeit der Intelligenz, die sich zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Natur und Vernunft bewegt, als die Grundbedeutung der Freiheit.

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Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat eine systematische und historische Untersuchung zur Theorie der Willensfreiheit von Kant, Reinhold und Fichte in Hinsicht auf ihre Beziehung zur praktischen Vernunft durchgeführt. In der Untersuchung wurde die Freiheitsdebatte anhand des Leitproblems der Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit erläutert. Dazu wurden drei direkt aufein­ ander folgende Stationen – nämlich Kant, Reinhold und Fichte – in der Ent­ wicklungsgeschichte der Freiheitskonzeption nachgezeichnet. Meine Arbeit ging von der kantischen Freiheitstheorie aus, welche der Frei­ heitsdebatte mit und nach Kant zugrunde liegt. Die Studie im ersten Teil des zweiten Kapitels enthüllte die Hauptschritte, durch welche Kant die Willens­ freiheit mit der praktischen Vernunft identifiziert: Dem transzendentalphiloso­ phischen Ansatz folgend, gründet Kant in der KrV die Freiheit nicht auf eine psychologische Spontaneität, sondern auf das Ding an sich, das den erkenntnis­ theoretischen Geltungsbereich der Kausalitätskategorie sprengt. Trotz der Tren­ nung des praktischen vom theoretischen Gebiet entleiht Kant die Kausalitätska­ tegorie der Erkenntnistheorie, um den Freiheitsbegriff für praktische Zwecke positiv zu bestimmen. Die Freiheit wird von vornherein als eine Art der Kausa­ lität konzipiert, was den Grundstein dafür legt, die Freiheit mit der Bestimmt­ heit zusammenzuführen. In der GMS transformiert Kant die kosmologische Idee der Kausalität der transzendentalen Freiheit in die apriorische Kausalität des Moralgesetzes. An dieser Transformation ist beachtenswert, dass Kant das transzendentalphilosophische Schema weitgehend auf den praktischen Bereich überträgt. In der KpV etabliert Kant das Moralgesetz nicht nur als den ob­ jektiven Bestimmungsgrund, sondern auch als den subjektiv hinreichenden Bestimmungsgrund des Willens, um die Praktizität des Vernunftgesetzes und die Wirklichkeit der Freiheit zu beweisen. Dabei setzt sich Kant über die theo­ retische Verlegenheit hinweg und vollzieht die Synthese von Vernunftgesetz und Sinnlichkeit, die durch die theoretische Vernunft nicht zu erklären wäre, im „Factum der Vernunft“ sowie im moralischen Gefühl durch den Primat des Praktischen. Vermittels dieser systematischen und begrifflichen Konstruk­ tionen vereinigt Kant die Freiheit mit dem Moralgesetz und ebenso mit der praktischen Vernunft. Im zweiten Teil des zweiten Kapitels wurde Kants Modifikation seines frü­ hen Standpunkts bezüglich der Freiheitskonzeption und die spätere Rückkehr zu ihm expliziert. Die Freiheitstheorie in Kants Religionsschrift markiert einen Wendepunkt. Kant setzt in ihr die transzendentalphilosophische Konstruktion der Autonomie-These beiseite und geht ausschließlich von der Zurechenbar­ keitsproblematik aus. Um die moralische Verantwortung zu sichern, koppelt Kant die freie Willkür von jeglichem Bestimmungsgrund ab. Dadurch erweist

