Vernunft Und Urteilskraft: Kant Und Die Kognitiven Voraussetzungen Vernunftiger Praxis (German Edition) 9783495489215, 3495489215

Kants Praktische Philosophie identifiziert die kognitiven Voraussetzungen vernunftiger Praxis im Wesentlichen mit der vo

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German Pages 336 [337] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Praktische Philosophie und Praxis
2. Praktisches Urteilen und Erkennen
3. Moralisches und rechtliches Urteilen und Erkennen
4. Praktische Freiheit als moralische und rechtliche Urteilsautonomie
5. Praktische Philosophie und Ideologie-Kritik
6. Kehraus oder Einkehr mit Kant oder mit Hegel?
7. Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite
8. Zum Abschluß
Namensregister
Autonomie und Humanität
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
Universalität, Spontaneität und Solidarität
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
Religion trotz Aufklärung?
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
Zum Abschluss
Ist die Moral strukturell rational?
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
The Cognitive Dimension of Freedom as Autonomy
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Literaturverzeichnis
Moralität und Nützlichkeit
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Publikationsnachweise
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Vernunft Und Urteilskraft: Kant Und Die Kognitiven Voraussetzungen Vernunftiger Praxis (German Edition)
 9783495489215, 3495489215

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Rainer Enskat

Vernunft und Urteilskraft Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817094

.

B

Rainer Enskat Vernunft und Urteilskraft

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Rainer Enskat

Vernunft und Urteilskraft Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Rainer Enskat Reason and Judgment Kant and the cognitive requirements of rational practice Kant’s practical philosophy identifies the cognitive presuppositions of rational practice essentially with reason, a subject raised by Kant, and with judgment, a subject raised by Aristotle. In contrast to today’s inflationary public thematisations and evocations of the concept of reason, the practice of practical reason in the light of Kant’s Practical Philosophy is bound to an entirely transparent sequence of methodological steps. With their help, all subjective-individual intentions and actions of people can finally be tested for their moral, their legal and even their political format. As autonomous as Kant sees this reason in the design of this methodical sequence of steps, so little is he blind to the other, specifically anthropological, cognitive desideratum, that the examination by reason requires »the discernment of judgment enhanced by experience.« The analysis of the interaction of these two cognitive instances intends to emphasize the reasonableness of the practice discussed in the eight essays collected here.

The author: Rainer Enskat, born in 1943, after completing his doctorate at the University of Göttingen and habilitation at the University of Freiburg, he worked as Professor at the Universities of Heidelberg and Halle; Emeritus 2008.

https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Rainer Enskat Vernunft und Urteilskraft Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis Kants Praktische Philosophie identifiziert die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis im Wesentlichen mit der von ihm zur Sprache gebrachten Vernunft und mit der seit Aristoteles zur Sprache gebrachten Urteilskraft. Im Gegensatz zu den in unserer Zeit inflationär gewordenen öffentlichen Thematisierungen und Beschwörungen einer Instanz namens Vernunft ist die Tätigkeit der praktischen Vernunft im Licht von Kants Praktischer Philosophie an eine vollständig durchschaubare Folge methodischer Schritte gebunden. Mit ihrer Hilfe können alle subjektiv-individuellen Handlungsvorsätze und Handlungsweisen von Menschen abschließend auf ihr moralisches, ihr rechtliches und sogar ihr politisches Format geprüft werden. So autonom Kant diese Vernunft im Entwurf dieser methodischen Schrittfolge auch sieht, so wenig blind ist er für das andere, spezifisch anthropologische kognitive Desiderat, dass die Prüfungen durch die Vernunft die »durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern«. Die Vernünftigkeit der Praxis, die in den hier versammelten acht Abhandlungen erörtert wird, soll durch die Analyse des Zusammenspiels dieser beiden kognitiven Instanzen deutlich gemacht werden.

Der Autor: Rainer Enskat, Jahrgang 1943, hatte nach der Promotion an der Universität Göttingen und der Habilitation an der Universität Freiburg i. Br. Professuren an den Universitäten Heidelberg und Halle inne; emeritiert 2008.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48921-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81709-4

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Dem Gebrauche der moralischen Begriffe ist nur der Rationalismus der Urteilskraft angemessen Immanuel Kant Worauf kommt’s an? (frägt die Urteilskraft) …, weiß … aber … den springenden Punk zu treffen Immanuel Kant Aber wo fände sich ein Mittel, Urteilskraft zu pflanzen? Friedrich Nietzsche

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https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktische Philosophie und Praxis . . . . . . . . . . . . 2. Praktisches Urteilen und Erkennen . . . . . . . . . . . 3. Moralisches und rechtliches Urteilen und Erkennen . . . 4. Praktische Freiheit als moralische und rechtliche Urteilsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Praktische Philosophie und Ideologie-Kritik . . . . . . . 6. Kehraus oder Einkehr mit Kant oder mit Hegel? . . . . . 7. Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite . 8. Zum Abschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie und Humanität. Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren

11 11 15 20 27 30 33 36 48 50

. . .

50

Universalität, Spontaneität und Solidarität. Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . .

95

Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft? . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

Religion trotz Aufklärung? Retraktationen einer ungelösten philosophischen Aufgabe Platons für Kant . . . . . . . . . . .

191

Ist die Moral strukturell rational? Die kantische Antwort . . . .

238

The Cognitive Dimension of Freedom as Autonomy . . . . . .

262

9 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Inhalt

Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität . .

277

Moralität und Nützlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

310

Publikationsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

10 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

1.

Praktische Philosophie und Praxis

Es war eine in jeder Hinsicht außerordentliche geschichtliche Situation für die Philosophie, als ihr nach dem Zweiten Weltkrieg klar wurde, daß ihre auf der Hemisphäre der Praktischen Philosophie beheimateten Tätigkeiten in der Moralphilosophie, der Rechtsphilosophie und der Politischen Philosophie eine Rehabilitierung nötig haben. 1 Die rechtfertigenden Gründe für das Unternehmen der Praktischen Philosophie hatten zwar nichts von der zwingenden Plausibilität verloren, mit der Platon ihren großen Anfang gemacht hatte. Seine Frage war, welche Arten von Tugenden die Menschen kultivieren müssen, wenn ihnen durch die Orientierung an der Idee des Guten dauerhaft eine gedeihliche individuelle und gemeinsame öffentliche Praxis ihres Lebens gelingen soll. Doch sowohl die deutsche Katastrophe und deren moralische, rechtliche und politische Voraussetzungen wie deren katastrophale weltgeschichtliche Folgen konnten ein nur allzu grelles Licht auf die Gefahren werfen, denen die Menschen ausgesetzt sind, wenn die moralischen, die rechtlichen und die politischen Tugenden sowie deren kognitive Hilfskräfte zu schwach entwickelt sind, um die Orientierung an der Idee des Guten praktisch werden zu lassen. Gewiß haben die Philosophen, die in der Tradition von Platons Philosophie gearbeitet haben, niemals ernsthaft geglaubt, daß sie solchen Gefahren durch die mündliche oder die schriftliche und öffentliche Mitteilungen ihrer Überlegungen unmittelbar wirksam vorbeugen oder entgegenwirken können. Kaum ein anderer Philosoph hat sich in den von ihm publizierten Dokumenten seines Denkens so unverblümt wie Platon von auch nur annähernd so tiefer Skepsis gegen die unkontrollierbaren Geschicke durchdrungen geVgl. Rehabilitierung der praktischen Philosophie. 2 Bde. (Hrsg. Manfred Riedel), Freiburg i. Br. 1972/74 (engl. 1987).

1

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Einleitung

zeigt, denen die Inhalte solcher Dokumente ausgesetzt sind, sobald sie externen Lesern zugänglich sind. Jeder Versuch, mit Mitteln der Philosophie, speziell der Praktischen Philosophie oder im Ausgang von Resultaten entsprechender philosophischer Untersuchungen direkt in die soziale oder in die politische Praxis einzugreifen, ist gänzlich unkontrollierbaren Geschicken ausgesetzt. Sie sind dazu verurteilt, zugunsten von Zielen instrumentalisiert zu werden, die sich aus den der Philosophie prinzipiell entzogenen subjektiven und objektiven Interessenlagen der Träger der Praxis in diesen beiden Sphären ergeben. Die propositionalen Gehalte und die methodischen Einstellungen, die sich in Dokumenten philosophischer Untersuchungen zeigen, entziehen sich einem direkten Verständnis und einer direkten Beurteilung durch ihre Zaungäste aus zwei untilgbaren internen Charakteristika – nicht nur einfach durch die evidenten Grade ihrer begrifflichen und argumentativen Komplexität und durch die Grade ihrer sprachlichen Entfernung von der durch Konventionen und praktische Situationen verständlichen Gebrauchssprache des praktischen Alltags. Es ist vielmehr diese evidente Komplexität selbst, die ganz besonders die Tätigkeiten der Praktischen Philosophie von Anfang an in ein niemals ganz zu zerstreuendes paradoxes Zwielicht taucht: Inwiefern kann die immer wieder von neuem zu direkten moralischen, rechtlichen und politischen Selbstkorrekturen fähige Alltagspraxis von Voraussetzungen abhängen, deren in der Praktischen Philosophie evident werdende Komplexität in keinem kommensurablen Verhältnis zu der ebenso evidenten direkten Selbstkorrigierbarkeit dieser Praxis selbst steht? Selbstverständlich waren die Autoren von Entwürfen der Praktischen Philosophie durch ihre persönlichen Lebensläufe zu allen Zeiten selbst ›in Geschichten verstrickt‹. Ihre Arbeit an diesen Entwürfen war indessen immer auch an zwei Fragen orientiert, die zu einer methodisch kontrollierbaren Klärung dieser Verstrickung beitragen sollten, ohne sie jemals ganz zum Verschwinden zu bringen: Ob und gegebenenfalls wie es möglich ist, im Labyrinth der faktischen praktischen Lebensorientierungen der Menschen mit Mitteln des reinen Denkens praktische Normen ans Licht zu bringen, die geschichtsinvariant gültig sind und sich ohne irgendwelche Rückgriffe auf konkrete geschichtliche Situationen – außer im Blick auf die conditio humana – begründen lassen. Und ob solche Normen, wenn sie sich finden lassen, gleichwohl zu nichts anderem tauglich sind, als Menschen und ihre Handlungsweisen in ihren konkreten praktischen Si12 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Praktische Philosophie und Praxis

tuationen richtig zu beurteilen. Vor allem Platons Dialoge wimmeln geradezu in paradigmatischer Weise von Bemühungen des Sokrates, seine Gesprächspartner auf irrige Beurteilungen ihrer eigenen konkreten Handlungsweisen und Handlungsmaximen oder der von anderen Personen aufmerksam zu machen und dadurch ihren Blick für angemessenere Beurteilungsmöglichkeiten und für Selbstkorrekturen zu schärfen. Es liegt auf der Hand, daß die im alltäglichen privaten wie im öffentlichen Leben immer wieder einmal genutzte Möglichkeit praktischer – also moralischer, rechtlicher oder politischer – Selbstkorrekturen unmittelbar voraussetzt, daß auch richtige und falsche praktische Beurteilungen von entsprechenden Handlungsweisen und Maximen möglich sein müssen. Indem wir diese Möglichkeiten in unserem alltäglichen praktischen Leben mehr oder weniger stillschweigend voraussetzen, teilen wir mit der klassischen Praktischen Philosophie eine ihrer zentralen Voraussetzungen. Das ist alles andere als ein Zufall. Denn diese hat ihre Untersuchungen von Anfang an – in klassischer Form in den skeptisch-didaktischen Dialogen von Platons literarischer Sokrates-Gestalt – von dem Ziel leiten lassen, die von ihr gesuchten Normen direkt im Labyrinth der praktischen Orientierungen zu finden, von denen die Menschen in mehr oder weniger unreflektierter Form – wenn schon nicht regelmäßig, so doch okkasionell – Gebrauch machen. Dieser praktischen Selbstkorrigierbarkeits-Voraussetzung fällt hierbei offensichtlich eine Schlüsselrolle zu, wie erratisch auch immer man von ihr Gebrauch machen mag. Die Umstände hatten es indessen gefügt, daß die nach tiefen moralischen, rechtlichen und politischen Selbstkorrekturen vor allem der Deutschen verlangende Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und die Situation einer damals aktuell gewordenen Ethik gänzlich unvermittelt in ein tief inkommensurables Verhältnis geraten waren. Die von dem amerikanischen Philosophen Charles Leslie Stevenson erarbeitete Meta-Ethik 2 hatte die Bedeutung der elementarsten normativen Worte wie Sollen mit den Emotionen identifiziert, die ihr Gebrauch in kommunikativen Äußerungen bei deren Adressaten auszulösen geeignet ist. 3 Stevenson schreibt entsprechenden normativen Äußerungen daher sogar ausdrücklich vor allem eine suggestive Funktion zu. 4 Immerhin fällt auf, daß diese Konzeption nahtlos auf 2 3 4

Charles Leslie Stevenson, Ethics and Language, (11944) New Haven, 1944. Vgl. The emotive meaning of »ought«, S. 302; sowie 84 ff. Vgl. S. 85–86.

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Einleitung

die Suggestions-Rolle zutrifft, zu der der Gebrauch normativer Äußerungen in den Propaganda-Tiraden der nationalsozialistischen Führungsclique und ihrer untergeordneten Chargen degeneriert war. Es darf hier offen bleiben, ob Stevensons Rückzug in eine emotiv orientierte Meta-Ethik in der aktuellen Kriegssituation ihrer Ausarbeitung auch ein Symptom einer Verunsicherung war, wie sie durch den Verfall der normativen Sprache und ihrer unübersehbaren Massensuggestion im nationalsozialistischen Deutschland provoziert werden konnte. Es kann zwar nicht gut bezweifelt werden, daß durch jede normative Äußerung mehr oder weniger tiefgehende Emotionen ausgelöst werden – gleichgültig, ob jemand sie im stillen Selbstgespräch an sich selbst oder in der alltäglichen sozialen Kommunikation an jemand anders richtet oder in der rechtlichen und der politischen Sprache in die entsprechende Öffentlichkeit trägt. In jedem Fall war mit Stevensons Fundamental-Theorie der emotiven Bedeutung normativer Ausdrücke eine wie auch immer schwache Basis für die innerethische Auffassung entworfen worden, daß die praktischen Handlungsweisen der Menschen im Horizont von Normen grundsätzlich nicht mit kognitiv relevanten Mitteln korrigierbar seien. Sie schienen lediglich dem unvorhersehbaren Wandel ausgeliefert zu sein, die ihre Emotionen im Zuge von quasi-evolutionären Anpassungen an ihre sich ändernden sozialen Umwelten und politischen Systeme zweifellos immer wieder einmal durchmachen. 5 Indessen gibt es aus dieser Nachkriegszeit kaum ein beeindrukkenderes Beispiel für ein tieferes und erfolgreicheres Zutrauen in die Möglichkeiten moralischer, rechtlicher und politischer Selbstkorrigierbarkeit als die Beratungen, durch die es dem Parlamentarischen Rat im besetzten Nachkriegs-Deutschland gelungen war, das Grundgesetz der späteren Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten. 6 Gerade die höchste verfassungsrechtliche Korrekturnorm wurde nicht zuletzt unter Rückgriff auf Kants Konzeption der Würde, der humanitas des Menschen in das Grundgesetz aufgenommen. 7 Die wichtigste philosophische Entsprechung zu der wahrhaft republikanischen Selbstkorrektur durch das Grundgesetz im ganzen war die Rehabili-

Zur ersten grundsätzlichen Kritiken an dieser grundsätzlichen metaethischen Auffassung vgl. P. H. Nowell-Smith, Ethics, London 1954. 6 Der Parlamentarische Rat 1948–49. Akten und Protokolle. 14 Bde. 7 Vgl. hierzu unten: Autonomie und Humanität. Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren, S. 51–94. 5

14 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Praktisches Urteilen und Erkennen

tierung der Praktischen Philosophie. Sie war in Deutschland von bedeutenden Gelehrten der Nachkriegs-Generation durchaus schon mehrere Jahre vor ihrer programmatischen Ausrufung in Angriff genommen worden: Durch die Verwüstungen des ersten Atombombenabwurfs war das in der Tiefe schon länger revisionsbedürftige Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Ethik endgültig nicht nur an die Oberfläche des öffentlichen Bewußtseins gelangt, sondern wurde auch von der Grundlagenreflexion der Philosophie aufgegriffen; 8 Kants Ethik wurde für den Nachweis der Unerläßlichkeit des Vernunftgebrauch für die Möglichkeit der sittlichen Einsicht mit neuer methodischer Strenge fruchtbar gemacht; 9 das Problem der Begründbarkeit moralischer Forderungen wurde ebenso in einen Brennpunkt der methodisch kontrollierbaren Aufmerksamkeit der Philosophie gerückt; 10 und ebenso kam die Aufgabe auf die Tagesordnung, eine Regierungslehre für ein Gemeinwesen unter den Bedingungen einer zunehmend wissenschaftsbasierten Industriegesellschaft und parlamentarischen Demokratie 11 mit gleichzeitigem Blick auf das Spannungsverhältnis von Politik und Praktischer Philosophie 12 zu entwerfen.

2.

Praktisches Urteilen und Erkennen

Das Begründbarkeitsproblem nicht nur moralischer, sondern aller Typen praktischer Forderungen bzw. Normen ist seit damals durch die weiterführende Frage nach den vielfältigen logischen und nicht-logischen Formen des Argumentierens zugunsten bzw. zuungunsten des Akzeptierens und Befolgens praktischer Forderungen bzw. Normen bis heute zu einem Brennpunkt-Thema der rehabilitierten PraktiVgl. Wolfgang Wieland, Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt, in: Das Parlament, Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte 1964, S. 11–26. 9 Vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Philosophische Rundschau 3 (1960), S. 28–69. 10 Vgl. Günther Patzig, Die Begründbarkeit moralischer Forderungen (11964), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1, Grundfragen der Ethik Göttingen 1994, S. 44–71. 11 Vgl. Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre (11965), wieder abgedr. in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 81–104. 12 Vgl. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963. 8

15 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

schen Philosophie geworden. In Gestalt der Deontischen Logik hat dieses Brennpunkt-Thema sogar eine hochspezialisierte selbständige disziplinäre Ausgestaltung erfahren. Doch gleichzeitig – wenngleich nicht mit derselben Kontinuität und Breitenwirkung wie das allgemeine Begründungsproblem – ist die Aufmerksamkeit immer wieder einmal auf einen Problemkreis gelenkt worden, in dem es um diejenigen Voraussetzungen vernünftiger Praxis geht, die allem Begründen und Argumentieren vorausliegen. Es geht hier um Voraussetzungen, auf die sowohl das praktische Handeln wie die Anforderungen angewiesen sind, denen jeder Mensch sowohl sich selbst wie jeden anderen Menschen durch das Ansinnen von praktischen Forderungen bzw. Normen aussetzt, denen die Menschen aber ebenso durch die positiven Rechtsnormen ihrer jeweiligen Gemeinwesen wie durch das vorpositive Recht ausgesetzt sind. Es sind dies die unmittelbaren kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis. Jeder Mensch macht von diesen Voraussetzungen sogar dann Gebrauch, wenn seine Praxis entweder okkasionell oder regelmäßig nicht vernünftig ist. Er hat dann einen mehr oder weniger schlechten Gebrauch von ihnen gemacht. Eine dieser Voraussetzungen war ebenfalls in der Zeit der Rehabilitation der Praktischen Philosophie zum ersten Mal wieder mit der angemessenen Konzentration von dem französischen Philosophen Pierre Aubenque in Erinnerung gerufen worden. 13 Aus dem zu Recht berühmten VI. Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles hebt er die kognitive Schlüsselrolle der praktischen Urteilskraft (jugement, κτίσις) hervor. 14 Er macht darauf aufmerksam, daß die von ihm vor allem thematisierte Aristotelische Konzeption der Klugheit (prudence, φρόνησις) eine zwar abkünftige, aber gleichwohl zentrale kognitive Tugend der praktischen Urteilskraft behandelt. Sie ist diejenige spezifisch praktische kognitive Fähigkeit, vermöge deren ein Mensch in den Situationen, in die er durch die jeweils aktuellen Umstände verstrickt ist, regelmäßig zur Einsicht in die am besten vertretbare Beurteilung seiner primären Handlungspräferenz gelangen kann, wenn er alle für ihn überschaubaren subjektiven und objektiven Vor- und Nachteile abwägt, die sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus den für ihn vorhersehbaren Konsequenzen der von ihm erwägbaren Handlungsalternativen ergeben. 13 14

Vgl. Pierre Aubenque, La prudence chez Aristote, Paris 1964. Vgl. S. 43–52.

16 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Praktisches Urteilen und Erkennen

Es ist alles andere als ein Zufall, daß die praktische Urteilskraft und die von ihr geprägten kognitiven Tugenden schon so früh in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit der Praktischen Philosophie gerückt worden sind. Denn schon vor ihrer disziplinären Taufe durch Aristoteles hatte Platon eine Praktische Philosophie avant la lettre erarbeitet. In ihr geht es geradezu planmäßig darum, die spezifisch kognitiven Tugenden ins Bewußtsein zu heben, ohne deren Beteiligung die spezifisch praktischen Tugenden nicht sein könnten, wofür man sie zu halten pflegt – nämlich Tugenden, also die schätzenswertesten habituellen Voraussetzungen einer an der Idee des Guten orientierten Praxis. Ihrem Inhalt nach bleibt die Idee des Guten in Platons Dialogen unbestimmt. Das entspricht der viel späteren Einschätzung George Edward Moores, daß der Begriff des Guten undefinierbar sei. 15 Umso prägnanter, wenngleich vor allem in analogischen und metaphorischen Formen hat Platon die Funktionen dieser eminenten Idee charakterisiert – vor allem durch die Bestimmung, daß sie ähnlich wie die Sonne die für alles Erkennen und Sein wichtigste Bedingung bildet. 16 Eine andere kognitive Voraussetzung vernünftiger Praxis ist in der Nachkriegszeit unter dem namengebenden Begriff der Vernunft vor allem in der Tradition der klassischen deutschen Philosophie bis in die unmittelbare Gegenwart in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt worden. Allerdings hat die Philosophie nicht zuletzt auch durch die methodologisch wichtigen Lektionen der Wissenschaftstheorie gelernt, in Strenge zu bedenken, daß auch die begrifflichen Bedeutungen von Worten, wie sie in philosophischen Theorien gebraucht werden, vom inneren Zusammenhang der Elemente dieser Theorien abhängen. Daher wird auch niemand mehr Worte wie »ratio« oder »Vernunft« in der Philosophie ohne sachlichen Verlust verwenden können, wenn er die spezifische Theorieabhängigkeit der Bedeutungen dieser Worte vernachlässigt. Nicht nur Rhetoriken der Beschwörung der Vernunft, der Appelle an sie und von mit ihr assoziierten sozialpolitischen Nah- oder geschichtspolitischen Fernerwartungen sind hier zur Belanglosigkeit verurteilt. Nicht besser ist es um

Vgl. George Edward Moore, Principia Ethica (engl. 11903), Stuttgart 1984, Kap. A.–B. 16 Zu Platons Ideen-Konzeption vgl. unten: Religion trotz Aufklärung? Retraktationen einer ungelösten philosophischen Aufgabe Platons für Kant, S. 191–237, bes. S. 196–207. 15

17 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

die abstrakten Berufungen auf eine angeblich ›Kantische‹ oder ›Hegelsche‹ ›Vernunftidee‹ bestellt, und dies umso mehr dann, wenn es um die viel beschworene praktische Vernunft geht, also um eine Vernunft, wie sie offensichtlich in irgendwelchen Formen für die vernünftige Praxis von Belang ist. In der Praxis möchte sich zu Recht niemand auf Beschwörungen von Vernunft oder auf eine ›Kantische‹ oder ›Hegelsche‹ Vernunft verlassen, sondern, wenn es möglich ist, auf eine Vernunft, die für jedermann zuverlässiger praktischer Orientierungen fähig ist. 17 Die Vernunft, der in Kants Philosophie in diesem Sinne eine zentrale kognitive Aufgabe in der nach ihr benannten vernünftigen Praxis zukommt, ist gerade mit Blick auf diese Praxis, die sie prägen soll, alles andere als selbstgenügsam. Sie ist vielmehr auf »eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft« 18 angewiesen. Mangelt es dem individuellen Inhaber der Vernunft an einer solchen durch Erfahrung geschärften Urteilskraft, verstrickt er sich in strukturelle Ausweglosigkeiten. 19 Wie unauflöslich das Zusammenspiel von Vernunft und durch Erfahrung geschärfter Urteilskraft ist, zeigt sich besonders klar, wenn Kant sogar von der Vernunft selbst sagt, sofern sie sich auf eine solche Urteilskraft verlassen kann, daß ihr eine »erworbene Fertigkeit« 20 zugewachsen ist. Es ist kein Zufall, daß gerade Kant die Angewiesenheit der Vernunft, insbesondere die der praktischen Vernunft auf eine Urteilskraft betont, die durch Erfahrung ›geschärft‹ ist bzw. eine entsprechende ›Fertigkeit erworben‹ hat. Denn die in Kants Philosophie konzipierte praktische Vernunft hat schon von Hause aus und primär einen unmittelbaren Kontakt zum praktischen Urteilen. Noch Hegel zeigt in der weit ausgreifenden und tief ansetzenden Phänomenologie des Geistes, daß er den Kontakt der so konzipierten praktischen Vernunft zur Dimension der praktischen Urteile im Auge hat: Trotz aller irregeführten und irreführenden Kritik an dem »leeVgl. hierzu zuletzt vor allem die klassische Auffassung John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf (amerik. 2001), Frankfurt/M. 2006, daß »es eine Sache der (theoretischen und der praktischen) Vernunft ist, uns im (begrifflichen) Raum zu orientieren, beispielsweise im Raum der Zwecke«, S. 21. 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe = Ak.), Berlin 1900 ff., Bd. IV, S. 389. Zu dieser für die praktische Vernunft unverzichtbaren Hilfe speziell durch die rechtliche Urteilskraft vgl. Wolfgang Wieland, Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 1–22. 19 Vgl. hierzu Wolfgang Wieland, Aporien der Vernunft, Frankfurt/M. 1989. 20 Kant, Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 213. 17

18 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Praktisches Urteilen und Erkennen

ren Formalismus« und der »abstrakten Unbestimmtheit« 21 des kategorischen Moral-Imperativs 22 charakterisiert er die Ausübung der Funktion, die Kant ihm zugedacht hat, als »Die gesetzprüfende Vernunft« 23 und als »die beurteilende Macht«. 24 Doch trotz dieser Zielgenauigkeit trifft Hegel auch gleichsam haarscharf daneben. Denn die praktische Vernunft ist in Kants Konzeption nicht selbst und nicht direkt eine prüfende oder urteilende Instanz oder gar Macht. Wohl aber stellt sie, wie Kant es gelegentlich ganz unmißverständlich formuliert, in Gestalt eines Kategorischen Imperativs ein »principium der diiudication« 25 zur Verfügung, das ihre Inhaber sowohl zum Prüfen wie zum trefflichen praktischen Urteilen, vor allem zu Selbstbeurteilungen in den fundamental-moralischen Fragen befähigt. Diese ›diiudikative‹ oder kriterielle Funktion kann selbstverständlich, wie es für eine solche Funktion angemessen ist, mit beiden Orientierungen ausgeübt werden: Mit der einen Orientierung verhilft sie in moralisch problematischen Situationen und in Verbindung mit der ›durch Erfahrung geschärften Urteilskraft‹ abschließend zu richtigen moralischen Beurteilungen von Handungsalternativen; mit der anderen Orientierung verhilft sie zu Selbstkorrekturen von irrtümlich für moralisch richtig gehaltenen Handlungsoptionen (vgl. hierzu unten S. 36–48). Die ›Macht‹ der Vernunft ist unter Kants Voraussetzungen nur so groß wie die von ihr kriteriell angeleitete praktische Urteilskraft durch Erfahrung geschärft ist. Doch ganz analog stellt dieselbe praktische Vernunft auch »das allgemeine Kriterium, woran man Recht überhaupt sowohl als Unrecht erkennen könne«, 26 zur Verfügung und befähigt ihre Inhaber zu trefflichen praktischen Beurteilungen in allen fundamental-rechtlichen Fragen. Es hat die nicht-imperativische, nicht-präskriptive, sondern deskriptive Form: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann« 26a. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden (= Jub.). Siebenter Band, Hg. Hermann Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, § 135, S. 194. 22 Zum zentralen ›blinden Fleck‹ dieser Kritik vgl. unten S. 33–34. 23 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jub. II, S. 327. 24 S. 336. 25 Moral Mrongovius, Ak. XXVII, 2.2, S. 1428 f., sowie Moralphilosophie Collins, Ak. XXVII, 1, S. 274 f. 26 Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 229. 26a S. 230. 21

19 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

3.

Moralisches und rechtliches Urteilen und Erkennen

Der Unterschied zwischen Moral und Recht ist daher in allererster Linie ein kriteriologischer, von den richtungweisenden Beurteilungsprinzipien abhängiger Unterschied. Daher stempelt Kants kategorischer Moral-Imperativ seine entsprechende Ethik auch nicht, wie man nicht selten im Rückgriff auf Max Webers oberflächliche EthikTypologie meint, zu einer Gesinnungsethik. Denn seine Ethik steht nicht im Dienst der Aufgabe zu klären, wie man unter Orientierung am kategorischen Moral-Imperativ in konkreten Fällen herausfinden kann, ob eine Gesinnung, insbesondere eine moralische Gesinnung gut oder sonstwie schätzenswert ist. Zunächst einmal kann dieser Imperativ in seiner klassischen Form »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann« 27 alleine schon durch das simple Präfix Handle so, daß … auf den ersten Blick klarstellen, daß das zentrale von ihm thematisierte Material von Handlungen gebildet wird. Es ist darüber hinaus ausschließlich der so-daß-Charakter, also die Form dieses thematischen Handlungsmaterials, was im Licht dieses Imperativs einer spezifisch moralischen Beurteilung bedürftig ist und zugänglich wird. Daher fungiert dieser Imperativ tatsächlich als ein Beurteilungsprinzip, als ein Kriterium zur richtigen Beurteilung, also zur Erkenntnis des moralischen bzw. moralisch relevanten Handlungscharakters. 28 In dieser kriteriellen Rolle legt er diesen spezifisch moralischen Handlungscharakter strikt darauf fest, von seiner formalen Übereinstimmung mit den Willensmaximen – und in diesem und nur in diesem Sinne von den Gesinnungen – der jeweiligen Akteure abhängig zu sein. Doch man verwechselt dieses principium diiudicationis gründlich mit einem principium executionis, wenn man nicht beachtet, daß es zwar einen Weg zur Beantwortung der Frage, was moralisch ist, bietet, aber nicht zur Beantwortung der Frage, ob irgendeine konkrete Person dank ihrer motivierenden Gesinnung moralisch handelt oder nicht. 29 Überdies wird zu leicht übersehen, daß Kritik der praktischen Vernunft, Ak. V, § 7. Patzig, Begründbarkeit, spricht ebenso zutreffend und zwar zu Recht im Anschluß an Sir David Ross, Ethical Theory, Oxford 1954, S. 31–33, von einem Kriterium für die moralischen bzw. moralisch relevante Handlungscharaktere, vgl. S. 69 f. 29 Das übersieht Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, Heidelberg/New York 1990, in seiner in methodischer Hinsicht vorzüglich gearbeiteten Untersuchung. Die von Köhl als Leitfaden zitierte quasi-definitorische Zusammenfassung von John Kemp, The 27 28

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Moralisches und rechtliches Urteilen und Erkennen

dieses Kriterium der Moralität in seiner konkreten Anwendung primär für die reflexive Anwendung durch eine konkrete Person auf ihr eigenes Handeln und nicht primär auf das Handeln anderer Personen reserviert ist. 30 Der kategorische Moral-Imperativ legt seine Adressaten daher auch nicht – schon gar nicht etwas im Gegensatz zum Rechts-Kriterium – auf irgendeinen pseudo-romantischen Kult von Innerlichkeit, von sogenannten ›inneren Handlungen‹ im vermeintlichen Gegensatz zu den sogenannten ›äußeren‹, den leibhaftigen Handlungen der Akteure einer Rechtsgemeinschaft fest. Ebenso wenig bedeutet die nicht-präskriptive Grammatik der Formulierung des Rechts-Kriteriums, daß die leibhaftigen, ›äußeren‹ Handlungsweisen seines Geltungs- und Anwendungsfeldes nicht einer präskriptiven Normierung ausgesetzt wären. Dieses nicht-präskriptiv formulierte Kriterium kann geradezu trivialerweise ohne den geringsten kriteriellen Verlust in seine präskriptive, imperativische Formulierung umgeformt werden: Handle so, daß deine Handlung oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann! Kant selbst formuliert denn auch fast in einem Atemzug mit der nicht-präskriptiven Version des Rechts-Kriteriums nicht nur eine präskriptive Version in Gestalt eines Kategorischen Imperativs: »Handle äußerlich so, daß Philosophy of Kant, Oxford 1968, »Morality for Kant is reason in action«, S. 56, vgl. Köhl, S. 4, hat den Nachteil, daß sie restlos auch auf Kants Konzeption der Rechtlichkeit zutrifft. Zwar hält Köhl am Ende selbst fest, daß es in Kants Ethik um »die moralische Beurteilung von Handlungen geht«, S. 156. Doch da er die moralischen Motive des Handelns in den Mittelpunkt nicht nur seiner Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch seiner Kant-Kritik stellt, vgl. bes. S. 91–94, verwandelt er den kategorische Moral-Imperativ im Zuge seiner Untersuchung in dem oben angegebenen Sinn unversehens von einem principium diiudicationis in ein principium executionis. Daß die Beurteilung des moralischen Charakters der Motive – also der principia executionis – des Handelns von abgründigen Schwierigkeiten begleitet ist, vor allem bei der Beurteilung der Motive anderer Personen, war Kant ›sonnenklar‹. In seinen Augen gerät vor allem die Beurteilung des moralischen Charakters der eigenen Handlungsmotive, also »[d]ie moralische Selbsterkenntnis in die schwer zu ergründenden Tiefen oder den Abgrund des Herzens«, VI, S. 441. Doch das alles hat nicht das geringste mit irgendwelchen Insuffizienzen der kriteriellen Tauglichkeit des kategorischen MoralImperativs zu tun. Zum wichtigsten Traditionsstifters der Kant unterstellten Gesinnungsethik vgl. unten S. 33–35. 30 Vgl. hierzu unten: Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität, S. 277–309, bes. S. 299–307.

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Einleitung

der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne!« 31 Darüber hinaus setzt er diese Umformung auch sogleich mit dem Kommentar fort, dies sei »ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt«. 32 Kant hat deswegen aber nicht etwa vergessen, was er kurz zuvor festgehalten hat, »daß alle Pflichten, bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören«. 33 Für den deontischen Modus, in dem das Rechtskriterium seine Adressaten anspricht, ist vielmehr ein anderes Format als das der Pflicht ›bloß darum, weil sie Pflicht‹ ist, reserviert. Denn was dieses Kriterium sagt, »[sagt] dieses […] als ein Postulat«. 34 Doch in welchem anderen deontischen Status könnten die Adressaten vom Rechtskriterium angesprochen sein, sofern es ein Postulat ist, wenn nicht im Status derer, von denen ›postuliert‹ wird, die also verbunden sind zu dem, was von ihnen ›postuliert‹ wird? Und was wird von ihnen anderes ›postuliert‹, als zu ›erkennen, worin Recht und Unrecht überhaupt‹ bestehen? 35 Konsequenterweise MS, S. 231. Ebd. Den auffälligen Kontrast zwischen der nicht-präskriptiven Grammatik des Rechtskriteriums einerseits und andererseits seiner imperativischen Version sowie der auferlegten Verbindlichkeit faßt Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, als ein »Paradox«, S. 47, auf, obwohl »he does not elaborate on this«, Markus Willaschek, Which Imperatives for Right? On the Non-Prescriptiv Character of Juridical Laws in Kant’s Metaphysics of Morals, in: Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays. Ed. by M. Timmons. Oxford 2002, S. 65–87, hier: S. 73. Falls Habermas dieses ›Paradox‹ auszuarbeiten versucht hätte, hätte er bemerken können, daß er nicht auf ein Paradox, sondern auf eine bloß scheinbare Inkohärenz in Kants Rechtstheorie gestoßen ist. Willaschek ist indessen bestrebt, dieses ›Paradox‹ mit Kants eigenen Mitteln auszuarbeiten, vgl. S. 69–73, 87 f.; vgl. hierzu jedoch unten S. 2235 und 2443. 33 MS, S. 219. 34 S. 231. 35 Sowohl den postulativen Modus wie die kriterielle Funktion des Rechtskriteriums vernachlässigt Willaschek, Which Imperatives? In seiner gleichwohl textnahen, sorgfältigen und scharfsinnigen Untersuchung berücksichtigt er zwar entsprechend »Kant’s conception of Right«, S. 65 und passim, sowie Kants »explicit definition of Right«, S. 67 und passim, vernachlässigt jedoch durchweg die kriterielle Funktion, die Kant im § B. Was ist Recht? der MS, S. 230 f., und dem § C. Allgemeines Prinzip des Rechts, S. 231 f., als dessen wichtigste funktionale Bestimmung vorausschickt. Sein Argument, »that there is a juridical duty to do something, independently of ethical considerations and apart from coercion, does not give me a reason to act accordingly«, S. 75, W.’s Hervorhebung, ist alles andere als überzeugend. Auch der kategorische Moral-Imperativ gibt mir keinen inhaltlichen, also moral-spezifischen Grund, 31 32

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charakterisiert Kant den Typus eines solchen Postulats im weiteren Rahmen seiner Rechtstheorie im Klartext als »Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft«. 36 Denn ein solches Postulat »[eröffnet] gleich mathematischen Postulaten […] ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen vor sich […]«. 37 Eine solche Erkenntnis wird nicht nur durch das postulierende ›Kriterium, daran man Recht und Unrecht überhaupt erkennen kann‹ eröffnet. Eine entsprechende Erkenntnis wird genauso durch das ›Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft‹ eröffnet. Mit Hilfe einer »transzendentale[n] Deduktion der Erwerbung durch Vertrag« 38 führt es zu der Erkenntnis, daß der Erfolg eines Streits um die Rechtmäßigkeit eines Anspruchs auf einen jederzeit und beliebig exklusiven Gebrauch einer Sache von einer gemeinsamen notwendigen und hinreichenden Voraussetzung der um eine solche Rechtmäßigkeit Streitenden abhängt. Sie können die unvermeidlichen zeitlichen Lücken, die zwischen ihren sukzessiven Akten der Zustimmung zu einer Übereinkunft immer wieder von neuem Gelegenheit zum Widerruf der jeweils vorangegangenen Zustimmung bieten, 39 nur dadurch überwinden, daß sie gemeinsam voraussetzen, daß ihre einmal gegebenen Zustimmungen zur Rechtmäßigkeit eines einzelnen Eigentumsanspruchs integrale Teile einer für alle Beteiligten gemeinsam verpflichtenden Form der gleichzeitigen und wechselseitigen Willensbekundung sind. 40 Jedem auf Erfolg, also auf friedliche Einigung ausgerichteten Streit um die Rechtmäßigkeit eines individuellen Eigentumsanspruchs liegt diese gemeinsame Voraussetzung der Streitenden mehr oder weniger stillschweigend zugrunde. Die ›transzendentale Deduktion der Erwerbung durch Verin Übereinstimmung mit ihm zu handeln. Es sagt lediglich, welche Form ein solcher Grund haben muß, wenn er dem moralisch urteilenden Subjekt zur Verfügung steht. Doch einen solchen Grund kann ich erst dann ›haben‹, nämlich erkannt haben, wenn geklärt ist, wie das … so, daß […] zu verstehen ist, das in seinem Präfix Handle so, daß … in noch ganz unbestimmter Form auf den noch ganz unbestimmten spezifisch moralischen Inhalt des Kriteriums, des principiums der diiudication verweist. Ebenso wenig bietet das nicht-präskriptiv formulierte Rechts-Kriterium direkt und ausdrücklich einen spezifisch rechtlichen Inhalt als Grund, in Übereinstimmung mit ihm zu handeln; es charakterisiert ausschließlich die Form, der eine rechtlich vernünftige Handlungsweise genügt; vgl. hierzu unten S. 2441. 36 MS, S. 246. 37 S. 225, Hervorhebung R. E. 38 S. 272. 39 Vgl. S. 272 f. 40 Vgl. S. 272–273.

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Einleitung

trag‹ verhilft zu dieser Erkenntnis, indem sie den Inhalt dieser gemeinsamen Voraussetzung aller solcher Streitigkeiten um die Rechtmäßigkeit von Eigentumsansprüchen lediglich nachträglich auf die Begriffe der Erwerbung durch Vertrag bringt. Die Alternative hierzu bildet individueller Kampf um physische Entkräftung bzw. Vernichtung oder kollektiver Krieg zwischen Wesen, die der wie auch immer rudimentären Vorstellung einer Erwerbung durch Vertrag kognitiv unfähig sind. Kants Rechtstheorie bildet daher nicht eigentlich so etwas wie einen kontradiktorischen Gegenentwurf zu Hobbes’ Konzeption eines bellum omnium contra omnes. Sie macht vielmehr auf den blinden kriteriologischen Fleck innerhalb von Hobbes’ Theorie der dem Menschen möglichen praktisch-rechtlichen Erkenntnis aufmerksam. 41 Denn es ist diese den Menschen mögliche praktischrechtliche Erkenntnis, die sie im Naturzustand nur ›wie in einer Dämmerung‹ 42 vor Augen hatten und sie hier und da erste Schritte aus dem Naturzustand in den rechtlich-zivilisatorischen Zustand wagen läßt. Man verwechselt daher sowohl das Kriterium des Rechts wie den kategorischen Moral-Imperativ – diese principia diiudicationis – Es ist daher irrig, dem von Kant erörterten Rechtsprinzipien mit Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Modern, Frankfurt/M. 1990, einen »ontologischen Status«, S. 96, zuzuschreiben. Sie haben ausschließlich einen transzendental-philosophischen Status in dem Sinne, den Kants Arbeitsdefinition des Begriffs des Transzendentalen in den Prolegomena hervorhebt: »Das Wort transzendental bedeutet bei mir […] eine Beziehung […] nur aufs Erkenntnisvermögen«, IV, 292, hier also auf das Vermögen, die Inhalte der mehr oder weniger stillschweigenden gemeinsamen Voraussetzungen der um die Rechtmäßigkeit von Eigentumsansprüchen streitenden Menschen zu erkennen; vgl. zu dieser Bedeutungskomponente des Wortes transzendental ausführlich vom Verf., Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung, Göttingen 2015. Ideologiekritisch verblendete Autoren wie Franco Zotta, Immanuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und Geschichtsphilosophie, Freiburg/München 2000, reden zwar von einer »transzendentalphilosophischen Programmatik«, S. 30, und von einer »apriorischen Methode«, S. 30, von Kants Rechtsphilosophie. Doch sie folgen lediglich der um jegliche hermeneutische Sorgfalt und sorgfältige Begriffs- und Argumentationsanalyse unbekümmerten denunziatorisch-rhetorischen Linie Friedrich Nietzsches, Von den Vorurteilen der Philosophen, in: ders., Jenseits von Gut und Böse (11886, wiederabgedr. in: Kritische Studienausgabe, Hg. G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1988), S. 19, der »[d]ie ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt«, diagnostiziert zu haben meint. 42 So charakterisiert Kant rückblickend seine eigene kognitive Verfassung in der Phase des beginnenden Ausblicks auf den ›critischen‹ Weg, vgl. Ak. XVIII, R 5073. 41

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gründlich mit principia executionis, wenn man sich rigide an ihren scheinbar nur handlungsthematischen Präfixen orientiert. 43 Es gehört gewiß zu den bescheideneren Einsichten, daß das präskriptive Moral-Kriterium genauso fehlerlos in sein nicht-präskriptives Gegenstück umgeformt werden kann wie das nicht-präskriptive Rechts-Kriterium in sein präskriptives Gegenstück umgeformt werden kann. 44 Mit der ursprünglichen kategorisch-imperativischen Form des Moral-Kriteriums hat es jedoch eine außerordentlich wichtige anthropologische Bewandtnis. Denn der Adressat eines Imperativs wird auch in der konventionalen, also alltäglichen Gebrauchsbedeutung dieses kommunikativen Modus als eine Person behandelt, die nicht von selbst so handelt oder zu handeln geneigt ist, wie es ihr durch den Imperativ angesonnen wird. Doch der Mensch wird von Kant in beiden zentralen Werken seiner Praktischen Philosophie – also sowohl in der Kritik der praktischen Vernunft wie in der Metaphysik der Sitten – mehrfach und in direkter Abgrenzung gegen den Heiligen als das Wesen charakterisiert, das »nicht von selbst« so handelt bzw. solche Maximen hegt, daß es darin mit dem Moral-Kriterium übereinstimmt. 45 Dem Heiligen ist eine absolute Form praktischer Spontaneität eigen, die dem Menschen grundsätzlich fehlt. An dieser so wichtigen, wenngleich unscheinbaren anthropologisch-indiDiese Verwechslung durchzieht Willascheks, Which Imperatives?, gesamte Untersuchung. Es geht im Zwielicht dieser Voraussetzung ausschließlich und durchweg um »›external‹ actions«, S. 67, Hervorhebung R. E., aber niemals – auch nicht mit Blick auf das Allgemeine Prinzip des Rechts – um die diesem Prinzip zugeschrieben kriterielle Funktion, mit seiner Hilfe zu erkennen, was im Fall von external actions Recht und Unrecht überhaupt ausmacht. Es ist daher nur konsequent, daß Habermas, Faktizität, meint, daß sich das von ihm apostrophierte Paradox »[…] aus der Perspektive der Handlungstheorie erläutern [läßt]«, S. 47. Zu Recht läßt sich Willaschek zwar nicht von dieser Perspektive leiten. Doch seine durchgängige Vernachlässigung des kriteriologischen Aspekts des Allgemeinen Prinzips des Rechts nötigt ihn geradezu dazu, der irregeleiteten rigiden Handlungsorientierung zu folgen. 44 Daher irrt auch Hans-Friedrich Fulda, Notwendigkeit des Rechts unter Voraussetzung des Kategorischen Imperativs der Sittlichkeit, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 2006 (14), S. 167–213, wenn er meint, daß für die »zur Natur des Rechts als solcher gehörenden Gesetze […] kein eigener präskriptiver Charakter in Anspruch genommen werden [kann]«, weil sonst »[…] darin nur eine Vermischung von äußerem Gesetz und innerer, moralischer Gesetzgebung gesehen werden [könnte]«, S. 169. Gerade für die Erkenntnis der ›Natur‹ des Rechts hat Kant das ›Kriterium, daran man Recht und Unrecht erkennen kann‹, auf Begriffe gebracht (s. oben S. 19 f., 21–24), das ohne Mühe und ohne inhaltlichen und funktionalen Verlust in eine präskriptive Version umgeformt werden kann. 45 Vgl. vor allem KpV, S. 76 f., und MS, S. 214 f., 221 f. 43

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Einleitung

katorischen Funktion der imperativischen Form des Moral-Kriteriums ändert auch dessen Umformung in die nicht-präskriptive Form dieses Kriteriums nichts: Im Unterschied zum Heiligen ist der Mensch nicht nur wegen seines spezifisch praktischen Mangels an absoluter Spontaneität auf das imperativische Ansinnen angewiesen; er ist wegen einer kognitiven Spontaneitäts-Schwäche auch darauf angewiesen, daß die philosophische Reflexion und Analyse ihm mit einer kriteriellen Orientierungshilfe beisteht, »weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen bleiben, solange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung fehlt«. 46 Die einzige Form von Spontaneität, deren Kant den Menschen fähig sieht, ist die logische Spontaneität, vermöge der er logisch noch ungeformte, alogische Vorstellungen zu wahrheitsfähigen Urteilen diverser logischer Formen und diverser kategorialer Gegenstandsbezüge verbinden kann. Diese Form der Spontaneität zeigt sich darin, daß der »Aktus der Spontaneität«, 47 »der Selbsttätigkeit«, 48 durch den »die Verbindung [von Vorstellungen] […] die einzige [Tätigkeit, R. E.] ist, die […] nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann«, 49 »den Grund […] der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält«. 50 Daher bin »[i]ch, als denkend Wesen, […] das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile«, 51 und nur deshalb auch fähig, »[m]ich selbst und [m]eine Handlungen zu beurteilen«. 52 Die Auto-Nomie der praktischen Urteile ist die am Moral- und am Rechtskriterium orientierte Gestalt dieser Spontaneität. Denn auch das praktisch urteilende Subjekt urteilt spontan, also selbst (αὐτός), ob seine jeweilige Handlungsweise bzw. Handlungsmaxime mit dem gesetzförmigen (νόμος) moralischen bzw. rechtlichen Kriterium

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ak. IV, S. 300. Vgl. hierzu Universalität, Spontaneität und Solidarität, unten S. 95–149, bes. S. 130–32. 47 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt (11926), Philosophische Bibliothek Bd. 37a, Hamburg 1976, B 130. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 B 131. 51 KrV, A 348, Hervorhebung R. E.; vgl. zu dieser Theorie logischer Spontaneität im einzelnen vom Verf., Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung, Göttingen 2015, bes. 7. Abschn. 52 GMS, S. 433. Vgl. hierzu unten: Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewusstseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen praktischer Subjektivität, S. 277– 309, bes. S. 280–289, 299–307. 46

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Praktische Freiheit als moralische und rechtliche Urteilsautonomie

übereinstimmt oder nicht. Gleichwohl ist die Spontaneität seines praktischen Urteils selbstverständlich nicht etwa eine Garantie für die Richtigkeit eines solchen Urteils. Der Urteilscharakter dieses Produkts seiner logischen Spontaneität gibt aber jedenfalls und mindestens zu verstehen, daß es dem Anspruch auf moralische bzw. rechtliche Erkenntnis zu genügen sucht. Denn praktische, also moralische, rechtliche und politische Urteile gehören im Licht von Kants Urteilstheorie – im Gegensatz zu den ästhetischen Urteilen – zu den Erkenntnisurteilen. 53

4.

Praktische Freiheit als moralische und rechtliche Urteilsautonomie

Die Inhalte des Moral- und des Rechtskriteriums mögen zwar noch so verschieden sein. Gleichwohl ist die funktionale Verflechtung des Rechtskriteriums mit dem Moralkriteriums durch die Bindung des Rechts an die Bedingung der Verträglichkeit mit jedermanns Freiheit unübersehbar. Doch jedermanns Freiheit ist gar nichts anderes als die durch das Moral-Kriterium auf Begriffe gebrachte ursprüngliche Autonomie der moralischen Urteilsfähigkeit: Für die so konzipierte Freiheit von jedermann bildet das Moralkriterium in der einen Hinsicht die ratio cognoscendi 54 – also den Grund ihrer Erkennbarkeit – und hat in der umgekehrten Hinsicht diese Freiheit zu seiner ratio essendi 55, also zum Grund seiner Verfügbarkeit durch das des praktischen Urteilens und Erkennens bedürftige Subjekt. Die funktionale Stellung des kategorischen Moral-Imperativs zwischen ratio cognoscendi und ratio essendi ist viel weniger geheimnisvoll als es dem Leser aus Kants Text entgegenklingen mag. Eine einfache Analogie zu den semantischen Beziehungen zwischen wahren empirischen Sätzen und den durch sie dargestellten Tatsachen kann das verdeutlichen. Wer den wahren Satz Einige Menschen sind Männer ausspricht, verfügt kraft der Wahrheit dieses Satzes über die ratio cognoscendi der durch diesen Satz dargestellten Tatsache; gleichzeitig bildet die durch diesen wahren Satz dargestellte Tatsache die ratio essendi der Wahr-

53 54 55

Vgl. Kritik der Urteilskraft, Ak. V, S. 209 f. KpV, S. 5*. Ebd.

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heit dieses Satzes, weil es ihn als einen wahren Satz ohne die durch ihn dargestellte Tatsache nicht geben könnte. 56 Das Moral-Kriterium bildet daher in der Gestalt des ›praktischen Beurteilungsvermögen‹ das zentrale kriteriell-kognitive Medium der praktischen Freiheit, also primär der Freiheit des praktisch-moralischen Urteilens. In ihm sind das moralische und das rechtliche Beurteilungsvermögen zwar vereinigt. Doch das moralische Beurteilungsvermögen besitzt einen übergeordneten Status. Denn es ist ausschließlich das kriterielle Potential des kategorischen Moral-Imperativs, das diese ›Jedermanns-Freiheit‹, die nur mit seiner Hilfe erkannt werden kann, auch zu seiner ratio essendi hat. Sie kann deswegen nicht anders als mit seiner Hilfe erkannt werden, weil dieses Moral-Kriterium seine Inhaber zu moralischen Beurteilungen befähigt und verpflichtet, durch deren Begründungen sie sich als ganz und gar unabhängig von, also als ganz und gar frei von allen Rekursen auf persönliche Motive, Ziele und situative Umstände erweisen. Diese Form der Freiheit-von ist andererseits unmittelbar und strikt mit einer Form der Freiheit-zu verflochten: Sie befähigt zugunsten der so begründbaren praktischen Beurteilungen. Diese Doppelstruktur der praktischen Freiheit-von und Freiheitzu zu verkennen, bildet den zentralen blinden Fleck in Hegels Kritik des ›leeren Formalismus‹ und der ›abstrakten Allgemeinheit‹ des kategorischen Moral-Imperativs (vgl. oben S. 18–19): Seine Abstraktion von allen möglichen situativen, persönlichen, z. B. motivationalen und handlungsthematischen Elementen macht ihn gerade in so ausgezeichneter Weise tauglich, das ihn gebrauchende Subjekt in die kriteriell-kognitive Situation zu versetzen, sein moralisches Urteil frei von allen Abhängigkeiten von solchen Elementen zu bilden; während sein Formalismus dem urteilsfähigen und -beflissenen Subjekt die Möglichkeit eröffnet, den Inhalt seines intendierten moralischen Urteils ausschließlich von der Form der zu beurteilenden Maxime und von ihrer Eignung abhängig zu machen, in die Form eines praktischen Gesetzes transformiert zu werden, das alle Inhaber derselben Maxime verpflichtet, dieses Gesetz praktisch zu respektieren, also zu befolgen, ohne sich in eine Situation zu verstricken, die nur in der Form eines Widerspruchs beschrieben werden kann (zu einer vorZum semantischen Verhältnis von Satz und Tatsache vgl. die klärende Untersuchung von Günther Patzig, Satz und Tatsache (11964), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften III. Theoretische Philosophie, Göttingen 1996, S. 9–42. 56

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läufigen Skizze der Prozedur dieses Widerspruch-Tests vgl. unten S. 37–39). Es ist daher die ›Jedermanns-Freiheit‹ des moralischen Beurteilungsvermögens – die moralische Urteilsautonomie –, mit Blick auf die das Rechts-Kriterium postuliert, daß mit den jeweiligen moralischen Beurteilungen die ›Handlungsweisen bzw. nach deren Handlungsmaximen die Willkür eines jeden nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können müssen‹. Da es sich andererseits bei dem im Rechts-Kriterium apostrophierten allgemeinen Gesetz um ein jeweils in Frage stehendes positives Rechtsgesetz handelt – und damit um das, »was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben«, 57 – macht das Rechts-Kriterium die Rechtlichkeit eines solchen Gesetzes davon abhängig, daß die Handlungsweisen, die es normiert, bzw. deren Maximen einer Beurteilung im Licht des Moral-Kriteriums standhalten. 58 Das Rechtskriterium mit seiner Freiheits-Verträglichkeitsbedingung funktioniert daher in prozeduraler Hinsicht durchaus als Kriterium sowohl zur positiven Erkenntnis dessen, was das Recht ausmacht, wie zur negativen Erkenntnis dessen, was nicht Recht sein kann – also zur Erkenntnis, daß ein positives Gesetz schon dann rechtlich ist, wenn es mit der Freiheit seiner autonom gewonnenen moralischen Beurteilung definitiv bzw. definitiv nicht nicht ›zusammen bestehen kann‹. Im Ausschlußverfahren bleibt es den Instanzen, die in der ›wohlgeordneten Freiheit‹ (Kersting) eines republikanischen Gemeinwesen an der positiven Gesetzgebung beteiligt sind, überlassen, ausschließlich entsprechend moral-verträgliche Gesetze auf den Weg zu bringen. Die rechtspolitische Urteils-Autonomie dieser republikanischen Instanzen wird aus prinzipiellen, kriteriologischen Gründen Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 229. Diese Bedingung ist nicht zu verwechseln mit der bekannten von Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 21908, vertretenen Auffassung vom ethischen Minimum des Rechts vgl. S. 45 f. Denn ein ethisches – angemessener wäre: moralisches – Minimum zu enthalten, bedeutet für das Recht etwas ganz anderes als die notwendige Bedingung der Verträglichkeit jedes positiven Rechtsgesetzes mit dem Moral-Kriterium. Durch einen minimalen moralischen Gehalt wäre das Recht kein reines Recht mehr. Wäre Kants Moral-Kriterium ein Kriterium für Gesinnungen, dann drohte einem Recht, das einem solchen GesinnungsKriterium genügt, in der Dimension seiner Anwendung offensichtlich früher oder später ein Gesinnungs-Terror. Zur prozeduralen Form und zum konkreten Inhalt dieses Moral-Kriteriums vgl. die unterschiedlich akzentuierten Darstellungen in allen folgenden Aufsätzen. 57 58

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Einleitung

ausschließlich durch diese moralische Verträglichkeitsbedingung eingeschränkt. Die nicht-prinzipiellen, nicht-kriteriologischen Einschränkungen erwachsen diesen Instanzen ausschließlich durch die situativ bedingten Insuffizienzen ihrer individuellen Urteilskraft.

5.

Praktische Philosophie und Ideologie-Kritik

Das verbreitete Unverständnis für die maßgeblichen kognitiven Funktionen des imperativischen Moral-Kriteriums und des nicht-imperativischen Rechts-Kriteriums – und damit für die beiden wichtigsten kriteriellen Funktionen der praktischen Vernunft – ist nicht auf diese beiden Angelpunkte von Kants Praktischer Philosophie beschränkt. In modischen marxistoiden Phasen irregeleiteter ideologiekritischer Reduktionsversuche bleiben entsprechend naive Ansätze nicht aus, sich mit solchen Reduktionen auch an Kants Praktischer Philosophie zu versuchen. Man sucht Kants Rechtsphilosophie durch eine pseudo-ideologie-kritische Behandlung z. B. seiner Theorie des Eigentums »der im Zeichen großbürgerlich-kapitalistischer Interessen stehenden Phase der Französischen Revolution zuzuordnen«, 59 diesen Interessen also im mehr oder weniger ›gut‹ marxistischen Sinne einen ›ideologischen Überbau‹ zu verschaffen. Kants Rechts-Theorie des Privateigentums bildet auf dieser Linie allen Ernstes nicht mehr als den »Versuch, die von ihm anvisierten gesellschaftlichen und politischen Phänomene, kategorial zu fassen«. 60 Marx’ eigene Einschätzung, daß auch Kants »Rechts- und Staatsphilosophie […] mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari [steht]«, 61 bildet lediglich die klassische Blaupause für solche Versuche, nur fadenscheinig verschleiert durch das ideologie-kritisch kontaminierte Lob ihres Al-pari-Niveaus mit der ›offiziellen modernen Gegenwart‹. Das hochentwickelte kriteriologische Methoden- und Problembewußtsein Kants hat in der ideologie-kritisch befangenen Einstellung solcher Autoren keinerlei erkennbare Spuren hinterlassen. Zwar wird auch hier das Wort »Kriterium« beflissen häufig gebraucht. 62 Doch bei Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant (11973), 2. aktualisierte Auflage. Mit einem Vorwort »Kant und der Besitzindividualismus« von Franco Zotta, Baden-Baden 1994, S. 189. 60 S. 190. 61 Marx-Engels Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band I, 1. Halbband, S. 612. 62 Vgl. Saage, Eigentum, z. B. S. 57, 62, 63 und passim. 59

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Praktische Philosophie und Ideologie-Kritik

einem Autor, dessen Untersuchung »[…] darauf ab[zielt], [die] Bedeutung [der Kategorie Eigentum] für die Makro-Struktur der soziopolitischen Philosophie Kants nachzuweisen«, 63 ist es anscheinend normal, daß er das von Kant in aller Form als solches eingeführte ›Kriterium, woran man Recht überhaupt sowohl als Unrecht erkennen könne‹ (vgl. oben S. 21 f.), kurzerhand als »ein Postulat« 64 instrumentalisiert – also als etwas, dessen Inhalt man in Analogie zum Inhalt des praktischen Postulats der Existenz Gottes 65 wohl allenfalls glauben können soll. 66 Die mit dem postulativen Status dieses Kriteriums verbundenen methodologischen und deontologischen Probleme bleiben solchen Einstellungen verborgen. Nicht weniger bleibt ihnen verborgen, daß man mit den Mitteln von Kants Rechts-Theorie des Privateigentums – und nur mit ihren Mitteln – eine argumentativ überlegene Auseinandersetzung mit kommunistischen oder sozialistischen Theorien des Kollektiveigentums führen kann. 67 Die marxistoide Tradition solcher irregeleiteten Versuche, Kants Praktische Philosophie als Epiphänomen der vorübergehenden realen sozio-ökonomischen und politischen Situation Europas während ihrer Entstehungszeit zu entlarven, wird immer wieder einmal mehr oder weniger fröhliche bzw. verbissene Urstände feiern. 68 Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß sich in Kants Praktischer Philosophie – wie in jeder Praktischen Philosophie der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – Elemente finden lassen, die sich auf mehr oder weniger starke Befangenheiten der Urteilskraft des jeweiligen Autors in situativ bedingten Vorurteilen zurückführen lassen. Doch wenn es sich so verhält, dann liegt es jedenfalls im Falle Kants S. 43. S. 57. 65 Vgl. KpV, Ak. V, S. 124–132. 66 Auf einzelne Insuffizienzen von Saages im Grunde indiskutablem pseudo-ideologiekritischem Reduktionsversuch geht die souveräne Untersuchung von Kants Rechtsphilosophie und Politischer Philosophie durch Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt/M. 1993, wenigstens punktuell ein, vgl. bes. S. 27774. 67 Vgl. hierzu nach wie vor die ebenso knappe wie schlagende Erörterung durch Julius Ebbinghaus, Die Idee des Rechts, in: ders., Gesammelte Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 274–331, hier: S. 328–331; im einzelnen vgl. die umsichtige und gründliche Erörterung durch Kersting, Freiheit, bes. S. 225–320. 68 Kant ist »ein derartiger Theoretiker des Übergangs, inklusive der Aporien und Ideologismen, die einem solchen Denken notwendig eigen sind«, Franco Zotta, Vorwort zu Saage, Eigentum, S. 42. 63 64

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Einleitung

nicht an einer sogenannten »[…] der Apriorität verpflichteten Philosophiemethodik [Kants]«. 69 Es liegt vielmehr regelmäßig an der stets gefährdeten Balance zwischen den Anteilen, die einerseits die strikt kriteriologische praktische Vernunft und andererseits die ebenso strikt situativ orientierte praktische Urteilskraft des jeweiligen Philosophierenden an den Fallerörterungen haben, an denen sich die zu Hilfe genommenen Kriterien bewähren müssen. 70 In ihrem Rahmen soll jeweils geklärt werden, in welchem Maß solche Kriterien helfen können, die moralische, die rechtliche oder die rechtspolitische Struktur eines konkreten Falles durchsichtig zu machen. Doch die Urteilskraft ist nicht immer aufgeklärt 71 bzw. ist, wie Kant formuliert, nicht immer hinreichend durch Erfahrung ›geschärft‹, um ihre eigenen situativ bedingten Insuffizienzen mit Hilfe des dafür nötigen reflexiven und analytischen Scharfsinns rechtzeitig und klar genug zu durchschauen. 72 Nicht nur eine vernünftige Praxis, auch eine vernünftige Praktische Philosophie hängt im Licht von Kants Voraussetzungen von praktischen Urteilen ab, wie sie von einer entsprechend kriteriell fungierenden Vernunft und von einer hinreichend erfahrungsgeschärften praktischen Urteilskraft geleitet sind. Die geradezu symbiotische Form, in der vernünftige praktische Urteile von einer strikten funktionalen Verflechtung der praktischen Vernunft mit einer hinreichend erfahrungsgeschärften Urteilskraft abhängt, hat Kant gelegentlich sogar zur Prägung der Rede vom »Rationalismus der Urteilskraft« 73 veranlaßt, also von der in ihrer Urteilsbildung nach vernünftigen Kriterien verfahrenden und hinreichend erfahrungsgeschärften Urteilskraft. Da jedes menschliche Subjekt mit der entsprechenden Dyade S. 12. Eine Liste solcher Fälle, die in der Tradition der ideologiekritischen Reduktion von Kants Praktischer Philosophie fast schon zu Ladenhütern avanciert sind, bietet Zotta, Vorwort, S. 11–12. 71 »Le jugement […] n’est pas toujours éclairé«, Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, in: Œuvres Complètes, Bd. III, S. 380. Zu den Möglichkeiten, Aufgaben und Grenzen der Urteilskraft vgl. vom Verf., Bedingungen der Aufklärung. Untersuchungen zu einer praktischen Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, speziell zu Rousseaus Konzeption der Aufklärung der Urteilskraft bes. S. 213–523, und speziell zur Tragweite, die diese Konzeption für Kants Philosophie gezeitigt hat, bes. S. 515– 557. 72 »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt«, Kant, KrV, A 133, B 172*. 73 KpV, S. 125, Kants Hervorhebung. 69 70

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Kehraus oder Einkehr mit Kant oder mit Hegel?

praktischer kognitiver Fähigkeiten begabt ist, kann jedes solche »Subjekt seiner Vernunft […] die Bestimmung seiner Urteilskraft zuschreiben«. 74 Daher sind moralische wie rechtliche Selbstkorrekturen aber nicht nur in der Praxis, sondern auch in den fundamentalmoralischen und -rechtlichen Angelegenheiten der Praktischen Philosophie möglich, allerdings nur dann – aber auch immer dann –, wenn dem praktischen Beurteilungsvermögen sowohl solche Kriterien wie eine hinreichend geschärfte oder aufgeklärte Urteilskraft zur Verfügung stehen. Vor allem Kants kasuistische Erörterungen moralischer und rechtlicher Problemfälle bilden das genuine Medium für die skeptische Frage, ob der kriteriell fungierenden Vernunft stets eine hinreichend erfahrungsgeschärfte Urteilskraft zu Hilfe kommt. 75 Einer zum Programm erklärten ideologie-kritischen Auseinandersetzung mit Philosophen vom Format Kants fehlt es erfahrungsgemäß regelmäßig mindestens an einem von beiden.

6.

Kehraus oder Einkehr mit Kant oder mit Hegel?

Hegels – wenn auch verfehlte – Kritik an der angeblich insuffizienten Formalität und Abstraktheit Kategorischer Imperative – also von präskriptiv oder deskriptiv formulierten praktischen Kriterien – hat nicht nur zu der Form von Versuchen ideologie-kritischer Reduktion von Entwürfen der Praktischen Philosophie geführt, wie Marx sie zuerst in musterhafter und traditionsstiftender Form in seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie erprobt hat. Hegels Kritik hat die Forschung vor allem veranlaßt, in seiner Praktischen Philosophie nach einem Prinzip zu suchen, das im angeblichen Schatten der Irrelevanz vor allem des von Kant formulierten imperativischen Moral-Kriteriums Licht auf eine andere, mindestens ebenso tragfähige Struktur der menschlichen Praxis werfen kann. Im Ausgang von einem berühmten Kapitel der Phänomenologie des Geistes hat man diesen Rang einem Prinzip Anerkennung zugesprochen. 76 Zweifellos GMS, S. 448. Zu kasuistischen Musterbeispielen, die zu solchen Selbstkorrekturen Anlaß geben, vgl. unten: Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft, unten S. 150–190, bes. S. 175–186. 76 Vgl. Hegel, Phänomenologie, S. 148–158, bes. S. 154–58; vgl. zum Prinzip der Anerkennung zuerst Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/München 1979, 74 75

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Einleitung

versammelt dieses Prinzip in seinem Horizont moralische und soziale Komponenten der menschlichen Praxis. Denn wer wollte leugnen, daß wechselseitige Anerkennung von Menschen ein sozialer Akt ist? Und wer wollte leugnen, daß wechselseitige Anerkennung von Menschen als Menschen jedenfalls dann ein moralischer Akt ist, wenn ein entsprechendes Prinzip mit einem klaren, selbstgenügsamen und plausiblen Kriterium des moralischen Formats, der humanitas des Menschen, also seiner Würde verbunden ist? 77 Doch da ein solches Kriterium sowohl in Hegels Philosophie wie in den Schriften der Advokaten des Prinzips Anerkennung fehlt, bleibt in seinem Horizont das moralische Format, die humanitas der Menschen bis zur gänzlichen Unkenntlichkeit mit der sozialen Dimension ihrer wechselseitigen Anerkennungspraxis konfundiert. Daran ändert auch der Versuch nichts, sozialen Akten wechselseitiger Anerkennung nachträglich und mit Hilfe von Suggestionen eines Wittgensteinschen Idioms so etwas wie eine »moralische Grammatik« 78 zu attestieren und sie gleichzeitig als Praktiken eines Kampfes um Anerkennung zu charakterisieren. 79 Denn wo das moralische Format des Menschen, seine humanitas als etwas aufgefaßt wird, was im Rahmen sozialer Konflikte vom Ausgang von Kämpfen um soziale Anerkennung abhängig ist, da degeneriert sie von einer geschichtsinvarianten natürlichen Mitgift des zu vernünftigen Urteilen, Maximen, Handlungsweisen und Selbstkorrekturen fähigen praktischen Urteilsvermögens jedes Menschen zu einer stets prekären sozialen Trophäe. Daran ändert auch Honneths Orientierung an ursprünglichen Beziehungsmustern nichts, wie sie vor allem Hegels Moralphider Hegels Entwürfe zur sozialen Praxis der wechselseitigen Anerkennung vor allem als Beiträge zur Klärung der sozialen Bedingungen der Genese des moralischen, des rechtlichen und des politischen Bewußtseins interpretiert und analysiert; zur Schlüsselrolle des Bewußtseins vgl. bes. S. 134 ff. Vgl. zur Struktur der Genese des moralischen, des rechtlichen und des politischen Bewußtseins bei Hegel Enskat, Hegels Theorie des praktischen Bewußtseins, Frankfurt/M. 1986. 77 Zum strukturellen Zusammenhang von humanitas und Würde vgl. Autonomie und Humanität. Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren, unten S. 51–94, bes. S. 6930, sowie: Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft, unten S. 150–190, bes. S. 169–172.. 78 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992. 79 Im Gegensatz zum fehlgeleiteten Entwurf Honneths, Kampf, zeigt Siep, Anerkennung, auf Schritt und Tritt eine von sachlicher Einsicht geleitete hermeneutische Umsicht.

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Kehraus oder Einkehr mit Kant oder mit Hegel?

losophie der Familiensittlichkeit in Gestalt der Liebe thematisiert, die Eltern und Kinder miteinander verbindet. 80 Diese Liebe prägt zwar, wie empirische Fall-Studien schon länger gezeigt haben, in außerordentlich wichtiger Form die saluto-genetischen Bedingungen lebenslangen persönlichen Selbstzutrauens. 81 Doch gerade Hegel argumentiert mit Blick auf die trans-familialen Lebensbedingungen der Menschen zugunsten der praktischen Notwendigkeit, trans-familiale Formen des Freiheitsgebrauchs zu erlernen. 82 Um moralisch relevante Akte handelt es sich bei Akten wechselseitiger Anerkennung daher nur dann, wenn sie in der Form der Selbst-Anerkennung, also im authentischen Akt der reflexiven Anerkennung eines individuellen Menschen seiner selbst als eines moralischen Wesens vollzogen werden. Erst wenn die Struktur eines solchen Akts moralischer Selbstanerkennung durchsichtig ist, 83 sind soziale Akte der wechselseitigen Anerkennung gegen das Mißverständnis gefeit, Akte zu sein, die sich darin erschöpfen, daß Rollenträger in gemeinsamen oder verschiedenen sozialen Milieus einander in der wechselseitigen Anerkennung ihrer sozialen Rollen- und Milieuzugehörigkeiten bestätigen. Diese Form sozialer Reziprozität hält, wie nicht erst Platon klar war, auch eine Räuberbande zusammen. Sie hält, um an ein entsprechendes Muster der Gegenwart zu erinnern, auch die kapitalistisch wirtschaftenden Subjekte eines Kartells zusammen. Erst dann, wenn die wechselseitige Anerkennung den wechselseitigen Respekt für die von keiner wechselseitigen Anerkennung abhängige Selbstanerkennung jedes Beteiligten als moralisches Wesen zur Voraussetzung hat, bilden die Träger dieser Anerkennungspraxis eine moralische Solidargemeinschaft, die diesen Namen aus nachvollziehbaren rechtfertigenden Gründen verdient – weil sie solidarisch im wechselseitigen tätigen Respekt für ihre von keiner sozialen Anerkennung abhängige humanitas sind. Andernfalls bilden sie Vgl. Honneth, Kampf, S. 149 ff., 279 ff.; vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 158–181; zu Hegels Gedanken, daß die Familiensittlichkeit jene erste Stufe der Sittlichkeit bildet, die zugunsten der bürgerlichen Gesellschaft überwunden werden muß, vgl. §§ 175, 235; vgl. hierzu schon Enskat, Hegel, S. 79–84. 81 Vgl. Christian von Ferber, Aufklärung durch Soziologie?, in: Aufklärung und Wissenschaft (Hg. R. Enskat), Montagsvorträge der Martin Luther-Universität HalleWittenberg 1995–1996, Opladen 1997, S. 159–172, bes. S. 164–170. 82 Zum entsprechend begrenzten systematischen Stellenwert der Konzeption der Familiensittlichkeit in Hegels Praktischer Philosophie vgl. auch Enskat, Hegel, bes. S. 84–102. 83 Vgl. auch hierzu unten: Selbstbewußtsein, bes. S. 299–307. 80

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Einleitung

sozial harmonierende oder konfligierende Interessengemeinschaften. Deren Grade an Vielfalt und Kohärenz hängen, wenn sie nicht aus einer Art naturrechtlichem Wildwuchs hervorgehen, ausschließlich von einer mehr oder weniger liberalen bzw. illiberalen rechtspolitischen Steuerung ab. Sucht man der wahren ›moralischen Grammatik‹ der menschlichen Praxis auf die Spur zu kommen, dann sind die ›Einkehr mit Kant‹ und der ›Kehraus mit dem sozialen Prinzip Anerkennung‹ vonnöten. 84

7.

Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

Sogar innerhalb der Kant-Forschung scheint fast ganz vergessen zu sein, daß schon an ihrem richtungweisenden Anfang Hermann Cohen dem kategorischen Moral-Imperativ die Tragweite zugeschrieben hat, die moralische Struktur einer »Gemeinschaft autonomer Wesen« 85 durchschaubar zu machen. Manfred Riedel hat diesen Imperativ daher im Anschluß an Cohen zu Recht sogar als »die Solidarformel der Menschheit« 86 apostrophiert. Indessen ist es wichtig, darauf zu achten, daß man nicht den zweiten gleichzeitig mit dem ersten Schritt zu tun versucht. Denn Solidarität ist in erster Linie eine moralische Form der Praxis und zwar der gemeinschaftlichen Praxis. Doch inwiefern eine ›Gemeinschaft autonomer Wesen‹ alleine vermöge der praktischen Urteils-Autonomie ihrer Mitglieder einer solidarischen Praxis fähig ist, wird durch den Inhalt des kategorischen Moral-Imperativs nicht direkt zu verstehen gegeben. Es wird durch diesen Imperativ direkt noch nicht einmal zu verstehen gegeben, inwiefern sie vermöge dieser Urteils-Autonomie einer spezifisch moralischen Praxis fähig sind. Immerhin hat unter den fast schon verschwindend wenigen zeitgenössischen Kant-Kennern, die das tätige Bekenntnis zu Methoden Vgl. Ernst Tugendhat, Kehraus mit Hegel I-II, in: ders., Selbstbewußtsein, S. 293– 357. 85 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, Berlin 11877, S. 254, Hervorhebung R. E. 86 Manfred Riedel, Kritik der moralisch urteilenden Vernunft. Kants vorkritische Ethik und die Idee einer »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt/M. 1989, S. 61–97, hier: S. 9695. 84

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

der Analytischen Philosophie mit dem angemessenen hermeneutischen Respekt für die Lernpotentiale der Werke der überlieferten Klassiker der Philosophie, insbesondere der Werke Kants verbinden, vor allem Günther Patzig 87 der Tragweite Kategorischer Imperative für die moralische Grundform der Solidarität einen trefflichen elementaren Inhalt gegeben: »Es gibt gewisse ›kategorische Imperative‹, die für das gedeihliche und vertrauensvolle Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen«. 88 Zwar ist die Skepsis unüberhörbar, mit der Patzig die formale Tragfähigkeit und die allgemeine normative Tragweite des ausschließlich auf die Lügen-Maxime abgestimmten kategorischen Moral-Imperativs einschätzt. 89 Dennoch kann die Skepsis wegen dieser Tragfähigkeit und Tragweite von Kants negativem formalen Kriterium einer Widerspruchsträchtigkeit nomologisierter nicht-sittlicher Maximen durchaus in einer vorsichtig verklausulierten Form formuliert werden, um die Möglichkeit eines Nachweises dieser Tragfähigkeit und Tragweite wenigstens formal offenzuhalten: »Wenn diese Lehre richtig ist, so hätten wir ein Kriterium des sittlichen Werts von Handlungen, das selbst keine moralischen Begriffe voraussetzt«. 90 Sucht man dieser Tragfähigkeit auf den Grund zu gehen, indem man die Form der von Kant apostrophierten Widersprüchlichkeit so pünktlich wie möglich klärt, dann kommt man sogar der rechtlichen Tragweite auf die Spur, die das um die Lügen-Maxime zentrierte Moral-Kriterium mit sich bringt. Doch trotz der wichtigen Würdigung des Umstands, daß Kants Moral-Kriterium moralische Begriffe zumindest nicht direkt enthält, verkennt Patzig gleichwohl ebenso wie die meisten anderen Autoren vor allem die formalen, prozeduralen Mikro-Schritte, die man mit Hilfe dieses principiums der diiudication und anderer Kriterien aus

Das Werk Kants ist das »Werk […] eines Mannes, zu dem wir, um mit den von Gottlob Frege in einem ähnlichen Zusammenhang benutzten Worten zu sprechen, ›nur mit dankbarer Bewunderung aufblicken können‹«, Günther Patzig, Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik (11966), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften I, Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 209–233, hier: S. 232; da auch der bibliograpische Nachweis des Zitats aus Gottlob Frege, Grundlagen der Arithmetik (11884), Neudruck Darmstadt/Hildesheim 1961, S. 101. 88 Patzig, Begründbarkeit S. 69–70. 89 Vgl. S. 68–69. 90 S. 67, Hervorhebungen R. E. 87

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Einleitung

Kants Arbeitsphilosophie (Husserl) der Moral tun kann und muß, um nicht nur zur Einsicht in die konkrete logische Form des Widerspruchs zu gelangen, in den sich jeder Inhaber der Lügenmaxime verstrickt. 91 Erst die pünktliche Klärung der konkreten Form dieses Widerspruchs bringt darüber hinaus auch den konkreten moralisch relevanten Gehalt ans Licht, der mit dieser konkreten Form des Widerspruchs verbunden ist. Die Schritte, die zu diesen beiden zentralen Klärungen führen, zeigen, daß und inwiefern eine seit dem Buch von Marcus Singer Generalizations in Ethics (1952) konventionell gewordene Auffassung gründlich irreführend ist. Diese Auffassung sucht geltend zu machen, daß diese Klärungen auf dem Weg der simplen Universalisierung, also der logischen Umformung einer beliebigen Maxime einer individuellen Person in eine Regel gelinge, die für alle Inhaber derselben Maxime gilt. 92 Doch eine solche Verallgemeinerung bildet nur den ersten und überdies den banalsten Schritt von mehreren formalen Schritten auf dem Weg zur Ermittlung des von Kant ins Auge gefaßten Widerspruchs. Einen der wichtigsten weiteren Schritte bildet die Nomologisierung der schon verallgemeinerten Maxime, also die formale Operation, durch die diese schon verallgemeinerte Maxime darüber hinaus in ein alle Maximeninhaber verpflichtendes Lügen-Gesetz transformiert wird. Erst im Licht dieser verpflichtenden gesetzlichen Form der Lügenmaxime zeigt sich, daß alle dem entsprechend verpflichtenden Lügen-Gesetz unterworfenen und entsprechend loyalen Personen nicht nur faktisch lügen müssen, sondern einander wechselseitig auch unterstellen müssen, daß der jeweilige Adressat einer beliebigen wahrheitsfähigen kommunikativen Äußerung nicht auf die Wahrhaftigkeit seines jeweiligen Kommunikationspartners vertrauen kann. Gleichzeitig bedeutet jede faktische Äußerung einer Lüge – also jede faktische kommunikative Praktizierung der Lügen-Maxime – in pragmatischer Hinsicht Zu dieser formallogisch stilisierten Schrittfolge vgl. unten: Universalität, Spontaneität und Solidarität. Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit, S. 95– 149, bes. S. 114–125; diese Schrittfolge wird von allen anderen hier gesammelten Untersuchungen in informeller Gestalt fruchtbar gemacht, um die diversen Tragweiten des moralischen Kategorischen Imperativs durchschaubar zu machen. 92 Die komplizierten thematischen Verzweigungen und anspruchsvollen formalen Techniken, die das entsprechende Forschungsprogramm bis in die Gegenwart gezeitigt hat, sind zum ersten Mal von Jens Gillessen, Was, wenn jeder … ? Ethische Verallgemeinerung seit Kant – eine Kritik, Freiburg i. Br. 2015, 452 S., ausführlich und gründlich untersucht worden. 91

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

jedoch, daß ihr Autor sie mit der Erfolgsunterstellung verbindet, daß sein Kommunikationspartner de facto und durchaus auf seine Wahrhaftigkeit vertraut, also mit der Unterstellung des Täuschungserfolgs. Andernfalls würde ein Lügner seine Lüge gar nicht äußern. Während diese faktische pragmatisch-bedeutungsanalytische Erfolgsunterstellung eines Lügners innerhalb einer dem Lügengesetz unterworfenen Gesellschaft daran orientiert ist, daß ihr Adressat auf die Wahrhaftigkeit ihres Autors durchaus vertraut, unterstellt jede diesem LügenGesetz unterworfene und loyale Person jeder anderen entsprechend loyalen Person im direkten formalen Widerspruch hierzu, daß sie nicht auf die Wahrhaftigkeit eines Autors einer an sich wahrheitsfähigen Äußerung vertraut. Erst durch die pünktlich geklärte konkrete Form dieses Widerspruchs kommt auch der konkrete moralisch relevante Gehalt ans Licht, der eine strukturell von Wahrhaftigkeit und wechselseitigem Vertrauen geprägte Gemeinschaft formt bzw. eine strukturell von Unwahrhaftigkeit und wechselseitigem Mißtrauen geprägte Gesellschaft formt. Es gehört indessen keine erhebliche reflexive und analytische Anstrengung dazu, um Klarheit darüber zu gewinnen, daß diese Klärung erheblich viel mehr ans Licht bringt als nur die ›Widersprüchlichkeit‹ und die ›Selbstzerstörung‹ der Lügenmaxime. Tatsächlich bringt sie darüber hinaus nicht weniger ans Licht als sowohl die Bedingung der praktischen Unmöglichkeit jeglicher Gemeinschaft wie die wahrhaft fundamentale Bedingung der praktischen Möglichkeit jeglicher Gemeinschaft, die diesen Namen verdient. Denn Menschen, die durch ein sie verpflichtendes Gesetz dazu verurteilt sind, auf die Wahrhaftigkeit von niemandes wahrheitsfähiger Mitteilung, daß-p, vertrauen zu können, sind dazu verurteilt, in buchstäblich jeder praktischen Situation ihres Lebens auf jegliche Information über jeden in dieser Situation für sie praktisch wichtigen Sachverhalt, daß-p, zu verzichten. Über eine Gesellschaft, die durch ein solches Gesetz strukturiert ist, ist eine Äußerungsstruktur verhängt, die praktisch dem totalen kommunikativen Schweigen gleichkommt. Jedes Mitglied einer solchen Gesellschaft ist daher in jeder für es praktisch wichtigen Angelegenheit so radikal auf sich selbst gestellt, daß es sich niemals auf irgendjemandes kommunikative, interaktive oder kooperative Hilfe verlassen kann. Wie die Lebenswelt der Menschen mit ihren für niemand jemals vollständig überschaubaren und durchschaubaren praktisch wichtigen situativen Umständen nun einmal strukturiert ist, ist ein praktisches individuelles, 39 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

soziales oder politisches Leben in einer durch ein Lügengesetz strukturierten Gesellschaft ebenso unmöglich wie die Existenz einer solchen Gesellschaft überhaupt. Unter diesen Voraussetzungen bedarf es ebenfalls keiner erheblichen reflexiven und analytischen Anstrengung, um einzusehen, daß ein Mindestmaß an durchschnittlichem wechselseitigem Vertrauen in ein Mindestmaß an durchschnittlicher Wahrhaftigkeit der praktisch hinreichend wichtigen kommunikativen Äußerungen und interaktiven sowie kooperativen Handlungsweisen von Mitgliedern einer menschlichen Gesellschaft notwendig ist, sowohl für die Möglichkeit ihres wenigstens einigermaßen erfolgsträchtigen individuellen praktischen Lebens wie für die der Existenz einer Gemeinschaftüberhaupt, die diesen Namen verdient. 93 Es ist offensichtlich diese praktische Struktur eines durchschnittlichen Mindestmaßes an praktiziertem wechselseitigen Vertrauen in ein entsprechendes durchschnittliches Mindestmaß an praktizierter Wahrhaftigkeit in den praktisch hinreichend wichtigen Situationen, was die fundamentale praktische Form der Solidarität ausmacht – also die von diesen beiden Einstellungen getragene Praxis von Kommunikation, Interaktion und Kooperation. Diese Praxis bedarf in erster Linie nicht einer erfolgsorientierten, rationalen kommunikativen Kompetenz. Vielmehr wäre umgekehrt jede Form dieser Art von Kompetenz von Anfang an zum Scheitern ihrer Erfolgsintentionen verurteilt, wenn sie nicht ein durchschnittliches Mindestmaß an Wahrhaftigkeits- und Vertrauens-Solidarität zu ihrer Voraussetzung hätte. Ohne diese VoraussetIn der letzten seiner weitausgreifenden und methodisch vorbildlichen Auseinandersetzungen mit der Philosophie Ludwig Wittgensteins beschäftigt sich Eike von Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen«, München 1996, im Blick auf sprachliche Äußerungen von Mitteilungen, daß-p, thematisch auch mit »etwas Gruppeninvariantem«, S. 92, von Lebensformen. Als eine der notwendigen Bedingungen dafür, daß Ergebnisse solcher Mitteilungen, daß-p, gruppeninvariant für Lebensformen charakteristisch sein können, hält er fest, »[…] daß der Adressat sich auf Kosten des Sprechers auf p verlassen darf«, ebd. ›Sich auf Kosten des Sprechers auf p verlassen‹ bedeutet aber auch im Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit des Sprechers von p. Allerdings stellt v. Savigny ausdrücklich klar, daß er seine Formulierung nicht als Interpretament der hier berücksichtigten Abschnitte der Philosophischen Untersuchungen trifft, vgl. S. 93 f. Die Gruppeninvarianz von Lebensformen entspricht der strukturellen Rationalität, die sich das charakteristische formale Attribut der mit dem kategorischen Moral-Imperativ konzipierten Moral nachweisen läßt; vgl hierzu unten: Ist die Moral strukturell rational? Die kantische Antwort, S. 238–261.

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

zung findet auch die virtuoseste Ausübung kommunikativer Kompetenz nur in einem pseudo-transzendentalen Traumspiel statt. Die Einsicht in diese im strikten Sinne praktische Tragweite des kategorischen Moral-Imperativs bliebe im günstigsten Fall der hermeneutischen Ausübung des vielberufenen, aber im Grunde respektlosen principle of charity überlassen, wenn man sich mit Kants offenkundigem Zutrauen in die Offensichtlichkeit einer ›selbstzerstörerischen‹ Widersprüchlichkeit zufrieden geben wollte, in die sich ein Inhaber der Lügen-Maxime im Licht des principium diiudicationis dieses Imperativs angeblich verstrickt. Angemessener ist es, hermeneutische Billigkeit zu üben und die formalen prozeduralen Schritte auch tatsächlich zu erproben, die in nachvollziehbarer Form zur Einsicht in die konkrete Form dieser Widersprüchlichkeit und in die konkreten moralisch relevanten Gehalte der an dieser Widersprüchlichkeit beteiligten Sätze führen. Erst dann ist es auch möglich, in kontrollierbaren Formen den Irreführungen vorzubeugen, denen vor allem Hegel und Nietzsche – wenngleich in ganz unterschiedlichen Einstellungen – in der Auseinandersetzung mit dem moralischen LügenThema nachgegeben haben. Hegel behandelt das von Kant exponierte Thema der moralischen Beurteilung von Willensmaximen und den diesen Maximen entsprechenden Handlungsweisen als wäre es strikt auf die Binnensphäre »des moralischen Geistes« 94 beschränkt, so daß »die Moralität […] nur moralisches Bewußtsein [ist]«, 95 aber gerade nicht auch eine diesem Geist bzw. Bewußtsein entsprechende Praxis. Abgesehen davon, daß Hegel die ›dijudikative‹, kriterielle Funktion des kategorischen Moral-Imperativs gründlich verkennt, vernachlässigt er im Schatten der irregeführten Unterstellung der Geist- bzw. Bewußtseins-Immanenz des Moralischen geradezu systematisch die praktische Bedeutsamkeit des Handlungs-Präfix’ Handle so, daß-… dieses Imperativs. Dadurch wird Hegel zum bedeutendsten Stifter der irregeführten und irreführenden Tradition einer Kant unterstellten Gewissens-Ethik. Doch gerade wenn man Kants fundamental-anthropologische Auffassung »Die Lüge […] ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur« 96 ernst nimmt, indem man die Lügen-Maxime 94 95 96

PhG, S. 459, Hegels Hervorhebungen. S. 465, Hegels Hervorhebung. Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in

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Einleitung

mit dem Paradigma identifiziert, das durch den kategorischen MoralImperativ exklusiv approbiert wird, springt nicht nur das formale und nicht nur das moralische, sondern sogar ein subtiles pragmatisches Potential dieses principiums der diiudication in die Augen – zwei formale Erfolgsorientierungen, die wie in einem Kipp-Bild miteinander verbunden sind. Denn wie sich gezeigt hat, ist mit jedem Lügen-Akt einer loyalen dem Lügengesetz unterworfenen Person eine pragmatisch-bedeutungsanalytische Erfolgsunterstellung verbunden – die Unterstellung des Täuschungserfolgs beim Adressaten der Lüge und die Unterstellung der entsprechenden Intention eines Täuschungserfolgs beim Lügner selbst. Es versteht sich von selbst, daß die Unwahrhaftigkeit nicht strikt an die sprachliche Äußerung einer Lüge gebunden ist. Auch jedes täuschungsstrategische Beschweigen der kommunkativen, interaktiven oder kooperativen Intention eines unmoralischen oder eines unrechtlichen Ziels verfällt derselben Verurteilung. Umgekehrt können Kommunikationen, Interaktionen und Kooperationen nur dann Erfolge erzielen, wenn ihre Partner in der Regel und in den praktisch hinreichend wichtigen Fällen gemeinsam – also streng genommen: solidarisch – die Wahrhaftigkeits- bzw. Aufrichtigkeits-Maxime praktizieren. In ihrer Approbierung durch den kategorischen Moral-Imperativ zeigt die Lügen-Maxime in der Form ihrer Widerspruchsträchtigkeit daher zwar, wie Kant in seiner bildkräftigen Sprache formuliert, daß und wie sie »sich selbst zerstören müsse«. 97 Das suggestive Bild von der ›Selbstzerstörung‹ der Lügen-Maxime verdunkelt allerdings durch seine auf die Maxime als ganze konzentrierte Einfachheit gerade die moralische Tragweite dieser ›Selbstzerstörung‹ : Sie zeigt, daß die tief im sittlich-moralischen Allgemeinbewußtsein eingenistete Überzeugung von der praktischen Abhängigkeit der Menschen vom allgemeinen wechselseitigen Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit von wahrheitsfähigen Mitteilungen unverträglich ist mit der pragmatisch-bedeutungsanalytischen Unterstellung des Täuschungserfolgs von Akten des Lügens. Da der kategorische Moral-Imperativ mit seider Philosophie, Ak. VIII, S. 421–422, Kants Hervorhebung. Zu einem zentralen, aber regelmäßig übersehenen moral-anthropologischen Argument Kants, das in Form eines irrealen Konditionals die Tragweite deutlich macht, die die technische Fähigkeit der Menschen zum Be- und zum Verschweigen ihrer Gedanken für die Struktur des genus humanum mit sich bringt, vgl. unten: Autonomie und Humanität. Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren, S. 51–94, bes. S. 74–76. 97 Kant, GMS, S. 403.