sich die Freiheit als absolut unbestimmt und unerforschlich. Zur Ableitung des radikalen Bösen versucht Kant jedoch, die Willkür der Sache nach wieder positiv zu bestimmen. Er greift dabei auf einige Freiheitsprofile und Theorie­ elemente aus seinen früheren ethischen Schriften zurück, um die Freiheit mit einem allgemeinen apriorischen moralischen Grundzug zu vereinigen. Aber sein Ansatz wird weder dem Erfordernis der Vernunftkritik noch der Spannung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit gerecht. Die in der Offenbarungskritik herausgestellte Willkürfreiheit im Sinne von Wahlfreiheit und Unbestimmtheit wird in der MS zurückgenommen. Kant unternimmt zwar den Versuch, „Wille“ mit „Willkür“ zu vereinigen, es gelingt ihm dadurch aber nicht, die Unbestimmtheit der Wahlfreiheit mit der Bestimmtheit der ge­ setzeskonformen Freiheit zu versöhnen. In der Tat gibt Kant den Willkürbegriff aus der Religionsschrift in der Folgezeit auf, da sie seines Erachtens einen Indif­ ferentismus herbeiführe und im Rahmen der Transzendentalphilosophie nur eine unzulässige definitio hybrida enthalte. Er kehrt zurück zu seinem früheren Standpunkt und identifiziert die Freiheit erneut mit der praktischen Vernunft. In der Auseinandersetzung mit Reinholds Theorie wurde im ersten Teil des dritten Kapitels zunächst der Übergang von der kantischen Position zu seiner eigenen nachverfolgt. In Reinholds Freiheitstheorie von 1789 stellt sich eine überwiegende Übereinstimmung mit der kantischen Position heraus, die durch Reinholds Definition der Freiheit als der absoluten Selbsttätigkeit der prakti­ schen Vernunft gekennzeichnet ist. Diese stützt sich auf die Theorie des Vor­ stellungsvermögens, die Kants Transzendentalphilosophie nahesteht. Durch die Untersuchung wurden auch weniger bekannte Aspekte von Reinholds Denken in dieser Phase aufgefunden, nämlich seine Abweichungen von Kant und die erste Distanzierung der Freiheit von der praktischen Vernunft. Erstens spricht gegen eine vollständige Übereinstimmung mit Kant, dass bei Reinholds Beweis der Nicht-Unmöglichkeit der Freiheit ein Verlust an transzendentalphilosophi­ scher und moralmetaphysischer Tiefe festzustellen ist. Zweitens baut Reinhold, indem er den Triebbegriff einführt, die Argumentation so um, dass der tran­ szendental-idealistische Rahmen gesprengt wird. Er verlagert den Schwerpunkt der Freiheitskonzeption auf die Realisierung der Handlungsweise der Vernunft, betont die Gegebenheit des Gesetzes und weist auf den leidenden Charakter des Subjekts gegenüber dieser Gegebenheit hin. Drittens akzentuiert Reinhold die Unabhängigkeit vom Zwang der Vernunft, wenn er die Willkür- oder Wahlfreiheit auslegt, obwohl er die Unverträglichkeit der Wahlfreiheit mit der praktischen Vernunft noch nicht thematisiert. Mit diesen Positionsverschiebun­ gen geht Reinhold Schritt für Schritt den Weg zu seiner späteren Position in Briefe II. Zur Darlegung von Reinholds Polemik in Briefe II wurden im zweiten Teil des dritten Kapitels seine komplexen Argumente gegen die Identifikation der Willensfreiheit mit der praktischen Vernunft dargestellt. Reinholds Übernah­

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me von Kants Autonomie-These in Hinsicht auf die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft zeigt eine fortbestehende Anlehnung an Kant. Aber Rein­ hold entkoppelt die Autonomie der praktischen Vernunft von der Freiheit, indem er die Selbsttätigkeit der Vernunft von der Selbsttätigkeit der Person trennt, in welcher er die Freiheit verortet. Sein Kernargument besteht darin, dass die erste Form der Selbsttätigkeit nur eine bestimmte Handlungsweise zulässt, während die zweite Form eine Unbestimmtheit durch eine Pluralität von Handlungsweisen erfordert. Ferner tut Reinhold im Wesentlichen die kantische Konstruktion in dessen zweiter Kritik ab und verweist auf die Unzu­ länglichkeit und Kraftlosigkeit der praktischen Vernunft bei der Bestimmung des Willens. Er theoretisiert und naturalisiert die praktische Vernunft. Durch eine reductio ad absurdum beweist er eine Lücke im Freiheitsbegriff, insofern dieser mit der praktischen Vernunft identifiziert wird. Dieser Freiheitskonzep­ tion zufolge geht die gesetzwidrige Handlung aus Unfreiheit hervor, weshalb sie die moralische Verantwortung für das Böse nicht erklären kann. Obwohl Reinholds Kritik direkt an Schmid gerichtet ist, zielt sie letztlich auf Kants Freiheitstheorie. Reinholds Argument besitzt Überzeugungskraft, auch wenn ihm ein systematischer Aufbau fehlt. Im Zusammenhang mit dieser reductio ad absurdum löst Reinhold die Freiheit von der praktischen Vernunft ab. In der Folge erweitert er die negative Bedeutung der Freiheit, sodass diese in der Unabhängigkeit von jeglichem objektiven Bestimmungsgrund bzw. in der absoluten Grundlosigkeit besteht. Dieser Radikalisierung der Unbestimmtheit im Freiheitsbegriff liegt Reinholds Überzeugung von der Inkompatibilität der Bestimmtheit mit der Unbestimmtheit zugrunde. Reinhold nimmt Rücksicht auf die Gefahr des Äquilibrismus. Um diesem zu entgehen, versucht er, auch einen positiven Begriff der Freiheit zu entwickeln, mit welchem der kausale Zusammenhang zwischen Tat und Akteur positiv charakterisiert werden kann. Im Wesentlichen führt Reinhold eine Bestimmtheit in den bereits als absolu­ te Unbestimmtheit etablierten Freiheitsbegriff ein, was eine unvermeidliche Schwierigkeit mit sich bringt. Ferner begründet Reinhold die Wirklichkeit der Freiheit durch eine Tatsache des Bewusstseins. Die ausgedünnte philosophische Basis dieser Begründungsweise verleiht Reinholds Freiheitstheorie einen stark moralpsychologischen Charakter. Allerdings lässt sich Reinholds gesamte Frei­ heitslehre nicht auf eine Moralpsychologie reduzieren. Als dritte Station der Entwicklungsgeschichte wird im vierten Kapitel Fich­ tes Freiheitstheorie im Zeitraum von 1793–1798 erforscht. Die Untersuchung seiner Willenstheorie im Jahr 1793 – hauptsächlich anhand der Offenbarungs­ kritik, aber auch anhand seiner Rezensionsschriften – belegt, dass Fichtes Frei­ heitstheorie einerseits sehr nahe an Kants Konzeption steht, anderseits stark von Reinhold geprägt ist. Der kantische Einfluss besteht vor allem darin, dass Fichte die Begründung der Wirklichkeit der Freiheit durch das Bewusstsein der Spontaneität bestreitet und das Moralgesetz für den einzigen zuverlässigen