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

nem handlungsorientierten Präfix Handle so, daß-… seinen genuinen Adressaten – den Mitgliedern der ›Gemeinschaft autonomer Wesen‹ (Cohen) – jedoch ansinnt, in einer mit der Gesetzesförmigkeit ihrer Maximen konformen Weise zu handeln, sinnt er ihnen mit Blick auf die formale Widersprüchlichkeit der zentralen ›selbstzerstörerischen‹ Lügen-Maximen an, statt ihrer die Wahrhaftigkeits-Maxime zu praktizieren. Wahrhaftigkeit erweist sich unter diesen Voraussetzungen als ein von allen Handlungskonsequenzen, Erfolgsunterstellungen und Erfolgsintentionen der möglichen Akteure unabhängiger moralischer Handlungs- und Maximencharakter. Wie die Tragweite zeigt, die die Befolgung eines Lügengesetzes durch die loyalen Gesetzesunterworfenen und Maximeninhaber für diese Gesetzesunterworfenen und Maximeninhaber mit sich bringt, bildet die Wahrhaftigkeit vielmehr umgekehrt die notwendige moralische Voraussetzung jeder beliebigen auf Erfolg angewiesenen Praxis. Die wechselseitige Angewiesenheit auf Wahrhaftigkeit bildet den moralischen Kern der Solidarität. Dennoch ist bei diesem status quaestionis zu berücksichtigen, daß der Wahrhaftigkeit dieser moralische Schlüsselcharakter nicht nur unabhängig von allen Handlungskonsequenzen, Erfolgsunterstellungen und Erfolgsintentionen der möglichen Akteure zukommt, sondern auch unter Abstraktion von allen Handlungskonsequenzen, Erfolgsunterstellungen und Erfolgsintentionen. Man kann daher nicht apriori ausschließen, daß die Adressaten des kategorischen Moral-Imperativs in ihrem alltäglichen Leben in konkrete Situationen verstrickt werden können, in denen es sich als eine abtractive fallacy erweist, die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit für eine unter allen möglichen Umständen durchzusetzende Verpflichtung zu halten. Man kann dieser abtractive fallacy nur dadurch vorbeugen, daß man zwei kasuistisch-situative Möglichkeiten für eine Intervention der praktischen Urteilskraft offenhält – zum einen die Möglichkeit, daß es im konkreten situativen Einzelfall strittig sein kann, ob eine wahrheitsfähige Äußerung einer Person eine Lüge ist oder nicht, und zum anderen die Möglichkeit, daß eine solche Äußerung außer durch ihren Lügen-Charakter durch einen anderen, konkurrierenden moralischen Charakter geprägt ist. Erst bei diesem status quaestionis wird es möglich, auch der rechtlichen Tragweite auf die Spur zu kommen, die die moralische Tiefenstruktur mit sich bringt, die die Lügen-Maxime im Licht des vervollständigten Testverfahrens zeigt, das mit dem kategorischen 43 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Einleitung

Moral-Imperativ verbunden ist. Eine solche Tragweite mag zunächst umso mehr erstaunen, als die Lügen-Maxime angesichts der Vielzahl der moralphilosophischen Ansätze und der mit ihnen verbundenen Fallerörterungen nur einen extrem engen kasuistischen Ausschnitt bildet. Diese kasuistische Enge hat denn auch dazu geführt, die Tragfähigkeit des damit streng verbundenen imperativischen Moral-Kriteriums mit Hilfe von Lügen-Fallerörterungen in Frage zu stellen. Nach den rechtspolitischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit Parteidiktaturen sind es vor allem Fälle von geheimpolizeilich erzwungenen Dilemmata, die in diesem Punkt für relevant erachtet werden: »Da wäre eine Handlung zwar vielleicht einerseits eine Lüge, aber andererseits der einzige Weg, einen Menschen zu retten. Man denke an den Fall dessen, der einen politisch Verfolgten vor der Geheimpolizei verbirgt«. 98 Bevor man einem solchen Fall wegen seines vermeintlich dilemmatischen Formats das Potential zutraut, die Gültigkeit des allgemeinen durch den kategorischen Moral-Imperativ angeblich normierten Lügen-Verbots zu relativieren, ist es aufschlußreich, Kants eigene Mittel zur Erörterung eines solchen Falls zu beachten. Da die Brücke, die die Schritte von Kants kategorischem Moral-Imperativ zur Dimension des Rechts führt, in der Regel unberücksichtigt geblieben ist, sei sie im Vorgriff auf die späteren Ausführungen 99 hier besonders nachgezeichnet. Kant läßt sich seine entsprechende Fallerörterung in Gestalt einer terroristischen Situation vorgeben, die aus der terroristischen Zeit der französischen Revolution stammt. 100 In Kants Skizze dieser Situation ist die Lage des potentiellen Lügners noch dadurch verschärft, daß ihm der seine Information Heischende als derjenige bekannt ist, der nicht nur auf die Ermordung der von ihm gesuchten Person aus ist, 101 sondern sogar auch die Absicht an den Tag legt, eine seinen potentiellen Informanten »bedrohende Missetat« 102 auszuüben, wenn dieser ihn nicht wahrhaftig informiert. Es ist zunächst unzweifelhaft, daß Kant den Fall, in dem der potentielle Informant lügt, zweimal in rechtlicher und daher in konsequentialistischer Hinsicht, aber gerade nicht in moralischer Hinsicht ernst nimmt. Zum

Patzig, Begründbarkeit, S. 51. Vgl. unten: Notwehr, bes. S. 175–181. 100 Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, Ak. VIII, S. 425 ff. 101 Vgl. S. 426 f. 102 Ebd. 98 99

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

einen gibt er zu bedenken, daß eine Lüge zur Konsequenz hat, daß »die Rechtsquelle unbrauchbar gemacht« 103 werde; zum anderen argumentiert er mit Blick auf diesen Fall: »[…] durch eine Lüge […] bist du für alle Folgen, die daraus entspringen mögen, auf rechtliche Art verantwortlich«. 104 Mit Blick auf den Fall der Wahrhaftigkeit in einer solchen Situation gibt er zugunsten der Wahrhaftigkeit ein negatives rechtliches und daher ebenfalls konsequentialistisches Kriterium zu bedenken: »Bist Du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle«. 105 Indessen hat Kant einen von ihm selbst erwogenen Umstand einer solchen Situation nicht weiter berücksichtigt, dessen Beachtung die Erörterung in eine prinzipiell andere Richtung lenken kann – den Umstand, daß der eine Information Heischende auch die Absicht an den Tag legt, eine seinen potentiellen Informanten unmittelbar »bedrohende Missetat« 106 auszuüben, wenn dieser ihn nicht wahrhaftig informiert. Denn unter diesem Umstand instrumentalisiert er dessen moralische Urteils-Autonomie durch ein sowohl unmoralisches wie widerrechtliches Mittel zugunsten eines sowohl unmoralischen wie widerrechtlichen Zwecks. Doch die moralische Urteils-Autonomie ist dasselbe wie die Menschheit, die der kategorische MenschheitsImperativ thematisiert: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person wie in der eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«. 107 Denn Menschheit ist hier synonym mit der strikt antibiologisch konzipierten humanitas, aber nicht mit den biologisch-taxonomisch konzipierten spezies humana bzw. genus humanum. 108 Doch unter dieser Voraussetzung verEbd. S. 427, Kants Hervorhebungen. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 GMS, S. 429. 108 Das verkennt Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/Main 1993, wenn er Kants Menschheits-Formel durch den Imperativ Instrumentalisiere niemanden! – also: Instrumentalisiere niemanden aus der Gattung der Menschen! – meint paraphrasieren zu können, vgl. bes. S. 80 ff. Damit wird unter Tugendhats leitenden Interpretations-Hypothesen der für die moralische Urteils-Autonomie zentrale kategorische Moral-Imperativ belanglos und der Umgang von Menschen mit Menschen dem Wildwuchs eines altruistisch gesonnenen individuellen Gutdünkens sowie eines nicht weniger wildwüchsigen Kontraktualismus preisgegeben; vgl. auch unten S. 46110. 103 104

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Einleitung

letzt der Informationsheischende aus Kants Szenario die humanitas seines Adressaten, weil er dessen moralische Urteils-Autonomie ›bloß als Mittel‹ und nicht ›zugleich als Zweck‹, sondern zum Zweck einer unmoralischen und widerrechtlichen ›Missetat‹ braucht. Es sieht daher zunächst so aus, als eröffne Kants imperativisch formuliertes humanitas-Kriterium zwar die Möglichkeit, eine terroristische Handlungsweise in Übereinstimmung mit dem Kriterium der moralischen Urteils-Autonomie als moralisch verwerflich zu beurteilen, lasse aber die terrorisierte Person in ihrem dilemmatischen Schwanken zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit im Stich. Doch Kant hat mit Blick auf die moralische und die rechtliche Struktur solcher terroristischen Situationen ein Kriterium berücksichtigt, in dessen Licht die Lüge in einer solchen Situation über ihren Lügencharakter hinaus noch etwas wesentlich anderes ist als eine Lüge. Denn dieses Kriterium eröffnet einen rechtlich gehegten Ausweg aus dem Dilemma zwischen Lügen-Verbot und Wahrhaftigkeitspflicht: »Die Notwehr ist der einzige casus necessitatis gegen den Beleidiger. Obrigkeiten, welche die Selbstverteidigung mit großer Beschädigung des andern verbieten, müssen wissen, daß sie dem Menschen sein heiligstes Recht nehmen, um dasselbe zu verwalten und als dispositaires desselben … bricht ab«. 109 Unter der systematischen, kriteriologischen Voraussetzung des kategorischen Menschheits-Imperativs ist daher jeder individuelle Mensch der dispositair seines heiligsten, also von keiner staatlichen Instanz zu verweigernden vorpositiven Rechts auf Notwehr gegen einen Beleidiger insbesondere seiner humanitas, also seiner moralischen Urteils-Autonomie. Der casus necessitatis in Kants terroristischem Szenario bildet daher den wichtigsten kasuistischen Knotenpunkt in Kants Praktischer Philosophie, in dem sich das Kriterium der moralischen Urteils-Autonomie und das Kriterium der Verträglichkeit des positiven Rechts mit der ›Freiheit von jedermann‹, also mit eben dieser moralischen Urteils-Autonomie unmittelbar verflechten. 110 Ak. XIX, R 7195, Kants Hervorhebung; kursivierter Kommentar des Herausgebers Friedrich Berger. 110 Weil Tugendhat, Ethik, irrtümlich meint, man könne das Kriterium der moralischen Urteils-Autonomie ohne sachlichen Verlust zugunsten des von ihm allerdings gründlich mißverstandenen humanitas-Kriteriums opfern, ist es wohl nur konsequent, daß er den Menschen für »eine Spezies des Tierreichs«, Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 13, hält. Daß Tugendhat außerdem die kriteriell-prozedurale Funktion des kategorischen Moral-Imperativs gründ109

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Der moralische Charakter und seine rechtliche Tragweite

Doch dieser kasuistische Knotenpunkt bildet darüber hinaus das bedeutsamste Paradigma einer subtilen funktionalen Gewichtsverschiebung innerhalb von Kants Praktischen Philosophie als ganzer. Diese findet ihren radikalen Ausdruck in dem Diktum: »[…] das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dies[r] Augapfel Gottes […]«. 111 Mit dieser deistisch formulierten Sakralisierung des Rechts der Menschen 112 setzt Kant einerseits die vor allem von Bodin und Hobbes eingeleitete rechtsphilosophische Gestalt der Säkularisierung fort. 113 Im selben Atemzug vollendet er sie aber gleichzeitig durch seine kriteriologischen Klärungen sowohl des Moralischen und des Rechtlichen wie ihres Zusammenhangs, also durch seine Antworten auf die Fragen, wie und woran man das Moralische einer Handlungsweise und das Rechtliche einer Handlungsweise erkennen kann. 114 Die mit formal-kriteriologischen Mitteln vollendete rechtsphilosophische Säkularisierung erschöpft sich indessen nicht im Bruch lich verkennt, daß er darüber hinaus die von Kant apostrophierte Vernunft allen Ernstes mit einer Entität identifiziert, von der es nach Kant sinnvoll sein soll zu sagen, der Mensch sei »identisch mit der Vernunft«, S. 117, zeigt leider mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die Gründe, aus denen er Kants Ethik zunächst für das plausible Moralkonzept, vgl. Tugendhat, Ethik, S. 79–97, gehalten hat, genauso auf Sand gebaut waren wie es seine jüngste Kritik an ihr ist. 111 Zum ewigen Frieden, Ak. VIII, S. 352, Kants Hervorhebung. Vgl. hierzu ausführlich unten: Religion, bes. S. 227–32. 112 Um eine deistisch bloß formulierte Sakralisierung handelt es sich, weil Kant sich – wenngleich nur im persönlichen Arkanum der Selbstverständigung seiner Reflexionen und aus Sorge vor der religions- und kirchenpolitischen Zensur seiner Zeit – inzwischen davon überzeugt hat: »[Religion] zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat ›Es ist ein Gott‹ gefordert«, op. post., Ak. XXI, S. 81. Nur wer ›den Augapfel Gottes‹ in Gestalt des Rechts hütet, hat sogar die gerechtfertigte Aussicht, »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben«, op. post., Ak. XXII, S. 79, Hervorhebungen R. E. zu werden. Darüber hinaus zeichnet diese Form der Pflege des Rechts sogar den Weg »zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden«, MS, Ak. VI, S. 335, vor. 113 Vgl. zur Schlüsselrolle der juridischen Form der von Bodin und Hobbes ausgehenden Säkularisierung die trefflichen Überlegungen von Heinrich Meier, Der Streit um die Politische Theologie, in: ders., Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart-Weimar 32009, S. 269–301, bes. S. 275 f. 114 Durch seinen Anspruch, plausible formale Kriterien für die Erkenntnis des Moralischen und des Rechtlichen durchsichtig gemacht zu haben, bricht Kant offensichtlich mit den dezidiert christlichen Denkern der rechtlich orientierten Säkularisierung am Beginn der Neuzeit, deren Doktrin »für sich in Anspruch nimmt, in letzter Instanz auf Offenbarung gegründet zu sein«, Meier, Die Lehre, S. 269, Hervorhebung R. E.

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Einleitung

mit der strikt offenbarungstheologisch eingeleiteten juridischen Säkularisierung durch christliche Denker. Sie zeigt ihre wahrhaft innerweltliche Tragweite sogar bis in die konkretesten Verästelungen der modernen Schöpfungen des positiven Rechts. Es ist sogar das scheinbar bloß punktuell wichtige, von Kant jedoch geradezu fundamentalanthropologisch aufgefaßte Format der Lüge als »der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur« 115, dem hier die Schlüsselrolle zufällt. Denn die in modernen Strafgesetzen bedrohten Handlungsweisen sind generell dadurch charakterisiert, daß ihre Akteure die von ihnen intendierten Erfolge nur dann erzielen können, wenn sie diese Ziele gegenüber ihren potentiell Geschädigten und deren Kommunikationspartnern, Interakteuren und Kooperateuren im Schutz eines täuschungsstrategischen Beschweigens intendieren, also auf ausdrücklich gestellte Fragen nach ihren bevorstehenden Handlungszielen mit Lügen antworten müßten, um ihren intendierten Handlungserfolg nicht zu gefährden. Analog wird im Bürgerlichen Gesetzbuch durch die Normierung von Einstellungen wie denen von »Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte« 116 nur allzu offensichtlich die wechselseitige Wahrhaftigkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit der Teilnehmer an der Gütersphäre und am Güteraustausch als notwendige moralische Bedingung einer rechtlich wohlgeordneten Gütersphäre und eines rechtlich wohlgeordneten Güteraustauschs berücksichtigt.

8.

Zum Abschluß

Die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis hat Kant unter den schon für ihn traditionellen und daher mehrdeutigen Namen der Vernunft und der Urteilskraft benannt. Inzwischen sind diese Namen durch die von uns überschaubare noch längere Tradition noch um ein Vielfaches mehrdeutiger geworden. Umso bedeutsamer ist der Umstand, daß Kant diese beiden kognitiven Vermögen jedes Menschen an so wohlbestimmte Aufgaben gebunden sieht, daß sie mit keinen anderen Vermögen desselben Namens verwechselt werden können. Auf ihrem praktischen innerweltlichen Bewährungsfeld können sich die Menschen des kognitiven Vermögens der Vernunft mit Hilfe von 115 116

Naher Abschluß, Ak. VIII, S. 422. BGB, § 157.

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Zum Abschluß

zwei formalen Beurteilungsprozeduren in erfolgsträchtigen Formen annehmen. Die Vernunft selbst stellt dem Menschen für ihren praktischen Gebrauch zwei prozedurale Kriterien zur Verfügung. Mit Hilfe des einen – des kategorischen Moral-Imperativs – kann er in methodisch kontrollierbarer Form den moralischen Charakter seiner Maximen und seiner Handlungsweisen beurteilen, indem er ihren förderlichen bzw. ihren zerstörerischen Beitrag zum wechselseitigen praktischen Vertrauen – zur Wahrhaftigkeits-Solidarität – erkennt; mit Hilfe des anderen – des Kriteriums des Rechts – kann er die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit mit der Wahrhaftigkeits-Solidarität beurteilen und erkennen, die einem beliebigen positiven Recht innewohnt. Daher obliegen der praktischen Urteilskraft zwei ihr von der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch angesonnene Aufgaben. Sie muß in jeder konkreten Situation immer wieder von neuem beurteilen und zu erkennen suchen, ob diese Situation mit einer praktischen Relevanz für die moralische Frage bzw. für die rechtliche Frage verbunden ist oder nicht: Durch welche Maximen und Handlungsweisen wohnt der Situation ein förderlicher oder ein zerstörerischer Beitrag zur Wahrhaftigkeits-Solidarität inne und ist ein geplantes oder in Kraft befindliches positives Recht mit der WahrhaftigkeitsSolidarität verträglich oder nicht? Von den situativen Antworten der praktischen Urteilskraft auf diese kognitiven Aufgaben hängt ab, in welchem Maß die Menschen zu einer vernünftigen Praxis beitragen. Dieses Maß hängt von dem Maß ab, in dem ihre praktische Urteilskraft über die ihr von der Vernunft angesonnenen Aufgaben aufgeklärt ist. In diesem und nur in diesem Sinne bilden Vernunft und Urteilskraft die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis. * * * Meinem Kollegen Alejandro G. Vigo (Universität von Navarra) danke ich für unschätzbare freundschaftliche Hilfe bei der Vorbereitung dieses Sammelbandes.

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Namensregister

Aristoteles 16 f. Aubenque, P. 16

Marx, K. 30 f., 33 Meier, H. 47113–114 Moore, G. E. 17 f.

Bodin, J. 47 Cohen, H. 36, 43

Nietzsche, F. 2441 Nowell-Smith, P. H. 145

Ebbinghaus, J. 3167 Enskat, R. 2441, 2651, 3271, 3376, 3581–82

Patzig, G. 1510, 2028, 2856, 37, 4498 Platon 11 ff., 17, 35

Ferber, Chr. v. 3581 Frege, G. 3787 Fulda, H.-F. 2544

Rawls, J. 1817 Riedel, M. 111, 36 Ross, W. D. 2028 Rousseau, J.-J. 32 f.

Gillessen, J. 3892 Habermas, J. 2232, 2543 Hegel, G. W. F. 19, 28, 33 ff., 41 Hennis, W. 1511–12 Henrich, D. 159 Hobbes, Th. S. 24, 47 Höffe, O. 2441 Honneth, A. 34 f. Husserl, E. 37 Jellinek, G. 2958 Kemp, J. 2029 Kersting, W. 3166 Köhl, H. 2029

Saage, R. 30 f. Savigny, E. v. 4093 Siep, L. 3376, 3479, Singer, M. 38 f. Sokrates 13 Stevenson, Ch. L. 13 f. Tugendhat, E. 3684, 45108, 46110 Weber, M. 20 Wieland, W. 158, 1818–19 Willaschek, M. 2232, 35, 2443 Wittgenstein, L. 4093 Zotta, F. 2441, 3059, 3168, 3270

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Autonomie und Humanität Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren

I. Keine andere Disziplin der Philosophie aus der klassischen aristotelischen Trias von Logik, Ethik und Physik hat bis tief ins zwanzigste Jahrhundert eine Rehabilitierung so dringend nötig gehabt wie die Ethik. Die Themen ihrer Untersuchungen – unsere praktischen Urteile über das, was zu tun oder zu lassen ist – waren ins Zwielicht tiefgehender Aporien der philosophischen Reflexion selbst geraten. Eine von diesen Aporien tauchte gerade da auf, wo diese Reflexion am energischsten bemüht war, die strengsten verfügbaren Mittel für ihre methodische Selbstkontrolle fruchtbar zu machen. Die Mikroanalyse der Sprache unserer praktischen Urteile mit Hilfe von Methoden der neu aufblühenden formalen Logik war gerade im charakteristischen Kernbereich dieser Urteile auf widerspenstige Elemente gestoßen. Die normativen Kerne dieser Urteile – das Sollen und das Dürfen – entzogen sich hartnäckig einer Analyse mit Hilfe der Methoden, die sich an den logischen Formen von theoretischen Aussagen über bestehende und nicht-bestehende Sachverhalte bewährt hatten. Diese Widerspenstigkeit war zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als ein mehrdeutiges Phänomen. Man konnte es mit respektablen Gründen als ein Indiz interpretieren, das auf einen vorläufig noch unzureichenden Entwicklungsgrad der benutzten logischen Mittel verweist. Man konnte es aber auch als ein Indiz deuten, das auf einen alogischen, mit logischen Mitteln weder analysierbaren noch erklärbaren Charakter dieser normativen Kernelemente verweist. In dieser Situation fand gerade bei logisch orientierten Analytikern der Sprache praktischer Urteile eine Interpretation nachhaltigen Anklang, die die logische Widerspenstigkeit der normativen Elemente dieser Urteile nicht nur als Indiz für ihren alogischen Charakter deutet. Vielmehr hielt sie diesen alogischen Charakter darüber 51 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Autonomie und Humanität

hinaus auch seinerseits wiederum für ein Indiz, das auf einen irrationalen, und zwar hauptsächlich emotionalen Ursprung der Geltungsansprüche verweist, die wir mit praktischen Urteilen zu verbinden pflegen, wenn wir uns mit ihnen an die Adresse von Interaktionspartnern wenden. Nun ist der Schritt vom alogischen Charakter der normativen Elemente praktischer Urteile zu einer irrationalen, insbesondere zu einer emotionalen Basis ihrer Geltungsansprüche zwar ohne weiteres weder logisch zwingend noch unter anderen Aspekten plausibel. Doch wenn man sich erst einmal davon überzeugt hat, daß diese Interpretation auch in der Sache das letzte Wort verdiene, dann haben die praktischen Urteile einen drastischen Gestaltwandel durchgemacht: Sie sind dann nur noch expressive Signale der individuellen Lust- bzw. Unlustgefühle, die die Personen, von denen diese Signale stammen, mit den Handlungsweisen verbinden, auf die sie ihre Signale beziehen. 1 Mit dieser Interpretation war die Ethik bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gleichsam zum Nullpunkt der Reflexionen zurückgekehrt, mit denen sie im Halbdunkel ihrer legendären vorsokratischen Frühgeschichte angefangen hatte, sich von solchen Begründungsproblemen beunruhigen zu lassen. Gleichzeitig war durch diese Rückkehr die Frage nach der Begründbarkeit praktischer Urteile von neuem provoziert worden. Denn der Irrationalitätsverdacht, in den die praktischen Urteile durch eine individual-hedonistische Reduktion ihrer Geltungsbasis geraten, verstrickt sich in eine schwer auflösbare sachliche und praktische Spannung mit zwei Elementen des praktischen Lebens selbst: mit dem spontanen Zutrauen, das wir selbst in die Begründbarkeit der praktischen Urteile hegen, die wir befolgen und deren Befolgung wir jedem anderen ansinnen, der sich in einer hinreichend konformen Situation befindet; und mit den ebenso spontanen Bemühungen, die wir in die Begründung praktischer Urteile investieren, wenn die Umstände dies nötig erscheinen lassen. Es ist daher vor allem diese Spannung gewesen, was die Suche nach einer Antwort auf die Begründbarkeit praktischer Urteile von Ein klassisches Zeugnis dieser extremen Auffassung bietet in unserem Jahrhundert Charles L. Stevenson, »The Emotive Meaning of Ethical Terms« (1937), wieder abgedr. in: ders., Facts and Values, New Haven 1963, S. 10–31, sowie: ders., Ethics and Language, Yale University Press 1944. Eine differenzierte Behandlung der heiklen Beziehungen zwischen moralischen und emotionalen Momenten praktischer Haltungen bietet Bernard Williams, »Sittlichkeit und Gefühl«, in: ders., Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972 (engl. 11973), Stuttgart 1978, S. 329–365.

1

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Autonomie und Humanität

neuem wachgerufen hat. Das spontane Zutrauen in diese Begründbarkeit fand sich durch den lrrationalitätsverdacht gegen die praktischen Urteile in einem Maß und in einer Form provoziert, daß es anfing, in planmäßiger Weise nach argumentativen Anwälten dieses Zutrauens zu suchen. Es kann schwerlich überraschen, daß man alsbald da fündig wurde, wo eine solche Anwaltschaft bislang am gründlichsten und am umsichtigsten kultiviert worden war – in der Geschichte der Ethik. Allerdings macht im Licht der erneuerten Fragestellung auch diese Geschichte einen Gestaltwandel durch. Durch die thematische Zuspitzung auf das Begründbarkeitsproblem hört sie auf, das Bild eines wildwüchsigen Geflechts aus mannigfaltigen thematischen Entwicklungen, Anregungen, Einflüssen, Wirkungen und Rezeptionen zu bieten. Ihr Bild wandelt sich zu dem eines Mediums, in dem eine extrem komplexe Form von Arbeitsteilung und Kooperation im Dienst von Teilantworten auf eine einzige Frage stattfindet – welche praktischen Urteile unter welchen speziellen Aspekten mit Hilfe von welchen speziellen Methoden auf welche spezielle Weise begründet werden können. Die Rehabilitierung des ethischen Begründbarkeitsproblems hat in der Zeitspanne einer Generation zur Ausarbeitung einer Vielzahl von Begründungsmodellen geführt. 2 Man wird schwerlich irgendein paradigmatisches Begründungsmodell aus dieser Vielzahl hervorheben können, das nicht aus gründlichen Auseinandersetzungen mit einer – oder mehr als einer – lehrreichen überlieferten Ethik hervorgegangen wäre. Erst bei Gelegenheit dieser Auseinandersetzungen hat man allmählich abzuschätzen gelernt, in welchem Maß die Ethik spätestens seit ihren legendären Sokratischen Anfängen versucht hat, ein Anwalt des spontanen Rationalitätszutrauens zu sein, das wir im alltäglichen Leben zugunsten unserer praktischen Urteile hegen, und nicht primär ein Anwalt eines entsprechenden Irrationalitätsverdachts. Die Fruchtbarkeit ist daher schon längst außer jeglichem Zweifel, die die Auseinandersetzung mit überlieferten ethischen BegrünEine instruktive Skizze zur Einführung in die Fragestellung bietet Günther Patzig, »Über die Begründbarkeit moralischer Forderungen«, in: Festschrift für Joseph Klein zum 70. Geburtstag, hrsg. v. E. Fries, Göttingen 1967, S. 32–52; einen vorläufigen Abschluß auf dieser Linie macht mit viel problemgeschichtlicher Umsicht, analytischer Energie und einer an den Möglichkeiten der Aufklärung orientierten Motivation Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993; zu den wichtigsten Insuffizienzen von Tugendhats Rekonstruktion vgl. unten S. 59 f.

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Autonomie und Humanität

dungsmodellen für eine produktive Überwindung der sachlichen Verlegenheit mit sich gebracht hat, in die die Ethik in unserem Jahrhundert durch einen Irrationalitätsverdacht gegen unsere praktischen Urteile geraten war. Dennoch hat die Ethik für die Strategie, mit der ihr diese Überwindung gerade durch eine gründliche Auseinandersetzung mit überlieferten Rationalitätsmodellen praktischer Urteile gelungen ist, einen Preis entrichtet, den man schwerlich vorhersehen konnte. Dieser Preis bildet einen Teil der Tragweite, den die zunächst schleichende und mittlerweile schon längst offenkundige, permanente Revolutionierung unseres praktischen Alltagslebens durch das immer engmaschigere Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und Industrie mit sich gebracht hat. Die Einführung der artefiziellen Produkte dieses Zusammenwirkens in unsere alltägliche Lebenswelt hat inzwischen nicht nur diverse globale Verbundsysteme dieser Produkte hervorgebracht. Der sachgemäße Gebrauch dieser Produkte macht auch Handlungs- und Kommunikationsformen ihrer Benutzer nötig, wie sie noch vor einem Jahrhundert auch der kühnsten und raffiniertesten Phantasie nicht eingefallen wären. Vor allem aber sind für die Verwendungsformen dieser Produkte und für die Verbundsysteme, in denen sie ihre Funktionen erfüllen, Ziele und Zwecke sowie Risiken und Gefahrenpotentiale fast schon vorprogrammiert, wie sie sich ebenfalls vor Jahrhundertfrist noch niemand hat träumen lassen – und zwar weder in Wunschträumen noch in Albträumen. Diese rasante Entwicklung hat nicht nur der skeptischen Frage, ob man alles das, was man technisch tun kann, auch tun darf oder tun sollte, ihre permanente Aktualität verliehen. Vor allem hat sie die Leistungsfähigkeit der Begründungsmodelle in ein tiefes Zwielicht getaucht, aus deren Studium die Ethik der vergangenen Jahrzehnte gelernt hat, in einer methodisch disziplinierten Weise die Berechtigung des Rationalitätszutrauens zu untersuchen, das wir im alltäglichen Leben zugunsten unserer praktischen Urteile hegen. Denn diese Modelle sind in geschichtlichen Zeiten ausgearbeitet worden, als die technische, wissenschaftsbasierte Dauerrevolutionierung dieses alltäglichen Lebens noch in mehr oder weniger weiter Ferne lag. Die praktischen Urteile, deren Begründungspotentiale von Platon und von Aristoteles, von Thomas von Aquin und von Hume oder von Kant und von Hegel untersucht werden, haben gänzlich andere Handlungsformen und Handlungsziele zum Gegenstand als es die Handlungsformen und Handlungsziele sind, durch deren moralische, rechtliche und utilitäre – aber auch politische – Beurteilungsbedürf54 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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tigkeit die Kinder der wissenschaftlich und technisch basierten Industrieepoche unserer Lebenswelt in Begründungsprobleme verstrickt werden. Die Begründungsmodelle, die in der vorindustriellen Geschichtsphase der Ethik ausgearbeitet worden sind, sind jedenfalls in dem Maß in den Verdacht geraten, an Relevanz einzubüßen, in dem unsere Handlungsformen und Handlungsziele selbst einen revolutionären technischen Gestaltwandel durchmachen. Die Urteile, durch die wir unter Aspekten von Moral, Recht und Utilität – aber auch von Politik – zu solchen tiefgreifend gewandelten Handlungsformen und Handlungszielen Stellung nehmen, verlangen im Horizont dieses Verdachts auch entsprechend andere Begründungsformen. Der Versuch, überlieferte ethische Begründungsmodelle zu Rate zu ziehen, um das Rationalitätszutrauen in die praktischen Urteile untersuchen zu können, auf die man auch unter den wissenschaftlich-technisch gesteuerten Lebensbedingungen der Gegenwart angewiesen ist, scheint in eine neue Begründungsaporie zu führen.

II. Es liegt auf der Hand, daß nur ein einziger überlieferter Ethik-Typ auf den ersten Blick wenigstens eine formale Chance hat, den Relevanztest zu bestehen, der im Horizont eines solchen Verdachts veranstaltet wird. Das ist derjenige Ethik-Typ, der planmäßig daran arbeitet, die moralischen, die rechtlichen und die utilitären sowie die politischen Schlüsselkriterien unserer praktischen Urteile ohne jede Rücksicht auf irgendwelche säkular oder epochal geprägten Handlungsformen und Handlungsziele durchsichtig zu machen. Es ist daher verständlich, daß gerade die aus der Feder Kants überlieferte Ethik einen gemeinsamen Konvergenzpunkt der Interessen bildet, mit denen diverse auf die praktischen Herausforderungen des wissenschaftlich-technischen Industriezeitalters reagierende ethische Entwürfe auch von einem solchen Ansatz zu profitieren suchen. Denn die sogenannten Kategorischen Imperative, die Kant ausgearbeitet hat und die von ihm auch unmißverständlich als Beurteilungskriterien konzipiert werden, sind nun einmal geradezu die klassischen Muster dafür, wie man praktische Beurteilungskriterien unter radikaler Abstraktion von allem geschichtlichen Gepräge der zu beurteilenden Handlungsformen und Handlungsziele konzipieren kann. Dennoch kann man nicht gut darüber hinwegsehen, daß auch die 55 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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günstigsten Kritiker dieser Ethik Kategorischer Imperative nicht umhin können, mehr oder weniger tiefe Eingriffe in deren argumentatives Gefüge vorzunehmen, wenn sie ihr eine Chance wahren wollen, einen Anschluß an die Diskussionen zu gewinnen, die um die Begründungsprobleme der praktischen Urteile geführt werden, die für das Leben in einer wissenschaftlich-technisch basierten Industriewelt spezifisch sind. So kann man einerseits einräumen, daß Kant auf der maximalen Abstraktionsstufe Kategorischer Imperative so etwas wie formale Bedingungen der Möglichkeit jedes gedeihlichen und vertrauensvollen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens von Menschen entdeckt habe. Gleichzeitig kann man die Grenzen der Tragweite solcher Imperative dafür kritisieren, daß sie wegen dieses maximalen Abstraktionsgrades allerdings auch jede materiale Orientierung am Menschenglück vernachlässigen. Man kann daher argumentieren, daß sie nur in Verbindung mit entsprechenden material angereicherten, utilitaristischen Kriterien geeignet seien, Handlungsweisen und Handlungsziele auf ihren Wert für ein solches Zusammenleben und Zusammenarbeiten zu prüfen. 3 Von hier aus ist es dann allerdings der Sache nach nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem reduktionistischen Programm, das auch die moralischen Normen noch als ausgezeichnete, regelutilitaristische Nützlichkeitsnormen zu deuten sucht, nämlich als diejenigen, deren Respektierung kooperativen Nutzen unter Menschen überhaupt erst möglich macht. 4 Andererseits kann man aber auch die Tatsache unmittelbar ganz ernst nehmen, daß dem Abstraktionsgrad Kategorischer Imperative alle Orientierungen an einem irgendwie konzipierten Menschenglück zum Opfer fallen. Man kann daher argumentieren, daß eben dies ein nur allzu gravierendes Indiz dafür sei, daß solche Imperative im Grunde gar nicht Menschen zu ihren Adressaten haben können, sondern nur Fabelwesen, wie beispielsweise Engel welche sind. 5 Nach einer Vermittlung zwischen diesen beiden Einschätzungen des theoretischen Status und der praktischen Relevanz einer Ethik Kategorischer Imperative sucht indessen ein anderer Ansatz. Er Vgl. Patzig, a. a. O., S. 69 ff. Vgl. hierzu z. B. Günther Patzig, »Ein Plädoyer für utilitaristische Grundsätze in der Ethik« (11973), wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 99–117. 5 Vgl. hierzu vor allem Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, bes. S. 16–23. 3 4

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macht darauf aufmerksam, daß die von Kant ausgearbeiteten Kategorischen Imperative gewisse Züge einer inneren Ordnung zeigen, die auch auf einer wichtigen Differenz zwischen Abstraktionsgraden verschiedener Kategorischer Imperative beruhe. Die abstraktionshierarchische Ordnung dieser Imperative bietet daher eine weiterführende Möglichkeit: Man kann unter ihnen nach einem Kandidaten suchen, der es immerhin durch einen minimalen moralischen Gehalt lohnend erscheinen läßt, seine Tragfähigkeit und Tragweite in der Rolle eines besonders ranghohen Moralitätskriteriums zu erproben. Für eine solche Kandidatur kommt evidenterweise vor allem der Imperativ in Frage, der jede Person verpflichtet, die Menschheit, sowohl in der eigenen wie in jeder anderen Person, jederzeit zugleich als Zweck, aber niemals bloß als Mittel zu behandeln. 6 Denn damit wird das Prinzip einer universellen wechselseitigen Achtung unter den Menschen in Anspruch genommen, die als solche und von Hause aus eine moralische Haltung ist. 7 Stellt man die kritischen Einschätzungen und die mit ihnen verbundenen Eingriffe in Rechnung, denen das interne argumentative Gefüge der von Kant entworfenen Ethik Kategorischer Imperative auf dieser Linie der zeitgenössischen ethischen Diskussionen ausgesetzt ist, dann wird man allerdings auch radikalen Konsequenzen Respekt nicht versagen können. Und die Konsequenzen, die man aus solchen Eingriffen und kritischen Einschätzungen gezogen hat, sind umso respektabler, wenn sie von einer im Grunde konservativen Form des Umgangs mit diesem Ethik-Entwurf gezogen werden. Denn Kant war nun einmal nicht der Auffassung, daß Kategorische Imperative einer utilitaristischen Ergänzung bedürften. Und der abstrakteste von Kant ausgearbeitete Kategorische Imperativ, der ein Handeln nach gesetzestauglichen Maximen verlangt, verpflichtet seine Adressaten ganz und gar nicht unmittelbar zu irgendeiner moralischen Haltung, auch nicht zu einer Haltung, die einen so minimalen moralischen Gehalt hätte, daß er sich in irgendeiner universellen wechselseitigen Achtung dieser Adressaten manifestieren würde. Vielmehr verdankt dieser abstrakteste Imperativ sein AbstraktionsVgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), Ak. IV, S. 429 ff. Vgl. Tugendhat, bes. S. 80 ff. Allerdings läßt sowohl dieser Imperativ wie auch Tugendhats Analyse völlig offen, worin denn nun konkret und genau das Attribut namens Menschheit besteht, mit Blick auf das diese Achtung geübt werden soll. Solange dies nicht geklärt ist, zielt die geforderte Achtung ins Unbestimmte; vgl. hierzu unten S. 6930.

6 7

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maximum dem Umstand, daß er die moralische Qualität einer Handlungsweise ausschließlich von der formalen Bedingung abhängig sein läßt, daß ihre Maxime gesetzestauglich ist. 8 Es ist ja gerade dieser Formalismus, was die Prozedur der moralischen Beurteilung einer Handlungsweise zu einer nicht-empirischen Angelegenheit stempelt. Doch es ist eben dieser nicht-empirische, rein formale – um nicht zu sagen: formalistische – prozedurale Kern von Kants Moralkriterium, was nach wie vor das größte Rätsel aufgibt. Denn es ist nach wie vor ungeklärt, aus welchen Gründen man einem Dijudikationsprinzip zutrauen kann, den Schlüssel zur Ermittlung des moralischen Wertes von Maximen bzw. Handlungsweisen zu liefern, wenn dieses Kriterium nicht selbst auch nur den geringsten moralischen Gehalt hat oder auch nur die geringste moralische Relevanz erkennen läßt. So ist es denn auch nach wie vor die völlige moralische Gehaltlosigkeit und Unbestimmtheit, was die drei einander ergänzenden Diagnosen provoziert: 1. Es sei ein Kriterium für die Verhaltensweisen nicht von leibhaftigen Menschen, sondern von ätherischen Fabelwesen, wie Engel welche sind; 2. es bedürfe eben deswegen entweder einer utilitaristischen Ergänzung, die mindestens die Orientierung am Menschenglück berücksichtigt, oder aber 3. einer materialmoralischen Vervollständigung durch ein Prinzip universeller wechselseitiger Achtung, wenn es überhaupt eine erkennbare praktische Tragweite soll haben können. Wollte man diese Diagnosen ernst nehmen und gleichzeitig an der überlieferten Gestalt von Kants Ethik der Kategorischen Imperative festhalten, dann fiele es schwer, sie vor der Einschätzung zu bewahren, daß sie eben in dieser Gestalt einen erschütternden Fehlschlag darstelle. 9 Doch gerade diese konservative Behandlung des internen, gedanklichen Gefüges der Kantischen Ethik hat in Verbindung mit dieser Fehlschlag-Diagnose gelegentlich zu der radikalsten Konsequenz herausgefordert, die man aus dem Scheitern einer Ethik des 18. Jahrhunderts ziehen kann: Man hat nicht nur das ganze in diesem Jahrhundert ins Leben gerufene sogenannte Projekt der Aufklärung für gescheitert erklärt; man hat dieses Scheitern sogar auf das diagnostizierte Scheitern von Kants moralphilosophischer Arbeit zuDaß eine wichtige theoretische Leistung von Kants Ethik gerade darin besteht, daß sie für das Moralische eine nicht-moralische, rein formale Reduktionsbasis ins Auge faßt, betont besonders Patzig, a. a. O., S. 50. 9 Vgl. hierzu Bernard Williams, a. a. O., bes. S. 364 f. 8

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rückgeführt. 10 Eingriffe in die überlieferte systematische und methodische Gestalt von Kants Ethik, wie sie zuletzt vor allem von Tugendhat vorgeschlagen worden sind, sind daher bereits Reaktionen, die das theoretische und das praktische Potential dieser Ethik und damit die Möglichkeit einer rationalen moralischen Aufklärung zu retten suchen. 11

III. Die Umstände haben es gefügt, daß Reflexionen über die Bedeutsamkeit der normativen Kernelemente von praktischen, insbesondere von moralischen Urteilen auch in Kants Ethik eine wichtige Rolle spielen. Die Tragweite, die diese Reflexionen für die interne, argumentative Gestaltung dieser Ethik mit sich bringen, ist sogar größer als es zunächst scheinen mag. Sie reicht bis in das innere Gefüge der Kategorischen Imperative selbst. Doch es ist gerade deswegen von nicht zu unterschätzendem methodischem Vorteil, daß die Frage der Plausibilität von Kants einschlägigen Reflexionen völlig unabhängig von der Frage behandelt werden kann, was es mit der Begründbarkeit und Anwendbarkeit von Kategorischen Imperativen auf sich hat. Vielmehr orientiert sich Kant mit diesen Reflexionen nicht weniger an der unmittelbaren praktischen Situation der individuellen Person, die jeweils ein Adressat eines normativen Ansinnens ist, als es z. B. die emotivistische Ethik tut. Denn Kant schlägt nun einmal vor, das praktische Müssen bzw. Sollen ebenso wie die Grammatik der praktischen Imperative als das charakteristische modale, deontische bzw. sprachliche Indiz dafür zu deuten, daß die Adressaten eines solchen praktischen Ansinnens nicht von selbst so handeln, wie es ihnen durch ein solches Ansinnen abverlangt wird. 12 Nimmt man die Konvention zu Hilfe, mit der Kant in seiner Schlüsseltheorie das, was eine Person von selbst tut, als Manifestation ihrer Spontaneität umschreibt, 13 dann ist für die geborenen Adressaten des praktischen Müssens bzw. Sollens sowie von praktischen Imperativen ein Sponta10 Vgl. Alasdair Maclntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (amerik. 11981), Frankfurt a. M. 1995, bes. Kap. 3–5. 11 Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 23–25, 69 ff., 199 f. 12 Vgl. vor allem Kritik der praktischen Vernunft (KpV), Bd. 5, S. 76 f., und Metaphysik der Sitten (MS), Bd. 6, 5. 214 f., 221 f. 13 Vgl. Kritik der reinen Vernunft (KrV), §§ 15–16.

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neitätsmangel charakteristisch: Sie urteilen und handeln nicht von selbst, also nicht spontan so, wie es die entsprechenden normativen Ansinnen ihnen zumuten und zutrauen. Die Reichweite dieses Zusammenhangs kann schwerlich überschätzt werden. Denn die entsprechenden Spontaneitätsmängel zeigen sich im Einzugsbereich von Sitten und Gebräuchen, von Konventionen und von sogenannten sozialen Spielregeln nicht weniger als im Einzugsbereich von moralischen oder von rechtlichen Forderungen. Vor allem in pädagogischen Situationen taucht die Überfülle der normativen Indizien auf, die auf diesen Spontaneitätsmangel verweisen. Zwar differieren die Stärkegrade der normativen Ansinnen, die mit Konventionen und Spielregeln, mit Sitten und Gebräuchen sowie mit moralischen Forderungen verbunden sind, erheblich. Dennoch zielen alle derartigen Ansinnen auf ihre Adressaten mit einer gemeinsamen Unterstellung, deren Inhalt Kant in plausibler Weise als den dispositionellen Mangel deutet, nicht von selbst so zu urteilen und zu handeln, wie es die entsprechenden normativen Ansinnen ihnen zumuten und zutrauen. Es ist daher auch wichtig, sich klar zu machen, daß Kant durch diesen Vorschlag nicht etwa zur Klärung des Geltungsmodus oder der Geltungsgründe von normativen Ansinnen beiträgt. Der praktische Spontaneitätsmangel kann ausschließlich zu einer allgemeinen, theoretischen Erklärung dafür dienen, daß Akteure, die Adressaten von normativen Ansinnen sind, im Licht solcher Ansinnen darauf angewiesen sind, über bestimmte Handlungsweisen im normativen Modus orientiert zu werden. Dieser praktische Spontaneitätsmangel bildet die »Quelle der Normativität«. 14 Doch im Mittelpunkt von Kants ethischer Aufmerksamkeit steht selbstverständlich der spezielle praktische Spontaneitätsmangel, der unter diesen Voraussetzungen durch den Kategorischen Imperativ der Gesetzestauglichkeit ans Licht gebracht wird. Dieser Zusammenhang kann leicht durchsichtig gemacht werden, indem man den propositionalen Gehalt dieses Imperativs benutzt, um die konkrete Gestalt des Spontaneitätsmangels zu charakterisieren, in dem seine Adressaten befangen sind: Die geborenen Adressaten des Kategorischen Imperativs »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann!« 15 urteilen und handeln nicht von selbst so, daß die Maximen ihrer Wil14 15

Vgl. The Sources of Normativity, hrsg. v. Onora O’Neill, Cambridge 1996. KpV § 7.

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len jederzeit zugleich als Prinzipien allgemeiner Gesetzgebungen gelten können. Und eben deswegen sind sie darauf angewiesen, über die Handlungsweisen, für deren spontane Praktizierung sie nicht disponiert sind, im normativen Modus des Befehls orientiert zu werden. Damit macht Kant eine im Grunde metaethische Reflexion in einer Weise fruchtbar, die weit über die Grenzen der Metaethik hinausführt. Da die gemeinsame Rolle von normativen sprachlichen Ausdrücken wie müssen und sollen – aber auch von gut sein – in praktischen Urteilen sowie die Rolle des grammatikalischen Imperativs auch im Verweis auf einen praktischen Spontaneitätsmangel besteht, benutzt Kant den formalen Gedanken dieses Spontaneitätsmangels geradezu als ein empirisches gattungsspezifisches Abgrenzungskriterium: Sofern Menschen Adressaten von allerlei normativen Ansinnen, insbesondere von moralischen Forderungen bzw. von Kategorischen Imperativen sind, die ihnen zumuten und zutrauen, so zu urteilen und zu handeln, wie sie nicht von selbst urteilen und handeln, unterscheiden sie sich jedenfalls im Einzugsbereich von Kategorischen Imperativen und von verwandten normativen Ansinnen radikal von allen Wesen, die von selbst – also ganz unabhängig von irgendwelchen normativen Ansinnen – so handeln, wie Menschen auch in dem für sie günstigsten Fall nur im Achten auf den normativen Modus solcher Ansinnen handeln. Solche in praktischer, insbesonders in moralischer Hinsicht spontanen Wesen faßt Kant gelegentlich zur Gattung der Heiligen 16, gelegentlich zur Gattung der Engel 17 zusammen. Selbstverständlich hat Kant in diesem Zusammenhang niemals behauptet, daß solche Heiligen oder Engel existieren würden. Ausschlaggebend ist bei diesen formal konzipierten und empirisch fruchtbar gemachten Abgrenzungen daher ausschließlich das Signal, daß Kant alleine auf Grund einer Sinn- und Bedeutungsanalyse von normativen sprachlichen Ausdrücken und Ausdrucksformen und ganz unabhängig von allen Begründungs- und Anwendungsproblemen Kategorischer Imperative über ein gattungsspezifisches, aber nicht-biologisches, Abgrenzungskriterium verfügt: Es erlaubt, die geborenen Adressaten Kategorischer Imperative, also jedenfalls und mindestens die Menschen, als praktische Mängelwesen zu charakterisieren.

16 17

Vgl. z. B. KpV, Bd. 5, S. 32 ff., 57 ff., 146 ff., sowie MS, Bd. 6, S. 396 f. Vgl. z. B. Metaphysik der Sitten Vigilantius, Bd. 27/2.1, S. 489 f.

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IV. Diese praktisch orientierte Mängelwesen-Konzeption ist zunächst einmal insofern bedeutsam, als sie schon auf der einfachsten Reflexionsstufe die Kritik ins Leere laufen läßt, die die von Kant herausgearbeiteten Kategorischen Imperative mit Idealnormen identifiziert, von denen Wesen wie die Menschen angeblich prinzipiell überfordert würden, und die daher behauptet, daß ihre adäquaten Adressaten allenfalls Fabelwesen seien, wie Engel welche sind. Die Bedeutsamkeit dieser Mängelwesen-Konzeption zeigt sich darüber hinaus auch darin, daß sie dazu anleitet, jede konkrete moralische Norm gezielt daraufhin zu untersuchen, inwiefern ihr konkreter Gehalt in Verbindung mit ihrem normativen Modus auch auf eine konkrete moralisch relevante Ausprägung eines elementaren praktischen Spontaneitätsmangels verweist. Der Spontaneitätsmangel, der unmittelbar im Licht des normativen Modus’ eines Kategorischen Imperativs sichtbar wird, ist unter diesen Voraussetzungen jedenfalls ein fester Bestandteil der conditio humana, also jener invarianten menschlichen Bedingung, unter der Menschen nun einmal jede beliebige Willensmaxime ebenso hegen wie jede beliebige Handlungsmaxime. 18 Nun läßt der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit zwar im Rahmen seiner Formalität bzw. im Rahmen seines damit verbundenen Abstraktionsmaximums jede konkrete Maxime bzw. jede konkrete Handlungsweise im Dunkeln. Umso bedeutsamer wird daher auch in diesem Punkt die Tatsache seines normativen Modus. Da dieser normative Modus einen spezifischen, wenn auch elementaren praktischen Spontaneitätsmangel seiner geborenen Adressaten ans Licht bringt, kann Kants Konzeption in eine ganz andere Dimension spontaneitätsdefizitärer Wesen ein Licht werfen. Denn Wesen, die nicht spontan so urteilen und handeln, wie sie urteilen und handeln sollen, können allenfalls lernen, so zu urteilen und zu handeln, wie sie urteilen und handeln sollen – gleichgültig, ob die normativen Ansinnen, denen sie ausgesetzt sind, einen moralischen, einen rechtlichen, einen politischen, einen utilitären oder einen anderen Ursprung haben. Durch die beiden Pole dieses Spontaneitätsmangels einerseits und andererseits der normativen Ansinnen, denen spontaneitätsdefiZu dieser Rolle der »menschlichen Bedingungen« vgl. nach wie vor Herbert J. Paton, Der kategorische Imperativ (engl. 11947), Berlin 1962, S. 39 f., sowie oben S. 59 ff.

18

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zitäre Wesen wie die Menschen in praktischer Hinsicht ausgesetzt sind, öffnet sich daher ein gattungsspezifisch anthroplogisches Spannungsfeld. Dies ist das angestammte Bewährungsfeld für die Lernfähigkeit und die Lernbedürftigkeit von Wesen, die auf normative Orientierungen angewiesen sind, weil sie von Hause aus ein praktisches Spontaneitätsdefizit mitbringen. In diesem Feld kommen daher alle die pädagogischen und didaktischen, sozialen und kognitiven, emotionalen und somatischen Alternativen, Optionen und Spektren zum Zuge, die die Formen bestimmen, in denen solche spontaneitätsdefizitären Wesen mehr oder weniger mühsam die Fertigkeiten erwerben und habitualisieren können und müssen, die sie überhaupt erst in die Lage versetzen, normativen Ansinnen gerecht zu werden. Von Kants so unscheinbar anmutender Konzeption des praktischen Spontaneitätsmangels führt daher ein direkter Weg zur Lerntheorie des normativ orientierten Handelns. 19

V. Unter den Lesern von Kants ethischen Schriften ist inzwischen ein Konsens verbreitet, der den Kategorischen Imperativ der Gesetzestauglichkeit wegen seines formalistischen Gehalts mit dem Keim eines Verfahrens identifiziert, dessen prozeduralen Hauptzug man mit der logischen Operation der Generalisierung bzw. Universalisierung zu identifizieren pflegt. Da die Durchführung eines solchen Verfahrens eine hinreichend genaue logische Bestimmung der Elemente voraussetzt, an denen eine entsprechende Verallgemeinerung ansetzen kann, und da es Maximen sind, die das Material für eine Behandlung durch diese Prozedur liefern, ist eine hinreichend genaue Klärung der logisch-semantischen Form der Maximen bzw. ihres sprachlichen Ausdrucks nötig. 20 Kant hat bei seinen verschiedentDie psychologischen Untersuchungen zur Entwicklung des normativen Bewußtseins, die vor allem mit den Namen von Jean Piaget, Erik Erikson, Lawrence Kohlberg und Gertrud Nunner-Winkler verbunden sind, setzen daher unmittelbar und mit empirischen Mitteln die Arbeit fort, die mit den formalen Mitteln Kants bis zu der Frage geführt werden kann, in welchen Formen praktische Wesen lernen, so zu urteilen und zu handeln, wie sie urteilen und handeln sollten, falls sie nicht spontan so handeln, wie sie handeln sollten. 20 Vgl. zu diesem Desiderat auch Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, Berlin/New York 1990, S. 50/2. 19

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lichen Anläufen, die Funktionen und den Gehalt des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit zu kennzeichnen, denn auch gelegentlich davon gesprochen, daß er zwar einerseits »Das Prinzip der Sittlichkeit …« 21 sei, aber diese Prinzipienfunktion gerade deswegen ausüben könne, weil er andererseits auch »das logische Prinzip« 22 der Sittlichkeit sei. Damit gibt Kant offenbar zu verstehen, daß dieser Kategorische Imperativ – ganz unbeschadet seiner Kriterienfunktion für die Sittlichkeit – deswegen nicht selbst einen sittlichen Gehalt hat, weil er vor allem einen logischen Gehalt hat. Durch diesen logischen Gehalt werden die logischen Anforderungen umrissen, denen Maximen im Rahmen des Verfahrens ausgesetzt werden, das ihren sittlichen Wert ans Licht bringen können soll. In der quasi-lehrbuchreifen Fassung dieses Kategorischen Imperativs im § 7 der Kritik der praktischen Vernunft wird dieses Verfahren zwar speziell für Willensmaximen, nicht für Handlungsmaximen ins Auge gefaßt. Doch die Differenz zwischen diesen beiden Maximentypen ist ohne Belang für die Klärung der logisch-semantischen Form derjenigen Elemente von Maximen bzw. von deren sprachlichem Ausdruck, auf die das Verfahren zur Prüfung ihres moralischen Werts Rücksicht zu nehmen hat. Kant formuliert die überwiegende Anzahl seiner Maximen-Beispiele in der Grammatik der ersten Person Singular. Das ist der Sache am angemessensten. Denn der authentische sprachliche Ausdruck einer Maxime, wie eine individuelle Person sie hegt, ist nur in dieser Grammatik adäquat möglich. Jede andere personale Singular-Grammatik stempelt die entsprechende Formulierung zu einem Gebilde, mit dessen Hilfe eine Person einer anderen Person eine Maxime zuschreiben kann – sei es in der zutreffenden oder irrigen Meinung, diese hege die zugeschriebene Maxime, oder sei es mit der wie auch immer motivierten Absicht, sie in der Rolle eines Inhabers der zugeschriebenen Maxime erscheinen zu lassen. Für eine logische Operation wie die Generalisierung oder Universalisierung ist es zwar gleichgültig, ob die Bezugnahme auf einen Maximeninhaber die Grammatik der Ersten Person hat oder nicht. Aber der Authentizität, mit der eine Person die Maximen hat oder hegt, die sie hat bzw. hegt, ist nur die Expressivitätsgrammatik der Ersten Person angemessen. 23

21 22 23

Moral Mrongrovius II, Bd. 29/1.1, S. 621, Hervorhebung R. E. Ebd., Hervorhebung R. E. Zum Expressivitätsmoment vgl. Köhl, a. a. O., S. 50 f., 55 f.; zum Authentizitäts-

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Da die Textindizien und die begrifflichen Kohärenzerwägungen am meisten zugunsten der Interpretation sprechen, die Maximen mit subjektiven praktischen Regeln identifiziert, kann man dem sprachlichen Standardausdruck für Willensmaximen in seiner grobmaschigsten Gestalt die Form (1) Ich handle regelmäßig so-und-so 24 bzw., in einer differenzierteren Gestalt, die Form (2) Ich handle in Situationen vom Typ S so-und-so geben. Die Generalisierung bzw. Universalisierung einer solchen Maxime (2) mündet dann in ein Resultat der Form (3) Jede Person handelt in Situationen vom Typ S so-und-so. Es liegt sogleich auf der Hand, daß eine solche Verallgemeinerung schon aus elementaren formalen und prozeduralen Gründen noch nicht ausreicht, um eine Willensmaxime in die Gestalt zu transformieren, in der sie dem Test ihres moralischen Werts unmittelbar ausgesetzt werden kann. Denn dazu muß sie noch in ein (praktisches) Gesetz transformiert werden. Von einer Maxime unterscheidet sich ein solches Gesetz indessen außer durch seine Universalität auch noch durch seinen normativen, deontischen Modus – durch die Notwendigkeit, mit der es Personen eine Handlungsweise ansinnt, also durch seinen verpflichtenden Charakter. Das Resultat (3) der Verallgemeinerung der Maxime (2) muß also selbst noch nomologisiert werden in Form von (4) Jede Person muß (soll, ist verpflichtet) in Situationen vom Typ S so-und-so (zu) handeln, bevor die formale Testprozedur den Punkt erreicht hat, an dem eine materiale Prüfung einer Maxime überhaupt erst anfangen kann. Denn es ist ja nur allzu evident, daß die Transformation einer Willensmaxime (2) in ein praktisches Gesetz (4) alles andere als eine Prüfung von irgendetwas ist. Sie ist vielmehr eine ganz und gar ba-

moment vgl. vom Verf., »Personale Identifikation«, in: Subjektivität, hrsg. v. W. Hogrebe, München 1998, S. 167–204, bes. S. 184 ff. 24 Die umgangssprachliche Quasi-Variable »so oder so handeln« zum unbestimmten Ausdruck der Handlungscharaktere benutzt Kant gelegentlich selbst, vgl. z. B. GMS, Bd. 4, S. 441.

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nale und einfache formale Operation, die ebenso wenig wie ihr Resultat auch nur das geringste Licht auf den moralischen Wert der transformierten Maxime werfen kann. Weder die Verallgemeinerbarkeit noch die Nomologisierbarkeit einer Maxime ist ein Kriterium für deren sittliches Format. Die Nomologisierung einer Maxime bildet zwar ein unentbehrliches formales Vorspiel, aber noch keinen echten Teil ihrer materialen moralischen Prüfung. Doch bevor man sich auf die Suche nach den zusätzlichen von Kant ausgearbeiteten Voraussetzungen macht, die man benötigt, um aus diesem formalen Vorspiel in die eigentliche moralische, materiale Prüfung von Maximen einzutreten, kann man einen anderen methodischen Vorteil nutzen, den dies Vorspiel bietet. Denn die Nomologisierung einer Maxime läßt sich in einer anderen wichtigen Hinsicht nicht nur als formales Vorspiel eines weiterführenden Verfahrens erweisen. Vielmehr läßt sich mit Hilfe der Nomologisierung in einfacher und klarer Weise zeigen, daß sie den wohlbestimmten prozeduralen Kern einer von Kant beschriebenen praktischen Struktur bildet, die ohne Rücksicht auf diesen prozeduralen Kern nur allzu leicht im Zwielicht von vielversprechenden, aber schwer einlösbaren Vokabeln und Redewendungen verschwimmt – der Autonomie.

VI. Kant hat die Autonomie in vielen verschiedenen Wendungen charakterisiert. Wenn man alle diese Wendungen gleichsam übereinander kopiert, um zu ermitteln, inwiefern sie übereinstimmen, und wenn man unterstellt, daß ihre gemeinsamen Elemente auf die invarianten Komponenten der intendierten Struktur verweisen, dann erhält man eine recht einfache formale Beschreibung der zwei prozeduralen Schritte, die ein autonomes Maximensubjekt ausführt, wenn es seine Autonomie ausübt: 1. es gibt selbst (αὐτός, autos) ein Gesetz (νόμος, nomos); 25 2. es unterwirft sich, d. h. seine entsprechende Maxime bzw. Handlungsweise, diesem durch es selbst gegebenen Gesetz. 26 Man kann sich indessen leicht klar machen, daß die Nomologisierung (2)–(4) gar nichts anderes ist als das Verfahren der »Selbst-

25 26

Vgl. a. a. O., S. 431 f., 432 f., 434 f. Vgl. a. a. O., S. 435 f., 441 f., 444 f.

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gesetzgebung«. 27 Zu diesem Zweck braucht man lediglich zu berücksichtigen, daß diese Selbstgesetzgebung mit einer dreigliedrigen, aber elementaren Identitätskette verbunden ist: Sofern das Subjekt der Maxime (2) mit dem Subjekt identisch ist, das die Verallgemeinerungsoperation (2)– (3) vornimmt, und sofern dies Subjekt außerdem mit dem Subjekt identisch ist, das die Nomologisierung (3)–(4) vornimmt, gibt das Maximensubjekt das Gesetz (4) selbst. 28 Die Verbundenheit der Nomologisierung (2)–(4) mit dieser Identitätskette ist offenkundig überaus wichtig. Denn ohne diese Identität wäre sie ein Verfahren, durch das die Maxime (2) lediglich wie ein depersonalisiertes Spaltprodukt ihres authentischen praktischen Subjekts behandelt würde. Ohne diese Identität würde durch das Verfahren umgekehrt dies authentische Maximensubjekt wie ein Erfüllungsgehilfe behandelt, der seine Schuldigkeit getan hat, sobald er für ein von einer ethischen Theorie elaboriertes Verfahren das geeignete Anwendungsmaterial in Gestalt eines solchen depersonalisierten Spaltprodukts abgeliefert hat. Erst mit Hilfe des Autonomiegedankens, also mit Hilfe des Gedankens einer authentischen praktischen Gesetzgebung durch das Subjekt einer Maxime, gelingt es Kant daher, die Verbundenheit der Nomologisierung mit der Identitätskette so zu berücksichtigen, daß das Maximensubjekt mit dem Subjekt dieses ganzen Verfahrens identisch ist, also prozedurale Autonomie übt. Doch man muß einen zweiten Schritt der Prozedur berücksichtigen, die mit der praktischen Autonomie verflochten ist. Diesen zweiten Schritt kann man schon dann ins Auge fassen, wenn man lediglich die logische Grammatik der Rede vom Geben eines Gesetzes so ernst nimmt, wie sie es in diesem Zusammenhang verdient. Denn zum Geben eines Gesetzes gehört nicht nur ein Subjekt dieses Gehens, also ein Subjekt der Nomologisierung. Dazu gehört auch ein Subjekt, dem das entworfene Gesetz in dem Sinne gegeben wird, daß dies Subjekt – geradezu im ursprünglichen, lexikalischen Sinne des Wortes – diesem Gesetz unterworfen (subiectum) ist. Kant gibt daher sogar zu verstehen, daß es zur praktischen Autonomie gehört, Vgl. a. a. O., S. 431. Kant macht überaus häufig implizit, selten jedoch explizit, von dem analytischen Instrument Gebrauch, das erlaubt, verschiedene Attribute zu unterscheiden, z. B. die Zugehörigkeit eines Subjekts a zur sog. Verstandeswelt und die Zugehörigkeit eines Subjekts b zur sog. Sinnenwelt, aber diese beiden Attribute doch »einem und demselben Subjekt«, a. a. O., S. 459, Hervorhebung R. E., zuzuschreiben, so daß a mit b identisch ist; vgl. auch a. a. O., S. 456 f. 27 28

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daß das Subjekt der Maxime (2) nicht nur identisch ist mit einer von den Personen, die dem Gesetz (4) unterworfen sind. Er gibt durch die logische Grammatik des Reflexivpronomens »sich« zu verstehen, daß ein autonomes Subjekt einer Maxime außerdem eine Leistung vollbringen können muß, durch die es sich selbst mit einer von diesen Personen identifiziert. Diese authentische (selbst) und reflexive (sich) identifikatorische Leistung kann offensichtlich leicht durch einen weiteren Schritt auf der Linie der Prozedur (2)–(4) in Gestalt von (5) Ich muß (soll, bin verpflichtet) in Situationen vom Typ S so-undso (zu) handeln bzw. handeln (zu) wollen stilisiert werden: Hier ist das Erste Personalpronomen das lexikalische und grammatische Signal der Reflexivität und der Authentizität dieser identifikatorischen Verpflichtung bzw. Unterwerfung. 29 Der sprachliche Ausdruck (5) der authentischen und reflexiven Unterwerfung eines Subjekts einer Maxime (2) unter ein selbstgegebenes Gesetz (4) zeigt indessen auch, daß dieser Akt nur dann von praktischem Ernst getragen und mit einer praktischen Tragweite verbunden ist, wenn er nicht in einer identifikatorischen Selbstbespiegelung befangen bleibt, in der die Reflexivität und die Authentizität des identifikatorischen Aktes zu formalen Attributen einer autonomen Höchstleistung stilisiert werden. Vielmehr zeigt der sprachliche Ausdruck (5) dieses identifikatorischen Aktes, daß sein praktischer Ernst und seine praktische Tragweite zumindest auch davon abhängen, daß es eine Maxime bzw. eine Handlungsweise ist, was ein Subjekt einer Maxime (2) einem selbstentworfenen Gesetz (4) unterwirft, indem es durch einen authentischen und reflexiven Akt eine Identifikation mit einer von den Personen vollzieht, die diesem Gesetz und seinem verpflichtenden Modus direkt unterworfen sind. Will man indessen die praktische Relevanz der Autonomie vollständig analysieren, dann darf man auch bei dem identifikatorischen Akt (5) noch nicht stehenbleiben, durch den das Subjekt einer Maxime (2) eben diese Maxime bzw. seine Handlungsweise dem von ihm selbst entworfenen Gesetz unterwirft. Denn durch diesen Akt macht es sich, genau betrachtet, zunächst lediglich den formalen Akt zueigen, durch den seine Maxime bzw. seine Handlungsweise in den Einzugsbereich der praktischen Notwendigkeit, also der Verpflichtung gehört, die mit diesem Gesetz verbunden ist. Doch aus dem Umstand, daß das Subjekt 29

Vgl. vom Verf., »Personale Identifikation«, a. a. O., S. 185 ff.

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einer Maxime sich selbst mit einer Person identifiziert, die sich im Medium eines Gesetzes selbst verpflichtet, diese Maxime bzw. die ihr entsprechende Handlungsweise zu praktizieren, folgt weder, daß es sie tatsächlich praktiziert, noch folgt daraus, daß es sie deswegen tatsächlich praktiziert, weil es sich im Rahmen dieser Identifikation selbst dazu verpflichtet. Eben darum liegt es auch sogleich auf der Hand, daß der vollständige praktische Ernst und die vollständige praktische Tragweite der Autonomie erst dann zum Zuge kommen, wenn ein autonomes Maximensubjekt die Verhaltensweise tatsächlich an den Tag legt, die es zutreffend so charakterisieren kann: (6) Ich handle in der jetzigen Situation vom Typ S deswegen so-undso, weil (2)–(5). Erst mit der Schrittfolge (2)–(6) ist daher der formale Teil der Prozedur vollständig umrissen, in der sich die praktische Autonomie zeigt, mit der geborene Adressaten des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit begabt sind. 30 Mit dieser Schrittfolge ist die prozedurale Form der Autonomie zwar differenzierter ausgeleuchtet als man es in der Regel tut. Gleichwohl ist diese Schrittfolge noch ergänzungsbedürftig. In der Ergänzung verbirgt sich sogar ein nicht weniger wichtiger Teil. Denn durch ihre Autonomie sind autonome Subjekte in erster Linie dazu befähigt, »sich selbst und ihre Handlungen zu beurteilen«. 31 Doch die Frage ist, ob der Akt dieser Selbstbeurteilung auch seinerseits formalprozedurale Züge hat, so daß man wohlbestimmte methodische Schritte trennscharf voneinander unterscheiden kann, wie sie jedes autonome Subjekt absolvieren kann, sofern es das moralische Format seiner Handlungsweisen, seiner Maximen oder seiner selbst zu schätzen sucht. Jedenfalls kann sich ein solches Subjekt aus moralischer Einsicht nur dann im Sinne des Schrittes (5) verpflichtet finden, in Situationen vom Typ S so-und-so zu handeln, wenn es den Akt einer solchen Selbstverpflichtung durch eine entsprechende methodisch kontrollierbare Beurteilung rechtfertigen kann. Die einschlägigen Fallerörterungen Kants zeigen denn auch, daß die NomologisieDie Fähigkeit, Autonomie gemäß dieser prozeduralen Form zu üben, macht die Würde jedes Menschen aus und bildet insofern ein Teilattribut desjenigen komplexen Attributs namens Menschheit, das nach der Zweiten Formel des Kategorischen Imperativs von jeder Person und in jeder Person respektiert werden soll; vgl. hierzu vor allem GMS, IV, S. 435–36, 438–40 und KpV, V, S. 155–157. 31 GMS, S. 433, Hervorhebungen R. E. 30

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rung (4) einer Maxime (2) lediglich die wichtigste Präliminarie der eigentlichen, der moralischen Maximenprüfung ist. Falls diese eigentliche, moralische Maximenprüfung selbst in einem hinreichend strengen Sinne irgendwelche differenzierbaren verfahrenstechnischen Züge hat, darf man daher erwarten, daß ein autonomes Subjekt zwischen den Schritten (4) und (5) gleichsam eine prozedurale Schleife durchläuft. Durch die Schritte, die es auf dieser Schleife vollzieht, kann es das treffliche Urteil gewinnen, das ihm die Einsicht in den moralischen Wert der geprüften Maxime vermittelt. 32

VII. Sucht man am Leitfaden von Kants eigenen Erörterungen zu ermitteln, ob dieser zentrale Teil des von ihm entworfenen Beurteilungsverfahrens irgendwelche standardisierbaren Schritte enthält, dann sieht man sich zunächst auf das Feld einer speziellen moralischen Kasuistik verwiesen. Diese Kasuistik präsentiert sich, wenn man alle einschlägigen von Kant publizierten Texte in Rechnung stellt, 33 im Rahmen einer vergleichsweise kleinen Menge von Fallerörterungen. Und unter den von Kant analysierten Fällen spielen wiederum die Fälle von unwahrhaftigen Verhaltensweisen – Lügen, falsche Versprechen, Betrug und andere Formen täuschungsstrategischen Beschweigens – eine herausgehobene Rolle. Kants Interpreten ist diese Sonderrolle nicht weniger verborgen geblieben als seinen Kritikern. 34 Man hat überdies zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß ausschließlich in Fällen von Unwahrhaftigkeit eine formale Inkonsistenz zwischen der entsprechenden Maxime und den praktischen Konsequenzen ihrer gesetzesförmigen Gültigkeit am evidentesten einsichtig gemacht werden könne. 35 Vgl. hierzu unten S. 80 ff. Sie reichen also von der Grundlegung (1785) bis zu der Gelegenheitsschrift »Von einem vermeintlichen Recht, aus Menschenliebe zu lügen« (1798). 34 Vgl. Julius Ebbinghaus, »Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten« (1959), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 140–160: Ebbinghaus spricht in diesem Zusammenhang von einer »Art von Paradepferd Kants«, S. 155. 35 Vgl. Patzigs Einschätzung in einer revidierten Fassung seines Aufsatzes von 1967 (vgl. oben S. 563) in: ders., Gesammelte Schriften 1. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44–71, hier: S. 67 f. 32 33

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Dennoch bliebe diese Rechtfertigung der Sonderrolle unwahrhaftiger Verhaltensweisen auch dann unbefriedigend, wenn diese Inkonsistenz nach allen Regeln der Kunst evident gemacht werden könnte – sei es in Gestalt einer formalen, einer pragmatischen oder einer andersartigen Inkonsistenz. Denn in jedem Fall bliebe die Auszeichnung der unwahrhaftigen Verhaltensweisen bzw. der Unwahrhaftigkeitsmaximen durch deren Inkonsistenz in einer anwendungstechnischen Betrachtungsweise befangen: Bei den Unwahrhaftigkeitsmaximen läßt sich das Inkonsistenzkriterium mit den evidentesten Ergebnissen anwenden. Gewiß steht es einem auch frei zu argumentieren, daß eine Inkonsistenz eines vernünftigen Wesens unwürdig sei. 36 Doch genauso könnte man mit Blick auf die Inkonsistenz z. B. eines Axiomensystems einer Theorie der natürlichen Zahlen argumentieren. Aber man kann ein inkonsistentes Axiomensystem wegen seiner Inkonsistenz ebenso wenig für etwas Unsittliches halten wie man seinen Urheber bloß wegen einer solchen Inkonsistenz als solcher für unmoralisch halten könnte. Umgekehrt kann man Kants Texten auch keine Hinweise entnehmen, denenzufolge Unwahrhaftigkeitsmaximen allein schon deswegen unsittlich wären, weil sie in eine Inkonsistenz verstrickt sind. Allerdings kann man – bei einem Axiomensystem wie bei einer entsprechenden Maxime – eine Inkonsistenz als das gravierendste formale Indiz eines tieferliegenden, vorläufig noch verborgenen Defizits des von dieser Inkonsistenz befallenen Gebildes interpretieren. Doch worin genau kann die spezifische Qualität des moralischen Defizits bestehen, das dann durch die Inkonsistenz einer entsprechenden Maxime indiziert wird? 37 Noch aus einem anderen Grund bleibt es der Sache nach unbefriedigend, wenn man die Sonderrolle, die Unwahrhaftigkeitsmaximen in Kants moralischer Kasuistik spielen, unter dem anwendungstechnischen Aspekt zu erklären sucht, indem man die auffällige Evidenz der Inkonsistenz dieser Maximen hervorhebt. Denn unter diesem anwendungstechnischen Aspekt bleibt es der Sache nach unverständlich, wie Kant so weit gehen kann, die Unwahrhaftigkeit zum Inhalt einer fundamental-anthropologischen Einschätzung zu machen: »Die Lüge […] ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen

36 37

Vgl. Patzig, Begründbarkeit, a. a. O., S. 50. Vgl. hierzu unten S. 79–80.

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Natur […]«. 38 Die Inkommensurabilität zwischen dieser fundamental-anthropologischen Einschätzung und dem logisch-anwendungstechnischen Vorzug der Unwahrhaftigkeitsmaximen vor allen anderen Maximen wird sogar noch erheblicher, wenn man berücksichtigt, daß Kant noch einen Schritt weiter geht. Denn indem er zwei Bibelstellen zu der Wendung »vom Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist« 39 verknüpft, gibt er zu verstehen, daß die Lüge nicht nur selbst etwas Böses ist, sondern sogar auch – in einem noch zu erläuternden Sinn 40 – der Ursprung von allem anderen Bösen. Diese Inkommensurabilität verweist vorläufig auf eine argumentative Kluft, für deren Überbrückung Kant nur vorläufig keine zureichenden methodischen Mittel mehr entwickelt zu haben scheint. Will man Kants fundamental-anthropologische Einschätzung nicht vorschnell zu einem Symptom einer undurchschauten Befangenheit in neustamentarisch inspirierten Vorurteilen degradieren, dann bleibt noch ein anderer von ihm selbst eröffneter Weg offen. Man kann in seiner Einschätzung probeweise eine authentische, wenngleich in biblisch-neutestamentarischer Sprache formulierte Diagnose der praktisch-moralisch reflektierenden Urteilskraft sehen und fragen, inwieweit sich die drei fundamental-anthropologischen Produkte der reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft in sachlicher, in methodischer oder in systematischer Hinsicht bewähren lassen. Immerhin hat Kant seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Status und den Funktionen der Urteilskraft abschließend in mehreren informellen Arbeitsdefinitionen zusammengefaßt. Im Licht dieser Arbeitsdefinitionen läßt sich von Kants moral-anthropologischer Einschätzung (2.) ein ganz anderes Bild gewinnen als das eines Symptoms einer undurchschauten Befangenheit in biblisch-neutestamentarisch inspirierten Vorurteilen. 41 Durch ihre reflektierende Tätigkeit trachtet die Urteilskraft danach, Begriffe und andere Generalitäten, z. B. Kriterien, Aspekte und andere formale Be»Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie« (1796), Bd. 8, S. 411–422, hier: S. 422. 39 Ebd.; vgl. Joh. 18, 44 und Röm. 5, 12, Hervorhebung R. E. 40 Vgl. hierzu unten S. 74–76. 41 [Zur reflektierenden Urteilskraft sowie zur Abgrenzung gegen ihre bestimmende Funktion vgl. Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, S. 179 f., speziell zur praktisch reflektierenden Urteilskraft vgl. S. 456 f. – Fußnoten, die wie diese in eckige Klammern gesetzt sind, bilden hinfort durchweg Ergänzungen im Rahmen dieser Sammelpublikation.] 38

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dingungen ausfindig zu machen und ihrer bestimmenden Funktion zur Subsumtion von Einzelnem, z. B. von Maximen zur Verfügung zu stellen. Zu den Funden der moralisch reflektierenden praktischen Urteilskraft gehören außer dem Kriterium der Gesetzestauglichkeit von Maximen die drei entsprechenden Reflexionsurteile: 1. Menschen besitzen die technische Fähigkeit, Gedanken zu beschweigen; 2. das Beschweigen von Gedanken durch Äußerungen, die das Gegenteil von dem mitteilen, von dessen Wahrheit man stillschweigend überzeugt ist, bildet das moralische Grundübel der menschlichen Natur; 2.1. dieselbe Handlungsweise bildet darüber hinaus den Grund für alle anderen praktischen Übel. Offensichtlich bilden die zweite und die dritte, biblisch stilisierte Diagnose der reflektierenden Urteilskraft bereits Resultate von Reflexionen auf den Grad der moralischen Bedeutsamkeit bzw. Tragweite der Lüge für die Praxis. Die erste der quasi-definitorischen Umschreibungen der Urteilskraft besagt, daß sie »[…] ein besonderes Talent [… ist]: eine Naturgabe, vorläufig zu urteilen, wo die Wahrheit wohl möchte zu finden sein«. 42 Danach ist Kants moralanthropologische Diagnose (2.) das Ergebnis eines Versuchs, vorläufig zu urteilen, wo die Wahrheit über den ›eigentlichen faulen Fleck in der menschlichen Natur‹ zu finden sein mag. Nach dem zweiten arbeitsdefinitorischen Schritt ist die Urteilskraft das »Talent der Auswahl des in einem gewissen Fall gerade Zutreffenden«. 43 Entsprechend ist Kants Diagnose ein Ergebnis des Versuchs, im Fall der Menschengattung diejenige Verhaltensweise von Menschen auszuwählen, bei der es zutreffend ist zu sagen, daß sie ›der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur‹ ist. Und schließlich sagt Kant von der Urteilskraft, daß, wer mit diesem Talent begabt ist, »weiß […] den springenden Punkt zu treffen (denn er ist nur ein einziger), worauf es ankommt«. 44 Insofern ist Kants Diagnose das Ergebnis eines Versuchs, den springenden Punkt zu treffen, auf den es ankommt, wenn es eine einzige Verhaltensweise gibt, auf die es zutrifft, daß sie den ›eigentlichen faulen Fleck in der menschlichen Natur‹ ausmacht. Kants zitierte moralanthropologische Einschätzung der Lüge erfüllt offensichtlich alle formalen Anforderungen, durch die er die Funktionen der Urteilskraft hier charakterisiert. Irritierend ist ledig42 43 44

Anthropologie in pragmatischer Absicht, Bd. 7, S. 223. A. a. O., S. 228. Ebd.

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lich das Moment der Vorläufigkeit, durch das die Produkte der reflektierenden Urteilskraft ausgezeichnet sind. 45 Doch gerade mit diesem Moment hat es im Rahmen der systematischen Ethik eine besondere Bewandtnis. Denn gerade durch dies Moment der Vorläufigkeit wird diese Einschätzung zu einem Kandidaten für eine Bewährungsprobe. Doch welche Tragweite fällt dieser Einschätzung zu, wenn sie eine echte moralanthropologische Diagnose der reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft ist, die nur darauf wartet, daß sie wegen ihrer Vorläufigkeit im Rahmen von Kants systematischer Ethik auf die Probe gestellt wird?

VIII. Unter diesen Umständen ist es im höchsten Maße aufschlußreich zu sehen, wie Kant selbst die wichtigsten Etappen des Weges vorgeführt hat, auf dem sich die praktische Urteilskraft in einer methodisch kontrollierbaren Weise helfen lassen kann, zu gattungsspezifischen, anthropologischen Diagnosen der Maximen bzw. Handlungsweisen zu gelangen, auf die es für die Praxis der Menschen aus moralischen Gründen in einer ausgezeichneten Weise ankommt. Denn Kant nutzt hier die methodischen Möglichkeiten, die durch Gedankenexperimente eröffnet werden. In ihrem Rahmen kann man mit kontrafaktischen Hypothesen arbeiten. Durch ein entsprechendes Gedankenexperiment zeigt sich, daß sich die Tragweite, die unwahrhaftige Verhaltensweisen für die Praxis der Menschen mit sich bringen, im Licht einer kontrafaktischen Hypothese abschätzen läßt. Im Rahmen dieser Hypothese wird eine Gattung von Lebewesen thematisiert, die sich von der Menschengattung dadurch unterscheidet, daß ihre Mitglieder die Technik des Lügens aus genetischen Gründen nicht praktizieren können. Kant unterstellt hier probehalber, »[…] daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. im Wachen wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegen einander abgeben?« 46 Das würde vor allem deswegen ein ganz anderes 45 46

Vgl. oben S. 7241. A. a. O., S. 332.

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Verhalten gegeneinander abgeben, weil solche Wesen die Technik des Lügens nicht praktizieren könnten. Und zwar könnten sie diese Technik offensichtlich deswegen nicht praktizieren, weil sie aus genetischen Gründen nicht im Stillen das Gegenteil eines Gedankens für wahr halten könnten, den sie laut – und insofern öffentlich – für einen von ihnen für wahr gehaltenen Gedanken ausgeben. Diese Hypothese über eine nicht-menschliche genetische Konstitution für die öffentliche Artikulation von Gedanken wird von Kant nach seinem eigenen Bekunden deswegen erprobt, weil sie eine Möglichkeit eröffnet, ein Gegenmodell zu einem humangenetisch verankerten Verhaltensmuster zu entwerfen. Im Rahmen dieses Gegenmodells kann man planmäßig alle die Verhaltensweisen zu ermitteln suchen, die von Akteuren dann nicht praktiziert werden können, wenn sie aus genetischen Gründen die Technik des Lügens nicht praktizieren können. Zu diesen impraktikablen Verhaltensweisen gehören dann aber nicht nur falsche Versprechungen und alle anderen Formen von täuschenden kommunikativen Akten. Dazu gehören offensichtlich auch alle nichtkommunikativen Handlungsweisen, zu deren Erfolgsbedingungen das Lügen oder andere täuschungsstrategische Techniken des Beschweigens von Gedanken gehören, die von den Urhebern dieser Handlungsweisen für wahr gehalten werden. Beispielsweise das Stehlen gehört unter solchen Voraussetzungen zu den impraktikablen Handlungsweisen. Denn eine der charakteristischen Erfolgsbedingungen des Stehlens – die täuschungsstrategische Verbergung seines Zieles durch dessen Beschweigen – kann unter solchen genetischen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Das para-anthropologische Modell einer Gattung von Lebewesen, die aus genetischen Gründen weder die Technik des Lügens noch die des Betrügens noch eine andere Technik täuschungsstrategischen Schweigens praktizieren können, eröffnet daher in erster Linie eine methodische Möglichkeit: Man kann die unwahrhaftigen Verhaltensweisen, die die Menschen aus genetischen Gründen nun einmal praktizieren können, einer ganz und gar amoralischen, rein technizistischen und funktionalistischen Betrachtungsweise zugänglich machen. In dieser Betrachtungsweise zeigen sich die unwahrhaftigen Verhaltensweisen in der Rolle von Erfolgsbedingungen aller anderen Verhaltensweisen, die wie z. B. das Stehlen im strategischen Schutz ihrer unwahrhaftigen Verhaltensweisen praktiziert werden. Darüber hinaus zeigt sich durch eine solche Betrachtungsweise aber auch, daß jede beliebige Verhaltensweise, die ein Mensch an den Tag legt, von 75 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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ihrem Urheber im strategischen Schutz einer unwahrhaftigen Verhaltensweise praktiziert werden kann. Und schließlich zeigt sich, daß in der Hauptsache nur noch eine einzige Frage offen bleibt, wenn man in diesem technizistischen und funktionalistischen Sinne erst einmal geklärt hat, daß unwahrhaftige Verhaltensweisen als Erfolgsbedingungen beliebiger anderer Verhaltensweisen fungieren – die Frage nämlich nach den Erfolgsbedingungen der unwahrhaftigen Verhaltensweisen selbst. Doch mit der Antwort auf diese Frage eröffnet sich unmittelbar auch eine Möglichkeit, den Aspekt zu erfassen, unter dem die unwahrhaftigen Verhaltensweisen nicht nur selbst eine moralische Valenz haben können, sondern auch den Ursprung von allen anderen moralischen Valenzen abgeben können. Denn mit einer unwahrhaftigen Verhaltensweise kann jemand A nur dann Erfolg haben, wenn es mindestens einen Interaktionspartner B gibt, der irrigerweise meint, daß A sich wahrhaftig verhalte – also wenn z. B. ein Adressat eines Lügners irrigerweise meint, daß der Lügner wahrhaftig rede, oder wenn z. B. ein Adressat eines täuschungsstrategischen Schweigens irrigerweise meint, daß der Kommunikationspartner sein Schweigen über bestimmte Sachverhalte nicht mit dem Ziel einsetze, seinen Adressaten im Blick auf diese Sachverhalte in einen Irrtum zu verstricken.

IX. Damit steht die charakteristische Erfolgsbedingung aller unwahrhaftigen Verhaltensweisen fest: Jemand kann sich in unwahrhaftiger Weise nur dann erfolgreich verhalten, wenn es jemand anders gibt, der irrigerweise meint, daß er sich wahrhaftig verhalte. Hat man sich diese Erfolgsbedingung erst einmal klar genug in Erinnerung gerufen, dann kann es auch unschwer klar werden, von welchen beiden Bedingungen aus dem Komplex der conditio humana es abhängt, daß die Alternative wahrhaftig-unwahrhaftig überhaupt eine moralische Valenz hat: 1. Menschen sind »Wesen, die auf sachgerechte Informationen hinsichtlich der Wirklichkeit, in der sie existieren, angewiesen sind«; 47 2. jeder Mensch kann wichtige Teile solcher Informationen in Günther Patzig, »Wertrelativismus und ärztliche Ethik« (11988), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik, Göttingen 1993, S. 54–72, hier: S. 57, Hervorhebung R. E.

47

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der Regel nur auf dem Weg der Mitteilung durch seinesgleichen gewinnen. Aus beiden Bedingungen zusammen folgt offensichtlich, daß alle Menschen es von Hause aus nötig haben, regelmäßig ein objektiv gerechtfertigtes wechselseitiges Minimalvertrauen in die Wahrhaftigkeit ihrer Verhaltensweisen, speziell ihrer Mitteilungen, hegen zu können. Wenn nun ein Mensch durch seine Handlungsweise darauf Rücksicht nimmt, daß alle Menschen es aus praktischen Gründen nötig haben, daß jeder von ihnen so handelt wie er selbst, dann pflegen wir zu sagen, daß er Solidarität übt. Eine solche Solidarität ist offenbar eine gattungsspezifische, spezifisch humane Gestalt von Moral. Unter den hier erörterten Voraussetzungen bildet ersichtlich die Wahrhaftigkeitssolidarität den Kern der spezifisch humanen Gestalt von Moral. Moralisch handelt unter diesen Voraussetzungen jeder Mensch jedesmal und nur dann, wenn er diese gemeinsame Angewiesenheit aller Menschen auf wahrhaftige Interaktionen nach Kräften respektiert, unmoralisch hingegen, wenn er sie nicht nach Kräften respektiert. Daher wird, gleichsam im Gegenlicht von Kants para-anthropologischem Modell ein komplettes spezifisch anthropologisches Kohärenzmuster von moralisch differenzierbaren Verhaltensweisen sichtbar: 1. moralisch tadelhaft sind alle die Verhaltensweisen, 1.1. die selbst unwahrhaftig sind – wie gleichsam in Reinkultur das Lügen – bzw. 1.2. deren Erfolge zur notwendigen Bedingung haben, daß ihre Subjekte ihre Interaktionspartner in unwahrhaftiger Weise über Ziele oder Techniken ihrer Verhaltensweisen informieren; 2. moralisch untadelhaft sind alle Verhaltensweisen, 2.1. die nicht unwahrhaftig sind, 2.2. die nicht die Bedingung 1.2. erfüllen bzw. 2.3. deren Erfolge sogar zur notwendigen Bedingung haben, daß ihre Subjekte ihre Interaktionspartner deswegen in wahrhaftiger Weise über Ziele oder Techniken ihrer Verhaltensweisen informieren, weil sie auf die Hilfe dieser Interaktionspartner angewiesen sind. Wenn man angesichts dieser Zusammenhänge die von Kant biblisch stilisierte Diagnose der unmoralischen Schlüsselrolle der Lüge (vgl. oben S. 71–72) gebührend beachtet, dann ist es nur konsequent, daß Kant selbst daran gearbeitet hat, ein solches Kohärenzmuster zu entwerfen. Jedenfalls hat er unter dem funktionalistischen Aspekt der Erfolgsbedingung zwei Klassen von Maximen bzw. Handlungsweisen unterschieden, die genau mit den beiden Klassen 2.3. und 1.2. zusammenfallen: einerseits »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um

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ihren Zweck nicht zu verfehlen)«, 48 andererseits »Alle […] Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt [wenn sie ihren Zweck erreichen soll, R. E.]«. 49 Die drei Klassen 1.1. und 2.1–2. werden hier offenkundig als evidente Ergänzungen dieser expliziten Unterscheidung mit Stillschweigen übergangen. Was aber mit Blick auf eine methodische Kontrolle der Arbeit an einer Ethik mit solchen Ergebnissen noch mehr ins Gewicht fällt als die Ergebnisse selbst, ist der Umstand, daß Kant sich über die Aspekte, die eine entsprechende methodische Kontrolle leiten können, völlig im klaren war: »Diese Fähigkeit der Publizität […] kann […], da es sich ganz leicht beurteilen läßt, ob sie in einem vorkommenden Fall stattfinde, d. i. ob sie sich mit den Grundsätzen [d. h. Maximen, R. E.] des Handelnden vereinigen lasse oder nicht, ein leicht zu brauchendes […] Kriterium abgeben, […] gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft […] sofort zu erkennen«, 50 ob Publizitätsverträglichkeit bzw. -angewiesenheit vorliegt oder nicht. Kant hat den Aspekt der Publizität aber nicht nicht nur für die Formulierung eines formalen Kriteriums der Publizitätstauglichkeit von Maximen bzw. Handlungsweisen fruchtbar gemacht und sogar ein Verfahren zur Prüfung dieser Tauglichkeit ins Auge gefaßt. Er hat den Überlegungen, mit deren Hilfe man diesen spezifisch anthropologischen Fragenkreis der Ethik durchlaufen kann, ihre letzte Pointierung durch den Gedanken gegeben, daß man mit der Frage nach den Maximen bzw. Handlungs- oder Verhaltensweisen, über die man (öffentlich) nur in wahrhaftiger oder aber unwahrhaftiger Weise informieren soll, sogar dem Einheitsprinzip der Moral (unter Menschen) auf der Spur ist: »Moralitaet aus dem principio der Einheit. aus dem princip der warheit. Daß man sein principium, was man öffentlich bekennen darf, befolgt, was also vor jedermann gilt«. 51 Unbeschadet der offenkundigen Vorläufigkeit und Privatheit dieser Formulierung ist ihr Inhalt doch klar genug, um den verbreiteten Konsens über das Kernstück von Kants Ethik in eine nicht geringe Verlegenheit zu bringen. Denn in Verbindung mit den publizierten Thesen zu den diversen kommunikativen Wahrhaftigkeitsbzw. Unwahrhaftigkeitsmodi (vgl. oben S. 70–76) legt diese Reflexion 48 49 50 51

Zum ewigen Frieden, Bd. 8, S. 386, Hervorhebung der Erfolgsorientierung R. E. A. a. O., S. 381. Ebd., Hervorhebungen R. E. Reflexion 7204, Bd. 19, S. 284.