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Erkenntnisgrund der Freiheit hält. In Anlehnung an Kant betrachtet Fichte die Gesetzgebung der praktischen Vernunft als die erste Äußerung der Frei­ heit. Demgegenüber konnte meine Untersuchung aber auch eine prägende Wirkung Reinholds auf Fichte nachweisen. Im Einzelnen konnte sie dabei folgende Punkte offenlegen: Fichte greift auf Reinholds Triebbegriff zurück, der ein Moment des Endlichkeitsbezugs impliziert; er achtet wie Reinhold auf die Bestimmtheit des Gesetzes, wie sie im gemeinen Verstand vorkommt; er übernimmt von Reinhold die Unterscheidung zwischen der Selbsttätigkeit des Menschen und der Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft. Meine Analyse zeigte auch eine neue Entwicklung in Fichtes Denken in jener Phase auf. Er vermittelt die Sinnlichkeit mit der Vernunft, indem er die Achtung für das Ge­ setz als das Zusammenfallen der beiden interpretiert, den sittlichen Trieb mit dem sinnlichen Trieb durch das „Dürfen“ harmonisiert und ein drittes höheres Prinzip sucht. Außerdem entwickelt sich ein dynamisches Moment bezüglich der Entstehung des Bewusstseins des Sittengesetzes, was die „Tathandlung“ in der Wissenschaftslehre und der Sittenlehre vorbereitet. Vor dem Hintergrund sowohl des historischen Zusammenhangs als auch der einschlägigen Problematik wurde Fichtes Freiheitstheorie in der SL von 1798 als ein umfassender Vermittlungsversuch zwischen Kant und Reinhold interpretiert. Die systematische Entwicklung der Wissenschaftslehre, die der SL zugrunde liegt, ermöglicht die Vereinigung der verschiedenen Aspekte der Frei­ heitstheorie, die in der Offenbarungskritik bereits vorliegen. Einerseits gestaltet Fichte die Ableitung des Freiheitsbegriffs als einen gestuften Entstehungspro­ zess des Bewusstseins, wie es der zentralen Botschaft der „Tathandlung“ in der Wissenschaftslehre entspricht. Andererseits wird das höchste Prinzip des Ichs als „Subjekt-Objekt“ bereitgestellt, um die Anwendbarkeit des Vernunftgesetzes in der Sinnenwelt zu erklären. Fichtes Mittelweg besteht nun meinen Unter­ suchungen zufolge darin, dass er den Freiheitsbegriff nach dem genetischen Prozess in vier Ebenen entwickelt, wobei er Bestimmtheit und Unbestimmtheit diesen verschiedenen Ebenen des Freiheitsbegriffs zuordnet. Auf der ersten Ebene der Ableitung definiert er die Freiheit als die Selbsttätigkeit der Intelli­ genz. Diese impliziert zwar einen unbestimmten Freiraum beim Entwurf des Zweckbegriffs, wird aber in dieser Unbestimmtheit nicht radikalisiert, denn die Bestimmbarkeit durch das Gesetz wird nicht ausgeschlossen. Auf der zweiten Ebene synthetisiert Fichte in Anlehnung an Kant das unbestimmte Vermögen der Intelligenz mit dem bestimmten Moralgesetz. Dadurch identifiziert Fichte die Willensfreiheit ebenfalls mit der praktischen Vernunft. Aber anders als Kant bindet Fichte diese Freiheit nicht so fest an das Moralgesetz, und er inte­ griert durch die Akzentuierung der Tathandlung der Vernunft eine Instanz der Unbestimmtheit. Die dritte Ebene betrifft die Vereinigung der Freiheit mit der Natur. Fichte geht über Kant hinaus und legt Wert auf die Mitwirkung der Na­ tur bei der Verwirklichung des Moralgesetzes. Auf dieser Ebene ist die Freiheit