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ein prozedurales Einheitskriterium für eine spezifisch anthropologische Moral fest. Bei diesem Kriterium scheint es sich sogar um eine echte, konkurrierende Alternative zum Kategorischen Imperativ der Gesetzestauglichkeit zu handeln. Eine zusätzliche Irritierung des Konsenses über das Kernstück von Kants Ethik kommt hinzu, wenn man beachtet, daß auch dies Kriterium in einem Kategorischen Imperativ eine angemessene Form findet: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich mit ihrer Publizität verträglich ist! Diese Zusammenhänge laden ja nur allzu offenkundig zu der skeptischen Frage ein, ob sich eine Ethik Kategorischer Imperative nicht eine, wie es scheint, gleichsam leerlaufende Windung ihrer Reflexionsspirale schenken kann, wenn sie das formale Kriterium der Publizitätsverträglichkeit dem Kriterium der Gesetzestauglichkeit zumindest vorzieht. Denn das Kriterium der Publizitätsverträglichkeit gibt Wesen wie den Menschen, die aus genetischen und aus praktischen Gründen auf Wahrhaftigkeitssolidarität angewiesen sind, unmittelbar eine Methode an die Hand, die vertrauenswürdigen Maximen und Handlungsweisen sowie deren Gegenteil durch den entsprechenden Verträglichkeitstest zu ermitteln. Wie kann man daher plausibel machen, daß der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit, nicht nur nicht überflüssig, sondern sogar unentbehrlich ist?

X. Angesichts der Fragen, Zweifel und Irritationen, die durch Kants offenkundiges Bemühen um ein spezifisch anthropologisches Moralkriterium jenseits des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit ausgelöst werden können, zahlt es sich aus, daß man den prozeduralen Kern der Autonomie klären kann, für die der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit den Blick öffnet. Denn die Schritte (2)–(4) 52 und (5)–(6) 53 demonstrieren nicht mehr und nicht weniger als das, was im Licht des Publizitätskriteriums gerade nicht geleistet werden kann – die authentische Umformung einer Maxime M in ein praktisches Gesetz durch das Subjekt dieser Maxime und die ebenso authentische Anwendung dieses Gesetzes durch dieses Subjekt auf den Maximen-

52 53

Vgl. oben S. 65 f. Vgl. oben S. 68–69.

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haushalt und das praktische Verhalten eines und desselben Subjekts, nämlich des Subjekts der Maxime M, also auf den Maximenhaushalt und auf das praktische Verhalten seiner selbst. Es ist offenkundig diese prozedurale Autonomie, was nicht ein Teil von dem ist, was den Menschen in gattungsspezifischer Weise durch den Kategorischen Imperativ angesonnen wird, der die Publizitätsverträglichkeit zum Kriterium der Moralität stempelt. Hinzu kommt, daß jede Unwahrhaftigkeitsmaxime, nicht nur die Lügenmaxime, ebenso wie die Wahrhaftigkeitsmaxime zu den geborenen Kandidaten gehört, die der Prüfung mit Hilfe des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit unterzogen werden können. Insofern gerät umgekehrt das Kriterium der Publizitätsverträglichkeit in den Verdacht, überflüssig zu sein. Dennoch wird dies Kriterium weder durch diesen anwendungstechnischen noch durch den autonomierelevanten Vorzug des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit entbehrlich. Es bewahrt vielmehr einen durch nichts wettzumachenden Vorzug eigener Art durch den Umstand, daß es unmittelbar mit einem manifesten anthropologischmoralischen Gehalt verbunden ist: Die publizitätsverträglichen Maximen sind die Maximen jener Vertrauenswürdigkeit, die die Menschen in gattungsspezifischer Weise nötig haben, die anderen Maximen gehören zum Gegenteil. Doch diese Verbindung mit einem moralischen Gehalt ist auf eine Einschätzung der reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft zurückzuführen. Sie diagnostiziert das Lügen nicht nur als ein moralisches Übel, sondern auch als den Ursprung aller anderen moralischen Übel. Doch diese Diagnose entspringt weder einem unkontrollierbaren intuitiven Akt noch einem unkontrollierten Vorurteil. Sie ist vielmehr das Resultat einer Relevanzerwägung, in deren Mittelpunkt drei anthropologische facta bruta stehen: 1. Menschen sind genetisch so konstituiert, daß sie Gedanken bzw. Informationen, die sie für wahr halten, in täuschungsstrategischen Formen beschweigen können; 2. jeder Mensch ist mit Blick auf die Wirklichkeit, inmitten derer er lebt, auf sachgerechte Informationen angewiesen, sofern er mit Erfolg zu handeln sucht, und sei es auch nur, daß er danach trachtet zu überleben; 3. jeder Mensch kann einen erheblichen Teil solcher erfolgsrelevanten Informationen nur aus Mitteilungen durch seinesgleichen erlangen. Daraus folgt offenkundig, daß jeder Mensch es aus gattungsspezifischen Gründen nötig hat, daß ihm erfolgsrelevante Informationen durch seinesgleichen nicht in täuschungsstrategischen Formen mitgeteilt oder vorenthalten werden. Jeder Mensch hat es also nötig, daß seine 80 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Interaktionspartner vertrauenswürdige Maximen hegen, also Wahrhaftigkeitsmaximen in dem weiten Sinne von 2.1.–2.3. 54 Das Kriterium der Publizitätsverträglichkeit bezieht daher einen moralischen Gehalt aus dem Umstand, daß es – in der Form eines Kategorischen Imperativs – seinen geborenen Adressaten zur Pflicht macht, was sie aus gattungsspezifischen Gründen nötig haben, nämlich vertrauenswürdige Maximen zu hegen. Kant selbst stellt klar, was auch der Sache nach plausibel ist, daß nämlich die Publizitätsverträglichkeit vertrauenswürdiger Maximen bzw. die Vertrauenswürdigkeit publizitätsverträglicher Maximen eine notwendige Bedingung des Erfolgs des Handelns von Menschen unter Menschen ist. Da diese Erfolgsbedingung in Gestalt der universellen wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit einen manifest moralischen Charakter hat, liegt es auf der Hand, daß Kants moralanthropologische Einschätzung der Lüge lediglich eines von mehreren Resultaten ist, die die reflektierende praktische Urteilskraft gewinnen kann, wenn sie die Frage zu beantworten sucht, worauf es für die Praxis der Menschen in moralischer Hinsicht ankommt. Ihre Einschätzung der Lüge und der anderen unwahrhaftigen Verhaltensweisen ist lediglich das komplementäre Gegenstück zu ihrer Diagnose, wonach die gesetzestauglichen Wahrhaftigkeitsmaximen die aus moralischen Gründen notwendigen Erfolgsbedingungen der menschlichen Praxis bilden. Dieser moralische Gehalt des Kriteriums der Publizitätsverträglichkeit wird auch nicht utilitaristisch gleichsam kontaminiert dadurch, daß dies Kriterium die Erfolgsorientierung von Maximen berücksichtigt. Denn der Kategorische Imperativ, der die Publizitätsverträglichkeit von Maximen normiert, wird durch diesen Vorgriff auf einen Erfolg oder eine Erfolgsbilanz nicht etwa begründet. Es wird vielmehr die Normierung aller möglichen von Menschen gehegten Maximen durch die Einschränkung auf ihre Publizitätsverträglichkeit umgekehrt mit der gattungsspezifischen Angewiesenheit aller Menschen auf wechselseitige Vertrauenswürdigkeit begründet. Man ermittelt in diesem Zusammenhang also nicht etwa erfolgsbasierte Normen. Man basiert vielmehr eine Normierung erfolgsorientierter Maximen auf das moralische Argument des gattungsspezifischen Vertrauenswürdigkeitsbedarfs der Menschen. 55 Umgekehrt bildet die Erfolgsorientierung einer Maxime diejenige Komponente ihrer 54 55

Vgl. oben S. 74–76. Zu dem für die Begründungsformen ethischer Theorien wichtigen Unterschied

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Struktur, deretwegen eine Maxime stets auch zum Gegenstand von Nützlichkeitserwägungen gemacht werden kann: Der Erfolg, an dem eine Maxime orientiert ist, ist mehr oder weniger nützlich; die Bedingungen des Erfolgs, an dem sie orientiert ist, haben eine entweder positive oder negative oder neutrale moralische Valenz. Jede Maxime hat daher sowohl irgendeine komparative utilitäre Valenz wie auch irgendeine nicht-komparative, absolute moralische Valenz. Ihre utilitäre Valenz hängt vom Nützlichkeitsgrad des Erfolges ab, an dem sie orientiert ist; ihre moralische Valenz hängt davon ab, ob durch die Bedingungen des Erfolgs, an dem sie orientiert ist, der universelle wechselseitige Vertrauensbedürftigkeitsbedarf unter Menschen entweder gehegt oder wenigstens respektiert oder aber verletzt wird. Doch damit verschiebt sich das Problem, das auf den ersten Blick durch den Anschein einer Konkurrenz zwischen dem Kriterium der Gesetzestauglichkeit und dem Kriterium der Publizitätsverträglichkeit auftaucht. Denn da die beiden Kriterien in Wahrheit nicht konkurrieren, sondern einander ergänzen, kommt es darauf an, die Mikrostruktur der Verflechtung zu klären, in der diese Ergänzung ihre konkrete Gestalt annimmt. Jedenfalls wird die Lügenmaxime durch die moralische Basierung des Kriteriums der Publizitätsverträglichkeit als das Schlüsselmuster einer unmoralischen Maxime ausgezeichnet. Erst damit und im Licht eines gänzlich autarken, spezifisch anthropologischen Moralkriteriums sowie ganz unabhängig von einem bloß anwendungstechnisch-logischen Vorzug zeigt sich in einer sachlich und methodisch kontrollierbaren Weise, aus welchen gattungsspezifischen, spezifisch anthropologischen Moralitätsgründen sie auch das Schlüsselmuster aller Maximen ist, die einer Beleuchtung mit Hilfe des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit fähig und bedürftig sind. Unter den hier aufgezeigten Voraussetzungen wirft diese Beleuchtung daher auch ein ganz anderes, ein alles andere als bloß anwendungstechnisch-logisches Licht auf diese und alle anderen Unwahrhaftigkeitsmaximen sowie auf die Wahrhaftigkeitsmaxime selbst. Denn alle diese Maximen können nun einmal auch im Licht des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit den gattungsspezifischen Horizont der reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft nicht verlassen: Auch die Prüfung der Gesetzestauglichkeit einer Maxime gerät in den Horizont der von ihr ermittelten Faktoren zwischen erfolgsbasierten und erfolgsorientierten Normen vgl. Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prinzip der Ethik?, Heidelberg 1999, bes. S. 51 ff.

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der conditio humana. Diese Prüfung macht dadurch selbst einen Gestaltwandel von beträchtlicher Tragweite durch. Denn sie bildet zwar den prozeduralen Kern der praktischen Autonomie. Diese Autonomie ist ein unmittelbares Attribut jedes praktischen Subjekts, das seine Maximen auf dem durch die Schritte (2)–(6) 56 markierten Weg prüfen kann. Diese Autonomie ist primär eine Beurteilungs-Autonomie. Doch eben dieser Beurteilungs-Autonomie steht nicht nur das Kriterium der Gesetzestauglichkeit, sondern auch das der Publizitätsverträglichkeit von Maximen zur Verfügung. Damit zeichnet sich nicht nur auf den Reflexionsstufen der ethischen Theorie eine Ergänzung zwischen zwei verschiedenartigen Kriterien und eine Verflechtung zwischen zwei entsprechenden Prüfungsmethoden ab. Im Licht dieser Theorie zeichnet sich damit vor allem auch eine Personalunion auf der Stufe der konkreten Subjekte ab, die Maximen im technischen Schutz eines täuschungs-strategischen Beschweigens zu praktizieren vermögen: Jedes von ihnen vereinigt die reflektierende praktisch-moralische Urteilskraft mit der Autonomie – seiner reflektierenden Urteilskraft verdankt es angesichts der conditio humana die sittliche Einsicht in den gattungsspezifischen Vertrauenswürdigkeitsbedarf seiner Maximen; seiner Autonomie verdankt es ganz unabhängig von allen gattungsspezifischen Praxisbedingungen die Prozedur, die zur formalen Einsicht in die Gesetzestauglichkeit bzw. -untauglichkeit seiner Maximen führt. Diese Personalunion sorgt dafür, daß die praktische Urteils-Autonomie eines Menschen durch seine reflektierende praktisch-moralische Urteilskraft ihre gattungsspezifisch humane Orientierung gewinnt; umgekehrt sorgt diese Personalunion dafür, daß seine reflektierende praktisch-moralische Urteilskraft durch seine Beurteilungs-Autonomie ihre prozedurale Orientierung erfährt. Wegen dieser Personalunion kann ein solches »Subjekt seiner Vernunft […] die Bestimmung seiner Urteilskraft zuschreiben«. 57 Doch wie zeigt sich dieser »Rationalismus der Urteilskraft« 58 – wie also verfährt ein praktisches Subjekt, wenn es seine praktische Urteilskraft autonom verfahren läßt, und wie verfährt ein solches Subjekt, wenn es seiner Autonomie mit Hilfe seiner reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft zu einer gattungsspezifisch humanen Orientierung verhilft? 56 57 58

Vgl. oben S. 65 f., bzw. 68–69. Grundlegung, Bd. 4, S. 448. KpV, Bd. 5, S. 125.

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XI. Durch diese Fragen werden die Schritte eingeleitet, mit denen man gleichsam die prozedurale Schleife durchlaufen kann, die von der Nomologisierung einer Maxime 59 zu der sittlichen Einsicht führt, daß sie nicht nur gesetzestauglich, sondern auch vertrauenswürdig und publizitätsverträglich bzw. nichts davon ist. Wenn man der Lügenmaxime (2’) Ich lüge in Situationen vom Typ S zunächst im Rahmen des Publizitätsverträglichkeits-Tests ihre Vertrauensunwürdigkeit attestiert hat (vgl. oben S. 80–82), dann transformiert ihr autonomes Subjekt sie sodann in zwei formal simplen Schritten so, daß es sie zunächst universalisiert (3’) Jede Person lügt in Situationen vom Typ S und dann nomologisiert (4’) Jede Person muß (soll, ist verpflichtet) in Situationen vom Typ S (zu) lügen. Erst nach diesem Schritt stellt ein autonomes Subjekt der Lügenmaxime die weiterführende Kontrollfrage: »Würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime […] als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle?«. 60 Durch eine Prüfung dieser Frage »werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne«. 61 Denn zu den praktischen Konsequenzen eines (gültigen und von allen befolgten) Lügengesetzes gehört es, daß es »nach einem solchen […] eigentlich gar [keine Lüge, R. E.] 62 geben würde«. 63 Und der wichtigste Aspekt, unter dem man die Einsicht in diese praktische Konsequenz gewinnen kann, kommt in dem Argument zum Zuge, daß es unter einem solchen Gesetz »vergeblich wäre, […] anderen [etwas in lügenhafter Weise, R. E.] vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben

Vgl. oben S. 65–66. Grundlegung, Bd. 4, S. 403. 61 Ebd. 62 Ich entflechte hier die von Kant offensichtlich miteinander verknüpften Fälle eines falschen Versprechens und einer Lüge. 63 Ebd. 59 60

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[…] würden«. 64 Mit dieser Vergeblichkeitsklausel ist unmißverständlich klargestellt, daß es unter den praktischen Konsequenzen eines Lügengesetzes am meisten auf diejenige ankommt, die darin besteht, daß die charakteristische Erfolgsbedingung des Lügens (4.1) Es gibt jemand y, der darauf vertraut, daß irgendjemand anders x wahrhaftig ist, indem x an die Adresse von y mitteilt, daß-p, nicht erfüllt ist: (4.2) Es gibt niemand y, der darauf vertraut, daß irgendjemand anders x wahrhaftig ist, indem x an die Adresse von y mitteilt, daß-p. Konkretisiert man diese beiden Fälle so weit, wie es die Lügenmaxime (2’) erlaubt und nötig macht, dann hat der konkrete Fall, in dem ihre charakteristische Erfolgsbedingung erfüllt ist, die Form (4.1’) Es gibt jemand y, der darauf vertraut, daß ich wahrhaftig bin, indem ich an die Adresse von y mitteile, daß-p; denn ihr Gegenteil hat in diesem konkreten Fall offensichtlich die Form (4.2’) Es gibt niemand y, der darauf vertraut, daß ich wahrhaftig bin, indem ich an die Adresse von y mitteile, daß-p. Eine solche Form der Prüfung der Lügenmaxime hat Kant offensichtlich im Auge, wenn er seine Testerörterung der Lügenmaxime mit der Diagnose abschließt, daß »mithin meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, sich selbst zerstören müsse«. 65 Denn diese Selbstzerstörung ergibt sich offenbar daraus, daß ihre charakteristische Erfolgsbedingung unter diesen Umständen gleichsam ausgehöhlt wird. 66 Während also ein Subjekt, das die Lügenmaxime hegt, unterstellt, daß deren charakteristische Erfolgsbedingung erfüllt ist, kann es im Licht des Kriteriums der Gesetzestauglichkeit einsehen, daß die Ebd., Hervorhebung R. E. Ebd. 66 Diese an den Erfolgsbedingungen von Maximen orientierte Formalstruktur hat Richard M. Hare, Freiheit und Vernunft (engl. 11963), Düsseldorf 1973, übersehen, wenn er den forensischen Typ des Gleichbehandlungs-Arguments als den – auch nach Kant – zentralen moralischen Argumentationstyp auszeichnet, vgl. bes. S. 144–45, 15820; vgl. hierzu auch unten S. 8668. 64 65

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gesetzesförmige Gültigkeit und Befolgung dieser Maxime den Umstand zur praktischen Konsequenz hat, daß diese Erfolgsbedingung nicht erfüllt ist. Damit ist ein formaler Widerspruch zwischen einer charakteristischen Erfolgsbedingung der Lügenmaxime und einer praktischen Konsequenz aus ihrer gesetzesförmigen Gültigkeit und Befolgung sichtbar gemacht. Doch man muß bei dieser formalen Bilanz nicht stehenbleiben. Man kann diese Bilanz sogar mit Kant selbst noch weiter differenzieren, indem man an die zur Struktur einer Maxime gehörende Erfolgsorientierung anknüpft. Denn es ist diese Erfolgsorientierung, welche den Zugang zum Feld der Fallerörterungen eröffnet. Kant hat sogleich selbst die erste kasuistische Erwägung ins Spiel gebracht. Er faßt den Fall ins Auge, daß die Adressaten einer Lüge die Täuschungsstrategie von deren Urheber durchschauen und dessen Erfolgsintention durchkreuzen, indem sie sich revanchieren und »mit gleicher Münze bezahlen«. 67 Dieser Fall ist auch deswegen aufschlußreich, weil er den Blick für eine weitere Erfolgsbedingung der Lügenmaxime schärfen kann: Im Licht dieses Falles ist der Lügner um seines Erfolges willen nicht nur darauf angewiesen, daß seine Interaktionspartner seine Lüge irrigerweise für eine wahrhaftige Äußerung halten; er ist auch darauf angewiesen, daß sie durch ihre eigenen Äußerungen Wahrhaftigkeit praktizieren – also jedenfalls auch nicht mit gleicher Münze bezahlen. Diese zweite Erfolgsbedingung der Lügenmaxime wirft ein bedeutsames Licht auf die Form der Praxis, die ein Subjekt der Lügenmaxime übt. In diesem Licht zeigt sich, daß ein solches Subjekt unterstellt und sich um seines Erfolges willen darauf verläßt, daß seine Interaktionspartner zugunsten des Erfolges seiner Lügenmaxime eben die Wahrhaftigkeit praktizieren, die es selbst ihnen im selben Atemzug verweigert, obwohl es sie genauso nötig hat wie seine Interaktionspartner. Eine solche Praxis ist ihrer Form nach parasitär. 68 Grundlegung, Bd. 4, S. 403. In dem von Hare (s. o. S. 8566) ausgezeichneten Typ des Gleichbehandlungs-Arguments taucht diese strikte parasitäre Struktur nur in einer aufgeweichten Form und auch nur am Rande auf (vgl. S. 15820). Denn dieser Gleichbehandlungs-Argumentations-Typ ist durch das teils legislatorische und teils forensische Szenario seiner Einführung mit einer Bedingung verflochten, durch die von Anfang an die von Kant berücksichtigte Autonomie-Bedingung verletzt ist: Der eine Gesetzgeber, die vielen Gesetzesunterworfenen, der eine Richter und die mindesten zwei vom Richter zu beurteilende Personen sind innerhalb dieses Szenarios real voneinander verschieden (vgl. S. 144–45); die von Kant berücksichtigte Autonomie-Bedingung verlangt indessen die Personalunion eines Maximeninhabers, eines Gesetzgebers, eines Gesetzes67 68

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XII. Will man über solchen sich verzweigenden interaktionsanalytischen Differenzierungen und Inkonsistenzerörterungen die Rolle nicht aus den Augen verlieren, die sie im Zusammenhang von Kants Ethik spielen, dann muß man das Augenmerk zunächst gerade auf ihren ganz und gar moralneutralen Charakter richten. Denn man kann sowohl die Form wie die Bilanz des Gesetzestauglichkeitstests einer Maxime sogar im Fall der Lügenmaxime ausschließlich durch logische Kategorien wie die der Universalisierung, der Nomologisierung und der Inkonsistenz sowie durch formalpragmatische und funktionale Kategorien wie die der Erfolgsbedingung, der Erfolgsintention und des Parasitären erfassen kann. Der Gebrauch einer moralischen Kategorie wäre in diesem Rahmen geradezu ein Fall einer kategorialen Entgleisung. Nun mögen die einzelnen Komponenten dieses praktischen Parasitentums nicht weniger moralneutral sein als die einzelnen Komponenten dieser logischen Inkonsistenz. Und auch dies praktische Parasitentum selbst mag ebenso moralneutral sein wie diese Inkonsistenz selbst. Dennoch würde man das ganze Verfahren, in dessen Rahmen diese beiden Strukturen und ihre Komponenten auftauchen, mißverstehen, wenn man nicht beachten würde, daß ein Subjekt der Maximen, deren Gesetzestauglichkeit auf diese Weise geprüft wird, diesen Strukturen und ihren Komponenten weder unbeteiligt noch gleichgültig gegenübersteht. Denn ein solches Maximensubjekt ist ja nicht nur mit der Instanz identisch, die die Prüfung veranstaltet, mit deren Hilfe es diese Strukturen und deren Komponenten ans Licht bringt. Es ist eben auch identisch mit der Instanz, die ihre eigenen unterworfenen, eines Richters und einer vom Richter zu beurteilenden Person. Das kantische Argument kann daher hier nicht lauten, daß ein Richter gesetzeskonforme und situationsangemessene Gleichbehandlung üben müsse; es kann nur lauten, daß ein autonomes Maximensubjekt seine Identität ruiniert, wenn es sich eine Inkonsistenz einhandelt, indem es sich in parasitärer Weise von der Form der Praxis – hier der Praxis wahrhaftiger Interaktionen – ausnimmt, obwohl es noch durch sein Parasitentum demonstriert, daß es diese Form der Praxis genauso nötig hat wie seinesgleichen. Dennoch ist zu beachten, daß weder die Inkonsistenz als solche noch das Parasitentum als solches auch nur die geringsten moralisch qualifizierbaren Züge hat. [Zu der von Kant berücksichtigten forensischen Personalunion von verklagtem Akteur, Kläger, Richter und Verteidiger in Gestalt des Gewissens vgl. Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität, unten S. 277–309, bes. S. 299–302, 307 f.]

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Maximen auf diese Weise durchleuchtet. Darüber hinaus ist ein solches Maximensubjekt auch nicht nur einfach mit der prozeduralen Fähigkeit namens Autonomie begabt, mit deren Hilfe es dies ganze Verfahren überhaupt nur veranstalten und die formale sowie die praktische Struktur seiner Maximen ganz in eigener Regie durchschauen kann. Vor allem ist es mitsamt dieser seiner Fähigkeit ein Adressat eines Kategorischen Imperativs. Im Einzugsbereich dieses Imperativs ist es nicht seinem Belieben überlassen, ob es von dieser Fähigkeit Gebrauch macht oder nicht. Genauso wenig ist es seinem Belieben überlassen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise es von den Ergebnissen Gebrauch macht, zu denen es gelangt, wenn es diese Fähigkeit ausübt. Vielmehr macht es dieser Imperativ seinem Adressaten zur Pflicht, seine Maximen mit Hilfe dieser Fähigkeit zu prüfen und nur solche Handlungsweisen zu praktizieren, deren Maximen gesetzestauglich sind. Verstrickt sich nun ein autonomes Maximensubjekt mit einer seiner Maximen in eine Inkonsistenz des erörterten Typs, dann ist eine solche Inkonsistenz daher das charakteristische formale Indiz nicht nur für die Gesetzesuntauglichkeit dieser Maxime. Vor allem ist sie in zweierlei Hinsichten das wichtigste formale Indiz für einen Skandal der Autonomie. Denn in der einen Hinsicht verleugnet ein autonomes Maximensubjekt seine Autonomie, wenn es eine gesetzesuntaugliche Maxime praktiziert und durch eben diese Praxis seine Autonomie mit praktischer Gleichgültigkeit behandelt – indem es nämlich so tut, als wenn es (1.) das Ergebnis seiner Maximenprüfung nicht selbst zuwege bringen könnte; als wenn es (2.) diese Prüfung nicht selbst veranstalten könnte; als wenn es (3.) nicht eine von ihm selbst gehegte Maxime wäre, deren Inkonsistenz es in autonomer Weise durchschauen könnte, und als wenn es (4.) nicht eine mit ihm selbst verwachsene Fähigkeit wäre, die es auf diese Weise fruchtbar machen könnte, als wenn es also gar nicht mit der Autonomie begabt wäre, die es zu solchen Maximenprüfungen und solchen Prüfungsergebnissen befähigt. In der anderen Hinsicht verweist die Inkonsistenz einer Maxime insofern auf einen Skandal der Autonomie, als ein autonomes Subjekt einer solchen Maxime die ihm durch einen Kategorischen Imperativ angesonnene Pflicht verletzt, von seiner Autonomie sowohl mit allen diagnostischen wie mit allen praktischen Konsequenzen Gebrauch zu machen – also nur solche Maximen zu praktizieren, deren Gesetzestauglichkeit es mit Hilfe einer simplen formalen Prozedur durchschauen kann. Der Skandal der Autonomie, 88 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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der sich im Horizont einer inkonsistenten Maxime abzeichnet, besteht darin, daß ein autonomes Subjekt durch eine solche Maxime sowohl seine Autonomie verleugnet wie auch seine Pflicht verletzt, von seiner Autonomie einen konsequenten Gebrauch zu machen. Doch sogar an diesem neuralgischsten Punkt der personalen Struktur eines Menschen, die Kants Ethik sichtbar zu machen sucht, erweist sich die Fruchtbarkeit seiner Mängelwesen-Konzeption. Denn zwar sinnt der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit seinen Adressaten im Modus der Verpflichtung an, von ihrer Autonomie Gebrauch zu machen. Doch im selben Atemzug verweist sein normativer Modus auf den Umstand, daß gerade seine geborenen Adressaten nicht spontan von ihrer Autonomie Gebrauch machen. Sie müssen daher erst mehr oder weniger mühsam lernen, von ihrer Autonomie Gebrauch zu machen. Wenn sich ein autonomes Subjekt in einer inkonsistenten Maxime verfängt, dann ist diese Inkonsistenz unmittelbar ein Indiz dafür, daß das fragliche Maximensubjekt zumindest gleichsam auf dem Sprung ist, sich in einem Skandal seiner Autonomie zu verfangen. Mittelbar ist sie indessen ein Indiz auch dafür, daß es noch nicht gelernt hat, von seiner Autonomie Gebrauch zu machen. In einer solchen Situation eröffnet die Rücksicht auf den gattungsspezifischen praktisch-moralischen Spontaneitätsmangel des Subjekts sowie auf seine damit verbundene Lernbedürftigkeit offenbar eine weiterführende Möglichkeit. Man kann konkrete Lebensumstände seiner praktischen Lerndefizite in Rechnung zu stellen suchen, um ausfindig zu machen, ob es sich mit ihrer Hilfe rechtfertigen läßt, Nachsicht mit einer entsprechenden Pflichtverletzung zu üben. Die Gültigkeit der Norm, die ihm den Gebrauch seiner Autonomie zur Pflicht macht, braucht nicht in Frage gestellt zu werden. Ihre Verletzung kann unter Umständen mit Nachsicht behandelt werden.

XIII. Die Autonomie eines Maximensubjekts gibt offensichtlich einen Orientierungspunkt ab, der erkennen läßt, inwiefern die Praktizierung einer inkonsistenten Maxime wie der Lügenmaxime eine ruinöse Tragweite für die Identität eines solchen Subjekts selbst hat: Obwohl es autonom ist, verhält es sich, als wenn es nicht autonom wäre. Denn wenn es sich selbst in ernsthafter Weise mit dem autonomen Subjekt identifizieren würde, das es von Hause aus ist, dann würde es seine 89 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Autonomie dazu benutzen, die formale Struktur seiner Maximen zu prüfen und die Praktizierung von als inkonsistent beurteilten Maximen zu unterlassen. Doch man mag die von Kant entdeckte Struktur der Autonomie noch so differenziert ausleuchten, analysieren und beschreiben. Man mag also hervorheben, daß sie in einer dispositionellen Fähigkeit verwurzelt ist; man mag hervorheben, daß sie in Gestalt einer einfachen, methodisch kontrollierbaren formalen Prozedur aktiviert wird, wie sie ein entsprechendes Subjekt zugunsten einer Prüfung seiner Maximen fruchtbar machen kann; man mag überdies hervorheben, daß sich solche Prüfungen in Diagnosen niederschlagen, die die Konsistenz oder die Inkonsistenz bzw. die Gesetzestauglichkeit oder die Gesetzesuntauglichkeit der geprüften Maximen anzeigen; und man mag schließlich hervorheben, daß sich die dispositionelle Fähigkeit namens Autonomie in letzter, praktischer Konsequenz darin bewährt, daß ihr Inhaber nur gesetzestaugliche Maximen praktiziert und sich von gesetzesuntauglichen Maximen distanziert. Doch wie differenziert man die Autonomie von Maximensubjekten und die Tragweite dieser Autonomie auch immer analysieren mag – ein Aspekt, unter dem irgendeine der dabei ermittelten Komponenten eine moralische Relevanz erkennen lassen würde, taucht nicht auf. Diese Moralneutralität ist offensichtlich eine unmittelbare Erbschaft des Formalismus, in dem sich die Autonomie eines Maximensubjekts zeigt, wenn es von ihr nur wirklich Gebrauch macht: in der formalen Prozedur, der es eine Maxime durch deren Nomologisierung unterziehen kann; in der formalen Diagnose, in die es diese Prozedur sowohl bei einer konsistenten wie bei einer inkonsistenten Maxime münden lassen kann; und schließlich auch in den Selbstverleugnungs- und Pflichtverletzungsattesten, die es sich im Licht von Inkonsistenzdiagnosen ausstellen kann. Dennoch ist dieser spezielle Gesetzestauglichkeitstest durch zwei gemeinsame Elemente mit dem Kriterium der Publizitätsverträglichkeit so verflochten, daß dieser Test unmittelbar auch am moralischen Gehalt dieses Kriteriums teilhat – durch das Testmaterial in Gestalt der Lügenmaxime und durch die formale Schlüsselrolle, die die charakteristische Erfolgsbedingung der Lügenmaxime für die Inkonsistenz spielt, in die sich ein Subjekt der Lügenmaxime im Einzugsbereich eines Lügengesetzes verstrickt. Denn das Kriterium der Publizitätsverträglichkeit setzt bei seinen geborenen Benutzern die praktische Angewiesenheit auf die wechselseitige wahrhaftige Kom90 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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munikation von sachgemäßen Informationen hinsichtlich ihrer Lebenswirklichkeit voraus. Daher beschränkt sich diese Inkonsistenz nicht darauf, eines autonomen Wesens unwürdig zu sein. Für ein autonomes und der Technik des Lügens fähiges Wesen ist sie darüber hinaus das wichtigste gattungsspezifische formale Indiz einer unmoralischen Struktur. Diese unmoralische Struktur wird nur gleichsam verschleiert von der funktionalen Gestalt des Parasitentums, durch das ein Subjekt der Lügenmaxime von der Wahrhaftigkeit der Praxis zu profitieren sucht, die es von seinen Interaktionspartnern um seines eigenen Erfolges willen erwarten muß. Doch gleichzeitig teilt es mit seinen Interaktionspartnern das gattungsspezifische Geschick, daß sie gemeinsam und wechselseitig auf wahrhaftige Interaktionen angewiesen sind und daher solche Interaktionen einander auch schuldig sind. Wir pflegen eine praktisch-moralische Struktur, durch die Akteure einander in Formen behandeln, auf die sie auf Grund eines gemeinsamen Geschicks wechselseitig angewiesen sind und die sie daher einander auch schuldig sind, als Solidarität zu kennzeichnen. Das Parasitentum eines Subjekts der Lügenmaxime ist daher nur die funktionale Gestalt einer Form von Anti-Solidarität. Die Inkonsistenz der Lügenmaxime ist daher ein ambivalentes Indiz: Sie verweist auf die Anti-Solidarität, die deren Subjekt faktisch übt; und sie verweist auf die Solidarität, die die Mitglieder der Gemeinschaft, zu der es selbst gehört, einander aus gattungsspezifischen Gründen und im Licht der Kriterien der Gesetzestauglichkeit und der Publizitätsverträglichkeit ihrer Maximen schuldig sind. Damit zeichnet sich die konkrete, komplexe Gestalt von Sittlichkeit ab, in der sich jedes Subjekt zu bewähren hat, das seine Autonomie mit Hilfe seiner praktisch-moralischen Urteilskraft an der conditio humana orientiert. Diese Gestalt der Moralität verlangt nicht nur die individuelle Rücksicht auf die von der Vernunft zum Kriterium gemachte Gesetzestauglichkeit und Publizitätsverträglichkeit jeder Maxime. Sie verlangt darüber hinaus genauso die individuelle Rücksicht auf die von der reflektierenden praktisch-moralischen Urteilskraft diagnostizierte gattungsspezifische Angewiesenheit jedes Menschen auf wahrhaftige Interaktionen bzw. auf vertrauenswürdige Maximen. Sie verlangt daher konsequenterweise auch noch die individuelle, aber solidarische Rücksicht darauf, daß keine Maxime die Rücksicht auf diese gemeinsame Angewiesenheit vermissen läßt. Für eine methodische Kontrolle dieser solidarischen Rücksicht stehen einem autonomen Subjekt zwei einfache formale Verfahren zur Ver91 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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fügung, mit deren Hilfe sich prüfen läßt, ob eine von ihm gehegte Maxime gesetzestauglich und publizitätsverträglich ist oder nicht.

XIV. Die moralphilosophische Konzeption, in deren Rahmen diese Momente der Sittlichkeit sichtbar werden, ist offenbar leistungsfähiger als es nicht nur im Spiegel ihrer utilitaristischen Konkurrenten und Kritiker den Anschein hat. Inzwischen beginnen auch die moralphilosophisch umsichtigsten Förderer der Arbeit an utilitaristischen Ethik-Konzeptionen einzusehen, daß moralische Normen aus prinzipiellen Gründen nicht auf nutzenbasierte Normen zurückgeführt werden können. Indessen hat sich die Arbeit an utilitaristischen Ethik-Konzeptionen mittlerweile in formaler, in argumentativer und in methodischer Hinsicht zu einer teilweise hochspezialisierten Angelegenheit von Experten ausgewachsen. 69 Die utilitaristische Ethik hat sich durch diesen inneren Elaborierungsgrad erst jetzt einen Weg gebahnt, auf dem sie der kognitiven Komplexität der Beurteilungsprobleme gerecht werden kann, die die Nutzenfrage angesichts der immer weiträumiger und immer engmaschiger werdenden Zweck- bzw. Nutzenrationalität des Lebens in der wissenschaftlichtechnisch geprägten Welt nach sich zieht. Indessen ist das Nützlichkeitsstreben selbst ein irreversibler Teil der conditio humana. Es wäre daher geradezu unmoralisch, wenn man dies Streben unter dem wachsenden Druck einer immer komplexer werdenden Zweck- bzw. Nutzenrationalität dem Wildwuchs von methodisch undisziplinierten Intuitionen oder Faustregeln der alltäglichen Erfahrung – und sei es der professionellen Erfahrung – überlassen wollte. Wenn es einen Ertrag der Arbeit an der utilitaristischen Ethik gibt, der langfristig ihre Mühen wert ist, dann zeigt er sich in der Klärung der Begriffe, der Kriterien, der Methoden und der Argumentationsformen, mit deren Hilfe sich das Zweck- bzw. Nutzenstreben in einer methodisch disziplinierten Weise kontrollieren und eben dadurch auch optimieren läßt. Sofern die utilitaristische Ethik dies Ziel nicht aus den Augen verliert, ist sie selbst ein Teil einer moralisch gebotenen Rationalisierung der praktischen Urteils- und Argumentationsformen, die sie zum Thema ihrer Untersuchungen macht. 69

Vgl. z. B. Rainer W. Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, Frankfurt/M. 1988.

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Umso weniger kann man einfach darüber hinwegsehen, daß die utilitaristische Ethik auch im Schutz eines noch so wohlverstandenen Rationalitätsgebots über das Ziel ihrer methodischen Möglichkeiten hinausschießt, wenn sie sich zutraut, moralische Normen auf nutzenbasierte Normen zurückzuführen. Die Handlungsweisen, die alle Menschen aus gattungsspezifischen praktischen Gründen nötig haben und zu denen sie deswegen auch verpflichtet sind, können schon aus begrifflichen Gründen nicht auf die Handlungsweisen zurückgeführt werden, die für sie mehr oder weniger nützlich sind und die für sie deswegen auch mehr oder weniger ratsam sind. Es mag durchaus sein, daß die Handlungsweisen, die sie in diesem Sinne nötig haben, zumindest teilweise dieselben sind wie die, die für sie zumindest langfristig auch eher nützlich sind. Wenn das praktische Alltagsbewußtsein argumentiert, daß Ehrlich am längsten währe, Lügen kurze Beine haben und Die Sonne es an den Tag bringe, dann bewertet es wahrhaftige, unwahrhaftige bzw. öffentlichkeitsscheue Handlungsweisen in der Tat, indem es zur Begründung vor allem zeitliche Faktoren von Nutzenbilanzen geltend macht, die aus einer langen, teilweise individuellen und teilweise kollektiven, jedenfalls aber geschichtlichen Erfahrung gewonnen worden sind. Durch ihre planmäßige Bearbeitung von so wichtigen Unterschieden wie denen zwischen Einzelfallnutzen und Regelnutzen, Nutzensumme und Durchschnittsnutzen stellt die utilitaristische Ethik der praktischen Urteilskraft ein immer differenzierter werdendes Repertoire von Aspekten, Begriffen, Kriterien und Methoden für möglichst rationale Bilanzierungen dieser Art zur Verfügung. Es wäre mehr als unklug, von solchen Hilfsmöglichkeiten keinen Gebrauch zu machen, soweit es die Situation ratsam erscheinen läßt. Wie die vorangegangenen Erörterungen gezeigt haben, sind wahrhaftige und unwahrhaftige Handlungsweisen ebenso wie die Wahrhaftigkeits- und die Unwahrhaftigkeitsmaxime nicht nur nach Kants Auffassung, sondern auch aus sachlichen Gründen einer Nutzenbewertung deswegen zugänglich, weil an ihrer Struktur Erfolgsintentionen und Erfolgsorientierungen beteiligt sind. Wie diese Erörterungen aber auch zeigen können, kommt ein Versuch der utilitaristischen Ethik, die moralische Valenz einer Handlungsweise oder einer Maxime auf den Nützlichkeitsgrad des erzielten oder des intendierten Erfolges zurückzuführen, einer Strategie gleich, die Autonomie zu verdunkeln, durch die die Menschen von Natur aus befähigt sind, die Solidaritätsverpflichtungen zu durchschauen, die sie sich 93 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Autonomie und Humanität

angesichts der conditio humana einsichtig machen können. Wirklich aufgeklärt ist die praktische Urteilskraft daher erst dann, wenn sie gelernt hat, Nützlichkeitserwägungen mit Hilfe dieser Autonomie und im Licht dieser Solidaritätsverpflichtungen in humanen Grenzen zu hegen. 70

[Das Gesamte vom kategorischen Moral-Imperativ wird in einer formal verschärften, quasi formalistischen Weise und unter Zuhilfenahme zusätzlicher Aspekte präsentiert unten: Universalität, Spontaneität und Solidarität. Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit, S. 95–149, bes. S. 115–140.]

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Universalität, Spontaneität und Solidarität Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit

I. Erst vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren hat man der praktischen Philosophie eine Rehabilitation verordnet. Es ist völlig unstrittig, daß die praktische Philosophie diese Rehabilitation dringend nötig hatte. Denn während der ungefähr einhundertfünfundzwanzig Jahre seit Hegels Tod war die Praktische Philosophie zunehmend in ein immer gravierenderes Siechtum geraten. Die Phasen dieses Siechtums können durch drei markante Parolen gekennzeichnet werden. Die Signatur der ersten Phase wird durch Schopenhauers bekanntes Motto von 1840 beleuchtet: »Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer!« 1 Die Signatur der zweiten Phase kann durch ein Motto beleuchtet werden, das durch eine Bemerkung nahegelegt wird, die sich in Nietzsches Nachlaß findet und vor allem aus der Arbeit an der Schrift »Jenseits von Gut und Böse« von 1886 stammt: »[…] wir glauben nicht mehr an die Moral und haben folglich auch keine Philosophie zu gründen, damit die Moral recht behalte«. 2 Hier lautet die Parole offenkundig: »Moral predigen ist Selbstbetrug oder Heuchelei, Moral begründen ist unnötig«. 3 Die Signatur der dritten Phase kann durch eine Parole beleuchtet werden, mit der Günther Patzig seinerzeit Schopenhauers Motto abgewandelt hat, um die herrschende Meinung zu artikulieren, die eines der Symptome dafür war, Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, Vierter Band (Hg. A. Hübscher), Preisschrift über die Grundlagen der Moral (1840). Wiesbaden 1950, S, 103. 2 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke Bd. 3, Hg. K. Schlechta, München 1956, S. 479. 3 Eine ausgewogene Darstellung, Interpretation und Beurteilung von Nietzsches moralphilosophischen Motiven findet sich in dem vortrefflichen Aufsatz von Volker Gerhardt, Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zu einer Grundlegung der Ethik, in: Krisis der Metaphysik, Hg. G. Abel und J. Salaquarda, Wolfgang MüllerLauter zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1989, S. 417–447. 1

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Universalität, Spontaneität und Solidarität

daß die praktische Philosophie eine Rehabilitation nötig hat: »Moral predigen ist sinnlos, Moral begründen unmöglich«. 4 Dieser Teil der Verfallsgeschichte der praktischen Philosophie zeigt also wenigstens drei markante Stufen, die in abfallender Linie hauptsächlich durch die drei Parolen gekennzeichnet sind: 1. Moral begründen ist schwer; 2. Moral begründen ist unnötig; 3. Moral begründen ist unmöglich. Mit diesen drei Parolen ist auch schon der wichtigste Gesichtspunkt angedeutet, unter dem man jüngst angefangen hatte, die praktische Philosophie zu rehabilitieren. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen standen verständlicherweise zunächst Begründungsprobleme. Mit der Leitfrage dieses Problemkreises erkundigt man sich bekanntlich, wie man praktische Sätze, also Erlaubnisse, Gebote und Verbote gegebenenfalls in allgemeingültiger Form begründen kann. Es gehört nun fast schon zu der oft beschworenen Ironie der Geschichte, daß gerade diejenige Disziplin der Philosophie, deren Urteile über das logische Format praktischer Sätze den tiefsten Verfall der Praktischen Philosophie signalisiert hatten, inzwischen zur wichtigsten Hilfsdisziplin bei der Rehabilitation des Begründungsproblems in der Praktischen Philosophie geworden ist – eben die Logik. Man braucht nur an Frege, Russell, Carnap und Wittgenstein zu erinnern, um erneut deutlich werden zu lassen, was für eine sachliche Autorität während vieler Jahrzehnte hinter der irrigen Diagnose gestanden hat, wonach praktische Sätze, also Erlaubnisse, Gebote und Verbote, ganz und gar alogische Manifestationen der situationsbedingten Lebensgefühle ihrer jeweiligen Urheber seien. Mit dieser Diagnose war den praktischen Sätzen von der dafür wichtigsten zuständigen Instanz im System der Philosophie auch der letzte Rest von jenen Eigenschaften abgesprochen worden, die sie zu einem tauglichen Vehikel und Gegenstand von Begründungsbemühungen hätten stempeln können. Von derselben Instanz sind inzwischen auch die wichtigsten Impulse für die Rehabilitation des Begründungsproblems in der Praktischen Philosophie ausgegangen. Allerdings mußte die Logik zunächst einmal selber eine Entwicklung durchmachen, die sie auch intern auf ein höheres Reflexionsniveau führte. Am Ende dieser internen Entwicklung stand die Wiederbelebung der Modallogik. Danach waren nur noch einige wenige, elementare Analogiebetrachtungen nötig, um den Logikern die Augen dafür zu öffnen, daß praktische Sätze 4

Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, S. 3.

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eine ganz ähnliche logische Form haben wie die Sätze, durch deren Analyse schon Aristoteles auf die klassischen Modalitäten gestoßen war: Der Sinn und die Bedeutung praktischer Sätze können regelmäßig in solche Modalitäten wie das Gebotensein und das Erlaubtsein und deren Negationen, in den oder die Adressaten des Gebots und der Erlaubnis bzw. ihrer Negationen sowie in die gebotene oder erlaubte bzw. nicht-gebotene oder nicht-erlaubte Handlungsweise zerlegt werden. Diese sogenannten deontischen Modalitäten des Gebotenseins und des Erlaubtseins und ihrer Negationen sind die Analoga der klassischen Modalitäten der Notwendigkeit und der Möglichkeit und ihrer Negationen. Und in dieser Trias aus der deontischen Modalität des praktischen Satzes, des Adressaten des praktischen Satzes und der durch den praktischen Satz entworfenen Handlungsweise prägt sich eine paradigmatische logische Grundform praktischer Sätze aus. Mit dieser elementaren Einsicht waren für weiterführende Untersuchungen über andere und kompliziertere logische Formen praktischer Sätze und über logische Beziehungen zwischen praktischen Sätzen mit einem Schlag Tür und Tor geöffnet. Da aber an jeder Begründung irgendeines Satzes mit Hilfe anderer Sätze auch ein Minimum an logischen Beziehungen zwischen solchen Sätzen beteiligt ist, konnte man die mikroskopischen Mittel der Logik alsbald auch zu Hilfe nehmen, um die logischen Beziehungen aufzuspüren, die am argumentativen Umgang mit praktischen Sätzen beteiligt sind. Fragt man unter diesen Umständen nach dem bisherigen Erfolg der Rehabilitation der Praktischen Philosophie, so scheint jedenfalls das Begründungsproblem der praktischen Philosophie ganz und gar rehabilitiert zu sein. Es hat sich einen relativ festen Stammplatz unter den Themen der Praktischen Philosophie gesichert und dieser Stammplatz fällt wenigstens gegenwärtig wohl immer noch mit einem Brennpunkt der systematischen Interessen zusammen. Ein günstiges Indiz für den Reifegrad des Methodenbewußtseins, das inzwischen mit diesem Begründungsproblem verbunden ist, gibt die Entwicklung der deontischen Logik ab. Entstanden aus den erwähnten Elementarbetrachtungen über Analogien zwischen den klassischen Modalitäten der Möglichkeit und der Notwendigkeit und ihrer Negationen sowie den praktischen Modi des Erlaubtseins und des Gebotenseins und ihren Negationen, hat sie sich inzwischen zu einer hoch entwickelten Spezialdisziplin der formalen Logik ausgewachsen. Für die Arbeit an ihrer Forschungsfront sind mittlerweile formale Fähigkeiten und 97 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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technische Fertigkeiten vonnöten, wie sie in früheren Zeiten nur den Studenten der Mathematik abverlangt worden sind. Aber wenn die deontische Logik über ihrer zunehmenden Binnenmathematisierung ihre Geburt aus dem Geist der Praktischen Philosophie nicht ganz vergißt, dann hat sie immerhin die Chance, im Hinblick auf das Begründungsproblem der Praktischen Philosophie wenigstens eine Art Wächteramt auszuüben. In diesem Wächteramt kann sie dafür Sorge tragen, daß die elementaren logischen Einsichten in die Begründungsdefinitheit praktischer Sätze nicht verloren gehen und daß die logische Kontrollierbarkeit der Praktischen Philosophie jedenfalls nicht unter ein bestimmtes Mindestmaß wieder zurückfällt. Solange sich die deontische Logik dieser Wächteraufgabe nur lebhaft genug bewußt bleibt, wird man jedenfalls nicht noch einmal irgendwelche Fehlleistungen der Logiker verantwortlich machen müssen, falls zusammen mit dem Beründungsproblem auch wieder einmal die ganze Praktische Philosophie verwahrlosen sollte.

II. Ganz anders fällt die Bilanz aus, wenn man fragt, ob mit dem Begründungsproblem denn nun auch alle wichtigen rehabilitationsbedürftigen Themen der Praktischen Philosophie wieder zu neuem Leben erweckt worden sind. Die thematische Ausrichtung unserer diesjährigen Tagung ist eines von vielen Indizien dafür, daß es mindestens noch einen anderen wichtigen Themenkreis gibt, der mit dem gegenwärtigen Problembewußtsein der Praktischen Philosophie jedenfalls noch nicht mit systematischer Zähigkeit verflochten ist. Dieser Themenkreis wird in den Fragestellungen unserer Tagung durch verschiedene Stichworte aus verschiedenen Blickwinkeln angedeutet. Gleichsam leitmotivisch wird er durch das Generalthema »Prinzip und Applikation« angedeutet. Eine erläuternde Umschreibung wird durch die Rede von der »Anwendung« moralischer, rechtlicher und anderer praktischer »Normen« und »Prinzipien« auf Einzelfälle gegeben. Und das erkenntnistheoretische Kernproblem des Themenkreises wird in der traditionellen Sprache der praktischen Philosophie durch die Rede von der »praktischen Urteilskraft« angesprochen. Man kann den ganzen Kreis dieser Probleme und Themen der Kürze halber durch die Rede von den praktischen Beurteilungsproblemen umschreiben. 98 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Es ist nun eine der methodischen Pointen der Praktischen Philosophie, daß diese praktischen Beurteilungsprobleme bloß die Kehrseite ihrer Begründungsprobleme bilden. Die Begründungsprobleme und die Beurteilungsprobleme sind die beiden Seiten einer und derselben Medaille. Und es gibt sogar eine einfache Methode, gleichsam die Medaille selber in Augenschein zu nehmen, die durch diese beiden Problemkreise geprägt ist. Diese Medaille wird offensichtlich von den praktischen Sätzen gebildet. Denn es sind die praktischen Sätze, deren Begründungsbedürftigkeit, Begründungsfähigkeit und Begründungsmethoden im Umkreis des Begründungsproblems zur Debatte stehen. Und es sind andererseits ebenfalls wieder praktische Sätze, durch die wir jene praktischen Beurteilungen sprachlich zu dokumentieren pflegen, deren Richtigkeit und Trefflichkeit im Rahmen des Beurteilungsproblems gerade zur Debatte stehen. Die trefflichsten praktischen Urteile sind daher auch die am besten begründbaren praktischen Urteile. Spiegelt man die Unterschiede zwischen Begründungsproblemen und Beurteilungsproblemen am Unterschied zwischen den formalen Rollen, durch die ein und derselbe praktische Satz sowohl am Begründungsproblem wie am Beurteilungsproblem teilhaben kann, dann muß man allerdings auch eine logische Differenz beachten, die von großer Tragweite für die Methodik der beiden Problemkreise ist. Denn am Begründungsproblem sind praktische Sätze ganz unabhängig davon beteiligt, wie sie jenseits ihrer deontischen Modalitäten und anderer praktischer Modalitäten wie etwa dem Modus des Willens geformt sind. Insbesondere ist es für die Teilhabe eines praktischen Satzes am Begründungsproblem belanglos, ob er seiner logischen Quantität nach universell, partikulär oder singulär ist. Denn die Begründung beispielsweise einer positiv-rechtlichen Gesetzesaussage, die ein allgemeines Gebot oder Verbot ausspricht, mit Hilfe einer prinzipienrechtlichen Aussage, die ebenfalls ein allgemeines Gebot oder Verbot ausspricht, aber außerdem die Rolle eines Legitimationskriteriums spielt, hat ebenso am Begründungsproblem teil wie die Berufung auf eine solche Gesetzesaussage zugunsten eines richterlichen Urteilsspruchs, der seiner logischen Quantität nach eine Singuläraussage ist, weil durch ihn eine Handlungsweise eines individuellen Akteurs als ein Fall des durch die Gesetzesaussage allgemein normierten Tatbestandes charakterisiert wird. Diese Indifferenz der logischen Quantität hört auf, sobald man den Kreis der praktischen Beurteilungsprobleme berührt. Denn durch 99 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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eine praktische Beurteilung zielt man stets auf eine individuelle Handlung und die Weise ihres Vollzugs durch ihren individuellen Urheber. Praktische Urteile oder die Sätze, durch die sie sprachlich dokumentiert werden, sind ihrer logischen Quantität nach also Singulärurteile oder Singulärsätze. Jedes praktische Urteil enthält also wenigstens eine Individuenkonstante oder wenigstens ein indexikalisches Element, sodaß dieses Individualelement nicht durch irgendeine logische Operation transformiert werden kann, ohne daß das praktische Urteil aufhören würde, ein praktisches Urteil zu sein. Man kann das praktische Beurteilungsproblem daher in einer ersten Annäherung durch die Leitfrage umschreiben: Welches sind die Kriterien für die Richtigkeit oder Trefflichkeit praktischer Urteile, also der Beurteilungen von individuellen Handlungsweisen sowie von individuellen Akteuren und ihren praktisch relevanten Charaktereigenschaften. In dieser Form ist die Leitfrage des praktischen Beurteilungsproblems offenkundig recht unbestimmt ausgefallen. Das ist aber weder zufällig so noch ist es einfach korrekturfähig oder auch bloß korrekturbedürftig. Ihre weitgehende inhaltliche Unbestimmtheit signalisiert vielmehr lediglich ihre Abstraktheit und damit ihre Konkretisierungsbedürftigkeit. Doch durch jede Konkretisierung legt man einen spezifischen Kreis von Beurteilungsproblemen fest, den man durch jede andere Konkretisierung zugunsten irgendeines anderen spezifischen Kreises von Beurteilungsproblemen auch wieder verläßt. Hier hat die Methodenreflexion, die die Arbeit in den klassischen Praktischen Einzelwissenschaften begleitet, teilweise wegweisende Musterentwürfe solcher Konkretisierungen erarbeitet. Am ungebrochensten hat sich wohl die Rechtswissenschaft eine lebendige Tradition des Bewußtseins einer praktischen Wissenschaft bewahrt. Für sie liefert das richterliche Urteil bis heute das Paradigma eines praktischen Urteils über eine Handlungsweise einer individuellen Person. 5 Vielleicht ist die Medizin diejenige praktische Wissenschaft, deren Jünger während der vergangenen hundertfünfzig Jahre verständlicherweise am stärksten über den systematischen Status ihrer Disziplin irritiert sein konnten. Denn durch die stürmische Entwicklung der naturwissenschaftlichen Grundlagen ihrer Arbeit und angesichts der geradezu explosiven technisch-apparativen Tragweite der Naturwissenschaften Vgl. hierzu die bis heute unübertroffene methodologische Jugendschrift von Carl Schmitt, Gesetz und Urteil (11912), Berlin 21969.

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konnte sich nur allzu leicht ein Bild von der ärztlichen Tätigkeit abzeichnen, das den Arzt nicht mehr randscharf von einem aller praktischen Verantwortung enthobenen Experimentator zu unterscheiden erlaubt. Hier hat die jüngere Methodenreflexion in überzeugender Weise zeigen können, daß und inwiefern auch eine maximal und optimal naturwissenschaftlich fundierte und technisch gerüstete Medizin an einem Fluchtpunkt orientiert bleibt, der nach wie vor den praktischen und kognitiven Brennpunkt der in praktischer Verantwortung ausgeübten ärztlichen Tätigkeit bildet – an der diagnostischen, eine Therapie sowohl legitimierenden wie auch einleitenden Beurteilung eines individuellen Patienten durch dessen Arzt. 6 Solange solche formal orientierten Analysen praktischer Beurteilungsprobleme musterhafte Urteilstypen aus der einen oder anderen exemplarischen praktischen Disziplin wie der Jurisprudenz oder der Medizin ins Auge fassen, können sie von den unschätzbaren Vorteilen profitieren, die der Grundlagenreflexion von der geschichtlich gewachsenen und praktisch bewährten Methodik jeder solchen Disziplin geboten werden. Denn eine solche Methodik ist nicht nur zählebig mit den technischen und kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten der Personen verwoben, die in der Expertengemeinschaft einer praktischen Disziplin die Selbstkontrolle jedes einzelnen mit einer nicht weniger effektiven Fremdkontrolle durch die Forscher, Gelehrten und akademischen Lehrer einerseits sowie andererseits durch die beruflichen Kollegen verbinden. Darüber hinaus stellt auch die literarische Dokumentation dieser Methodik ein überreiches Material zur Verfügung, an dem sich jede formale und prozedurale Analyse der Methodik beispielsweise des richterlichen oder des ärztlichen Urteils ebenfalls erst einmal bewährt haben muß, bevor sie die Probe auf eine korrekte und informative Orientierungshilfe über diese Methodik bestanden hat.

III. In einer völlig anderen, ungleich schwierigeren Situation findet sich die Grundlagenreflexion, wenn sie nach einer Methodik praktischer Beurteilungen fragt, wie sie sich immer dann bewährt, wenn ein Vgl. vor allem Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie (11976), Warendorf 22004.

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treffliches sittliches oder moralisches Urteil über eine individuelle Person oder über eine ihrer Handlungsweisen gefällt wird. Man braucht dabei noch gar nicht einmal direkt an die Schwierigkeiten zu denken, die sich aus der nicht ganz unberechtigten Skepsis ergeben, ob man mit der Frage nach einer solchen Methodik nicht einem Trugschluß und einer irreführenden verfahrenstechnischen Analogie zum Opfer gefallen sein könnte. Denn es ist noch längst keine ausgemachte Sache, daß ähnlich wie etwa beim richterlichen Urteil oder bei der ärztlichen Diagnose überhaupt eine analysierbare und kontrollierbare Methodik bemüht wird, wenn ein treffliches sittliches Urteil gefällt wird. Indessen werden die Schwierigkeiten für die Reflexion auch dann nicht geringer, wenn man probeweise mit der entsprechenden positiven Hypothese arbeitet. Denn es mag sein, daß es bloß eine Frage der Zeit, der Anstrengung und des Geschicks ist, bis man einer Methodik der sittlichen Urteilsbildung auf die Spur gekommen ist. Es mag außerdem sein, daß sich eine solche Methodik schon seit unvordenklichen Zeiten stillschweigend bei allen Wesen bewährt hat, die überhaupt mit einem Anspruch auf sittliche Trefflichkeit praktische Urteile fällen. Aber anders als in den paradigmatischen praktischen Disziplinen steht es bei weitem noch nicht einmal fest, in welchen Formen man im Rahmen eines sittlichen Urteils überhaupt auf die individuelle Person Bezug nimmt, deren praktische Attribute man auf diese Weise beurteilt. Diese formale Unklarheit hängt unmittelbar mit einer Unklarheit über das ganze Format dieser praktischen Attribute zusammen. Denn es ist ebenfalls unklar, über was für praktische Attribute einer Person man überhaupt spricht, wenn man sittlich urteilt. Sind es Handlungen oder Charaktereigenschaften? Oder sind es Willensbestimmungen? Ist diese dreigliedrige Alternative überhaupt vollständig oder nicht? Schließen die Glieder dieser oder einer weiteren Alternative einander aus oder bestehen vielleicht sogar irgendwelche Abhängigkeiten zwischen ihnen? Wenn indessen Willensbestimmungen die genuinen Kandidaten für die sittliche Beurteilung sind – sind Willensbestimmungen abhängig oder unabhängig von Handlungsweisen und ihrer wenigstens versuchten Praktizierung in der realen Lebenswelt? Wenn es aber Handlungsweisen sind – sind es episodische oder reguläre Handlungsweisen? Und wenn es Charaktereigenschaften sind – sind es dispositionelle und chronische oder aber manifeste und mehr oder weniger zählebige, aber letzten Endes doch auch transitorische Eigenschaften einer Person? 102 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Solange diese Fragen nicht plausibel und kohärent beantwortet sind, kann auch schwerlich eine logische Grundform sittlicher Urteile zuverlässig bestimmt werden. Denn von der Klärung des Formats der relevanten praktischen Attribute hängt offensichtlich die logische Mikroform des prädikativen oder quasi-prädikativen Teils der Aussage ab, durch die man auf die Person Bezug nimmt, der man das fragliche Attribut so attestiert, daß dies attestierte Attribut den thematischen Brennpunkt des sittlichen Urteils abgibt. Gerade diese formalen Grundfragen sind es indessen, die in den paradigmatischen praktischen Disziplinen nahezu befriedigend beantwortet sind. Im Rahmen eines richterlichen Urteils wird durch den prädikativen Teil einem individuellen Beklagten oder Angeklagten eine Handlungsweise attestiert, auf Grund von der er unter den durch das Prädikat ausgedrückten gesetzlich normierten Tatbestandsbegriff subsumiert wird, der seinerseits mit einem gesetzlich normierten Folgelastenschema, speziell einem Bestrafungsschema oder einem anderen Sanktionsschema verbunden ist. Und im Rahmen einer ärztlichen Diagnose wird durch den prädikativen Teil einem individuellen Patienten ein organisches oder ein sonstiges somatisches Attribut attestiert, auf Grund von dem der Patient bzw. sein Beschwerdenkomplex unter den durch das Prädikat ausgedrückten Krankheitsbegriff subsumiert wird, der seinerseits induktiv und legitimierend mit einem Heilbehandlungsschema verbunden ist. Wir sind weit davon entfernt, über die logische Grundform sittlicher Urteile ähnlich genaue wie differenzierte und ähnlich befriedigende Aussagen treffen zu können. Solange dies nicht zuverlässiger möglich ist, werden aber auch die methodischen und die prozeduralen Formen der sittlichen Urteilsbildung weiterhin im Dunkeln bleiben. Hier hilft auch kein noch so gut ausgearbeitetes System der deontischen Logik oder einer Willens-Logik weiter. Denn wenn auch nur der Versuch einer Anwendung eines solchen Systems auf sittliche Urteile nicht von vornherein ins Leere laufen soll, dann müßte gerade über die primitivsten und charakteristischen logischen Eigenschaften sittlicher Urteile wenigstens ein vorläufiger Minimalkonsens von nicht-banalem und nicht-trivialem Inhalt schon erzielt sein. Was aber noch gravierender ist: Gerade das Kernstück jedes logischen Systems, seine Regeln und Gesetze, verurteilen jedes logische System im Rahmen praktischer Beurteilungsprobleme von vornherein dazu, auch im günstigsten Fall bloß eine Statistenrolle zu spielen. Denn die Gesetze und Regeln eines logischen Systems sind nun einmal auf einen An103 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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wendungstypus zugeschnitten, bei dem es in Gestalt von Ableitungen stets um Fragen der Begründung von Sätzen mit Hilfe von anderen Sätzen geht. Man braucht nicht auszuschließen, daß an der formalen und prozeduralen Genese praktischer Urteile argumentative Zwischenschritte beteiligt sind, die ausschließlich mit Hilfe von logischen Regeln oder Gesetzen durchsichtig gemacht und legitimiert werden können. Aber jedes praktisch-sittliche Urteil über eine individuelle Person wird durch eine Singuläraussage formuliert. Und keine Singuläraussage kann nach irgendeiner logischen Regel aus irgendeiner anderen Aussage logisch korrekt abgeleitet werden, wenn sie nicht schon implizit einen echten logischen Teil dieser anderen Aussage bildet. Mit der Kernfrage des praktischen Beurteilungsproblems, also mit der Frage nach der Methodik praktischer Urteilsbildung oder nach der formalen und prozeduralen Genese praktischer Urteile, erkundigt man sich aber nicht, wie man den argumentativen Umgang mit einem praktischen Urteil logisch regulieren kann, über das man schon verfügt. Man erkundigt sich vielmehr nach den methodischen und prozeduralen Formen, in denen man ein praktisches Urteil ursprünglich gewinnt, über das man also zuvor noch gar nicht verfügt hat. Das so verstandene praktische Beurteilungsproblem ist es nun, zu dem Kant im Rahmen seiner ganzen Praktischen Philosophie einen ebenso vielseitigen wie vielschichtigen Beitrag geleistet hat. 7

IV. »Die Sitten selbst sind allerlei Verderbnis unterworfen, solange der Leitfaden und [die] oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung [fehlen]«. 8 Mit dieser lakonischen Aussage rechtfertigt Kant in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sein ganzes Unternehmen in der Praktischen Philosophie. Doch trotz ihrer Lakonie ist diese [Diese Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit soll einerseits durch die unterschiedlichen Aspekte dieses Aufsatzes und aller anderen Aufsätze dieser Sammlung ans Licht gebracht werden. Andererseits soll gezeigt werden, daß der vor allem im § 7 der Kritik der praktischen Vernunft formulierte Kategorische Imperativ gleichsam den Kristallisationspunkt aller Überlegungen bildet, die Kant unter diesen Aspekten in der Hemisphäre der Praktischen Philosophie entwickelt oder zu verstehen gegeben hat. Dieser Imperativ ist es, der die Einheit in der Vielheit seiner Tragweiten bildet.] 8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe (Ak.), Bd. IV, S. 390. 7

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Aussage so kunstvoll geformt, daß sie alle wichtigen Themen, Motive und Ziele zusammenfaßt, die Kant sich während ungefähr zwanzig Jahren in der Praktischen Philosophie erarbeitet hatte. Das wichtigste Thema von Kants reifen metaphysischen Untersuchungen der Sitten ist offensichtlich an einem einzigen Beurteilungsproblem orientiert: Wie kann man mit ›metaphysischen‹, also mit nicht-empirischen Mitteln zur richtigen Beurteilung der Sitten beitragen? 9 Das wichtigste Motiv für Kants Arbeit an diesem Beurteilungsproblem wird durch eine einzige Sorge genährt: Wie kann man mit ›metaphysischen‹, also mit nicht-empirischen Mitteln zum Schutz gegen die Verderbnis der Sitten beitragen? Und das wichtigste Ziel von Kants Arbeit an diesem Beurteilungsproblem wird von einer einzigen Hoffnung bestimmt: Wenn die Philosophie den Menschen erst einmal gezeigt hat, wie sie das höchste normative Kriterium für die richtige Beurteilung ihrer Sitten durchschauen können, dann verfügen sie auch über einen Leitfaden, mit dessen Hilfe sie sich im Labyrinth ihrer Sitten so zuverlässig zurechtfinden können, daß sie tadellose Sitten und tadelhafte Sitten jederzeit treffend voneinander unterscheiden können. Eine Erinnerung an Kants Programm für die Praktische Philosophie ist auch in einem systematischen Rahmen nicht überflüssig. Denn Kants Lehre vom obersten Kriterium für die richtige Beurteilung von Sitten, also seine Lehre vom Kategorischen Imperativ, enthält einen überaus wichtigen Beitrag zur Bearbeitung der formalen, logischen und prozeduralen Probleme praktischer Urteilsbildung. In der folgenden Untersuchung soll gezeigt werden, daß und inwiefern Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ das methodische Format [Kant selbst hat hinreichend dafür gesorgt, daß man sich durch seinen Gebrauch des Attributs des Metaphysischen nicht unnötig irreführende Wege seiner Untersuchungen suggerieren läßt. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang seine entsprechende Unterscheidung zwischen der architektonisch-disziplinären und der methodologischen Redeweise von Metaphysik: »Die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis im systematischen Zusammenhange […] heißt Metaphysik, wiewohl«, so leitet Kant sogleich die methodologische Version des Kriteriums ein, »dieser Name auch […] der Kritik gegeben werden kann, um […] die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, […] von allem empirischen aber, imgleichen dem mathematischen Vernunftgebrauche unterschieden ist, zusammen zu fassen« KrV A 841, B 869. Die in methodischer Hinsicht metaphysischen Untersuchungen arbeiten vor allem mit Hilfe von nicht-empirischen Methoden. Was den nicht-empirischen Charakter dieser Methoden prägt, muß jeweils im konkreten thematischen Zusammenhang geklärt werden.]

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von etwas hat, was in der medizinischen Methodik gelegentlich als ein Diagnosenschlüssel umschrieben wird. 10 Zu einem leistungsfähigen Diagnosenschlüssel gehören im wesentlichen fünf Komponenten: 1. eine hinreichend genaue Beschreibung des primären Materials, durch dessen Analyse und Beschreibung eine Diagnose gewonnen werden kann; zu diesem diagnostischen Material gehören z. B. die Körpertemperatur, das akustische Profil des Atmungsvorgangs, der Grad der Schleimproduktivität des Bronchialzellgewebes; 2. eine hinreichend genaue Beschreibung der methodischen Technik, mit deren Hilfe die angestrebte Diagnose gewonnen werden kann: z. B. Temperaturmessungen, Abklopfen zur Ermittlung des Resonanzprofils der Lungenflügel, Stethoskopie; 3. eine hinreichend genaue Bestimmung des technischen Ziels dieser Methode: Feststellung und Beschreibung von Zuständen, die diesseits oder jenseits einer bestimmten kritischen deskriptiven oder numerischen Norm liegen, z. B. Fieber, entzündliche Rötung, Drüsenschwellung; 4. eine hinreichend genaue Bestimmung des diagnostischen Werts des technischen Ziels dieser Methode: Ermittlung von Symptomen; 5. ein Kriterium für die Eigenart der Sachverhalte, deren Bestehen durch die ermittelten Symptome indiziert ist – also eine nosologische Charakteristik des Formats des indizierten Zustandes. Der Diagnosenschlüssel, den Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ enthält und der zur Erschließung und richtigen Beurteilung des sittlichen Formats der relevanten praktischen Attribute einer Person taugen soll, erfüllt nun gerade die entsprechenden fünf Erfordernisse. Allerdings muß man bei Kant in diesem Punkt aufpassen, daß man nicht vom Regen in die Traufe kommt. Denn Kants Lehre vom Leitfaden und dem obersten normativen Kriterium der richtigen BeVgl. Herbert Immich, Klinischer Diagnosenschlüssel, Stuttgart 1966, und Rudolf Gross, Medizinische Diagnostik. Grundlagen und Praxis, Berlin/Heidelberg/New York 1969, bes. S. 131 f.

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urteilung der Sitten verzweigt und verästelt sich in ein hochkompliziertes Rankenwerk von Methodenproblemen und Methodenreflexionen. Man kann zwar gerade noch einen ganz abstrakten Schnitt durch dies Rankenwerk ziehen und zwei völlig verschiedene Typen von Methodenproblemen und Methodenreflexionen unterscheiden: auf der einen Seite die Probleme und Erörterungen, die hervorgerufen werden durch die Frage nach dem Weg, auf dem man das oberste praktische Beurteilungskriterium am zuverlässigsten suchen und finden kann; und auf der anderen Seite die Probleme und Erörterungen, die durch die Frage provoziert werden, wie man von dem einmal gefundenen Kriterium am zuverlässigsten Gebrauch machen kann. Man sollte also in jedem Fall scharf zwischen den heuristischen Methodenproblemen und den Methodenproblemen der sogenannten Anwendung unterscheiden. Welchen literarischen Umfang die Auseinandersetzung alleine schon mit den heuristischen Methodenproblemen annehmen kann, deutet Kant sogleich in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« an: »Gegenwärtige Grundlegung ist […] nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips« der richtigen Beurteilung der Sitten, welche Suche »ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen […] Untersuchung abzusonderndes Geschäft ausmacht«. 11 Jedenfalls dokumentiert mehr als die Hälfte seiner Schrift eine planmäßige Suche nach dem Beurteilungsprinzip. Und noch die ersten sechs Paragraphen der »Kritik der praktischen Vernunft« dokumentieren eine systematisch revidierte und beträchtlich verkürzte Methode der Suche nach diesem Prinzip. Um diese heuristischen Methodenprobleme soll es im Rahmen dieser Erörterung überhaupt nicht gehen. Ich werde mich stattdessen ausschließlich mit den Methodenproblemen beschäftigen, die man sich mit dem Fund einhandelt, der Kant am Ende seiner Suche geglückt war – die man sich also mit dem Kategorischen Imperativ einhandelt. Dabei fällt auf, daß die Problemlasten, die man sich mit dem Entwurf dieses Beurteilungsprinzips einhandelt, in Kants Augen und in den Augen seiner Kritiker ganz unterschiedlich verteilt sind. Kant selber sagt so: »[…] meine Behauptungen über diese wichtige und bisher bei weitem noch nicht zur Genugtuung erörterte Hauptfrage [wegen der Aufsuchung und Festsetzung dieses Beurteilungsprinzips, R. E.] [würden] durch Anwendung desselben Prinzips auf das ganze 11

Kant, Grundlegung, S. 392, Hervorhebungen R. E.

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System viel Licht und durch die Zulänglichkeit, die es allenthalben blicken läßt, große Bestätigung erhalten«. 12 Und er fährt fort: »[…] die Leichtigkeit im Gebrauche und die scheinbare Zulänglichkeit eines Prinzips [gibt] keinen ganz sicheren Beweis von der Richtigkeit desselben ab«. 13 Kant findet also die Problemlasten, die mit der Methode zur Ermittlung des obersten praktischen Beurteilungsprinzips verbunden sind, am wichtigsten und am schwersten; und er findet die Problemlast, die mit der Anwendung dieses Kriteriums auf Musterbeispiele oder sogar auf beliebige Fälle verbunden ist, zwar ebenfalls wichtig, aber doch auch vergleichsweise leicht. Kurz: Er findet die Heuristik wichtig, aber auch schwer, und die Diagnostik wichtig, aber gleichwohl leicht. Ganz anders werden die Gewichte im Kreuzfeuer der Kritik verteilt, dem Kants Metaphysik des praktischen Urteils von Anfang an ausgesetzt gewesen ist. Von Hegel bis zu Bernard Williams sind selbst schärfste und scharfsinnigste Kritiker der diagnostischen Tauglichkeit des obersten praktischen Beurteilungskriteriums gleichwohl seltsam einmütig bereit einzuräumen, daß es sich bei der Ermittlung des Kategorischen Imperativs um eine ingeniöse Leistung der philosophischen Methodik handelt und daß der konzeptionelle Entwurf des Kategorischen Imperativs verdient, als einer der wenigen ganz bedeutsamen Gedanken der philosophischen Ethik bewahrt zu werden. Die Kritik findet also gerade die Heuristik Kants ingeniös und auf großartige Weise erfolgreich; gleichwohl findet sie, daß gerade die diagnostische Tauglichkeit des von Kant herauspräparierten Beurteilungsprinzips fast gleich Null ist. Höchstens im Fall des Musterbeispiels der Lüge scheint sich das Beurteilungskriterium des Kategorischen Imperativs wenigstens in den Augen einiger Kritiker einigermaßen zu bewähren. 14 Es kommt hier nicht darauf an, einen simplen Widerstreit zwischen Kants Selbsteinschätzung und der dominierenden Einschätzung durch die Kritik herauszustreichen. Solch ein Widerstreit gehört zum täglichen Brot philosophischer Autoren. Viel wichtiger ist der Umstand, daß diese Kritik von Hegel bis in unsere Tage auf den Grundlegung, Hervorhebungen R. E. S. 392 f., Hervorhebungen R. E. 14 Vgl. zu diesem Punkt die, trotz aller sonstigen kritischen Vorbehalte, günstige und, wie ich finde, treffliche Beurteilung durch Günther Patzig, Die Begründbarkeit moralischer Normen (11967), wieder abgedr. in: ders., Grundlagen der Ethik, Göttingen 1993 S. 44–71, hier S. 60–68. 12 13

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Lebensnerv von Kants Praktischer Philosophie zielt. Denn Kant wollte nicht bloß eine perfekte Heuristik für einen ethischen Grundgedanken entwerfen, der sich selbst genügt, der also seine Erfüllung schon darin finden würde, daß sein wohldurchdachtes internes formales Gefüge auch vollkommen durchsichtig gemacht wird. Denn ein Beurteilungsprinzip – ob es nun der Kategorische Imperativ ist oder ein Kriterium zur Beurteilung des Erfolgs einer Migräne-Therapie – findet seine Erfüllung nun einmal in nichts anderem als in der Bewährung, die es durch seinen korrekten und erfolgreichen Gebrauch im Feld seiner angestammten Anwendung erfährt. Dabei ist es gleichgültig, ob den Kontext seiner Entdeckung eine philosophische Theorie bildet oder die klinische Forschung. Wenn unter diesen Umständen seit fast zweihundert Jahren die fast einmütige Kritik auf die fast völlige diagnostische Unbrauchbarkeit des Kategorischen Imperativs hinausläuft, dann ist dies wenigstens ein ernstzunehmendes Indiz für die Richtigkeit von Bernard Williams Diagnose, »[…] daß Kants Werk in dieser Hinsicht einen erschütternden Fehlschlag darstellt«. 15

V. Den längsten Schatten in der Geschichte der kritischen Auseinandersetzung mit Kants Praktischer Philosophie wirft Hegels Kritik. In den ersten drei Generationen nach Kant ist er zweifellos der bedeutendste Repräsentant der Kritik. Den Hauptmangel von Kants Praktischer Philosophie sieht Hegel bekanntlich in ihrem Formalismus und ihrer Abstraktheit. Und das Musterbeispiel einer formalistischen und abstraktiven Fehlleistung in der Praktischen Philosophie sieht Hegel in Kants Entwurf des Kategorischen Imperativs. 16 Die erste Aufgabe besteht daher darin herauszufinden, ob sich ein wichtiger Aspekt anführen läßt, unter dem die Formalität und die Abstraktheit eines praktischen Beurteilungsprinzips nicht nur nicht einen wichtigen Mangel, sondern sogar einen systematischen Vorzug abgeben.

Bernard Williams, Sittlichkeit und Gefühl (engl. 1971), in: ders., Probleme des Selbst, Philosophische Aufsätze 1956–1972, Stuttgart 1978, S. 329–365, hier S. 361. 16 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Hgg. E. Moldenhauer und K. Michel, Bd. 3, Phänomenologie des Geistes, S. 316–323, sowie Bd. 7, Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 135 ff. 15

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Ein solcher Aspekt läßt sich nun in der Tat ohne allzu große Mühe anführen. Denn er ist von einem bedeutenden zeitgenössischen Autor der praktischen Philosophie bereits deutlich herausgearbeitet worden. Und zwar gerade von demjenigen Autor, der durch die Breitenwirkung seines Werks wie kaum ein anderer Autor während der vergangenen fünfzig Jahren zur Rehabilitation der Praktischen Philosophie beigetragen hat: John Rawls mit seinem Buch von 1971 »A Theory of Justice«. Es ist kein Zufall, daß man die plausibelste Argumentation zugunsten der Formalität und Abstraktheit praktischer Urteilskriterien gerade in Rawls Werk findet. 17 Denn unter den bedeutenden zeitgenössischen Autoren der Praktischen Philosophie ist Rawls der ausgeprägteste Formalist. Rawls hat die Überlegungen, die den Formalismus in der Praktischen Philosophie plausibel machen können, in außerordentlich suggestiver Weise in der metaphorischen Rede vom »Schleier des Nichtwissens« (veil of ignorance) zusammengefaßt. Damit gibt Rawls zu verstehen, daß der Abstraktionsgrad eines praktischen Urteilsprinzips den Effekt eines Schleiers hat, der durch den Grad seiner Undurchsichtigkeit dafür sorgt, daß sein Benutzer nicht gleichmäßig alle Sachverhalt im Auge haben kann, von denen ihn dieser Schleier trennt. Je abstrakter ein praktisches Beurteilungsprinzip ist, umso dichter fällt der Schleier des Nichtwissens aus, mit dem ein solches Prinzip seinen Benutzer ausstattet. Die Sachverhalte, von denen ein abstraktes praktisches Urteilsprinzip abstrahiert, sind identisch mit den Sachverhalten, die dieses Prinzip für seinen Benutzer mit einem Schleier des Nichtwissens umgibt. Rawls hat nun u. a. überzeugend gezeigt, wie wichtig es ist, diesen Zusammenhang zwischen Abstraktion und Nichtwissen zu beachten, wenn man praktische Urteilsprinzipien zu entwerfen sucht, beispielsweise Kriterien für die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Handlungsweise, einer Person, einer Institution oder eines ganzen Sozialsystems. Ein praktisches Beurteilungsprinzip sollte man immer aus dem Blickwinkel seines Benutzers zu konzipieren suchen. Doch eben dabei muß man sorgfältig darauf achten, daß in den Entwurf eines solchen Urteilsprinzips nicht unvermerkt Elemente Eingang finden, bei denen es sich bloß um mehr oder weniger gut verkappte individuelle Interessen, Neigungen, Wünsche, Vorlieben, Sehnsüchte und andere individuelle Präferenzen seiner potentiellen Benutzer 17

John Rawls, A Theory of Justice, London 1973, sect. 3–4 und 23–25.

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handelt. Denn solche Elemente würden ein praktisches Urteilsprinzip von Anfang an zur Parteilichkeit verurteilen. Da Parteilichkeit aber nicht nur der Feind der Gerechtigkeit ist, sondern aller Trefflichkeit des praktischen Urteils, muß man nach einem Weg trachten, auf dem man einer solchen inhärenten Parteilichkeit praktischer Urteilskriterien so wirksam wie möglich vorbeugt. Diesen Weg bietet nach Rawls die Abstraktion. Die individuellen Präferenzen einer Person sind von ihrer psycho-physischen Verfassung, von ihrer sozialökonomischen Lage, von ihrer bürgerlichen Stellung und von ihrem Bildungsgrad abhängig. Man muß daher die Abstraktion beim Entwurf praktischer Urteilsprinzipien gezielt auf die spezifizierbaren individuellen Situationsmerkmale der Personen anwenden, die von dem erörterten Urteilskriterium sollen Gebrauch machen können. Die Abstraktion ist die beste Freundin der inhärenten Unparteilichkeit praktischer Urteilsprinzipien. Doch bis zu welchem Grad soll oder kann man die Abstraktion in diesem Rahmen treiben? Auf diese Frage liefert nun gerade der Formalismus-Aspekt eine mögliche Antwort. Denn der abstrakteste Grad eines praktischen Urteilsprinzips fällt offenbar mit einem ganz und gar formalistischen Prinzip zusammen. Ein praktisches Urteilsprinzip, das von allen inhaltlichen Bestimmtheiten einer Person, einer Handlungsweise und anderer praktischer Kandidaten seiner Anwendung abstrahiert und ausschließlich formale Anforderungen an die Kandidaten seiner Anwendung stellt, gehört offenbar zu den abstraktesten möglichen Urteilsprinzipien. Wenn die Abstraktion die beste Freundin der inhärenten Unparteilichkeit praktischer Urteilskriterien ist, dann ist der Formalismus ihr bester Freund. Selbstverständlich verwechselt Rawls Unparteilichkeit nicht mit Gerechtigkeit. Unparteilichkeit ist lediglich eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit. Da Unparteilichkeit aber auch eine gemeinsame notwendige Bedingung für die Trefflichkeit aller praktischen Urteile abgibt, ist es überaus wichtig zu beachten, daß der Formalismus einen Schlüssel zur inhärenten Unparteilichkeit jedes praktischen Urteilskriteriums abgibt. In diesem Zusammenhang braucht sich der Kant-Leser nur an einige Standard-Wendungen in Kants Texten zu erinnern, um sogleich zu bemerken, daß die Zielsetzung von Rawls Rechtfertigung des Formalismus in der Praktischen Philosophie aufs trefflichste mit den Intentionen zusammenstimmt, die Kant durch seine beständige 111 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Rede von der »unparteiischen und unbestechlichen Stimme der reinen Vernunft« und vom »Formalismus der reinen Vernunft« andeutet. 18 Der Kategorische Imperativ ist insofern nichts anderes als die wichtigste Formel, durch die sich der Formalismus der reinen Vernunft und gerade wegen dieses Formalismus auch die Unparteilichkeit der reinen Vernunft in einer praktischen Angelegenheit zu Wort melden. Es kann nicht gut bezweifelt werden, daß es Kant selber zumindest nicht in befriedigender Weise gelungen ist, die methodische Rolle des Formalismus in der praktischen Philosophie zu klären. Auch in diesem Punkt hat Rawls einen originellen Beitrag zur philosophischen Behandlung der Methoden praktischer Beurteilungsprobleme entwickelt. Aber gerade im Licht dieses Beitrags erweist es sich als ein überaus wichtiger und durchaus plausibler Schritt, wenn man den Aufbau einer Theorie des praktischen Urteils mit dem Entwurf eines formalistischen Beurteilungskriteriums beginnt. Und eben einen solchen Schritt tut Kant mit dem Entwurf des Kategorischen Imperativs.

VI. Unter diesen Voraussetzungen wird die nächste Frage, zu der Kants oberstes Beurteilungskriterium ohnehin herausfordert, aber umso dringlicher: Welches sind denn nun genau und im einzelnen die formalen Anforderungen, die Kants angeblich so formalistisches Kriterium an die Kandidaten seiner Anwendung stellt? Welches ist denn nun genau und im einzelnen die Form z. B. einer Maxime oder gar ihre logische Form? Diese Frage ist viel wichtiger als es ihre weitgehende Vernachlässigung vermuten lassen kann. Denn der Kategorische Imperativ verlangt von einer Maxime die Tauglichkeit zum Prinzip für eine allgemeine Gesetzgebung, also für ein Verfahren, dessen korrektes Resultat ein praktisches Gesetz ist. Die Klärung dieses Verfahrens hat sich bekanntlich auf den Aspekt der Generalisierung bzw. Universalisierung konzentriert. Die Generalisierung bzw. Universalisierung ist eine wohlbekannte elementare logische Operation, durch die eine Individuenkonstante oder ein indexikalischer Ausdruck durch eine Variable ersetzt wird, die durch einen Allquantor gebunden ist. Im Rahmen dieser Auffassung enthält eine Maxime 18

Kant, Grundlegung, S. 462 f.

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– bzw. ihr sprachlicher Ausdruck – also wenigstens eine Individuenkonstante oder wenigstens einen indexikalisichen Ausdruck. Doch wenn man diesen logischen Punkt des Verfahrens der Gesetzgebung geklärt hat, dann fängt das Verwirrspiel erst richtig an. Denn Kant charakterisiert eine Maxime verschiedentlich auch als Regel. 19 Eine Regel ist aber ein generelles Gebilde. Mit dem Begriff der Regel ist es sogar verträglich, daß sie universell ist. Doch wenn eine Maxime eine universelle Regel ist, dann ist sie insofern einer Universalisierung weder bedürftig noch fähig. Wenn eine Maxime jedoch einer Generalisierung bzw. Universalisierung noch bedürftig ist, so daß sie durch ein Verfahren der Gesetzgebung in ihr gesetzliches Gegenstück umgeformt werden kann, dann kann sie insofern keine Regel sein. Ist eine Maxime nun eine Regel und universell? Oder ist eine Maxime nicht eine Regel, sondern ihrer logischen Quantität nach singulär? Oder ist eine Maxime ein logischer Zwitter und ihrer logischen Quantität nach sowohl universell wie auch singulär? Die Beantwortung dieser scheinbar ganz selbstgenügsamen formallogischen Frage ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Orientiert man sich nämlich an der Gestalt des Kategorischen Imperativs, die Kant im § 7 der Kritik der praktischen Vernunft in der bekannten Fassung »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« ausgearbeitet hat, dann bilden Maximen diejenigen praktischen Attribute einer Person, die den eigentlichen Gegenstand der sittlichen Beurteilung abgeben. Nur durch eine scheinbar ganz selbstgenügsame formallogische Charakterisierung einer Maxime – bzw. ihres sprachlichen Ausdrucks – kann man daher auch hoffen, das genaue Format dieses für die sittliche Urteilsbildung wichtigsten praktischen Attributs einer Person zu klären. Und nur auf der Basis des logisch geklärten Formats dieser praktischen Attribute kann man offenkundig auch einigermaßen zuverlässige Erwägungen über ihre praktische Relevanz für die sittliche Urteilsbildung anstellen. Denn da ihnen der Primat unter den Kandidaten für die sittliche Beurteilung zufällt, scheinen sie sich durch den Grad oder durch die Art ihrer praktischen Relevanz von solchen praktischen Attributen zu unterscheiden, wie es z. B. Willensbestimmungen, Handlungsweisen und Charaktereigenschaften sind. Und schließlich soll im ganzen gezeigt werden, daß die Anwendung des Kategorischen Imperativs den Erfor19

Vgl. Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 225 f.

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dernissen eines Diagnosenschlüssels genügt. In einem solchen Rahmen geben Maximen aber das primäre diagnostische Material ab. Das erste Erfordernis eines solchen Diagnosenschlüssels soll daher durch den Entwurf einer logischen Standardform von Maximen befriedigt werden.

VII. Meine erste These lautet: Ein wesentliches Formelement von Maximen bzw. ihres sprachlichen Ausdrucks bilden ich-Sätze. Dies egologische Formelement taucht nicht nur regelmäßig in Kants Beispielen für Maximen auf. Das Erste Personalpronomen ist auch sowohl ein indexikalischer Ausdruck wie ein Individuenausdruck. Sein indexikalischer Charakter sorgt für die Verflechtung der Maxime mit der konkreten Situation, in der der Inhaber einer Maxime sich sowohl darüber Rechenschaft ablegt, daß er überhaupt irgendeine Maxime hegt, wie auch darüber, welchen Inhalt die von ihm gehegte Maxime hat. Und der Individuencharakter des Ersten Personalpronomens sorgt dafür, daß eine Maxime einer Generalisierung bzw. Universalisierung überhaupt fähig ist. Was nun ihren Inhalt angeht, so zeigen Maximen im Licht von Kants Theorie ein doppeltes Gesicht: sie sind sowohl Handlungsmaximen wie auch Willensmaximen. Damit ist nicht gemeint, daß man zwei real verschiedene Klassen von Maximen auszeichnen könne, sondern bloß, daß jede Maxime sowohl unter dem Aspekt ihrer Handlungskomponente wie auch unter dem Aspekt ihrer Willenskomponente charakterisiert und analysiert werden kann und muß. Die beiden wichtigsten Belege für diese praktische Ambivalenz von Maximen markieren gleichzeitig die beiden Angelpunkte von Kants System der Praktischen Philosophie. Denn die Standardversion des Kategorischen Imperativs aus dem § 7 der »Kritik der praktischen Vernunft« beleuchtet zwar die Willenskomponente der Maximen, indem sie ausdrücklich von der »Maxime deines Willens« spricht. Gleichwohl ist es die Handlungsweise des Inhabers der Willensmaxime, auf die der Imperativ durch den Appell »Handle so, daß … !« direkt zielt. Das Allgemeine Prinzip des Rechts aus dem § C der Einleitung in die Rechtslehre der »Metaphysik der Sitten« beleuchtet dagegen eindeutig und ausschließlich die Handlungskomponente der Maxime, indem hier »Eine jede Handlung […], […] nach deren Ma114 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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xime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinem Gesetze zusammen bestehen kann« thematisiert wird. Aber so eindeutig jede von diesen beiden Beleuchtungen auch ausfällt, so einseitig fällt sie aus. Und widerspruchsfrei und kohärent fallen solche eindeutigen und einseitigen Beleuchtungen der Maximen auch nur dann aus, wenn das praktische Format der Maximen selber entsprechend ambivalent ist. Berücksichtigt man zunächst die Handlungskomponente π* der Maximen, dann kann sie am angemessensten durch egologische Handlungssätze ausgedrückt werden: (i) π* (ich)

ich handle so-und-so.

Im § 1 der »Kritik der praktischen Vernunft« hat Kant eine Nominaldefinition des Maximenbegriffs formuliert und u. a. die definitorische Teilbedingung fixiert, daß eine Maxime eine Willensbestimmung enthalte. Man kann sich im Hinblick auf die formale Charakterisierung von Maximen hier den Umstand zunutze machen, daß Kant bei seiner Rede von einer Willensbestimmung an einer Oberflächengrammatik orientiert ist, in der eine Willensbestimmung stets die Bestimmung des Willens einer Person zu irgendeiner Handlungsweise ist. 20 Wenn jede Maxime eine solche Willenskomponente V und außerdem eine Handlungskomponente enthält, dann kann eine erste Rohform der Maximen so ausgedrückt werden: »Ich will sound-so handeln und ich handle auch so-und-so« oder auch »Ich will, daß ich so-und-so handle, und ich handle auch so-und-so«: (ii) V(ich(π* (ich))) ^ π* (ich). 21 Durch diesen Ansatz bringt man also den Gedanken zum Ausdruck, daß eine Maxime stets sowohl eine praktizierte Willensbestimmung wie auch eine gewollte Handlungsweise ihres Inhabers enthält. Andernfalls könnte eine Maxime auch bereits durch eine simple verbale Willensbekundung ausgedrückt werden, also so, wie es die linke Seite der Konjunktion (ii) schematisiert. Nach (ii) hat ein Individuum aber nicht schon dann eine Maxime, wenn es einen bestimmten Willen hat, sondern erst dann, wenn es einen bestimmten Willen in der so Vgl. z. B. Ak. Bd. VI, Metaphysik der Sitten, S. 213: »[…] [der Wille] kann zu Handlungen bestimmt werden«. 21 Diese Standardisierung der sprachlichen und formalsprachlichen Repräsentation von Willensbestimmungen durch die propositionale Grundform »Ich will, daß p« stimmt mit dem entsprechenden Vorschlag von A. Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963, bes. ch. 11, überein. 20

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bestimmten Weise auch in die Tat umsetzt. Wäre andererseits die Willensbestimmung, also die linke Seite der Konjunktion (ii), nicht ein echter Teil einer Maxime, dann könnte ein Individuum auch schon dann eine Maxime haben, wenn die Handlungsweise, die es sich durch eine egologische Handlungsaussage nach dem Schema (i) zuschreibt, ein Attribut ist, das ihm lediglich im Modus eines Widerfahrnisses zukommt – wie die Bewegungen eines Schlafwandlers, bestimmte Züge der Handlungsweisen von Betrunkenen oder von anderen Personen mit mehr oder weniger stark getrübtem Bewußtsein. Fehlt noch der ominöse Regelcharakter der Maxime! Indessen ist der sachliche Aspekt, unter dem man sogar die Universalität einer Maxime mit Regelstatus plausibel machen kann, jetzt schon leichter verständlich. Man braucht nur zu berücksichtigen, daß jede Handlung irgendwann vollzogen wird und auch eine zeitliche Vollzugsform hat und daß jede Person ihren Willen jeweils irgendwann zu einer Handlungsweise bestimmt. Eine Maxime ist dann unter dem temporalen Aspekt eine Regel und hat insofern die folgende, vorläufige Rohform: »ich will irgendwann, daß ich (dannt) so-und-so handle, und ich handle (dannt) auch so-und-so«, 22 schematisch: (iii)

V(ich,t(π*(ich,t))) ^ π*(ich,t).

Zur Universalität einer Maxime, die Regelstatus hat, ist dann nur noch ein simpler formaler Schritt nötig, nämlich die Universalisierung über den Zeitpunkt t: (iv)

8t[V(ich,t(π*(ich,t))) ^ π*(ich,t)].

Die Universalität einer Maxime besteht also darin, daß der Inhaber einer Maxime den Zusammenhang zwischen einer von seinen Willensbestimmungen und einer von seinen Handlungsweisen auf alle Zeitpunkte bezieht, die ihm praktisch zugänglich sind, also auf seine ganze Lebenszeit. Und in diesem temporalen Sinne, aber auch nur in diesem temporalen Sinne, ist eine Maxime so etwas wie eine Lebensregel. Eine Formalie muß aber offenkundig noch korrigiert werden: Die Konjunktion in den Rohformen (ii)–(iv) einer Maxime legt den Inhaber einer Maxime darauf fest, daß er jederzeit irgendeine Willensbestimmung praktiziert und jederzeit irgendeine HandlungsIch versehe das temporale Dann mit dem üblichen Index »t«, um es vom konditionalen Dann zu unterscheiden.

22

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weise durch seinen Willen bestimmt. Das würde den Anwendungsbereich dieser Maximen-Formel auf Wesen einschränken, die z. B. niemals schlafen oder niemals geistesabwesend sind und niemals inaktiv sind. Man muß nicht ausschließen, daß es solche Wesen gibt oder geben kann. Aber man sollte danach trachten, die Theorie des Kategorischen Imperativs so allgemein zu konzipieren, daß der Maximen-Begriff sowohl auf solche Individuen wie auch auf alle anderen Individuen anwendbar ist, die überhaupt gewollter Handlungsweisen und praktizierter Willensbestimmungen fähig sind. Die logische Standardform der Maximen sieht daher so aus: (v)

8t[V(ich,t(π*(ich,t))) $ π*(ich,t)]

und lautet: Immer (stets, jedesmal) genau dann, wenn ich (dannt) will, daß ich (dannt) so-und-so handle, (dannt) handle ich auch sound-so. 23 Wenn die logische Form der Maximen so weit geklärt ist, dann zeichnen sich alsbald auch die Details ihres praktischen Formats ab. Es ist ja noch eine offene Frage, durch welches Format sich Maximen vor allen anderen praktischen Attributen einer Person wie ihren Charaktereigenschaften, ihren Handlungsweisen oder ihren Willensbestimmungen auszeichnen. Und jedenfalls fällt ihnen im systematischen Rahmen Kants offensichtlich der Primat zu, wenn es um die praktischen Attribute einer Person geht, die vor allen anderen derartigen Attributen fähig, bedürftig und würdig sind, sittlich beurteilt zu werden. Es liegt auf der Hand, daß eine Maxime alleine schon deswegen einen Primat vor anderen praktischen Attributen einer Person hat, weil sie selber aus einer nicht ganz unkomplizierten Verknüpfung solcher Attribute entspringt. Das praktische Format einer Maxime ist wenigstens teilweise ein Resultat aus dieser Verknüpfung von einigen anderen praktischen Attributen: Die Handlungskomponente verleiht ihr offenbar den praktischen Ernst, den eine vom authentiDie Formel (v) soll weder einen empirisch wahren noch einen begriffsanalytischen wahren Satz ausdrücken. Sie ist vielmehr der explizierende Teil einer Explikation der Phrase »Ich habe jetzt die Maxime M«. Sie liefert also das Definiens einer KontextDefinition des Begriffs der Maxime. Der Begriff der Maxime ist ein theoretischer Begriff, bei dem es primär nicht darauf ankommt, ob irgendein Fall seiner empirischen Erfüllung vorkommt oder nicht, sondern darauf, wie fruchtbar er – und das heißt hier zunächst: die Formel (v) – im Entwurf des Diagnosenschlüssels verwendet werden kann.

23

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schen Handeln in einer konkreten Situation distanzierte Willensbestimmung oder Willensbekundung allein ihr niemals mitteilen könnte; und die Willenskomponente verleiht ihr jene Zurechenbarkeit, den ihr eine Handlungsweise im pseudo-praktischen Modus des Widerfahrnisses ebenfalls niemals mitteilen könnte. Und schließlich empfängt eine Maxime ihre praktische Tragweite aus ihrer formalen Eigenschaft, eine Regel für die ganze Lebenszeit der Person zu sein, die eine Maxime hegt. Im Rahmen des Methodenprojekts dieser Untersuchung ist damit auch das erste Stück des Diagnosenschlüssels entworfen, der aus einschlägigen Textpartien der Kantischen Lehre vom Kategorischen Imperativ gewonnen werden soll: das diagnostische Material der sittlichen Beurteilung bilden praktische Attribute einer Person, die Kant terminologisch als Maximen umschreibt und für deren sprachlichen Ausdruck die Standardform (v) entworfen werden kann; und diese Standardform zeigt, daß das praktische Format einer Maxime vom praktischen Ernst einer authentischen Handlungsweise, von deren persönlicher Zurechenbarkeit und von der Tragweite dieses praktischen Ernstes und dieser Zurechenbarkeit für die ganze Lebenszeit des jeweiligen Maximeninhabers abhängt.

VIII. Das zweite Stück eines sittlichen Diagnosenschlüssels ist auch das hauptsächliche Thema der Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ. Die Umformung einer Maxime in ein praktisches Gesetz bildet jedenfalls einen Teil der methodischen Technik, mit deren Hilfe die praktische Beurteilung einer Maxime erreicht werden kann. Die Auseinandersetzung mit dem methodischen und technischen Teil dieser Beurteilungsprozedur wird bekanntlich unter dem Leitwort der Universalisierung geführt. Die logische Standardform (v) einer Maxime führt unübersehbar auch diejenige Komponente einer Maxime vor Augen, die einer Universalisierung sowohl fähig wie auch bedürftig ist, wenn man aus einer Maxime deren gesetzliches Gegenstück zu gewinnen sucht: der egologische Individuenbezug. Es ist daher auch eine ganz banale formale Operation, durch die man eine Maxime restlos universalisiert: (vi)

8t8x[V(x,t(π*(x,t))) $ π*(x,t)],

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im Wortlaut: jederzeit gilt für jede/n x, daß genau dann, wenn x (dannt) will, daß x (dannt) so-und-so handelt, x (dannt) auch so-undso handelt. Diese Formel kann aber auch sogleich zeigen, daß diese Universalisierung alleine gar nicht ausreicht, um eine Maxime in ein praktisches Gesetz umzuformen. Denn ein praktisches Gesetz ist mit einem praktischen Nötigungscharakter verbunden, 24 so daß zur vollständigen Form eines praktischen Gesetzes der deontische Modus der Verpflichtung O gehört: (vii) O{8t8x[V(x,t(π*(x,t))) $ π*(x,t)]}, im Wortlaut: jederzeit und für jedermann soll gelten, daß er genau dann, wenn er (dannt) will, daß er (dannt) so-und-so handelt, (dannt) auch so-und-so handelt. Die logische Gestalt des abstrakten Schemas für die Transformation einer Maxime in ein praktisches Gesetz ist also erst dann vollständig erfaßt, wenn man außer der Universalisierung auch die (verpflichtende) Nomologisierung der Maxime berücksichtigt.

IX. Bei den Beurteilungssproblemen, zu denen konkrete Maximen herausfordern, ist es außerordentlich wichtig, von vornherein darauf zu achten, daß man die banalen und sterilen Teile dieser Probleme von ihren nicht-banalen und nicht-sterilen Teilen scharf unterscheidet. Wie jede Prozedur, die diesen Namen verdient, enthält auch die Prozedur, die der Kategorische Imperativ für die sittliche Beurteilung von Maximen eröffnet, Schritte, die so weitgehend standardisiert werden können, daß es eine Angelegenheit banaler und steriler Routine ist, sie zu absolvieren. Wenn man bereits über das logische Schema der Umformung einer Maxime in ihr gesetzliches Gegenstück verfügt, dann besteht jedoch ein ganz unverächtlicher Vorteil dieses Schemas gerade darin, daß man haargenau die Grenze angeben kann, an der die Banalitäten und Sterilitäten aufhören und ihr Gegenteil anfängt. Das Banale und Sterile liefert man gerade durch die Umformung jeder beliebigen konkreten Maxime in ihr gesetzliches Gegenstück. Man kann sich diese Banalität und Sterilität mit Hilfe eines einfachen, aber 24

Vgl. z. B. Grundlegung, S. 413*.

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auch ganz und gar zulässigen, technischen Kunstgriffs deutlich vor Augen führen. Man braucht zum Musterbeispiel einer konkreten Maxime bloß das abgedroschenste Beispiel aus den Diskussionen um die Anwendung des Kategorischen Imperativs zu wählen – die Lügenmaxime. Es wird sich zwar noch zeigen, daß und inwiefern die Lügenmaxime – und nur sie – trotz ihrer Abgedroschenheit den Schlüssel zur moralischen Systematik aller konkreten Maximen überhaupt abgibt. 25 Aber die Umformung der Lügenmaxime (viii) 8t8x[V(x,t(πL(x,t))) $ πL(x,t)] in das Lügengesetz (ix)

O{8t8x[V(x,t(πL(x,t))) $ πL(x,t)]}

ist angesichts des abstrakten Schemas für eine solche Umformung eine ebenso banale wie sterile Angelegenheit. Das Mittel, mit dem die Banalität und Sterilität dieser Umformung hier sichtbar gemacht wird, besteht indessen ganz einfach darin, daß sich die beiden Formeln (viii) und (ix) für die Lügenmaxime und das Lügengesetz von den abstrakten Formeln für beliebige Maximen und deren gesetzliche Gegenstücke lediglich durch das »L« im Exponenten des Buchstabens »π« für die Handlungsweise des Maximeninhabers unterscheiden. Eine konkrete Maxime und ihr gesetzliches Gegenstück unterscheiden sich von ihren abstrakten Schemata also ausschließlich durch den einen und einzigen konkreten Handlungscharakter, der sittlich beurteilt werden soll. 26 Mit dieser Beurteilung eines konkreten Handlungscharakters hat man aber noch gar nicht wirklich angefangen, solange man eine konkrete Maxime und ihr gesetzliches Gegenstück lediglich formal durchsichtig gemacht hat. Diese formale Durchsichtigkeit bietet zwar die beste Möglichkeit, den konkreten Charakter einer Handlung von allen anderen Komponenten der Maxime zu unterscheiden, zu der dieser Handlungscharakter selber gehört. Gleichwohl gehören solche Umformungen, ihre Resultate und deren didaktische Effekte immer noch lediglich zu den Präliminarien der eigentlichen Beurteilungsprozedur. Verkennt man ihre präliminare

Vgl. unten S. 127 ff. Daß der Kategorische Imperativ ein Beurteilungsprinzip für Handlungscharaktere und nicht für Handlungsklassen ist, bemerken treffend und betonen zu Recht W. D. Ross, Kant’s Ethical Theory, Oxford 1954, S. 31–33, und Günther Patzig, Begründbarkeit, S. 69 f.

25 26

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Rolle und hält diese Umformung bereits für das methodische Kernstück, die Formulierung des gesetzlichen Gegenstücks für das technische Hauptziel des Verfahrens und die formale Durchsichtigkeit der Maxime und ihres gesetzlichen Gegenstücks für den wichtigsten diagnostischen Wert des technischen Ziels dieses Verfahrens – dann handelt man sich gerade jenen ganz und gar irrigen und abwegigen Eindruck von abstrakter Sterilität des Formalismus in der praktischen Philosophie ein, der seit Hegels wirkungsmächtiger Kant-Kritik die Prinzipiendiskussion sittlicher Beurteilungsprobleme dominiert. Doch zu der durch Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ eröffneten Beurteilungsprozedur für die wichtigsten praktischen Attribute einer Person gehören mindestens noch zwei nicht-triviale und nicht-sterile Schritte. Und im Fall der Lügenmaxime sind es auch genau zwei derartige Schritte. Den ersten dieser beiden Schritte hat Kant durch seine Behandlung der Lügenmaxime in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« deutlich genug pointiert: »So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne, denn nach einem solchen Gesetz würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen anderen vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben […] würden«. 27 Man kann die kleine Unachtsamkeit Kants auf sich beruhen lassen, daß er hier den reinen Fall der Lüge mit dem speziellen Fall des lügenhaften Versprechens verquickt, und Kants Überlegung ausschließlich zur formalen Beschreibung der Beurteilungsprozedur für den reinen Fall der Lüge fruchtbar machen. Den wichtigsten formalen Aspekt deutet Kant durch die Bemerkung an, daß »es vergeblich wäre, meinen Willen […] anderen vorzugeben«, nämlich dann, wenn ein Lügengesetz in Kraft ist und allgemein respektiert wird. Durch den Hinweis auf die Vergeblichkeit gibt Kant darüber hinaus unmißverständlich, wenngleich bloß indirekt, zu verstehen, daß es bei der Beurteilung einer Maxime wesentlich darauf ankommt, die Erfolgsbedingungen einer Maxime zu erwägen, genauer: die notwendigen Bedingungen der erfolgreichen Praktizierung einer Maxime. Der nächste wichtige Schritt in der Beurteilungsprozedur führt daher zu einem Resultat, das man als die Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime umschreiben kann:

27

Grundlegung, S. 403.

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(x)

8t9y[πL(ich,t) ! G(y,t(πverid(ich,t)))],

im Wortlaut: Jederzeit gibt es irgendjemand, der dann, wenn ich (dannt) lüge, (dannt) glaubt, daß ich (dannt) wahrhaftig rede. Im selben Atemzug mit der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime hat Kant aber auch das zweite zentrale Element aus dem nicht-trivialen Teil der Beurteilungsprozedur klar genug angedeutet, nämlich durch die Bemerkung, daß unter einem gültigen Lügengesetz, das auch allgemein angewandt wird, »[die] anderen […] [einem] Vorgeben [meines Willens] doch nicht glauben […] würden«. Kant faßt hier also ein Element der Beurteilungsprozedur ins Auge, bei dem es sich ganz allgemein um die folgende prozedurale Bedingung handelt: man muß auf die praktischen Konsequenzen achten, die sich ergeben, wenn das Gesetz, in das eine Maxime transformiert worden ist, gültig ist und allgemein angewendet wird. Im Fall des gültigen und allgemein angewandten Lügengesetzes handelt es sich dann also um die Konsequenz, daß jedermann jederzeit von jedem anderen glaubt, daß er lügt, was immer er auch sagen mag. Kant selber faßt zwar die spezielle praktische Konsequenz ins Auge, daß jedermann jederzeit von jedem anderen auch dann glaubt, daß er lügt, wenn er indessen wahrhaftig redet. Man kann aber zeigen, weswegen es für das prozedurale Verständnis des Kategorischen Imperativs ausschlaggebend ist, daß man im Fall des Lügengesetzes zunächst den dualen Fall ins Auge faßt, also die allgemeine praktische Konsequenz, daß jederzeit jedermann y von jedem anderen x eben auch dann glaubt, daß x lügt, wenn x lügt: 28 (xi)

8t8x8y[πL(x,t) ! G(y,t(πL(x,t)))].

Die Beachtung dieser Konsequenz ist deswegen so wichtig, weil man aus ihr im Handumdrehen den berüchtigten Widerspruch ableiten kann, in den man sich mit der Lügenmaxime angeblich verwickelt, wenn man sie in ein Lügengesetz transformiert. Zunächst braucht man nur zu beachten, daß der Fall, daß jemand y glaubt, daß jemand anders x lügt, aus begrifflichen Gründen den Fall impliziert, daß y nicht glaubt, daß x wahrhaftig redet: (xii) G(y,t(πL(x,t)) ! :G(y,t(πverid(x,t))). Zu dem aus anderen Gründen gleichwohl wichtigen dualen Fall, daß jederzeit jeder y von jedem anderen x auch dann glaubt, x lüge, wenn x wahrhaftig redet, vgl. unten S. 138–139.

28

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Setzt man die rechte Seite von (xii) wegen der durch (xi) und (xii) gegebenen Transitivität von (xiii) πL(x,t) ! :G(y,t(πverid(x,t))) korrekt in (xi) ein, dann erhält man alleine aus formalen Gründen (xiv) 8t8x8y[πL(x,t) ! G(y,t(πverid(x,t)))]. Geht man von hier aus durch sogenannte Instantiierung zu dem Fall über, daß ich es bin, der lügt, erhält man: (xv) 8t:9y[πL(ich,t) ! :G(y,t(πverid(ich,t)))]. Dann darf man die Negation vom Glaubenssatz abziehen und in der korrekten Form so unter den beiden Quantoren unterbringen, daß der einschlägige Allquantor in einen Existenzquantor verwandelt wird: (xvi) 8t:9y[πL(ich,t) ! G(y,t(πverid(ich,t)))]. Dann braucht man diese lokale Negation nur noch korrekt vor den ganzen Satz zu ziehen: 29 (xvii) –{8t9y[πL(ich,t) ! G(y,t(πverid(ich,t)))]}, und man hat die Negation der Erfolgspräsuppositon (x) der Lügenmaxime aus einer allgemeinen praktischen Konsequenz der Gültigkeit und allgemeinen Anwendung des Lügengesetzes (ix) abgeleitet. Und damit hat man mit aller Deutlichkeit und mit aller logischen Korrektheit den Widerspruch zwischen (x) und seiner Negation (xvii) sichtbar gemacht, in den man sich mit der Lügenmaxime verstrickt. Dieser Widerspruch besteht eben zwischen der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime und einer allgemeinen praktischen Konsequenz aus der Gültigkeit und allgemeinen Respektierung ihres gesetzlichen Gegenstücks. Die erste allgemeine These kann daher folgendermaßen lauten: Die Beurteilungsprozedur des Kategorischen Imperativs erfordert in jedem konkreten Fall vier wesentlich voneinander verschiedene Schritte: (1) die Formulierung einer Maxime; (2) die Umformung Zu den elementaren Regeln für die lokale Negation und deren Verflechtung mit den Regeln für die propositionale Negation vgl. Ulrich Blau, Die dreiwertige Logik der Sprache. Ihre Syntax, Semantik und Anwendung in der Sprachanalyse, Berlin/New York 1978, S. 80–82.

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der Maxime in ein Gesetz; (3) die Ermittlung aller relevanten Erfolgspräsuppositionen der Maxime; (4) die Ermittlung aller relevanten allgemeinen praktischen Konsequenzen aus der Gültigkeit und der allgemeinen Respektierung des gesetzlichen Gegenstückes der Maxime. Und damit ist das zweite Erfordernis eines leistungsfähigen Diagnosenschlüssels, die hinreichend genaue Beschreibung der methodischen Technik, erfüllt, mit deren Hilfe die angestrebte Diagnose gewonnen werden kann. Die zweite allgemeine These kann angesichts des Zusammenhanges, der am prozeduralen Leitfaden des Musterbeispiels der Lügenmaxime sichtbar geworden ist, folgendermaßen lauten: Durch das Beurteilungsverfahren des Kategorischen Imperativs soll in jedem konkreten Fall das Bestehen oder das Nichtbestehen eines Widerspruchs zwischen wenigstens einer Erfolgspräsupposition einer Maxime und wenigstens einer allgemeinen praktischen Konsequenz aus der Orientierung der Gemeinschaft des Maximeninhabers an ihrem gesetzlichen Gegenstücks ermittelt werden. Damit ist das dritte Erfordernis eines leistungsfähigen Diagnosenschlüssels, die hinreichend genaue Bestimmung des technischen Ziels der Beurteilungsprozedur, erfüllt.

X. Die Schritte (v) – (xvii) sind u. a. geeignet, den Grad des Formalismus zu veranschaulichen, auf den man sich einlassen muß, wenn man am Leitfaden des Kategorischen Imperativs die begrifflichen, die logischen und die prozeduralen Formen studieren will, in denen sich die reine Vernunft an der sittlichen Beurteilung der wichtigsten praktischen Attribute einer Person beteiligt. Der ermittelte Widerspruch zwischen der charakteristischen Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und ihrer Negation (xvii) bildet zweifellos eine sehr wichtige Zäsur für die Tragweite dieses Formalismus. Es darf aber vorläufig offenbleiben, ob dieser Widerspruch auch schon die äußerste Grenze für diese Tragweite abgibt. Viel wichtiger ist zunächst noch die Beantwortung der Frage nach dem diagnostischen Wert dieses Widerspruchs. Dies vierte Erfordernis eines leistungsfähigen Diagnosenschlüssels geht durch die pure Feststellung eines Widerspruchs ja nicht gleichsam von selbst in Erfüllung. Auch in anderen Kontexten als solchen, an denen praktische Sätze beteiligt sind, gibt das Bestehen 124 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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eines Widerspruchs stets bloß ein Indiz oder Symptom für das Bestehen einer tieferliegenden Fehlleistung ab. Zwar ist die Genese eines Symptoms normalerweise direkt abhängig vom Bestehen der indizierten Fehlleistung. Aber ein Symptom kann so hochgradig unspezifisch für die indizierte Fehlleistung sein, daß man ganz unabhängig von diesem Symptom über ein leistungsfähiges Kriterium verfügen muß, das einem erlaubt, die spezifische Eigenart der indizierten Fehlleistung zu beurteilen. So indiziert ein endogener Schmerz dem Kundigen bekanntlich ziemlich zuverlässig die Leibesregion, in der er mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach einem krankhaften oder krankheitsartigen somatischen Prozeß suchen kann, ohne daß dieser Schmerz den gesuchten Prozeß in seiner Spezifität zuverlässig indizieren würde. Hingegen indiziert z. B. Fieber ziemlich zuverlässig die entzündliche Spezifität eines gleichzeitig ablaufenden somatischen Prozesses, ohne jedoch die Leibesregion zu indizieren, in der er seinen Ursprung nimmt. In diesem doppelten Sinne gibt der Widerspruch zwischen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und ihrer Negation (xvii) allerdings ein hochgradig unspezifisches Symptom ab: Er indiziert nicht nur nicht die sittliche Spezifität des Makels der Person, die Inhaber der geprüften Maxime ist; er erlaubt, genau genommen, noch nicht einmal, diesen Makel eindeutig in der Person des Maximeninhabers zu lokalisieren. Denn der Widerspruch ist eine symmetrische Relation, so daß durch einen Widerspruch ein Schatten gleichmäßig auf beide Seiten dieser Relation fällt. Von sich aus indiziert der Widerspruch zwischen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und ihrer Negation (xvii) daher überhaupt nicht, ob es denn nun die Person des Maximeninhabers oder aber die einem Lügengesetz anbefohlene Gemeinschaft ist, was von einem durch diesen Widerspruch indizierten Makel befallen ist. Und er läßt ebenfalls offen, ob es vielleicht ein primäres Opfer eines solchen Makels gibt, durch das der jeweils andere Kandidat sekundär bloß gleichsam infiziert ist. Erst wenn man die formale Genese dieses Widerspruchs berücksichtigt, fällt ein Licht auf das primäre, eigentlich widerspruchträchtige Element und von da aus dann auch auf das primäre Opfer des indizierten sittlichen Makels. Denn am Anfang der sittlichen Beurteilung einer Person und ihrer Handlungsweise im Lichte des Kategorischen Imperativs stehen nun einmal ausschließlich eine Maxime, die mit ihr konforme Handlungsweise und die Person ihres 125 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Inhabers. Die Person des Maximeninhabers ist daher der ursprüngliche und primäre Kandidat für die sittliche Beurteilung und ihre Maxime das ursprüngliche und primäre diagnostische Material für die Prozedur, mit deren Hilfe diese Beurteilung durchgeführt wird. Allerdings wird noch zu prüfen sein, ob durch das Ergebnis einer gelungenen sittlichen Beurteilung eines Maximeninhabers nicht auch noch in nichttrivialer Weise ein Licht auf die sittliche Verfassung einer Gemeinschaft von Individuen fällt, die das gesetzliche Gegenstück einer Maxime respektieren. Damit vermindert sich der Spezifitätsmangel des Symptoms, das der Widerspruch zwischen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und ihrem Gegenteil (xvii) abgibt, auf einen letzten Rest. Doch gerade dieser letzte Rest bildet die Crux der praktisch-philosophischen Intentionen, die mit dem Entwurf des Kategorischen Imperativs verbunden sind. Denn die restliche Unspezifität besteht gerade in dem Umstand, daß durch diesen Widerspruch allein nicht das geringste Licht auf das spezifisch sittliche Format irgendeiner Maxime oder der Person ihres Inhabers oder der maximen-konformen Handlungsweise fällt. Und durch keine Kunst der Welt kann man aus einem solchen Widerspruch – oder aus seinem Gegenteil – irgendeine Information über ein solches spezifisch sittliches Format gewinnen. Da eine Maxime ein praktischer Satz ist, kann man allenfalls erwägen, daß die Widerspruchsträchtigkeit einer Maxime von irgendeiner praktischen Relevanz für den Inhaber der Maxime ist. Aber niemand kann auf der Basis eines solchen Widerspruchs oder seines Gegenteils allein mit Bestimmtheit beurteilen, von welcher praktischen Relevanz. Ein solcher Widerspruch oder sein Gegenteil ist also im besten Fall das wichtigste logische Symptom für irgendein erst noch zu konkretisierendes sittliches Format der jeweiligen Maxime. Man muß daher ganz unabhängig von der formalen Beurteilungsprozedur des Kategorischen Imperativs über ein selbständiges Kriterium für das sittliche Format von Maximen verfügen, wenn man mit Bestimmtheit beurteilen will, für welches sittliche Format einer Maxime ein Widerspruch das wichtigste logische Symptom ist und für welches sittliche Format einer Maxime das Gegenteil eines Widerspruchs das wichtigste logische Symptom ist. Das fünfte Erfordernis eines leistungsfähigen Diagnosenschlüssels, die hinreichend genaue Bestimmung des diagnostischen Werts dieses Widerspruchs oder seines Gegenteils, ist daher auch nur zur Hälfte erfüllt, wenn man ihnen eine symptomatische Rolle zuschreibt. Denn sie sind unspezifische Sym126 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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ptome. Nur in Verbindung mit einem spezifischen Kriterium des sittlichen Formats einer Maxime können sie ihre indikatorische Rolle ganz und gar befriedigend spielen. Doch bevor sich vorführen läßt, wie dies Kriterium mit Hilfe von Elementen aus dem Rahmen von Kants Ansatz gewonnen werden kann, erscheint es zweckmäßig, die Schlüsselrolle zu erproben, die dem Musterbeispiel der Lügenmaxime im Hinblick auf alle anderen Maximen und deren systematische Ordnung zufällt. Denn wenn sich dies Musterbeispiel in dieser Schlüsselrolle bewährt, dann läßt dies die sachliche und systematische Tragfähigkeit dieses Musterbeispiels zweifellos in einem noch günstigeren Licht erscheinen, als es alleine schon durch die prozeduralen Schritte (viii) – (xvii) geschehen kann, die man an seinem Leitfaden gewinnen kann.

XI. Man kann die Schlüsselrolle der Lügenmaxime am einfachsten sichtbar machen, indem man in der Sprache und im Stil Kants einen hypothetischen Imperativ formuliert, der eine Klasse von Maximen umreißt, die von der Lügenmaxime selber in wohlbestimmter Weise verschieden sind: Handle so, daß du niemals irgendjemand über deine Maxime belügen mußt, wenn deine Handlungsweise gelingen soll! In der Sprache formuliert, die oben bei der prozeduralen Ausarbeitung des Kategorischen Imperativs benutzt worden ist, kann man die Maximen, auf die dieser Imperativ seine Adressaten verpflichtet, offenbar in der Klasse der Maximen zusammenfassen, zu deren Erfolgspräsuppositionen die Lügenmaxime selber gehört. Ein Beispiel für eine derartige Maxime ist etwa die von Kant gerne erörterte Maxime der Veruntreuung eines Depositum: Jemand kann ein Depositum nur dann mit berechtigter Aussicht auf Erfolg veruntreuen wollen, wenn er den Partner dieser Deponierung oder andere Personen, die einen Rechtstitel auf die deponierte Sache beispielsweise auf dem Erbweg noch erwerben können, über seine Veruntreuungsmaxime belügt. Da die Lügenmaxime einen (noch zu bestimmenden) sittlichen Makel hat, für den der ermittelte Widerspruch das wichtigste logische Symptom ist, hat offenbar jede Maxime, zu deren Erfolgspräsuppositionen diese Lügenmaxime selber gehört, auch denselben Makel wie die Lügenmaxime – nur gleichsam in der zweiten, dritten oder einer noch ferneren Generation. Dieser Makel der Lü127 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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genmaxime wird gleichsam vererbt an alle Maximen, zu deren Erfolgspräsuppositionen die Lügenmaxime gehört. Diese Maximenklasse kann ersichtlich in trivialer formaler Weise durch die Klasse der Maximen ergänzt werden, zu deren Erfolgspräsuppositionen die Lügenmaxime nicht gehört. Damit hat man aber erst alle die Maximenklassen entworfen, deren leitenden Gesichtspunkt die Unwahrhaftigkeit abgibt. Die restlichen Maximenklassen kann man aber ohne allzu große Mühe entwerfen, wenn man sich an diesem Gesichtspunkt der Wahrhaftigkeit orientiert. Ich beginne mit einer Maximenklasse, durch deren Beschreibung man unmittelbar Anschluß an Resultate von Kants eigener Arbeit finden kann. In Form eines hypothetischen Imperativs taucht diese Maximenklasse in der folgenden Umschreibung auf: Wenn du im Dienst am Gemeinwohl handeln willst, dann handle nur nach solchen Maximen, über die man der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen muß, wenn die Handlungsweise gelingen soll! Damit ist offenbar die Klasse der Maximen umschrieben, zu deren Erfolgspräsuppositionen die Maxime der öffentlichen Wahrhaftigkeit gehört. 30 Man kann diese Maximenklasse auch als die Klasse der politischen Maximen umschreiben. Ihr politischer Charakter entspricht offensichtlich dem Umstand, daß ihre erfolgreiche Praktizierung deswegen die Maxime der öffentlichen Wahrhaftigkeit zur notwendigen Voraussetzung hat, weil ihr Erfolg eine Anstrengung der versammelten Bürger durch ihre öffentlichen Institutionen verlangt. Der Vollständigkeit halber soll auch noch die letzte MaximenKlasse betrachtet werden, die zu der Systematik gehört, die man am Leitfaden der Aspekte von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit entwerfen kann. In der Form eines hypothetischen Imperativs nimmt sie folgende Gestalt an: Wenn du die soziale Lage anderer Menschen verbessern willst, dann handle nur nach solchen Maximen, über die du einigen oder vielen, aber nicht allen anderen Menschen die Wahrheit sagen mußt und die mit ihrer Publizität jedenfalls verträglich ist, ohne ihrer doch zu bedürfen, wenn deine Handlungsweise gelingen soll! Dies ist die Klasse der Maximen, zu deren Erfolgspräsuppositionen die Maxime der kommunikativen Wahrhaftigkeit gehört. Ich umschreibe sie als die Klasse der sozialen Maximen. Und ihr sozialer Dies ist nichts anderes als die imperativische Fassung des spezifisch politischen Teils der »positiven transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts«, in: Ak. Bd. VIII, Zum ewigen Frieden, S. 386.

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Charakter entspringt offenbar dem Umstand, daß ihr Erfolg deswegen die Maxime der kommunikativen Wahrhaftigkeit zur Voraussetzung hat, weil ihr Erfolg eine gemeinsame Anstrengung einiger oder vieler Menschen verlangt, ohne jedoch unbedingt einer Anstrengung der versammelten Bürger durch ihre öffentlichen Institutionen zu bedürfen. Dieser grobe Umriß einer Maximen-Systematik kann nun aber zeigen, daß sich die musterhafte Lügen-Diagnostik gar nicht nur als dies Musterbeispiel zu einer Orientierung über das Leitprinzip für die interne Ordnung dieser Maximenklassen eignet. Denn die Lügenmaxime ist selber eine Gestalt der Unwahrhaftigkeit und der Inhaber der Lügenmaxime hat in der praktischen Alternative zwischen Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit einseitig zugunsten der Unwahrhaftigkeit optiert. Es ist daher diese Alternative, die das Leitprinzip abgibt, mit dessen Hilfe man das systematische Gefüge der Maximenklassen überblicken kann, die man mit seiner Hilfe entwerfen kann. 31

XII. Den besten Leitfaden für eine konkrete Bestimmung der Sittlichkeit geben Kants Reflexionen auf ein Element praktischer Sätze ab, das bisher im toten Winkel der Überlegungen geblieben ist – die deontischen Modalitäten und die Adressaten praktischer Sätze. Jeder weiß, daß Kants Augenmerk vorzugsweise auf die Modalität der Verpflichtung gerichtet war. Aber Kant studiert die deontischen Modalitäten weder ausschließlich noch primär, um die syntaktischen Formen oder die semantischen Erfüllungsbedingungen praktischer Sätze zu durchschauen. Zwar tut er dies gelegentlich und ganz am Rande auch einmal. Und wenn er es tut, dann tut er es auf eine ganz und gar intuitiv anmutende Weise und jedenfalls ohne alle schulförmige methodische Disziplin. So spricht er beispielsweise in der »Kritik der reinen Ver-

Kant selber hat gelegentlich erwogen, diesen Aspekt für die Systematisierung der Maximen fruchtbar zu machen: »Moralitaet aus dem principio der Einheit. Aus dem princip der wahrheit. Daß man sein [subjektives, R. E.] principium [also seine Maxime, R. E.], was man öffentlich bekennen darf, befolgt, was also vor jedermann gilt«, Ak. Bd. XIX, R. 7204, S. 284.

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nunft« davon, daß »das Sollen auf das Handeln gehe«, 32 und zielt also ganz allgemein auf den Sachverhalt, daß der korrekte Anwendungsbereich für deontische Modaloperatoren von Sätzen gebildet wird, deren charakteristische Referenzobjekte Handlungen sind. Solche Reflexionen sind über Kants ganzes Werk verstreut. Die Reflexionen indessen, die zu einer konkreten Bestimmung der Sittlichkeit führen können, stellt Kant in einer ganz anderen methodischen Einstellung an als der Logiker. Gleichwohl hat diese methodische Einstellung auch so etwas wie einen klassischen Zuschnitt. Sie findet sich in Reinkultur und wenigstens in programmatischer Weise ausgeprägt am Anfang von Aristoteles’ Schrift »De interpretatione«. Aristoteles erörtert und analysiert in dieser Schrift u. a. solche logischen Aussageformen wie die Universalität und die Negativität. Mit dieser Perspektive sagt Aristoteles im programmatischen Anfangsteil seiner Schrift von den Aussagen und ihren Teilen, daß sie symbolische Zeichen der Widerfahrnisse in der Seele seien – τῶν ἐν τῇ ψυχῇ παθημάτων σύμβολα. 33 In dieser methodischen Einstellung erörtert Kant gelegentlich die sprachlichen Ausdrücke und die grammatischen Ausdrucksformen der deontischen Modalitäten. Er fragt hier also, für welche tieferliegenden Sachverhalte, also – um den Aspekt des Aristoteles zu berücksichtigen – für welche seelischen Sachverhalte sie Symbole sein können. Solche Erörterungen hat Kant immer wieder vor allem im Hinblick auf die Modalität der Verpflichtung angestellt. Im Vordergrund steht dabei die grammatische Form bzw. der performative Modus des Imperativs. Und für seine Antwort hat sich Kant spätestens seit der »Kritik der praktischen Vernunft« eine Standardphrase zurechtgelegt. Diese Standardphrase ist ebenso extrem unscheinbar wie sie wichtig ist. Denn sie signalisiert nicht mehr und nicht weniger als einen systematischen Knotenpunkt zwischen theoretischer Philosophie und praktischer Philosophie bzw. auch zwischen Theorie und Praxis bzw. auch zwischen Logik und Ethik. 34 Kant gibt hier ganz allgemein zu verstehen, daß die imperativische Form bzw. der obligatorische Modus eines Satzes ein Symptom oder ein Indiz dafür sei, daß ihre Adressaten Wesen sind, die »nicht

32 33 34

KrV A 547, B 575-A 548, B 576. Aristoteles, De interpretatione 16a3–4. Vgl. unten S. 134–36.

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von selbst« das tun oder wollen, was ihnen in der Form von Imperativen oder anderen verpflichtenden Sätzen aufgegeben wird. 35 Mit Hilfe der Standardphrase »nicht von selbst« behauptet Kant einen Mangel an praktischer Spontaneität. Das ist natürlich deswegen so wichtig, weil auch das oberste Kriterium für die richtige Beurteilung der Sitten die Form eines Imperativs hat – eben die Form eines Kategorischen Imperativs. Durch den performativen Modus des Kategorischen Imperativs ist also angezeigt, daß sein Adressat ein Wesen ist, das seine Handlungsweisen und seine Willensbestimmungen, also seine Maximen, nicht spontan so gestaltet, daß sie widerspruchsfrei zu einem Gesetz gemacht werden können, dem die Adressaten des Kategorischen Imperativs anbefohlen sind. 36 Gewiß handelt es sich bei diesem Mangel an praktischer Spontaneität nicht um eine Tatsache, die erst von Kant entdeckt worden wäre und das vielleicht sogar mit Mitteln einer hochkomplizierten philosophischen Reflexion. Vielmehr gehört dieser Mangel an praktischer Spontaneität zu den banalsten Tatsachen der alltäglichen praktischen Erfahrung. Aus der praktischen Erfahrung dieser banalen Tatsache entspringt denn ja auch seit unvordenklichen Zeiten die pädagogische Einstellung der Menschen. Kant selber orientiert sich daher auch mit Selbstverständlichkeit an dieser Allerweltserfahrung, wenn er seine Pädagogik-Vorlesung mit solchen Sentenzen eröffnet wie »Der Mensch ist das einzige Wesen, das erzogen werden muß«, »Der Vgl. vor allem Ak. Bd. V, KpV, S. 76, und Bd. VI, MdS, S. 214 f., 221 f. Kants unscheinbare Akzentuierungen eines Spontaneitätsmangels bilden das Ergebnis einer ebenso unscheinbaren Selbstkorrektur, deren sachliche Tragweite aber schwerlich überschätzt werden kann. Durch diese Selbstkorrektur hat Kant einer Überwindung der sterilen Alternative von Pflicht und Neigung einen Weg gewiesen. Der Keim für diese Überwindung ist spätestens in der »Kritik der praktischen Vernunft« ausgebildet. Kants Überlegungen im Licht der Alternative von Pflicht und Neigung werden hier offensichtlich von einer Orientierung am Aspekt des Spontaneitätsmangels durchkreuzt. Während er den Mangel an Neigung zu moralisch gebotenen Handlungsweisen in der Regel durch Phrasen wie »nicht gerne« oder »ungerne« umschreibt, vgl. Ak. Bd. V, z. B. S. 143, 143, 149, umschreibt er eine solche Handlungsweise wenigstens einmal auch als eine »nicht von uns selbst schon beliebte« (S. 145). Die Verflechtung der beiden Aspekte ist unübersehbar. Erst in der »Metaphysik der Sitten« ist die trennscharfe Konzentration auf den Aspekt des Spontaneitätsmangels gelungen. Und erst damit ist ihm das strikte systematische Komplement zu jener Konzeption praktischer Spontaneität gelungen, die in der »Kritik der reinen Vernunft« mit Hilfe der Spontaneitätsphrase »von selbst« formuliert wird, vgl. KrV A 449, B 177 f., A 533, B 561 f., A 541, B 569 f., A 555, B 583 f. Der Aspekt des Spontaneitätsmangels wird hier zu einem der Brennpunkte der Betrachtung gemacht.

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Mensch ist nur durch die Erziehung ein Mensch« oder »Der Mensch ist alles, was er ist, nur durch Erziehung«. 37 Es geht daher in unserem Zusammenhang auch gar nicht so sehr um den Informationsgrad von Kants Aussagen über einen Mangel an praktischer Spontaneität und auch nicht um die Erklärungskraft, die diese Aussagen für solche Tatsachen wie die Erziehungsbedürftigkeit der Menschen mitbringen. Es kommt vielmehr ausschließlich auf den systematischen Stellenwert an, der diesen Aussagen im ganzen Zusammenhang seines philosophischen Entwurfs zufällt. Dieser Stellenwert ist durch zwei systematische Aspekte bestimmt. Der eine Aspekt öffnet die Augen dafür, daß sich die Symptome eines Mangels an praktischer Spontaneität nicht nur in der praktischen Allerweltserfahrung zeigen, sondern auch am ›höchsten Punkt‹ der praktischen Philosophie, also in der grammatischen Form und in dem performativen Modus, in denen das abstrakteste und formalste praktische Beurteilungskriterium zur Sprache kommt. Die Reflexion auf die symptomatische Rolle der imperativischen Form des obersten praktischen Beurteilungskriteriums wird also zu einer genuinen Quelle für eine ganz besondere praktische Einsicht, eben für die Einsicht in einen spezifischen Mangel an praktischer Spontaneität. Diese Einsicht ist aber aus zwei Gründen von besonderer Tragweite. Zum einen erlaubt sie eine triviale Verallgemeinerung zu der allgemeinen These, daß alle Adressaten dieses Imperativs von derselben mangelhaften praktischen Spontaneität sind. Zum anderen vermittelt gerade diese allgemeine These eine erste konkrete Orientierung über die zentrale Bedingung, von der die Tauglichkeit einer Maxime abhängt, jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu gelten. Denn aus dem Verfahren dieser Gesetzgebung gehen nun einmal Gesetze hervor, in deren Gültigkeits- und Anwendungsbereich gerade die Adressaten des Kategorischen Imperativ gehören – also Wesen mit einem spezifischen Mangel an praktischer Spontaneität. Offensichtlich hängt die Gesetzestauglichkeit einer Maxime daher von der Bedingung ab, daß sie selber ebenso wie ihr gesetzliches Gegenstück damit verträglich ist, daß der Inhaber dieser Maxime ebenso wie die Wesen aus dem Gültigkeits- und Anwendungsbereich ihres gesetzlichen Gegenstücks den wechselseiten Respekt für ihren gemeinsamen Mangel an praktischer Spontaneität jederzeit auch aktiv üben können. Eine Maxime 37

Vgl. Ak. Bd. IX, S. 441 ff.

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und ihr gesetzliches Gegenstück stehen insofern unter der Bedingung, daß sie unverträglich damit sind, daß der Maximeninhaber oder irgendein Wesen aus dem Gültigkeits- und Anwendungsbereich des gesetzlichen Gegenstücks der Maxime irgendeinem (anderen) Wesen aus diesem Bereich diesen aktiven Respekt versagt und es wie ein Wesen von perfekter praktischer Spontaneität behandelt – also wie einen Heiligen. Der Heilige ist bei Kant nicht zufällig die prototypische Gestalt der perfekten praktischen Spontaneität, also das Wesen, das alles ganz und gar von selbst so tut, wie es Wesen mit mangelhafter praktischer Spontaneität auch im günstigsten Fall nur im Bannkreis von Imperativen tun. 38 Wenn die Angehörigen einer Gemeinschaft mit allem, was sie tun und lassen, einander im aktiven Respekt für eine gemeinsame Disposition verbunden sind, dann sagen wir von ihnen, daß sie solidarisch sind: 1. Zur Solidarität der Adressaten des Kategorischen Imperativs gehört der wechselseitige tätige Respekt für ihren gemeinsamen Mangel an praktischer Spontaneität, also stets von selbst so zu handeln, wie es ihnen im Licht des Kategorischen Imperativs aufgegeben ist; 2. diese Solidarität ist die zentrale Bedingung für die Gesetzestauglichkeit einer Maxime, also für Ihre Tauglichkeit, als Prinzip einer praktischen Gesetzgebung für alle genuinen Adressaten des Kategorischen Imperativs zu fungieren; 3. diese Solidarität ist das Kriterium für das sittliche Format einer Maxime: eine Maxime, die diese Solidarität mißachtet, ist sittlich tadelhaft; eine Maxime, die sie achtet, ist sittlich tadellos; 4. diese Solidarität bildet den Kern der Sittlichkeit.

XIII. Diese Thesen sollen hier nicht einfach entwickelt und vorgetragen werden, ohne sie einer Bewährungsprobe für ihre Tragfähigkeit und Zu dieser Gestalt des Heiligen vgl. Ak. Bd. V, Kritik der praktischen Vernunft, z. B. S. 32 ff., 57 ff., 116 ff., sowie Bd. VI, Metaphysik der Sitten, S. 396 f.

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Tragweite auszusetzen. Die wichtigste Bewährungsprobe für die Thesen über die Solidarität der Adressaten des Kategorischen Imperativs geht vom einfachsten Muster einer Unwahrhaftigkeit aus – also von der Lügenmaxime. Dies Musterbeispiel hat sich als Leitfaden für die prozedurale Ausarbeitung des Kategorischen Imperativs bewährt und es hat sich als Orientierungshilfe für die Bestimmung der systematischen Zusammengehörigkeit aller möglichen Maximenklassen bewährt. Das systematische Gewicht, das diesem Musterbeispiel durch diese wichtigen Bewährungsproben zuwächst, rechtfertigt daher die Erwartung, daß es auch für andere derartige Bewährungsproben ein aussichtsreicher Kandidat ist. Wie also besteht die Lügenmaxime die Probe auf die Frage nach ihrem sittlichen Format, wenn der Inhaber der Lügenmaxime zu den Adressaten des Kategorischen Imperativs gehört? Mit der Leitfrage dieser Bewährungsprobe erkundigt man sich offenbar nach dem Gesichtspunkt, unter dem die Lügenmaxime unverträglich ist mit der Solidarität der genuinen Adressaten des Kategorischen Imperativs. Man kommt diesem Gesichtspunkt am besten auf die Spur, wenn man ganz naiv und ganz gezielt zwei Fragen stellt: 1. Was macht es eigentlich zu einer grundsätzlich so tadelhaften Angelegenheit, daß der Adressat einer Lüge oder allgemein der passive Partner einer Unwahrhaftigkeit von seinem aktiven Partner in unwahrhaftiger Weise behandelt wird? 2. Was müßte eigentlich der Fall sein, so daß aktive Unwahrhaftigkeit nicht eine grundsätzlich tadelhafte, sondern eine harmlose und belanglose Angelegenheit wäre. Die Antwort lautet offensichtlich: Wenn sich der passive Partner einer Unwahrhaftigkeit entweder jederzeit oder ohne Zeitverlust oder nach Belieben oder nach Bedarf ganz alleine durch sich selbst über jede beliebige oder auch nur über jede für ihn wissenswerte Tatsache informieren kann, dann ist seine unwahrhaftige Behandlung durch seinen aktiven Partner weder eine heikle noch eine schlimme, sondern eine harmlose und belanglose Angelegenheit. Damit ist der Gesichtspunkt auch schon weitgehend genug bestimmt, unter dem das sittliche Format der Lügenmaxime beurteilt werden kann. Es handelt sich nämlich offensichtlich um einen erkenntnistheoretischen Gesichtsunkt. Denn die sittliche Beurteilung der Lügenmaxime hängt offenbar auch davon ab, welchen Perfektionsgrad die epistemischen Fähigkeiten des passiven Partners einer Unwahrhaftigkeit haben, seine Fähigkeiten nämlich, sachgerechte Informationen über die Tatsachen jederzeit selbst, aus eigener Kraft zu 134 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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gewinnen, über die ihn sein aktiver Partner zu täuschen versucht. Man kann das Optimum dieser Fähigkeiten der Kürze halber als die perfekte epistemische Spontaneität umschreiben. Perfekte epistemische Spontaneität liegt offenbar dann vor, wenn jemand sich jederzeit sowie ohne Zeitverlust und ohne Anstrengung und nach Belieben oder nach Bedarf ganz alleine durch sich selbst über jede beliebige oder über jede für ihn wissenswerte Tatsache informieren kann. Diese perfekte epistemische Gestalt wird von Kant bekanntlich an einer zentralen Stelle seiner Logik und Erkenntnistheorie in der symholischen Gestalt des intellectus archetypus oder originarius eingeführt. 39 Denn Kant möchte seiner Logik und Erkenntnistheorie geradezu planmäßig zur Klärung der Grenze beitragen, an der die epistemische Spontaneität von Wesen endet, wie die Menschen welche sind. Man kann zweifellos ernsthaft darüber streiten, wie eng und wie weit man den Kreis ziehen muß oder kann, in dem eine spontane epistemische Kompetenz zuständig ist. Kants eigene Antwort ist bekannt. Die epistemische Spontaneität ist auf zwei formale Fähigkeiten eingeschränkt: auf die Fähigkeit, die logischen Formen von Urteilen zu gestalten, und auf die Fähigkeit, die Formen zu gestalten, in denen man mit Hilfe von solchen Urteilen so auf Gegenstände Bezug nehmen kann, daß diese Urteile durch diese Formen der Gegenstandsbeziehung tauglich werden, wahr oder falsch zu sein. In der Sprache der Logik unserer Tage ausgedrückt: Spontan ist die syntaktische Gestaltung der Urteile und spontan ist die formale Gestaltung der Objekt-Referenz der Urteile. Man kann ebenfalls ernsthaft darüber streiten, ob Kant den Zuständigkeitsbereich der epistemischen Spontaneität damit schon zu eng oder noch zu weit eingegrenzt hat. Aber man kann nicht ernsthaft darüber streiten, daß Kant diesen Zuständigkeitsbereich jedenfalls eng genug eingegrenzt hat, um mit seiner Theorie dem banalen Umstand gerecht werden zu können, daß die Menschen nun einmal zu den Wesen mit einer mangelhaften epistemischen Spontaneität gehören. Denn es ist dieser Mangel an epistemischer Spontaneität, aus dem man auch mit Kants Mitteln erklären kann, weswegen Wesen wie die Menschen auf Erfahrung angewiesen sind. Denn weder durch die syntaktische Wohlordnung eines Urteils noch durch die kategoriale Form der Objekt-Referenz eines Urteils ist bestimmt, welche Tatsachen es in der Welt der raumzeitlichen Erscheinungen gibt und welche nicht. Dazu benötigt man eine Erfah39

Vgl. KrV, bes. B 71 f., 135 f., 138 f., 145 f.

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rung, wie sie den Menschen schrittweise durch gelungene Wahrnehmungs- und durch gelungene wahrnehmungsbasierte Erfahrungsurteile zuteil wird. Zur Erfahrung gehört der entsprechend endlose Prozeß der mühseligen Arbeit an einer schrittweisen erfolgreichen empirischen Kompensation eines Mangels an epistemischer Spontaneität. 40

XIV. Es ist nun dieser Mangel an epistemischer Spontaneität, dem im Einzugsbereich des Kategorischen Imperativs eine praktische Tragweite zuwächst, sobald es um das sittliche Format speziell der Lügenmaxime geht. Das wichtigste Symptom für diese Tragweite bestand zunächst nur in dem Widerspruch zwischen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und ihrem Gegenteil (xvii). Nunmehr zeichnet sich aber konkreter ab, wofür dieser Widerspruch eigentlich das wichtigste logische Symptom abgibt – für die Unverträglichkeit sowohl der Lügenmaxime wie des Lügengesetzes mit der Solidarität der genuinen Adressaten des Kategorischen Imperativs, also mit ihrem wechselseitigen tätigen Respekt für ihren gemeinsamen Mangel an praktischer Spontaneität, stets von selbst so zu handeln, daß ihre Handlungsweisen unzweideutig Zeugnis dafür ablegen, daß und wie sie dem Kategorischen Imperativ in tätiger Weise Gehör schenken. Der epistemische Spontaneitätsmangel findet im Diagnosenschlüssel des Kategorischen Imperativs zwei Kristallisationskerne. Den ersten bildet die Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime. Denn diese Präsupposition besteht ja nicht nur einfach in der unspezifischen Unterstellung, daß es jederzeit irgendjemand gibt, der vom Lügner irrtümlich glaubt, daß er wahrhaftig rede. Sie ist vielmehr unmittelbar mit einer spezifisch epistemisichen Komponente verbunden. Denn wer von einem Lügner irrigerweise glaubt, daß er wahrhaftig rede, hat offenbar auch nicht die epistemische Perfektion, sich jederzeit nach Belieben oder nach Bedarf gezielt wenigstens über die Tatsache zu informieren, über die ihn ein Lügner zu täuschen versucht.

[Vgl. hierzu neuerdings vom Verf., Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil, Göttingen 2015, bes. Einleitung, S. 9–102.]

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Die Erfolgspräsupposition eines Lügners zielt also nicht bloß auf einen faktischen Irrglauben des Adressaten. Sie zielt darüber hinaus auf dessen dispositionellen epistemischen Spontaneitätsmangel. Dieser ist ebenso notwendig für den Erfolg des Lügners wie der episodische oder chronische Irrglaube seines Adressaten. Denn es ist dieser dispositionelle epistemische Spontaneitätsmangel seines Adressaten, auf den es letzten Endes zurückgeführt werden muß, wenn es diesem nicht gelingt, sich dem vom Lügner provozierten Irrglauben zu entwinden. Seinen zweiten Kristallisationspunkt findet dieser epistemische Spontaneitätsmangel unter den praktischen Konsequenzen aus der allgemeinen Respektierung des Lügengesetzes. Doch nicht alle diese Konsequenzen sind gleichmäßig gut geeignet, die Tragweite dieses speziellen Spontaneitätsmangels sichtbar werden zu lassen. Man muß die tauglichsten unter ihnen erst ausfindig machen. Dazu ist ein Umweg nötig. Die Beurteilungsprozedur des Kategorischen Imperativs sorgt u. a. auch dafür, daß sich der Inhaber einer Maxime selber allen praktischen Konsequenzen ausgesetzt sieht, die die allgemeine Respektierung ihres gesetzlichen Gegenstücks für die ihm anbefohlenen Akteure mit sich bringt. Denn z. B. bei dem harmlos scheinenden formal-technischen Schritt von (xiv) nach (xv), der eine egologische Instantiierung von (xiv) – und daher von (xi) durch (xv) – liefert, handelt es sich in Wahrheit um den prozeduralen Akt, durch den sich der Inhaber der Lügenmaxime mit einem von den Opfern x der allgemeinen praktischen Konsequenz (xi) aus der allgemeinen Respektierung des Lügengesetzes (ix) identifiziert. Und bei dieser Identifikation handelt es sich offensichtlich wiederum um einen Akt, wie er dem Maximeninhaber durch jene Beurteilungsregel abverlangt wird, die in der »Kritik der praktischen Vernunft« die sogenannte Typik der reinen praktischen Urteilskraft ausmacht und vom Maximeninhaber fordert, sich mit einem Teil einer unter Gesetzen stehenden Natur zu identifizieren. Solche Identifikationen haben also die formal-technische Gestalt von egologischen Instantierungen allgemeiner praktischer Konsequenzen aus der allgemeinen Respektierung des gesetzlichen Gegenstücks einer Maxime. Was durch die Formeln (xi) – (xv) bzw. (xvii) allerdings noch im Zwielicht belassen wird, ist der Opfercharakter der Rolle, in der sich der Inhaber der Lügenmaxime wiederfindet, wenn er sich mit einem Lügner aus der das Lügengesetz respektierenden Kommunikations137 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

und Interaktionsgemeinschaft identifiziert. Man muß hier natürlich von demjenigen inzwischen evidenten Opfercharakter dieser Rolle abstrahieren, der sich daraus ergibt, daß dem Inhaber der Lügenmaxime in dieser Rolle die Nichterfüllung der Erfolgspräsupposition (x) seiner Maxime widerfährt. Denn wie (xvii) zeigt, bedeutet (xv) eben auch, daß es im Horizont des Lügengesetzes niemand gibt, der einen Lügner für wahrhaftig hielte. Aber die Perspektive des Lügners wäre nicht nur einseitig. Sie ist auch ganz und gar nicht maßgeblich für die Entscheidung der Alternative, ob in irgendeiner Rolle ein echtes Opfer erbracht wird oder nicht. Diese Perspektive soll ja vielmehr selber erst nach der Maßgabe des Kategorischen Imperativs und der mit ihm verbundenen Prüfungsprozedur beurteilt werden. Doch die allgemeinen praktischen Konsequenzen aus der allgemeinen Respektierung des Lügengesetzes durch eine Kommunikatons- und Interaktionsgemeinschaft sind bis jetzt ohnehin, und zwar aus methodischen Gründen, absichtlich ganz einseitig berücksichtigt worden, eben in Gestalt der Konsequenz (xi), daß jederzeit jedermann von jedem anderen glaubt, daß er lüge, wenn er lügt. 41 Es war aber von vornherein der Sache nach klar, daß die andere allgemeine praktische Konsequenz darin besteht, daß jederzeit jedermann von jedem anderen auch dann glaubt, daß er lüge, wenn er wahrhaftig redet: (xviii) 8t8x8y[πverid(x,t) ! G(y,t(πL(x,t)))]. Doch diese Konsequenz wirft auch ein erstes neues Licht auf den Opfercharakter der Rolle, in der sich der Inhaber der Lügenmaxime wiederfindet, wenn er sich mit einem von den Wesen x identifiziert, die in diese andere Konsequenz verstrickt sind (xix)

8t8y[πverid(ich,t) ! G(y,t(πL(ich,t)))],

wörtlich: Jederzeit glaubt jedermann dann, wenn ich wahrhaftig rede, daß ich lüge. Der Opfercharakter dieser Rolle wird also, wie es sich jetzt abzeichnet, erst dann ganz deutlich, wenn man diese Rolle im ganzen Zusammenhang aller praktischen Konsequenzen beleuchtet, die die allgemeine Respektierung des Lügengesetzes durch eine Kommunikationsgemeinschaft für deren Mitglieder nach sich zieht. Denn die praktischen Konsequenzen (xviii) und (xix) ergeben sich ja aus der Orientierung an demselben Lügengesetz (ix) wie die Konsequenzen (xi) und (xvii). Ein vollständiges und auch logisch einheitliches Bild 41

Vgl. oben S. 122 f.

138 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

von diesen Konsequenzen vermittelt daher erst die universelle Formel (xx) 8t8x8y[πverid(x,t) _ πL(x,t) ! G(y,t(πL(x,t)))] die besagt, daß jederzeit jede/r y von jeder/m anderen x glaubt, daß x lüge, ganz gleichgültig, ob x wahrhaftig redet oder lügt, sowie die egologische Instantiierung von (xx) in Gestalt von (xxi) 8t8y[πverid(ich,t) _ πL(ich,t) ! G(y,t(πL(ich,t)))]. Der Opfercharakter der Rolle, in der sich der Inhaber der Lügenmaxime durch seine Identifikationen (xv) und (xix) bzw. (xxi) wiederfindet, entspringt im Horizont des Lügengesetzes also aus dem allgemeinen wechselseitigen Mißtrauen, das im Sinne der Formel (xx) jedes Mitglied y einer dem Lügengesetz anbefohlenen Kommunikationsgemeinschaft gegen jeden Kommunikationspartner x aus dieser Gemeinschaft ganz unabhängig davon hegt, ob x wahrhaftig redet oder lügt. Der Inhaber der Lügenmaxime findet sich durch seine Identifikationen insofern also als ein Opfer kollektiven wechselseitigen Mißtrauens wieder. Damit ist die Sicht auf den zweiten Kristallisationskern für den epistemischen Spontaneitätsmangel frei. Denn es zeichnet sich ab, daß im Horizont des Lügengesetzes (ix) nicht ganz unkomplizierte Charaktermuster und Rollenverteilungen auftauchen. In seinem Horizont greift ja nicht nur einfach kollektives Mißtrauen um sich. Vielmehr ist mit den praktischen Konsequenzen (xi) und (xvii) sowie (xxviii) und (xix) bzw. (xx) und (xxi) aus der Respektierung des Lügengesetzes in einer Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft sowohl ein ganz bestimmtes Charaktermuster wie auch eine ganz bestimmte Rollenverteilung fest verwoben: Jede/r Urheber/in einer Aussage nimmt im Rahmen seiner Aussage entweder den Charakter des Lügners oder aber den Charakter des Wahrhaftigen an; gleichwohl widerfährt es im Schatten kollektiven Mißtrauens sowohl jedem Wahrhaftigen wie jedem Lügner, daß er/sie im Horizont des mißtrauischen Glaubens jedes Kommunikationspartners in die Rolle eines Lügners gerät. Der zweite Kristallisationskern des epistemischen Spontaneitätstmangels wird auf dieser Linie jetzt deswegen besser sichtbar, weil es jetzt auf der Hand liegt, daß die in der Formel (xx) zusammengefaßten allgemeinen praktischen Konsequenzen (xi) und (xviii) aus der Respektierung des Lügengesetzes in einer Kommunikations- und In139 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

teraktionsgemeinschaft 1. noch mit einem anderen Charaktermuster und mit einer anderen Rollenverteilung verbunden sind sowie 2. überhaupt völlig offen lassen, welches indviduelle Mitglied dieser Gemeinschaft welchen Charakter annimmt und in welche Rolle gerät. Damit ist aber selbstverständlich auch der ursprüngliche Inhaber der Lügenmaxime ein tauglicher Kandidat für diese anderen Charaktere und Rollen. Die Identifikationen, die dieser Kandidat in Gestalt der beiden egologischen Instantiierungen von (xi) (xxii) 8t8x[πL(x,t) ! G(ich,t(πL(x,t)))] bzw. von (xviii) (xxiii) 8t8x[πverid(x,t) ! G(ich,t(πL(x,t)))] vollziehen kann, zeigen, welche anderen Charaktere es sind, die dieser Kandidat im Horizont des Lügengesetzes annehmen kann, und welche anderen Rollen es sind, in die er dadurch gerät: Die Formeln (xxii) und (xxiii) zeigen in ihrem Zusammenhang, daß der ursprüngliche Inhaber der Lügenmaxime durch diese Identifikationen in die Rollen von jedermann geraten kann, der das kollektive Mißtrauen der diesem Gesetz anbefohlenen Kommunikationsgemeinschaft auch aktiv teilt und daher von jedem Kommunikationspartner sowohl faktenkonform glaubt, daß er lüge, wenn er wirklich lügt, wie auch kontrafaktisch glaubt, daß er lüge, wenn er indessen wirklich wahrhaftig redet. Der ursprüngliche Inhaber der Lügenmaxime wird also durch diese beiden Identifikationen wiederum zu einem Opfer kollektiven Mißtrauens – allerdings in einer ganz anderen Weise als durch seine Identifikationen (xv) und (xix) bzw. (xxi): Im Rahmen seiner ersten Identifikationen wird er dadurch zu einem solchen Opfer, daß er jedermanns mißtrauischen Akten faktenkonformen Glaubens an seine Lügenhaftigkeit wie auch jedermanns ebenso mißtrauischen Akten kontrafaktischen Irrglaubens an seine Lügenhaftigkeit passiv ausgesetzt ist; hingegen durch seine letzten Identifikationen wird er dadurch zu einem Opfer kollektiven Mißtrauens, daß er dies Mißtrauen selber aktiv teilt, indem er solche mißtrauischen Akte faktenkonformen Glaubens und kontrafaktischen Irrglaubens selber gegen jeden loyalen Kommunikationspartner aus dem Horizont des Lügengesetzes vollzieht. Es sind nun aber gerade diese beiden Rollen des aktiven Opfers eines mißtrauischen Aktes faktenkonformen Glaubens wie des aktiven Opfers eines ebenso mißtrauischen Aktes kontrafaktischen Irr140 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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glaubens, was durch einen ganz bestimmten epistemischen Charakter der Person durchkreuzt wird, die in diese Rollen gerät. Denn diese Akte sind im konkreten Einzelfall niemals ausschließlich die Ausprägungen und Symptome des kollektiven Mißtrauens einer dem Lügengesetz anbefohlenen Kommunkations- und Interaktionsgemeinschaft. Sie sind stets auch Ausprägungen und Symptome einer ganz bestimmten epistemischen Disposition ihres Urhebers. Allerdings würde man auf Abwege geraten, wenn man den konkreten Charakter dieser Disposition am Leitfaden der Oberflächengrammatik dieser Glaubensakte auf die Spur kommen wollte. Denn die epistemische und propositionale Oberfläche der Identitikationsformeln (xxii) und (xxiii) läßt den faktenkonformen Glauben an die Lügenhaftigkeit eines Lügners ausschließlich als epistemischen Gewinn und den kontrafaktischen Irrglauben an die Lügenhaftigkeit eines Wahrhaftigen ausschließlich als epistemische Fehlleistung erscheinen. Aber unter praktischen Vorzeichen trügen der epistemische und der propositionale Schein. Denn im Horizont kollektiven Mißtrauens steht ein Akt des Glaubens an die Lügenhaftigkeit eines Kommunikationspartners ganz unabhängig von der Faktenkonformität oder Kontrafaktizität dieses Glaubens immer auch unter dem praktischen Vorzeichen, ein Akt des Selbstschutzes seines Urhebers gegen Täuschungen zu sein, wie sie ihm aus den wechselnden und unauslotbaren Intentionen jedes Kommunikationspartners erwachsen können. Die Invarianz, mit der er dieselbe Proposition, daß x lügt, in wechselnde Akte des Glaubens an die Lügenhaftigkeit wechselnder Kommunikationspartner investiert, dient diesem Selbstschutz eben insoweit, als sie ihn von unzumutbaren Überprüfungen der Intentionen seiner Kommunikationspartner und der Sachverhalte entlastet, über die ihn diese Kommunikationspartner durch ihre Aussagen zu informieren scheinen. Und so invariant wie die Benutzung der Proposition, daß x lügt, ist auch das Mißtrauen, durch das der Benutzer dieser Proposition seine ebenso invarianten Stellungnahmen zur Frage von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit seiner wechselnden Kommunikationspartner steuert. Erst hier kommt der Umweg zum zweiten Kristallisationskern des epistemischen Spontaneitätsmangels an sein Ende. Denn auch die Mitglieder einer dem Lügengesetz anbefohlenen Kommunikationsgemeinschaft haben die epistemische Kompetenz, sich in authentischer Weise über Sachverhalte zu informieren, über die Kommunikationspartner sie zu informieren scheinen, und solche Sachverhalte 141 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

und Informationen in letzter Instanz zu beurteilen. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser epistemischen Kompetenz werden indessen schon außerhalb des Horizonts des Lügengesetzes festgelegt, und zwar im Rahmen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime. Einem Lügengesetz sind die Mitglieder einer Interaktionsgemeinschaft ja im Rahmen des Gedankenexperiments anbefohlen, das der Kategorische Imperativ jedem Maximeninhaber und insbesondere dem Inhaber der Lügenmaxime abverlangt. Möglichkeiten und Grenzen der epistemischen Kompetenz der Mitglieder einer dem Lügengesetz anbefohlenen Kommunikationsgemeinschaft sind daher bereits genau durch die Möglichkeiten und Grenzen der epistemischen Kompetenz der Kommunikationspartner vorgezeichnet, die an der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime beteiligt sind. Und hier hatte sich ja schon herausgestellt, 42 daß der Lügner um eines Erfolgs seiner Lüge willen, unterstellen muß, daß sein Adressat letzten Endes keinen authentischen Zugang zu der vom Lügner verdunkelten Tatsache bzw. zu der von ihm vorgespiegelten Tatsache gefunden hat und daher auch nicht dahin geführt werden kann zu wissen oder wenigstens in zutreffender Weise zu glauben, daß der Lügner lügt. Bereits außerhalb des Horizonts des Lügengesetzes verweist also der Irrglaube, den der Adressat des Lügners hegt, auf eine Einstellung, die einem Spontaneitätsmangel seiner epistemischen Kompetenz entspringt: es ist ihm nicht gelungen, sich durch authentische Nachforschungen und in letzter Instanz sogar durch persönliche Zeugenschaft über die vom Lügner verdunkelte Tatsache zu informieren. Durch die Transformation der Lügenmaxime (viii) in das Lügengesetz (ix) werden dann lediglich die Rahmenbedingungen verschärft, unter denen eben diese epistemische Kompetenz zwischen Kommunikationspartnern zum Zuge kommt. Denn der kollektive Charakter des Mißtrauens, in dem die Glaubensakte von Kommunikationspartnern im Horizont des Lügengesetzes befangen sind, schließt nicht nur nicht aus, daß sich jede Person in jeder aktuellen kommunikativen Situation in authentischer Weise und in letzter Instanz über den Sachverhalt zu informieren sucht, zu dem der jeweilige Partner Stellung zu nehmen scheint. Vielmehr sorgt das im Horizont des Lügengesetzes unvermeidliche kollektive Mißtrauen mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit dafür, daß sich jedermann mit einer kaum

42

Vgl. oben S. 137–38.

142 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

überbietbaren Dringlichkeit zur epistemischen Authentizität seines ultimativen Urteils herausgefordert findet. Denn jeder potentielle Kommunikationspartner ist im Schatten universellen Mißtrauens dazu verurteilt, ein unzuverlässiger Kandidat für die Mitteilung von Informationen zu bleiben. Im Schatten eines solchen Mißtrauens bleibt daher gar nichts anderes mehr übrig, als daß sich jeder informationsbedürftige Akteur über jeden für ihn irgendwie wichtig werdenden Sachverhalt von Anfang an sowohl in authentischer wie in ultimativer Weise zu informieren sucht. Es liegt zwar auf der Hand, daß die Struktur und das Betätigungsfeld einer epistemischen Authentizität, die sich in strikt individualistischen Formen des Informationsgewinns und der Informationsverarbeitung zu bewähren hat, stets nur kleine und schwerfällige Fortschritte der Erfahrung zuläßt. 43 Aber jeder Akt des Irrglaubens, daß ein Wahrhaftiger lüge, ist gerade auch im Horizont des Lügengesetzes wenigstens ein ernstzunehmendes Indiz für eine authentische epistemische Fehlleistung seines Urhebers ebenso wie jeder Akt des faktenkonformen Glaubens, daß ein Lügner lüge, ein solches Indiz für einen authentischen epistemischen Erfolg seines Urhebers ist. Schließlich aber kommt ausschlaggebend hinzu, daß der Inhaber der Lügenmaxime durch seine Identifikationen (xxii) und (xxiii) signalisiert, daß jede/r Kommunikationspartner/in y aus dem Horizont des Lügengesetzes ihm selber in epistemischer Hinsicht ebenbürtig ist. Andernfalls wäre keine von diesen Identifikationen korrekt. Die Beurteilungsprozedur des Kategorischen Imperativs verlangt also vom Inhaber der Lügenmaxime, sich auf eine Präsupposition epistemischer Ebenbürtigkeit mit allen Individuen einzulassen, denen er zumutet, im Horizont des Lügengesetzes handeln zu können. Da Ebenbürtigkeit aber eine symmetrische Relation ist, teilen der Inhaber der Lügenmaxime und diese Individuen nicht nur die epistemische Kompetenz dieser Individuen, sondern auch die des Inhabers der Lügenmaxime. Dieser signalisiert indessen durch seine Lügenmaxime, daß er sich eine epistemische Kompetenz zutraut, die sich mindestens und jedenfalls in jeder Situation, in der er effektiv lügt, darin bewährt, daß er authentisch und ultimativ in zutreffender Weise das Das einfachste Muster epistemischerAuthentizität habe ich zusammenfassend analysiert in: Rainer Enskat, Epistemic Authenticity, in: P. Weingartner, G. Schurz (eds.), Logic, Philosophy of Science and Epistemology, Akten des II. Internationalen Wittgenstein Symposiums 1986, Kirchberg, Wien 1987, S. 103–108.

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Universalität, Spontaneität und Solidarität

Urteil fallt, daß das Gegenteil des Sachverhalts der Fall sei, über den er den Adressaten seiner Lüge zu informieren scheint. Hingegen insbesondere durch seine Identifikation (xxiii) signalisiert er eine Grenze und einen Mangel seiner epistemischen Kompetenz: Ein Opfer eines konkreten Lügners kann der Inhaber der Lügenmaxime in irgendeiner beliebigen aktuellen Situation werden, weil er den Sachverhalt nicht in zutreffender Weise authentisch und ultimativ beurteilen kann, über den ihn sein unwahrhaftiger Kommunikationspartner zu informieren scheint. Damit ist deutlich, worin die praktische Tragweite besteht, die dem Mangel an epistemischer Spontaneität im Einzugsbereich des Kategorischen Imperativs zuwächst: ein Wesen mit diesem epistemischen Spontaneitätsmangel kann es in einer Gemeinschaft mit seinesgleichen praktisch gar nicht durchhalten, dieser Gemeinschaft die tätige Orientierung am Lügengesetz zuzumuten, ohne daß es sich selbst und seinesgleichen sowohl in kollektives Mißtrauen wie in wechselnde Episoden eines mißtraurischen Irrglaubens sowie eines ebenso mißtraurischen Glaubens an die Unwahrhaftigkeit jedes Kommunikationspartners verstrickt. Der Kategorische Imperativ legt seine Adressaten also nicht nur auf praktische Ebenbürtigkeit und praktische Solidarität fest. Die Beurteilungsmethode, die er jedem Maximeninhaber unter seinen Adressaten zumutet, bringt vielmehr für die Lügenmaxime eine Bewährungsprobe mit sich, die darüber hinaus eine strikte Zumutung an die epistemische Ebenbürtigkeit seiner Adressaten ans Licht bringt: angesichts ihres gemeinsamen epistemischen Spontaneitätsmangels können sie im mühseligen Prozeß der Erfahrung 44 nur dann mit berechtigter Aussicht auf Erfolg kommunikative Partner sein, wenn sie diesem gemeinsamen epistemischen Spontaneitätsmangel in aktiver Weise wechselseitigen Respekt zollen, indem sie einander durch ihre Aussagen nur in wahrhaftiger Weise an den Informationen teilhaben lassen, die sie gewinnen. Der epistemische Spontaneitätsmangel ist die wichtigste nichtpraktische Bedingung dafür, daß es für die Adressaten des Kategorischen Imperativs nötig ist, Erfahrung auch durch kommunikatives Handeln zu erwerben. Die epistemische Solidaritätsbedürftigkeit ist die wichtigste praktische Bedingung dafür, daß sie es nötig haben, das kommunikative Handeln nach den Normen der Wahrhaftigkeit

44

Vgl. oben S. 134–36.

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Universalität, Spontaneität und Solidarität

zu gestalten. Wahrhaftigkeit ist die epistemische Grundgestalt der Solidarität. 45 Diese epistemische Solidarität ist offenkundig unverträglich sowohl mit der Lügenmaxime wie mit dem Lügengesetz. Denn die Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime zeigt, inwiefern der Lügner seinem Adressaten die epistemische Solidarität aufkündigt. Und im Horizont des Lügengesetzes mutet der Inhaber der Lügenmaxime sich selbst und jedem anderen Adressaten des Kategorischen Imperativs zu, sich die Aufkündigung der epistemischen Solidarität zur Pflicht zu machen. Das wichtigste logische Symptom für die praktische Unverträglichkeit der epistemischen Solidarität sowohl mit der Lügenmaxime wie mit dem Lügengesetz ist der Widerspruch zwischen der Erfolgspräsupposition (x) der Lügenmaxime und der praktischen Konsequenz (xvii) aus der aktiven Respektierung des Lügengesetzes. Damit hat der anspruchsvollste Teil des Diagnosenschlüssels, mit dessen Hilfe man sich im Licht des Kategorischen Imperativs das sittliche Format einer Maxime soll erschließen können, auch schon seine erste und wichtigste Bewährungsprobe bestanden. Denn den Kern der Sittlichkeit bildet die praktische Solidarität der Adressaten des Kategorischen Imperativs, also ihr aktiver wechselseitiger Respekt für ihre gemeinsame Unfähigkeit, spontan, also von selbst so zu handeln, daß die Maxime einer Handlung stets zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Und das Kriterium der Das von Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, für die Sozialphilosophie erschlossene Untersuchungsfeld ist daher in drei Richtungen für Strukturprobleme der Erfahrung offen: Gleichsam im Rücken der sozialphilosophischen Einstellung untersucht man, orientiert am Muster der kantischen transzendentalen Logik, die formalen Bedingungen der Möglichkeit jener Erfahrung, vermöge deren man die propositionale und die technische Bezugnahme auf Dinge der sinnenfälligen Welt steuern kann; die Theorie des kommunikativen Handelns selber eröffnet zwei systematische Untersuchungsrichtungen: In der einen Richtung untersucht sie die Formen sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns, von denen abhängt, daß die Kommunikation von Propositionen (Know-what und Know-that) und von Techniken (Know-how) zwischen Mitgliedern von Gemeinschaften zur Verbreitung von Inhalten dieser Erfahrung beiträgt; und in der anderen Richtung untersucht sie die Genese jener Erfahrung, die man einerseits nur durch das Gelingen oder Mißlingen der Kommunikation von Propositionen und Techniken erwerben kann und deren Verbreitung man andererseits auch nur für die Verbesserung der Formen dieser Kommunikation fruchtbar machen kann. Es ist diese spezifisch kommunikative Erfahrung und es ist jene kommunikativ lediglich vermittelte Erfahrung, deren Möglichkeit ein Mindestmaß epistemischer Solidarität unter den Kommunikationspartnern voraussetzt. 45

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Sittlichkeit gibt die Tauglichkeit einer Maxime zu einem Gesetz ab, das allen Akteuren, die ihm anbefohlen sind, erlaubt, Solidarität, also aktiven wechselseitigen Respekt für jede andere solidaritätsbedürftige dispositionelle Eigenschaft dieser Akteure zu üben. Die wichtigste dispositionelle Eigenschaft der Adressaten des Kategorischen Imperativs, die solidaritätsbedürftig und vom praktischen Spontaneitätsmangel verschieden ist, ist ihr epistemischer Spontaneitätsmangel. Die Solidarität, deren die Adressaten des Kategorischen Imperativs wegen dieses epistemischen Spontaneitätsmangels bedürfen, nimmt in der Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen Gestalt an. Diese epistemische Solidarität normiert, wie sich gezeigt hat, 46 die Wahrhaftigkeit eines Adressaten des Kategorischen Imperativs nicht nur in der privaten, sondern auch in der sozialen und in der politischen Dimension seines Lebens.

XV. Der Diagnosenschlüssel, der in den Formeln (v)–(xxiii) Gestalt annimmt, führt die prozeduralen Grundzüge der Sittlichkeit vor Augen. Dieser Sittlichkeit fähig zu sein, wird den Adressaten des Kategorischen Imperativs durch die praktische Vernunft, die sich in diesem Imperativ zu Wort meldet, sowohl zugemutet wie zugetraut. Eine Zumutung bringt die praktische Vernunft für die Adressaten des Kategorischen Imperativs deswegen mit sich, weil sie ihnen Handlungsweisen ansinnt, die sie nicht von selbst realisieren. In einem und demselben Atemzug eröffnet die praktische Vernunft ihnen indessen auch das Zutrauen in ihre Fähigkeit, eben diese Handlungsweisen von selbst wenigstens ausfindig zu machen. Denn durch den Inhalt des Kategorischen Imperativs orientiert sie dessen Adressaten über Formen und Prozeduren, in denen sie treffliche Urteile über die ihnen von der praktischen Vernunft angesonnenen Handlungsweisen gewinnen können. Während sie den Adressaten des Kategorischen Imperativs durch dessen deontischen Modus ihren zentralen praktischen Spontaneitätsmangel erschließt, erschließt sie ihnen im Licht seines Inhalts ihre für die Praxis zentrale Gestalt von Spontaneität: die Spontaneität ihres praktischen Urteils. Diese Urteilsspontaneität gehört zu den charakteristischen dispositionellen Fähigkeiten der 46

Vgl. oben S. 127–29.

146 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

Adressaten des Kategorischen Imperativs. Es gehört daher auch zu ihrer Solidarität, wenn sie nicht nur ihren gemeinsamen Spontaneitätsmängeln, sondern auch ihrer gemeinsamen dispositionellen Fähigkeit für das spontane praktische Urteil wechselseitigen tätigen Respekt zollen: jeder gewährt jedem jederzeit nach Kräften die reale Möglichkeit, das treffliche praktische Urteil über das Tunliche von selbst zu finden. Der Diagnosenschlüssel des Kategorischen Imperativs trägt daher auch zum Gelingen dieser Solidarität bei. Denn mit Hilfe dieses Diagnosenschlüssels bewährt sich die Sittlichkeit der Adressaten des Kategorischen Imperativs an der Aufgabe, vom Kategorischen Imperativ so Gebrauch zu machen, wie es einem genuinen Beurteilungskriterium (principium diiudicandi) gebührt. Die formalen und technischen Komplikationen, die die Ausarbeitung und der Gebrauch eines solchen Diagnosenschlüssels mit sich bringen, sollten daher auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß keine einzige von diesen formalen und technischen Komplikationen den ursprünglichen Bannkreis der praktischen Vernunft verläßt. Denn durch jeden Schritt, den ein Adressat des Kategorischen Imperativs mit Hilfe eines solchen Diagnosenschlüssels tut, bezeugt er, daß er der praktischen Vernunft, die im Kategorischen Imperativ zur Sprache kommt, jedenfalls und wenigstens insoweit auch schon effektiv Gehör geschenkt hat, als er sich methodisch um eine vernünftige Beurteilung des sittlichen Formats einer seiner Maximen bemüht. Diese Bemühungen beginnen mit der Berücksichtigung der Strukturformel (v) für die Maxime seiner Prüfung; sie führen über die Berücksichtigung der Strukturformel (vii) für das gesetzliche Gegenstück dieser Maxime zum Entwurf der charakteristischen Erfolgspräsuppositionen dieser Maxime und enden mit den verschiedenen egologischen Instantiierungen (xv), (xix) und (xxi)–(xxiii), durch die der Maximeninhaber mit formalen und technischen Mitteln seine Identifikation mit einem von den Individuen bekundet, die dem gesetzlichen Gegenstück seiner Maxime anbefohlen sind. Es gehört zu den schwer zu überschätzenden Verdiensten von Kants Arbeit an der praktischen Philosophie, daß er nicht nur für jede Gestalt der Praxis, sondern auch für jede Stufe der Urteilsbildung gezielt die Formen untersucht hat, in denen sie den Ansprüchen der praktischen Vernunft ausgesetzt ist. Den systematischen Rahmen für diese Reflexionen bildet bekanntlich die »Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft«. In diesem Rahmen wird sogar noch die ab147 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

strakteste und formalistischste Analyse praktischer Beurteilungsprozeduren über das Interesse aufgeklärt, das die praktische Vernunft an ihr nimmt. Denn nicht nur der Benutzer solcher Prozeduren schenkt der praktischen Vernunft Gehör, indem er über das praktische Format seiner Maximen auf kontrollierbaren Wegen ein vernünftiges Urteil zu fällen sucht. Auch die abstraktesten Reflexionen und Analysen und die formalsten Charakterisierungen, durch die die Philosophie solche Prozeduren überhaupt erst einmal durchsichtig zu machen und zu objektivieren sucht, werden von den Forderungen der praktischen Vernunft noch eingeholt. Denn die reflexiven und die analytischen Anstrengungen und Leistungen der praktischen Philosophie dienen von Anfang an dem Ziel, der praktischen Urteilskraft Methoden und Techniken der Selbstdisziplinierung und der Selbstkontrolle zur Verfügung zu stellen. Mit Hilfe dieser Methoden soll die Trefflichkeit der praktischen Urteilskraft gefördert werden. Die Selbstsicherheit wächst, mit der die praktische Urteilskraft die ihr von der praktischen Vernunft gestellten Aufgaben absolvieren kann, sobald sie die prozeduralen Formen dieser Aufgabenstellung gegenständlich durchschauen und instrumentalisieren kann. Ihre gewachsene methodische und technische Selbstsicherheit im gegenständlichen und instrumentellen Umgang mit den situationsinvarianten Prozeduren der ihr von der praktischen Vernunft gestellten Aufgaben entbindet ihre Kraft durch einen schwer zu überschätzenden Entlastungseffekt zugunsten der anderen ihr von der praktischen Vernunft gestellten Aufgabe. Diese andere Aufgabe verlangt von ihr, sich immer wieder von neuem dem unaufhörlichen Wechselspiel der Lebenssituationen zu stellen, inmitten von denen ihr Inhaber handelt. Denn die situationsvariablen Bedingungen des Handelns müssen in ihren typischen und in ihren individuellen Ausprägungen erfaßt, im Lichte der situationsinvarianten Normen und Regeln von Sittlichkeit und Nützlichkeit gemustert werden und durch eine Art von Differentialdiagnose auf ihre praktischen Relevanzen hin eingeschätzt werden, bevor die praktische Urteilskraft das ihr von der praktischen Vernunft aufgegebene Urteil über das in einer Situation Tunliche in authentischer Weise und in letzter Instanz fällen kann. Die reflexive und die analytische Arbeit der praktischen Philosophie an solchen formalen und situationsinvarianten Beurteilungsprozeduren wie dem Diagnosenschlüssel des Kategorischen Imperativs entspringt daher dem ursprünglichen Interesse der praktischen Vernunft an der Tunlichkeit von allem und jedem, was ihre Adressaten tun und lassen. Denn die 148 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Universalität, Spontaneität und Solidarität

Trefflichkeit wird optimiert, mit der ein Adressat der praktischen Vernunft das in einer Situation Tunliche erfaßt, wenn er die situationsinvarianten Normen, Regeln und Prozeduren der praktischen Urteilsbildung gegenständlich durchschaut und gezielt instrumentalisieren kann. Die situationsvariablen Aufgaben seiner praktischen Urteilskraft bleiben auch im Schutz und im Licht solcher situationsinvarianten Orientierungshilfen immer noch schwierig genug. 47

Daß und inwiefern diese Schwierigkeiten sogar eine Aporie der praktischen Vernunft spiegeln, hat Wolfgang Wieland, Aporien der praktischen Vernunft, Frankfurt 1989, gezeigt, vgl. bes. S. 11–25. Solche Aporien können die praktische Vernunft sogar zu der Einsicht bringen, daß ihre Existenz unter solidaritätsbedürftigen Wesen nur dann gesichert werden kann, wenn sie als Vernunft Kompromisse zwar nicht über ihre Forderungen, wohl aber über die Formen und Prozeduren von deren Realisierung zuläßt.

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149 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr 1 Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft?