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nicht mehr mit der praktischen Vernunft identisch. Auf der vierten und letzten Ebene zeigt sich Fichtes Verständnis der Freiheit in Bezug auf das Böse. Dieses ist weniger in die übrige Konzeption integriert und erweist sich als ambivalent. Fichte akzentuiert die Unbestimmtheit der Reflexionspunkte des empirischen Vernunftwesens in der Zeit und charakterisiert die Freiheit als grundlos und unerklärlich. Damit kann er aber schwerlich beweisen, dass der Wechsel des Reflexionspunktes, der die Wahl des Zeitwesens determiniert, unter der Macht des Subjekts steht. Fichte gerät der Sache nach in die gleiche Schwierigkeit wie Kant und Reinhold, weil er den als Unbestimmtheit etablierten Freiheitsbegriff auf eine positive Weise begreiflich zu machen sucht. Außerdem opfert Fichte den kantischen Rigorismus und die Originalität des Willkürkonzepts bei Rein­ hold, um seinen Mittelweg einschlagen zu können. Durch meine systematische, historische und kritische Analyse erhellt, dass Kant, Reinhold und Fichte unterschiedliche Auffassungen der Beziehung zwi­ schen Willensfreiheit und praktischer Vernunft haben. Während Kant die bei­ den miteinander identifiziert, trennt Reinhold die beiden sehr scharf voneinan­ der, Fichte schließlich schlägt einen Mittelweg ein. Er verbindet die Freiheit mit dem Anspruch der praktischen Vernunft in Hinsicht auf das formale Prin­ zip der Sittlichkeit, aber lockert diese Bindung im Vergleich zu Kant und in­ tegriert die Trennung der beiden auf anwendungsnahen Ebenen des Freiheits­ konzepts. Damit zusammenhängend stellen die drei Denker drei verschiedene Lösungsentwürfe für die Problematik der Freiheit zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit vor. Kant verbindet die Freiheit vor allem mit der Bestimmt­ heit; bei Reinhold dominiert der Anspruch der Unbestimmtheit von jeglichem Grund; in Fichtes vermittelnder Konzeption werden die Bestimmtheit und die Unbestimmtheit auf verschiedenen Ebenen des Freiheitsbegriffs eingeordnet. Aber jedes Lösungskonzept weist eigene Schwierigkeiten auf. Kant gelingt es nicht, die Wahlfreiheit in sein Konzept zu integrieren, die entscheidend für die Erklärung der moralischen Verantwortung ist; bei Reinhold gerät die Frei­ heitskonzeption in Grundlosigkeit, somit kann sie sich kaum vom Äquilibris­ mus abgrenzen, und dem Indifferentismus kann sie erst recht nicht entgehen; Fichte bleibt hinter dem Rigorismus der kantischen Autonomie-These zurück und kann sich von der Grundlosigkeit des Freiheitsbegriffs hinsichtlich der Zurechenbarkeits-These nicht lösen. Der Streit zwischen den drei Philosophen ist abhängig von ihren jeweiligen Ausgangspunkten (Autonomie-These oder Zurechenbarkeitsproblematik), von der Beschaffenheit der theoretischen Basis des Freiheitsbegriffs (oder dem Fehlen derselben) und von der Argumentati­ onsstrategie. Meine Analysen dieser Lösungskonzepte können für die heutige Freiheitsdebatte aufschlussreich sein. Sie erhellen die verschiedenen Umgangs­ strategien mit der tiefliegenden Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbe­ stimmtheit im Freiheitskonzept, die auch die gegenwärtige Freiheitstheorie beschäftigt. Darüber hinaus ergibt sich, dass die verschiedenen Freiheitskonzep­

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tionen in einem engen historischen Zusammenhang stehen. So wird Reinhold direkt von Kant geprägt, während Fichte sowohl von Kant als auch von Rein­ hold Einflüsse erfährt. Meine Analyse dieser Entwicklungsgeschichte der Frei­ heitskonzeption taucht die Rezeptionsgeschichte von Kant und Reinhold in ein neues Licht und möchte besonders auf Reinholds unterschätzten historischen Beitrag aufmerksam machen.