I. Die Angewandte Ethik scheint der jüngste Sprößling der altehrwürdigen philosophia practica zu sein. Doch der Schein trügt. Hinter dem Namen der Angewandten Ethik verbergen sich Tätigkeiten, wie sie schon seit alters im Umkreis der Ethik ausgeübt werden. Erst in der Neuzeit meldete sich das Bedürfnis, diesen Tätigkeiten einen disziplinären Namen zu geben. Vor allem im Umkreis der katholischen Moraltheologie hat sich der Name der Kasuistik eingebürgert. Unter Gesichtspunkten der Methodologie handelt es sich bei der ethischen Kasuistik indessen um denselben Typus von Tätigkeiten, der im Umkreis der Rechtswissenschaft unter dem Namen der Fallerörterungen ausgeübt wird und einen festen Bestandteil der juristischen Ausbildung bildet. Fallerörterungen, also kasuistische Erörterungen, gehören indessen von alters her zum täglichen Brot der Ethik. Platons sogenannte Tugenddialoge wimmeln nur so von ethischen Fallerörterungen, von ethischer Kasuistik, ebenso die ethischen Traktate des Aristoteles oder Thomas von Aquins, um nur an die ersten Klassiker der Ethik zu erinnern. Wenn sich für die ethischen Fallerörterungen während der vergangenen Jahre u. a. der Name der Angewandten Ethik eingebürgert hat, 2 dann hat dies in erster Linie gar nichts damit zu tun, daß hier in [Den ursprünglichen Titel Moralische Notwehr habe ich in dieser Fassung durch den Aspekt ihres rechtlichen Schutzes erweitert, weil sich, wie sich zeigen läßt, dieser Aspekt im Sinne Kants für eine juridisch verbesserte Analyse einer paradigmatischen Lügen-Kasuistik fruchtbar machen läßt, vgl. unten S. 175–77. Im XI. Abschnitt habe ich die Argumentation zugunsten des außerordentlichen Falls der moralischen Notwehr gründlich verbessert. Ab dem IX. Abschnitt ist die Nummerierung der ersten Fassung korrigiert.] 2 In verwandtem Sinne ist bei anderen Autoren auch von Praktischer bzw. von Konkreter Ethik die Rede. 1

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Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr

methodischer Hinsicht eine ganz andere Art von Tätigkeit ausgeübt würde als in der ethischen Kasuistik der vorangegangenen Jahrhunderte oder der klassischen Antike. Diese neue Taufe hat vielmehr so gut wie ausschließlich damit zu tun, daß sich die Typenvielfalt der Fälle und der Situationen, die einer ethischen Erörterung bedürfen und ihrer auch fähig sind, seit dem Beginn der politischen, der gesellschaftlichen, der ökonomischen und der technischen Dauerrevolutionierung unseres alltäglichen Lebens seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert explosionsartig vervielfältigt hat und ständig potenziert wird. Es ist diese explosionsartige Vervielfältigung der ethisch relevanten Situationstypen des alltäglichen Lebens, dem die klassischen Gestalten der Ethik von Platon bis zu Kant und auch noch bis zu Hegel aus prinzipiellen Gründen nicht mehr gewachsen sind. Doch immerhin hat der ebenso tief- wie weitblickende Zeitdiagnostiker Hegel schon ahnungsvoll und mit fast sophokleischer Dramatik von der ›ungeheuren Macht der bürgerlichen Gesellschaft‹ 3 gesprochen. Alle diese Ethiken rechnen nun einmal mehr oder weniger stillschweigend und aus respektablen Gründen mit weitgehend stabilen natürlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Lebensbedingungen der Menschen. Es ist diese menschheitsgeschichtliche Stabilitätspräsupposition der klassischen Ethik, was im Zuge der vieldimensionalen Dauerrevolutionierung unseres Alltagslebens durch die ›ungeheure Macht der bürgerlichen Gesellschaft‹ immer häufiger und immer empfindlicher an Grenzen ihrer Tragfähigkeit und ihrer Tragweite zu stoßen scheint. Die Institutionalisierung einer Angewandten Ethik als echter Teildisziplin der Praktischen Philosophie bildet das aufschlußreichste innerphilosophische Indiz für den Bewußtseinswandel, den diese Revolutionierung in der Ethik bis jetzt provoziert hat. 4

II. Unter diesen Umständen hat nur ein einziger klassischer Ethik-Typ eine Chance, diese Dauerrevolutionierung ohne Einbuße an TragVgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 238, Zusatz. Es ist daher auch nur konsequent, wenn gerade ein so energischer und fruchtbarer Hegel-Forscher wie Ludwig Siep eine entsprechende Ethik-Konzeption ausgearbeitet hat, vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt/M. 2005.

3 4

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fähigkeit und Tragweite zu überstehen – der Ethik-Typ, der zwei Bedingungen erfüllt: Er ist einerseits geradezu planmäßig darum bemüht, von allen mehr oder weniger kontingenten geschichtlichen Umständen des menschlichen Lebens zu abstrahieren; und er ist andererseits ebenso planmäßig bemüht, nach denjenigen Faktoren des menschlichen Lebens zu suchen, die geschichtlich invariant und gleichzeitig ethisch relevant sind, so daß sie auch dann ethisch relevant bleiben, wenn die Lebensbedingungen der Menschen die denkbar stürmischsten und tiefsten Wandlungen durchmachen. Wir pflegen diesen Ethik-Typ seit Max Schelers entsprechender Typologie als den formalistischen Ethik-Typ zu kennzeichnen und pflegen den Prototyp einer solchen Ethik mit der von Kant ausgearbeiteten Ethik zu identifizieren. Gegen diese Identifizierung wäre an sich gar nichts Erhebliches einzuwenden, wenn sie nicht einem gravierenden Mißverständnis Vorschub leisten würde – dem Mißverständnis nämlich, als wenn die Tragfähigkeit und die Tragweite einer formalistischen Ethik vom Kantischen Typ systematisch nicht von einer materialen Dimension, also von sogenannten Anwendungsfällen abhängig wäre. Wenn man von Anwendungsfällen der Ethik spricht, dann sollte man nicht außer Acht lassen, daß es gute Gründe für den Verdacht gibt, daß die harmlos anmutende Rede von ethischen Anwendungsfällen und sogar von einer Angewandten Ethik ebenfalls einem gravierenden Mißverständnis Vorschub leistet, das auch einem fruchtbaren Gespräch zwischen dem formalistischen und dem sogenannten angewandten Typ von Ethik im Wege steht. Es geht hier zunächst um eine ganz einfache, scheinbar bloß linguistische Beobachtung. Die Rede von Anwendungsfällen für eine Ethik oder sogar von einer Angewandten Ethik suggeriert, als wenn eine Ethik, also eine ethische Theorie, den Status eines Instruments oder Werkzeugs hätte, mit dessen Hilfe man sich auf die Suche nach Fällen und Situationen im praktischen Alltagsleben begeben kann, auf die dieses Instrument oder Werkzeug angewandt werden könnte. Der Hinweis auf ein instrumentalistisches Mißverständnis, dem durch die Rede von einer Angewandten Ethik Vorschub geleistet wird, hat allerdings einen doppelten Boden. Zwar ist eine ethische Theorie kein Instrument oder Werkzeug. Aber mindestens in einer Dimension besteht eine Ähnlichkeit zwischen einer ethischen Theorie und einem Werkzeug. Man braucht nur einmal den instrumentalistischen Kern dieses Mißverständnisses vorläufig ernst zu nehmen, um sich daran zu erinnern, daß auch ein Instrument nicht fix und fertig vom Himmel fällt. Die 152 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Pointe dieser Erinnerung besteht darin, daß man auf diesem Weg darauf aufmerksam werden kann, daß an der Konzipierung, an der Herstellung und an der Anwendung eines Werkzeugs genauso kognitive Tätigkeiten beteiligt sind wie an der Konzipierung, an der Ausarbeitung und an der Anwendung einer Ethik. Wer ein Werkzeug konzipiert, orientiert sich von Anfang an an dem Typ des Materials, auf das das intendierte Werkzeug mit berechtigter Aussicht auf Erfolg angewandt werden können soll; er orientiert sich aber auch an dem Typ des Erfolgs, der durch eine geeignete Anwendung eines geeigneten Werkzeugs erzielt werden soll. Wer indessen eine Ethik konzipiert, orientiert sich von Anfang ganz analog ebenso an dem Typ des Materials, auf das das intendierte ethische Werkzeug mit berechtigter Aussicht auf Erfolg angewandt werden können soll; und er orientiert sich ebenso ganz analog an dem Typ des Erfolgs, der durch die Anwendung eines geeigneten ethischen Werkzeugs auf ein geeignetes Material erzielt werden können soll. Bevor man auf die unübersehbaren Differenzen innerhalb dieser Analogie zu sprechen kommt, sollte man jedoch zunächst noch ein wenig innerhalb der so verführerischen Übereinstimmungen weiterfragen, was als Material für das ethische Werkzeug in Frage kommt. Die in Frage kommenden Materialtypen sind durchaus geläufig: zum einen die leibhaftigen Handlungs- und Verhaltensweisen von natürlichen Personen, die Handlungs- und Verhaltensweisen von juristischen Personen und die Handlungs- und Verhaltensweisen von natürlichen Personen, sofern sie im Dienst von juristischen Personen handeln. Die Probleme, die sich in Zukunft immer mehr aus den Verhaltensweisen von Robotern und quasi-Robotern bzw. von anthropoiden Chimären ergeben werden, mögen hier vorläufig ausgeklammert bleiben; auf der anderen Seite der Materialtypen findet man die Motive, die Einstellungen, die Haltungen, die Gesinnungen, die Charaktere oder die Regeln der Personen, die bestimmte Handlungs- und Verhaltensweisen an den Tag legen. Unter diesen Umständen lohnt es sich verständlicherweise ganz besonders, die Ethik zu berücksichtigen, die es in einer besonders kunstvollen Weise verstanden hat, diese beiden Material-Typen systematisch miteinander zu verflechten – die Kantische Ethik. Man kann es sich hier ganz einfach machen, wenn man dieser Verflechtung auf die Spur kommen möchte, indem man sich einfach an die Standardformulierungen des berühmt-berüchtigten Kategorischen Imperativs hält. Man muß lediglich darauf achten, daß man diese 153 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Formulierungen nicht als bildungsbürgerlichen Zierat verwendet, sondern daß man sie als das unter die Lupe nimmt, als was Kant sie konzipiert – als Beurteilungskriterien, oder, wie Kant es in der lateinischen Schulsprache seiner Zeit gelegentlich umschreibt, als principia diiudicationis. 5 Man braucht zu diesem Zweck sogar nur die Anfänge der sprachlichen Formulierungen dieser Imperative zu berücksichtigen. Sie lauten übereinstimmend: Handle so, daß die Maxime Deines Willens … usw. Eine Maxime ist bekanntlich eine subjektive Regel. Eine Willensmaxime ist also das, was eine Person (in einer bestimmten Situation) regelmäßig will. Dieser Kategorische Imperativ verknüpft aber offensichtlich zwei Typen von Materialien, auf die die ethische Theorie wie ein Werkzeug angewendet werden können soll: Die Handlungen bzw. die Handlungsweisen einer Person (Handle so, daß …) und den Willen einer Person, in jeder Situation in einer bestimmten Weise zu handeln. Alleine schon wegen dieser Verknüpfung gehört Kants Ethik zu denjenigen ›judikativen‹ Werkzeugen, die wegen ihrer überaus kunstvollen internen Machart besondere Aufmerksamkeit verdienen, wenn es um die Anwendung dieser Ethik geht. Diese Aufmerksamkeit trägt ihre ersten Früchte sogar schon dann, wenn man noch gar keine näheren Blicke auf interne Einzelheiten seiner ethischen Theoriebildung geworfen hat. Denn die kunstvolle Verflechtung des Handlungsfaktors mit dem personalen bzw. subjektiven Faktor kann – und sollte – Kants Ethik ein für alle Mal vor der nichts als irreführenden Typisierung als Gesinnungsethik bewahren. 6 Diese Typisierung ist nun einmal in den ethischen Auseinandersetzungen der Gegenwart in einer nur schwer neutralisierbaren Weise an die von Max Weber entworfene Alternative von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gebunden. 7 Diese Ethiktypen werden zwar von Weber als komplementäre, aber ihrer Binnenstruktur nach einander ausschließende Typen konzipiert. Bei den Willensmaximen, die in Kants Konzeption tatsächlich eine Schlüsselrolle spielen, handelt es sich nun zwar ganz zweifellos um moralisch relevante Faktoren, die in Webers Konzeption zu den Gesinnungsfaktoren gehören. Würde Vgl. Kant, Moral Mrongovius, Ak. XXVII, 2.2, S. 1428 f., sowie Moralphilosophie Collins, Ak. XXVII, 1, S. 274 f. 6 So z. B. Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, Berlin 1990. 7 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe Abtlg. I, Bd. 17 (Hg. W. F. Mommsen u. W. Schluchter in Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod), Tübingen 1992, S. 153–252, hier: S. 277 ff. 5

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Kants Ethik aber zum reinen Typus der Gesinnungsethik gehören, dann müßte der Kategorische Imperativ der Moralität einen anderen Inhalt haben als es faktisch der Fall ist, nämlich: Habe nur solche Willensmaximen, daß … ! oder Wolle nur solche Handlungsweisen, daß …! Durch die Verflechtung mit der Handlungskomponente, die in der Binnenstruktur des authentischen Kriteriums sogar den Primat hat, wird ein gesinnungsethisches Format von Kants Konzeption indessen nicht nur von vornherein unterlaufen. Noch viel wichtiger ist indessen der Umstand, daß durch diesen Primat die im Fokus des Schlüsselkriteriums stehende Handlungsweise (Handle so, daß … !) ebenso in die Obhut des Adressaten dieses imperativisch-normativen Kriteriums gelegt wird wie dessen Willensmaxime. Mit Hilfe dieses Kriteriums sollen ja gerade, wie es sich für ein Kriterium gehört, das diesen Namen verdient, die kognitiven Voraussetzungen einer vernünftigen Willens- und Handlungsgestaltung einer methodischen Kontrolle zugänglich gemacht werden. Im Gegensatz zur Gesinnungsethik sind es im Rahmen von Webers Konzeption denn auch gerade kognitive Tugenden wie das ›Augenmaß‹ und die Rücksicht auf die Folgen von Handlungen sowie kognitive Attribute wie die Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen, wodurch sich die Verantwortlichkeit einer Person von einer bloßen Gesinnung unterscheidet. 8 Damit gibt Weber zwar nur indirekt, aber in unmißverständlicher Weise nicht mehr und nicht weniger zu verstehen, als daß eine charakteristische Bedingung der Möglichkeit der Verantwortung in der kontrollierbaren kognitiven Zugänglichkeit dessen besteht, wofür jemand Verantwortung übernehmen können soll. Daß (wahrscheinliche) Handlungsfolgen innerhalb von Grenzen, wie sie auch von situativen Umständen abhängen, zu diesen in kontrollierbaren Formen kognitiv zugänglichen Komponenten des Handelns gehören, kann nicht gut bezweifelt werden. Alle Spielarten konsequentialistischer Ethiken leben ja förmlich von dieser mehr oder weniger stillschweigenden Prämisse. Doch die Schlüsselrolle, die die kognitive Zugänglichkeit von Handlungskomponenten für die Möglichkeit der Verantwortung spielt, taucht ganz unverkürzt auch in Kants Moralkonzeption auf. Sie bezieht hier zwar nicht die Handlungsfolgen ein, sondern ist strikt auf die von allen möglichen Handlungsfolgen unabhängige moralische Binnenstruktur einer Handlungsweise einschränkt. 8

Vgl. Weber, Politik, a. a. O., S. 227 f., 236 f. bzw. 237–38.

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Doch im Blick auf die so außerordentlich wirkungsmächtige typologische Konzeption der Verantwortungs- und der Gesinnungsethik wird der Umstand viel zu sehr vernachlässigt, daß dieser Unterscheidung ein kognitivistisches Kriterium zugrunde liegt: Verantwortung kann jemand nur für diejenigen Komponenten und Charaktere einer Handlung übernehmen, die ihm kognitiv zugänglich sind und von ihm im Rahmen dieser kognitiven Zugänglichkeit auch kontrolliert und gestaltet werden können. Es kann dem gelernten Juristen und Nationalökonomen Weber nicht gut zum Vorwurf gemacht werden, daß er die innere Machart von Kants Ethik nicht genügend durchschaut hat, um einzusehen, daß diese mit der Kriterienfunktion des Kategorischen Imperativs ein entsprechendes kognitivistisches Zentrum hat. Umgekehrt gereicht es Webers Typologie vielmehr zum Vorzug, daß sie von diesem kognitivistischen Aspekt so treffsicher Gebrauch macht, daß sie ihn in praktischer Hinsicht zugunsten der typologischen Konzeption der Verantwortungsethik fruchtbar machen kann. Es ist daher auch eher sekundär, daß Weber die Möglichkeiten für eine entsprechend kognitivistisch konzipierte Ethik ausschließlich im Rahmen von folgenbasierten, konsequentialistischen Ethiken sieht. Viel wichtiger ist der Umstand, daß im Licht dieses kognitivistischen Schlüsselaspekts auch nicht-konsequentialistische Ethiken nicht von Anfang an von der Möglichkeit ausgenommen werden können, als Verantwortungsethiken konzipiert zu werden. Es kommt ausschließlich darauf an, mit Erfolg nach Möglichkeiten solcher Ethik-Konzeptionen zu suchen. Eben dies ist eine Angelegenheit der von Kant für die Ethik konzipierten reflektierenden praktischen Urteilskraft. Ein Resultat dieser Suche der reflektierenden praktischen Urteilskraft bildet Kants um den Kategorischen Imperativ zentrierte Ethik. Sie ist daher in dem wohlbestimmten Sinne eine Verantwortungsethik, daß sie in Gestalt des Kategorischen Imperativs ein Beurteilungskriterium ans Licht gebracht hat, mit dessen Hilfe man die moralische Binnenstruktur einer Handlungsweise ganz unabhängig von der Rücksicht auf deren mögliche oder wahrscheinliche Folgen erkennen kann. Es ist daher auch nur konsequent, wenn Kant die praktischen Urteile, zu denen die moralischen Urteile ja gehören, ausdrücklich zu den Erkenntnisurteilen zählt. 9 Deswegen wird aus Kants Ethik auch nicht dadurch eine Gesinnungsethik, daß in ihr für die Achtung vor diesem ›Sittengesetz‹ 9

Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Ak. V, S. 209 f.

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eine Schlüsselrolle reserviert ist. 10 Denn diese Achtung bildet zwar das wichtigste Motiv des moralischen Handelns. Doch wegen dieser motivationalen Rolle gehört sie trotz des Schlüsselcharakters dieser Rolle zu den sogenannten principia executionis des Handelns, aber nicht zu dessen principia diiudicationis. Indessen hat jede Ethik – auch eine konsequentialistische Ethik – mit der Frage nach den Motiven des konsequentialistisch bzw. nicht-konsequentialistisch normierten Handelns zu tun. Utilitaristische Ethiken können in diesem Punkt allerdings so etwas wie einen pragmatischen Plausibilitätsvorteil geltend machen. Denn die Nutzenorientierung des menschlichen Handelns entwickelt sich schon aus Gründen des individuellen Überlebensinteresses zu einer tief verwurzelten und komplex verästelten Habitualität unter den Dispositionen jedes einzelnen Menschen. Ihre motivationale Rolle wird wegen ihrer Selbstverständlichkeit von utilitaristischen Ethiken nur allzu oft mit dem entsprechenden Stillschweigen zwar in Anspruch genommen, aber zugunsten von immer komplexer werdenden kriteriologischen Analysen thematisch vernachlässigt. Doch angesichts der geradezu ubiquitären motivationalen Rolle der Nutzenorientierung in der menschlichen Praxis sind utilitaristische Ethiken – entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil – mindestens ebenso sehr Gesinnungsethiken wie Kants (kognitivistische) Kriterientheorie der Moralität – ebenfalls entgegen einem ebenso weit verbreiteten Vorurteil – eine Verantwortungsethik ist.

III. Dieser erste kurze Seitenblick auf die Kantische Ethik kann unmittelbar den ersten Aspekt zugänglich machen, unter dem man eine der Anwendungsfunktionen des ethischen Werkzeugs studieren kann – die Beurteilungsfunktion: Ethische Theorien bemühen sich um die Ausarbeitung von Prinzipien oder Kriterien, mit deren Hilfe man das moralische Format von leibhaftigen Handlungs- und Verhaltensweisen bzw. von Gesinnungen, Motiven, persönlichen Charakteren und anderen persönlichen Formaten beurteilen und erkennen kann. Die zweite wichtige Anwendungsfunktion des ethischen Werkzeugs ist bis jetzt überhaupt noch nicht zur Sprache gekommen. Dies Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ak. IV, S. 400 ff., 440 ff., sowie Kritik der praktischen Vernunft, Ak. V, S. 73 f., 76 f., 81 f.

10

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ist die Funktion, die in der Gegenwart schon seit längerer Zeit im Mittelpunkt der Arbeit am ethischen Werkzeug gestanden hat – die Begründungsfunktion. Diese Begründungsfunktion steht allerdings in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Beurteilungsfunktion. Denn es sind die praktisch-moralischen Urteile, die einer Begründung bedürfen und ihrer in den günstigen Fällen auch fähig sind. Diese praktischen Urteile haben zwei verschiedene logische Elementarformen: 1.

Die Handlungs- oder Verhaltensweise H der individuellen Person P in der individuellen Situation S ist moralisch richtig oder moralisch falsch oder moralisch indifferent,

bzw. 2.

die Gesinnung, die Haltung, die Motivation, der Charakter, die die individuelle Person P in der individuellen Situation S hegt bzw. hat, ist moralisch richtig oder moralisch falsch oder moralisch indifferent.

Die ethischen Werkzeuge sollen insofern dabei behilflich sein, die Begründungen praktischer Urteile über individuelle Handlungs- und Verhaltensweisen von individuellen Personen in individuellen Situationen durchsichtig zu machen; sie sollen daher ebenso behilflich sein, Urteile über individuelle Gesinnungen, Haltungen, Motivationen und Charaktere von individuellen Personen mit Blick auf individuelle Handlungs- und Verhaltensweisen so durchsichtig und plausiebel wie möglich zu begründen. Bekanntlich spielt sich die Begründungsfunktion der ethischen Werkzeuge auf zwei verschiedenen Stufen ab. Denn nicht nur die individuellen praktischen Beurteilungen von Einzelfällen bedürfen einer Begründung. Praktische Beurteilungen von Einzelfällen machen vielmehr von allgemeinen praktischen Normen Gebrauch, die ihrerseits einer Begründung bedürfen und ihrer in den günstigen Fällen auch fähig sind. Diese allgemeinen praktischen Normen haben im Unterschied zu den unmittelbaren Beurteilungen der praktischen Einzelfälle die folgenden logischen Elementarformen: 1.* Jede Person sollte in jeder Situation vom Typ S die Handlungs- und Verhaltensweise vom Typ H an den Tag legen. 2.* Jede Person sollte in jeder Situation vom Typ S mit derselben Gesinnung, derselben Haltung oder derselben Motivation, demselben Charakter handeln und sich verhalten.

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Man muß also vorläufig drei verschiedene Anwendungsfunktionen der ethischen Werkzeuge unterscheiden: 1. die Beurteilungsfunktion, also die Funktion, beim Entwickeln einer praktisch-moralischen Einzelfallbeurteilung behilflich zu sein; 2. diejenige prinzipielle Begründungsfunktion, die bei der Begründung der Einzelfallbeurteilung behilflich sein soll; und 3. diejenige Begründungsfunktion, die bei der Begründung der allgemeinen Norm behilflich sein soll, von der man sowohl bei der Einzelfallbeurteilung wie bei der Begründung der Einzelfallbeurteilung Gebrauch machen kann. Damit zeichnet sich für die konzeptionelle Arbeit am ethischen Werkzeug ein elementares methodisches Grundmuster ab: 1.)

Sie muß die Typen der praktisch-moralischen Einzelfallbeurteilungen möglichst genau einkreisen;

2.)

sie muß die allgemeinen Normen möglichst genau formulieren, die für die Begründung von Einzelfallbeurteilungen wichtig sind;

3.)

sie muß die Begründungen ausarbeiten, mit deren Hilfe man es rechtfertigen kann, daß genau die allgemeinen Normen für die Begründung der einschlägigen Einzelfallbeurteilungen in Frage kommen, die sie im zweiten Schritt ausgezeichnet hat;

4.)

und sie muß schließlich die Kriterien ausarbeiten, mit deren Hilfe man beurteilen kann, ob eine individuelle Person oder eine individuelle Handlungs- und Verhaltensweise in einer individuellen Situation überhaupt mit einer bestimmten Norm konform ist oder nicht.

Dies elementare Methodenmuster der Arbeit an der Ethik sollte man im Auge haben, wenn man verstehen will, wie die Arbeit an der Ethik und die Tätigkeit der praktisch-moralischen Urteilskraft zusammenhängen. Meine erste, bescheidene These lautet: Die Arbeit an der Ethik ist eine Fortsetzung der Tätigkeit der praktisch-moralischen Urteilskraft mit anderen Mitteln – mit Mitteln der Begriffs-, der Satzund der Argumentationsanalyse. Doch wie sieht dieser methodische Zusammenhang zwischen Ethik und praktisch-moralischer Urteilskraft im einzelnen aus? Der wichtigste Knotenpunkt zwischen der Arbeit an der Ethik und der Tätigkeit der Urteilskraft zeigt sich unmittelbar am Anfang. Wenn der Ethiker die Typen der praktisch-moralischen Einzelfallbeurteilungen einkreist, mit denen er sich in seiner Arbeit auseinandersetzen will, dann ist er darauf angewiesen, daß ihm aus dem praktischen Alltagsleben der Menschen Musterbeispiele von Produk159 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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ten der Tätigkeit der praktisch-moralischen Urteilskraft bereits zur Verfügung stehen. Der Ethiker fängt mit seiner Arbeit also genau da an, wo die Tätigkeit der praktisch-moralischen Urteilskraft im alltäglichen Leben aufhört – bei den Produkten dieser Tätigkeit der Urteilskraft.

IV. Im Folgenden soll dieses Methodenmuster benutzt werden, um einem Problem und einer Problemlösung auf die Spur zu kommen, mit denen sich Kant in seiner Ethik auseinandersetzt. Es kommt daher im ersten Schritt darauf an, diejenigen Produkte der praktischmoralischen Urteilskraft herauszupräparieren, die in Kants Ethik den Muster-Typus praktisch-moralischer Einzelfallbeurteilungen bilden. Dieser Mustertyp ist in methodischer und in funktionaler Hinsicht aufs engste mit der höchsten allgemeinen Norm verflochten, die Kant in seiner Ethik diskutiert – mit dem Kategorischen Imperativ, den er im § 7 der Kritik der praktischen Vernunft bekanntlich so formuliert: Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann! Damit formuliert Kant eine praktisch-moralische Norm in der sprachlichen Form eines Imperativs. Selbstverständlich kann man diesen Imperativ auch in einen assertorischen deontischen Satz transformieren, der eine Pflicht aller Menschen behauptet: Jeder Mensch soll so handeln, daß die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Doch dieses Transformationsproblem ist in diesem Zusammenhang gar nicht primär wichtig. Viel wichtiger ist der Umstand, daß Kant von dieser allgemeinen Norm sagt, daß sie ein principium diiudicationis ist, also ein Kriterium zur Beurteilung von Einzelfällen sowohl von Handlungsweisen wie von Willensmaximen. Erst hier beginnen die wirklich gewichtigen Probleme. Denn indem Kant der höchsten Norm im selben Atemzug die Funktion eines Kriteriums zuschreibt, scheint er den dritten und den vierten methodischen Schritt der Ethik in einem einzigen Schritt zu absolvieren – also den Schritt, der zur Formulierung der höchsten allgemeinen Norm führt, und den Schritt, der zur Formulierung des Kriteriums führt, mit dessen Hilfe man im Einzelfall beurteilen kann, ob eine Handlungsweise und eine Willensmaxime mit dieser Norm konform sind oder nicht. 160 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Doch so einfach liegen die Dinge bei Kant nicht. Er verwechselt nicht etwa eine praktisch-moralische Norm mit einem Beurteilungskriterium. Aber die praktisch-moralische Norm des Kategorischen Imperativs und das Kriterium für seine richtige Anwendung sind ungewöhnlich eng miteinander verflochten. Denn die allgemeine Norm des Kategorischen Imperativs markiert durch ihre sprachliche Gestalt gerade den neuralgischen Punkt, an dem sie auf dieses Kriterium angewiesen ist. Man kann diesen neuralgischen Punkt ganz einfach kenntlich machen, indem man die Frage formuliert, auf die man nur durch die Angabe des Kriteriums antworten kann: Wie kann man erkennen, ob eine Willensmaxime als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann oder nicht? Wenn man alle Indizien zusammennimmt, die sich aus Kants Texten gewinnen lassen, dann lautet dieses Kriterium folgendermaßen: Wenn sich ein Akteur mit seiner Willensmaxime nicht in einen Widerspruch verwickelt, indem er sie zu einem Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu machen versucht, dann sind seine Handlungsweise und seine Willensmaxime moralisch richtig bzw. moralisch wenigstens nicht falsch, sonst nicht. Wenn dies das oberste Kriterium, das oberste principium diiudicationis der Moralität ist, dann kommt es zunächst darauf an, vor allem die Frage zu untersuchen, wie dies Kriterium funktioniert, wenn man es auf Handlungsweisen und auf Willensmaximen anwendet, um herauszufinden, ob sie mit der Norm des Kategorischen Imperativs konform sind oder nicht. Diese Untersuchung hat die Demonstration zum thematischen Ziel, daß man Umstände genau bestimmen kann, unter denen im Licht von Kants eigenen Voraussetzungen ein Akt der Lüge jedenfalls insofern wenigstens erlaubt ist, als er ein Akt moralischer Notwehr ist.

V. Wenn man prüfen möchte, wie die Anwendung dieses Kriteriums funktioniert, dann ist es nützlich zu beachten, daß in der einschlägigen Kant-Forschung so gut wie nahtlose Übereinstimmung darin besteht, daß die Anwendung dieses Kriteriums am besten funktioniert, wenn man es auf den Fall des Lügens und der Lügenmaxime anwendet. Es besteht ebenfalls so gut wie nahtlose Übereinstimmung darin, daß es einige wenige Fälle von Handlungsweisen und Willensmaxi161 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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men gibt, bei denen seine Anwendung nicht so gut funktioniert. Und es besteht schließlich ebenso eine fast nahtlose Übereinstimmung darin, daß man bei den allermeisten Fällen von Handlungsweisen und Willensmaximen zumindest nicht klar genug sieht, wie eine solche Anwendung funktionieren könnte. Damit ist man indessen auf einem Umweg zum Anfang des methodischen Wegs zurückgekehrt, den jede Ethik gehen muß – man hat die praktisch-moralischen Einzelfallbeurteilungen eingekreist, die bei Kant das Paradigma einer solchen Einzelfallbeurteilung bilden. Diese Beurteilung kann zwei Formen annehmen: 1.)

Es ist moralisch falsch, wenn die individuelle Person P in der individuellen Situation S lügt.

2.)

Es ist moralisch falsch, wenn die individuelle Person P die Maxime hat, in kommunikativen Situationen lügen zu wollen.

Nun liegt es auf der Hand, daß praktisch-moralische Beurteilungen von Lügen und von Lügenmaximen fast schon zum täglichen Brot der Menschen gehören. Denn mit jeder sprachlichen Mitteilung setzt sich ihr Urheber jedenfalls implizit der Kontrolle durch die Frage aus, ob er lügt bzw. lügen sollte oder aber nicht – und zwar sowohl der Selbstkontrolle wie der Kontrolle durch andere. Doch diese alltäglichen moralischen Beurteilungen von Fällen des Lügens und der Lügenmaxime sind ebenfalls Produkte unserer alltäglichen praktischen Urteilskraft. Sie sind allerdings ganz offensichtlich so gut wie ausnahmslos nicht Ergebnisse einer direkten und thematischen Anwendung des Kriteriums des Kategorischen Imperativs auf Fälle des Lügens und der Lügenmaxime. Dennoch zeigt sich an dieser Stelle zum ersten Mal in voller Deutlichkeit, wie das Methodenmuster der Ethik mit einem Tätigkeitsmuster der praktischen Urteilskraft übereinstimmt. Denn wir beurteilen im Alltag nicht nur Einzelfälle von Lügen und Lügenmaximen. Wir benutzen im Alltag auch allgemeine Normen, mit deren Hilfe wir zu begründen suchen, warum man nicht lügen sollte. Diese allgemeinen Normen unseres Alltagslebens haben sich in der deutschen Sprache typischerweise in Sprichworten ausgeprägt, z. B. Lügen haben kurze Beine oder Ehrlich währt am längsten oder Die Sonne bringt es an den Tag. Solche allgemeinen Normen unseres Alltagslebens sind Resultate unseres alltäglichen Nachdenkens über die Gründe, warum wir nicht lügen sollten und warum wir uns das Lügen nicht zur Maxime unseres Willens machen sollten.

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Entscheidend ist in unserem Zusammenhang nun, daß nicht nur die praktischen Einzelfallbeurteilungen, sondern auch solche alltäglichen Normen Produkte der praktischen Urteilskraft sind – der reflektierenden praktischen Urteilskraft, wie Kant diese Tätigkeit der Urteilskraft spätestens seit der Publikation der Kritik der Urteilskraft präzisierend charakterisieren kann. 11 Unsere praktische Urteilskraft sucht mit Hilfe ihrer reflektierenden Funktion auch im Alltagsleben und nicht erst in der Ethik nach allgemeinen Normen, mit deren Hilfe sich praktische Einzelfallbeurteilungen begründen lassen. Die Arbeit an der Ethik ist daher eine Fortsetzung der alltäglichen Tätigkeit der praktischen Urteilskraft insofern als sie eine Fortsetzung der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft mit anderen Mitteln ist – mit Mitteln der Begriffs-, der Satz- und der Argumentationsanalyse.

VI. Wenn dies der Fall ist, dann bildet die Formulierung des Kategorischen Imperativs zunächst einmal ein maximal abstraktes Produkt der reflektierenden praktischen Urteilskraft. Doch unter dieser Voraussetzung handelt es sich auch bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs auf das Lügen und die Lügenmaxime ebenfalls um eine spezifische Tätigkeit der Urteilskraft – um die Tätigkeit der bestimmenden praktischen Urteilskraft, wie Kant diese Tätigkeit im Gegenzug zu ihrer reflektierenden Tätigkeit umschrieben hat. 12 Selbstverständlich ist der Konkretisierungsschritt extrem groß, den die bestimmende Urteilskraft tun muß, wenn sie den Kategorischen Imperativ auf das Lügen und die Lügenmaxime anzuwenden sucht – eben wegen des extrem hohen Abstraktionsgrades, den sie dabei überwinden muß. Dieser Schritt wird auch dann nicht kleiner, wenn man das von Kant ins Spiel gebrachte Kriterium der Konsistenz bzw. der Inkonsistenz zu Hilfe nimmt. Trotzdem handelt es sich in methodischer Hinsicht um dieselbe Tätigkeit der bestimmenden Urteilskraft, wenn man den Kategorischen Imperativ auf eine Handlungsweise oder auf eine Willensmaxime anzuwenden sucht wie wenn man z. B. die allgemeine Norm Die Sonne bringt es an den Tag auf das Lügen und die Lügenmaxime anzuwenden sucht. In diesem Sinne 11 12

Vgl. Kritik der Urteilskraft, ebd. S. 179. Vgl. ebd.

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gibt es daher gar nicht so etwas wie eine Angewandte Ethik. Es gibt nur Versuche der praktischen Urteilskraft, die Produkte ihrer reflektierenden Tätigkeit in den Dienst ihrer bestimmenden Tätigkeit zu stellen. Diese Versuche können gelingen, aber auch mißlingen. Falls sie mißlingen, ist der praktischen Urteilskraft bei der bestimmenden Tätigkeit der Subsumtion einer individuellen Handlungsweise oder einer individuellen Willensmaxime unter eine allgemeine Norm ein Fehler unterlaufen oder in die allgemeine Norm selbst hat sich bei der reflektierenden Tätigkeit der Urteilskraft ein Fehler eingeschlichen. Man sollte daher auch fragen, ob Kants reflektierender Urteilskraft oder seiner bestimmenden Urteilskraft irgendwelche Fehler unterlaufen sind. Konkret sollte man fragen: Ist es ein Indiz für irgendeinen Fehler von Kants Urteilskraft, daß der Kategorische Imperativ anscheinend einen so extrem engen Anwendungsbereich hat, daß seine Anwendung nur beim Lügen und bei der Lügenmaxime so gut funktioniert? Nun ist ein Text von Kant überliefert, der dokumentiert, daß Kant davon überzeugt war, daß der Anwendungsbereich des Kategorischen Imperativs nur scheinbar so eng ist. Dies ist der Text aus dem Jahr 1796 unter dem Titel Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie 13. In diesem Text kombiniert Kant eine Stelle aus dem Johannes-Evangelium mit einer Stelle aus dem Römer-Brief des Paulus. Mit der These »Die Lüge […] ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur […]« 14 gibt Kant offensichtlich zu verstehen, daß es für die Ethik, an der er arbeitet, aus anthropologischen Gründen kein anderes Thema gibt, das ihre Aufmerksamkeit so zentral verdient wie das Thema der Lüge. Mit der zweiten These »vom Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist« 15 gibt Kant offenbar zu verstehen, daß das Thema der Lüge die zentrale Aufmerksamkeit nicht nur um seiner selbst willen verdient, sondern auch deswegen, weil durch nichts anderes so viel Böses in die Welt gekommen ist wie durch die Lüge – nämlich alles andere Böse. Nun ist Kants spezifisch anthropologische Überzeugung von dieser extremen Fruchtbarkeit der kriteriellen Verwendung des Kategorischen Imperativs selbstverständlich nicht mehr und nicht weni13 14 15

Vgl. Ak. 8, S. 411–22. Ebd. S. 422. Ebd.; vgl. Joh. 18, 44 und Röm. 5, 12.

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ger wert als es die Gründe sind, die man zu ihren Gunsten beibringen kann. Es ist insofern immerhin konsequent und kohärent, daß er diese Gründe in einem Kontext entwickelt hat, der systematisch und thematisch ausschließlich der Anthropologie gewidmet ist. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hat er diese Gründe in der Verbindung eines fiktiven, para-anthropologischen Szenarios mit einem kontrafaktischen Argument entwickelt. Kant unterstellt hier probehalber, »[…] daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. im Wachen wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegen einander abgeben?« 16 Offenbar würde das vor allem deswegen ein ganz anderes Verhalten gegeneinander abgeben, weil solche Wesen die Technik des Lügens nicht praktizieren könnten. Und zwar könnten sie diese Technik offensichtlich deswegen nicht praktizieren, weil sie aus genetischen Gründen nicht im Stillen das Gegenteil eines Gedankens für wahr halten könnten, den sie laut – und insofern öffentlich – für einen von ihnen für wahr gehaltenen Gedanken ausgeben können. Diese Fiktion einer nicht-menschlichen genetischen Konstitution für die kommunikative Artikulation jedes Gedankens wird von Kant nach seinem eigenen Bekunden deswegen erprobt, weil sie eine Möglichkeit eröffnet, ein Gegenmodell zu einem humangenetisch verankerten Verhaltensmuster zu entwerfen. Im Rahmen dieses Gegenmodells kann man planmäßig alle die Verhaltensweisen zu ermitteln suchen, die von Akteuren dann nicht praktiziert werden können, wenn sie aus genetischen Gründen die Technik des Lügens nicht praktizieren können. Zu diesen impraktikablen Verhaltensweisen gehören dann aber nicht nur Lügen, falsche Versprechungen, Betrug und alle anderen Formen von täuschenden kommunikativen Akten. Dazu gehören offensichtlich auch alle nichtkommunikativen, aber interaktiven Handlungsweisen, zu deren Erfolgsbedingungen das Lügen oder andere täuschungsstrategische Techniken des Beschweigens von Gedanken gehören, die von den Urhebern dieser Handlungsweisen für wahr gehalten werden. Beispielsweise das Morden, das Rauben u. a. strafrechtlich bewehrte Handlungsweisen gehören unter solchen Voraussetzungen zu den impraktikablen Handlungsweisen. 16

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Ak. VII.

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Denn eine der charakteristischen Erfolgsbedingungen solcher strafbewehrten Handlungsweisen – die täuschungsstrategische Verbergung ihrer Ziele durch dessen Beschweigen – kann unter solchen genetischen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Kants para-anthropologisches Modell einer Gattung von Lebewesen, die aus genetischen Gründen weder die Technik des Lügens noch die des Betrügens noch eine andere Technik täuschungsstrategischen Beschweigens praktizieren können, eröffnet daher in erster Linie eine methodische Möglichkeit: Man kann mit seiner Hilfe die Gründe einsehen, aus denen Kant berechtigterweise die Überzeugung gewinnt, daß, falls das Lügen moralwidrig ist, das Lügen die Quelle aller ›bösen‹ Handlungs- und Verhaltensweisen ist. Es sind dann nämlich alle und nur diejenigen Handlungs- und Verhaltensweisen ›böse‹, zu deren charakteristischen Erfolgsbedingungen das aus moralischen Gründen ›böse‹, also täuschungsstrategische Beschweigen von Sachverhalten gehört, die entweder als Mittel oder als Ziele von diesen Handlungs- und Verhaltensweisen abhängig sind.

VII. Wie sieht nun die Prozedur genau und im einzelnen aus, die die bestimmende Urteilskraft ausübt, wenn sie den Kategorischen Imperativ auf das Lügen und auf die Lügenmaxime anzuwenden sucht? Das Ziel dieser Prozedur besteht darin, eine Konsistenz zu ermitteln oder eine Inkonsistenz – also eine bestimmte logische Struktur, durch die das Lügen und die Lügenmaxime charakterisiert werden können. Logische Konsistenzen und Inkonsistenzen kann man nur durch rein formale Verfahren ermitteln. Im Folgenden sollen nur die wichtigsten Knotenpunkte dieses Verfahrens markiert werden. 17 Mit dem ersten Schritt wird die individuell-subjektive Lügenmaxime in ein Lügengesetz transformiert, also nomologisiert – mithin der Satz Ich will regelmäßig lügen in das Gesetz Jeder muß oder soll lügen umgeformt. Diese Nomologisierung einer Maxime schließt den formalen Schritt ihrer Universalisierung als einen trivialen und formal banalen logischen Umformungsschritt ein. Seit der außerordentlich einflußreich gewordenen Untersuchung von Marcus SinZu den Mikrodetails dieses Verfahrens vgl. oben S. 65–70. 84–85, sowie die weiterführenden Überlegungen oben S. 115–24.

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ger Verallgemeinerung in der Ethik 18 geistert zwar eine entsprechende Universalisierbarkeits-Konzeption mit dem Anspruch einer moralrelevanten Kriterien-Konzeption auch der Kantischen Ethik durch die Prinzipienerörterungen des ethischen Diskurses. Doch mindestens genauso weit wie der Einfluß dieser Konzeption reichen die Konfusionen, die mit ihr verbunden sind. Denn kaum etwas anderes taugt schlechter zum Prinzip moralischen Argumentierens 19 als die universelle Verallgemeinerbarkeit von irgendwelchen individuellsubjektiven Regeln, Maximen oder Prinzipien. Schon der flüchtigste Blick in die von Singer sorgfältig durchgeführten Einzelanalysen ethischer Prinzipientheorien kann denn auch zeigen, daß die banale formallogische Operation der Universalisierung in keiner dieser Theorien in den Kernbereich der jeweils erwogenen Prinzipien führt. Stets bildet diese Operation eine zwar unerläßliche, aber für die Kriterienfunktion des erörterten Prinzips auch gänzlich unspezifische Präliminarie des Schrittes in diesen kriteriellen Prinzipienbereich. Dieser Schritt selbst hat im Rahmen jedes einzelnen ethischen Entwurfs eine spezifische Gestalt, durch die er sich von jedem spezifisch anderen unterscheidet. Bei Kant hat dieser Schritt die Gestalt der die Universalisierung aus formalen Gründen einschließenden Gestalt der Nomologisierung. Mit dem zweiten Schritt muß man daher fragen, inwiefern sich ein Inhaber der Lügenmaxime mit dieser Maxime in einen Widerspruch verwickelt, wenn er sie im Geltungsbereich eines Lügengesetzes praktiziert. Wenn man diese Frage beantworten können möchte, muß man allerdings selbstverständlich berücksichtigen, daß das Lügen ein kommunikativer Akt ist, an dem mindestens zwei Personen beteiligt sind. Wenn jemand lügt oder regelmäßig lügen will, dann intendiert er auf diese Weise Erfolge. Diese Erfolge bestehen darin, daß der Adressat einer Lüge das Gegenteil von dem für wahr hält, was der Lügner selbst für wahr hält. Wenn jedoch ein Lügner und sein Adressat wissen, daß sie unter einem Gesetz leben, das sie, weil es ein Gesetz ist, verpflichtet zu lügen, dann wird jeder Adressat irgendeiner Mitteilung schon aus Gründen der Vorsicht nicht bereit sein, der Mitteilung seines Kommunikationspartners Glauben zu schenken. Doch das bedeutet prakVgl. Marcus Singer, Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens (amerik. 11961), Frankfurt/M. 1975. 19 Vgl. Singer, Verallgemeinerung, S. 34 ff. 18

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tisch, daß ein Lügengesetz verhindert, daß ein Lügner Erfolg hat. Denn die charakteristische Erfolgsbedingung des Lügens und der Lügenmaxime besteht nun einmal darin, daß es jemand gibt, der dem jeweiligen Lügner Glauben schenkt. Aber die charakteristische praktische Konsequenz aus einem Lügengesetz besteht darin, daß es nicht jemand gibt, der einem Lügner Glauben schenkt. Doch damit steht die Inkonsistenz fest, nach der man suchen muß: Die charakteristische Erfolgsbedingung des Lügens und der Lügenmaxime – es gibt jemand, der einem Lügner Glauben schenkt – steht im Widerspruch mit der charakteristischen praktischen Konsequenz aus dem Lügengesetz – es gibt nicht jemand, der einem Lügner Glauben schenkt. Man kann daher auf dieser Basis schon das allgemeine Kriterium formulieren, von dem die Anwendbarkeit des Kategorischen Imperativs abhängt: Jemand handelt dann so, daß die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann, wenn keine charakteristische Erfolgsbedingung seines Handelns oder seiner Maxime mit irgendeiner charakteristischen praktischen Konsequenz aus dem Gesetz inkonsistent ist, in das man diese Maxime transformieren kann, andernfalls nicht. Während die Hauptformel des Kategorischen Imperativs die Gesetzestauglichkeit von Maximen zur Pflicht macht, bringt diese Formel erst das Kriterium der Gesetzestauglichkeit bzw. -untauglichkeit auf Begriffe.

VIII. Mit dieser Überlegung hat man den Wendepunkt erreicht, von dem aus man zum Problem der moralischen Notwehr gelangen kann. Zu diesem Zweck ist es nützlich, sich daran zu erinnern, daß Kant die Auto-Nomie des Menschen mit der Fähigkeit identifiziert, selbst (αὐτός) gesetzförmig moralisch richtig nicht nur zu urteilen, sondern auch entsprechend urteilskonform zu handeln. 20 Wenn die bisherigen Überlegungen richtig sind, dann bedeutet, moralisch richtig zu handeln, so zu handeln, daß die charakteristischen Erfolgsbedingungen der Willensmaxime eines Akteurs konsistent sind mit den charakteristischen Konsequenzen aus dem Gesetz, in das man seine Maxime transformieren kann. Und moralisch richtig urteilen, bedeutet dann, solche Konsistenzen bzw. Inkonsistenzen richtig zu beurteilen. 20

Kant, Grundlegung, ebd. S. 433 f.

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Diese moralische Autonomie rückt in einer ganz besonderen Weise in das Argumentationszentrum, wenn es um das Problem der moralischen Notwehr geht. Wie wichtig die Berücksichtigung der moralischen Autonomie nicht nur in diesem Zusammenhang ist, kann man besonders gut verstehen, wenn man den jüngsten Versuch beachtet, Kants Ethik so zu rekonstruieren, daß sie sich als die einzige plausible Moralkonzeption erweist. Diesen Versuch hat bekanntlich Ernst Tugendhat unternommen. 21 Die von Tugendhat favorisierte Ethik der Kooperativität arbeitet in ihrem Zentrum mit einem AntiInstrumentalisierungs-Prinzip, dessen elaborierte Gestalt sie mit einer der bekannten Varianten des Kategorischen Imperativs identifiziert – mit der sogenannten Zweck-Formel 22 Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst! 23 Der entscheidende Punkt besteht in diesem Ansatz Tugendhats nun darin zu argumentieren, daß man die Autonomie- bzw. Nomologisierbarkeits-Formel des Kategorischen Imperativs überhaupt nicht mehr um ihrer selbst willen ernst nehmen könne und müsse, sondern in erster Linie diese Zweck-Formel im Sinne einer einfachen und strikten Anti-Instrumentalisierungs-Formel ernst nehmen müsse. 24 Allenfalls kann man nach Tugendhat zugestehen, daß das richtige Verständnis der 1. Formel – also der Nomologisierbarkeits-Formel – das richtige Verständnis der 3. Formel – also der Anti-Instrumentalisierungs-Formel – voraussetze. 25 Doch damit wird das von Kant behauptete Voraussetzungsverhältnis zwischen den beiden Formeln nicht nur, wie Tugendhat wohl weiß, auf den Kopf gestellt. Damit wird vielmehr, was Tugendhat offenkundig übersieht, der kriterielle Kern der Anti-Instrumentalisierungs-Formel zum Verschwinden gebracht und damit diese Formel ihrer einzigen spezifischen Funktion beraubt. Der Fehler, in den man sich auf diese Weise verstrickt, hat – wie jeder Fehler – gleichsam ein doppeltes Gesicht. Seiner Genese nach geht er offensichtlich aus einer Verlegenheit gegenüber der Formel von der ›Menschheit in einer Person‹ hervor. Faktisch behandelt Tu-

21 22 23 24 25

Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 79 ff. Vgl. ebd., S. 80 ff. Kant, Grundlegung, ebd. S. 429 f. Vgl. Tugendhat, Ethik, ebd. S. 82 ff. Vgl. ebd.

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gendhat die Anti-Instrumentalisierungs-Formel jedenfalls so, als würde sie diese Menschheit gar nicht thematisieren und einfach die Instrumentalisierung von Personen verbieten. Doch noch nicht einmal ein einfaches und striktes Instrumentalisierungsverbot im Sinne des Imperativs Instrumentalisiere niemanden! 26 wird durch die sogenannte 3. Formel des Kategorischen Imperativs ausgedrückt. Vielmehr verbietet sie lediglich eine uneingeschränkte Instrumentalisierung, indem sie jeder Instrumentalisierung die Rücksicht auf den Zweck gebietet, eben die ›Menschheit‹ in der Person des jeweiligen Instrumentalisierungskandidaten nicht nur zu bewahren, sondern sogar zu fördern. 27 Man kommt daher gar nicht umhin, sich – anders als Tugendhat – einen hermeneutisch und sachlich tragfähigen Reim auf die Thematisierung dieser Menschheit zu machen. Mit Tugendhats Behandlung der Anti-Instrumentalisierungs-Formel ist allenfalls die Unterstellung verträglich, daß es sich bei der thematisierten Menschheit um die biologische oder um die kulturgeschichtliche Gattung handelt, die in jeder individuellen menschlichen Person in einem noch zu konkretisierenden Sinne präsent sei. Schon in einer früheren moralphilosophischen Schrift hat Tugendhat den Rekurs auf eine solche die individuellen Menschen »transzendierende Ganzheit« als das aufgefaßt, was »für Menschen […] eigentlich konstitutiv [ist]«. 28 Doch der Begriff der Menschheit ist in Kants Moralphilosophie jedenfalls kein Gattungsbegriff. 29 Er ist vielmehr der Begriff eines einzigartigen Charakters – seiner Würde –, wie er zusammen mit mancherlei andersartigen Charakteren zu den »Anlagen« 30 gehört, die jeden individuellen Menschen als Menschen auszeichnen – und das bedeutet: ihm den Charakter eines Menschen verleihen und mithin seine Menschheit ausmachen. Das Wort ist in Kants Theorie nichts anderes als das deutsche Synonym für die humanitas. Doch eben diesen einzigartigen Charakter, der im Zentrum aller ›menschheitlichen‹ Anlagen steht, identifiziert Kant mit nichts anderem als mit der praktisch-moralischen Autonomie, also um die ambivalente, Vgl. ebd. S. 80 f. Vgl. Kant, Grundlegung, ebd. S. 430 f. 28 Ernst Tugendhat, Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin 21988, S. 43 f. 29 Vgl. zu diesem Punkt auch den minutiösen Kommentar von Dieter Schönecker/ Allen W. Wood, Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Ein einführender Kommentar, Paderborn-München-Wien-Zürich 2002, S. 14975. 30 Kant, Grundlegung, S. 430. 26 27

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teilweise kognitive und teilweise praktische Fähigkeit, die Gesetzestauglichkeit bzw. -untauglichkeit einer Maxime zu erkennen, bzw. sich in der Praxis von gesetzestauglichen Maximen leiten und von gesetzesuntauglichen Maximen nicht verleiten zu lassen. 31 Berücksichtigt man diese ›Tiefengrammatik‹, durch die in Kants Moralphilosophie die Menschheit in der Person eines jeden individuellen Menschen mit dessen Autonomie identifiziert wird, dann wird sofort die Kehrseite, nämlich die Tragweite des Fehlers offenkundig, der aus der Verwechslung von Kants entsprechendem Menschheitsbegriff mit einem biologischen oder kultur- oder sozialgeschichtlichen Gattungsbegriff entspringt. Denn im Klartext fordert die kantische Anti-Instrumentalisierungs-Formel unter der Voraussetzung dieser Identifizierung, daß so zu handeln ist, daß sowohl die kognitive wie die praktische Fähigkeit der Autonomie ebenso in der Person des jeweils Handelnden wie in der Person jedes Interaktionspartners niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich auch als Zweck gebraucht werde. Doch erst mit diesem Klartext ist auch konkret genug bestimmt, was genau den ›menschheitlichen‹ Charakter ausmacht, der niemals nur als Mittel, sondern stets zugleich auch als Zweck gebraucht werden soll. Zusammen mit dieser Konkretion tritt aber selbstverständlich auch der von Kant ganz unmißverständlich reservierte Primat der Autonomie-Formel des Kategorischen Imperativs noch einmal in einer anderen Beleuchtung ans Licht. Denn es ist selbstverständlich diese Autonomie-Formel, ohne die die Anti-Instrumentalisierungs-Formel ganz einfach ins Leere laufen würde. Die Leerstelle, die dadurch in der Anti-Instrumentalisierungs-Formel auftauchen würde, könnte – und müßte – dann durch irgendwelche anderen konkreten Charaktere von Menschen ausgefüllt werden, die niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich auch als Zwecke gebraucht werden müßten. Doch an einer entsprechenden kompensatorischen Substitution hat sich Tugendhat gar nicht versucht. Mit der Autonomie-Formel verschwindet vielmehr auch die Autonomie selbst aus dem Blickfeld – also die zentrale kognitive und praktische Fähigkeit des Menschen, die Gesetzestauglichkeit bzw. -untauglichkeit von Maximen zu erkennen und sich in der Praxis von gesetzestauglichen Maximen leiten bzw. von gesetzesuntauglichen Maximen nicht verleiten zu lassen. An ihre Stelle tritt, indem Tugendhat die Zum Fähigkeits-Status der Autonomie vgl. ebenfalls Schönecker/Wood, Kommentar, S. 142 ff.

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Konsequenz aus seiner Umfunktionierung der 2. Formel des Kategorischen Imperativs zur Hauptformel sieht, die von dieser Formel in der Tat vorausgesetzte Fähigkeit des Menschen zur Kooperation. 32 Denn es sind ja offensichtlich die technischen Formen, in denen die Menschen von dieser Fähigkeit Gebrauch machen, was im Licht der 2. Formel normiert wird. Doch in allen Kooperationsformen werden irgendwelche Fähigkeiten, Fertigkeiten und andere Attribute von Menschen einseitig oder wechselseitig instrumentalisiert. Daher greift Tugendhats Paraphrase von Kants Anti-Instrumentalisierungs-Formel Instrumentalisiere niemanden! 33 schon deswegen viel zu kurz, weil sie zum einen dies ebenso uralte wie alltägliche sozialtechnische Allerweltsfaktum der wechselseitigen Instrumentalisierung vernachlässigt, zum anderen deren sozialanthropologische Unumgänglichkeit außer Acht läßt und schließlich und vor allem verkennt, daß im Licht der 2. Formel gerade der sozialtechnische und sozialanthropologische Wildwuchs dieser Instrumentalisierungen gehegt werden kann und soll, indem unter allen Attributen von Menschen genau diejenige identifiziert wird, die seine ›Menschheit‹ – also seine humanitas bzw. Würde – ausmacht und deswegen niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich auch als Zweck gebraucht werden soll. Doch die Identifizierung eines solchen Attributs bleibt Tugendhats Ethik der Kooperativität schuldig. Sie läßt die kooperierenden Menschen mithin im Stich mit ihrer Frage, welches Attribut eines Menschen jene humanitas ausmacht, das in allen unumgänglichen Instrumentalisierungen ihrer Kooperationsformen stets den Respekt eines absoluten Zwecks beanspruchen darf. 34

IX. Wenngleich eine Ethik der Kooperativität gleichsam das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem sie mit dem humanitas-Bezug der AntiInstrumentalisierungs-Formel auch den dahinterstehenden AutoVgl. Tugendhat, Ethik, S. 82 ff. Vgl. ebd. S. 80 ff. 34 [Es ist ganz unverständlich, warum Schönecker/Wood, Kant, Tugendhats EthikBuch in ihrer Bibliographie auflisten, ohne als Kant-Experten auch nur ein einziges Wort über dessen geradezu groteske Verstümmelung von Kants authentischem AntiInstrumentalisierungsprinzip und über die Tragweite dieser Verstümmelung zu verlieren.] 32 33

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nomie-Rekurs vernachlässigt, so macht sie doch in einer überaus aufschlußreichen Weise auf die Tragweite aufmerksam, die die sozialanthropologische Kooperativitäts-Prämisse mit sich bringt, mit der die Anti-Instrumentalisierungs-Formel gleichwohl ganz offensichtlich verflochten ist. Denn es liegt ja auf der Hand, daß die Autonomie bzw. die humanitas jedes einzelnen Menschen überhaupt nur deswegen eines strikten Finalitätsarguments bedarf, weil jeder Mensch in gänzlich geschichts-, kultur-, gesellschafts- und situationsinvarianter Weise der Kooperation bedarf, ihrer mit seinen unzähligen spezifisch kooperativen Fertigkeiten auch fähig ist und eben deswegen beständig mannigfaltigen mehr oder weniger legitimen Ansinnen entsprechender Instrumentalisierungen dieser Fertigkeiten durch seinesgleichen auch ausgesetzt ist. 35 Es ist daher alles andere als ein Zufall, daß Kant ausgerechnet in seiner publizierten Anthropologie-Schrift die Überlegung entwickelt, durch die er zu verstehen gibt, welches die moral-anthropologisch wichtigste Form der Kooperation ist. Denn indem er herausstreicht, daß es für Menschen charakteristisch ist, daß sie die genetisch verankerte technische Fähigkeit haben, Gedanken, die sie hegen, zu beschweigen, 36 und indem er gleichzeitig die Lügenmaxime – also die täuschungsstrategische kommunikative Technik des Verschweigens von Gedanken, die man für wahr hält – das Schlüsselmuster aller Maximen ist, die im prozedural-kriteriellen Licht des Kategorischen Imperativs moralwidrig sind, 37 wird indirekt die sprachliche Kommunikation zwischen Menschen als die moralanthropologisch charakteristische und die praktisch wichtigste Form der Kooperation zwischen ihnen ausgezeichnet. Damit wird Kants Ethik der Wahrhaftigkeit zur unmittelbaren systematischen, moralphilosophischen Ergänzung der von Edward Craig ausgearbeiteten Sozialanthropologie des pragmatischen Informationsaustauschs: 38 Da Menschen mit Erfolg handeln müssen, brauchen sie wahre Meinungen über diejenigen Kants mit so viel verständnislosem Spott bedachte eherechtliche Argumentation zugunsten eines ›auf dingliche Art persönlichen Rechts‹ ist auch ein Indiz für den Grad der Verästelung, bis zu dem er solchen Instrumentalisierungen auf die Spur zu kommen bemüht ist, um nach moralischen und rechtlichen Hegungsformen für sie zu suchen, vgl. Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 276 ff. 36 Vgl. oben S. 165–66. 37 Vgl. oben S. 65–70 und 84–85, sowie 115–24. 38 Vgl. Edward Craig, Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 42 ff. 35

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Umstände ihrer Handlungssituationen, die für die intendierten Handlungserfolge wichtig sind; 39 da aber kein Mensch über alle jeweils erfolgsrelevanten Umstände seines Handelns ganz aus eigener Kraft zu wahren Meinungen gelangen kann, ist er stets auf irgendwelche zuverlässigen Informationen durch seinesgleichen angewiesen. 40 Die Informationen, auf deren Kommunikation Menschen aus pragmatischen Gründen angewiesen sind, durchlaufen dabei die ganze Komplexitätsspanne von Informationen darüber, was sich gerade im Rücken eines Akteurs abspielt, 41 bis zu Informationen darüber, wie man eine Atomwaffe entschärft und demontiert. 42 Die Berücksichtigung von Craigs vorbildlich ausgearbeiteter Theorie 43 ist im Blick auf Kants Ethik der Wahrhaftigkeit und auf seine Anthropologie der kommunikativen Verbergungstechnik daher zum einen deswegen wichtig, weil diese Theorie den allgemeinen sozialanthropologischen Horizont umreißt, innerhalb dessen dies teils ethische und teils anthropologische Konzept seine Tragfähigkeit und Tragweite erweisen muß. Ihre Berücksichtigung ist überdies in methodischer Hinsicht wichtig, weil sie daran erinnert, daß man diese Tragfähigkeit und diese Tragweite naturgemäß vor allem im Rahmen von solchen Fallerörterungen erproben sollte, die auf sozialanthropologische Grund- bzw. Grenzsituationen verweisen. Kant selbst faßt solche Grundsituationen im Rahmen seiner Kasuistik regelmäßig ins Auge, indem er z. B. den materiellen Tauschverkehr der Menschen als das charakteristische Medium für jene Form der Unwahrhaftigkeit behandelt, die in Gestalt des Betrugs zum Zuge kommt; 44 oder indem er die sprachliche Kommunikation über gemeinsame praktische Angelegenheiten als das charakteristische Medium falscher Versprechen behandelt und diese Form der Unwahrhaftigkeit sogar im Licht des Anti-Instrumentalisierungs-Prinzips analysiert. 45

Vgl. ebd. S. 40–42. Vgl. ebd. S. 42–43, 44 ff. 41 Vgl. ebd. S. 88–89. 42 Vgl. ebd. S. 108 f. 43 Zu den inneren Grenzen, die dieser Theorie dennoch durch die viel weitergehende Intention Craigs gezogen sind, zur Klärung bzw. zur Lösung des erkenntnistheoretischen Wissensproblems beizutragen, vgl. vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, bes. S. 105–10, 260–61, 263–65. 44 Vgl. Kant, Grundlegung, S. 397 f. 45 Vgl. ebd. S. 429–30. 39 40

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Doch angesichts der internen Komplexitätsgrade, die kommunikative Situationen annehmen können, liegt es von Anfang an auf der Hand, daß die Kasuistik von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit durch die vergleichsweise einfachen Situationen von Lüge, falschem Versprechen und Betrug nicht erschöpft sein kann. Darüber hinaus sind die entsprechenden Situationen nicht nur mit sozialanthropologischen Grundzügen verwoben, sondern mögen auch in statistischer Hinsicht eine starke sozialanthropologische Signifikanz aufweisen. Die Umstände haben es indessen gefügt, daß Kant durch einen äußeren, literarischen Anlaß auf eine praktische kommunikative Situation aufmerksam geworden ist, deren technische, moralische und rechtliche Struktur sie zwar schon prima facie zu einer Grenzsituation stempelt. Gleichwohl taucht diese Grenzsituation mit einer solchen Kontinuität in allen geschichtlichen Phasen und so häufig in fast allen Weltgegenden auf, daß man sie aus leider nur allzu guten empirischen Gründen fast als eine regelmäßige sozialanthropologische Grenzsituation charakterisieren kann. Nicht zuletzt bildet sie aber auch in methodologischer Hinsicht eine Grenzsituation, weil die Tragfähigkeit und Tragweite sowohl des Autonomiewie des Anti-Instrumentalisierungs-Prinzips der Kantischen Ethik mit Blick auf die Struktur dieser Situation geradezu ein experimentum crucis durchmacht.

X. Eine solche Situation wird von Kant in einer seiner letzten Schriften analysiert, in dem Artikel Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen aus dem Jahr 1797. 46 Kant erörtert in dieser Schrift einen Situationstyp, den Benjamin Constant einerseits gezielt im Blick auf Kants Ethik der Wahrhaftigkeit erörtert hat 47 und andererseits m Rückblick auf regelmäßige und reale Situationen aus der terroristischen Zeit der Französischen Revolution zu diesem Zweck entworfen hat: Eine Person A, die einen Mordplan gegen eine Person B verfolgt, sucht eine Person C auf und nötigt diese Person C unter Vgl. Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Ak. VIII, S. 423–30. 47 Vgl. ebd. S. 425*, sowie zum literarischen Hintergrund die Erläuterungen des Herausgebers Gerhard Lehmann, S. 517. 46

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Androhung von Gewalt 48, ihr mitzuteilen, wo sich das intendierte Opfer B aufhält; die Person C weiß, daß die Person A diesen Mordplan verfolgt, und sie weiß, wo sich das intendierte Opfer aufhält. Die Frage ist, ob die Person C in dieser Situation und unter diesen Umständen verpflichtet ist, wahrhaftig zu sein, oder ob es ihr erlaubt ist zu lügen. Die Herkunft von Constants Situationstyp aus der terroristischen Phase der Französischen Revolution ist nicht ohne Belang für den bislang regelmäßigen Grenzcharakter, der einer solchen Situation insbesondere im Blick auf die Geschichte der Rechts- und der Verfassungspolitik zufällt. Denn da terroristische politische Regime durchweg vor allem auf einer partiellen oder totalen Mißachtung der Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts der Bürger auf Schutz gegen Gewalt beruhen, läßt dieser Situationstyp eine einfache Modifikation zu, die aber seine geschichtliche Tragweite für Moral, Rechtsund Verfassungspolitik offenkundig werden läßt. Beim Informationsbedürftigen A braucht es sich lediglich um einen informationsheischenden Erfüllungsgehilfen einer gewalttätigen Exekutive zu handeln. Diese instrumentalisiert ihren Erfüllungsgehilfen A unter Mißachtung der Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts auch des Bürgers C auf Schutz gegen Gewalt mit dem für C offenkundigen Ziel, die Ausübung von dessen moralischer Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit zu dem Zweck zu erzwingen, dessen wahrhaftige und wahre Information über den Aufenthalt von B zu moral- und rechtswidriger Gewalt gegen B zu mißbrauchen. 49 Es ist nur allzu bekannt, daß dieser terroristische Situationstyp in allen geschichtlichen Phasen des öffentlichen Lebens und in fast allen Weltgegenden bis in unsere Gegenwart nur allzu häufig zur schlechten Wirklichkeit gehört. Militärdiktaturen, Parteidiktaturen und andere Formen der Gewaltherrschaft lassen den von Constant und Kant analysierten terroristischen Situationstyp nach wie vor zu einem Situationstyp werden, der trotz seines Grenzcharakters gleichwohl einen verbreiteten Grundcharakter des weltweiten öffentlichen, rechtspolitischen Lebens bildet. Sucht man sowohl das Autonomie- wie das Anti-Instrumentalisierungs-Prinzip des Kategorischen Imperativs im Blick auf diesen Dies ist Kants ausdrückliche Zusatzprämisse in dieser Kasuistik, vgl. ebd. S. 426 f. [Vgl. den von Günther Patzig, Die Begründbarkeit moralischer Normen (11966), wieder abgedr. in: ders. Gesammelte Schriften Bd. I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44–71, herangezogenen geheimpolizeilichen Situationstyp, S. 68–69.] 48 49

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Situationstyp zu erproben, dann ist es unerläßlich zu beachten, daß sein situatives Grenzformat auch Reflexionen nötig macht, die dies Grenzformat mit Blick auf die beteiligten situativen Umstände hinreichend durchsichtig machen. So sieht sich Kant durch eine der Prämissen von Constants Argumentation zugunsten der Lügenerlaubnis von Anfang an gehalten, diesen Situationstyp unter Aspekten des Rechts und gerade nicht der Moralität zu analysieren und zu beurteilen. Denn Constant erörtert die Frage der durch eine Ausnahmesituation dieses Typs anscheinend legitimierbaren Lüge strikt im Blick auf den Schaden, der dem intendierten Opfer mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit aus der Wahrhaftigkeit und Wahrheit des Informanten erwachsen kann. 50 Entsprechend argumentiert Kant ausschließlich juridisch und – was im Blick auf das Kriterienproblem und damit im Blick auf die Rollenverteilung für die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft fast noch wichtiger ist – ausschließlich konsequentialistisch, und zwar ausschließlich im Blick auf den Schaden, der dem intendierten Opfer mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit aus einer noch so wohlwollenden Lüge erwachsen kann. 51 Diese konsequentialistische und utilitaristische Argumentation fällt deswegen so sehr ins Gewicht, weil moralische Argumentationen durch das von Kant ausgearbeitete Moralitäts- bzw. Autonomiekriterium strikt auf eine nicht-konsequentialistische und daher auch nicht-utilitaristische Form festgelegt sind. 52 Da jedoch das Anti-Instrumentalisierungs-Kriterium aus einer Spezialisierung des rein moralischen Autonomie-Kriteriums hervorgegangen ist (vgl. oben S. 169–72), kann man die von Constant und Kant ins Auge gefaßte Situation auch nur dann zur Erprobung von Tragfähigkeit und Tragweite des Anti-Instrumentalisierungs-Kriteriums berücksichtigen, wenn man alle konsequentialistisch und utilitaristisch relevanten Komponenten dieses Situationstyps – also auch alle Schadenskomponenten – sorgfältig von den ausschließlich moralisch relevanten Komponenten unterscheidet. Doch wie sieht die moralische Struktur dieser Situation im Licht des Autonomie- und des Anti-Instrumentalisierungs-Kriteriums aus?

50 51 52

Vgl. den Schlußsatz der von Kant zitierten Constant-Passage ebd. S. 425. Vgl. ebd. S. 427 ff. Vgl. Kant, Grundlegung, S. 402 f.

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XI. 53 Nun weiß Kant aber nur zu gut, daß es nicht alleine darauf ankommt, von Natur aus mit der dispositionellen Fähigkeit der Autonomie bzw. der praktischen Vernunft begabt zu sein. Angesichts der unumgänglichen Reifeprozesse jedes einzelnen Menschen und angesichts der ständig wechselnden Situationen und Umstände des menschlichen Lebens kommt es vielmehr darauf an, im Laufe der Zeit eine »erworbene Fertigkeit der Vernunft« 54 zu entwickeln. Bei dieser erworbenen Fertigkeit der Vernunft handelt es sich indessen um dasselbe kognitive und praktische Desiderat, das Kant im Auge hat, wenn er darauf aufmerksam macht, daß auch ein »vernünftige[s] Wesen […] noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft [benötigt, R. E.], um […] zu unterscheiden, in welchen Fällen [die praktischen Beurteilungsprinzipien, R. E.] Anwendung haben«. 55 Es ist daher fraglich, ob die Urteilskraft – und zwar die reflektierende ebenso wie die bestimmende – des Adressaten C des terroristischen Informationsbegehrens genügend geschärft und gereift ist, wenn er seine Autonomie mit Blick auf die terroristische Situation nicht restlos instrumentalisiert findet und er seine Wahrhaftigkeitsmaxime schon vor und damit auch unabhängig von der terroristischen Situation durch einen disziplinierenden Akt seiner Autonomie gefaßt hat. Denn es geht ja gerade um die Frage, ob seine von der praktischen Vernunft geleitete teils reflektierende und teils bestimmende Urteilskraft im unmittelbaren Blick auf die terroristische Situation und im Licht des Anti-Instrumentalisierungs-Kriteriums zur Einsicht in die Legitimität oder aber in die Illegitimität einer Ausnahme von der Wahrhaftigkeitspflicht gelangen kann bzw. muß. Die einfache Berufung auf die Wohlbegründetheit der Wahrhaftigkeitspflicht durch das Autonomie-Prinzip könnte zumindest ohne eine entsprechende sorgfältige Prüfung durch seine [In diesem Abschnitt habe ich während der Vorbereitung dieser erneuten Veröffentlichung sowohl mit Blick auf die Analyse der terroristischen Situation wie mit Blick auf die damit verbundene Erprobung des Anti-Instrumentalisierungsprinzip erheblich eingegriffen. Die ursprüngliche These, daß in dieser Situation eine Lüge im Licht dieses Prinzips erlaubt ist, ist davon nicht nur unberührt geblieben. Der Grad ihrer Wohlbegründbarkeit hat dadurch und im Licht einer neu hinzugekommenen Stellungnahme Kants, vgl. unten S. 181 f., sogar noch gewonnen. Der XI. Abschnitt der ursprünglichen Fassung konnte unter diesen Umständen ganz wegfallen.] 54 Kant, Metaphysik der Sitten, ebd. S. 213, Hervorhebung R. E. 55 Kant, Grundlegung, ebd. S. 389, Hervorhebungen R. E. 53

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reflektierende und seine bestimmende Urteilskraft im Licht des AntiInstrumentalisierungs-Kriteriums ein Ausweichen vor der spezifischen Aufgabe der moralischen Beurteilung der terroristischen Situation bedeuten. Abstrahiert man von den juridisch und den konsequentialistisch relevanten Komponenten dieses Situationstyps und konzentriert sich ausschließlich auf dessen moralische Dimension, dann bleiben gleichwohl noch genügend Komponenten sichtbar, um seine moralische Struktur bestimmen zu können: Die ›Menschheit in der Person‹ des Adressaten C des Informationsbegehrens – also dessen moralische Urteils-Autonomie – wird durch die doppelte Androhung von Gewalt sowohl gegen B wie gegen C seitens des mordentschlossenen Informationsbedürftigen A ausschließlich als Mittel und überhaupt nicht als Zweck gebraucht. Denn als Zweck wird sie schon dann nicht gebraucht, wenn ein Informationsbedürftiger ihre Ausübung durch moral- und rechtswidrige Androhung von Gewalt zu einem Mittel für sowohl moral- wie rechtswidrige Zwecke mißbraucht. Kants spezifisches Argument gegen Constants These lautet indessen, daß eine Lüge auch in dieser terroristischen Situation nicht erlaubt sein könne, weil »sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht«. 56 Doch dieses Argument vollzieht einen Schritt, bei dem es sich um den undurchschauten zweiten Schritt eines ebenso undurchschauten ersten Schritts handelt. Denn verdorben wird die Rechtsquelle – im Gegensatz zu Kants situationsunempfindlich strikter Lügen-Konzeption – nicht durch eine in dieser Situation vollzogene Lüge. Verdorben wird sie durch die Pervertierung, durch die der gewaltbereite Informationsheischende sie in eine Quelle umfunktioniert, aus der er in Form einer moral- und rechtswidrigen erpressten Ausübung der Wahrhaftigkeit des Informanten eine Trophäe für die Verwendung zugunsten einer rechts- und moralwidrigen Gewalttat zu gewinnen sucht. Eine Lüge bildet unter solchen Umständen das einzige technische Mittel, mit dessen Hilfe der Informant seine humanitas – die ›Menschheit in seiner Person‹ – gegen eine solche Pervertierung schützen kann. Zwar zeigt Kants Argumentation eine Eigenart, durch die es in eine punktuelle formale Verwandtschaft mit dem Alltags-Satz Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht zu geraten scheint. Allerdings formuliert dieser Satz gar nicht 56

Über ein vermeintes Recht, ebd. S. 426.

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ein Kriterium, sondern das Resultat einer empirischen Verallgemeinerung der faktischen Haltung, die Menschen gegenüber anderen Menschen einzunehmen pflegen, die sie einmal bei einer Lüge ertappt haben. Gleichwohl macht es eine gemeinsame punktuelle formale Gemeinsamkeit beider Gebilde aus, daß in ihrem Licht die in der Person eines Informanten liegende sowohl rechtliche wie moralische Quelle durch eine Lüge gerade mit Blick auf spätere Situationen auch dann unbrauchbar ist, wenn diese Person in solchen späteren Situationen wahrhaftig ist. Daher macht gerade diese punktuelle formale Verwandtschaft umso mehr darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, die Analyse und die Beurteilung des komplexen terroristischen Situationstyps im Licht von Kants Autonomie- und seines Anti-Instrumentalisierungs-Kriteriums davor zu bewahren, sie in eine irreführende oberflächliche Verwandtschaftsbeziehung mit dem gänzlich situationsenthobenen und kriterienlosen Habitus-Satz der sozialen Alltagserfahrung zu bringen. Dennoch eröffnet dieser Satz genauso wenig wie Kants Argumentation irgendeine Aussicht auf eine Möglichkeit, eine situationsspezifische und kriteriengeleitete Ausnahme von der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit zu legitimieren. Doch eben eine solche Legitimationsmöglichkeit wird durch das Anti-Instrumentalisierungs-Kriterium eröffnet. Denn da dieses Kriterium offensichtlich die reale Möglichkeit einer restlosen Instrumentalisierung in Rechnung stellt, muß es auch den Blick auf reale situative Umstände und auf reale technische Mittel öffnen, durch die eine solche Instrumentalisierung zumindest in Frage kommen kann. Eben solche realen Umstände und technischen Mittel stellt der terroristische Situationstyp vor Augen, dessen Beurteilung zwischen Kant und Constant kontrovers ist. Im selben Atemzug fällt durch das Beispiel dieses Situationstyps aber auch ein entsprechendes Licht auf die geschichtliche und geographische fast ausnahmslose Ubiquität dieses terroristischen Situationstyps. Damit wird aber der strukturelle Mangel von Kants moralisch-juridischem Verderbnis-Argument ebenso überwunden wie derselbe Mangel des empirischen Wer-einmal-lügt-dem-glaubt-man-nicht-und-wenn-er-auch-die-Wahrheitspricht-Satzes. Denn durch diesen Situationstyp werden gerade die Umstände hinreichend konkret bestimmt, im Schutz von deren Unbestimmtheit dieser Satz und Kants Argument eine vordergründige Plausibilität gewinnen können: Die Rechtsquelle wird durch einen Akt der Unwahrhaftigkeit dann nicht verdorben, wenn ein solcher Akt für eine Person die einzige technische Möglichkeit bildet, die 180 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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moral- und rechtswidrig gewaltsame Instrumentalisierung ihrer humanitas-Autonomie durch eine andere Person zu durchkreuzen und ihre moral- und rechtswidrig erzwungene Erfüllungsgehilfenschaft zugunsten des moral- und rechtswidrigen Ziels der anderen Person abzuwehren. 57 Unter solchen Umständen ist ein unwahrhaftiger Akt nicht nur moralisch legitim, sondern, wie Kant in einer gleichzeitigen Reflexion argumentiert, sogar ein rechtlich geschützter Ausnahmeakt der Abwehr dieser doppelten moralischen Not: 58 »Die Notwehr ist der einzige casus necessitatis gegen den Beleidiger. Obrigkeiten, welche die Selbstverteidigung mit großer Beschädigung des andern verbieten, müssen wissen, daß sie dem Menschen sein heiligstes Recht nehmen, um dasselbe zu verwalten und als dispositaires desselben … bricht ab«. 59 Im Fall der moralischen Notwehr kommt dem Menschen das von der ›Obrigkeit‹ einzuräumende Recht zu Hilfe, seine Würde, die ›Menschheit in seiner Person‹, seine humanitas, also seine moralische Beurteilungs-Autonomie gegen deren ›Beleidigung‹ durch einen Interakteur mit Hilfe der Technik der Unwahrhaftigkeit abzuschirmen. 60 [Der wichtige auf William David Ross zurückgehende formale Gedanke von Patzig, Begründbarkeit, daß »Der kategorische Imperativ […] also nicht eigentlich ein Kriterium von Handlungen, sondern nur von Handlungscharakteren [ist]«, S. 69, P.s Hervorhebungen, bewährt sich gerade mit Blick auf diese so überaus gravierende moralische Notwehr-Situation mit besonderer Tragweite. Patzigs eigene so umsichtige formale Überlegung zum Lügen-Thema kann dies direkt zeigen: »[…] eine Lüge mach[t] jede Handlung sittlich verwerflich, falls nicht noch andere, sittlich relevante Züge an ihr auftreten«, ebd. Der moralische Notwehrcharakter ist geradezu das Paradigma eines solchen ›anderen, sittlich relevanten Zugs‹. Es ist daher auch alles andere als ein Zufall, daß Patzig diesen Gedanken mit der Erinnerung an den Fall des von der Geheimpolizei politisch Verfolgten vorbereitet, vgl. S. 68–69, sowie oben S. 17649.] 58 Eine analoge Erlaubnis als Ausnahme von einer Pflicht erwägt im Einzugsbereich des Staatsrechts Julius Ebbinghaus, Traditionsfeindschaft und Traditionsgebundenheit, Frankfurt/M. 1969, wenn er im Blick auf die konkrete rechtliche und politische Situation der Gewaltherrschaft im nationalsozialistischen Deutschland die ausnahmsweise Legitimität der Tötung des Tyrannen zu bedenken gibt, vgl. S. 22–24. – Angesichts der Tatsache, daß Tugendhat das Autonomie- bzw. Nomologisierbarkeitskriterium für vernachlässigenswert hält, ist es nur konsequent, wenn er den Tod des intendierten Mordopfers im Licht von konsequentialistischen bzw. utilitaristischen Kriterien nur noch als Übel auffasst, vgl. Tugendhat, Ethik, ebd. S. 329 ff. 59 [Ak. XIX, R 7195, Kants Hervorhebung; kursivierter Kommentar des Herausgebers Friedrich Berger.] 60 [Dies ist somit Kants Musterbeispiel für eine Struktur, die Günther Patzig, Moral 57

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XII. 61 Kant entwickelt seine Diagnose eines bloß ›vermeinten Rechts aus Menschenliebe zu lügen‹, wie sich gezeigt hat, nicht nur auf einer gleichsam nur haarfein markierten Grenzlinie zwischen dem Anwendungs- und Bewährungsfeld des kriteriellen kategorischen MoralImperativs und dem Anwendungs- und Bewährungsfeld eines im Rahmen dieser Diagnostik nicht ausdrücklich formulierten Kriteriums des Rechts und des Unrechts. Er deutet ein solches Rechts-Kriterium lediglich implizit an, indem er auf einen möglichen bzw. wahrscheinlichen Schaden verweist, wie ihn eine erpresserisch gewonnene lügnerische Information über den Aufenthaltsort einer Person nach sich ziehen kann, wenn der Erpresser von einer solchen Information gegen diese Person Gebrauch macht. Dieses konsequentialistische Rechts-Kriterium stimmt zunächst einmal nicht direkt mit dem propositionalen Gehalt des Rechtskriteriums überein, das Kant in den §§ B-C der Einleitung in die Rechtslehre in die Metaphysik der Sitten formuliert: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«. 62 Doch wie Kant im unmittelbaren Anschluß festhält, setzt das Kriterium des Rechts die strikte Orientierung an der »äußere[n] Handlung« 63 voraus und damit, wie Kant im folgenden § D Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden zu verstehen gibt, auch an der raumzeitlichen Kausalstruktur äußerer Handlungen, also auch daran, daß jede Handlung »eine […] Wirkung« 64 nach sich zieht. Da es unter Aspekten der Praxis diese Wirkungen äußerer Handlungen sind, die den Status von Konsequenzen und das Format von mehr oder weniger nützlichen bzw. und Recht (11971), wieder abgedr. in: ders., Ges. Schr. I., S. 7–31, wenngleich nicht mit Blick auf Kant im Auge hat, wenn er argumentiert: »Erst in diesem Kernbereich [der Rechtsnormen] wird die Einhaltung moralischer Normen mit Zwangsmitteln der öffentlichen Gewalt sichergestellt«, S. 13. Vom terroristischen Fall-Typus eines Rechts auf Notwehr unterscheidet sich der von Kant im II. Anhang der Einleitung in die Rechtslehre der Metaphysik der Sitten konzipierte Typus widerrechtlicher Notwehr »im Fall der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens«, Ak. VI, S. 235, dadurch, daß der Interakteur »mir nichts zuleide tat«, ebd., Hervorhebung R. E.] 61 Dieser Abschnitt ist im Rahmen dieser erneuten Publikation ganz neu verfaßt worden. 62 Ak. VI, 230, Kants Hervorhebung. 63 S. 231, Kants Hervorhebung. 64 Ebd.

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schädlichen Konsequenzen für Interakteure von Handlungssubjekten haben, gibt Kant durch sein konsequentialistisches Argument gegen ›ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen‹, sowie durch seine damit verbundene Sorge um die Verderbnis der Rechtsquelle unmißverständlich zu verstehen, daß ein entsprechendes konsequentialistisches Kriterium einen echten Teil des Kriteriums bildet, ›daran man Recht und Unrecht erkennen kann‹. Doch wie ist dieses Teilkriterium mit dem Hauptkriterium funktional genau verbunden? Kant hat eine rechtlich relevante Mustersitution schon zu einem Zeitpunkt seiner ›critischen‹ Epoche erörtert, als er von der reifen Rechts-Konzeption der Metaphysik der Sitten noch recht weit entfernt war. Es geht um die betrugsträchtige Marktsituation, die er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erörtert. 65 Ein Kunde, der von einem Verkäufer in Gestalt der erworbenen Ware betrogen wird, erleidet einen wie auch immer großen oder kleinen Schaden an seinem Geldvermögen, also an seinem Eigentum. Bei diesem Schaden handelt es sich um eine Konsequenz, wie sie vom Verkäufer durch äußere Handlungen, also durch leibhaftige Manipulationen z. B. an der Waage, an der Ware oder an einem anderen dem Geschäftsverkehr dienenden materiellen Medium kausal herbeigeführt wird, aber vom Kunden im Rahmen des üblichen und von Vertrauen getragenen Geschäftsverkehrs nicht ohne weiteres bemerkt werden kann und vor allem im Sinne des Verkäufers auch nicht bemerkt werden soll. Bei der rechtlichen Struktur dieser Situation handelt es sich offensichtlich um einen klaren Fall von Betrug und damit seit unüberschaubar langen geschichtlichen Zeiten um einen strafrechtlich relevanten Tatbestand. Ganz unmißverständlich stellt Kant die rechtliche Bedeutsamkeit dieses konsequentialistischen Kriteriums klar, wenn er betont: »In wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein und Dein ankommt, wenn ich da eine Unwahrheit sage, muß ich alle die Folgen verantworten, die daraus entspringen möchten«. 66 Den »harten Namen [der Lüge, R. E.] […] in der Rechtslehre« will Kant für die Fälle reserviert wissen, in denen sie »anderer Recht verletzt«. 67 Es handelt sich lediglich um einen harmlosen begrifflichen Lapsus, daß Kant die gesamte rechtlich relevante Struktur aus einer Lüge und der daraus

65 66 67

Vgl. GMS, S. 397 f. MS, S. 431, Hervorhebung R. E. S. 429.

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für einen anderen entsprungenen Verletzung des Seinen nicht direkt als Betrug apostrophiert. Kant behandelt diese konsequentialistischen Argumente zugunsten der rechtlichen Bedeutsamkeit der Lüge in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten als Addenda. Denn sie tragen einem Grenzfall Rechnung. In der vorangegangenen Rechtslehre scheint er wegen der konventionellen moralischen Bedeutsamkeit des ›harten Namens‹ der Lüge eine vorläufige systematische Verlegenheit bereitet zu haben, so daß er deswegen unberücksichtigt geblieben ist. Diese vorläufige Verlegenheit, die durch die kompositorischen Indizien der buchtechnischen Gestaltung des Textes angedeutet wird, entspricht direkt der Unschärfe, mit der Kant den nicht-konsequentialistischen moralischen Charakters der Lüge und ihren konsequentialistischen rechtlichen Charakters in der Anti-Constant-Schrift behandelt. Umso unmißverständlicher gibt Kant durch die Inhalte der beiden Addenda in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten zu verstehen, daß an jedem Betrug eine Lüge – also ein erfolgsstrategisches Beschweigen von Tatsachen durch einen Informanten – konstitutiv für den Schaden ist, den der betrügerisch Informierte bzw. Gutgläubige davonträgt. Die rechtssystematische Tragfähigkeit und Tragweite dieser beiden unscheinbaren Addenda kann schwerlich überschätzt werden. Das mit ihnen sichtbar werdende konsequentialistische Kriterium erweist sich als echtes Teil-Kriterium des von Kant auf Begriffe gebrachten Kriteriums, »woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«, 68 also vor allem erkennen kann, ob das »was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, […] auch recht sei«. 69 Es sind diese positiven Gesetze, die Kant im Auge hat, wenn das Haupt-Kriterium des Rechts die Rechtlichkeit einer Handlung davon abhängig macht, daß »[s]ie oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«. 70 Indessen bindet das Rechtskriterium das Recht im Licht seiner Einschränkung auf die Verträglichkeit der »Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz« 71 an 68 69 70 71

S. 229. Ebd. S. 230. Ebd.

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die Bedingung der spezifisch moralischen Urteils-Autonomie. Denn ›jedermanns Freiheit‹ besteht in dieser Hinsicht in gar nichts anderem als in jedermanns spezifisch moralischer Urteils-Autonomie. 72 In dieser kognitiven Hinsicht wird »Freiheit als ein […] Vermögen […] absoluter Spontaneität« 73 konzipiert, als Vermögen der Spontaneität des Urteilens. 74 Denn »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile«, 75 und daher auch aller meiner möglichen praktischen Urteile. Im Licht des spezifisch moralischen Kategorischen Imperativs handelt es sich bei der im Rechts-Kriterium thematisierten ›Freiheit von jedermann‹ daher um gar nichts anderes als um jedermanns moralische Urteils-Autonomie. Der kategorische Moral-Imperativ steht in dieser Hinsicht sogar in einer ausgezeichneten Beziehung zu dieser Freiheit. Denn zum einen und vor allem bildet er »die ratio cognoscendi der Freiheit«, 76 also den Grund der Erkenntnis der Freiheit als der Fähigkeit, autonom zu beurteilen, ob eine Willensmaxime jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann oder nicht. 77 Zum anderen bildet die Freiheit, deren Tatsächlichkeit nur im Licht des kategorischen Moral-Imperativs erkannt werden kann, eben wegen ihrer Tatsächlichkeit »die ratio essendi des moralischen Gesetzes«, 78 also den Grund dafür, daß es die ratio cognoscendi in der Form des kategorischen Moral-Imperativs überhaupt gibt. 79 Um eine autonome Beurteilung handelt es sich bei

Vgl. hierzu unten: The Cognitive Dimension of Freedom as Autonomy, S. 262–76. Ak. V, S. 84. 74 Vgl. hierzu vom Verf. Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil, Göttingen 2015, bes. 11. Abschn. 75 KrV, A 348, Hervorhebung R. E.; vgl. zu dieser Theorie logischer Spontaneität im einzelnen vom Verf., Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung, Göttingen 2015, bes. 7. Abschn. 76 Kant, KpV, Ak. V, S. 4*. 77 Vgl. zur Form dieser Beurteilungsprozedur oben bes. S. 84–89. 78 KpV, S. 4*. 79 Die funktionale Stellung des kategorischen Moral-Imperativs zwischen ratio cognoscendi und ratio essendi ist viel weniger geheimnisvoll als es dem Leser aus Kants Text entgegenklingen mag. Eine einfache Analogie zu den semantischen Beziehungen zwischen wahren empirischen Sätzen und den durch sie dargestellten Tatsachen kann das verdeutlichen. Wer den wahren Satz Einige Menschen sind Männer ausspricht, verfügt kraft des Wahrheitskriteriums für diesen Satz über die ratio cognoscendi der durch diesen Satz dargestellten Tatsache; gleichzeitig bildet die durch diesen wahren Satz dargestellte Tatsache die ratio essendi der Wahrheit dieses Satzes, weil es ihn als einen wahren Satz ohne die durch ihn dargestellte Tatsache nicht geben könnte. 72 73

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der praktischen Beurteilung von Maximen und Handlungsweisen im Licht dieses Imperativs deswegen, weil das jeweils urteilende Subjekt durch Umformung seiner Maxime in ein Gesetz (νόμος) – und nur dadurch – selbst (αὐτός) beurteilen kann, ob sie und die ihm korrespondierende Handlungsweise moralisch untadelig ist oder nicht. Weil das Rechts-Kriterium die Rechtlichkeit eines positiven Gesetzes an die Jedermanns-Freiheit der moralischen Urteils-Autonomie bindet, muß sich jedes positive Rechtsgesetz im Rahmen einer Beurteilung bewähren, die prüft, ob die von jedermanns Willkür als subjektive Maxime approbierte Handlungsnorm dieses Rechtsgesetzes vor dem Forum der moralischen Urteils-Autonomie gewollt sein kann – also mit der Angewiesenheit der dem Gesetz Unterworfenen auf wechselseitiges Wahrhaftigkeitsvertrauen verträglich ist. Beispielsweise die nationalsozialistischen Beamtengesetze mit den skandalösen Bestimmungen des berüchtigten sogenannten Arierparagraphen § 3 über die Juden können im Licht dieses Kriteriums alleine schon aus moralischen Gründen keine Gesetze des Rechts sein. Denn ein individueller Mensch kann die Maxime nicht wollen, daß jeder beliebige individuelle Mensch wegen dessen ethnischer Herkunft oder religiösen Bekenntnisses oder anderer ihm nicht willentlich verfügbarer Attribute am Erwerb der materiellen Bedingungen seiner Lebensmöglichkeit gesetzlich gehindert wird. Denn jede dieser nomologisierten Handlungs- bzw. Willens-Maxime unterworfene Person – also auch die Person des Maximeninhabers selbst – könnte ihre Maxime, jede andere Person jederzeit wegen eines ihrer nicht willkürlich verfügbaren Attribute aus jeder beliebigen ihren Lebensunterhalt sichernden sozialen Position zu verdrängen, nur dann mit Erfolg praktizieren, wenn sie jede andere Person über diese Maxime belügt bzw. diese Maxime gegen jede andere Person mit täuschungsstrategischem Beschweigen behandelt. Nicht nur ›zerstört‹ diese Maxime ›sich selbst‹, weil sie die ›selbstzerstörerische‹ Lügen-Maxime voraussetzt und damit jedem Gemeinwesen die konstitutive Voraussetzung der Wahrhaftigkeits-Solidarität entzieht. Indem sie jede Person in deren sozialer Position nur noch mit einem Mittel zur Beförderung bzw. Behinderung des sozialen Aufstiegs jeder beliebigen anderen Person identifiziert, verstößt sie auch gegen das humanitas-Kriterium.

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XIII. Das von Kant ans Licht gebrachte anti-instrumentalistische humanitas-Kriterium ist nicht weniger ein Resultat der Suche der reflektierenden Urteilskraft nach praktisch-moralischen Orientierungshilfen für die bestimmende Urteilskraft als das von ihm ans Licht gebrachte Autonomie- bzw. Nomologisierbarkeits-Kriterium. Doch nicht weniger sind die Mustersituationen, in denen es um die Frage von Gebot, Verbot und Erlaubnis von Akten der Wahrhaftigkeit bzw. der Unwahrhaftigkeit geht, Resultate der Suche der bestimmenden Urteilskraft nach situativen Umständen, die paradigmatisch für Möglichkeiten sind, diese Kriterien für die Beantwortung solcher normativen Fragen fruchtbar zu machen. Der kognitive Charakter der Aufgaben, in die sich die Urteilskraft mit der Suche ihrer reflektierenden bzw. ihrer bestimmenden Funktion schickt, macht sie indessen zu einer irrtumsanfälligen Instanz – ihre doppelte Suche kann ebenso gelingen oder aber mißlingen wie ihre Bemühungen gelingen oder aber mißlingen können, die Resultate dieser doppelten Suche plausibel aufeinander abzustimmen. Das gilt allerdings für die Suche nach utilitaristischen und anderen konsequentialistischen Kriterien ebenso wie für die Suche nach situativen Umständen, die als Muster für nutzen- bzw. schadenbegünstigende Faktoren plausibel gemacht werden können. Dennoch eröffnet sich der Urteilskraft durch ihre beiden Funktionen zugleich auch die einzige Möglichkeit, die Resultate, zu denen ihre Suche mit Hilfe der einen dieser Funktionen gelangt, im Licht der Resultate, zu denen ihre Suche mit Hilfe der jeweils anderen Funktion gelangt, kritisch zu prüfen: Kriterien müssen ihre Trefflichkeit und Fruchtbarkeit im Licht von paradigmatischen situativen Umständen zeigen; und situative Umstände müssen ihre praktisch-moralische Relevanz im Licht entsprechender Kriterien zeigen. Zu den paradigmatischen situativen Umständen, die die bestimmende Urteilskraft für den Gebrauch des Autonomie- bzw. Nomologisierbarkeitskriteriums ins Auge fassen muß, gehört indessen die ganze conditio humana selbst. Denn zu diesen Umständen gehört die spezifisch anthropologische technische Fähigkeit, Informationen über Sachverhalte in der wirklichen raumzeitlich strukturierten Welt durch täuschungsstrategisches Beschweigen zu verbergen, ebenso wie die genauso spezifisch anthropologische praktische Angewiesenheit auf Kommunikation von wahren Informationen über solche Sachverhalte durch 187 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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wahrhaftige Kommunikationspartner. Doch die Angewiesenheit auf wohlabgewogene Nutzen-Schaden-Kalkulationen gehört nicht weniger zur conditio humana als die Angewiesenheit auf das Vorliegen objektiver situativer Umstände, deren nutzenbegünstigende Funktionen die entsprechenden schadenbegünstigenden Funktionen anderer ebenso objektiv vorliegender situativer Umstände zumindest überwiegen. Hat die Urteilskraft kriterielle Orientierungshilfen und paradigmatische Umstände erst einmal gefunden, dann scheint es nur noch eine Angelegenheit einer strikten ›Anwendung‹ dieser anscheinend aus solchen Funden bestehenden ›Ethik‹ zu sein, daß man Handlungsweisen strikt für moralkonform, für moralwidrig oder aber für moralisch indifferent halten kann – sei es nun im Licht von konsequentialistischen, speziell von utilitaristischen oder aber im Licht von nicht-konsequentialistischen Kriterien. Nun hat die bestimmende Funktion der Urteilskraft der reflektierenden Funktion der Urteilskraft in Gestalt der terroristischen Mustersituation offenbar einen irritierenden Fund beschert. Denn dieser Fund scheint seit Kants teilweise moralischer, teilweise juridischer und teilweise konsequentialistischer Analyse dieses Situationstyps gleichsam darauf gewartet zu haben, daß mit Hilfe der reflektierenden Funktion der Urteilskraft ein Kriterium explizit gemacht wird, das das Bild von der starren Anwendung eines fix und fertigen ethischen Instruments der Wahrhaftigkeitsnormierung als ein pseudo-mechanistisches Vorurteil einer irregeleiteten Methodologie der Ethik entlarven kann. Denn die Ethik ist nicht ein Werkzeug, sondern ein Medium, in dem eine methodisch mehr oder weniger disziplinierte Urteilskraft sowohl ihre reflektierende wie ihre bestimmende Funktion betätigt. Die kriteriellen Funde ihrer reflektierenden Funktion müssen Plausibilitäts- und Relevanztests bei der Beurteilung der situativen Funde ihrer bestimmenden Funktion bestehen; und ihre situativen Funde müssen solche Tests im Licht von Beurteilungen mit Hilfe der kriteriellen Funde ihrer reflektierenden Funktion bestehen. Es liegt auf der Hand, daß es wiederum die Urteilskraft ist, der es obliegt, die Ausgänge solcher Tests einzuschätzen. Was indessen nicht auf der Hand liegt, sind die Aspekte und die Kriterien, mit deren Hilfe sie dieser höherstufigen Einschätzungsaufgabe gerecht werden kann. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine komplexe Abwägungsaufgabe, in deren Rahmen es darum geht, zwischen kriteriellen und situativen Momenten der Praxis eine Balance zu finden, die vielleicht gar nicht anders als prekär ausfallen kann. So ist gerade die 188 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Wahrhaftigkeitsnorm, die sich unter Zuhilfenahme anthropologischer Elementarprämissen aus dem Nomologisierbarkeitskriterium ergibt, immer wieder einmal ein charakteristischer Anlaß für den Verdacht einer entsprechend gestörten Balance geworden. Sogar die besonnensten und wohlwollendsten unter den kritischen philosophischen Kommentatoren von Kants Ethik sehen diese Balance empfindlich gestört für den Fall, daß sich keine Möglichkeit finden sollte, dem terroristischen Situationstyp mit Hilfe von nicht-konsequentialistischen kriteriellen Mitteln gerecht zu werden. 80 Doch es ist eben dieser Fall, dem die reflektierende Urteilskraft durch den Fund des anti-instrumentalistischen humanitas-Kriteriums vorbeugen kann, das Kant schon in seiner ethischen Grundlegungs-Schrift formuliert. Durch die politische Wirklichkeit seiner Zeit und durch Constants Kasuistik ist der bestimmenden Urteilskraft ein Situationstyp vor Augen geführt worden, den sie im Zusammenspiel mit ihrer reflektierenden Tätigkeit mit dem Typ einer Situation identifizieren kann, in der jemand durch einen Akt von Unwahrhaftigkeit nicht nur eine moralisch legitime, sondern sogar eine rechtlich legitimierbare Notwehr gegen die Instrumentalisierung seiner humanitas üben kann. 81 Die von Kant ausgearbeitete Ethik ist daher genauso wie jede andere Ethik auch eine Angewandte Ethik. Sie ist daher aber ebenso sehr eine Praktische und eine konkrete Ethik wie jede Ethik, die sich selbst solche Attribute ausstellt. Denn sie sucht ebenso mit Hilfe von praktisch-moralischen und -rechtlichen Beurteilungskriterien die Normierungsmöglichkeiten der Praxis durchsichtig zu machen wie sie zur Einsicht in solche Normierungmöglichkeiten durch die Analyse von konkreten Situationen einer normierungsbedürftigen Praxis zu gelangen sucht. Umgekehrt ist jede Angewandte, jede Praktische und jede Konkrete Ethik, die den Namen einer Ethik überhaupt verVgl. hierzu besonders Patzig, Begründbarkeit, S. 68–70. Es ist angesichts von Tugendhats imponierendem moraldidaktischen und -pädagogischen Engagement in der südamerikanischen Öffentlichkeit – vgl. Ernst Tugendhat/ Celso López/Ana María Vicuña, Wie sollen wir handeln? Schülergespräche über Moral (span. 11998), Stuttgart 2000 – besonders bedauerlich, daß er sich durch seine essentielle Verkürzung des von Kant formulierten Anti-Instrumentalisierungs-Kriteriums um die Möglichkeit gebracht hat, der [gerade auch in der südamerikanischen Öffentlichkeit] höchst aktuellen moralischen [und rechtlichen] Struktur der terroristischen Grenz- und Grundsituation gerecht zu werden, vgl. Tugendhat, Ethik, ebd. S. 148–49, bes. 1498.

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dient, stets auch eine abstrakte Ethik. Denn in jeder Ethik ist es auch darum zu tun, mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft nach Kriterien zu suchen, die als Kriterien dazu verurteilt sind, Produkte der Abstraktion von den konkreten situativen Umständen zu sein, in denen sie ihre Trefflichkeit und Fruchtbarkeit allerdings müssen zeigen können. Wenn sich zeigt, daß die von Kant ausgearbeitete Ethik alles das aus methodologischen Gründen ebenfalls einschließt, was Angewandte, Praktische bzw. Konkrete Ethiken nominell exklusiv für sich in Anspruch nehmen; und wenn sich umgekehrt zeigt, daß diese Ethiken als Ethiken aus denselben methodologischen Gründen auch das einschließen müssen, was sie der deontologischen Ethik Kants seit Hegels irregeleiteten und irreführenden Vorwürfen als strukturelles Defizit meinen vorwerfen zu müssen – nämlich Abstraktheit und Formalität im Bereich ihrer Kriterien –, dann eröffnet sich auch eine Möglichkeit, die auf Entfremdung beruhenden Formen rigoroser Arbeitsteilung zwischen diesen Ethik-Typen zu überwinden. An ihrer Stelle können dann Formen der Kooperation kultiviert werden, die auf der Einsicht beruhen, daß es die eine und selbe praktische Urteilskraft ist, die mit Hilfe ihrer reflektierenden und ihrer bestimmenden Funktion darum bemüht ist, sowohl kriterielle Mittel wie situative Muster zu finden, in deren Licht sich der unvermeidliche Wildwuchs der alltäglichen Praxis besser im Blick auf die Anteile durchschauen läßt, die sowohl konsequentialistische wie nicht-konsequentialistische Normen an ihrer Hegung haben können und sollten.

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Religion trotz Aufklärung? Retraktationen einer ungelösten philosophischen Aufgabe Platons für Kant

I. Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas identifizieren sich gerne mit den Erben der Aufklärung, um die sich das 18. Jahrhundert bemüht hat. Die Erbschaft dieses Jahrhunderts hat aber selbstverständlich auch eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte ist durch nichts tiefer und langfristiger geprägt als durch die christliche Religion sowie durch die Religionspolitik und die Theologie des Christentums. Diese lange Vorgeschichte des sogenannten Jahrhunderts der Aufklärung leidet indessen auch unter einer tiefen Spaltung. Wenn die Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in unseren Tagen zunehmend in eine kämpferische Auseinandersetzung mit der Religionspolitik islamischer Staaten geraten, dann begegnen sie indirekt auch der gespaltenen Vorgeschichte jener Erbschaft des 18. Jahrhunderts, auf die sie sich so gerne berufen. Ein sehr frühes Schlüsselereignis dieser gespaltenen Vorgeschichte kann man mit Hilfe des berühmten ersten Satzes charakterisieren, mit dem Schiller seinen Don Carlos eröffnet: Denn »Die schönen Tage in Aranjuez« waren für ganz Spanien im letzten Viertel des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung endgültig vorbei, als die politische und die kulturelle Friedensblüte der arabischen Toleranzherrschaft über Spanien von fanatischen christlichen Eroberern zerstört wurde. Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas werden insofern gegenwärtig von Bewohnern anderer Weltgegenden in einer höchst verstörenden Weise auch daran erinnert, dass sie sich die Erbtitel und die Erblasten ihrer Vergangenheit nicht nach ihrem geschichtspolitischen Gutdünken aussuchen können. Der Fanatismus, mit dem diese Erinnerung gegenwärtig unter die Bewohner Europas und Nordamerikas getragen wird, verweist zwar auf denselben Mangel an Aufklärung, der auch den Fanatismus christlicher Eroberer hervorgerufen hat. Doch die religionspolitische Vorgeschichte der Aufklärung, um die 191 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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sich das 18. Jahrhundert bemüht hat, gehört nun einmal zu den Erblasten, von denen sich in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart auch diejenigen nicht restlos distanzieren können, die meinen, sich auf irgendwelche Erbtitel der Aufklärung berufen zu können. Die Philosophie tut gut daran, wenn sie sich an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Legitimität solcher Erbtitel und Erblasten zumindest nicht direkt beteiligt. Die Methoden ihrer Arbeit sind den politischen Methoden solcher Auseinandersetzungen aus prinzipiellen Gründen nicht gewachsen. Dennoch hat die Philosophie methodische Möglichkeiten, solche Auseinandersetzungen ernst zu nehmen. Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Religion scheint sogar wie geschaffen zu sein, um diese Möglichkeiten zu erproben. Denn seit Platon in seinem Hauptwerk Politeia das Schlüsselsymbol der Aufklärung – also die Sonne – mit der Idee des Guten identifiziert hat, ist die Philosophie die wichtigste reflexive Hüterin und Anwältin der Aufklärung. Aber noch älter als die Philosophie ist die Religion. Auf die Gottheiten nicht nur der griechischen Religion wird daher in allen Dialogen Platons mehr oder weniger direkt Bezug genommen. Und im Zwölften Buch der Aristotelischen Metaphysik wird sogar eine kohärente Theologie entwickelt. Es ist bekannt, welche bibliothekarischen und hermeneutischen Schicksale den Schriften Platons und Aristoteles’ widerfahren sind. Die aristotelischen Schriften wurden bis in die Zeit des Hochmittelalters weitgehend im arabischen Raum mit großem Gewinn für die theologische, die wissenschaftliche und allgemein für die kulturelle Selbstverständigung des Islam fruchtbar gemacht. Erst seit dem 12. Jahrhundert sind sie in den lateinischen Übersetzungen Wilhelm von Moerbekes durch Thomas von Aquin für die theologische und die wissenschaftliche Selbstverständigung von Europas Christentum richtungweisend geworden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass gerade Thomas für die Entwürfe der arabischen Philosophen und Theologen Ibn Sina und Alfarabi stets den größten Respekt bewahrt hat. Platons Schriften wurden zwar kontinuierlich studiert. Aber einem gründlichen und differenzierten Verständnis ihres philosophischen Formats standen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts zwei starre Hindernisse entgegen. Das eine Hindernis wurde von der banalisierenden Interpretation der Ideenannahme Platons durch Cicero gebildet. Diese Interpretation wurde in der Neuzeit noch einmal be192 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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sonders lebendig, als vor allem durch die Cicero-Begeisterung der Florentiner Humanisten des 15. und des 16. Jahrhunderts Platons Dialoge von neuem in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückten, verbunden allerdings mit ganz neuen, extrem einseitigen Akzentuierungen vor allem auf der Theorie des Schönen, des Eros und des dichterischen Enthusiasmus im Symposion. Das andere Hindernis wurde von der ebenso extrem einseitigen Interpretation gebildet, die die Neuplatoniker vor allem durch Plotin und Proklos, aber auch durch Augustinus, für die christliche Theologie vorbereitet hatten. Hier standen verständlicherweise Themen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die in Platons Dialogen eher eine randständige Rolle spielen: die schöpfungstheologischen Prämissen des Timaios, die formalanalytischen Dialoge um das Eine und das Viele aus dem zweiten Teil des Parmenides und die Unsterblichkeitsbeweise für die Seele im Phaidon. Man darf diese scheinbar veralteten und in unseren Tagen scheinbar randständigen Themen der Philosophie im Rahmen dieser Tagung mit Bedacht erwähnen. Denn die Philosophie der Gegenwart muss mit der Möglichkeit eines Risikos rechnen, wenn sie die Auseinandersetzung mit diesen Themen vernachlässigt oder für obsolet zu erklären versucht. Dieses Risiko hat die Form eines Dilemmas. Entweder wird die Philosophie auf das unausweichliche theologische, religionsphilosophische und religionspolitische Gespräch mit dem gesamten Osten – also sowohl mit dem Nahen wie dem Mittleren und dem Fernen Osten – so schlecht vorbereitet sein, dass sie sich an einem produktiven Gespräch gar nicht beteiligen kann, ohne sich zu blamieren. Oder aber sie läuft Gefahr, in solchen Gesprächen eine zwar subtile, aber doch fadenscheinige Gestalt des Neokolonialismus zu kultivieren. Denn sie kann dann wohl immer noch die methodische Überlegenheit einer formalanalytischen Kompetenz kultivieren, die zwar die jüngsten Raffinessen der Syntax, der Semantik und der Pragmatik, z. B. der Demonstrativpronomina, beherrscht, aber die z. B. die Frage nach der Theophanie mit derselben Unreife für ein Scheinproblem auszugeben versucht, wie man in den Pubertätsjahren der Analytischen Philosophie alle Fragen der überlieferten Metaphysik als Scheinprobleme in Verruf zu bringen versucht hat. Doch bekanntlich haben sich die Fragen der traditionellen Metaphysik während der vergangenen siebzig Jahre auch innerhalb der Analytischen Philosophie – wenngleich in gewandelter Gestalt – als quicklebendig und als höchst fruchtbar erwiesen. 193 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Die Religionspolitik des Nahen, des Mittleren und des Fernen Ostens wartet indessen nicht siebzig Jahre oder länger darauf, dass die Philosophie des Westens das Reifeniveau erreicht hat, auf dem sie ein nicht nur ebenbürtiger, sondern auch respektvoller Gesprächspartner für die religionsphilosophischen Grenzprobleme geworden sein wird, durch die die Erben der neuzeitlichen Aufklärung und die Träger der großen Religionen in der Gegenwart so extrem voneinander getrennt sind. Die letzte Religionsphilosophie des Westens, die noch alle systematischen Voraussetzungen mitbrachte, um hier ein ebenbürtiger Gesprächspartner zu sein, war die Religionsphilosophie Hegels. Im 20. Jahrhundert war es vor allem Heidegger, der durch eine beispiellos kraftvolle Auseinandersetzung mit der Problemgeschichte der Philosophie die philosophische Potenz entwickelt hatte, in solchen Auseinandersetzungen ein ebenbürtiger und respektvoller Gesprächspartner zu sein. Die nachfolgenden Überlegungen sollen auf religionsphilosophische Spuren aufmerksam machen, die zeigen, dass und wie Platon eine von ihm ausgearbeitete religionsphilosophische Aufgabenstellung hinterlassen hat, deren sich Kant in kongenialer und fruchtbarer Form angenommen hat. Mit Hilfe einer entsprechenden Spurensuche läßt sich zeigen, wie man sich der nicht nur ungelösten, sondern auch vernachlässigten Aufgabe annehmen kann, die hinter der ein wenig verstümmelten Frage im Titel dieses Beitrags steckt. Denn die ausformulierte Frage lautet selbstverständlich, ob Religion trotz Aufklärung nötig und möglich ist oder ob Religion durch Aufklärung überflüssig wird.

II. Die Bemühungen des 18. Jahrhunderts um die Aufklärung haben u. a. auch eine Tradition gestiftet, die – zunächst vor allem in der eingeschränkten Perspektive französischer philosophes – mit der Auffassung verbunden ist, dass Religion und Aufklärung miteinander unverträglich seien. Doch die Bemühungen um Aufklärung über die Religion beginnen nicht erst mit dem 18. Jahrhundert. Überdies sind die Bemühungen des 18. Jahrhunderts um Aufklärung über die Religion so gut wie ausschließlich auf die christliche Gestalt der Religion konzentriert. Die Einseitigkeit dieser Konzentration provoziert daher die Frage, ob nicht auch die Aufklärung über die Religion einseitig, 194 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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also unvollständig bleiben muss, solange sie auf eine singuläre Mustergestalt konzentriert bleibt. Es ist daher nicht nur fraglich, ob man zureichend über die Religion aufgeklärt ist, wenn man auch noch so gut über die christliche Religion aufgeklärt ist. Es ist vor allem fraglich, ob man zureichend über die Religion aufgeklärt ist, wenn man der Auffassung ist, dass sie mit der Aufklärung unverträglich sei. Der früheste Höhepunkt der Aufklärung über die Religion ist nicht nur unvergleichlich viel älter als der Name der Aufklärung, er ist auch erheblich älter als die christliche Religion und als jede andere in der Gegenwart gehegte theistische Religion. Dieser Höhepunkt ist in Platons frühem Dialog Euthyphron dokumentiert. In der früheren Überlieferung von Platons schriftlichem Werk wurde der Euthyphron zusammen mit der Apologie, dem Kriton und dem Phaidon an die Spitze jener ersten Gruppe der Schriftwerke gestellt, von denen man meinte, Platon habe sie unmittelbar nach der Hinrichtung des Sokrates zuerst verfasst. Dieser Meinung lag die Beobachtung zugrunde, dass die Texte in der angegebenen Reihenfolge vier Situationen vor Augen führen, die Sokrates im unmittelbaren Schatten des gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahrens nacheinander bis zu seiner Hinrichtung durchläuft. Im Euthyphron befindet er sich auf dem Weg zur förmlichen gerichtlichen Unterrichtung über die gegen ihn erhobene Anklage; in der Apologie entwirft Platon eine Verteidigung des Sokrates gegen diese Anklage; im Kriton führt Platon eine Auseinandersetzung vor Augen, die Sokrates bereits im Gefängnis mit seinen Freunden über ein Angebot zur Fluchthilfe führt; und der Phaidon endet bekanntlich mit der Darstellung von Sokrates’ Hinrichtung in Anwesenheit der meisten seiner Freunde. Inzwischen hat die Platon-Forschung eine relative Chronologie von Platons Schriftwerk akzeptiert, die im Wesentlichen auf die Platon-Forschungen des Gräzisten Ernst Kapp zurückgeht. 1 In dieser Chronologie gehört der Phaidon zu den Werken von Platons mittlerer Reifezeit. Die drei verbleibenden Texte aus dieser ursprünglichen Vierergruppe werden allgemein dem Frühwerk zugerechnet. Die Frage der relativen Chronologie dieser drei frühen Texte fällt in dem gegenwärtigen thematischen Rahmen nicht weiter ins Gewicht. Viel wichtiger ist in diesem Rahmen, dass diese drei Texte mit unterschiedlichen Orientierungen konkrete Rechtsprobleme thematisieVgl. E. Kapp: Plato’s Theory of Ideas. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. H. u. I. Diller. Berlin/New York 1968, S. 55–150.

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ren. In der Apologie steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Anklage gegen Sokrates wohlbegründet ist und wie gut oder schlecht eine rechtliche Verurteilung des Sokrates wäre; im Euthyphron steht die Frage zumindest in einem Brennpunkt, ob es wohlbegründet ist oder nicht, dass Euthyphron seinen Vater wegen des Totschlags eines Sklaven verklagt; und im Kriton bildet eine Argumentation den Fluchtpunkt, durch die Sokrates zu bedenken gibt, dass es Unrecht wäre, wenn er das Angebot seiner Freunde zur Fluchthilfe aus dem Gefängnis annehmen würde. Niemals wieder hat Platon in seinem Werk so konkrete Rechtsprobleme in so verschiedenen Anläufen so eingekreist und zu durchdringen gesucht wie in diesen drei Frühwerken. Eine atypische Ausnahme bildet lediglich das monumentale Alterswerk der Nomoi, das schon durch seinen Titel ein Schlüsselthema der Rechtsphilosophie und der Politischen Philosophie ankündigt. Der Phaidon hingegen, der wegen der fiktiven Spielzeit seines Dialogs in der Todesstunde des Sokrates lange zu den frühesten Werken Platons gezählt wurde, traktiert direkt überhaupt kein rechtliches oder politisches Problem. Von allen diesen genannten Werken Platons zeichnet sich der Dialog Euthyphron durch drei methodische Vorzüge aus: 1.) Er verbindet ein rechtliches Beurteilungsproblem und ein theologisches Begründungsproblem mit dem Ziel, diese Verbindung mit Hilfe von formalen argumentationsanalytischen Mitteln durchsichtig zu machen; 2.) er analysiert diese Verbindung, indem er fragt, ob die praktische – also die rechtliche, die moralische oder die utilitäre – Richtigkeit und Falschheit von Beurteilungen menschlicher Handlungen von irgendwelchen theologischen oder religiösen Auffassungen abhängig sein kann oder nicht; und er optiert 3.) eindeutig zugunsten der methodologischen Vordringlichkeit der Aufgabe, diese Unabhängigkeitskonzeption zu untersuchen. Platons direkter Beitrag zur Aufklärung über die Religion besteht insofern in der Aufklärung über die methodologische Vordinglichkeit dieser Aufgabe. Sein indirekter Beitrag zu dieser Dimension der Aufklärung hat zwei Teile. Zum einen gibt er den programmatischen Wink, dass es sich für die Philosophie ausschließlich lohnt, nach nichttheologischen Kriterien für die Richtigkeit und die Falschheit praktischer Urteile zu suchen; zum anderen gibt er den ebenso programmatischen Wink, dass es sich vielleicht lohnt, sorgfältig zwischen theologischen Auffassungen und religiösen Auffassungen und Einstellungen zu unterscheiden. 196 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Doch wie auch sonst bei Platons Dialogen kommt es nicht weniger beim Euthyphron auf die Einzelheiten – also auf Sokrates’ berühmtberüchtigte μικρότατα – und auf deren argumentative und systematische Verflechtungen an.

III. Den Ausgangspunkt für Platons Auseinandersetzung mit Angelegenheiten von Theologie und Religion im Euthyphron bildet eine konkrete Doppelsituation innerhalb des athenischen Rechtswesens. Sokrates und Euthyphron begegnen einander auf dem Platz vor dem athenischen Gerichtsgebäude. Sokrates ist auf dem Weg, sich genauer über die Anklage informieren zu lassen, die ein gewisser Meletos wegen Verderbnis der Jugend und wegen Erfindung neuer Götter und Missachtung der alten Götter gegen ihn angestrengt hat. Euthyphron ist indessen auf dem Weg, seinen eigenen Vater wegen des Totschlags eines Sklaven zu verklagen. Dieser Sklave hat seinerseits zuvor – und zwar im Rausch – einen anderen Sklaven erschlagen. Weder die einzelnen Umstände des Totschlags durch den Sklaven noch die einzelnen Umstände des Totschlags durch den Vater sind für die argumentative Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Euthyphron wichtig. Wichtig für die Exposition des argumentativen Problems durch Platon und für die Argumentationsanalyse durch den philosophisch interessierten Leser sind die folgenden fünf Elemente: 1.

Euthyphrons Vater und die anderen Familienangehörigen beurteilen eine Handlungsweise als unfromm (ἀνόσιον, 4d9–10), wenn ein Sohn seinen eigenen Vater wegen der Tötung eines Sklaven verklagt. Euthyphrons Handlungsweise wird daher von ihnen als unfromm beurteilt.

2.

Euthyphron selbst beurteilt dieses Urteil seines Vaters und der anderen Familienangehörigen so, dass diese schlecht wüssten, was es mit dem Göttlichen (τὸ θεῖον, 4e2) auf sich habe, wenn es um das Fromme und das Unfromme geht.

3.

Euthyphron stimmt Sokrates zu, wenn dieser sagt, dass Euthyphron genau zu wissen meine (ἀκριβῶς οἴει ἐπίστασθαι, 4e-5), was es einerseits mit den göttlichen Angelegenheiten (τὰ θεῖα, vgl. 4e5) und andererseits mit den frommen und den unfrommen Angelegenheiten (τὰ ὅσια τε καὶ ἀνόσια, vgl. 4e5–6) auf sich hat.

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4.

Euthyphron teilt ebenfalls die Auffassung von Sokrates, dass es um die Frage gehe, ob die Handlungsweise (πρᾶγμα, 4e7–8) Euthyphrons unfromm ist oder nicht, aber nicht um die Frage, ob die Person des Euthyphron oder die Gesinnung Euthyphrons unfromm ist oder nicht.

5.

Eine unscheinbare, aber extrem wichtige Differenz zwischen Euthyphrons Selbstbeschreibung und Euthyphrons Charakterisierung durch Sokrates kommt durch eine Differenz zwischen Wissen und Meinung ins Spiel. Sokrates formuliert lediglich den Eindruck, dass Euthyphron genau zu wissen meine, wie es sich mit den göttlichen, den frommen und den unfrommen Angelegenheiten verhält. Euthyphron hingegen behauptet von sich selbst, dass er alles das genau wisse (ἀκριβῶς εἰδείην, 5a2). Doch indem sich Euthyphron selbst (genaues) Wissen zuschreibt, schließt er die Möglichkeit seines Irrtums in diesen Angelegenheiten aus. Sokrates hält indessen durch seine Charakterisierung sogar die Möglichkeit von zwei Irrtümern Euthyphrons offen. Denn wenn Euthyphron lediglich zu wissen meint, wie es sich mit diesen Angelegenheiten verhält, dann kann er nicht nur über die göttlichen und über die frommen und die unfrommen Angelegenheiten in einen Irrtum verstrickt sein; dann kann er außerdem auch noch über sein eigenes kognitives Format in einen Irrtum verstrickt sein, weil er irrtümlicherweise etwas zu wissen meint, während er in Wahrheit nicht weiß, was er zu wissen meint, sondern stattdessen eine falsche Meinung von seinem prätendierten Wissen hat.

Diese Zusammenhänge und Differenzen zwischen Wissen und Meinung, vermeintlichem Wissen und falscher Meinung bilden die erkenntnistheoretische Dimension der Problemstellung des Dialogs. Vordergründig geht es daher zwar um die Frage, ob Euthyphron über ein Wissen von den göttlichen sowie von den frommen und den unfrommen Angelegenheiten verfügt oder nicht. Es wird sich indessen zeigen, dass Platons Dialogregie die Gestalt des Euthyphron mit dem Ziel inszeniert, eine andere Frage zu behandeln – die Frage nämlich, ob die Menschen zur richtigen Beurteilung von Handlungsweisen als fromm oder unfromm auf ein Wissen angewiesen sind oder nicht, über das nur ein Theologe verfügen kann, also jemand, der über das Wissen von den Göttern, ihren Eigenschaften und ihren Verhaltensweisen verfügt. Gleichzeitig lenkt Platon durch die Rahmeninszenierung des Dialogs die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das Fernziel der Auseinandersetzung um diese Fragen. Dies Fernziel wird durch den Anfang des Dialogs, durch sein Ende und durch eine Stellungnahme Euthyphrons markiert. Am Anfang steht die Beurteilung 198 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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von Euthyphrons Handlungsweise als unfromm durch dessen Vater und die anderen Familienangehörigen (vgl. 4d–e). Am Ende steht Sokrates’ gescheiterte Hoffnung, durch die Unterredung mit Euthyphron lernen zu können, wie er seine eigenen Handlungsweisen richtig beurteilen kann, die ihm durch die Anklage des Meletos zum Vorwurf gemacht werden (vgl. 15e). Die dritte Markierung dieses Fernziels legt Platon Euthyphron in den Mund, indem er ihn auch selbst eine Beurteilung seiner eigenen Handlungsweise aussprechen lässt: »Ich urteile, dass das Fromme das ist, was ich jetzt tue: gegen den, der durch Mord […] sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, vorzugehen« (λέγω τοίνυν ὅτι τὸ μὲν ὅσιόν ἐστιω, ὅπερ ἐγὼ νῦν ποιῶ, τῷ ἀδικοῦντι ἢ περὶ φόνους ἢ περὶ ἱερῶν κλοπὰς ἤ τι ἄλλο τῶν τοιούτων ἐξαμαρτάνοντι ἐπεξιέναι, 5d8–10). An diesen drei Punkten stellt Platon klar, dass die Antwort auf die allgemeine Frage nach dem Wissen um die göttlichen und um die frommen und die unfrommen Angelegenheiten im Dienst der Klärung eines praktischen Beurteilungsproblems steht: Es geht darum, eine konkrete, individuelle Handlung einer konkreten, individuellen Person in einer konkreten, individuellen Situation daraufhin zu beurteilen, ob sie fromm oder unfromm ist. Sokrates geht ganz am Ende des Dialogs über dieses praktische Beurteilungsproblem sogar noch einen Schritt hinaus. Denn seine Hoffnung zielt darauf, mit Hilfe des Wissens um die göttlichen und um die frommen und die unfrommen Angelegenheiten über fromme und unfromme Handlungsweisen nicht nur besser darüber urteilen zu können, sondern mit Hilfe dieses Wissens sogar auch ein besseres Leben führen zu können. Bei dem erhofften Wissen handelt es sich also um ein Wissen, das in einem eminenten Sinne praktisch ist: Es verhilft nicht nur zu treffenden Beurteilungen frommer und unfrommer Handlungsweisen; es verhilft auch – und zwar anscheinend nur im Durchgang durch solche praktischen Beurteilungen – zu einem besseren praktischen Leben.

IV. Wenn man den Beitrag zur Aufklärung über die Religion einschätzen möchte, der Platon in Euthyphron gelungen ist, dann kommt es darauf an, die Argumentationsstruktur des Dialogs zu klären. Wenn man diese Argumentationsstruktur klären möchte, dann kommt es auch darauf an zu klären, wie Platon mit den Mitteln seiner Dialog199 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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regie die Einführung von bestimmten Worten und Begriffen, Sätzen und Gedanken auf die beteiligten Gesprächspartner verteilt. In diesem Sinne ist es wichtig, dass es Euthyphron ist, der als erster in gegenständlicher Form und in thematischer Zuspitzung von den Göttern (οἱ θεοί, 5e6 ff.) spricht und dadurch mit der bis dahin gemeinsam geübten Sprechpraxis bricht, in attributiver Form von den göttlichen Angelegenheiten (τὰ θεῖα, 3b7, 5a6, 8) zu sprechen. Diese unscheinbare formale Modifikation signalisiert bereits eine vorläufige Differenz in den Einstellungen zur Frage nach den göttlichen Angelegenheiten. Euthyphron gibt gänzlich unzweideutig zu verstehen, dass die göttlichen Angelegenheiten primär Angelegenheiten der Götter selbst sind. Dagegen spricht Sokrates bis zuletzt in der attributiven Form von den göttlichen Angelegenheiten (vgl. 16a). Damit lässt Sokrates selbst und im eigenen Namen zumindest offen, ob die göttlichen Angelegenheiten möglicherweise in einem präzisierbaren und konkretisierbaren Sinne ausschließlich Angelegenheiten der Menschen selbst sind. Im Folgenden soll daher zunächst gezeigt werden, wie Platon durch den Mund des Sokrates zugunsten der Auffassung argumentiert, dass die göttlichen Angelegenheiten aus prinzipiellen Gründen keine Angelegenheiten von Göttern oder eines einzigen Gottes sein können. Man kann insbesondere zeigen, dass Platons Beitrag zur Aufklärung über die Religion in der Entwicklung eines Arguments besteht, durch das man plausibel machen kann, dass die sogenannten göttlichen Angelegenheiten bei genauerem Hinsehen Angelegenheiten sind, die die Menschen ausschließlich in der Auseinandersetzung mit sich selbst ins Reine bringen können und müssen.

V. Die Mittel, mit deren Hilfe Platon indirekt die Gesichtspunkte andeutet, unter denen man die mangelnde Tragfähigkeit von Euthyphrons Theologie plausibel machen kann, sind nicht selten elementar und manchmal sogar trivial. Und sie sind fast durchweg von eher mikroskopischer Größenordnung. Sie zeigen sich u. a. in bestimmten Worten und Wendungen, die er Euthyphron von Anfang an in den Mund legt, wenn er diesen seine Theologie formulieren lässt. Das erste Stichwort, auf das es hier ankommt, wird Euthyphron sogleich im Zuge seines ersten theologischen Arguments in den Mund gelegt. Es 200 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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ist das griechische Wort τεκμήριον (5e3, vgl. auch 9a2), das in diesem Kontext so viel wie Kennzeichen, Merkmal oder Indiz bedeutet, nämlich das Kennzeichen, Merkmal oder Indiz für die Richtigkeit der speziellen Norm (vgl. 5e2–3), die eine fromme Handlungsweise vorschreibt, indem sie Euthyphron vorschreibt, gegen den vorzugehen, der sich durch Mord, durch Tempelraub oder durch etwas anderes derartiges eines Vergehens schuldig gemacht hat. Die Rede von einem Kennzeichen, Merkmal oder Indiz ist in diesem Zusammenhang deswegen so bedeutsam, weil Platon dem Euthyphron damit Formulierungen in den Mund legt, durch die dieser signalisiert, dass an der Untersuchung der Frage nach dem Frommen und dem Unfrommen eine kognitive Dimension beteiligt ist. Denn nach Kennzeichen, Merkmalen und Indizien fragt man, wenn man wissen möchte, wie oder woran man erkennen kann, ob etwas der Fall ist oder aber nicht der Fall ist – also wenn man wissen möchte, wie man einen Sachverhalt oder eine Handlungsweise richtig beurteilen kann, beispielsweise Euthyphrons Verklagung seines Vaters. Dies spezielle kognitive Problem – also dies Indizienproblem – sucht Euthyphron durch einen Rückgriff auf einige Beispiele aus der von den Griechen geglaubten Götterwelt zu lösen. Denn als Indiz für die Richtigkeit sowohl der thematisierten Norm wie seines eigenen konkreten Verhaltens beruft er sich auf den Glauben der Menschen, dass Zeus der beste und gerechteste unter den Göttern sei, sowie auf die Erzählung, dass Zeus seinen eigenen Vater in Fesseln gelegt habe, weil dieser einige seiner eigenen Söhne verschluckt habe, und dass dieser wiederum seinen eigenen Vater wegen ähnlicher Handlungsweisen kastriert habe. Unter Berufung auf den Glauben der Menschen an diese Götter und an diese Handlungsweisen der Götter argumentiert Euthyphron, dass die Menschen sich in Widersprüche (ἐναντία, 6a5) verstricken, wenn sie solche Handlungsweisen bei den Göttern billigen und seine eigene, vergleichsweise harmlose Verklagung seines Vaters als unfromm verurteilen. An dieser Argumentation Euthyphrons ist nicht nur der theologische Inhalt wichtig, sondern sogar noch mehr der Umstand, dass er selbst ein formales Kriterium zur Beurteilung der Beurteilung verwendet, der er sich mit seiner eigenen Handlungsweise ausgesetzt sieht: das Kriterium der Widerspruchsfreiheit oder auch Konsistenz bzw. der Widersprüchlichkeit oder auch Inkonsistenz. Sokrates lässt Euthyphrons Vorwurf der Inkonsistenz und seinen Gebrauch dieses formalen Kriteriums vorläufig auf sich beruhen. Zunächst macht er 201 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Euthyphron auf eine methodische Unzulänglichkeit seiner bisherigen Auseinandersetzung mit dem Ausgangsproblem aufmerksam. Zu diesem Zweck kann sich Sokrates auf Euthyphrons frühere Zustimmung berufen, dass das Fromme in jeder Handlung das selbst mit sich Selbe ist (ταὐτόν ἐστιν ἐν πάσῃ πράξει τὸ ὁσιον αὐτὸ αὑτῷ, 5d1– 2). Das Unzulängliche von Euthyphrons Methode besteht daher vorläufig noch darin, dass er das Fromme mit Hilfe eines theologischen Indizienarguments lediglich in der exemplarischen Handlungsweise seiner gegenwärtigen Situation gesucht hat (vgl. 6d1–4). Wenn das Fromme aber in allen Handlungen dasselbe ist, also invariant gegenüber allen Unterschieden zwischen allen frommen Handlungen, dann muss Euthyphron Sokrates über diese Invariante, die Sokrates »Idee« (εἶδος, ἰδέα, 6d11) nennt, belehren. Im selben Atemzug stellt Sokrates klar, dass diese Invariante, diese Idee, ebenfalls eine ganz bestimmte kognitive Funktion haben muss. Sie muss nämlich die Funktion eines »Musters« (παραδείγματι, 6e5–6) haben, so dass man auf dieses Muster des Frommen blicken kann (ἀποβλέπων, 6e5), wenn man in einem beliebigen konkreten Einzelfall einer Handlungsweise einschätzen will, ob sie fromm ist oder nicht – also ob sie dem invarianten Muster entspricht oder nicht, die die Idee des Frommen abgibt. Diese kognitive Funktion eines invarianten Paradigmas von allem, was fromm ist, ist offenbar anspruchsvoller als die kognitive Funktion eines Indizes dafür, dass Euthyphrons Verklagung seines Vaters fromm ist. Denn im Licht des Indizes soll man entweder lediglich einen konkreten Einzelfall oder eine einzige Klasse von Einzelfällen des Frommen erkennen und beurteilen können, mit Hilfe des invarianten Paradigmas indessen jeden beliebigen konkreten Einzelfall einer frommen Handlungsweise (vgl. 9cd). Euthyphrons Antwort auf die Erkundigung nach dem invarianten Paradigma alles Frommen besagt, dass das, was den Göttern lieb ist, fromm ist, was ihnen nicht lieb ist, hingegen unfromm (vgl. 6e11–12). Über diese Antwort und ihren Inhalt kommt Euthyphron bis zum Ende des Dialogs nicht hinaus. Gleichwohl muss Euthyphron an zwei Knotenpunkten des Dialogs einräumen, dass der Inhalt dieser Antwort mit einem Problem verbunden ist, für das er nicht nur keinen Lösungsvorschlag anbieten kann, sondern das er in seiner Eigenart noch nicht einmal versteht. Wenn man jedoch verstehen und beurteilen will, worin Platons Beitrag zur Aufklärung über die Religion besteht, dann muss man verstehen, worin das Problem besteht, das Euthyphron nicht versteht.

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VI. Sokrates macht Euthyphron auf dieses Problem aufmerksam, indem er die Formel modifiziert, in der Euthyphron seine Antwort auf die Frage nach dem invarianten Muster des Frommen zusammengefasst hat: Fromm ist, was den Göttern lieb ist. An dieser Formel fällt auf, dass man sie auch umkehren kann, ohne dass ihr Inhalt modifiziert oder ihre Funktion gestört würde: Was den Göttern lieb ist, ist fromm. Dagegen wird Euthyphron von Sokrates dreimal immer wieder von neuem in Verwirrung gestürzt durch die Frage, ob das Fromme deswegen von den Göttern geliebt wird, weil es fromm ist, oder ob das Fromme deswegen fromm ist, weil es von den Göttern geliebt wird (ἆρα τὸ ὅσιον ὅτι ὅσιόν ἐστιν φιλεῖται ὑπὸ τῶν θεῶν, ἢ ὅτι φιλεῖται ὅσιόν ἐστιν, 10a2–3; vgl. auch 11b–12a, 15 c–e). Sokrates benutzt im Anschluss an diese Frage und im Anschluss an die erste Bekundung von Euthyphrons Verständnislosigkeit in rund fünf Dutzend Fragen entsprechend viele verschiedene begriffliche und argumentative Kunstgriffe, um Euthyphrons Verständnis auf die Sprünge zu helfen. Am Ende verabschiedet sich Euthyphron von Sokrates und lässt diesen mit seiner unbeantwortet gebliebenen Frage zurück. Gleichwohl signalisiert Sokrates durch die Zähigkeit, mit der er an dieser Frage festgehalten hat, und durch den begrifflichen und argumentativen Aufwand, mit dem er Euthyphrons sachliches Verständnis für sie zu wecken gesucht hat, dass sie für ihn die religionsphilosophische Schlüsselfrage ist. Warum? Platon hat drei Verständnishilfen in den Dialog eingeflochten, die sich der Leser zunutze machen kann, um den religionsphilosophischen Schlüsselcharakter dieser Frage zu durchschauen. Die eine Verständnishilfe besteht darin, dass Euthyphron die isolierte These durchaus akzeptiert, dass die Götter das Fromme deswegen lieben, weil es fromm ist, und ebenfalls die isolierte These akzeptiert – zumindest vorsichtig –, dass das Fromme nicht deswegen fromm ist, weil es gottgefällig ist – obwohl er mit Sokrates’ komplexerer Alternativfrage gar nichts anfangen kann, ob das Fromme deswegen fromm ist, weil die Götter es lieben, oder die Götter das Fromme deswegen lieben, weil es fromm ist. Die zweite, entscheidende Verständnishilfe, die Platon dem Leser bietet, bietet er durch Sokrates’ Mund zwar auch Euthyphron. Aber Euthyphron vermag sie nicht fruchtbar zu machen, um seine Hilflosigkeit gegenüber Sokrates’ Frage zu überwinden. Diese Verständnishilfe, die er Sokrates in den 203 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Mund legt, macht darauf aufmerksam, dass zwischen dem Begriff des Frommen und dem Begriff der Gottgefälligkeit ein einfacher, aber wichtiger formaler Unterschied besteht: Der Begriff der Gottgefälligkeit ist ein Relativbegriff, der Begriff des Frommen hingegen nicht. 2 Das Attribut der Gottgefälligkeit kommt einer Handlungsweise daher stets nur in Relation zu einem Gott oder zu einigen oder allen Göttern zu. Das Attribut des Frommen hingegen kommt einer Handlungsweise überhaupt nicht in Relation zu irgendetwas anderem zu, sondern, wie man gelegentlich sagt, an sich. Euthyphron stimmt daher der trivialen These wenigstens vorsichtig zu, dass eine von den Göttern geliebte Handlungsweise eben deswegen zwar eine geliebte Handlungsweise ist, aber deswegen noch längst nicht eine fromme Handlungsweise (vgl. 10d1–8). Nun ist dies alles – zumindest für elementarphilosophisch geschulte Leser unserer Tage – ziemlich elementar und auch relativ trivial. 3 Umso mehr ist es Platons Leser, dem von Platon eine Beteiligung an der Lösung des Rätsels angesonnen wird, was denn nun den sachlichen Kern des Problems ausmacht, dem Euthyphron mit so ununterbrochener und gänzlicher Verständnislosigkeit gegenübersteht. 4 Doch die Lösung des Rätsels ist an sich relativ einfach. Euthyphron hat ganz einfach vergessen, dass der ganze Dialog, den Sokrates mit ihm führt, von Anfang an mit Hilfe von erkenntnistheoretischen Aufgabenstellungen gelenkt wird – zunächst von der Aufgabe, Kennzeichen oder Indizien anzugeben, mit deren Hilfe man bei exemplarischen Handlungsweisen erkennen und beurteilen kann, dass sie fromm oder unfromm sind, und danach von der viel anspruchsvolleren Aufgabe, sogar ein invariantes Muster anzugeben, mit dessen Hilfe man bei jeder beliebigen Handlungsweise beurteilen und erkennen kann, dass sie fromm bzw. unfromm ist. 2 [Zum Problem der Relativbegriffe bei Platon vgl. Erhard Scheibe, Über Relativbegriffe in der Philosophie Platons, in: Phronesis 12 (1967), S. 53–72.] 3 Wo diese relative Trivialität innerhalb von Platons Dialog ihre Grenzen hat – ab 10b1 – und welche relationenlogischen Probleme auf dieser Grenze und jenseits von ihr auftauchen, zeigt im einzelnen G. Patzig: Logik in Platons Euthyphron (11972). In: ders.: Gesammelte Schriften III. Aufsätze zur antiken Philosophie. Göttingen 1996, S. 55–72. 4 Patzig (vgl. oben S. 2043) identifiziert den Kern des Problems mit der Schwierigkeit, die weil-Relation in sachlich angemessener Weise auf Begriffe zu bringen, die Platon durch das διότι in den Argumenten 10b1 ff. formuliert, vgl. S. 72 ff. Die weil-Konstruktion, die Platon durch das ὅτι in der Alternativfrage 10a2–3 formuliert, bleibt von dieser Schwierigkeit unberührt, vgl. Patzig 1996, S. 64 f.

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Die Verständnislosigkeit Euthyphrons bezieht sich daher auf die erkenntnistheoretische Tragweite, die seine beiden Stellungnahmen zum Verhältnis zwischen dem Frommen und dem Gottgefälligen für die Theologie mit sich bringen. Es kommt daher entscheidend auf die begrifflichen Kunstgriffe an, die Platon verwendet, um das ausspruchsvollste kognitive Requisit zu charakterisieren, das zur Erkenntnis und zur Beurteilung des Frommen und des Unfrommen erforderlich ist: 1.) Er tauft dieses Requisit auf den Namen der Idee; 2.) er schreibt diesem Requisit den Status dessen zu, was gegenüber allen Unterschieden zwischen konkreten Handlungsweisen (invariant) mit sich selbst dasselbe in diesen Handlungsweisen ist; 3.) er schreibt ihm die kognitive Funktion eines Musters zu; 4.) er erläutert diese Funktion durch die Bemerkung, dass man auf dieses Ideenmuster blicken können müsse, wenn man das Fromme und das Unfromme jeder beliebigen Handlungsweise beurteilen und erkennen möchte; 5.) er macht darauf aufmerksam, dass, wenn man ein solches kognitives Requisit ermittelt hat und von ihm in der Beurteilung einer Handlungsweise als fromm Gebrauch macht, eine weil- bzw. ὅτι- oder διότι-Grammatik für den sprachlichen Ausdruck dieses Gebrauchs angemessen ist. Wir benutzen in unserer heutigen Bildungssprache schon seit längerem ein einfaches griechisches Fremdwort, um ein solches kognitives Requisit zu benennen. Denn ein solches kognitives Requisit ist ein Kriterium. 5 Sokrates will daher gemeinsam mit Euthyphron nach dem invarianten Kriterium des Frommen und des Unfrommen suchen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Liebe der Götter oder eines einzigen Gottes für irgendwelche Handlungsweisen weder erkennen lässt, dass sie fromm sind, noch erkennen lässt, warum sie fromm sind, falls sie überhaupt fromm sind. Wer daher behauptet, dass eine bestimmte Handlungsweise fromm ist, und außerdem glaubt oder weiß oder zu wissen glaubt, dass sie von den Göttern oder von einem Gott geliebt wird, der muss

5 So auch die Einschätzung von K. Reich: Einleitung. In: Platon: Euthyphron (griech.dtsch.). Übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von K. Reich. Hamburg 1968, bes. S. X–XIII, sowie von W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 130 f., aber auch 127 f.; G. Vlastos: Socratic Piety, in: ders.: Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 21992, S. 157–75, zieht den Euthyphron – neben anderen Dialogen – hauptsächlich mit dem Ziel zu Rate, Indizien für einen traditionellen Götterglauben des historischen Sokrates’ zu gewinnen.

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über ein von seinem religiösen Glauben und von aller Theologie unabhängiges Kriterium des Frommen verfügen. Was also Euthyphron nicht versteht, wenn er Sokrates’ Alternativfrage so hilflos gegenübersteht, das ist die Tragweite, die Sokrates’ erkenntnistheoretische Aufgabenstellung sowohl für jede Theologie wie für jeden Götterglauben und für jeden Gottesglauben mit sich bringt. Denn weder ein lebendiger Götterglaube oder Gottesglaube noch eine Theologie kann ein Kriterium zur Beurteilung und zur Erkenntnis des Frommen und des Unfrommen von Handlungsweisen liefern. Ein solches Kriterium müssen die Menschen gänzlich unabhängig von allen derartigen Glaubensformen und unabhängig von aller Theologie klären. Damit ist die methodische Ordnung festgelegt, in der die Bemühungen um Klärung eines Kriteriums des Frommen und des Unfrommen von Handlungsweisen mit einem Götterglauben oder einem Gottesglauben und mit der Theologie verbunden ist, sofern es um die normative Beurteilung und Erkenntnis der menschlichen Praxis geht. Erst dann, wenn ein solches Kriterium geklärt ist, kann man wissen und mit guten Gründen behaupten, welche Handlungsweisen der Menschen von den Göttern oder von einem Gott geliebt werden können. Und erst im Licht eines solchen Kriteriums kann man den theologischen Satz zu bedenken geben, dass ein Gott ein Wesen ist, das solche Handlungsweisen liebt oder das die Menschen um solcher Handlungsweisen willen liebt. Platons Beitrag zur Aufklärung über die Religion besteht insofern in einer praktischen, in einer erkenntnistheoretischen und in einer methodologischen Einsicht. Die praktische Einsicht besteht in der Einsicht, dass der Streit um das Fromme und das Unfromme ein Streit um die Handlungsweisen der Menschen ist. Die erkenntnistheoretische Einsicht besteht in der Einsicht, dass der Streit um das Fromme und das Unfromme von Handlungsweisen ein Kriterium zur Beurteilung und zur Erkenntnis des Frommen und des Unfrommen voraussetzt. Und die methodologische Einsicht besteht in der Einsicht, dass die Klärung dieses Kriteriums den methodischen Primat vor jeder Theologie hat, also abgeschlossen sein muss, bevor man mit berechtigter Aussicht auf Erfolg auch nur fragen kann, was für eine Religion und was für eine Theologie man vernünftigerweise haben kann, und nicht umgekehrt. Die Suche nach diesem Kriterium ist daher eine der Aufgaben, die Platon der Philosophie stellt. Die philosophiegeschichtliche Bedeutsamkeit des Dialogs Euthyphron besteht unter diesen Vorausset206 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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zungen darin, dass Platon mit den Mitteln seiner Dialogregie zeigt, wie schwierig es ist, mit dieser Suche Fortschritte zu machen. Nicht zuletzt zeigt Platon aber auch, dass die Philosophie nicht der methodischen Aufgabe ausweichen sollte, diese Suche unmittelbar mit der Auseinandersetzung mit den Anhängern der traditionsreichen Formen des Götterglaubens und des Gottesglaubens sowie der Theologie zu verbinden. Allerdings wird die Suche nach dem intendierten Kriterium noch schwieriger als sie ohnehin schon ist, wenn man sie gemeinsam mit Gesprächspartnern unternimmt, die von Anfang an davon überzeugt sind, dass man dies Kriterium in authentischen Worten von Göttern oder eines Gottes finden kann oder in thematischen Aussagen von Menschen über Götter oder über einen Gott. Dass die Suche nach dem intendierten Kriterium in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit solchen Gesprächspartnern sogar so schwierig sein kann, dass sie zumindest vorläufig scheitert, zeigt der ganze Dialog.

VII. Die Bearbeitung der Aufgabenstellung, die Platon der Philosophie mit dem Dialog Euthyphron hinterlassen hat, hat außerordentlich lange auf sich warten lassen. Diese Wartezeit fällt umso mehr ins Gewicht, wenn man in Rechnung stellt, dass die Frage nach dem Kriterium für das Fromme und das Unfromme von Handlungsweisen in diesem Dialog im Ausgang von zwei rechtlichen Streitigkeiten durchkreuzt wird. Vor allem Sokrates erhofft sich von Euthyphron Belehrungen über die göttlichen Angelegenheiten und über das Kriterium für das Fromme und das Unfromme von Handlungsweisen, weil er nach Argumenten sucht, mit deren Hilfe er sich in einem öffentlichen Gerichtsverfahren möglichst erfolgreich gegen eine öffentliche Anklage verteidigen möchte. Diese rechtliche und öffentliche Rahmensituation des Dialogs zwischen Sokrates und Euthyphron gewinnt ein formales und methodisches Gewicht durch den Umstand, dass sich die beiden Gesprächspartner vergleichsweise leicht auf die abstrakten Thesen einigen, dass das Fromme eine Unterart dessen ist, was recht bzw. gerecht ist (vgl. 8b–9d, 12c–e). Da unter dieser Voraussetzung alles, was fromm ist, auch recht bzw. gerecht ist, schließt die Suche nach dem Kriterium des Frommen unmittelbar die Suche nach dem Kriterium dessen ein, was recht bzw. gerecht ist. Nun kennt zwar 207 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Platon noch keinen trennscharfen Unterschied zwischen Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Doch dieser Mangel wird mehr als kompensiert durch den Umstand, dass Platon der Erste ist, der überhaupt die damit verbundenen Kriterienprobleme gesehen und subtil erörtert hat und der gleichzeitig eingesehen hat, dass man sie gänzlich unabhängig von allen religiösen Einstellungen und von allen theologischen Auffassungen klären muss, wenn man sie überhaupt mit berechtigter Aussicht auf Erfolg zu klären sucht. 6 Es liegt auf der Hand, warum die Bearbeitung dieses Kriterienproblems sehr lange auf sich hat warten lassen. Die Geburt, das Wachstum und die Ausbreitung des Christentums haben die Tragweite von Platons methodologischer Einsicht für mehr als eineinhalb Jahrtausende fast ausnahmslos neutralisiert und die christliche Religion sowie deren Theologie in den Rang der Quellen des Kriteriums des Frommen und des Unfrommen von Handlungsweisen erhoben. Es lohnt sich daher, an die Theorie zu erinnern, in der sowohl das von Platon entdeckte Kriterienproblem wie die von Platon gewonnene methodologische Einsicht zum ersten Mal wieder am klarsten und am fruchtbarsten zum Leben erweckt worden sind. Diese Theorie hat außerdem den methodischen Vorteil, dass sie die Behandlung des Gerechtigkeitskriteriums strikt von der Behandlung des Rechtlichkeitskriteriums trennt.

VIII. Die Theorie, an die man hier erinnern kann, behandelt in dem fraglichen Punkt ein Thema, das ihr Autor so umschreibt: »[…] das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«. 7 Das Kriterium selbst wird so formuliert: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Frei-

[Zur Interpretation und Analyse des nachfolgenden Teils des Dialogs vgl. den Platon-Teil in meinem Aufsatz: Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung. Dokumentenband des XXIII. Deutschen Kongresses für Philosophie, Münster 2014 (Hrsg. M. Quante), Hamburg 2016, S. 1017– 35, bes. S. 1020–26.] 7 Kant: Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe = Ak.) VI, Berlin 1900 ff., S. 229. 6

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heit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann«. 8 Die erste Pointe, auf die es hier ankommt, ergibt sich aus dem Umstand, dass dies Kriterium der Rechtlichkeit in dieser Theorie unmittelbar mit einem anderen Element verflochten ist: »[…] handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne«. 9 Nun handelt es sich bei diesem Satz seiner pragmatischen Form nach offenkundig um einen Imperativ. Die eine, bescheidenere Pointe besteht hier darin, dass Kant damit den kategorischen Imperativ des Rechts ins Auge fasst; die andere, gewichtigere Pointe besteht darin, dass dieser Imperativ seinem propositionalen Gehalt nach ein Kriterium zur Beurteilung und zur Erkenntnis dessen enthält, was die Rechtlichkeit einer Handlungsweise ausmacht. Gemeinsam machen die beiden Pointen darauf aufmerksam, dass von keinem Menschen gefordert werden könnte, rechtlich zu handeln, wenn nicht Hand in Hand mit dieser Forderung die Aussicht gerechtfertigt wäre, das Kriterium zu finden, mit dessen Hilfe man beurteilen und erkennen kann, was für Handlungsweisen recht und was für welche unrecht sind. In Kants Sprache formuliert: Die Forderung nach rechtlichen Handlungsweisen kann nur dann eine Forderung der praktischen Vernunft sein, wenn in vernünftiger Weise beurteilt und erkannt werden kann, worin die Rechtlichkeit einer Handlungsweise besteht. Kant hat diesen Zusammenhang zwischen praktischen Beurteilungskriterien und der Vernünftigkeit solcher Kriterien schon in der Kritik der praktischen Vernunft durch das treffliche Stichwort vom »Rationalismus der Urteilskraft« pointiert. 10 Man darf die Frage vorläufig auf sich beruhen lassen, ob, und wenn ja, wie die Anwendung des Rechtlichkeitskriteriums funktioniert. Zunächst sollte gebührend beachtet werden, dass ganz allgemein die Behandlung solcher Kriterienprobleme durch Kant über Gebühr zugunsten der Auseinandersetzung mit den Problemen der Normenbegründung vernachlässigt wird. Andererseits steht speziell Kants Rechtsphilosophie immer noch zu sehr im Schatten seiner Moralphilosophie. Diese Disproportionen innerhalb der Auseinander-

Ak. VI, S. 230. Ebd., S. 231. 10 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Ak. V, S. 125. 8 9

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setzung mit dem Ganzen von Kants Praktischer Philosophie lässt aber verkennen, dass Kants Arbeit an der Rechtsphilosophie Konsequenzen nach sich zieht, die eine Tragweite auch für die Religionsphilosophie mit sich bringen. Diese Tragweite ist deswegen bedeutsam, weil Kants Religionsphilosophie bis heute so gut wie ausschließlich im Rahmen seiner Moralphilosophie diskutiert wird. Es ist daher kurz an diesen Rahmen zu erinnern, bevor man anschließend erläutern kann, wie man diesen Rahmen mit Hilfe von Kants Rechtsphilosophie verlassen und zugunsten einer anderen, eben einer aufgeklärten Konzeption der Religion argumentieren kann.

IX. Zunächst wirft Kants Formulierung des Kriterienproblems des Rechts indirekt auch ein Licht auf eine Dimension von Kants Moralphilosophie, die ebenfalls immer wieder von neuem über Gebühr vernachlässigt wird – auf den Umstand nämlich, dass Kant ebenso ein Kriterium zur Beurteilung und zur Erkenntnis des moralisch Richtigen und Falschen ausgearbeitet hat wie ein Kriterium zur Beurteilung und Erkenntnis des rechtlich Richtigen und Falschen. Allerdings hat Kant dies Moral-Kriterium vor den Augen der Leser seiner Publikationen in gewisser Weise versteckt. Den Ort dieses Verstecks bildet jener Kategorische Imperativ, der inzwischen schon lange zum Inhalt des höheren Bildungsbewusstseins gehört. Die ausgereifteste Fassung hat Kant diesem Imperativ im § 7 der Kritik der praktischen Vernunft gegeben: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann«. 11 Auch dieser Moral-Imperativ ist durch seinen propositionalen Gehalt mit einer kriteriellen Funktion verflochten. Kant hat diese kriterielle Funktion des Moral-Imperativs besonders in seinen Ethik-Vorlesungen auf Begriffe gebracht und sie in der halblateinischen Schulsprache als die eines »principium der diiudication« 12 gekennzeichnet. Es ist unter diesen Vorzeichen auch nicht mehr schwer, dies Kriterium aus der präskriptiven Form des Moral-Imperativs herauszulösen und ihm die angemessene deskriptive Form zu geben: Die Handlung ist moralisch gut oder richtig, deren Willensmaxime jeder11 12

Ak. V, S. 54. Kant: Moral Mrongovius, in: Ak. XXVII/2.2., S. 1428.

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zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Doch damit ist klargestellt, dass auch keine moralische Forderung an irgendeinen Menschen gestellt werden kann, wenn nicht Hand in Hand damit auch ein Kriterium zur Beurteilung und Erkenntnis dessen, was moralisch gut und richtig ist, zur Verfügung gestellt werden kann. 13 Da man, wie sich oben gezeigt hat, die Beurteilungsmethode, die mit diesem Kriterium verbunden ist, sowohl in hermeneutischer wie in formaler und in sachlicher Hinsicht in befriedigender Weise rekonstruieren kann, kommt es für den Augenblick vor allem darauf an zu zeigen, dass Platons Aufgabenstellung an die Adresse der Philosophie, nach dem Kriterium des Frommen von Handlungsweisen zu suchen, in Kants Praktischer Philosophie optimal aufgehoben ist. Kant hat im Laufe seiner Arbeit an dieser Philosophie, wie die Zitate zeigen können, außerdem eingesehen, dass man das gesuchte Kriterium sogar gleichsam aufspalten kann in ein Kriterium des moralischen Charakters von Handlungsweisen und der sie leitenden Gesinnungen sowie in ein Kriterium des rechtlichen Charakters von Handlungsweisen ganz unabhängig von irgendwelchen Gesinnungen. Diese Aufspaltung in ein Moralitätskriterium und in ein Rechtlichkeitskriterium kann daher auch zum Ausgangspunkt dienen, wenn man klären möchte, wie Kant an der weiterführenden Aufgabe gearbeitet hat, die Platon im Dialog Euthyphron für die Philosophie ins Auge gefasst hat – die Aufgabe also zu klären, wie es sich mit den göttlichen Angelegenheiten verhält, wenn man bereits über ein Kriterium des Frommen von Handlungsweisen verfügt. Mit Blick auf Kants Praktische Philosophie ergibt sich daher die Frage, wie es sich mit den göttlichen Angelegenheiten verhält, wenn man sowohl über ein Kriterium des moralischen Charakters von Handlungsweisen und den sie leitenden Gesinnungen wie über ein Kriterium des rechtlichen Charakters von Handlungsweisen verfügt.

[Im Rückblick auf die entsprechenden Erörterungen in den vorangegangenen Aufsätzen, vgl. oben S. 65–70, 84–85 und 115–24, kann ich hier die Antwort auf die Frage voraussetzen, ob, und wenn ja, wie dies Kriterium funktioniert.]

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X. Die bekannteste und direkteste Antwort auf diese Frage hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit Hilfe seiner Auffassung vom Postulat des Daseins Gottes und vom Postulat der Unsterblichkeit der Seele gegeben. Dieser sogenannten Postulatenlehre hat Kant die Funktion einer Hilfstheorie zugedacht. Mit Hilfe dieser Theorie sollen Fragen beantwortet werden, die alleine mit Hilfe der Theorie des Kategorischen Imperativs der Moral und des entsprechenden Moralitätskriteriums nicht beantwortet werden können. Man kann jedoch zeigen, dass diese Postulatenlehre mehrere verschiedenartige, unkorrigierbare Schwachstellen enthält. Denn mitten durch diese Postulatenlehre geht gleichsam ein Riss, der sie inkohärent, wenn nicht sogar inkonsistent macht. Dieser Riss stempelt sie also zu einer Theorie, in der zwei voneinander unabhängige Theorien nur scheinbar zu einer einzigen, in sich zusammenhängenden Theorie verflochten sind. Man kann jedoch zeigen, dass diese Inkohärenz die angedeuteten unkorrigierbaren Schwachstellen nach sich zieht. Gewiss hat Kant keine Signale einer gezielten Revision, Korrektur oder Verbesserung dieser Hilfstheorie seiner Moralphilosophie hinterlassen. Doch ebenso wenig hat er in der Grundlegungs-Schrift oder in der Zweiten Kritik im mindesten signalisiert, dass er zur Zeit ihrer Ausarbeitung auch nur mit der Möglichkeit gerechnet hätte, dereinst eine Rechtsphilosophie auszuarbeiten. Doch es ist diese Rechtsphilosophie, in deren Rahmen Kant schließlich eine Konzeption des Göttlichen entwickelt, die alle Züge eines Resultats von Revisionen, Korrekturen und Verbesserungen der als unhaltbar durchschauten deistischen Postulatenlehre zeigt. Damit signalisiert Kant indessen, dass die Rechtsphilosophie das Medium ist, in dem Grenzen der Moralphilosophie sowohl sichtbar werden wie in fruchtbarer Weise überwunden werden können. Damit ändert sich aber auch die Antwort auf die Frage, welche Gestalt die göttlichen Angelegenheiten, also die Angelegenheiten der Religion annehmen, wenn das Kriterium des Frommen der menschlichen Handlungsweisen nicht ein Kriterium der Moralität, sondern ein Kriterium der Rechtlichkeit ist.

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XI. Man kann der angedeuteten Inkohärenz auf die Spur kommen, wenn man an eine beliebte Typisierung von Kants Ethik anknüpft. In diesem Sinne typisiert man Kants Ethik gerne als eine Gesinnungsethik. 14 Diese Typisierung ist zwar nicht ganz falsch, sie trifft aber nur die halbe Wahrheit. Man kann dies besonders leicht zeigen, wenn man sich an dem kategorischen Moral-Imperativ bzw. an dem Moralitätskriterium orientiert, die bei dieser Typisierung im Mittelpunkt stehen. Wenn Kants Ethik eine reine Gesinnungsethik wäre, dann müsste der entsprechende Imperativ lauten: Habe nur solche Willensmaximen, wie sie jederzeit zugleich als Prinzipien allgemeiner Gesetzgebungen gelten können! Doch der authentische Moral-Imperativ lautet: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann! Wäre Kants Ethik eine reine Gesinnungsethik, dann müsste der Moral-Imperativ seinen Adressaten ausschließlich bestimmte Willensmaximen – eben bestimmte Gesinnungen – zur Pflicht machen. Der authentische Imperativ macht ihnen indessen primär bestimmte Handlungsweisen zur Pflicht – Handle so, dass … – und er macht den moralischen Charakter der geforderten Handlungsweisen dann allerdings davon abhängig, dass diese Handlungsweisen von ihren Akteuren in einer Gesinnung praktiziert werden, deren subjektiver Gehalt mit dem objektiven, äußeren Charakter der konkreten, leibhaftigen Handlungsweise nahtlos und restlos übereinstimmt. Wenn man der angedeuteten Inkohärenz in Kants sogenannter Postulatenlehre auf die Spur kommen möchte, dann kommt es darauf an, den radikalen, kategorialen Unterschied zwischen der Handlungskomponente und der Gesinnungskomponente dieser Moralkonzeption im Auge zu behalten. Denn die Inkohärenz ergibt sich aus dem Umstand, dass diesen beiden Komponenten ganz verschiedenartige Funktionen zukommen, sobald Kant die Gründe entwickelt, mit deren Hilfe er das Postulat des Daseins Gottes und das Postulat der Unsterblichkeit der Seele plausibel zu machen sucht. Die sogenannte Postulatenlehre Kants ist eine Hilfstheorie, auf die sich Kant angewiesen sieht, weil der Moral-Imperativ bzw. das Moralitätskriterium anthropologisch gleichsam fast ganz blind sind. Vgl. z. B. die pointierte Typisierung durch H. Köhl: Kants Gesinnungsethik. Berlin/ New York 1990.

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Kant betont in der Erörterung des Postulats des Daseins Gottes, dass der Moral-Imperativ seine Adressaten zu bestimmten Handlungsweisen und zu bestimmten Gesinnungen verpflichtet, ohne auf die Natur Rücksicht zu nehmen, von der die faktische Existenz dieser Adressaten abhängt. 15 Dieser Imperativ nimmt also weder auf die Natur Rücksicht, inmitten von der die Menschen leben, noch auf die Natur der konkreten, leibhaftigen Menschen selbst – kurz: auf die Natur, von der sie selbst teilweise ein Teil sind. Die Postulatenlehre ergibt sich daher aus einem Versuch Kants, diesen Mangel auszugleichen. Zu diesem Zweck erinnert Kant an einige Elemente aus der conditio humana: 1.) Die Menschen können die Natur, inmitten von der sie leben, nicht aus eigener Kraft so gestalten, dass diese Natur ihren moralisch geforderten Handlungsweisen harmonisch angepasst ist; 16 2.) sie können ihre eigene leibhaftige und sinnliche Natur nicht aus eigener Kraft so gestalten, dass ihre leibhaftigen Bedürfnisse und ihre sinnlichen Neigungen, Triebe und Motive sowie ihre utilitären Interessen ihren moralisch geforderten Gesinnungen harmonisch angepasst sind; 3.) jeder Mensch strebt von Natur aus und ganz unabhängig von seinen moralischen Pflichten nach Glückseligkeit. Die beiden anthropologisch verankerten Unfähigkeiten und das ebenso anthropologisch verankerte Glückseligkeitsstreben machen nicht nur in Kants Augen, sondern auch der Sache nach eine gründliche Revision aller traditionellen Konzeptionen vom höchsten Gut nötig. Denn eine der conditio humana angemessene Ethik kann sich weder leisten, das Glückseligkeitsstreben der Menschen zu vernachlässigen, noch kann sie sich leisten, die moralischen Pflichten der Menschen zu vernachlässigen, noch kann sie sich leisten, die doppelte Unfähigkeit der Menschen zu vernachlässigen, die Natur außer ihnen und die Natur in ihnen zugunsten von optimaler Harmonie mit ihren moralischen Pflichten zu gestalten. Die fällige Revision der traditionellen Konzeptionen des höchsten Guts hat daher drei Angelpunkte: 1.) Das höchste Gut kann nicht in der Glückseligkeit allein bestehen, weil sonst die unabdingbare Erfüllung der moralischen Verpflichtungen vernachlässigt würde; 2.) das höchste Gut kann aber auch nicht Vgl. ebd., S. 224 f. Deswegen fragt der anonyme Autor des sog. ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus im Stil einer moralischen Utopie, wie eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein muss. Vgl. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Hrsg. v. F. Rosenzweig. In: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philolog.-hist. Klasse, 5. Abh. Heidelberg 1917, S. 6 ff.

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alleine in der Reinheit der moralischen Gesinnung und in der Ausschließlichkeit moralisch richtiger Handlungsweisen und Gesinnungen bestehen, weil die Menschen in ihrem Streben nach dem höchsten Gut und in ihrem gleichzeitigen Streben nach Glückseligkeit damit maßlos überfordert wären. Sollen die Menschen daher in ihrem Streben nach dem höchsten Gut in moralischer Hinsicht weder überfordert noch zu Organisatoren eines im günstigsten Fall amoralischen, utilitären Glückseligkeitsstreben degradiert werden, dann kann das höchste Gut nur in der Verbindung der Glückseligkeit mit der Tugend bestehen, also mit jener subjektiven Haltung einer individuellen Person, in der diese sich in erkennbarer Weise um eine Festigkeit der moralischen Reinheit ihrer Gesinnungen bemüht.

XII. Dennoch ist die Diskrepanz zwischen dem Grad der Tugendfähigkeit der konkreten, leibhaftigen Menschen und der moralisch gebotenen Reinheit ihrer Gesinnungen erfahrungsgemäß so unveränderlich groß, dass jeder Mensch mit Blick auf die Welt, in der er von seinem natürlichen Anfang bis zu seinem natürlichen Ende lebt, keinen zureichenden Grund für die Berechtigung der Hoffnung finden kann, jemals ausschließlich gänzlich reine moralische Gesinnungen hegen zu können – also Gesinnungen, die von keinerlei glückseligkeitsorientierten Neigungen, Trieben, Bedürfnissen oder sonstigen Motiven durchkreuzt würden. Wenn die moralischen Verpflichtungen den Menschen jedoch von der praktischen Vernunft angesonnen werden, dann muss ihnen diese praktische Vernunft auch zureichende Gründe für die Berechtigung der Hoffnung zur Verfügung stellen, dass es gleichwohl möglich ist, eine solche moralisch reine Gesinnung zu entwickeln. Den einzigen praktisch zureichenden Grund für die Berechtigung dieser Hoffnung sieht Kant in der Berechtigung des Glaubens an die Unsterblichkeit jenes Wesenskerns des Menschen, den er in der Sprache der Tradition »Seele« nennt. Nur wenn der Glaube berechtigt ist, dass dieser Wesenskern nicht sterblich ist, sondern, wie Kant sagt, »in einem ins Unendliche gehenden Progressus« 17 die moralische Reinheit seiner Gesinnungen entwickeln kann, hat jeder Mensch einen praktisch zureichenden Grund für die Berechtigung der Hoff17

Ebd., S. 220.

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nung, dass nach seinem leibhaftigen Tod wenigstens seine Seele der moralischen Reinheit der Gesinnungen, zu der jeder Mensch verpflichtet zu sein scheint, unaufhörlich näher kommen kann. Kurz: Die moralischen Verpflichtungen des Menschen mit ihren obligatorischen Gesinnungen sind in dieser Konzeption des höchsten Guts nur dann in vernünftiger praktischer Form mit der conditio humana verträglich, wenn jeder Mensch den Glauben hegen darf, dass seine Seele unsterblich ist. Die Unsterblichkeit seiner Seele ist in diesem Sinne ein in praktischer Hinsicht vernünftiges Postulat jedes Menschen. Kant macht allerdings sogleich darauf aufmerksam, dass die praktische Vernünftigkeit dieses Postulats noch nicht ausreicht, um plausibel zu machen, dass eine Pflichten-Ethik, eine deontologische Ethik des Kantischen Typs zu einer der conditio humana angemessenen Ethik wird. Dieses Ungenügen liegt ausschließlich daran, dass bei einem unendlichen Progressus der postmortalen Existenz der Seele eines Menschen nach dessen leibhaftigem Ende eine Stelle gleichsam unbesetzt bleiben würde, die im irdischen Leben jeder einzelne Mensch selbst mit Hilfe des Kriteriums der Moralität einnimmt – die Stelle des moralischen Richters. In der postmortalen Existenzphase der Seele würde also die Stelle dessen unbesetzt bleiben, der erkennen und gerecht beurteilen kann, was es mit dem moralischen Format ihrer Gesinnungen und was es mit dem Fortschritt der moralischen Reinheit ihrer Gesinnungen auf sich hat. Diese kognitive Aufgabe ist sogar noch komplizierter. Denn eine der conditio humana angemessene Ethik muss ebenso im Blick auf das Glückseligkeitsstreben der Menschen, wenn es nicht von Anfang bis Ende unter einem moralischen Defizit leiden soll, nach dem Kriterium für den Anteil suchen, den auch dies Glücksstreben in einer praktisch vernünftigen Form am höchsten Gut gerade dann haben können muss, wenn die Seele unsterblich ist. Für dies Kriterium schlägt Kant zwei Komponenten vor. Die eine Komponente besteht in einem relativ selbstständigen Proportionalitäts- bzw. Angemessenheitskriterium. Es besagt, dass jeder Mensch in dem Maß – und nur in dem Maß – eines Anteils an der Glückseligkeit würdig ist, in dem es ihm mit Hilfe seiner Seele gelungen ist, seine moralischen Pflichten mit so reiner Gesinnung zu erfüllen, wie es ihm individuell möglich ist – also tugendhaft zu sein. Die zweite Komponente dieses Kriteriums ist in unserem Problemzusammenhang ausschlaggebend. Denn es muss eine Instanz geben, die nicht 216 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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nur das leibhaftige Leben jedes einzelnen Menschen, sondern auch den postmortalen unendlichen Progressus jeder individuellen Seele im Licht eben dieses Proportionalitäts- bzw. Angemessenheitskriteriums so überwachen kann, dass sie erkennen und in gerechter Weise beurteilen kann, welches Anteils an der Glückseligkeit dieser Mensch angesichts des Grades seiner Tugend würdig ist. Diese Instanz tauft Kant auf den traditionellen Namen Gottes und argumentiert analog wie im Fall des Unsterblichkeitspostulats: Die moralischen Verpflichtungen des Menschen mit ihren obligatorischen Gesinnungen sind mit dem Anteil seines Glückseligkeitsstrebens am höchsten Gut nur dann in vernünftiger Weise verträglich, wenn er berechtigterweise glauben darf, dass es eine göttliche Instanz gibt, die richtig erkennen und gerecht beurteilen kann, welchen Maßes an Glückseligkeit jeder einzelne Mensch durch seinen irdischen Lebenswandel und durch die postmortale Existenz seiner Seele würdig ist. Zur richtigen Erkenntnis dieses Maßes gehört die höchste Intelligenz; zur gerechten Beurteilung dieses Anteils gehört die höchste Gerechtigkeit; höchste Intelligenz und höchste Gerechtigkeit bilden gemeinsam die Weisheit dieser Instanz, also Gottes. 18

XIII. Damit ist das Material gesammelt, das man braucht, um die angedeuteten Schwachstellen klären zu können, die sich aus der Inkohärenz der Postulatenlehre ergeben, aber deren Inkohärenz auch erst sichtbar machen. Die erste Schwachstelle zeigt sich in dem Umstand, dass Kant das höchste Gut nur um den Preis eines systematischen Widerspruchs so konzipieren kann, wie er es im Rahmen der Postulatenlehre tut. Denn er instrumentalisiert die von ihm geradezu anti-utilitaristisch konzipierte Moral in diesem Rahmen in utilitaristischer Form: Sie wird in den Dienst an dem Zweck gestellt, jedem Menschen das Maß an Glückseligkeit einzutragen, dessen er sich mit Hilfe der moralisch integren Gesinnungen als würdig erweist, die prämortal seine moralisch richtigen Handlungsweisen begleiten und die postmortal von seiner Seele entwickelt werden. Gewiss wird dadurch weder der nicht-utilitaristische Moral-Imperativ noch das in ihm enthaltene nicht-utilitaristische Kriterium zur Beurteilung des mora18

Vgl. ebd., S. 236.

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lischen Formats von Handlungsweisen und von Gesinnungen in ein utilitaristisches Gegenstück verwandelt. Es wird indessen das moralische Format der Handlungsweisen und vor allem der Gesinnungen des Ganzen eines jeden individuellen menschlichen Lebens sogar über den Tod hinaus in den Dienst der Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens gestellt. Der Name des höchsten Guts kann nicht gut verschleiern, dass auf diese Weise eine nicht-utilitäre Moral in utilitärer Form zugunsten der Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens instrumentalisiert wird. Die zweite systematische Schwachstellte, die Kant seiner Praktischen Philosophie durch die innere Gestaltung der Postulatenlehre einhandelt, zeigt sich in der besonderen Form eines blinden Flecks. Dieser blinde Fleck ist der Preis für eine Inkonsequenz Kants. Bei dieser Inkonsequenz handelt es sich zunächst um ein einzelnes, ganz bestimmtes Element des Gottes-Postulats. Dennoch wirft es einen weiteren Schatten auf die ganze Postulatenlehre. Den neuralgischen Punkt bildet hier das Kriterium der Proportionalität, mit dessen Hilfe der Grad erkannt und beurteilt werden können soll, in dem ein einzelner Mensch auf Grund seines Tugendgrades der Glückseligkeit würdig ist. Denn bei genauerem Hinsehen bilden sowohl dies Kriterium wie die Formen des Gebrauchs, die der postulierte Gott von ihm in irgendeinem Einzelfall machen würde, ein absolutes Geheimnis. Ein solches Kriterium wird ja gar nicht formuliert, sondern – und zwar genau wie die Existenz des Gottes – ausschließlich postuliert. Sowohl das Kriterium selbst wie die Formen seines Gebrauchs bleiben auch im Licht der Postulatenlehre in der absolut geheimnisvollen Obhut des postulierten Gottes. Sie bleiben in der postulierten Intelligenz und in der postulierten Gerechtigkeit des postulierten Gottes verborgen. Kein Mensch vermag daher den Grad seiner Glückseligkeitswürdigkeit auch nur im mindestens zu erkennen und gerecht zu beurteilen. Die göttlichen Angelegenheiten, von denen der Platonische Sokrates im Euthyphron spricht, bleiben in diesem Rahmen ein absolutes Geheimnis des postulierten Gottes. Das ist zunächst einmal deswegen bemerkenswert, weil Kant mit Hilfe der Postulatenlehre eigentlich dafür zu sorgen sucht, dass die von ihm entwickelte Pflichten-Ethik gerade auch der conditio humana besser Rechnung tragen kann als ohne ihre Hilfe. Dennoch werden im Rahmen dieser Postulatenlehre gerade die kognitiven Fähigkeiten der Menschen auf unüberwindbare Grenzen hin durchleuchtet, und zwar gerade ihre kognitiven Fähigkeiten zur praktischen Einsicht – 218 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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also zur moralischen und zur rechtlichen Einsicht. Doch Kants Arbeit an der Klärung der Kriterien der Moralität und der Rechtlichkeit – in der Sprache von Platons Euthyphron also an den Kriterien des Frommen – soll selbstverständlich gerade zur Aufklärung über die kognitiven Fähigkeiten der Menschen zur praktischen Einsicht beitragen. Angesichts dieses Befundes ergeben sich drei skeptische Fragen, die man an Kants Ethik und an seine Postulatenlehre richten kann: 1.) Ist der Preis zu hoch, den man entrichten muss, wenn man in Kauf nimmt, dass man die Menschen für blind halten muss, wenn es um die richtige Erkenntnis und die gerechte Beurteilung des Grades ihres Anteils am höchsten Gut geht? 2.) Ist es angesichts des sachlichen Gehalts von Kants ganzer Praktischer Philosophie überhaupt zwingend, diesen Preis in Kauf zu nehmen? 3.) Enthält Kants Praktische Philosophie vielleicht doch wesentliche Elemente, die erlauben, diesen Preis zu vermeiden, und die seiner Ethik dennoch eine Möglichkeit eröffnen, der conditio humana gerecht zu werden, insbesondere sowohl den kognitiven Fähigkeiten des Menschen zur praktischen Einsicht und seinem Streben nach dem höchsten Gut? Diese Fragen sind weder müßig noch zielen sie an der Richtung vorbei, in der Kant selbst innerhalb der Praktischen Philosophie an religionsphilosophischen Fragen gearbeitet hat. Kant hat sogar selbst noch innerhalb der Zweiten Kritik einen systematischen Wink gegeben, der in dieselbe Richtung weist wie diese drei skeptischen Fragen. Denn im letzten Abschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft, in deren buchtechnischem Mittelpunkt ja die Postulatenlehre entwickelt wird, erkundigt sich Kant ausgerechnet nach »der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen«. 19 Es ist nicht nur in Kants Kontext, sondern auch der Sache nach klar, dass dem Menschen das Vermögen zur Erkenntnis des Grades, mit dem er der Glückseligkeit würdig ist, versagt ist. Umso aufschlussreicher ist es zu sehen, dass und wie Kant es der »unerforschliche[n] Weisheit, durch die wir existieren«, 20 zuzuschreiben versucht, dass uns dieses praktische Erkenntnisvermögen versagt ist: »Also möchte es auch hier wohl damit

Ebd., S. 236 f. Zu der leitenden Orientierungsfunktion, die dem Thema der Bestimmung des Menschen im Ganzen von Kants Philosophie zukommt, vgl. neuerdings die weit ausgreifenden Erörterungen von R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007. 20 Ebd., S. 266. 19

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seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, dass die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ«. 21 Kants persönliche Haltung, wie sie sich in dieser optionalen Formulierung (»möchte … wohl«) ausspricht, mag noch so respektabel sein. Gleichwohl kann sie nicht verschleiern, dass die Reichweite des Vermögens des Menschen zur praktischen Erkenntnis des Grades seiner Tugendhaftigkeit hinter der Reichweite seines Bedürfnisses nach dieser praktischen Erkenntnis – also auch nach der Erkenntnis des Grades seiner Glückseligkeitswürdigkeit – zurückbleibt. Vor allem verrät Kants Formulierung mit ihrem optionalen Modus in unüberhörbarer Weise ein Bewusstsein mangelhafter Gründe für die Berechtigung der Überzeugung, dass es zu einer »der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen« gehört, wenn ihm die kognitiven Fähigkeiten zur praktischen Erkenntnis des jeweiligen Grades seiner Tugendhaftigkeit versagt sind. Doch das Bewusstsein dieses Rationalitätsmangels führt trotz des von Kant bekundeten persönlichen, deistisch gestimmten Respekts für anthropologische Grenzen der Fähigkeit zu praktischer Einsicht nicht zwangsläufig zu einem resignativen Verzicht auf weitere Untersuchungen der Frage nach der »der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen«. Dies Bewusstsein eröffnet vielmehr umgekehrt auch die Option, einer solchen Proportion zumindest probeweise auch noch unter anderen Aspekten als denen nachzuforschen, von denen die Postulatenlehre geleitet ist. Es ist nun einmal die Frage, ob das Bedürfnis nach praktischer Erkenntnis nicht von Anfang an unnötigerweise überspannt wird, indem es auf den Grad zielt, mit dem ein Mensch der Glückseligkeit würdig ist. Damit wird zwar offensichtlich auch noch einmal die ganze Konzeption des höchsten Gutes in Frage gestellt. Doch die produktive Kernfrage, für die Kants Bewusstsein eines Rationalitätsmangels der Postulatenlehre eine Option eröffnet, lautet nun einmal, ob eine Konzeption des höchsten Gutes möglich ist, die die Fähigkeiten des Menschen zur praktischen Einsicht durch das Bedürfnis nach Teilhabe an dem so konzipierten höchsten Gut nicht überspannt. Denn Kant hat die von ihm gemachte Vorausset21

Ebd.

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zung niemals revidiert, dass »[…] die menschliche Natur zum höchsten Gut zu streben bestimmt ist«, 22 doch ebenso wenig die von ihm daraus gewonnene Konsequenz, »[…] so muss auch das Maß ihrer Erkenntnisvermögen, vornehmlich ihr Verhältnis untereinander, als zu diesem Zweck schicklich angenommen werden«. 23 Diese kognitive Schicklichkeit der menschlichen Natur für das Streben nach dem höchsten Gut ist die kognitive »[…] Vollkommenheit in praktischer Bedeutung« 24 und insofern, »[…] als Beschaffenheit des Menschen, folglich innere, […] nichts anderes als Talent und, was dieses stärkt und ergänzt, Geschicklichkeit«. 25 Die Frage, ob eine Konzeption des höchsten Guts möglich ist, die das Talent des Menschen zur praktischen Einsicht durch das Bedürfnis nach Teilhabe an dem so konzipierten höchsten Gut nicht überspannt, zielt daher auf eine Fortsetzung der Dialektik der praktischen Vernunft 26 mit anderen Mitteln.

XIV. Den günstigsten Ausgangspunkt für einen Leitfaden zu Kants Antwort auf diese Frage bildet die angedeutete Inkohärenz, wenn nicht sogar Inkonsistenz der Postulatenlehre. Diese Inkohärenz schleicht sich in die Postulatenlehre dadurch gleichsam ein, dass Kant der Gesinnungskomponente der Moral für die Erlangung des höchsten Guts in diesem Rahmen ein Gewicht einräumt, das geradezu inkommensurabel mit dem Gewicht ist, das er ihr außerhalb der Postulatenlehre beimisst. Denn außerhalb der Postulatenlehre sind es ausschließlich die konkreten, leibhaftigen Handlungen, die konkreten, leibhaftigen Verhaltensweisen der Menschen, wodurch sie zur Erlangung des höchsten Gutes beitragen können. Im Blick auf die Frage, »wie ist das höchste Gut praktisch möglich?«, 27 charakterisiert Kant selbst das höchste Gut als »ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist«, 28 und betont sogar noch einmal ausdrücklich, dass »die

22 23 24 25 26 27 28

Ak. V, S. 146. Ebd., S. 146. Ebd., S. 40, Kants Hervorhebung. Ebd., Kants Hervorhebungen. Ebd., S. 107 ff. Ebd., S. 203, Hervorhebungen R. E. Ebd., S. 204.