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Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, später Deut­ schen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff. [Die KrV und die Religionsschrift werden nach der üblichen B-Nummerierung ausgewiesen.]

GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV)

Moralphilosophie Collins

Vorlesungen Wintersemester 1784/1785 Moralphiloso­ phie Collins (AA XXVII)

Moral Mrongovius

Moral Mrongovius (Grundl.: 1774/75 bzw. 76/77) (AA XXVII)

KpV

Kritik der praktischen Vernunft (AA V)

KrV

Kritik der reinen Vernunft 1781 (AA IV), 1787 (AA III)

KU

Kritik der Urteilskraft (AA V)

MS

Metaphysik der Sitten (AA VI)

MS-Vorarbeiten

Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten (AA XXIII)

Prolegomena

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik

Reflexion(en)

Reflexionen zur Moralphilosophie (AA XIX)

Religionsschrift

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver­ nunft (AA VI)

Reinhold, Karl Leonhard RGS

Karl Leonhard Reinhold, Gesammelte Schriften. Kom­ mentierte Ausgabe, hrsg. v. Martin Bondeli, Basel 2007 ff. (Die Texte von Briefe I-II und Versuch werden aus dieser Ausgabe zitiert, die entsprechenden Textstel­ len aus dem ersten Druck werden aber ebenfalls angege­ ben.)

Briefe I

Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Band (Ers­ ter Druck: Leipzig 1790) (RGS 2/1)

Briefe II

Briefe über die Kantische Philosophie. Zweyter Band (Erster Druck: Leipzig 1792) (RGS 2/2)

Ehrenrettung

Ehrenrettung des Naturrechts, in: Der neue Teutsche Merkur, April 1791, S. 338–382.

Fundament

Ueber das Fundament des philosophischen Wissens: von C. L. Reinhold nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens (RGS,4)

Gedanken

Gedanken über Aufklärung, in: Der Teutsche Merkur, 1. Teil: Juli 1784, S. 3–22; 2. Teil: August 1784, S. 122– 33; 3. Teil: September 1784, S. 232–45.

SchmidRezension

[Rezension:] Empirischer Psychologie, von Christian C. E. Schmid, 1791. In Allgemeine Literatur-Zeitung vom 3. April 1792, Nr. 87, Bd. 2, 1792.

RKA

Karl Leonhard Reinhold: Korrespondenzausgabe, hrsg. v. Faustino Fabbianelli, Kurt Hiller und Ives Radrizzani. Band 1: Korrespondenz 1773–1788; Band 2: Korrespon­ denz 1788–1790; Band 3: Korrespondenz 1791; Band 4: Korrespondenz 1792; Band 5: Korrespondenz 1793.

Versuch

Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstel­ lungsvermögens (Erster Druck: Prag/Jena 1789) (RGS, 1)

Fichte, Johann Gottlieb GA

Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, Hans Jacob, Erich Fuchs, Peter K. Schneider u. Günter Zöller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.

AenesidemusRezension

[Rezension:] Aenesidemus, oder Über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena Gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkri­ tik. 1792. (GA I/2)

BdM

Die Bestimmung des Menschen (GA I/6)

BWL

Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (GA I/2)

Collegium über die Moral

Collegium über die Moral. bey Herrn Profeßor Fichte. Jena, Nachlaß von Hans jacob. 1796. (GA IV/1)

CreuzerRezension

[Rezension:] Skeptische Betrachtung über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe von Leonhard Creuzer. 1793. (GA I/2)

ErE

Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (GA I/4)

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GebhardRezension

[Rezension:] Ueber die Sittliche Güte aus Uninteres­ sierten Wohlwollen, von Friedrich Heinrich Gebhard. 1792. (GA I/2)

GWL

Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (GA I/2)

Offenbarungskritik

Versuch einer Critik aller Offenbarung (GA I/1)

SL

Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wis­ senschaftslehre (GA I/5)

VnD

Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre 1797/1798 (GA I/4)

WLnm

Wissenschaftslehre nova methodo (GA IV/2)

ZwE

Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre

Andere Abkürzungen Aenesidemus

Gottlob Ernst Schulze: Aenesidemus, oder Über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena Gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verthei­ digung des Skepticismus gegen die Anmassungen der Vernunftkritik. 1792.

Monadologie

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie: Franzö­ sisch/Deutsch, hrsg. und übers. v. Hartmut Hecht, Dit­ zingen, 1998.

Théodicée

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de Théodicée, Ams­ terdam, 1710.

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