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Handlungen, die darauf abzielen, das höchste Gut wirklich zu machen, zur Sinnenwelt gehören«. 29 Damit hat Kant aber unabhängig von der Postulatenlehre klargestellt, dass die konkreten, leibhaftigen Handlungsweisen der Menschen, sofern sie dem Kriterium der Moralität genügen, die einzigen Bedingungen der praktischen Verwirklichung des höchsten Guts bilden. Doch ohne die geringste Kohärenz – und fast im Widerspruch – mit dieser unmissverständlichen Auffassung misst Kant in der Postulatenlehre den praktischen Gesinnungen, sofern diese dem Kriterium der Moralität genügen, den Rang von notwendigen Bedingungen zur Erlangung des höchsten Guts bei. Die einzige Rechtfertigung für den Versuch, der mit der Postulatenlehre in diese Inkohärenz mündet, liefert Kant mit dem Gedanken, dass seine Pflichtenethik auf eine Hilfstheorie angewiesen sei, durch die sie in den eben erörterten Punkten mit der conditio humana in eine möglichst große Konformität gebracht werden kann. Die nicht-skeptische, konstruktive Frage an Kants Praktische Philosophie lautet daher, ob, und wenn ja, wie eine solche Konformität ohne die Hilfe der inkohärenten, wenn nicht sogar inkonsistenten Postulatenlehre sichtbar gemacht werden kann, also auch ohne dass man sich die erörterten Schwachstellen einhandelt, positiv gewendet also so, dass eine kognitive Fähigkeit des Menschen zur praktischen Einsicht zum Zuge kommt, nämlich richtig zu erkennen und gerecht zu beurteilen, in welchem Grad er jeweils Anteil am höchsten Gut haben kann, ohne eine solche praktische Erkenntnis und Beurteilung dem undurchdringlichen Geheimnis der postulierten Weisheit eines postulierten Gottes vorzubehalten.

XV. Kant hat bei genauerem Hinsehen alle Antworten auf alle gestellten Fragen selbst gegeben. Er hat lediglich nicht ausdrücklich gesagt, dass diese Antworten aus Revisionen, Korrekturen bzw. Verbesserungen von systematischen Mängeln hervorgegangen seien, wie er sie seiner Praktischen Philosophie durch die Postulatenlehre eingehandelt hat. Man kann diese Mängel und ihre Korrekturen zunächst gleichsam nach dem Schema der einfachen Buchführung registrieren. Denn alle Ergebnisse dieser Revisionen, Korrekturen und Verbesserungen fin29

Ebd., S. 215, Hervorhebung R. E.

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den sich in einer kleinen Abhandlung, die Kant in seine allerletzte Publikation aus dem Jahr 1798 integriert hat, und zwar unter der Frage, »Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«. 30 Die Bilanz wird bereits mit dieser Frage umrissen. Denn dem postulierten unendlichen postmortalen Fortschritt der individuellen Seele des individuellen Menschen steht hier der beständige Fortschritt des ganzen menschlichen Geschlechts zum Besseren während seiner irdischen Geschichte gegenüber. Und dem, was Kant im Rückblick selbst als »ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung« 31 charakterisiert, steht das gegenüber, was wiederum Kant selbst als »Vermehrung der Produkte […] der Legalität in pflichtgemäßen Handlungen« 32 charakterisiert. Mit diesem Posten in der Bilanz ist aber viel mehr gewonnen als nur eine Alternative zum Fortschritt in der moralischen Reinheit der Gesinnungen. Denn bei dieser Alternative handelt es sich bei genauem Hinsehen um ein Kriterium, und zwar um ein Maßkriterium des praktischen Fortschritts: Das Menschengeschlecht macht in dem Maß praktische Fortschritte, in dem die Menge der Produkte der Legalität unter den Menschen wächst. Die richtige Erkenntnis und die gerechte Beurteilung des Mengenwachstums der legalen Handlungsweisen der Menschen ist nun einmal eine Angelegenheit von empirischen rechtlichen und rechtspolitischen Beobachtungen und Untersuchungen, wie sie prinzipiell in endlich vielen Schritten abgeschlossen werden können. Dagegen ist die Aufgabe, den Grad der moralischen Reinheit der Gesinnung auch nur eines einzigen Menschen richtig zu erkennen und gerecht zu beurteilen, eine Aufgabe, der – wie Kant in der Postulatenlehre ja gerade argumentiert – nur die postulierte Weisheit des postulierten Gottes in einer höchst geheimnisvollen Weise gewachsen wäre. Damit ist Kant der erste Schritt gelungen, der zu einer systematischen Verbesserung seiner Theorie des höchsten Gutes führt: Er hat gezeigt, wie die Menschen das Maß des Fortschritts, den ihr Geschlecht im Ganzen in der Geschichte jeweils macht, in einer methodisch kontrollierbaren Weise erkennen und gerecht beurteilen können. 30 31 32

Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Ak. VII, S. 79. Ak. VII, S. 91. Ebd.

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Eine zweite Modifikation, die Kant mit diesem Schritt verbindet, betrifft die Konzeption des höchsten Gutes, dem das Menschengeschlecht in dieser Form von Fortschritt näher kommt. Denn mit dieser Form des Fortschritts sind die Menschen auf einem Weg, den Kant als den Weg »zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden« 33 charakterisiert. Bei diesem Frieden handelt es sich um den Rechtsfrieden, und zwar um den rechtlichen Frieden zwischen allen individuellen Menschen und Bürgern ebenso wie zwischen allen individuellen Staaten oder politischen Gemeinwesen. Dies Gut hat deswegen einen politischen Charakter, weil es ohne die Rechtspolitik, also ohne die interne Gesetzgebung und ohne die exekutive Amtsausübung in der republikanischen Regierungsform in allen Staaten oder Gemeinwesen auf der Erde nicht erreicht werden kann. 34 In einer Vorarbeit zu seiner Abhandlung über diese Form des Fortschritts fasst Kant sogar einen unmittelbaren Bedingungszusammenhang zwischen der Rechtlichkeit der Handlungs- und Verhaltensweisen und dem Glück des individuellen Menschen ins Auge, nämlich »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben« 35 zu sein.

XVI. Wenn man den Beitrag richtig einschätzen möchte, den dies Maßkriterium des Fortschritts des Menschengeschlechts zur Aufklärung über die Religion leistet, dann ist es wichtig, dass man zunächst einem naheliegenden rechtspositivistischen Missverständnis vorbeugt. Denn wenn Kant hier den Gedanken der Vermehrung der Produkte der Legalität in den Mittelpunkt stellt, dann legt ein inzwischen traditionell gewordener Sprachgebrauch das Missverständnis nahe, als wenn unter dieser Legalität diejenigen Handlungsweisen der Bürger zu verstehen seien, die mit den jeweils in einem Staat geltenden positiven Gesetzen konform sind. Doch nichts wäre im Sinne von Kants Theorie abwegiger als diese Interpretation. In Kants Theorie ist die Legalität vielmehr nichts anderes als die Konformität sowohl

33 34 35

Ak. VI, S. 335. Vgl. ebd., S. 354 f. Kant: Opus postumum. Zweite Hälfte, in: Ak. XXII, S. 623.

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mit dem Kriterium der Rechtlichkeit wie mit dem Kriterium der Moralität – aber gleichsam abzüglich der Gesinnungen der handelnden Bürger. Die Produkte der Legalität, von denen Kants Maßkriterium des Fortschritts spricht, empfangen daher ihre zentrale produktive Orientierung durch das Kriterium der Rechtlichkeit. Mit dem Moralitätskriterium müssen die Handlungsweisen, die Produkte der Legalität sind, indessen in einer indirekten Form konform sein. Diese indirekte Konformität wird sowohl durch den kategorischen Imperativ der Rechtlichkeit 36 wie durch das nicht-imperativische Kriterium der Rechtlichkeit 37 direkt thematisiert. Denn beide machen die Rechtlichkeit einer Handlungsweise davon abhängig, dass sie bzw. ihre Maxime bzw. die Freiheit der Willkür eines jeden »mit der Freiheit von jedermann zusammen bestehen« kann. Diese spezielle notwendige Bedingung der Verträglichkeit mit der Freiheit von jedermann bildet deswegen den Knotenpunkt, in dem die Rechtlichkeit mit dem Moralitätskriterium – sei es in seiner imperativischen oder in seiner nichtimperativischen Form – verflochten ist, weil das Moralitätskriterium eine doppelte kognitive Funktion hat: Es hat eine kriterielle Funktion nicht nur im Blick auf den moralischen Charakter von Handlungsweisen und Gesinnungen, es hat in der Form einer »ratio cognoscendi der Freiheit«, 38 ebenso die kognitive Funktion eines Kriteriums, mit dessen Hilfe jeder die Tatsache erkennen kann, dass er frei ist, weil er vermöge seiner praktischen Vernunft sowohl eine Quelle wie ein Adressat des kategorischen Imperativs der Moralität ist. Die Produkte der Legalität müssen daher mit der Freiheit ihrer Urheber in dem und nur in dem Sinne verträglich sein, in dem ihnen diese Freiheit durch das Kriterium der Moralität erschlossen wird. Kant hat gelegentlich sogar selbst eine Verlegenheit ins Auge gefasst, in die man geraten kann, wenn man eine praktische Grundsituation des Menschen ins Auge fasst, in der es mit Blick auf seine Bestimmung ausschließlich auf seine konkreten, leibhaftigen Handlungsweisen, aber nicht auf seine Gesinnung ankommt: »Aber ich weis nicht, warum ich blos zum handeln da sein soll«. 39 Er hat daher eine teilweise kognitive und teilweise emotional-praktische Bedin-

36 37 38 39

Vgl. Ak. VI, S. 231. Vgl. Ak. VI, S. 230. Ak. V, S. 4. Kant: Handschriftlicher Nachlaß. Metaphysik, in: Ak. XVIII, R 6820, S. 548.

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gung umrissen, von deren Erfüllung der Mensch einen Ausweg aus dieser Verlegenheit erwarten darf: Es »muss etwas seyn, was ihm […] zur Leitung dienen und Muth geben kann«. 40 Welche Tragweite Kants Maßkriterium des Fortschritts mit sich bringt, kann man daher erst dann richtig abschätzen, wenn man beachtet, dass und wie Kant dies Maßkriterium mit jenem anderen Kriterium verflochten hat, das nicht nur in kognitiver Hinsicht »zur Leitung dienen« kann, sondern dessen richtiger Gebrauch unter entsprechenden Umständen auch in emotional-praktischer Hinsicht »Mut geben« kann. Denn bevor man das Maß eines solchen Fortschritts erkennen und beurteilen kann, muss man erkennen und beurteilen können, ob überhaupt ein Fortschritt dieses legalistischen Typs eingetreten ist. Mit seinem zweiten Kriterium tritt Kant sogar noch einen Schritt hinter die geschichtliche Situation zurück, in der ein allererster Fortschritt dieses Typs verzeichnet werden könnte. Denn dies Kriterium ist auf die geschichtliche Situation abgestimmt, in der zum ersten Mal ein zuverlässiges prognostisches Indiz, ein von ihm sogenanntes »Geschichtszeichen« 41 dafür auftaucht, dass das menschliche Geschlecht den Weg dieses Typs von Fortschritt gehen wird, also dem höchsten politischen Gut – wie minimal auch immer – näher kommen wird. Von diesem geschichtsdiagnostischen Kriterium muss daher schon aus formalen Gründen zweierlei verlangt werden: 1.) Es muss ein empirisch ermittelbares, geschichtliches Phänomen umreißen, 42 dem die Rolle eines Indikators für den zukünftigen Beginn des Mengenwachstums der Produkte der Legalität zufällt; und 2.) muss der umrissene Indikator darüber hinaus in so spezifizierender Form auf die praktischen und die kognitiven Fähigkeiten des Menschengeschlechts verweisen, dass diese durch den indizierten Fortschritt und dessen Ziel nicht nur nicht prinzipiell überfordert werden, sondern so orientiert werden, dass ihnen auch der Mut vermittelt wird, zugunsten des Fortschritts in Richtung auf dieses Ziel praktisch zu werden. Diesen Indikator bilden im Licht von Kants geschichtsdiagnostischem Kriterium der »Enthusiasmus« 43 und die »allgemeine […] und uneigennützige […] Teilnehmung«, 44 mit der »das äußere, zuschau-

40 41 42 43 44

Ak. XVIII, R 6310, S. 606. Ak. VII, S. 84 f. Vgl. ebd. S. 91 f. Ebd., S. 85 f. Ebd., S. 87.

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ende Publicum […] ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung sympathisierte«, 45 während die »Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, […] doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiel verwickelt sind), eine Teilnehmung dem Wunsche nach [findet], […] deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann«. 46 Es ist daher »bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät […, …] aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im Ganzen und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben wenigstens in der Anlage beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht«. 47 Diese moralische Anlage hat für jedes Volk zwei Dimensionen: »erstens die des Rechts, […] sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt; zweitens die des Zwecks (der zugleich Pflicht ist), dass diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch gut sei, […] welche keine andere als die republikanische Verfassung […] sein kann«. 48 Denn ein »mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll […] keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist«. 49

XVII. Nun sind Kants Weg zu dieser rechtspolitischen Theorie des geschichtlichen Fortschritts und die Kernargumente dieser Theorie schon seit längerem vorzüglich analysiert worden. 50 Doch das Recht des Volkes auf eine republikanische Verfassung und auf seine damit

Ebd. Ebd., S. 85. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 85 f. 49 Ebd., S. 86. 50 Vgl. K. Reich: Einleitung des Herausgebers. In: I. Kant: Der Streit der Fakultäten. Auf Grund des Textes der Berliner Akademie-Ausgabe mit einer Einleitung und Registern neu hrsg. v. K. Reich. Hamburg 1959, bes. S. XV–XXIV. 45 46

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verbundene parlamentarische Mitregierung 51 sowie auf seine damit ebenfalls verbundene Pflicht, mit Mitteln der öffentlichen Meinung auf eine entsprechende republikanische und parlamentarische Reform »von oben herab« 52 hinzuwirken, bilden für Kant weit darüber hinaus den Ausgangspunkt für eine Revision seiner Konzeption dessen, was bei Platon die »göttlichen Angelegenheiten« (τὰ θεῖα) sind. Diese Revision kündigt sich vordergründig in dem Umstand an, dass er die traditionelle Sprache der Religion und des religiösen Kultus – und sogar der christlichen Soteriologie – verwendet, wenn er das Gewicht charakterisiert, das der republikanischen Verfassung mit Blick auf das höchste politische Gut zufällt: »So wie man sonst der sichtbaren Kirche eine unsichtbare (als ihr Urbild) zum Grunde legte mit der Überschrift: außer der Kirche ist kein Heil: so sagt man jetzt mit Recht vom politischen Zustande der Staaten und Völker: außer der Republik ist kein Heil«. 53 Von dem »Recht der Menschen« 54 wiederum, das den Anspruch der Mitglieder eines Volkes auf eine republikanische Verfassung rechtfertigt, sagt Kant in diesem Sinne, »dieses ist ein Heiligthum, […] welches keine Regierung, so wohlthätig sie auch immer sein mag, antasten darf«. 55 Unmittelbar und ausführlich wird die Gottes-Frage von Kant in den nicht für eine Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen erörtert, die er unmittelbar in den Jahren nach der Publikation seiner definitiven Fortschrittstheorie niedergeschrieben hat und die in den zwei Konvoluten des Opus postumum enthalten sind. 56 Die eine die-

Vgl. Ak. VI, S. 322. Ak. VII, S. 92. 53 Kant: Reflexionen zur Moral-, Rechts- und Religionsphilosophie, in: Ak. XIX, Refl. 8076. S. 603. 54 Ak. VII, S. 86. 55 Ebd. Wenn man sich der Skizze der Säkularisierung des Staates anschließt, die E.W. Bökkenförde: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. München 2007, entwirft, dann markieren diese Erörterungen Kants, wenn schon nicht den politikgeschichtlichen, so doch zumindest den Reflexionszenit dieser Entwicklung – durch die Sakralisierung sowohl des Rechts des Menschen und des Bürgers wie der republikanischen Staatsverfassung und der repräsentativ-demokratischen Legitimität der Regierung in einem solchen Staatswesen. 56 Vgl. jedoch auch schon die rechtstheologische Formulierung: »[…] das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dies[r] Augapfel Gottes […]«. I. Kant: Zum ewigen Frieden, in: Ak. VIII, S. 352, Kants Hervorhebung. 51 52

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ser Erörterungen knüpft unmittelbar an Beobachtungen revolutionärer politischer Situationen an: »Es ist merkwürdig, dass wen es im Volcke mehr aber noch in einem Staate gesetz und ordnungsgemäß zugeht man nicht auf das Daseyn einer Gottheit im Weltlauf Bezug nimmt, […] dagegen wen von der herrschenden Menge alles rechtswiedrig gewaltthatig und mit Greuelthaten über einander geworfen wird man die Gottheit aufruft (postulirt) […] Also ist es die moralisch/practische Vernunft in Rechtsverhältnissen […] welche das Daseyn Gottes postuliert«. 57

In diesem Kontext beginnt Kant offensichtlich, an einer radikalen Revision der Lehre vom Postulat des Daseins Gottes zu arbeiten. Diese Radikalisierung hat sich in Reflexionen niedergeschlagen, die eine Folge von konsequenten Schritten markieren. Zunächst fragt er, »ob Religion ohne Voraussetzung des Daseins Gottes möglich ist«. 58 Diese Frage hat indessen von Anfang an eine ganz andere thematische Zielrichtung als sie durch die Postulatenlehre der Zweiten Kritik vorgegeben ist. Denn sie thematisiert weder positiv noch negativ das postulierte Dasein einer postulierten weisen Instanz. Sie orientiert sich vielmehr an der imperativischen Form der kategorischen Imperative der Moralität und der Rechtlichkeit, indem sie auf den ontologischen Status des Subjekts solcher Imperative zielt: »Gott ist das Subjekt des categorischen Imperativs der Pflichten«. 59 Im Licht dieser Konzeption gelangt Kant zunächst zur Verwerfung einer externalistischen Substanz-Ontotheologie: 60 »Dieses gebietende Wesen ist nicht außer dem Mensch als vom Menschen unterschiedene Substanz«. 61 Er kommt sodann zu dem positiven quasi-heuristischen Zwischenergebnis: »Gott kann nur in uns gesucht werden«, 62 und formuliert das erste definitive Ergebnis dieser Suche als einen Fund, wie er aus einer immanentistischen Substanz-Ontotheologie der Seele hervorgeht: »Es ist ein Gott in der Seele des Menschen«. 63 Doch

Ak. XXII, S. 109 f., Hervorhebungen R. E. Ebd., S. 130. 59 Kant: Opus postumum. Erste Hälfte, in: Ak. XXI, S. 22. 60 Zu Kants terminologischer Rede von der Ontotheologie vgl. Kant: Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, in: Ak. XXVIII/2.2., S. 155 ff., 1249 ff. 61 Ak. XXI, S. 21. 62 Ebd., S. 150. 63 Ak. XXII, S. 120. 57 58

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auch diese Konzeption ist wegen irreführender Implikationen der Rede von einer In-sein-Relation und dem Gottes-Fundament einer solchen Relation immer noch mit unsachgemäßen substanz-ontotheologischen Implikationen belastet. Kant neutralisiert solche Implikationen endgültig durch die Einsicht: »Gott ist nicht eine Substanz«. 64 Von hier aus ist es daher nur noch ein kleiner Schritt zu der radikalen formalen und anti-ontotheologischen Einsicht: »[Religion] zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat ›Es ist ein Gott gefordert‹«. 65 Diese Einsicht schlägt sich in einem unscheinbaren, vordergründig scheinbar bloß grammatischen Umstand nieder: Man kann den Inhalt der entsprechenden Religion in sachgemäßer Form nicht mehr in gegenständlicher, in verdinglichender oder in substantialer Form mit Hilfe des Namens »Gott« thematisieren; man kann ihn nur noch in attributiver Form mit Hilfe des Adjektivs »göttlich« thematisieren. Kant hat den Inhalt dieser Religion daher in diesem Sinne mit drei Formeln umschrieben, die einander der Sache nach ergänzen: 1.) »Der Begriff der Religion ist […] dem Menschen bloß ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote«; 66 2.) »Religion ist das Erkenntnis des Menschen von seinen Pflichten als göttlichen Geboten«; 67 und 3.) »Das Prinzip der Befolgung aller Pflichten als Göttlicher Gebote ist Religion«. 68 Beurteilung, Erkenntnis und Befolgung aller durch Kategorische Imperative aufgegebenen Pflichten als Inhalte göttlicher Gebote machen demnach den sowohl kognitiven wie praktischen Charakter der dem Menschen möglichen Religion aus. Dabei verweisen die Beurteilung und die Erkenntnis dieser Pflichten als göttlicher Gebote offenbar speziell auf die kognitive, ihre Befolgung als göttlicher Gebote ebenso offenkundig auf die praktische Dimension. Doch nicht weniger offenkundig ist, dass man solche Pflichten dann und nur dann als Ebd., S. 108. Ak. XXI, S. 81. 66 Ak. VI, S. 440. 67 Ak. XIX, R 8104, S. 646. 68 Ak. XXII, S. 111, Hervorhebungen R. E. Die attributionslogische Konzeption des Göttlichen im Kontrast zur substanz-ontotheologischen Konzeption Gottes wird in der Kant-Forschung selten thematisiert, vgl. hierzu jedoch C. Bickmann: Der Streit um das Göttliche im Begriff. Christliche und islamische Wege im Ausgang von Platon und Aristoteles. In: R. Yousefi u. a. (Hrsg.): Wege der Philosophie. Nordhausen 2006, S. 197–223. 64 65

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göttliche Gebote befolgen kann, wenn man sie zuvor als solche beurteilt und erkannt hat. Damit gibt Kant in unmissverständlicher Weise zu verstehen, dass sogar der Weg der Religion durch eine kognitive Dimension führt – jedenfalls insofern, als die Religion einen praktischen Kern hat, der in unbedingten moralischen und rechtlichen Verpflichtungen besteht, wie sie sich Wesen wie die Menschen durch Kategorische Imperative sowohl erschließen wie auferlegen können. Kant hat immer wieder zu verstehen gegeben, dass der göttliche Charakter der Gebote, die durch Kategorische Imperative auferlegt sind – also sowohl durch den Imperativ der Moralität wie durch den Imperativ der Rechtlichkeit –, mit dem intelligiblen Charakter zusammenhängt, der solchen Geboten eigen ist. 69 Denn in methodischer Hinsicht ist der kognitive Typus des intelligiblen Charakters an die Bedingung gebunden, dass man ihn und seinen typischen Träger nur mit Hilfe von nicht-empirischen, formalen Methoden ermitteln, beurteilen und erkennen kann. 70 Doch gerade in methodischer Hinsicht wird Kants attributionslogische Konzeption des Göttlichen wichtig. Denn er macht von dieser Konzeption geradezu punktgenau an den argumentativen Stellen Gebrauch, an denen man mit den Fragen, die die Konzeption der intelligiblen Fakten standardgemäß hervorruft, an prinzipielle methodische Grenzen stößt. Fakten rufen nun einmal geradezu standardgemäß die Frage nach ihrer Erklärung auf den Plan. Doch bei Fakten, die im Blick auf die Modi ihrer kognitiven Zugänglichkeit durch intelligible Charaktere ausgezeichnet sind, verhält es sich ganz anders: Sie sind »[…] schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärlich […]«. 71 Will man diese empirische und vernunft-theoreti69 Die Konzeption der intelligiblen Charaktere wird eingeführt in: I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 538–58, B 566–86; für die Praktische Philosophie wird sie systematisch fruchtbar gemacht in: I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 45 f., 49 f., 87 f., 94 f., 105 ff.; hier verbindet Kant sie leider zum Nachteil der Beurteilung ihrer Tragfähigkeit mit der irritierenden quasi-Metaphorik der zwei Welten, deren Bewohner der Mensch demnach ist, anstatt an ihrem erkenntnistheoretischen Kerngedanken festzuhalten, dass der Mensch sowohl intelligible Charaktere wie nicht-intelligible, sinnlich-empirische Charaktere erkennen kann; vgl. hierzu auch unten, Moralität und Nützlichkeit, S. 310–29, bes. S. 318–19. 70 Zu den methodischen, prozeduralen Formen dieses Ermittelns, Beurteilens und Erkennens im Anschluss an den kategorischen Imperativ der Moralität vgl. oben S. 51–94 bes. S. 65–70, 84–86. 71 Ak. V, S. 43. Vgl. auch I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 557, B 585.

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sche Nicht-Erklärbarkeit intelligibler Fakten durch ein positives Reduktionsmodell wenigstens kompensieren, dann bleibt in der Tradition, in der Kant lebt, nur noch ein einziges Modell übrig, das auch in Kants Zwei-Welten-Modell einer intelligiblen und einer sensiblen Welt weiterlebt. Denn intelligible Fakten sind dann – in der biblischen Sprache – ›nicht von dieser Welt‹. Mit Blick auf die entsprechende andere Welt kann man den Ursprung solcher intelligiblen Fakten – also vor allem des Faktums des Sittengesetzes – in derselben Sprache nur noch mit Gott identifizieren. Dieses theistische Ursprungsmodell ist indessen im Licht von Kants Verwerfung nicht nur jeglicher Substanz-Ontotheologie, sondern auch jeder praktisch fundierten Postulatenkonzeption Gottes nicht mehr haltbar. An ihre Stelle tritt die attributionslogische Konzeption der Göttlichkeit der intelligiblen praktischen Fakten – also vor allem des Faktums des Sittengesetzes.

XVIII. Die Folge der Schritte, durch die Kant nicht nur jede Substanz-Ontotheologie, sondern auch das moraltheologische Argument zugunsten des praktischen Postulats der Existenz Gottes aus der Zweiten Kritik verwirft, ist damit noch nicht an ihr Ende gelangt. Im Rückblick auf das Wechselspiel und das Widerspiel der substanz-ontotheologischen Konzeptionen Gottes – einschließlich der Postulatenlehre – und auf seine eigene Reduktion aller dieser Konzeptionen auf eine attributionslogische Konzeption der Göttlichkeit der kategorischen Imperative der Moralität und der Rechtlichkeit hat Kant eine metakritische, formale Reflexion auf alle derartigen Konzeptionen angestellt: »[…] in practischer Rücksicht ist es völlig einerley ob man die Göttlichkeit des Gebots in der menschlichen Vernunft oder auch einer solchen Person [Gottes, R. E.] zum Grunde legt weil der Unterschied mehr eine Phraseologie als eine das Erkenntnis erweiternde Lehre ist«. 72 Nun gehört es zwar zu den klassischen Gedanken von Kants Praktischer Philosophie, dass diese »[…] gar auf keine […] Erweiterung der Erkenntnis zum Übersinnlichen hinausgehe«. 73 Dennoch ist es gerade unter Aspekten der Religionsphilosophie sowie im Rückblick auf die Geschichte der Ontotheologie und auf die Geschichte 72 73

Ak. XXI, S. 28, S. 28, Hervorhebung R. E. Ak. V, S. 6.

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der unter den Vorzeichen dieser Ontotheologie verlaufenen Religionspolitik alles andere als ein phraseologischer Unterschied, ob man Gott mit dem Subjekt Kategorischer Imperative identifiziert oder nicht, ob man das Subjekt Kategorischer Imperative mit der menschlichen Vernunft identifiziert oder nicht und ob man Kategorischen Imperativen das Attribut der Göttlichkeit attestiert oder nicht. Es ist angesichts der europaweiten religionspolitischen Zensur zu Kants Lebenszeit 74 auch nicht ganz unerheblich, dass Kant solche Alternativen ausschließlich in nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen seiner allerletzten Lebensjahre erörtert. Gleichwohl gehört die Erörterung solcher Alternativen – und vielleicht sogar die Erörterung gerade dieser Alternativen – zu jener Aufklärung über die Religion, die Kant in seiner Schrift zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 75 mit der aktuellsten Aufgabe der Aufklärung nicht nur seiner Zeit identifiziert. 76 Doch mit dieser sowohl religionsphilosophischen wie religionspolitischen und religionshistorischen Diagnose bildet Kants Aufklärungs-Schrift von 1784 auch den programmatischen Auftakt zu seiner eigenen, geradezu planmäßig wahrgenommenen Beteiligung an der Anstrengung, die diese Aufklärung über die Religion nötig macht. Die Postulatenlehre der Zweiten Kritik dokumentiert 1787 – wie der Rückblick vor allem von den unpublizierten Aufzeichnungen des Opus postumum zeigt – lediglich eine erste Etappe auf dem Weg, der mit dieser Anstrengung verbunden ist. Die moralhermeneutischen Analysen der Bibel in den Untersuchungen über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 bilden ihrem buchtechnischen Umfang nach sowie mit Blick auf den Grad ihrer Eindringlichkeit, aber nicht zuletzt im Blick auf die geschichtliche, die europäische und die seelische Tragweite und Tiefenwirkung des im Neuen Testament dokumentierten Christentums zweifellos den Höhepunkt dieser öffentlichen Anstrengung Kants. Und noch im letzten systematischen Werk Kants, in der Metaphysik der Sitten von 1797, wird wenigstens beiläufig die attributionslogische Konzeption der Göttlichkeit der (unbedingten) Pflichten exponiert. 77

74 75 76 77

Vgl. Ak. VII, S. 5–11. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ak. VIII, S. 33–42. Vgl. Ak. VIII, S. 40 ff. Vgl. Ak. VI, S. S. 487 ff.

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Kants Bemühungen um die Aufklärung über die Religion berühren indessen auch in seinen letzten kleineren, traktatförmigen Publikationen zur Praktischen Philosophie diese attributionslogische Schlüsselkonzeption. Doch hier geht Kant gelegentlich sogar innerhalb dieser Konzeption noch einmal einen geradezu radikalisierenden Schritt über die Konzeption der Göttlichkeit der unbedingten Pflichten hinaus. Denn hier spricht Kant öffentlich sogar schon davon, dass das kognitive Verhältnis des Menschen zu den von Kategorischen Imperativen erschlossenen (unbedingten) Pflichten »[…] ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen [eröffnet]«. 78 Mit der Thematisierung dieser Anlagen verweist Kant indessen auf eine noch zentralere Dimension des Göttlichen als er es mit der Thematisierung der Göttlichkeit der unbedingten Pflichten tut. Denn bei diesen ›tiefen göttlichen Anlagen‹ handelt es sich um nichts anderes als um die in jedem Menschen als Menschen angelegten subjektiven kognitiven und praktischen Vermögen, die ihm schon von Hause aus die Beurteilung, die Erkenntnis und die Befolgung der unbedingten – also der »göttlichen« – moralischen und rechtlichen Pflichten ermöglichen. Mit dieser Form der Attribuierung der Göttlichkeit signalisiert Kant daher nicht nur eine subtile Distanzierung von den letzten traditionellen Zügen einer am Dekalog orientierten Konzeption der Göttlichkeit unbedingter sittlicher Gebote. Vor allem macht er durch einen nur allzu konsequenten reduktionistischen Schritt darauf aufmerksam, dass Gebote, die göttlichen Charakter haben, das Bewusstsein des Menschen als ihren genuinen Adressaten gar nicht erreichen könnten, wenn in ihm nicht spezifische Vermögen angelegt wären, die ihm die Erkenntnis, Beurteilung und Befolgung solcher Gebote ermöglichen und ihnen einen göttlichen Charakter verleihen. Doch die göttlichen kognitiven Vermögen des Menschen – also seine Vermögen zur Beurteilung und zur Erkenntnis unbedingter moralischer und rechtlicher Pflichten – und das praktische Vermögen zur Befolgung solcher Pflichten – seine »Freiheit als ein […] Vermögen […] absoluter Spontaneität« 79 – sind in demselben Sinne göttlich, in dem diese Pflichten selbst göttlich sind: Auch sie sind »schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen

Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ak. VIII, S. 287, Hervorhebung R. E. 79 Ak. V, S. 48. 78

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Umfang unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärlich« – also auch nicht aus der stammesgeschichtlichen, aus der embryonalen oder aus einer sonstigen natürlichen oder soziopsychischen Entwicklung. 80 Die Ausstattung des Menschen mit diesen Vermögen gehört zu jenen intelligiblen Fakten, die einer empirisch-theoretischen Erklärung nicht fähig sind. Sie können zwar mit Hilfe eines Kategorischen Imperativs und seiner kognitiven Funktionen als »principium der diiudication« unbedingter Pflichten und als »ratio cognoscendi der Freiheit« in ihrer Eigenart als intelligible Fakten ermittelt werden. Aber auch ihr Ursprung ist, wenn man denn ein Analogon zu einer Erklärung in einer in Kants Tradition vertrauten Sprache wenigstens evozieren möchte, »nicht von dieser Welt«. Ihr Ursprung liegt daher, wie Kant dessen Verortung gerne umschreibt, ebenfalls in jener »intelligiblen Welt«, in der er in derselben Sprache auch den Gott verortet, der dem Menschen im Sinne dieser Analog-Erklärung mit diesen Vermögen begabt hat. Zwar hat auch der Mensch in dieser analogischen Welt einen Ort. Doch während der evozierte Gott diese analogische Welt exklusiv und restlos erfüllt, bewohnt der Mensch außerdem auch noch die – allerdings nicht weniger analogische – »sensible Welt«. Am überzeugendsten wird der göttliche Charakter der kognitiven und der praktischen moralischen Vermögen des Menschen indessen durch deren Analogie zu bestimmten Vermögen des evozierten Gottes verständlich: 1. Der Allmacht dieses Gottes 81 analog ist die Ich stimme mit dem Stufenmodell überein, das G. Damschen u. D. Schönecker: In dubio pro embryone. Neue Argumente zum moralischen Status menschlicher Embryonen. In: dies. (Hrsg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und Contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument. Berlin/New York 2003, S. 187–267, bes. S. 226 f., konzipieren, um den dispositionellen Möglichkeiten des Menschen gerecht zu werden: Vermögen sind die basalen, dem Menschen seit der vollendeten Verschmelzung der Vorkerne inhärenten dispositionellen Möglichkeiten; aus ihnen entwickeln sich sowohl durch die systemische Entwicklung der Stammzelle inmitten des mütterlichen Organismus, durch mütterliche bzw. elterliche und soziale Formen der Obhut vor und nach der Geburt sowie durch physisch-motorische, durch sensorische und durch emotionale Auseinandersetzung mit Lebensumständen und Widerfahrnissen nach der Geburt die Fähigkeiten (und Fertigkeiten), von denen ihre Inhaber nach und nach lernen, immer differenzierter und erfolgsträchtiger Gebrauch zu machen. Mit Hilfe des Modells von Damschen/Schönecker, das bislang vor allem die Fähigkeiten zum Handeln berücksichtigt, können und sollten die für die Moral nicht weniger wichtigen Fähigkeiten zur praktischen Einsicht allerdings ebenfalls noch berücksichtigt werden. 81 Vgl. Ak. V, S. 131. 80

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Freiheit als ein Vermögen absoluter Spontaneität, allerdings in dem auf das menschliche Maß beschränkten Sinne, dass dies das Vermögen ist, Maximen und den ihnen entsprechenden Handlungsweisen einen moralischen und einen rechtlichen Charakter aufzuprägen; 2. der Weisheit dieses Gottes 82 entspricht das im Licht der Dijudicationsfunktion des moralischen und des rechtlichen Kategorischen Imperativs zum Zuge kommende Vermögen, den moralischen und den rechtlichen Charakter von Maximen und den ihnen entsprechenden Handlungsweisen zu beurteilen und zu erkennen; 3. der Gerechtigkeit dieses Gottes (vgl. ebd.) sind diese beiden Vermögen in ihrem Zusammenhang analog, weil nur die so beurteilten, erkannten und praktizierten Maximen und Handlungsweisen der praktischen Angewiesenheit aller Menschen auf Moral und Recht »gerecht« werden. Kants radikalster Schritt in der Religionsphilosophie ist daher durch die Entdeckung bestimmt, dass die basalsten innerweltlichen Elemente, die einer attributionslogischen Charakterisierung durch Göttlichkeit fähig sind, die Vermögen des Menschen zur Beurteilung, Erkenntnis und Befolgung unbedingter moralischer und rechtlicher Pflichten sind. Soweit zum Theismus – aber auch zum Deismus – eine positive Ontotheologie gehört, zeichnet sich an diesem Punkt von Kants Überlegungen eine geradezu atheistische Konzeption des Göttlichen und der Religion ab.

Zum Abschluss Wenn man in Kants Arbeit an den Kriterien des Moralischen und des Rechtlichen eine Fortsetzung von Platons Anstrengungen im Euthyphron sieht, das Desiderat eines praktischen Kriteriums des Frommen plausibel zu machen, dann gewinnt im Licht des attributionslogischen Kerns von Kants später Religionsphilosophie des Göttlichen auch Sokrates’ offenkundige attributionslogische Konzentration im Euthyphron auf das Göttliche eine zusätzliche Bedeutsamkeit. Diese Bedeutsamkeit gewinnt sogar den Rang eines religionsphilosophischen Brennpunkts, wenn Platon in seinem Alterswerk der Nomoi den das Gespräch leitenden Athener den Konsens der Gesprächspartner über die Seele aussprechen lässt, dass sie das göttlichste unter allen Dingen sei (τὴν ψυχὴν […] θειότατόν ἐστιν πάντων, Nom. 966 d9–e1). 82

Vgl. ebd.

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Gewiss braucht man die Unterschiede zwischen den methodischen Funktionen nicht zu verkennen, die diesen Konzeptionen des Göttlichen im Zuge der Anstrengungen der beiden Denker zukommen. In Platons Kontext gehört das Göttlichkeitsmaximum der Seele zu den Gründen, die geeignet sind, den Glauben an die Götter zu begünstigen (vgl. Nom. 966 c1 ff.). Kant scheint indessen im Blick auf die göttlichen Anlagen in den »Tiefen der menschlichen Seele« 83 auf dem Weg zu einer atheistischen Konzeption des Göttlichen und der Religion – also auch des Frommen – zu sein. Wie immer man die hier sich abzeichnenden Alternativen auflösen kann – die Alternativen, ob Religion durch Aufklärung überflüssig wird oder ob sie trotz Aufklärung möglich oder aber sogar nötig ist, sind so lange falsch gestellt, wie die Aufklärung über die Religion nicht auch auf dem thematischen und dem methodischen Niveau von Platon und von Kant einsichtig gemacht hat, welche Konzeption des Göttlichen, des Gottes bzw. der Götter sowohl aus praktischen wie aus vernünftigen Gründen – wenn überhaupt – die beste ist.

Von »Tiefen der menschlichen Seele« spricht Kant ganz unbeschadet seiner Verwerfung der Substanzontologie der Seele (vgl. Paralogismus-Kapitel) an der Schlüsselstelle Kritik der reinen Vernunft, A 141, B 180–81.

83

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Ist die Moral strukturell rational? Die kantische Antwort

I. Probleme der praktischen Rationalität sind während der vergangenen Jahrzehnte in besonders fruchtbarer Weise vor allem in der Auseinandersetzung mit der konsequentialistischen Ethik analysiert worden. Diese Fruchtbarkeit verdankt sich vor allem dem Umstand, daß dieser Ethik-Typ für die Wahrscheinlichkeitstheorie, für die Spieltheorie und für die normative Entscheidungstheorie und deren Anwendungen eine vorzügliche Möglichkeit bietet, rationale Strukturen der Praxis zu analysieren. Das liegt daran, daß konsequentialistische Ethiken – also vor allem utilitaristische Ethiken – die praktische Bewertung einer Handlungsweise ausschließlich von der praktischen Bewertung der mehr oder weniger wahrscheinlichen Konsequenzen dieser Handlungsweise abhängig machen. Mit diesem Wahrscheinlichkeitsfaktor wird indessen eine wichtige kognitive Voraussetzung der Praxis thematisiert: Jeder Mensch kann sich nur dann mit berechtigter Aussicht auf Erfolg an der gemeinsamen Praxis von seinesgleichen beteiligen, wenn er über eine hinreichend hoch entwickelte kognitive Fähigkeit verfügt, in jeder praktischen Situation die (mehr oder weniger) wahrscheinlichen Konsequenzen seines Handelns richtig einzuschätzen. Diese Fähigkeit, Wahrscheinlichkeitsschätzungen für Handlungskonsequenzen zu treffen, bildet die eine kognitive Komponente der konsequentialistischen Rationalität. Die andere kognitive Komponente wird von einer spezifisch praktischen kognitiven Fähigkeit gebildet – von der Fähigkeit, den mehr oder weniger großen praktischen Wert, also den mehr oder weniger großen Nutzen der mehr oder weniger wahrscheinlichen Konsequenzen von Handlungsalternativen oder -optionen richtig zu beurteilen. Nun liegt jeder Handlung, die diesen Namen verdient, ein Geflecht von komplexen Wünschen, Hoffnungen und Absichten – also von subjektiven Umständen – des jeweiligen Akteurs zugrunde. 238 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Außerdem hängen die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung von den objektiven, also von den in Raum und Zeit manifesten sowie von den sozialen, den institutionellen und den positiv-rechtlichen Umständen der Situation ab, in der diese Handlung praktiziert wird. Ein Akteur kann daher die wahrscheinlichen Konsequenzen seiner Handlung nur dann treffend beurteilen, wenn er ausreichend über diese verschiedenartigen Umstände informiert ist. Nicht zuletzt kann ein Akteur die von ihm intendierten Handlungskonsequenzen angesichts der unterschiedlichen konditionalen Gewichte der konkreten Umstände seiner Handlungssituation auch nur mit unterschiedlichen Handlungstechniken zu realisieren suchen. Die Faktoren, von denen konsequentialistische und insbesondere utilitaristische Beurteilungen von Handlungen abhängen, sind zahlreich und verschiedenartig und die Verflechtungen zwischen ihnen komplex. Das macht es zu einer besonders schwierigen Aufgabe, die Rationalität solcher Beurteilungen durchsichtig zu machen. Die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, daß die formalen Mittel der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Spieltheorie und der normativen Entscheidungstheorie unverzichtbar sind, wenn man diese Durchsichtigkeit erlangen möchte. Es ist daher auch verständlich, daß die internen Schwierigkeiten dieser Aufgabe viele Kräfte an die Analysen der konsequentialistischen Rationalität gebunden haben. Es ist aber auch unübersehbar, daß diese Konzentration zu einem übermäßigen Ungleichgewicht in der Arbeitsteilung zwischen konsequentialistischer und nicht-konsequentialistischer Ethik geführt hat. Die Frage nach der Rationalität nicht-konsequentialistischer Praxis und Handlungsbeurteilung wird im Vergleich mit konsequentialistischer bzw. utilitaristisch orientierter Rationalitätsanalyse auf einem vergleichsweise bescheidenen Analyse-Niveau erörtert. Vor allem die Frage nach den kognitiven Voraussetzungen der nicht-konsequentialistischen Handlungsbeurteilungen und damit nach den kognitiven Voraussetzungen der nicht-konsequentialistisch orientierten Praxis selbst ist vernachlässigt worden. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Überwindung dieser ungleichgewichtigen Arbeitsteilung besteht darin, die inneren Grenzen der Tragfähigkeit und der Tragweite von konsequentialistischen Rationalitätskonzepten zu durchschauen. Das ist indessen viel einfacher als es die äußere Komplexität der Arbeit an diesen Konzepten auf den ersten Blick vermuten läßt. Diese Grenzen werden ausschließlich durch die vierfache systematische Situationsabhängigkeit und Situa239 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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tionsvarianz konsequentialistischer Handlungsbeurteilungen und Handlungsbegründungen festgelegt: 1.) Mit welchen wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung ein Akteur in einer konkreten Situation rechnen muß, hängt ausschließlich von den konkreten objektiven Umständen dieser Situation ab; zu diesen objektiven Umständen gehören 1.1.) die mehr oder weniger invarianten Umstände seiner natürlichen Umwelt, sowie 1.2.) die mehr oder weniger zählebigen institutionellen und von sozialen Konventionen geprägten Umstände der Situation des Akteurs, und schließlich auch die mehr oder weniger flüchtigen Nutzenmatrizen seiner aktuellen und seiner potentiellen Interaktionspartner; 2.) welche wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung ein Akteur in einer konkreten Situation intendiert und welche nicht, hängt außerdem von den konkreten subjektiven Umständen dieser Situation ab – also einerseits von seinen Interessen, Wünschen und Hoffnungen und andererseits von seinen Sorgen und Befürchtungen; 3.) wie ein Akteur in einer konkreten Situation zwischen Handlungskonsequenzen, die eine Präferenz verdienen, und Handlungskonsequenzen unterscheidet, die keine Präferenz verdienen, hängt außerdem von der Nutzenmatrix ab, die von der transitorischen umfassenderen Lebenssituation abhängt, in der sich der Akteur in Abhängigkeit von seinem Lebensalter vorübergehend befindet. Kurz: Konsequentialistische Handlungsbeurteilungen und -begründungen sind durch ein systematisches Minimum an Situationsinvarianz und Situationsunabhängigkeit geprägt. Konsequentialistische Rationalität ist daher durch ein Maximum an Situationsvarianz und Situationsabhängigkeit geprägt. Konsequentialistische Rationalität ist insofern nichts anderes als situative Rationalität.

II. Diese spezifische kognitive und praktische Rationalitätsform der konsequentialistischen Praxis kann auch ein neues Licht auf die entsprechende Rationalitätsform der nicht-konsequentialistischen Praxis werfen. Die Arbeit an nicht-konsequentialistischen Ethiken wird nun einmal traditionell mit dem Anspruch verbunden, moralische Strukturen der Praxis durchsichtig zu machen, die sich durch universell gültige Normen charakterisieren lassen. Bei dieser universellen Gültigkeit handelt es sich aber um nichts anderes als um situations240 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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invariante Gültigkeit. Der Begriff der Situationsinvarianz bietet allerdings den Vorteil, daß es sich bei der Situationsinvarianz um eine graduierbare Struktur handelt – eine moralische Norm kann also mehr oder weniger situationsinvariant gültig sein. Das Entsprechende gilt für den Begriff der Situationsunabhängigkeit – eine moralische Norm kann auch mehr oder weniger situationsunabhängig gültig sein. Der Gedanke liegt daher nur allzu nahe, daß die nichtkonsequentialistische, die moralische Praxis umgekehrt durch ein Maximum an Situationsinvarianz und -unabhängigkeit geprägt ist. In den vergangenen Jahren hat in Deutschland vor allem Julian Nida-Rümelin in energischer und fruchtbarer Weise daran gearbeitet, die Eigenarten dieser beiden praktischen Rationalitätsformen und die Beziehungen zwischen ihnen durchsichtiger zu machen. 1 Statt von situativer Rationalität spricht Nida-Rümelin von punktueller Rationalität, 2 und statt von (mehr oder weniger) situationsinvarianter und -unabhängiger Rationalität spricht er von struktureller Rationalität. 3 Den Schlüsselaspekt für die Analyse der Beziehungen zwischen diesen beiden Rationalitätsformen führt Nida-Rümelin mit Hilfe der Begriffe der Lebensform und der Gesellschaftsform ein. 4 Mit dem Begriff der Lebensform zielt Nida-Rümelin auf die moralische Struktur eines ganzen individuellen Lebens, mit dem Begriff der Gesellschaftsform auf die moralische Struktur eines ganzen kollektiven Lebens – im Maximalfall also auf die moralische Struktur des Lebens in der societas humana. Der Einfachheit halber kann man daher auch von der moralischen Struktur einer individuellen Lebensform und von der moralischen Struktur einer kollektiven Lebensform sprechen. Die Kernthese, die Nida-Rümelin in seinem Buch Strukturelle Rationalität entwickelt, lautet daher, daß sich die strukturelle praktische Rationalität nur in einer weitgehend situationsinvarianten Moral einer individuellen und einer kollektiven Lebensform manifestiert. Im einzelnen formuliert Nida-Rümelin neun verschiedene Bedingungen, von denen die strukturelle Rationalität einer Lebensform mit unterschiedlichen Stärkegraden abhängt. 5 Es fällt auf, daß unter 1 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus (11993), München 1995, und ders. Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001. 2 Vgl. Kritik, S. 129 ff., und Rationalität, S. 34 ff. 3 Vgl. Kritik, a. a. O., S. 128, 169, und Rationalität, S. 34 ff. 4 Vgl. Kritik, a. a. O., S. 186 ff. 5 Vgl. hierzu, Rationalität, a. a. O., S. 5 (Inhaltsverzeichnis).

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diesen Bedingungen fast gar keine spezifisch moralische Bedingung berücksichtigt wird. Lediglich die achte der neun Bedingungen enthält eine zumindest moralrelevante Teilbedingung – die Handlungsverantwortung. 6 Diese verschwindende Rolle moralrelevanter Bedingungen der strukturellen Rationalität ist eine Konsequenz aus dem methodologischem Status von Nida-Rümelins Theorie der Rationalität: Sie gehört zum Typus der Meta-Ethik. Zwar beruft sich NidaRümelin im Rahmen seiner Erörterungen immer wieder einmal auch auf spezifisch moralische Bedingungen sowohl des Handelns wie der subjektiven Einstellungen – vor allem auf die Wahrhaftigkeit, auf die Verläßlichkeit 7 und auf das Vertrauen. 8 Doch diese moralischen Bedingungen werden nicht nur ganz beiläufig im Rahmen von Plausibilitätserwägungen eingeführt 9. Der Sache nach werden sie vor allem als notwendige Bedingungen erfolgreicher Kommunikation und Kooperation eingeführt. 10 Doch damit geraten diese prima-faciemoralischen Bedingungen in ein systematisches Zwielicht, das NidaRümelin in seinem ersten Buch bereits selbst in trefflicher Weise analysiert hat. Er warnt hier zu Recht davor, daß »[…] sittliche Normen, wie z. B. die Pflicht, ein Versprechen zu halten und die Wahrheit zu sagen, […] als konsequentialistisch rational erscheinen« 11 können. Nun sind Bedingungen erfolgreichen Handelns etwas anderes als erfolgreiche Konsequenzen von Handlungen. Insofern fallen die von Nida-Rümelin apostrophierten moralischen Bedingungen aus dem Standardschema der konsequentialistischen Rationalität heraus. Doch gerade deswegen geraten sie in ein Zwielicht: Sind erfolgreiche Kommunikationen und Kooperationen moralisch geprägt, sofern ihre Erfolge von der Wahrhaftigkeit und der Verlässlichkeit der Kom-

Vgl. Kap. 8, bes. S. 147 ff., aber auch S. 105 ff.; zur Kritik der nahezu einhelligen systematischen Überschätzung der moralischen Prinzipienfunktion der Verantwortung vgl. allerdings Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prinzip der Ethik?, Heidelberg 1999; zur sträflichen Vernachlässigung der kognitiven Voraussetzungen der Verantwortung, die schon in Max Webers nachgerade klassisch gewordener Verantwortungskonzeption eine – wenn auch unscheinbare – Schlüsselrolle spielen, vgl. Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft?, oben S. 150–90, bes. S. 154–57. 7 Vgl. Rationalität, a. a. O., S. 104 ff. 8 Vgl. a. a. O., S. 114 ff. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. 11 Kritik, a. a. O., S. 130. 6

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munikations- und Kooperationspartner abhängen? Oder sind sie utilitaristisch und damit konsequentialistisch geprägt, sofern die Partner von den erfolgreichen Konsequenzen ihrer Kommunikationen und Kooperationen profitieren? Dies Zwielicht wird in Nida-Rümelins Theorie nicht aufgelöst. Man kann jedoch zeigen, daß man dies Zwielicht zum Verschwinden bringen kann, wenn man einen methodischen Kunstgriff in aller Strenge beachtet, den Nida-Rümelin selbst in seinem ersten Buch als die »[…] heuristische Trennung einer ethischen und einer rationalitätstheoretischen Betrachtungsweise« 12 umschreibt. Allerdings hat er im selben Atemzug eingeräumt, daß diese Trennung »Im Verlauf [unserer] Kritik des Konsequentialismus […] zunehmend aufgehoben [wurde]«. 13 Doch das Zwielicht, in das moralische Bedingungen wie die Wahrhaftigkeit und die Verläßlichkeit in Nida-Rümelins Analysen der strukturellen praktischen Rationalität getaucht werden, ist ausschließlich darauf zurückzuführen, daß er auch hier die von ihm so genannte ›heuristische Trennung‹ zwischen einer ethischen und einer rationalitätstheoretischen Betrachtungsweise weitgehend aufgehoben hat. Man muß daher zu zeigen suchen, wie man dieses Zwielicht auflösen kann, indem man diese Trennung streng durchhält. Dabei wird sich zeigen, daß Nida-Rümelin durch seine rationalitätstheoretische Betrachtungsweise einen vollständigen metaethischen Katalog der Bedingungen struktureller praktischer Rationalität erarbeitet hat. Sein Katalog liefert also eine vollständige Übersicht über die Bedingungen, die eine sittlich-moralische Praxis erfüllt, sofern sie strukturell rational ist. Damit macht er aber die Ethik selbst – und zwar sowohl in ihrer konsequentialistischen wie in ihrer nichtkonsequentialistischen Gestalt – auf die Bedingungen aufmerksam, denen auch die praktischen Normen genügen müssen, die die Ethik als sittlich-moralische Normen zu begründen sucht. Man kann indessen zeigen, daß und warum sogar die von Kant entworfene nichtkonsequentialistische Ethik nahtlos zu dieser von Nida-Rümelin entworfenen Meta-Ethik passt.

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A. a. O., S. 186. Ebd.

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III. In Nida-Rümelins Meta-Ethik der strukturellen praktischen Rationalität kann man nicht nur verschiedene Bedingungen dieser Rationalität unterscheiden. Und man kann auch nicht nur verschiedene kleinere Gruppen solcher Bedingungen unterscheiden. Man kann diese Bedingungen auch in unterschiedlichen Kombinationen zu Gruppen zusammenfassen und damit zu Brennpunkten der Aufmerksamkeit machen. Welche Bedingungen man in welchen Kombinationen jeweils in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückt, das hängt von der ethischen Problemstellung ab, die man mit Hilfe dieser MetaEthik jeweils zu behandeln sucht. Die ethische Problemstellung, die ich hier zu behandeln suche, macht es nötig, fünf von den neun Bedingungen zu berücksichtigen, die Nida-Rümelins Meta-Ethik für eine Moral ins Auge fasst, die strukturell rational ist. In Nida-Rümelins Katalog haben diese fünf Bedingungen die folgenden Namen: Handlungsgründe, Kooperation, Kommunikation, strukturelle Intentionen, Kohärenz. Ich suche daher zu zeigen, daß der Kern von Kants Ethik die moralische Struktur der Praxis so durchsichtig macht, daß diese Praxis jedenfalls und mindestens diese fünf Bedingungen erfüllt. Sie erfüllt zwar, wie man zeigen kann, auch alle anderen von Nida-Rümelin erörterten Bedingungen. Aber aus Gründen der Aufwandsökonomie werde ich mich auf die genannten fünf Bedingungen beschränken. Die ersten beiden Bedingungen der strukturellen praktischen Rationalität, die man berücksichtigen muß, sind die Kommunikativität 14 und die Kooperativität. 15 Nida-Rümelin behandelt zuerst die Kooperativität und erst danach die Kommunikativität. Diese methodische Ordnung hat den konzeptionellen Grund, daß Nida-Rümelin die Kommunikation als eine spezielle Form der Kooperation auffaßt 16. Seine Begründung für diese Auffassung ist allerdings insgesamt inkohärent, denn sie zerfasert sich im einzelnen in ein sozial-anthropologisches, ein interessen-theoretisches und ein individual-anthropologisches präferenztheoretisches Argument: »Es gibt ein gemeinsames Interesse an Kommunikation: Jede Person zieht es vor, in einer Gesellschaft zu leben, deren Mitglieder miteinander kommunizieren 14 15 16

Vgl. Rationalität, a. a. O., S. 100 ff. Vgl. a. a. O., S. 85 ff. Vgl. a. a. O., S. 58 ff., 100 ff.

244 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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können«. 17 Da Nida-Rümelin die Kommunikation als eine spezielle Form der Kooperation auffasst, bezieht sich sein sozial-anthropologisches Argument zugunsten der fundamentalen Rolle, die die Kooperativität für die strukturelle Rationalität spielt, auch auf die Kommunikation: »Ohne die Bereitschaft, mit anderen zu kooperieren, wäre keine Gesellschaft überlebensfähig«, 18 also: Auch ohne die Bereitschaft, mit anderen zu kommunizieren, wäre keine Gesellschaft überlebensfähig. Die Inkohärenz dieser Konzeption zeigt sich in mehreren Hinsichten: 1. Ein kollektives Interesse an Kommunikation ist etwas anderes als eine individuelle Präferenz für eine Kommunikationsgemeinschaft, und beide sind etwas anderes als die individuelle Bereitschaft zur Kommunikation; 2. zwar scheinen alle drei Einstellungen in eine gemeinsame sozialanthropologische Prämisse zu gehören, in der sie zusammen eine notwendige Bedingung der Überlebensfähigkeit jeder Gesellschaft bilden; aber eine individual-anthropologische Prämisse, die so etwas wie ein wohlverstandenes individuelles Interesse am eigenen individuellen Überleben berücksichtigen würde, kommt unter den Oberprämissen von Nida-Rümelins Konzeption der Kommunikation und der Kooperation nicht vor; 3. die These, daß Kommunikation nichts anderes als eine spezielle Form der Kooperation ist, ist in dieser Allgemeinheit entweder empirisch falsch, weil es vielerlei Kommunikationsformen gibt, die keine Fälle von gemeinsamer Arbeit bilden, oder aber NidaRümelin verwendet einen so extrem weiten Begriff von Kooperation, daß auch noch die Kommunikationen in gemeinsamen Beratungen, im gemeinsamen Feiern, im freundschaftlichen Gespräch, im kultischen Fest und im gemeinsamen Spiel Formen von gemeinsamer Arbeit bilden. Es genügt vorläufig, auf diese konzeptionellen und kriteriologischen Unstimmigkeiten und die durch sie bedingte Inkohärenz in NidaRümelins Konzeption der strukturellen Rationalität lediglich hinzuweisen. Man braucht vorläufig nicht zu versuchen, diese Inkohärenz zu korrigieren. Aufschlussreicher ist es zunächst, mit Hilfe der Anthropologie und der Ethik Kants im Gegenzug eine alternative Kon17 18

A. a. O., S. 103; Hervorhebungen R. E. A. a. O., S. 85.

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zeption zu skizzieren und zu versuchen, solche Inkohärenzen zu vermeiden. Gleichwohl kann man an der Einschätzung festhalten, daß Nida-Rümelins Katalog der Bedingungen der strukturellen praktischen Rationalität und seine Konzeption der Verflechtung von punktueller bzw. situativer Rationalität und struktureller Rationalität einen der wichtigsten Beiträge zur metaethischen Erörterung der Praktischen Philosophie der Gegenwart bildet.

IV. Die Bedingung, mit deren Erörterung hier der Anfang gemacht werden soll, ist die der Kommunikativität. Es scheint allerdings so gut wie ganz unbekannt zu sein, daß Kant der Frage nach Strukturen der Kommunikation eine fundamental-anthropologische Reflexion gewidmet hat, die sowohl eine sozial-anthropologische wie eine individual-anthropologische Tragweite hat. Dabei hat er auf eine Struktur der Kommunikation aufmerksam gemacht, die für seine Ethik eine Schlüsselrolle spielt. Die Reflexion findet sich in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und hat die Funktion eines Gedankenexperiments sowie die logisch-grammatische Form eines irrealen Konditionals. Kant unterstellt hier in kontrafaktischer Form, »[…] daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken können, d. i. im Wachen wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben können, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegeneinander abgeben?«. 19

Durch diese para-anthropologische Überlegung wirft Kant in indirekter Form ein Licht auf eine genetisch verankerte dispositionelle technische Fähigkeit jedes einzelnen Menschen: Jeder einzelne Mensch hat die Fähigkeit, Gedanken entweder mitzuteilen oder aber nicht mitzuteilen, also zu beschweigen. Wer daher in einer bestimmten Situation einem Interaktionspartner einen bestimmten, für das Thema ihrer Kommunikation relevanten Gedanken nicht mitteilt, ihn beschweigt, vollzieht einen kommunikativen Akt der Kommunika-

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant’s gesammelte Werke (Akademie-Ausgabe = Ak.), Berlin 1900 ff., Bd. VI, S. 332.

19

246 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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tionsverweigerung. Bei dieser Fähigkeit handelt es sich offenbar zunächst einmal um eine ganz und gar moral-neutrale, technische Fähigkeit; ebenso handelt es sich bei dem Wechselspiel von Mitteilen und Beschweigen um eine ganz und gar moral-neutrale, technische Kommunikationsstruktur. In jeder konkreten kommunikativen Situation beschweigt jeder von uns sogar eine überwältigend große Menge der Gedanken, über die er verfügt, und teilt nur verschwindend wenige Gedanken aus diesem Fundus mit. Kants Anthropologie sieht die Grundstruktur der Kommunikation insofern in diesem Wechselspiel des Mitteilens und des Nicht-Mitteilens, des Beschweigens von Gedanken. Es liegt aber selbstverständlich auf der Hand, daß dieser an sich ganz moral-neutralen technischen Fähigkeit des Mitteilens und des Beschweigens von Gedanken unter Umständen eine moralische Tragweite zufallen kann – eben dadurch, daß Menschen von ihr in unmoralischen Formen Gebrauch machen können. Und die elementarste unmoralische Form dieses Gebrauchs ist die Lüge – also gerade die Form der Kommunikation, die in einem Brennpunkt von Kants Ethik steht. Kants para-anthropologisches Gedankenexperiment dient daher offensichtlich der Möglichkeit, Licht in die anthropologischen Grundlagen der kommunikativen Technik des Lügens zu werfen. Dabei ist es selbstverständlich wichtig zu beachten, daß damit der Ursprung des unmoralischen Charakters der Lüge noch völlig im Dunkeln liegt. Kants Anthropologie erörtert die Grundstruktur der Kommunikation in diesem Kontext lediglich bis zu dem Punkt, an dem die Fähigkeit jedes einzelnen Menschen anfängt, ins Gewicht zu fallen, das Wechselspiel des Mitteilens und des Beschweigens von Gedanken nach seinem autonomen Urteil selbst zu gestalten. Meine These lautet daher: Kants Individual-Anthropologie sieht die elementarste Bedingung der strukturellen praktischen Rationalität in den Formen, in denen jeder einzelne Mensch das Wechselspiel des Mitteilens und des Nicht-Mitteilens, des Beschweigens von Gedanken gestaltet. Die zweite Bedingung der strukturellen praktischen Rationalität, die man berücksichtigen sollte, ist die Kooperativität. Hier haben Günther Patzig und Edward Craig auf anthropologische Aspekte aufmerksam gemacht, die viel besser geeignet sind, die praktische Struktur des Zusammenhanges zwischen Kommunikation und Kooperation plausibel zu machen, als dies innerhalb von Nida-Rümelins Konzeption möglich ist. Patzig hat daran erinnert, »daß Menschen 247 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Wesen [sind], die auf sachgerechte Informationen hinsichtlich der Wirklichkeit, in der sie existieren, angewiesen sind«. 20 Solche existentiell wichtigen Informationen kann jeder einzelne Mensch bekanntlich auf zwei gänzlich verschiedenen Wegen gewinnen. Auf dem einen Weg gewinnt er durch eigene Beobachtungen oder Untersuchungen Erkenntnisse und Wissen der Wirklichkeitsausschnitte, die für ihn in seinen wechselnden Lebenssituationen praktisch wichtig sind. 21 In den Situationen, in denen ihm dieser Weg aus Gründen der Zeitknappheit, aus Mangel an methodisch-technischer Knowhow-Kompetenz oder aus anderen Gründen nicht offen steht, ist jeder einzelne Mensch, wie Edward Craig noch einmal mit guten anthropologischen Gründen ausgearbeitet hat, auf Informationen durch andere Menschen angewiesen. 22 Erst mit Hilfe dieser beiden anthropologischen Argumente kann man die erste Bedingung der strukturellen praktischen Rationalität – die Kommunikativität – in plausibler Weise mit der zweiten Bedingung – der Kooperativität – verflechten: Die Kommunikation von sachgerechten Informationen über die Wirklichkeit, in der Menschen leben, ist dann und nur dann eine Form der Kooperation, wenn der Informationsuchende aus praktischen Gründen auf diese Informationen angewiesen ist; diese kooperative Kommunikation von praktisch wichtigen Informationen ist deswegen eine Bedingung der strukturellen praktischen Rationalität, weil jeder Mensch in jeder Situation auf diese kooperative Kommunikation angewiesen ist und weil daher alle Menschen ständig und wechselseitig – also im gattungsspezifischen und gattungsgeschichtlichen Maßstab – auf diese kommunikative Kooperation angewiesen sind. Damit ist eine erste Zwischenbilanz möglich: 1. Den methodischen Primat bei der Ermittlung der relevanten kommunikativen und kooperativen Strukturen der praktischen Rationalität hat eine individual-anthropologische Theorie, die Günther Patzig, »Wertrelativismus und ärztliche Ethik« (11988), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik, Göttingen 1993, S. 54–72, hier: S. 57. 21 Vgl. hierzu vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005. 22 Vgl. hierzu Edward Craig, Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, Frankfurt/Main 1993, bes. S. 44 ff.; zu den Grenzen der Leistungsfähigkeit von Craigs pragmatischer Methode, den Wissensbegriff zu klären, vgl. allerdings Enskat, Authentisches Wissen, bes. S. 219–70. 20

248 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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2.

3.

auf drei Bedingungen dieser Rationalität aufmerksam macht: auf die dispositionelle kommunikationstechnische Fähigkeit jedes einzelnen Menschen zum Mitteilen und zum Nicht-Mitteilen von Gedanken; auf die chronische existenzielle Angewiesenheit jedes individuellen Menschen auf sachgerechte Informationen über die Wirklichkeit, in der er lebt, und schließlich auf die ebenso chronische Angewiesenheit jedes einzelnen Menschen auf Kommunikation von solchen praktisch wichtigen Informationen durch andere Menschen. Die chronische wechselseitige Angewiesenheit aller Menschen auf sachgerechte Informationen über die Wirklichkeit, in der sie gemeinsam leben, ist die wichtigste praktische conditio humana dafür, daß jeder einzelne Mensch zu Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit verpflichtet ist, also daß alle Menschen zu wechselseitiger Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit verpflichtet sind, also zu kommunikativer und kooperativer Solidarität. Eine elementare anthropologische Analyse der informationellen, der kommunikativen und der kooperativen Bedarfssituation des Menschen erschließt daher nicht nur die situative, sondern auch die situationsinvariante, die strukturelle Moralität der conditio humana – die Solidarität der kommunikativen Kooperation.

V. Bei der dritten von Nida-Rümelin berücksichtigten Bedingung der strukturellen praktischen Rationalität geht es um die Handlungsgründe. Handlungsgründe bilden nun einmal die Minimalbedingung für sämtliche Formen der Rationalität, also auch für die praktische Rationalität und daher sowohl für die konsequentialistische wie für die nicht-konsequentialistische Rationalität. Da Kant das gesamte Programm seiner Praktischen Philosophie am Ziel einer Kritik der praktischen Vernunft orientiert, darf man erwarten, daß man durch seine Ethik auch über die Vernünftigkeit, die Rationalität der moralischen Praxis aufgeklärt wird. Es kommt daher darauf an, die Struktur der nicht-konsequentialistischen Gründe der praktischen Vernunft zu analysieren, die nach Kant zur Moral der kommunikativen und kooperativen Solidarität verpflichten. Nida-Rümelin hat eine konventionelle Semi-Formel für die Handlungsgründe einer Person eingeführt: 249 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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(1) Die Person P hat Grund für die Handlung h. 23 Ich modifiziere diese Semi-Formel aus mehreren Gründen, so daß sie die folgende Form annimmt: (2) Ich handle in der jetzigen und hiesigen Situation vom Typ S sound-so, weil–p. 24 Der erste Grund für diese Modifikation ist, daß die propositionale Konstruktion weil-p des Handlungsgrundes eine flexible syntaktische Möglichkeit bietet, beliebig komplexe Gründe zu substituieren. Denn wenn Kants Ethik über die nicht-konsequentialistische Struktur der Handlungsgründe aufklärt, also über die Rationalitätsform der moralisch-sittlichen Praxis, dann müssen diese Gründe mit Hilfe des SatzFragments weil-p formuliert werden können. Die wichtigsten Komponenten dieser Struktur werden durch den Kategorischen Imperativ der Gesetzestauglichkeit von Maximen beleuchtet. Die schematische Semi-Formel für diese Gründe sieht daher vorläufig so aus: (3) Ich handle in der jetzigen und hiesigen Situation vom Typ S sound-so, weil die Willensmaxime, von der diese Handlungsweise geleitet ist, jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. 25 Diese komprimierte Version bietet aber gleichzeitig auch eine vorzügliche Möglichkeit zu demonstrieren, daß und inwiefern diese kantische Rationalitätsform der Praxis äquivalent ist mit der strukturellen Rationalität sowohl einer individuellen wie einer kollektiven Lebensform, wie sie von Nida-Rümelin umrissen wird: (3.1) Ich handle in der jetzigen und hiesigen Situation vom Typ sound-so, weil die Willensmaxime, von der diese Handlungsweise geleitet ist, jederzeit zugleich als Prinzip einer individuellen und einer kollektiven Lebensform gelten kann.

Vgl. Kritik, a. a. O., S. 41 f. Der weil-Satz läßt offen, ob die Begründung im Sinne von Nida-Rümelin, Kritik. a. a. O., S. 175, nur subjektive oder auch intersubjektive Geltung beansprucht; vgl. hierzu auch unten 25025. 25 Der weil-Satz stellt klar, daß der Kategorische Imperativ ein Mittel bereitstellt, mit dessen Hilfe intersubjektive und nicht bloß subjektive Geltung beansprucht werden kann. 23 24

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Es wird mein Ziel sein, diese Äquivalenz plausibel zu machen. Doch welches ist nun genau die Funktion dieses Kategorischen Imperativs? Kant hat diese Funktion gelegentlich in der lateinischen Schulsprache seiner Zeit charakterisiert. Demnach ist er ein principium der diiudication, 26 also ein Beurteilungsprinzip, kurz: ein Kriterium. Doch was genau kann und soll mit Hilfe dieses Kriteriums beurteilt werden? Man kann sich über das Material, das mit Hilfe dieses Kriteriums beurteilt werden können soll, vollständig orientieren, wenn man den Kategorischen Imperativ in der Fassung benutzt, die Kant ihm in § 7 der Kritik der praktischen Vernunft gegeben hat: »Handle so, daß die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann!«. Das erste Material wird durch den Anfang der Formulierung angedeutet: ›Handle so …‹ : Die Handlungsweisen des Akteurs bilden das erste Material für dies Kriterium. Das zweite Material bilden offensichtlich die Willensmaximen. Das dritte Material ist in gewisser Weise das wichtigste: Das ist die Form der Beziehung zwischen der Handlungsweise und der Willensmaxime: ›Handle so, daß die Maxime deines Willens …‹. In der Kant-Forschung wird die sorgfältige Unterscheidung zwischen diesen drei Materialien der moralischen Beurteilung regelmäßig vernachlässigt. Die gravierendste Konsequenz dieser Vernachlässigung besteht in dem Irrtum, daß Kants Ethik eine sogenannte Gesinnungsethik sei. 27 Doch wenn das richtig wäre, dann müsste dieser Kategorische Imperativ eine andere Form haben: ›Habe nur solche Willensmaximen, daß …‹. Die kriterielle Funktion dieses Kategorischen Imperativs zielt also sowohl auf Handlungsweisen wie auf Willensmaximen, weil sie eine bestimmte Form der Übereinstimmung zwischen Handlungsweisen und Willensmaximen zur Norm der moralischen Beurteilung sowohl von Handlungsweisen wie von Willensmaximen macht. Das Kriterium verlangt daher zunächst Klarheit über die Form der Maxime. Bei Kant ist eine Maxime eine subjektive Regel. 28 Sofern sie subjektiv ist, ist sie individuell, sofern sie eine Regel ist, ist sie allgemein. Ich schlage daher die folgende Version vor. (4) Ich handle in allen Situationen vom Typ S so-und-so.

Vgl. Ak. XXVII, 1, »Moralphilosophie Collins«, S. 274 f. sowie Ak. XXVII, 2.2, »Moralphilosophie Mrongovius«, S. 1428 f. 27 Vgl. Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, Berlin/New York 1990. 28 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, Ak. V, S. 19 ff. 26

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Dies ist zwar offenbar keine Willensmaxime, sondern eine Handlungsmaxime. Dennoch begeht man keinen Fehler, wenn man hier mit einer Handlungsmaxime anfängt. Denn die Handlungsweise eines Akteurs bildet den deskriptiven Inhalt seiner Willensmaxime. Nur durch den deskriptiven Inhalt kann man bestimmen, was der Akteur bzw. der Inhaber der Willensmaxime regelmäßig in Situationen vom Typ S will. Trotzdem kommt es selbstverständlich darauf an, das funktionale Gewicht nicht zu vernachlässigen, das den Willensmaximen im Rahmen von Kants Ethik zufällt. Aber auch im Rahmen eines Vergleichs mit Nida-Rümelins Theorie der praktischen Rationalität fällt den Willensmaximen eine wichtige Rolle zu. Denn sie bilden das funktionale Äquivalent zu den Intentionen in dieser Theorie. Eine Pointe dieser Äquivalenz besteht darin, daß die Willensmaximen, die als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können, nichts anderes als strukturelle Intentionen im Sinne dieser Theorie sind, also Intentionen nicht nur in vorübergehenden, punktuellen Situationen, sondern in jeder individuellen und in jeder kollektiven Lebensform, also in situationsinvarianter Form.

VI. Zu einem Kriterium gehört nicht nur ein Anwendungsbereich, ein Anwendungsmaterial und ein Anwendungsziel, sondern auch ein Anwendungsverfahren. Die Hauptsache im letzten Drittel meines Beitrags wird es daher sein, in acht Schritten dieses Verfahren vorzuführen. Ich werde dieses Verfahren allerdings so weit wie vertretbar von allen philologischen Belegen aus Kants Texten entlasten. Ich habe dieses Verfahren in den vergangenen zehn Jahren zweimal in verschiedenen Kontexten rekonstruiert und mit philologischen Mitteln belegt. 29 Ich werde lediglich zwei Zitate benutzen, um zu demonVgl. Universalität, Spontaneität und Solidarität. Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit, in: Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie, oben S. 95–145, sowie Autonomie und Humanität. Wie Kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren, oben S. 51–94. Eine erheblich vertiefte und verzweigte formale Analyse von Kants Konzeption des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit hat inzwischen Walter Brinkmann, Praktische Notwendigkeit. Eine Formalisierung von Kants kategorischem Imperativ, Paderborn 2003, entwickelt. Das Verdienst dieser Untersuchung liegt vor allem in dem Nachweis, daß Kants Konzeption noch um viele Grade stärker durch eine formal-analytische Prüfung – vor allem mit Hilfe von

29

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strieren, daß Kant ein klares Bewusstsein davon hatte, daß der Lügenmaxime aus fundamental-anthropologischen Gründen eine Schlüsselrolle für die Konzeption der Moral zufällt. Dies Bewußtsein zeigt Kant in einer der letzten von ihm publizierten Schriften, in der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie von 1796. Die anthropologische These lautet: »Die Lüge […] ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur«. 30 Das zweite Zitat – eine unmittelbare Fortsetzung dieser anthropologischen These – demonstriert, daß Kant ein klares Bewußtsein von der Tragweite dieser anthropologischen Diagnose hat. Er spricht »[…] vom Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist«. 31 Beide Diagnosen lassen sich nur plausibel machen, wenn man das Beurteilungsverfahren hinreichend genau durchschaut, das der Kategorische Imperativ der Gesetzestauflichkeit andeutet. Der erste Schritt des Verfahrens besteht daher in der Formulierung des paradigmatischen Anwendungsmaterials, also der Lügenmaxime: (5) Ich lüge in allen Situationen vom Typ S. Der zweite Schritt besteht in der Verallgemeinerung, der Universalisierung dieser Maxime: (6) Jede Person lügt in allen Situationen vom Typ S. Dieser Schritt der Universalisierung spielt spätestens seit dem Buch von Marcus Singer über Verallgemeinerungen in der Ethik auch in den Auseinandersetzungen mit Kants Ethik eine Schlüsselrolle. Leider hat sich in weiten Kreisen der Irrtum eingenistet, als wenn die Universalisierbarkeit einer Maxime das entscheidende Kriterium ihrer moralischen Richtigkeit auch nur sein könnte. Doch die Universalisierung einer Maxime ist eine banale formallogische Operation, die nicht den geringsten Aufschluß über das moralische Format einer modallogischen Mitteln – belastbar ist als es dieser Konzeption bislang in der Regel zugetraut worden ist. Die Skepsis, mit der Brinkmann die Tragfähigkeit dieser Konzeption am Ende gleichwohl selbst bedenkt (vgl. S. 326 ff.), ist allerdings dem Umstand zuzuschreiben, daß er verkannt hat, daß die Moral im Rahmen von Kants Ethik auch in einer spezifisch anthropologischen Dimension und nicht nur in der Formalstruktur dieses Kategorischen Imperativs verankert ist. 30 Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: Ak. VIII, S. 411–22, hier: S. 422. 31 Ebd.

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Maxime bringen kann. Außerdem vernachlässigt die Fixierung auf die Universalisierung den dritten Schritt im Verfahren der Maximen-Beurteilung – die Transformation der Maxime in ein Gesetz, also ihre Nomologisierung. Dieser Schritt erfordert die Berücksichtigung eines deontischen Modalfaktors, des Faktors der deontischen Notwendigkeit, also der Verpflichtung: (7) Jede Person ist verpflichtet, in Situationen vom Typ S zu lügen. Mit diesen drei Schritten ist jedoch das prozedurale Potential noch nicht ganz ausgeschöpft, das dieser Kategorische Imperativ zur Verfügung stellt. Man darf nicht übersehen, daß sich dieser Imperativ alleine wegen seiner grammatischen Form an jeden individuellen Akteur und Maximeninhaber wendet. Damit wird aber das Verfahren der Universalisierung und der Nomologisierung als ein Verfahren der individuellen moralischen Selbstprüfung eingeführt. Das ist für das Verfahren deswegen wichtig, weil damit vom Akteur und Maximeninhaber gefordert wird, daß er im Verfahren einen reflexiven Schritt berücksichtigt, durch den er sich selbst mit einer von den Personen identifiziert, die dem praktischen Gesetz, also der Verpflichtung unterworfen sind, die durch die Nomologisierung der Maxime hervorgebracht wird. Die Formel für dies reflexive Bewußtsein des Maximeninhabers und Akteurs von seiner Identität mit einer von den gesetzlich verpflichteten Personen ist ganz einfach: (8) Ich bin verpflichtet, in allen Situationen vom Typ S zu lügen. Mit diesem Schritt ist die eine Komponente der Struktur der praktischen Rationalität identifiziert: die Reflexivität des praktischen Bewußtseins, das ein rationaler Akteur und Maximeninhaber von seiner Verpflichtung zur Gemeinsamkeit mit allen Personen haben muß, mit denen er eine gemeinsame praktische Lebenssituation teilt. Erst nach diesem vierten Schritt beginnt die eigentliche Prüfung der Maxime, also die Selbstprüfung des Maximeninhabers und Akteurs. Kant hat den springenden Punkt dieser Selbstprüfung immer wieder einmal durch den Gedanken markiert, daß man sich durch eine unmoralische Maxime in einen Widerspruch verstricke. Dieser Widerspruch soll also das entscheidende Indiz für den nicht-rationalen Charakter einer Maxime sein. Doch wie kann eine formallogische Eigenschaft ein Indiz für eine moralisch relevante Eigenschaft sein? Und wie sieht dieser Widerspruch in formaler Hinsicht genau aus und wie sieht er im Blick auf die Lügenmaxime konkret aus? 254 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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VII. Aus den wenigen, aber aufschlussreichen kasuistischen Erörterungen Kants 32 läßt sich dieser Widerspruch unschwer genau und konkret herausdestillieren. Bei dem einen Glied dieses Widerspruchs handelt es sich um die charakteristischen Erfolgsbedingungen der Lügenmaxime: (9)

Es gibt jemand y, der darauf vertraut, daß ich wahrhaftig bin, indem ich an die Adresse von y mitteile, daß-p, obwohl ich lüge. 33

Bei dem anderen Glied des Widerspruchs handelt es sich um die charakteristische Konsequenz aus der gesetzlichen Gültigkeit und allgemeinen Respektierung des Lügengesetzes: (10) Es gibt nicht jemand y, der darauf vertraut, daß ich wahrhaftig bin, wenn ich an die Adresse von y mitteile, daß-p, gleichgültig, ob ich lüge oder ob ich nicht lüge. Offensichtlich besteht ein einfacher und klarer Widerspruch zwischen der charakteristischen Erfolgsbedingung der Lügenmaxime und der charakteristischen Konsequenz aus der Befolgung ihres gesetzlichen Transformationsprodukts. Es ist dieser Widerspruch, den Kant im Auge hat, wenn er davon spricht, daß eine Maxime sich durch ihn selbst zerstört – gleichgültig, ob es eine Willens- oder eine Handlungsmaxime ist. Es liegt aber auch auf der Hand, daß dieser Widerspruch an sich und als solcher keinerlei moralische Valenz hat. Das hat die Kant-Forschung in der Regel auch ganz richtig gesehen. Der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit und das rein formale Verfahren zur Aufdeckung eines solchen formalen Widerspruchs gehört daher in eine kognitive Kompetenz, die Kant schon in den 70er Jahren ganz allgemein als den »formalism der reinen Vernunft« 34 charakterisiert. Speziell der Kategorische Imperativ ist zwar »das Prinzip der Sittlichkeit«, aber auch nur »das logische Prinzip«. 35 Günther Patzig trifft den springenden Punkt insofern durchaus

Vgl. bes. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ak. IV, S. 402 ff., 421 ff. Dies ist die Unterstellung, Präsupposition z. B. des Krämers, der seinen ›unerfahrenen Käufer überteuert‹, vgl. a. a. O., S. 397. 34 Reflexionen zur Metaphysik, Ak. XVIII, S. 40, R 4953. 35 Ak. XXIX, 1.1, »Moral Mrongovius II«, S. 621, Hervorhebung R. E. 32 33

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genau, wenn er im Blick auf die Widerspruchsträchtigkeit der Lügenmaxime davon spricht, daß es »[…] eines vernünftigen Wesens [unwürdig]« 36 ist, sich mit einem Widerspruch abzufinden. Der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit sinnt daher jedem Adressaten in einem präzisierbaren Sinne eine kategorische Verpflichtung zur praktischen Rationalität an. Hat man sich daher die genaue und konkrete Struktur eines solchen Widerspruchs erst einmal klar gemacht, dann kann man diesen Kategorischen Imperativ auch entsprechend konkreter formulieren: Handle so, daß du dich durch deine Willensmaxime nicht in einen Widerspruch zwischen ihrer charakteristischen praktischen Erfolgsbedingung und den charakteristischen praktischen Konsequenzen ihrer gesetzesförmigen Gültigkeit verstrickst!. Es wäre jedoch ein gravierendes systematisches Missverständnis dieses ›Formalismus der praktischen Vernunft‹, wenn man ihn dafür tadeln würde, daß er keinerlei moralischen Gehalt hat. Der springende Punkt dieser formalen praktischen Rationalität besteht an sich ausschließlich darin, daß sie Handlungsweisen und Maximen gänzlich unabhängig von konsequentialistischen Erwägungen zu beurteilen erlaubt: Eine Handlungsweise und eine Maxime ist schon dann verboten, wenn sie in diese inkonsistente praktische Struktur verstrickt ist; und sie sind dann erlaubt, wenn sie in demselben Sinne praktisch konsistent sind. Der Kategorische Imperativ der Gesetzestauglichkeit ist daher nicht nur ein formales nicht-konsequentialistisches Kriterium der praktischen Rationalität bzw. nicht-Rationalität von Maximen und Handlungsweisen; er ist daher unmittelbar auch ein Kriterium einer strukturellen Lebensform und einer strukturellen Gesellschaftsform, also einer strukturellen individuellen und einer strukturellen kollektiven Lebensform im Sinne von Nida-Rümelin. Denn praktisch konsistente Maximen und Handlungsweisen müssen sowohl jede rationale individuelle wie jede rationale kollektive Lebensform prägen. 37 Im Sinne von Nida-Rümelins Theorie der strukturellen Rationalität kann dieser Kategorische Imperativ daher sogar so modifiziert werden, daß er in seiner modifizierten Gestalt zum Imperativ zugunsten sowohl einer individuellen wie einer kollektiven Günther Patzig, »Die Begründbarkeit moralischer Forderungen« (11967), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44–71, hier: S. 67. 37 Vgl. hierzu auch unten S. 259 f. 36

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Lebensform wird: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung, also einer Gesetzgebung sowohl für eine individuelle wie für eine kollektive Lebensform gelten kann!. Doch obwohl dieser Kategorische Imperativ an sich und als solcher keine moralische Valenz hat – also weder einen moralischen Gehalt hat noch eine Quelle der Moral ist –, hat er doch eine extrem starke Tragweite für die Moral. Die Quelle der Moral liegt vielmehr, wie die fundamental-anthropologischen Reflexionen und Diagnosen von Kant, Patzig und Craig in Erinnerung rufen, in der conditio humana, also in dem Umstand, daß jeder Mensch chronisch auf die wahrhaftige Kommunikation von sachgemäßen Informationen durch andere Menschen über die Wirklichkeit, in der sie gemeinsam leben, angewiesen ist. Der zentrale moralische Gehalt dieses Kategorischen Imperativs findet sich daher ausschließlich auf dem Feld seiner Anwendung auf die Kommunikation und auf die von ihnen abhängigen kooperativen Strukturen des Wollens und des Handelns individueller Personen in der societas humana und deswegen in paradigmatischer Weise in der Anwendung auf die Lügenmaxime – genauer: in den berechtigten und in den unberechtigten wechselseitigen Unterstellungen von kommunikativem Vertrauen bzw. kommunikativer Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Aufrichtigkeit. Der Kategorische Imperativ ist deswegen ein formales nicht-konsequentialistisches Kriterium der Rationalität aller Handlungsweisen und Maximen, die im Sinne dieser conditio humana die Verpflichtung der Menschen zur Wahrhaftigkeitssolidarität respektieren und praktizieren.

VIII. Damit hat man alle Voraussetzungen gesammelt, die man braucht, um plausibel machen zu können, daß ein Wille und eine Praxis, die im Sinne von Kants Konzeption moralisch und rational sind, im Sinne von Nida-Rümelins Konzeption struturell rational sind. Zunächst erfüllt die Willensmaxime der Wahrhaftigkeit die vierte Bedingung, die für strukturelle Rationalität notwendig ist, weil sie eine strukturelle Intention ist. 38 Denn sie ist eine strukturelle Intention, weil das 38

Vgl. Nida-Rümelin, Rationalität, bes. S. 119–35.

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Ziel, wahrhaftig zu sein, angesichts der conditio humana und im Licht des Rationalitätskriteriums des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit ein Ziel ist, an dem sowohl jede ganze individuelle Lebensform wie jede ganze kollektive Lebensform orientiert sein muß – andernfalls haben sie keine formale Konsistenz und keine moralische Kohärenz. Es ist kein Zufall, daß an der Charakterisierung der strukturellen Intention in scheinbar ganz beiläufiger Weise der Gedanke der Kohärenz beteiligt ist. Auch Nida-Rümelin macht in seiner Konzeption der strukturellen Intention in ganz beiläufiger Weise vom Gedanken der Kohärenz Gebrauch, 39 obwohl die Kohärenz erst im letzten Abschnitt als eine besondere Bedingung der strukturellen Rationalität thematisch ist. 40 Dennoch ist die beiläufige Berücksichtigung des Gedankens der Kohärenz bei der Behandlung der strukturellen Intention konsequent. Denn es ist die Kohärenz, der in Nida-Rümelins Theorie eine wichtige strukturbildende Funktion zufällt. Danach ist eine punktuelle, situative Handlungsintention dann strukturell, wenn sie und die intendierte Handlung kohärent mit einer anderen Handlungsintention ist, deren Ziel über das Ziel der punktuell-situativen Handlungsintention hinausgreift, aber nur mit Hilfe der Praktifizierung dieser Sub-Intention erreicht werden kann. 41 Es liegt auf der Hand, daß dies Kohärenzkriterium extrem relativistisch ist. 42 Denn die Unterscheidung zwischen Sub-Intentionen und Super-Intentionen bzw. zwischen den entsprechenden SubHandlungen und Super-Handlungen kann fast beliebig iteriert werden: Fast zu jeder Sub-Handlung bzw. Sub-Intention gibt es mindestens eine noch mikroskopischere Sub-Handlung bzw. Sub-Intention und fast zu jeder Super-Handlung bzw. Super-Intention gibt es mindestens eine noch teleskopischere Super-Handlung bzw. Super-Intention. Doch Nida-Rümelin macht noch von einem zweiten strukturbildenden Kohärenzkriteriums Gebrauch, von einem Kriterium der Situationsinvarianz. Dies Kriterium ist ein wenig versteckt unter dem Namen der Intertemporalität. 43 Doch da die Temporalität zu den definierenden Merkmalen der Situativität gehört, ist es trivial,

39 40 41 42 43

Vgl. a. a. O., S. 128–29, 132 f. Vgl. a. a. O., S. 151–71. Vgl. a. a. O., S. 125 ff. Nida-Rümelin sieht diesen Relativismus selbst, vgl. S. 157. Vgl. a. a. O., S. 56 f., 59 ff.

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daß die Intertemporalität alle Komponenten von Situationen umfasst, die invariant gegenüber den temporalen Unterschieden zwischen Situationen sind. Offensichtlich sind alle diejenigen Handlungsweisen und Intentionen kohärent, die intertemporär konstant sind, also invariant gegenüber den zeitlichen Unterschieden zwischen den Situationen sind, in denen sie aktualisiert werden. Es ist dies temporale Kriterium der Situationsinvarianz, in dessen Licht konsistente und moralische Maximen und Handlungsweisen im Sinne Kants strukturell rationale Lebensformen und Gesellschaftsformen im Sinne von Nida-Rümelin prägen. Denn konsistente und moralische Maximen und Handlungsweisen – also wahrhaftige Maximen und Handlungsweisen – sind maximal situationsinvariant: 44 Sie stempeln sowohl das ganze Leben einer individuellen Person wie das ganze Leben einer Gesellschaft – einschließlich der societas humana – zu einer strukturell rationalen Lebensform. Doch die Methode der moralischen Selbstprüfung eines Maximeninhabers mit Hilfe des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit ist mit der Herauspräparierung des Widerspruchs zwischen (9) und (10) noch nicht wirklich abgeschlossen. Das Potential eines ›principium der diiudication‹, also eines Beurteilungsprinzips oder Kriteriums ist erst dann vollständig ausgeschöpft, wenn der seine Maxime prüfende Akteur zu einer Begründung im Sinne der weilFormeln (2)–(3.1) gelangt ist – sei es die Begründung der Verwerfung oder die der Akzeptierung seiner jeweiligen Maxime. Es ist in diesem Zusammenhang ein überaus schätzenswerter Vorzug von NidaRümelins Aufmerksamkeit auf den strukturellen Unterschied zwischen der individuellen und der kollektiven Lebensform, daß er sich so gut eignet, die beiden Dimensionen trennscharf zu berücksichtigen, in denen das Kriterium des Kategorischen Imperativs eine Tragweite für das Begründungsproblem zeigt. Denn die Begründung der Verwerfung der Lügenmaxime nimmt dann die Form an: (11) Ich lüge niemals, weil der Widerspruch zwischen (9) und (10) zeigt, daß die Lebensform, in der gesetzlich normierte Unwahrhaftigkeit intendiert und praktiziert wird, von strukturell irrationaler Inkohärenz geprägt ist. 44 Dabei handelt es sich in Kants Kontext allerdings um ein qualifiziertes Maximum, weil es einen einzigartigen Situationstypus gibt, in dem die Unwahrhaftigkeit aus rechtlich gehegten Gründen moralischer Notwehr erlaubt ist; vgl. hierzu Notwehr, oben, bes. S. 174–86.

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Die Begründung der Akzeptierung der Maxime der Wahrhaftigkeit (Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit) nimmt je nach der Individualität bzw. der Kollektivität der Lebensform eine andere Form an: (12) Ich intendiere und praktiziere stets wahrhaftige (aufrichtige, ehrliche, vertrauenswürdige) Handlungsweisen, weil nur so die individuelle Lebensform möglich ist, die von struktureller rationaler Kohärenz geprägt ist. (13) Jeder sollte stets wahrhaftige (aufrichtige, ehrliche, vertrauenswürdige) Handlungsweisen intendieren und praktizieren, weil nur so die kollektive Lebensform möglich ist, die von struktureller rationaler Kohärenz geprägt ist.

IX. Eine letzte Klärung steht noch aus. Es handelt sich um Kants halbbiblische These vom ›Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist‹ (vgl. oben S. 113). Damit gibt Kant offenbar indirekt zu verstehen, daß, wenn die unmoralische und die nicht-rationale Struktur der Lüge erst einmal geklärt ist, dann auch die Struktur aller anderen unmoralischen und nicht-rationalen Handlungsweisen und Maximen geklärt werden kann. Diese Aufgabe kann mit Hilfe der Voraussetzungen, die wir bisher gesammelt haben, viel leichter gelöst werden als es zunächst den Anschein haben mag. Das wichtigste Hilfsmittel bietet hier der Rekurs auf die Erfolgsbedingung einer Handlungsweise bzw. einer Maxime. Der begriffliche Klartext zu Kants halb-biblischer These lautet nämlich: Alle diejenigen Handlungsweisen sind unmoralisch und nicht-rational, zu deren charakteristischen Erfolgsbedingungen eine Lüge oder irgendeine andere täuschungsstrategische Handlungsweise gehört. Man kann sich die außerordentliche Tragweite dieser Bedingung leicht klarmachen, wenn man die Systeme des Zivilrechts und des Strafrechts berücksichtigt, die zu jedem zivilisierten Gemeinwesen gehören. Denn alle Handlungsweisen, die in diesen Rechtssystemen von Sanktionen bedroht sind, haben Lügen oder andere täuschungsstrategische Handlungsweisen zu ihrer Erfolgsbedingung. Der Betrug ist nur die offenkundigste Gestalt einer solchen Handlungsweise. Aber jedes Eigentumsdelikt, jeder Mord und jede andere intendierte 260 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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oder billigend in Kauf genommene Schädigung eines Menschen oder eines Eigentums eines anderen Menschen hat eine Lüge oder eine andere täuschungsstrategische Handlungsweise zur Erfolgsbedingung. Überdies unterliegen alle im Mittelpunkt des Bürgerlichen Gesetzbuchs stehenden Normen mündlicher und schriftlicher Verkehrsformen in der Gütersphäre der übergeordneten negativen Norm, daß die Abmachungen der Partner keine täuschungsstrategischen Elemente enthalten oder täuschungsstrategische Maximen wenigstens eines der Partner als Erfolgsbedingungen voraussetzen. Die mehrfache Berufung auf Treu und Glauben (BGB 1 157, 162, 320, 815), besonders in Verbindung mit der Berufung auf die »Rücksicht auf die Verkehrssitte« (1 242) macht in unmißverständlicher Weise eine moralische Obernorm des wechselseitigen Vertrauens in die von täuschungsstrategischen Maximen unabhängigen Maximen der Partner geltend. Der unmoralische und nicht-rationale Charakter der Lüge und jeder anderen täuschungsstrategischen Handlungsweise vererbt sich gleichsam auf alle Handlungsweisen, die eine Lüge oder eine andere täuschungsstrategische Handlungsweise zu ihrer Erfolgsbedingung haben. Alle derartigen Handlungsweisen sind im Licht des Kategorischen Imperativs der Gesetzestauglichkeit und der conditio humana verboten, weil sie sowohl strukturell nicht-rational und unmoralisch sind. Alle wahrhaftigen Handlungsweisen sind in demselben Licht erlaubt, weil sie strukturell rational und moralisch sind. Das ist der begriffliche Klartext zu Kants beiden halb-metaphorischen und halbbiblischen Thesen, daß die Lüge der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur sei und daß durch die Lüge alles Böse in die Welt gekommen sei. Wenn alle diese Überlegungen richtig sind, dann ist die Einschätzung von Nida-Rümelin allerdings falsch, daß die Arbeit an Kants Ethik in eine Regression führe. 45 Dann zeigt sich vielmehr, daß und inwiefern Kants Ethik ein Progressionspotential für alle konsequentialistischen Ethiken und für fast alle nicht-konsequentialistischen Ethiken bereithält.

45

Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. V.

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I. As is well known, Kant characterizes freedom under many different aspects. One of the important questions guiding the judgment about the internal make-up of his theory of freedom is whether all these aspects and characterizations belong to a coherent and well-founded conception or not. In what follows I shall first examine one of the most prominent of these aspects and characterizations. The guiding aspects and the corresponding characterizations belong, of course, to the practical dimension. Nevertheless, Kant develops a preliminary formal analysis of the concept of freedom in the Transcendental Dialectic of the Critique of Pure Reason, splitting this concept into a negative and a positive component. According to the negative component, to be free implies that a free being is not dependent on any sensible conditions (3:562, 585, 831). 1 This negative component corresponds to a certain part of our everyday-grammar for speaking about freedom: when we say a person is free of something (e. g., of a burden, of guilt, of deceases, etc.). Correspondingly, the positive component is in harmony with a certain other part of our everyday-grammar for speaking about freedom: when we say a person is free for something or free to do something or free to do something in a certain way (cf. 3:562, 713). As Kant develops this formal analysis of the practical concept of freedom in a strictly theoretical context, he argues with emphasis that, with the help of theoretical means alone, deciding whether freedom is a fact or an illusion is not possible at all. Within the limits of English quotations of Kant’s words are my translations according to the text of the Akademie-Ausgabe. The bibliographical references follow – otherwise than in the German written articles in this volume – the actual conventions in English and American works on Kant’s philosophy.

1

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the theoretical dimension the concept of freedom is condemned to stay, as he puts it, purely problematic (3:830–1). Consequently, this problematic status is the systematic starting point for his quest to find out how we can recognize or discover that freedom is a fact and neither a mere problem nor a mere illusion. The result of Kant’s search is well known. In the end he is convinced that he has found the only reliable cognitive medium for the discovery of the fact of freedom. He circumscribes this medium in the first footnote of the Preface to the Critique of the Practical Reason, as the reason for recognizing the fact of freedom: in the Latin language of the scholarly tradition of his time he speaks of the ratio cognoscendi of freedom (5:4n). This medium for recognizing the fact of freedom he identifies with that categorical imperative which is formulated in § 7 of the Second Critique. In this essay I will argue partially that this fundamental, freedom-manifesting function of this leading categorical imperative 2 depends on another, a more specific cognitive function of this imperative, one that Kant occasionally, in his lectures on ethics, characterizes as having the function of a »principium der diiudication« (cf. 27, 2.2:1428), a principle of judgment (i. e., as being a criterion); of course, as is well known, this is the leading criterion of morality. Nevertheless, this cognitive medium of freedom is even more complex. Not only is this categorical imperative (i. e., the leading principle of judgment of morality) the reason for recognizing the fact of freedom. As Kant argues in the same footnote (5:4n), freedom is, conversely, the ratio essendi of the leading categorical imperative (i. e., the reason for this categorical imperative to be the leading principle of our moral judgments). Therefore, I am going to argue that freedom, according to Kant, is nothing else than (1) the cognitive faculty to judge and to recognize the moral character of maxims and of the corresponding maxim-conform ways of acting, and at the same 2 [Throughout this essay I will speak, for convenience, of the leading categorical imperative to highlight its leading role among all other categorical imperatives of Kant’s Ethic, especially in contrast to the important categorical imperative in the Groundwork of the Metaphysic of Morals: »So act as to treat humanity, whether in thine own person or in that of any other, in every case as an end withal, never as means only« (4: 429). Concerning the question in which sense the content of this categorical imperative supersedes the content of the leading categorical imperative though it depends on it, cf. Zum rechtlichen Schutz moralischer Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft?, oben bes. S. 169–72.]

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time, (2) the practical faculty to act according to such judgments and recognitions.

II. When we concentrate on the cognitive functions of this categorical imperative we should, of course, never neglect the crucial fact that these functions serve exclusively within a strictly practical context. This implies that these cognitive functions can be exercised exclusively in favor of two practical insights: that freedom is a fact and neither a mere problem nor a mere illusion; and what counts as a moral or a morally-consistent character. In the practical sense freedom is, according to Kant, primarily freedom of the will, because the will has actions or ways of acting as its primary objects or contents. In the same practical sense, but along the lines of the second insight, he characterizes freedom as a practical form of causality. That means that a being that has a free will can, by the very help of his or her free will – and only by this help – be the cause of a special type of practical effects, namely of the moral character of the maxims of the will (i. e., more precisely, of the object or content of the maxims of the will), and this means (even more fargoing) the cause of the moral character of the ways of acting, for these actually are the objects or contents of the maxims of the will. 3 But, as this content of the maxims of the free will is identical with ways of acting, the most important practical effect that can be caused by the use of the free will is the moral character of ways of acting, not only of the maxims as such or of the will as such. To analyze Kant’s concept of a cause in this context is not superfluous. This can be done in a very simple way if we pay attention to the concrete paradigmatic cases of causality that Kant presents in the context of his theoretical philosophy. One of these examples is the causal case of the sun melting a portion of wax. Of course, Kant knew 3 It was an extremely important insight of W. D. Ross, Kant’s Ethical Theory (Oxford: Clarendon Press, 1954), 31–3, that the categorical imperative is a criterion to differentiate not different actions, but different characters of one and the same action (i. e., its moral and its non-moral or immoral characters). The neglect of this point is one of the most important sources of deeply misunderstanding Kant’s ethical theory as a theory of freedom of choice (Freiheit der Willkür, Wahlfreiheit) between alternative actions – beginning with Fichte, Schelling, and Hegel.

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well that a hot stove also melts a portion of wax (cf. 3:793). But such comparisons of simple causal cases can show that, according to Kant, a cause has a definite conditional status and function: it is a sufficient condition for what is effected by it. 4 In the following I shall therefore adopt the premise that a being with a free will that makes use of its free will is, by this very use, a cause in the sense of being the sufficient condition of the moral character of such ways of acting. At this point, I can state the thesis I will defend: freedom consists, according to Kant, primarily in the cognitive faculty to judge and to recognize the moral character of maxims and of maxim-conform ways of acting, and, secondarily, in the practical faculty of the so-called causality of the free will, to exercise moral and morallyconsistent ways of acting. To this complex – cognitive as well as practical – faculty Kant has given the name autonomy. But how does the crucial cognitive procedure of this autonomous practical judgment and recognition really work, as guided by the leading categorical imperative?

III. If we want to reconstruct the single steps of this procedure in detail we should keep in mind one item that is decisive for the freedommanifesting role of the leading categorical imperative. This item lies in the simple fact that this imperative is intrinsically attached to a procedure of judging and recognizing the moral or the morally-consistent character of maxims and of ways of acting, a procedure that can and must be controlled exclusively under formal aspects. The formal character of this procedure is the most important manifestation of what Kant occasionally calls the »formalism of reason« (cf. 18:40, R 4953). For this reason, of course, he characterizes the leading categorical imperative not only as a principle of judgment, but also as »The logical principle [of morality]« (cf. 29.1:621). But the (logical) [Here I adopt, as I do since long, the elementary, but far-reaching formal analysis of the concept of cause as sufficient condition by Georg Henrik von Wright, »On the Logic and Epistemology of the Causal Relation«, in: E. Sosa (Hg.), Causation and Conditionals, Oxford 1975, p. 95–113, esp. p. 96–97. Concerning the importance of von Wright’s analysis for interpreting and judging different systematical parts of Kant’s theory of experience cf. my book Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil, Göttingen 2015, esp. p. 46 f., 224363, 26028.]

4

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formalism of this procedure is decisive for the freedom-manifesting function of the imperative that guides this procedure in a double sense, according to the negative and positive components of the concept of freedom. According to the negative component, the formalism of the procedure guarantees that itself and its criteria are totally independent of any material, not to mention sensible elements; according to the positive component, this formalism guarantees that the judgement and the recognition of the moral or the morally-consistent character of a maxim or of a way of acting can be gained exclusively by formal criteria. This implies, from the very beginning, that freedom as autonomy includes a very special type of cognitive faculty: it is primarily the faculty to judge and to recognize the moral or the morally-consistent character of maxims or of ways of acting under exclusively formal aspects and criteria, and, therefore, totally independently of any material aspects and criteria. Therefore, in his theory of the leading categorical imperative Kant reconstructs the formal structure of the cognitive acts that enable an autonomous (i. e., a reason-guided) being to judge and recognize spontaneously (i. e., without having reconstructed this formal structure) his morally-consistent maxims or ways of acting.

IV. We start our analysis of the procedure best in the conventional way by taking verbally Kant’s classical formulation of the categorical imperative in § 7 of the Critique of Practical Reason: »Act in such a way that the maxim of your will can be valid always at the same time as principle of a universal legislation« (cf. 5:30). The first formal step of the judging procedure guided by this principle of judgment (i. e., by this criterion) concerns the formal structure of a maxim. A maxim is characterized by Kant as a subjective principle (cf. 5:19). The appropriate linguistic expression of the subjective form of such a principle is, of course, the first person pronoun (cf. e. g., 4:402, 403, 422, 423, 429, 438). The complete linguistic expression of the form of a maxim of the will, together with the intended way of acting, seems to be this: (0) I intend to act so-and-so. But, if we look closely to the concrete cases of such maxims, discussed by Kant, we can find that the formula (0) is not quite complete. Kant’s 266 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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discussions show that maxims have a structural appropriateness to certain types of practical situations in which they are exercised. Therefore, we should represent this situative type-appropriateness in the complete linguistic representation of the form of the maxim. I propose the following representation: (1) I intend to act so-and-so in situations of type S*. The next step in our analysis concerns a procedural aspect that has clearly dominated discussions for many decades – the generalization or universalization of a maxim. Generalization or universalization is a simple logical operation whereby an individual element of the logical material is transformed into a general or universal element. In the maxim the individual element is represented by the first person pronoun, so that the generalization or universalization transforms the maxim into a general or universal rule of the will: (2) Everybody intends to act so-and-so in situations of type S*. A very simple look should clearly show that this logical operation of generalization or universalization, or the result of this operation, is not of the slightest direct relevance for the moral character of a maxim or of a way of acting. The only relevance of this step lies in the fact that it makes manifest, by purely formal means, two further components of that dimension of freedom corresponding to the negative and positive components of the concept of freedom. By the simple formal operation of generalization or universalization, the subject of the maxim shows that he or she is not, so to say, a prisoner of an egocentric or even solipsistic perspective, but is free for a universal perspective on all other possible subjects of his or her practical maxims. Nevertheless, even under purely procedural and formalistic aspects, this operation is by far not the last formal operation in the whole procedure of judging and recognizing. This can be seen by a simple look on Kant’s formulation of the leading categorical imperative. For what is missing up to now is the step Kant points to by the condition that the maxim must be able to serve as a principle of general or universal legislation. I will give the name of nomologization to the corresponding formal step within the procedure. Before explaining the linguistic expression of this nomologization I propose a formal simplification. We can see from the whole procedure that we can neglect up to the very end the volitional or intentional component of the maxim, because to be obliged to have a 267 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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certain maxim means to be obliged to the maxim-conform way of acting. Therefore, we can concentrate the analysis on the practical content of the will resp. of the maxim, i. e., on the way of acting. With this simplification in mind the nomologization has to take account of the fact that a general or universal legislation in the practical field is, for Kant, a general or universal obligation. Therefore, the formula as revised in favour of the result of the nomologization-act is this: (3) Everybody should be / must be / is obliged to act so-and-so in situations of type S*. Nevertheless, closer inspection can show, at once, that this step of nomologization or universal obligation is only the first half of a double act. This double act must be completed by the act Kant has in mind when he speaks so emphatically of autonomy or Selbstgesetzgebung (cf. 4:431, 434 f.) (i. e., of self-legislation and, by that, of self-obligation). Our closer inspection can show that this act, as far as its formal structure is concerned, is a reflexive, purely cognitive act whereby the original subject of the maxim recognizes and acknowledges him/herself as one individual subject among all of those subjects whom he/ she conceives as subjects of the universal obligation exercised by the preceding act (3) of the procedure of judging and recognizing. The linguistic expression of this reflexive act of recognition and acknowledgement, therefore, has an egocentric form: (4) I should be / must be / am obliged to act so-and-so in situations of type S*. I cannot stress strongly enough that this act is exclusively a purely cognitive act of recognition and acknowledgement; it is a subtile cognitive act, because it is a reflexive act of self-recognition and selfacknowledgement and at the same time an act of practical insight because the subject of the maxim recognizes and acknowledges him/ herself as subject of a nomological self-obligation to act in the way characterized by the content of his/her maxim. 5 Of course, this very This reflexive act whereby the subject of a maxim recognizes and acknowledges himself/herself as one of all nomologically obliged subjects of the same maxim is evidently presupposed by the non-reflexive social act of acknowledgement that Hegel treats as basic in the Phenomenology of Mind, section B, a treatment that is partly adopted by contemporary Practical Philosophy, cf. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes (Freiburg/München: Alber Verlag, 1979), esp. 131–45, and Axel Honneth,

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reflexive character of the nomological self-obligation makes practical autonomy a true auto-nomy and a true auto-nomy. But I cannot less strongly stress that this reflexive act has the form of a multiple identification, though not simply of the twofold identification in the sense that (1) the subject of the maxim identifies him/herself with (2) one of the passive subjects of a nomological obligation. Within the whole judging-procedure of this principle of judgement the subject of the maxim identifies him/herself with (3) one of the addresses of the categorical imperative and with (4) the subject of the universalization or generalization and with (5) the subject of the nomologization. Even more than that, by the very act of executing this formal procedure of self-judgment, the subject of the maxim identifies him/herself also with (6) the very subject of this whole procedure. Therefore, it becomes clear, by a closer look, that this multiple, sixfold reflexive identification is the formal substructure of the practical The Unity of Human Personhood. This unity is evidently a unity of a special multiplicity – the unity of being one and the same subject of many different cognitive, but practically relevant acts, as well as the unity of being conscious to be one and the same subject of this multiplicity of these acts. But this unity of being conscious of this identity is achieved by these reflexive acts of identification.

V. With this reflexive cognitive act of self-obligation – and this means: with this autonomous act – by the original subject of the maxim, we have come to the end of the first half of the procedure of judging and recognizing. Quite clearly, this part is totally devoid of any moralspecific components, aspects, and criteria. We have to ask, therefore, how such specific elements can be brought into this procedure by Kant. To answer this question I want to draw attention to two pasKampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag, 1992), esp. 274. The reflexive act of recognition and acknowledgement is conditional for not confusing one’s ontological status as a practically autonomous being with being an adopter of one (or more than one) socially created and acknowledge role; the social act of acknowledgement is conditional only for acting with social success, but not for being an autonomous subject (i. e., an autonomously judging subject).

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sages in Kant’s writings that are generally neglected, although they contain important material for such an answer, because they inform us about a human-specific, a specific anthropological aspect, of Kant’s conception of morality. The first passage is from his Anthropology from a Pragmatic Point of View. Kant’s reflection in this passage is a type of so-called thought-experiment and has the logical form of a counterfactual. Kant presupposes »that on some other planet there might exist rational beings, who could not think in other ways than aloud, i. e., in waking as well as in dreaming, be they in company or alone, they might not be able to have thoughts which they did not utter at the same time. What curious kind of reciprocal behavior, different from our human species, would this generate?« (cf. 7:332).

The most important answer to Kant’s own question, especially in an ethical context, would be: such beings would not be able, by their very genetic nature, to lie. But Kant here does not argue in an ethical, but in a morally neutral anthropological context. Therefore, we have to formulate the answer to Kant’s question in a moral-indifferent way, such as the following: Such beings would not be able, by their very genetic nature, to hold silently for true the contrary of what they assert aloud to be true in communication. But what is decisive in this anthropological context is not Kant’s para-anthropological thought-experiment, but its central anthropological presupposition: all members of the human species are endowed, by their very genetic nature, with the dispositional faculty to deceive one another by uttering the contrary of what they silently believe to be true. This faculty of deceiving is, as such, a purely technical faculty for deceitful communicative behavior. Kant himself discusses the whole point explicitly and exclusively under behavioristic aspects. This theory of a purely technical faculty and a purely communicative technique is totally indifferent, morally. Therefore, what is decisive in this context is the fact that Kant’s ethical theory of the central moral relevance of lying has a morally-indifferent presupposition in his anthropology of the human-specific faculties. I want to show that it is possible to build a bridge from this specific anthropological correlate to a specifically Kantian ethics, so that the latter no longer gives the impression of having an extremely narrow field of validity and application.

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VI. The most important missing elements of the bridge we are looking for can be taken from the anthropological reflections of Günter Patzig and Edward Craig. Patzig has worked for nearly four decades on problems of ethics and of the so-called applied ethics, especially on Kant’s ethics and on utilitarian ethics. By the anthropological reflection I have in mind, Patzig calls attention to a trivial truth that, nevertheless, will serve as an important argumentative function in my reconstruction of the anthropological presupposition of Kant’s ethics. Patzig mentions the fact that human beings are »beings who are in need of substantially appropriate information according to the reality in which they exist«. 6 The second reflection comes from Craig’s German-written book on »What we can know«. 7 He reminds us, strictly following the line of Patzig’s anthropological argument, of the importance of not neglecting the fact that not a single circumstance of the reality we exist in can appear to be too insignificant to some person, in order that some other person is in need of being informed by somebody about exactly this very circumstance. Craig points, for example, to those circumstances that for each of us in any situation are hidden behind our back. 8 With these two anthropological premises in mind we can turn back to Kant’s theory. I want to draw attention to two theses of Kant’s that combine directly the anthropological aspect with the moral aspect. Both theses are from his late essay, Announcement of the Near Conclusion of a Treaty for Eternal Peace in Philosophy (8:411–22). The first thesis is: »The lie […] is the substantial fault in human nature«; the second thesis speaks of »the father of lying by whom all evil has come into the world« (8:422; cf. also 7:431 f.). If we combine these two theses with the anthropological theses of Patzig and Craig, we have the complete set of premises that are sufficient and necessary 6 Günther Patzig, »Wertrelativismus und ärztliche Ethik« (11988), republished in Günther Patzig, Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik (Göttingen: Wallstein Verlag, 1993), 54–72, here translating the German main-title of his book, which originated form lectures given during the summer term 1989 on the occasion of the Wittgenstein-Vorlesungen at the Universität Bayreuth. 7 Edward Craig, Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff (Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag, 1993), here translating the German title of his book. 8 Cf. Craig, p. 88 f.

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to make plausible the central anthropological presuppositions of the Kantian ethics. The argument to make this plausible is this: if each human being, by his/her basic and life-long cognitive situation, is in need of appropriate informations about the reality he/she lives in and if no human beings can be absolutely sure in any daily situations that they are fully informed about all practically relevant circumstances in any given situation, then each person must rely on the continuing informational veracity of any communicative partner. This is the tacit plausibility-argument that must guide an ethic of the Kantian type when it concentrates on the moral case of lying. But, of course, it is not the crucial argument of this elaborated theory. This genuine Kantian argument must – and can – be reconstructed exclusively along the lines foreshadowed by the leading categorical imperative in order to judge, to recognize and to practice moral or morally-consistent characters of maxims resp. of the corresponding maxim-conform ways of acting. Of this procedure I have, up to now, presented only the first half.

VII. When we start to reconstruct the second half we have to keep in mind that the first half should, by its formal character, be relevant for morally judging any maxim or any way of acting and, therefore, also for judging the maxim of lying or the act of lying. There-fore, we must take care of this concrete relevance, and we can do this along the lines of this reconstruction by applying the first four formulas directly to the case of lying. This can be done in our context in a very simple, technical way by substituting words for the act of lying: (1.1) I intend to lie in situations of type S* (2.1) Everybody intends to lie in situations of type S* (3.1) Everybody should be / must be / is obliged to lie in situations of type S* (4.1) I should be / must be / am obliged to lie in situations of type S* The rest of the reconstruction may be guided exclusively by substantial reflections of Kant himself as he develops them in the context of a concrete case-study of lying in his Foundations of Metaphysics of 272 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Morals. With regard to the formal acts of judging that lead from (1.1) to (4.1) he asks (4:403): »Should I be content, that my maxim … should be valid as a universal law (as well for me as for others)?«. Examining this question, Kant continues: »I shall soon recognize that I can will the lie, but a universal law of lying I cannot will at all«. The argument Kant uses to show that this is a real practical insight has two parts. The first part argues that »according to such [a law] there could not properly be [a lie]; the second part gives the reason why under such a law there could not properly be a lie: »… it would be in vain … to pretend others, who would not, yet, believe this pretention«. The substance of this argument is this: (1) Each liar presupposes – in favor of the success of his/her practical intentions, disguised by his/her lying – that there is at least somebody who relies on the veracity of his/her deceiving communication (2) If all people are legally obliged to lie and all people are respectful to the corresponding law, there is nobody who can rely on the veracity of any communicative partner (3) Both premises show that – under the universal obligation to lie – the normal success-presupposition of the liar is not fulfilled The formal nucleus of this structure can easily be represented by two sentences. The first shows the success-presupposition of the liar or of the lying-maxim: (1.1.1) There is somebody who relies on the veracity of me as a liar The second shows the consequence from the universal obligation to lie (3.1.1) There is not somebody who relies on me as a liar These sentences obviously contradict one another. This form of contradiction is a well-formed type of that notorious contradiction that, as Kant asserts (cf. 4:431, 434), causes the will of the liar to entangle itself. But, as we now can see, the will entangles itself into this contradiction because of the way of acting that is its object or content, or the content of its maxim, not because of any mystical property of the will as such.

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This contradiction is a purely formal property of the purely logical relation between the normal success-presupposition of the subject of the lying-maxim and the consequence of the universal obligation to lie. In a similar sense it is a purely formal property to be the success-presupposition of whatsoever, and it is as well a purely formal property to be the consequence of whatsoever. This shows that the subject of the maxim who is as well the subject of the whole procedure of judging his/her maxim is, in the course of this complex judgment, totally free in the negative sense (i. e., independent of all material aspects and criteria). But the subject is also free in the positive sense, because he/she is free to come, by this very formal procedure of judgment, to a practical insight – to the insight, as Patzig once put it, that it is discreditable for a rational being to intend or to practice a way of acting that suffers of a contradiction 9, i. e., as I have argued, a contradiction regarding its success-presuppositions. Now, it is well known that a contradiction is merely a superficial indicator, though the most important formal indicator, for a mistake in the depth-structure of the field wherin it appears. We have, therefore, to ask: of which concrete type of mistake in the depth-structure of the practical field is the foregoing contradiction an indicator?

VIII. The mistake in the depth-structure is represented by the semantic resp. propositional content of the contradiction. This mistake has the structure of the violation of the universal mutual veracity and thereby of the universal mutual reliability that each human being, by his/ her basic informational situation, is always in need of in any lifesituation. This mistake can be avoided only by universal mutual veracity and thereby only by mutual reliability. Veracity must be, therefore, according to Kantian ethics, the central moral character of human maxims resp. of human ways of acting – either directly, when we communicate utterances with informational content, or indirectly, in

Cf. Günther Patzig, »Die Begründbarkeit moralischer Forderungen« (11967), republished in: Günther Patzig, Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik (Göttingen: Wallstein Verlag, 1994), 44–71, here translating p. 67.

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the sense that our ways of acting have to be consistent with this moral character. 10 This indirect sense is decisive when we want to find out whether the range of validity and application of Kantian ethics is confined to the simple case of lying or not. By help of our analysis we can easily show that it has, indeed, a wide range. We can put the substantial argument very briefly: besides the manifest case of lying, each way of acting that has a harmful, but silent intentional disinformation for any interactive partner as its success-presupposition is inconsistent with the moral character of veracity. As can easily be seen, all culpable cases of the western and the western-inspired penal codes and of the corresponding codes of contractual rights are cases that have such a success-presupposition of non-veracity. This is why all such ways of acting are contrary to right by being immoral within the range of validity and application of Kantian ethics. And this is the result of the purely formal procedure for moral judgment and recognition, foreshadowed by the leading categorical imperative and partly exercised by Kant himself in his case-studies. The formal and the practical structure of the leading categorical imperative is occasionally compared to that of the Golden Rule: »Do to others what you would like to be done to you« (positive version) or »Do not do to others what you do not want done to you« (negative version, also attributed to Kong-zi/Confucius). At first glance, it seems as if the Golden Rule exposes a formal structure, namely reciprocity between the acting subjects, that gives to it a practical superiority over this categorical imperative, since the latter does not expose, at least superficially, such a form of practical reciprocity. But superficial impressions can deceive heavily, especially in regard to the practical field of ethics: the mutuality of veracity and reliability is that formal structure of the most important outcome of the application of the leading categorical imperative whereby this outcome shows, at least, a certain prima-facie resemblance to the reciprocal practical structure highlighted directly by the different versions of the Golden Rule. Nevertheless, this formal prima-facie resemblance should not mislead us into the error of viewing these two forms of reciprocity as potentially isomorphic, though on different levels of reflection – not to mention the error of viewing the Golden Rule, in either version, as potentially having, by its superficial indication of practical reciprocity, any practical or conceptual superiority over the leading categorical imperative, with its somewhat hidden reciprocity of veracity and reliability. The Golden Rule makes an individual practical wish, intention or volition (»what you want or what you do not want«) conditional for the praxis of all other actors; the leading categorical imperative makes the nomological compatibility of any individual maxim with the anthropologically-based dependence of each human actor on realityconforming and situation-adequate informations by any other actor conditional for practicing this individual maxim. Cf. Kant’s own critical remarks concerning the negatice version of the Golden rule (4: 430*)

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From all this, we can easily see which type of freedom Kant envisages when he attributes to this categorical imperative the double cognitive function of a principle of judgment, and of a reason for recognizing (the fact of) freedom. Freedom, then, is neither a simple type of freedom of the will nor a simple type of freedom of acting. Rather, it is the faculty to judge and to recognize autonomously and finally to imprint autonomously, by the so-called causality of the will, the singular character of veracity on our maxims and on our corresponding maxim-conform ways of acting – directly on our communicative speech-acts and indirectly on the success-presuppositions of all other ways of acting.

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität

I. Seit die Praktische Philosophie vor allem durch Platons Tugend-Dialoge und durch die Ethiken des Aristoteles angefangen hat, die eine der Hemisphären der Philosophie in ihre Obhut zu nehmen, stehen die Struktur der Handlung und die kognitiven Beziehungen des Handelnden zu seinen Handlungen in Brennpunkten ihrer Aufmerksamkeit. Platon sucht schon früh nach etwas Charakteristischem der Handlungen, das in allen Handlungen selbst mit sich selbst dasselbe ist, 1 und macht den Handelnden auf das kognitive Desiderat aufmerksam, daß er darauf angewiesen sei, blickend 2 auf jene Form selbst, 3 sich nach einem Muster 4 zu richten, wenn er zu beurteilen sucht, ob eine Handlung diese Form erfüllt oder nicht. Aristoteles macht indessen darauf aufmerksam, daß die kognitiven Beziehungen des Handelnden zu seinen Handlungen durch eine tiefe Ambivalenz charakterisiert sind. Denn leibhaftige Handlungen haben mit natürlichen und mit erzwungenen Bewegungen in Raum und Zeit die Eigenschaft gemeinsam, daß sie kontinuierlich in infinit teilbare zeitliche und räumliche Teile geteilt werden können. 5 Bis in unsere Tage und insbesondere im Einzugsbereich der ungeheuren Fortschritte der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Forschungen insbesondere auf dem Feld der mikroprozessualen Bewegungen wird diese Ambivalenz immer wieder einmal zum Ausgangspunkt für die verschiedenartigsten sogenannten reduktionistischen Versuche genommen zu zeigen, daß sich die Strukturen von Handlungen in den Strukturen sogar

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Aὐτόν ἐστιν ἐν πάση πράξει […] αὐτὸ αὑτῷ, Platon, Euthphr., 5d 1–3 ἀποβλέπων, 6e 4. ἐκεῖνο αὐτὸ τὸ εἴδος, 6d 10–11. παραδείγματι, 6e 4–5 Vgl. Aristoteles, Eth. Eud. 1220b21 ff.

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

erschöpfen, die für natürliche oder experimentell erzwungene Bewegungen in Raum und Zeit charakteristisch sind. Zu Recht hat Heidegger mit Blick nicht nur auf solche reduktionistischen Traditionen bemerkt: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug«. 6 Ein bedeutsames Indiz für das Bedenkenswerte dieser Diagnose bietet der Umstand, daß Kant gleichzeitig mit seiner ersten systematischen Schrift zur Praktischen Philosophie – der Kritik der praktischen Vernunft – eine Überlegung entwickelt, durch die der Begriff der Handlung als der Grundbegriff sogar der Theoretischen Philosophie konzipiert wird. Er vergewissert sich hier »[…] der genau bestimmten Definition eines Urtheils überhaupt [als] (einer Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objects werden)«. 7 Verwechselt man die geforderte Genauigkeit dieser Definition nicht mit ihrer Vollständigkeit, dann wird man auch in Rechnung stellen, daß »praecisio – […] die Abgemessenheit [ist], d. h. die Absonderung alles übrigen, was nicht zur hinlänglichen Deutlichkeit erfordert ist«. 8 Es kann nicht gut bezweifelt werden, daß Kants Arbeitsdefinition allerdings mit ›hinlänglicher Deutlichkeit‹ den Handlungsbegriff zum Grundbegriff auch der Theoretischen Philosophie stempelt. Er hat gelegentlich auch ein Plausibilitätskriterium für den Handlungscharakter des Urteils bedacht, wenn er bemerkt: »In jedem Urteil ist subjektiv eine Zeitfolge«. 9 Denn von den Vorstellungen, die man in der logischen Form eines Urteils verbindet, kann man im Zuge des Urteilsakts stets nur nach und nach, also sukzessiv Gebrauch machen. 10 Kant bringt die Reflexion auf die temporale Form des UrHeidegger, 1954, S. 53. Kant, MA, S. 475*. 8 Kant, AA XXIV,1,2, S. 756, m. H. 9 Kant, AA XX, S. 369. 10 In den Logik-Erörterungen unserer Tage wird diese temporale Dimension nur sehr selten einmal und dann auch nur bei sehr speziellen thematischen Gelegenheiten berücksichtigt. An prominenter Stelle findet sich eine solche Berücksichtigung bei Quine, 1973, bei Gelegenheit der Erörterung der Frage, wie man die Grenzen der Zeitspanne bestimmen kann, die durch die Verwendung der temporalen Situationsvariable »now« in satzförmigen Äußerungen angedeutet wird: »One possible answer […] would be to construe the temporal boundaries as those of the shortest utterance of sentential form containing the utterance of ›now‹ in question«, S. 1735. Obwohl Quine gewiß nicht ein typischer Sprechakttheoretiker ist, hat er mit der Thematisierung des zeitlichen Formats indexikalischer sprachlicher Äußerungen einen Aspekt fruchtbar gemacht, der ganz allgemein für solche Äußerungen, also für Sprechakte 6 7

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

teilsakts darüber hinaus in plausibler Kohärenz sogar mit der Bindung eines solchen Akts an den Gebrauch der Worte in Zusammenhang, die diese Vorstellungen ausdrücken: »Wir würden gar nicht urteilen, wenn wir keine Wörter hätten«. 11 Die Bindung des mentalen Charakters des Urteilsaktes an den Sprechaktcharakter des Urteilens ist sogar so fest, daß nicht nur die Kommunikation des urteilenden Subjekts mit seinesgleichen, sondern sogar die gelingende Kommunikation des urteilenden Subjekts mit sich selbst davon abhängt: »Wir bedürfen der Wörter, um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden«. 12 Insbesondere diese sprachabhängige Verständigung des Menschen mit sich selbst rückt Kant in seiner reifen Praktischen Philosophie in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, wenn er das ›Geschäft‹, das der Mensch unter der Obhut seines Gewissens zu absolvieren hat, als »[…] ein Geschäft des Menschen mit sich selbst« 13 charakterisiert. Der Mensch würde daher in diesem Gewissensgeschäft mit sich selbst noch nicht einmal sich selbst verständlich werden, wenn er nicht über Wörter verfügen und mit ihrer Hilfe praktisch-moralische Urteile über sich selbst fällen würde, die gleichsam den Kern der Währung bilden, in der er dies Geschäft mit sich selbst absolviert. Bildet das so verstandene Geschäft des Menschen mit sich selbst das genuine Medium seiner praktischen Subjektivität? Wenn Kant den Handlungscharakter des Urteils zum ersten Mal nach dem Abschluß seines ersten systematischen Werks zur Prakticharakteristisch ist. In Kants Konzeption der Urteilsakte ist der kürzeste Vollzug eines solchen Akts dementsprechend durch die kategorische ›sentential form‹ festgelegt. – Unter den direkt an der Sprechakttheorie und an der Philosophie des Geistes arbeitenden Autoren wird gelegentlich wenigstens der empirisch-psychologische Parallelbefund als Argument verwendet, so wenn z. B. Searle, 1992, bemerkt: »For example, when I speak or think a sentence, even a long one, my awareness of the beginning of what I said or thought continues even when that part is no longer thought or spoken«, 130. Allerdings verkennt Searle den von Quine berücksichtigten wichtigen formalen Zusammenhang zwischen den mehr oder weniger komplexen logischen Formen sprachlicher Äußerungen und ihren entsprechenden mehr oder weniger kurzen Zeitspannen. Weil Searle diese logische Komponente verkennt, kann er auch irrtümlich meinen, Kants terminologischer Titel »the transcendental unity of apperception«, ebd., sei nur eine andere Bezeichnung des »binding problem«, ebd., der Neurophysiologie und nicht der Titel für die von dieser Apperzeption gestiftete logische Einheit von Vorstellungen im Urteil; vgl. hierzu unten S. 28845. 11 Kant, AA XXIV.1,2, S. 580; vgl. auch S. 588. 12 Kant, AA XVI, R 3444, S. 839. 13 Kant, MS, S. 438.

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schen Philosophie herausstreicht, dann trägt er zwar auch dem Umstand Rechnung, daß kommunikative Sprechakte der Unaufrichtigkeit in seinen bis dahin publizierten ethischen Schriften die paradigmatischen Beispiele für unmoralische Handlungsweisen bilden – unaufrichtige Versprechen und Lügen. 14 Denn nur Handlungen und deren Maximen sind einer moralischen Beurteilung fähig, und nur wenn Urteile Handlungen sind, sind auch sie einer moralischen Beurteilung fähig. Doch die Arbeitsdefinition des Urteils als einer Handlung wird von ihm nun einmal ganz unabhängig von diesem praktisch orientierten systematischen Kontext seiner Arbeit auch an einer ganz anderen Stelle verortet als es für eine Ethik unmittelbar angemessen wäre. Sie wird von ihm nachträglich zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und in Ergänzung zur gleichzeitig erscheinenden zweiten Auflage in den thematischen – allerdings nicht in den buchtechnischen – Kontext des Abschnitts Von dem logischen Verstandesgebrauchs überhaupt 15 eingefügt. Sie dient dazu, den formalen Zusammenhang zwischen den logischen Funktionen des Gebrauchs von (sprachlich formulierten) Vorstellungen im Urteilsakt und der nur dadurch möglichen Erkenntnis von Objekten der Urteilsakte möglichst kurz und bündig durchschauen zu können.

II. Dennoch braucht man sich im Rahmen von Kants Erster Kritik weder mit einer arbeitsdefinitorischen Fixierung noch mit temporalen und linguistischen Plausibilitätskriterien für den Handlungscharakter von Urteilen zufrieden zu geben. Die wichtigsten Fingerzeige Kants in Richtung auf die davon unabhängige Basiskonzeption dieses Handlungscharakters erhält man, wenn man man noch hinter seine AusDa unaufrichtige Versprechen aus begriffsanalytischen Gründen aber lügenförmige Selbstverpflichtungen gegenüber Personen sind, vgl. Kant, GMS, S. 21 f., hängt der unmoralische Charakter von unaufrichtigen Versprechen nicht primär von irgendwelchen Verletzungen der eingegangenen Verpflichtung ab, sondern von ihrem lügenförmigen Charakter. Die in der Kant-Forschung dominierende Orientierung der Rekonstruktion des Beurteilungsverfahrens, das der Kategorische Imperativ entwirft, tut insofern den zweiten vor dem ersten Schritt. Daß die in unaufrichtigen Versprechen involvierte Verpflichtungsverletzung zusätzliche und anders zu analysierende und zu beurteilende moralische (und rechtliche) Probleme mit sich bringt, bleibt davon unberührt. 15 Kant, KrV, A 67, B 92-A 69, B 94. 14

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führungen zum ›logischen Verstandesgebrauch überhaupt‹ zurückgeht. Denn im Hintergrund dieser Ausführungen stehen Überlegungen, die Kant zwar erst in der zweiten Auflage der Ersten Kritik und mit buchtechnischen Mitteln sogar erst mit erheblicher Entfernung von diesem Auftakt zur sogenannten Urteilstafel 16 präsentiert. Dennoch bilden diese Überlegungen – entgegen allen äußeren Indizien und entgegen einer breiten und tiefen hermeneutischen Tradition – die Basiskonzeption des Handlungscharakters des Urteils. Den thematischen Mittelpunkt dieser Überlegungen bildet denn auch ein Handlungsmoment wie es handlungsspezifischer nicht sein könnte – »[…] ein Actus der Spontaneität«. 17 In einer zunächst nicht unmittelbar einleuchtenden Erläuterung dieses Akts charakterisiert er ihn auch als »[…] Selbstbewußtsein«. 18 Den sprachlichen Ausdruck dieses Akts der Spontaneität bzw. des Selbstbewußtseins formuliert Kant für seinen innertheoretischen Gebrauch entsprechend durch einen »Satz […], der das Selbstbewußtsein ausdrückt« 19 bzw. als »Ausdruck des Selbstbewußtseins« 20 und gibt ihm die nahezu alltägliche, formelhafte Gestalt »Ich denke«. 21 Das durch diese sprachlichen Formulierungen thematisierte Selbstbewußtsein bzw. der durch sie thematisierte Akt der Spontaneität der reinen und ursprünglichen Apperzeption 22 ist bekanntlich »[…] der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß«. 23 Die diversen terminologischen bzw. formelhaften Thematisierungen des ›höchsten Punkts‹ der Philosophie, an der Kant im Rahmen seines ›kritischen Geschäfts‹ arbeitet, legen nicht nur für seine Leser unterschiedliche thematische Zuspitzungen der in diesem Geschäft verhandelten Sachfragen nahe. Vor allem Kants Rede vom ›Selbstbewußtsein‹, vom ›Ausspruch des Selbstbewußtseins‹ und seine sprachliche Standardformulierung dieses Ausspruchs durch den ›Satz‹ Ich denke sind zum Ausgangspunkt einer überaus reichen systematischen und hermeneutischen Tradition geworden. Fichtes di16 17 18 19 20 21 22 23

B 129 ff. B 132. Ebd. A 398–399. A 346, B 404. B 131. Vgl. B 132. B 133*.

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verse Entwürfe seiner Wissenschaftslehre und einige Abhandlungen des jungen Schelling sind für die systematische Philosophie auf dieser thematischen Linie traditionsstiftend geworden; Dieter Henrichs thematische Untersuchungen – von Fichtes ursprüngliche Einsicht 24 bis zu Noch einmal in Zirkeln 25 – haben die hermeneutischen Auseinandersetzungen mit diesen Entwürfen der klassischen deutschen Philosophie in durchaus schulbildender Weise für eine methodisch gereifte Philosophie der Subjektivität fruchtbar gemacht. Es fällt indessen auf, daß diese diversen Auseinandersetzungen insbesondere mit der These von der Zirkularität des Selbstbewußtseins in Verbindung mit dem »[…] Begriff, oder, wenn man lieber will, […] Urteil: Ich denke« 26 an einem Kontext orientiert sind, der innerhalb der Kritik der reinen Vernunft und im Verhältnis zum doktrinalen Hauptteil von deren Elementarlehre eine auffällig randständige Stellung einnimmt. Kant handelt hier Von den Paralogismen der reinen Vernunft. Doch angesichts der späten Entdeckung des Paralogismus, von Adickes an Hand von R 5553 auf die Zeit ab 1779 datiert, war die Zeit bis zur Publikation der ersten Auflage der Ersten Kritik für Kant nur allzu offenkundig zu kurz, um das Potential dieser Entdeckung rechtzeitig ganz auszuschöpfen. In philologischer Hinsicht fällt die enge sachliche Begrenztheit von Kants Primäranalyse des Satzes Ich denke am aufschlußreichsten aus, wenn man beachtet, daß dieser Satz in der ersten Auflage ausschließlich im Kontext des Paralogismus-Problems auftaucht. 27 Er wird in diesem Kontext primär als Teil des Materials einer formallogischen Analyse eines einzigartigen Fehlschlusses der traditionellen Ontologie der Seele behandelt. 28 Wohl gibt der Kontext dieses Paralogismus Kant auch schon in der ersten Fassung Gelegenheit zu mancherlei Reflexionen, die auch im Rahmen der später entwickelten Konzeption des ›höchsten Punkts‹ direkt fruchtbar gemacht werden können (vgl. unten S. 287 f., 290 f., 292 f., 295–97). Doch es kann keinen ernstzunehmenden Zweifel daran geben, daß die Transposition des Satzes Ich denke an den ›höchsten Punkt‹ von Kants philosophischer Arbeit sowohl Vgl. Henrich, 1967 a. Vgl. Henrich, 1989 b. 26 Kant, KrV, A 341, B 399. 27 Vgl. A 341–401. 28 Vgl. hierzu auch die kritischen Ausführungen zu Wolffs fundamental-ontologischem Rückfall hinter Descartes’ Orientierung am ›höchsten Punkt‹ des Ich denke bei Scheffel, 1994, S. 157–162. 24 25

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diesen Satz wie die Themen des Spontaneitäts-Akts, des Selbstbewußtseins und der reinen und ursprünglichen Apperzeption mit unüberbietbarer Radikalität und ein für alle Mal nicht nur aus dem paralogistischen Medium befreit. Diese Transposition sorgt ebenso dafür, daß sie aus dem Einzugsbereich der Diagnose gelöst wird, daß wir uns durch das »[…] Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen«. 29 Wenn der Satz Ich denke und das durch ihn formulierte Selbstbewußtsein auch noch in Kants fast revolutionär gereifter Konzeption des ›höchsten Punkts‹ einen Fall für diese Zirkularitäts-Diagnose bilden würden, dann wären die Konsequenzen geradezu desaströs, die sich daraus auch für seine Praktische Philosophie ergeben würden. Denn im nicht weniger reifen Rückblick der Metaphysik der Sitten auf das Ganze dieser Philosophie verortet er die komplexe, vom Kategorischen Imperativ geprägte Struktur der moralischen Selbstbeurteilung des Menschen »[…] in jenem moralischen Selbstbewußtsein«. 30 Doch ein Selbstbewußtsein, in dem sich ein ›Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, in einem beständigen Zirkel herumdrehen‹ würde, wäre nun einmal schlechterdings unverträglich mit einem Selbstbewußtsein, dem durch das Moralkriterium des Kategorischen Imperativs angesonnen wird, aus der Beurteilung seiner maximenkonformen Handlungsweisen praktische Konsequenzen im Sinne eines Handle so, daß … zu ziehen, also den »Zauberkreis des Selbstbewußtseins« 31 gar nicht erst zu betreten. Ihm wird vielmehr angesonnen, in jener praktischen Welt des leibhaftigen Handelns zu Hause zu bleiben, die es nur für die mehr oder weniger flüchtigen Zeitspannen zu verlassen braucht, während denen es unter der Obhut seines Gewissens in den dafür reservierten Schutzräumen den handlungsorientierten Beratschlagungen mit sich selbst nachgeht, die Kant schließlich unter dem Namen des moralischen Selbstbewußtseins thematisiert. Das so konzipierte praktisch-moralische Selbstbewußtseins bildet daher nicht nur den Kern der praktischen Subjektivität. Seine Konzeption bildet auch den gewichtigsten Grund, die Zirkularität nicht mit einem generellen Charakter des Selbstbewußtseins zu identifizieren (vgl. unten S. 289 f., 299–301, 306–07).

29 30 31

Kant, KrV, A 346, B 404. Kant, MS, S. 439; vgl. auch S. 439*. Wieland, 1967, S. 407 f.

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III. Indessen gibt es nicht nur praktische, sondern auch nicht weniger gewichtige, in der Binnenkonzeption des ›höchsten Punkts‹ liegende Gründe, ganz andere Charaktere und -funktionen des Selbstbewußtseins, der ›reinen und ursprünglichen Apperzeption‹, des ›Aktus der Spontaneität‹ und des sie formulierenden Satzes Ich denke ins Auge zu fassen. Diese internen Gründe aus Kants reifer Leitfaden-Theorie des Selbstbewußtseins, des Denkens, der Spontaneität und der Apperzeption haben sich erkennbar aus Überlegungen ergeben, die zunächst Gelegenheitsreflexionen in den Analysen des Paralogismus der vorkritischen Seelen-Ontologie waren und auf dem Weg über Retraktationen in den Prolegomena sowie über handschriftlich dokumentierte Werkstattreflexionen aus dieser Zeit zu ihrer endgültigen buchtechnischen Gestalt in der zweiten Auflage der Ersten Kritik gefunden haben. Es ist dies ein Weg, wie er nur allzu typisch für eine Philosophie ist, die diesen Namen nicht zuletzt deswegen verdient, weil sie nach dem trefflichen Wort Husserls eine Arbeitsphilosophie ist, also die Philosophie eines Denkers, der keine ›Anstrengung des Begriffs‹ auch dann scheut, wenn sie ihn zeitweise Umwege, Abwege, Holzwege und Irrwege kostet, vorausgesetzt, daß es ihm ungeachtet der unvermeidlichen »Erkenntnis in Zerstreuung« 32 immer wieder von neuem gelingt, auf einen kohärenten Weg weiterführender Einsichten zurückzufinden. Den Anfang dieses verschlungenen, aber kohärenten Wegs von den einschlägigen Gelegenheitsreflexionen der Paralogismus-Analyse bis zur reifen Konzeption des ›höchsten Punkts‹ bildet der Gedanke: »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile«. 33 Diesen Gedanken präzisiert und verschärft Kant bei der ersten publizistischen Gelegenheit zu dem Gedanken: »Also ist Denken so viel als Urtheilen«, 34 spitzt ihn in einem nächsten Schritt in einer ungefähr gleichzeitigen Werkstatt-Aufzeichnung zu dem Gedanken zu: »Wir können nur durch Urteile denken«, 35 und Vgl. Henrich, 2011 c, S. 132–168; zur speziellen systematischen Frage der Zerstreuung des moralischen Bewußtseins, vgl. unten S. 16 ff. 33 Kant, KrV, A 348. 34 Kant, Prol., S. 304. – Diese Klarstellung Kants verwendet Rosefeldt, 2000, daher auch zu Recht als eine der wichtigsten Prämissen seiner in methodischer Hinsicht vorzüglich gearbeiteten und vieles Wichtige klärenden Untersuchung, vgl. S. 9 ff. 35 AA XVI, R 5650, S. 300, m. H. 32

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

faßt beide schließlich in der abstrakten These zusammen: »Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion«. 36 Vor allem die durch diese Schrittfolge erlangte Klarheit über den urteilsfunktionalen Charakter des ›Aktus der Spontaneität‹, den das denkende Subjekt vollzieht und den der ›Ausspruch des Selbstbewußtseins‹ Ich denke formuliert, läßt auch klar werden, daß es sich bei diesem ›Ausspruch‹ im Rahmen von Kants Theorie gar nicht um einen wohlformulierten Satz handelt. Es handelt sich vielmehr lediglich um eine Art von logischem Präfix, das erst durch die Ergänzung einer Art von propositionalem Suffix der Form …, daß-p zur logischen Form eines Satzes Ich denke, daß-p syntaktisch vervollständigt wird und in dieser vervollständigten Form auf Konkretisierungen des …, daß-p durch konkrete Urteile wartet – z. B. in der Form Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt. 37 KrV, B 428. – Kemmerling, 1987, fragt im Rahmen einer aufschlußreichen hermeneutischen und systematischen Studie zum ›verschwindenden‹ cartesischen cogito, ergo sum: »Was denkt der Denker, wenn er denkt, daß er denkt«, S. 145. Zumindest im Rahmen von Kants Konzeption der logischen Funktion des Ich denke wäre diese Frage falsch gestellt. Die Frage, die das Ich denke am ›höchsten Punkt‹ mit dessen logischer Funktion für das Urteilen verbindet, erkundigt sich vielmehr, wie der Denker denkt, wenn er denkt, daß er denkt. Kants Antwort auf diese wie-Frage besagt daher im ersten Schritt, daß der Denker jedenfalls und mindestens in bestimmten logischen Formen bzw. Urteilsformen bzw. mit Hilfe von bestimmten logischen Funktionen bzw. Urteilsfunktionen denkt, wenn er denkt. – Es ist in diesem Zusammenhang irritierend, daß auch ein vielfach so klarsichtiger Interpret von Kants einschlägigen Texten wie Carl, 1992, diesen wie-Aspekt verfehlt, wenn er bemerkt: »Was immer über dieses Ich gesagt werden kann, besteht in der Angabe darüber, was es denkt«, S. 67, Hervorhebung R. E., während er fast im selben Atemzug bemerkt, daß »es Kant um die Form geht, in der wir Gedanken haben«, S. 676, Hervorhebung R. E., also doch wohl darum, wie wir Gedanken haben. Daß auch die kategorialen Formen der Gegenstandsbeziehungen der Urteile zum Wie des urteilsförmigen Denkens des Denkenden gehören, kommt im zweiten Schritt, dem der Kategorien-Deduktion noch hinzu. 37 Daß der ›formale Satz der Apperzeption‹ Ich denke im Aufbau von Kants Theorie der Erfahrung nicht in jeder Hinsicht ein selbstgenügsames Gebilde ist, sondern funktional mit der propositionalen Syntax Ich denke, daß-p verflochten ist, durch die er mit jedem Urteil-überhaupt verbunden ist, betont auch Carl, 2007, wenn er die Form »I think that […]« benutzt, um die Form des »assessment by judgements« zu charakterisieren, die mit Hilfe der reinen und ursprünglichen Apperzeption durch »acts of spontaneity« in Anspruch genommen werden muß, um »my representations«, S. 41, zu den meinen zu machen. – In dieselbe Richtung zielt in vor-propositionalistischen Zeiten auch schon Reich, 21948, wenn er diese syntaktische Funktion des ›formalen Satzes der Apperzeption‹ Ich denke in der Form »Ich denke dies oder das«, S. 31, 32 f., vgl. auch 33 ff., präsentiert. Kant hat für die propositionale Ergänzungsbedürftigkeit 36

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

Erst im Licht der vollständigen, urteilsfunktionalen Konzeption des ›höchsten Punkts‹ kann auch klar werden, daß die Spontaneität und die Selbsttätigkeit, die Kant in diesem Zusammenhang thematisiert, in Wahrheit die formalen Hauptcharaktere des Urteilsakts sind, und zwar noch ganz unangesehen der logischen Formen und der Inhalte, die die Urteile haben, die das urteilende Subjekt durch spontane, selbsttätige Akte – und nur durch solche Akte – stiftet. Sie sind daher gerade nicht die Charaktere eines selbstgenügsamen Akts des Denkens, der durch seine Ziel- und Inhaltslosigkeit sein Subjekt überdies dazu verurteilen würde, sich in einem nicht näher zu charakterisierenden Kreis um sich herumzudrehen. 38 Kant gibt zu verstehen, daß ein Urteilsakt, der diesen Namen verdient, von seinem Subjekt nur spontan, »[…] nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann«. 39 Erst im Licht dieser Voraussetzungen kann daher auch verständlich werden, warum Kant berechtigt ist, den Urteilsakt-Charakter der Spontaneität in einem Atemzug mit dem Selbst-Bewußtsein zu thematisieren. Denn dies Selbst-Bewußtsein ist in diesem Licht gar nichts anderes als das Bewußtsein des urteilenden Subjekts, seine Urteilsakte selbst, also spontan zu vollziehen und sie nicht einer unverfügbaren super- oder intrapersonalen Instanz oder Macht zuschreiben zu müssen oder auch nur zu können. 40 Der Weg von den des Ich denke indirekt durch den Gedanken vorgesorgt: »Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus Ich denke, doch gar nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung […] des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens, KrV, B 422*. Die propositionale Ergänzung … daß-p des Aktus-Ich-denke repräsentiert lediglich die Form, in der der Gebrauch jeder beliebigen empirischen Vorstellung durch den Akt Ich denke des ›reinen intellektuellen Vermögens‹ in jedem konkreten Fall eines solchen Gebrauchs stattfindet. 38 Zur Charakterisierung dieses Kreises vgl. jedoch unten S. 290–97. 39 Kant, KrV, B 130, m. H.; vgl. auch B 157*. 40 Dies selbst, für das es aufschlußreicherweise keine spezifische grammatische Kategorie gibt, ist nicht mehr als ein eigentümliches Adverb, das aber, wie Kants Theorie zeigen kann, einen äußerst wichtigen formalen Vollzugscharakter von Handlungen als Handlungen des mit Urteilsspontaneität begabten Menschen zum Ausdruck bringt. Es ist also alles andere als ein mehr oder weniger mysteriöses ›kapitales‹ Selbst, wie es von John Lockes Konzeption des Selbstbewußtseins über George Herbert Meads Sozialpsychologie bis zu Ernst Tugendhats sprachanalytischen Versuchen von Entlarvungen von Holzwegen der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie durch den philosophischen und den psychologischen Sprachgebrauch geistert. An einem Abstieg vom Selbst zum »selbst« hat sich Tugendhat, 1979, bedauerlicherweise nicht versucht, vgl. S. 68 ff.

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urteilsfunktionalistischen Gelegenheitsreflexionen der Paralogismus-Analysen in der ersten Auflage zu den handlungskonzeptionell basierten Überlegungen im Umkreis des ›höchsten Punkts‹ wird umso aufschlußreicher, wenn man beachtet, welche Begrifflichkeit es ist, die von der praktizistischen Begrifflichkeit der Spontaneität, der Selbsttätigkeit und der im Mittelpunkt stehenden Handlungskonzeption des Urteils abgelöst wird. Denn der Begriff der Spontaneität bzw. der Selbsttätigkeit des Urteilsakts ist nichts anderes als der positive praktizistische Nachfolgerbegriff des formalen und negativen Absolutheits- bzw. Unbedingtheitsbegriffs, mit dessen Hilfe Kant zunächst davon spricht, daß »Ich, als denkend Wesen, […] das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile [bin]« 41 und daß »[…] die einzige Bedingung, die alles Denken begleitet, das Ich, in dem allgemeinen Satze Ich denke […] selbst unbedingt ist […] aber auch nur die formale Bedingung«. 42 Die Spontaneität bzw. Selbsttätigkeit des Urteilsakts ist gar nichts anderes als der formale Handlungscharakter, der durch seine Absolutheit bzw. Unbedingtheit garantiert, daß der Urteilscharakter eines Urteils auf nichts anderes zurückgeführt werden kann als auf die Spontaneität, mit der das urteilende Subjekt urteilt. Wie Kant zu verstehen gibt, reicht die urteilsprägende Funktion dieser Spontaneität aber nicht nur hin, den Charakter eines Urteils-überhaupt zu prägen. Sie reicht vielmehr bis in die logische Binnenstruktur des Urteils: »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht«. 43 Also auch solche das Urteil und seine logische Form ausmachenden Verhältnisse wie das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Verhältnis gehören in die von der Spontaneität des Urteilsakts geprägten Charaktere des Urteils. Auch die logischen Formen von Urteilen sind Resultate einer auf keinerlei externe Bedingungen zurückführbaren Spontaneität des denkend-urteilenden Subjekts. 44 An Kant, KrV, A 348. A 398, Hervorhebung R. E. 43 B 407. 44 Mit den Überlegungen zur propositionalen, den Urteilscharakter bildenden Funktion des Denkens im Sinne des ›formalen Satzes‹ Ich denke, daß-p sowie zur wortsprachlichen Bindung des Urteilens ist Kants Theorie offenbar nicht anfällig für die von Wittgenstein zu bedenken gegebenen irregeführten und irreführenden Gebrauchsformen des kognitiven Worts denken, vgl. Wittgenstein, 1960, §§ 22, 25, 32, 92, 95–97, 305–08, 327–32, 339, 360, 371, 376–77 bzw. S. 500, 518, 534; denn sofern gilt: »Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen« (§ 371), ist das Wesen des in 41 42

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

einem entsprechenden sachlichen Bedeutungsgehalt der Rede von der Spontaneität hat unter diesen Voraussetzungen auch der von Kant hier eingeführte Begriff des Selbstbewußtseins teil. Er charakterisiert das Bewußtsein des urteilenden Subjekts, den Urteilsakt und die das jeweilige Urteil prägende logische Grundform selbst gestiftet zu haben und nicht das Medium irgendwelcher höheren oder niederen Steuerungsmächte zu sein. 45 Ein Urteil ist nur deswegen eine Handlung, weil es sich zusammen mit seiner jeweiligen logischen Form der Spontaneität des jeweils urteilenden Subjekts verdankt. Das von Kant hier thematisierte Selbst-Bewußtsein ist das Spontaneitäts-Bewußtsein jedes denkend-urteilenden Subjekts, das diesen Namen verdient. Das Subjekt des so strukturierten Selbstbewußtsein kehrt daher auch nicht auf irgendwelchen schwer zu analysierenden ›reflexiven‹ Wegen zu sich zurück, um sich in irgendwelchen ›selbstrepräsentierenden‹ Formen – z. B. einer ›intellektuellen Anschauung‹ – zu erfassen. Das Subjekt eines solchen Selbstbewußtseins erschöpft sich vielmehr in dem Spontaneitätsbewußtsein, die Urteile, die es trifft, mitsamt ihren logischen und ihren gegenstandsreferentiellen, kategorialen Formen selbst zu treffen. Es ist daher auch eher irreführend, mit Blick auf das von Kant thematisierte Selbstbewußtsein von einem epistemischen Selbstbewußtsein zu sprechen. Jedenfalls umfaßt dies Selbstbewußtsein weder irgendeinen für seinen jeweiligen Träger thematischen Erkenntnisgehalt noch sonst irgendeinen thematischen Kants Theorie analysierten Denkens zumindest auch in der Grammatik des ›formalen Satzes‹ Ich denke, daß-p ausgesprochen. 45 Diese Möglichkeit, die selbst-Komponente in der Rede vom Selbstbewußtsein im Rahmen einer Analyse des Bewußtseins der denkend-urteilenden Selbst-Tätigkeit bzw. Spontaneität fruchtbar zu machen, mit der das Subjekt eines Urteils eben dies Urteil und dessen logische Form unabhängig von allen nicht-personalen und überpersonalen Instanzen bildet, übersieht Searle, 1992, S. 141–43. Es geht Searle hier um die Prüfung der allgemeinen These, daß jeder Fall von Bewußtsein auch ein Fall von Selbstbewußtsein sei. Er hält die zweigliedrige Alternative zwischen einer zutreffenden, aber trivialen und einer falschen Option für erschöpfend. Bei der zutreffenden, aber trivialen Option handelt es sich um den Fall, von der Aufmerksamkeit auf eine Situation zur Aufmerksamkeit auf diese Aufmerksamkeit überzugehen, also sich seiner Aufmerksamkeit bewußt zu werden, vgl. 143 f.; bei der falschen Option handelt es sich um die Fälle, in denen sich eine Person bewußt wird, in einer außerordentlichen und unintendierten Situation zu sein, vgl. S. 142–43. Wie seine ergänzende Bemerkung über »unity of self«, S. 1414, indessen zeigt, scheint er sich zwar an einem Problemkomplex zu orientieren, dem gerade auch Kants Theorie des Spontaneitätsbewußtseins gewidmet ist. Nach Lösungen für ihn sucht er indessen in der Neurophysiologie, vgl. oben 27810.

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kognitiven Gehalt. Es ist ausschließlich das unthematische Bewußtsein des formalen Vollzugscharakters seiner Urteilsakte, diese Akte selbst zu vollziehen. 46 Orientiert man sich an diesen den Begriff des Selbstbewußtseins bestimmenden Momenten aus Kants Konzeption des ›höchsten Punkts‹, dann fällt auch ein erstes klärendes Licht auf die seine Praktische Philosophie abschließende Formel vom moralischen Selbstbewußtsein. Denn unter diesen Voraussetzungen ist auch durch diese praktische Gestalt des Selbstbewußtseins das Bewußtsein eines Menschen geprägt, ein Urteil mitsamt dessen charakteristischer Form selbst zu fällen und nicht als das Medium oder gar als das Opfer externer Instanzen oder Mächte zu funktionieren – das Urteil über den moralischen Charakter einer von ihm praktizierten oder intendierten Handlungsweise. Die Form eines solchen moralischen Urteils kann selbstverständlich nur mit Hilfe von Mitteln beschrieben werden, wie sie durch das »[…] principium der diiudication« 47 festgelegt werden, als das der Kategorische Imperativ auch bei der Thematisierung des moralischen Selbstbewußtseins fungiert. 48 Nur wenn es gelingt, eine moralische Urteilsform zu finden, die in dem ›formalen Satz‹ Ich denke, daß-p das propositionale Suffix … daß-p konkretisiert und vom praktisch-moralisch urteilenden Subjekt als die Form seiner praktisch-moralischen Selbstbeurteilung adoptiert werden kann, hat das von Kant konzipierte praktisch-moralische Selbstbewußtsein und mit ihm die praktische Subjektivität das angemessene praktische fundamentum in re (vgl. hierzu unten S. 301 ff.).

IV. Achtet man genügend darauf, daß das Ich denke des ›Aktus der Spontaneität‹ der ›reinen und ursprünglichen Apperzeption‹ erst in der urteilsfunktionalen Gestalt des Ich denke, daß-p eine ihm angemessene sprachliche Form findet, dann zeigt sich auch zur Genüge, dass man diesen Akt von Anfang an gründlich mißversteht, wenn man ihn mit einem autarken kognitiven Akt identifiziert, der in selbstgenügDiesen nicht-epistemischen Charakter des von Kant analysierten Selbstbewußtseins verkennt auch Tugendhat, 1979, vgl. S. 44 ff. 47 Kant, AA XXVII,1, S. 274, XXVII,2.2, S. 1428, m. H. 48 Vgl. Kant, MS, S. 437 ff. 46

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samer Weise die Struktur desjenigen ausmachen würde, was Kant gelegentlich auch als das Selbstbewusstsein apostrophiert. Nun kann man allerdings auch nicht einfach darüber hinwegsehen, dass das Mißverständnis einer solchen Autarkie bzw. Selbstgenügsamkeit durch einige Schlüsselstellen im Text der Ersten Kritik begünstigt wird. An prominentester Stelle kommt hier selbstverständlich Kants suggestive, schon zitierte Bemerkung in Frage, dass »[…] wir uns [um] […] dieses Ich, oder Er oder Es […], welches denkt, […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen […] müssen«, 49 als wenn eine im strikt formalen Sinne zirkuläre Struktur für dies scheinbar autarke Selbstbewusstsein charakteristisch wäre. Will man die Konzeption des denkend-fungierenden Subjekts und damit auch die des praktisch-moralischen Selbstbewußtseins nicht einem störenden, obwohl unnötigen und scheinbar textbasierten Zirkularitätsverdacht aussetzen, dann wird man den von Kant ja offensichtlich intendierten sachlichen Gehalt seiner Zirkularitäts-These zunächst um seiner selbst willen klären müssen. Hier ist zu beachten, daß Kant den Intentionsbereich seiner anschaulichen Rede von einem Zirkel sogleich selbst in hinreichend bestimmter Form einschränkt, in dem wir uns um das denkende Ich ›herumdrehen‹ müssen. Es geht dabei ausschließlich um die sehr speziellen Fälle, in denen »[…] wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um von ihm irgendetwas zu urteilen«. 50 Doch es ist nur allzu aufschlußreich, daß Kant den wichtigsten logischen Einblick in die hier angedeutete Urteilsform ebenfalls erst auf dem Weg gefunden hat, der von den paralogistischen Analysen der ersten Auflage der Ersten Kritik zur Ausarbeitung der Konzeption des ›höchsten Punkts‹ in der zweiten Auflage führt. Erst in den Prolegomena kann er klärend mitteilen, daß es sich bei diesen speziellen Urteilen nur um solche handelt, bei denen sich die »Prädikate des inneren Sinnes […] auf das Subjekt [beziehen] und dieses kann nicht weiter als Prädikat irgend eines andern Subjekts gedacht werden«. 51 In einer handschriftlichen Aufzeichnung notiert er eine klärende Exemplifizierung dieses Typs der Urteile-des-inneren Sinns durch die Aufzählung »Ich bin, Ich denke, Ich handele«. 52 Insbesondere mit 49 50 51 52

KrV, A 346, B 404; vgl. auch A 366. A 346, B 404, Hervorhebung R. E. Kant, Prol., S. 334, Hervorhebung R. E. Kant, Ak. XVIII, S. 266.

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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

Blick auf die Konzeption des praktisch-moralischen Selbstbewußtseins sollte es zu denken geben, daß Kant auch das Ich handele zum Typus des Urteils-des-inneren-Sinns schlägt. Denn dies praktische Urteil-des-inneren-Sinns bildet einen integralen Teil jeder Maxime und damit des wichtigsten direkten Materials der moralischen Beurteilung mit Hilfe des moral-spezifischen Kategorischen Imperativs. 53 Es bildet also einen integralen Teil des praktisch-moralischen Selbstbewußtseins (vgl. unten S. 301–02). Nun gilt allerdings zunächst einmal ganz allgemein und unabhängig von diesen speziellen Fällen, dass wir uns jederzeit ›der Vorstellung von demjenigen schon bedienen müssen, von dem wir irgendetwas zu urteilen suchen‹ – nicht nur im Falle der Urteile ›vom Ich‹, sondern in allen möglichen Fällen der Urteile von irgendetwas. So müssen wir uns beispielsweise in dem Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein der Vorstellung von demjenigen, wovon wir urteilen – hier also der Vorstellung von der Sonne – schon bedienen, wenn wir von ihr irgendetwas – hier also, dass (!) sie den Stein erwärmt – urteilen. Andernfalls könnten wir gar nicht verstehen, wovon wir jeweils überhaupt irgendetwas urteilen. Kants allzu abstrakte logische Charakterisierung der Urteilsform, die er in der Einleitung zum Paralogismus-Kapitel der ersten Auflage zum Ausgangspunkt für eine zirkulär-metaphorische Veranschaulichen des Selbstbewußtseins zu machen scheint, ist daher zunächst einmal schon deswegen nicht ohne weiteres geeignet, eine zirkuläre Struktur im strikten Sinne plausibel zu machen, weil man sie in dieser abstrakten Form gar nicht strikt auf die Urteile-des-inneren-Sinnes einschränken kann. Ausschlaggebend für das angemessene Verständnis von Kants sachlichem Motiv, die Zirkel-Metaphorik im Blick auf die Fälle einzuführen, in denen wir irgendetwas ausschließlich ›vom Ich‹ urteilen, ist vielmehr eine ganz bestimmte formale Komplikation, wie sie sich in paradigmatischer Weise im Fall des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke aus einer vierfachen Rollenverteilung des von Kant apostrophierten Ich ergibt. Es ist diese vierfache Rollenverteilung, die gleichsam die vier Quadranten eines Kreises bestimmt. 54 Diese Zirkel-Metaphorik erweist sich daher bei genauerem Hinsehen als das Ergebnis Zum rechtsspezifischen Kategorischen Imperativ und seinem maximenspezifischen Beurteilungsfeld vgl. Kant, MS, S. 229–31. 54 Vgl. zu dieser trefflichen geometrischen Vervollständigung der Zirkel-Metaphorik in einem anderen Kant-spezifischen Kontext schon Reich, 21948, S. 28–29. 53

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eines Versuchs zu zeigen, wie man in anschaulicher Weise eine vierfache Rollenverteilung für das von ihm apostrophierte Ich charakterisieren kann. Die eine Rollenverteilung hat Kant durch die komplementären Charakterisierungen berücksichtigt, dass man im Rahmen von Urteilen-des-inneren-Sinns – und nur von solchen Urteilen – einerseits ›irgendetwas vom Ich urteilt‹ und dass man andererseits ›sich der Vorstellung vom Ich bedient‹. Doch diese Rollenverteilung durchschaut man nur dann, wenn man zunächst die schon benutzten Reflexionen »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile« 55 und »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht« 56 zu Hilfe nimmt. Denn damit stellt Kant klar, daß dies absolute Subjekt als denkendes Wesen nicht nur in allen Fällen von Wahrnehmungsurteilen, Erfahrungsurteilen, praktischen Urteilen und ästhetischen Urteilen die logischen Binnenstrukturen dieser Urteile bestimmt, sondern auch in allen Fällen von Urteilendes-inneren Sinns – bestimmend nämlich ›dasjenige Verhältnis, welches das Urteil ausmacht‹, also im Fall des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bestimmend das kategorische Verhältnis zwischen dem logischen Subjekt Ich … und dem Prädikat-des-inneren-Sinns … denke dieses Urteils. Daher ist ›die Vorstellung vom Ich‹, derer man ›sich bedient‹, indem man ›das Denken vom Ich urteilt‹, die Vorstellung von nichts anderem als die vom ›Ich als absolutem, die jeweiligen urteilsinternen Verhältnisse bestimmenden Subjekt‹ ; und das ›irgendetwas‹, das man ›vom absoluten Subjekt urteilt‹, ist das Attribut des Denkens, das man von ihm ›als denkendem Wesen‹ auch nur mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke ›urteilt‹. Der springende Punkt in diesem Zusammenhang zeigt sich besonders klar, wenn man die treffliche terminologische Prägung zu Hilfe nimmt, die Husserl für das fungierende Ich gefunden hat: Durch das Urteil Ich denke wird das ursprünglich spontan denkendurteilend-fungierende Ich und seine die urteilsinternen logischen Verhältnisse denkend-bestimmende Funktion thematisiert, während das urteilsinterne kategorische Verhältnis des logischen Subjekts Ich … und des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke des Urteils Ich denke wiederum von diesem spontan denkend-urteilend-fungierenden Ich, also vom absoluten Subjekt durch dessen spontan denkend55 56

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bestimmende Funktion bestimmt wird. Das von Kant thematisierte Ich ist das unthematisch fungierende Ich der spontanen Regie über jede logische Urteilsform – und daher auch über die logische Form jedes Urteils-des-inneren-Sinns. Die erste wichtige Rollenverteilung, die Kant mit der Zirkel-Metaphorik des Selbstbewußtseins anschaulich zu machen sucht, ist daher die zwischen dem denkend-fungierenden und dem thematisierten denkend-fungierenden Ich, dem absoluten Ich der urteils-internen logischen Relationenbestimmung. Erst im Licht dieser Rollenverteilung kann auch eine Schwierigkeit überwunden werden, die die Klärung des Zirkels des Selbstbewußtseins zunehmend in dem Maß begleitet, in dem die Kontrollen schärfer geworden sind, denen Theorien des Selbstbewußtseins im Licht der methodologischen Errungenschaften der Analytischen Philosophie ausgesetzt sind. Die entsprechenden Kontrollen von Kants Thesen zur Zirkularität des Selbstbewußtseins beginnen zweckmäßigerweise mit der Klarstellung, daß Kants schriftsprachliche Gestaltung der urteilsförmigen Thematisierung des Zentralakts des denkend-fungierenden Ich vom Pronomen der ersten Person Singular Gebrauch macht und der Eindeutigkeit halber mit Hilfe des kleingeschriebenen Pronomens ich denke formuliert werden sollte. Davon verschieden ist Kants von dem denkenden Zentralakt abstrahierende sprachliche Gestaltung der nicht-urteilsförmigen Thematisierung des Subjekts dieses Zentralaktes mit Hilfe des bestimmten Artikels und des großgeschriebenen »das/des/dem/das Ich« – also des unthematisch fungierenden Ich. Kant selbst hat die entsprechenden funktionalen Differenzen zum Nachteil der auf der Oberfläche seiner Texte wünschenswerten Klarheit in der Regel nicht berücksichtigt. Trägt man diesen Differenzen indessen auch in ihrer unvermeidlichen schriftsprachlichen Formulierung gebührend Rechnung, dann zeigt sich, daß sogar innerhalb von Kants Theorie sachlich gerechtfertigte und methodisch kontrollierbare Schritte vorgesehen sind, die einem Abstieg vom Ich zum »ich« 57 entsprechen – dem Abstieg nämlich vom un-thematisierten spontan denkend-fungierenden Ich, also vom un-thematisierten absoluten, die urteilsintenen (logischen) Relationen spontan bestimmenden bzw. die urteilsinternen (logischen) Verbindungen spontan stiftenden Subjekt zum thematiVgl. zu diesem formelhaften Generalprogramm einer Überwindung aller am großgeschriebenen »Ich« orientierten Theorien des Selbstbewußtseins Tugendhat, 1979, bes. S. 68 ff.

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sierten spontan denkend-fungierenden Ich des Urteils-des-innerenSinns ich denke. 58 Kants Theorie ist daher in diesem zentralen Punkt auch nicht im mindesten mit irgendeiner Subjekt-Objekt-SpaltungTrennung oder einer sonstigen ontologischen oder epistemologischen Kluft zwischen einem wie auch immer konzipierten Subjekt und einem wie auch immer konzipierten Objekt befaßt. Sie ist ausschließlich mit dem funktionalen Rollen- und Statusunterschied zwischen einem unthematischen und einem thematisierten Subjekt der logischen Verknüpfung von geeigneten Elementen zur formalen Einheit eines Urteils befaßt. 59 Das unthematisch fungierende Ich ist der einzigartige Fall eines nichtsprachlichen Funktors, der in den logischen Formen jedes Urteilsakts als die spontaneitätstiftende Quelle zum Zuge kommt, ohne deren Inanspruchnahme dem Subjekt eines solchen Urteilsakts gar kein Urteilsakt gelingen könnte, der diesen Namen verdienen würde. Ohne diese unthematisch fungierende Spontaneitätsquelle wäre das Subjekt gar kein Subjekt irgendeines Aktes mehr, sondern nichts als ein Medium eines Affektsturms, wie er allenfalls durch evolutionäre Instinktbildungen lebensdienlich gesteuert werden könnte. Die Spontaneität dieser Quelle ist sogar so radikal, daß ein urteilsfähiges Subjekt noch nicht einmal vermeiden kann, von ihr nicht spontan Gebrauch zu machen. 60 Hat man erst einmal den funktionalen Rollen- und StatusunterZur Kant-basierten Kritik an Tugendhats Abstiegs-Programm, das in Wahrheit ein Programm zur Eliminierung aller Thematisierungen eines wie auch immer konzipierten Ich ist, vgl. auch die trefflichen, allerdings programmatisch gebliebenen Andeutungen von Cramer, 1987, S. 20118. 59 Das verkennt gerade mit Blick auf Kant Tugendhat 1979, vgl. bes. S. 16 f., 33 ff.; vgl. auch hierzu die treffliche, wiederum nur programmatisch gebliebene Kritik von Cramer, 1987, S. 20118. 60 Rosefeldt, 2001, bleibt, unbeschadet aller wichtigen Klärungen, in der anscheinend auch durch Wittgenstein-Studien inspirierten Auffassung befangen, daß das logische Ich ausschließlich in solchen Urteilen relevant sei, in denen das Subjekt des spontanen denkenden Urteilens unmittelbar und ausdrücklich mit Hilfe des Ersten Personalpronomens thematisiert wird, also in Urteilen-des-inneren-Sinns. Damit verkennt Rosefeld jedoch, daß Kants Theorie der reinen und ursprünglichen Apperzeption eine Pointe eben auch darin hat, dass dies Ich bzw. Ich denke bzw. Ich denke, daß-p in unthematischer und unausdrücklicher Form auch dann seine Funktion ausübt, wenn ein Urteil in direkter und expliziter Weise ausschließlich z. B. einen Gegenstand möglicher Erfahrung wie z. B. die Erwärmung eines Steines durch die Sonne thematisiert. Denn seine Funktion zeigt sich in einem solchen Urteil darin, daß es immer noch ›das bestimmende, also denkend-urteilende Subjekt desjenigen logischen (und kategorialen!) Verhältnisses ist, das dieses Urteil ausmacht‹. 58

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schied zwischen dem unthematisch fungierenden Ich und dem thematisierten unthematisch fungierenden Ich geklärt, dann ist es viel leichter, auch den anderen funktionalen, also den anderen Rollenund Statusunterschieden gerecht zu werden, die Kant in der suggestiven Halbmetapher vom Zirkel des Selbstbewußtseins zusammenfaßt. Die dritte Rolle hat Kant in zwei prägnanten einander ergänzenden Reflexionen auf Begriffe gebracht: »Ich, das Subject, mache mich selbst zum Object« 61 und »Ich bin das original aller obiecte«. 62 Durch seine robuste, geradezu handwerklich inspirierte Rede vom Sichselbst-zum-Objekt-machen signalisiert Kant in unmißverständlicher Weise zweierlei: 1.) Das denkend-fungierende Ich-Subjekt macht sich überhaupt erst durch seine Bestimmung der kategorischen Form des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke selbst, also spontan bzw. selbsttätig zum Original, also zum ursprünglichen Muster aller Objekte; 2.) ›das Original aller Objekte‹ ist nichts, was als Objekt am Ende irgendwelcher reflexiver Suchaktionen vorgefunden werden könnte, so daß man zu ihm in seiner Vorhandenheit nur nachträglich durch einen speziellen, egozentrischen Akt der Referenz in Beziehung treten könnte. Vielmehr handelt es sich bei der Eigenschaft, das Original aller Objekte zu sein, um eine funktionale Rollen- und Statuseigenschaft, wie sie dem spontan fungierenden Subjekt des apperzeptiven Aktes des urteilenden Denkens durch das spontane Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. ich denke überhaupt nur verliehen werden kann. Die vierte funktionale Eigenschaft schließlich des von Kant apostrophierten Ich, die alle anderen dominiert, wird indessen auch im Fall der Urteile-des-inneren-Sinns durch Kants Gedanken berücksichtigt: »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht«. 63 Während sich die ersten drei Rollen noch einigermaßen im Horizont der referenz- und prädikatsemantischen Analysen der Gegenwart klären lassen, faßt Kant mit der Berücksichtigung der vierten Rolle des von ihm apostrophierten Ich den Schlüssel ins Auge, mit dessen Hilfe sich unmittelbar die logische Dimension öffnen läßt, in der den spontanen Verbindungsakten des denkend-fungierenden Ich-Subjekts durch Kant, op. post. I, S. 93, Kants Hervorhebungen; vgl. auch S. 58, 69, 72, 77, 79, 87, 89. 62 Kant, AA XVII, R 4674, S. 646. 63 Kant, KrV, B 407. 61

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eben dies Ich-Subjekt bestimmte Urteilsformen eingeprägt werden – beispielsweise die kategorische Form, die Kant den Urteilen-des-inneren-Sinns dadurch attestiert, daß er in der entsprechenden Passage der Prolegomena ausdrücklich die »Prädikate des inneren Sinns« 64 als die charakteristischen logischen Funktionselemente solcher Urteile einführt. 65 Doch für diese vierte Rolle – also für die Rolle der ›Bestimmung desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht‹ – kommt es gerade nicht darauf an, daß sie thematisiert und zur Sprache gebracht wird – weder mit Hilfe des Ersten Personalpronomens »ich« noch mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns »… denke«. Es kommt vielmehr ausschließlich darauf an, daß diese Rolle vom denkenden Ich in logisch fruchtbarer Weise ausgeübt wird. Daher bleibt »… dieses Ich, … welches denkt« 66 in allen Urteilen außer in dem Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke unthematisch, ohne daß deswegen irgendetwas von seiner zentralen Funktion für den Urteilscharakter der Urteile zu kurz kommen würde. Es ist außer in diesem singulären Sonderfall nicht der thematische Bezugsgegenstand irgendeines Urteils. Insofern – und nur insofern – ist das Denken des ›fungierenden‹ Ich »[…] bloß die logische Funktion«. 67 Deswegen ist es in der Sprache der modernen Syntax-Theorie der höchste nichtsprachliche Funktor unter allen von Kant analysierten Funktionalfaktoren der denkenden, urteilenden und erkennenden Subjektivität. 68 In den von Kant mit seiner Zirkel-Metaphorik ins Auge gefassten Fällen von Urteilen-des-inneren-Sinns handelt es sich daher bei dem von ihm apostrophierten Ich bei genauerem Hinsehen 1.) um das Kant, Prol., S. 334, m. H. Damit beendet Kant auch das frühere Schwanken in der ersten Auflage der Ersten Kritik, ob die Formulierung Ich denke als »Begriff, oder, wenn man lieber will, […] Urteil« (KrV, A 342, B 300) oder in logisch unbestimmter Form als »Text« (A 343, B 401) aufgefasst werden sollte. 66 A 346, B 404. 67 B 428. 68 Zu Recht macht daher Henrich,1989, gegen Tugendhat, 1979, geltend, daß es »[…] bei der Aufklärung von Selbstbewußtsein« darauf ankomme, »[…] sich nach anderem als dem umzusehen, was mit dem geläufigen und trivialen Begriff einer Person gegeben ist, die als solche kompetenter Sprecher ist«, S. 101. Ein »Abstieg vom Ich zum »ich««, wie ihn Tugendhat, 1979, S. 68–90, fordert, ist daher in Kants Kontext nicht nötig. Nötig ist indessen die sorgfältige Unterscheidung zwischen der gegenständlichen Thematisierung des denkend-fungierenden Ich-Funktors aller formalen Urteilsbildung durch ein sprachlich formuliertes Urteil-des-inneren-Sinns und diesem unthematisiert denkend-fungierenden Ich-Funktor. 64 65

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Personalpronomen »ich« (!), das im Rahmen eines solchen Urteils in der logisch-grammatischen Rolle des Subjekt dieses Urteils verwendet wird; 2.) um das Ich, das mit Hilfe des Ersten Personalpronomens »ich« in dessen logisch-grammtischen Rolle des internen Subjekts des Urteils zum ›originalen Objekt aller Objekte‹, also zum originalen Referenz-Objekt, zum Referenz-Objekt-Muster aller anderen Referenz-Objekte gemacht wird; 3.) um das attributive Objekt-Ich, von dem jeweils irgendein Attribut mit Hilfe eines Prädikats-des-inneren-Sinns wie … denke, … existiere oder … handle geurteilt wird bzw. dessen Vorstellung als eines Denkenden, Existierenden bzw. Handelnden sich das urteilende bzw. prädizierende Subjekt des Urteilsakts jeweils bedient; und 4.) um das Ich, das auch mit Blick auf solche Urteile das bestimmend-fungierende Subjekt des Verhältnisses, speziell desjenigen kategorischen Verhältnisses des grammatischlogischen Subjekts »ich« und eines Prädikats-des-inneren-Sinns ist, das als kategorisches Verhältnis jeweils auch ein Urteil-des-innerenSinns als Urteil ausmacht. Welche Tragweite mit der Berücksichtigung des spontan denkend-urteilend-fungierenden Ich in Kants Theorie verbunden ist, lässt sich auch indirekt ermessen, wenn man die Funktoren-Sprache der modernen Syntax-Theorie mit der Sprache der überlieferten Metaphysik vergleicht, in der Kant diese Tragweite gelegentlich verdeutlicht. Denn in dieser Sprache ist »das denkende Ich […] die Seele« 69 und »Ich, als denkend, heiße Seele«. 70 Insofern ist die Seele unter der Kennzeichnung das Ich der denkend-urteilende Funktor. Ein Wesen, das von diesem spontaneitätstiftenden denkend-fungierenden Ich zugunsten von Urteilen als Urteilen Gebrauch macht, wird daher von diesem Ich gleichsam beseelt. Stellt man diesen Rückgriff auf die Sprache der überlieferten Metaphysik der Seele gebührend in Rechnung, dann zeigt sich unter einem anderen Aspekt die Tragweite vielleicht sogar noch prägnanter, die Kant für seine Theorie der ursprünglichen und reinen Apperzeption des spontanen denkenden Urteilens ins Auge fasst, wenn er das Vermögen zu solchen Akten als »[…] das Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis« 71 auffaßt. Denn im Licht von Kants Theorie ist die so konzipierte Seele gar nichts anderes als eben dies Radikalvermögen. Die Spontaneität, zu 69 70 71

Kant, KrV, A 361. A 342, B 400. A 114.

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der es seine Inhaber befähigt, bildet insofern den genuinen ›seelischen‹ Charakter aller Akte, durch die seine Inhaber von ihm Gebrauch machen. Im Medium der Akte des Denkens und des Urteilens – und nur in diesem Medium – zeigt sich die so verstandene Seele. Kants Bemerkung, daß der spontane Akt des denkenden Ich auch jeder Erfahrung – eigentlich: jedem Erfahrungsurteil bzw. jeder Erfahrungserkenntnis 72 – als subjektive Bedingung ›anhängt‹ (vgl. KrV, A 357), gibt daher zu verstehen, daß und inwiefern auch die dem Menschen mögliche Erfahrung zu der ›seelischen‹ Tragweite der spontanen Akte des denkenden Urteilens gehört, zu denen das Radikalvermögen aller Erkenntnis seine Inhaber befähigt – insofern nämlich, als es auch einem Erfahrungsurteil wie Die Sonne erwärmt den Stein so ›anhängt‹, daß diese Form durch das Urteil-des-innerenSinns »Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt« direkt thematisiert und zur Sprache gebracht wird. 73 In der ersten Auflage der Ersten Kritik respektiert Kant einen Unterschied ausschließlich zwischen »[…] viel Wahrnehmungen« und »[…] einer und derselben Erfahrung«, zu der »alle Wahrnehmungen […] gehören«, vgl. A 110. Erst in den Prolegomena hat er die logische und die kategoriale Struktur der vielen möglichen Erfahrungsurteile und deren Abhängigkeit von den ebenfalls vielen möglichen und für den Gewinn von Erfahrungsurteilen nötigen Wahrnehmungsurteilen durchschaut, vgl. IV 298 ff. Die Tragweite dieser Einsicht in die distributiv-plurativen empirischen Urteilstypen zugunsten des unitären Ganzen der Erfahrung kann schwerlich überschätzt werden. Zu Recht schreibt Vleeschauwer im Anschluß an Erdmann den Fortschritt von der ersten zur zweiten Auflage der Ersten Kritik vor allem der Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen und in die funktionale Kohärenz zwischen ihnen zu, vgl. Vleeschauwer, 1937, S. 15–18. Er spricht ebenso zu Recht davon, daß es Kant auf dieser Linie darauf ankomme, »à mettre en évidence le rôle primordial du jugement«, S. 16; er stellt aber ebenfalls klar, daß dies Augenfälligmachen der primordialen Rolle des Urteils nicht verwechselt werden dürfe mit einer späten Entdeckung dieser Rolle; vielmehr ist Kant dies Augenfälligmachen gelungen »[…] grace à une plus saine conception du jugement«, S. 284, Hervorhebung R. E.; erst mit Hilfe dieser reiferen Konzeption dokumentiere er in der berühmten langen Fußnote der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft jedoch sogar, daß er endlich »[…] en possession complète du nouveau principe de la deduction«, S. 17, der Kategorien sei; er hält Kants Erörterung der Strukturen und der Rollen der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile in den Prolegomena sogar für »[…] l’essence de la nouvelle déduction«, II, S. 476. Eine umfassende Rekonstruktuion von Kants Theorie der Erfahrung wird diese Zusammenhänge zugunsten einer erheblichen Vereinfachung der Transzendentalen Deduktion fruchtbar machen können. 73 In seiner ebenso scharfsinnigen wie tiefsinnigen Untersuchung hat Gregor Damschen, Epistemologische Letztbegründung. Eine Untersuchung zur Grundstruktur der Formen des Wissens, Diss. Halle 2012, 254 S., gezeigt, vgl. S. 29–93, daß eine 72

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V. Wenn das Selbstbewußtsein das Bewußtsein eines denkend-urteilenden Subjekts ist, das der Urteile, deren es fähig ist, nur insofern fähig ist, als es sie – und vor allem ihre logischen Formen – selbst, also spontan bilden kann, dann kann auch das moralische Selbstbewußtsein, das Kant thematisiert, nur ein spontan moralisch urteilendes Bewußtsein eines solchen Subjekts sein. Die Urteilsförmigkeit dieses moralischen Selbstbewußtseins hat Kant in der Phase seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach der prozeduralen Funktion des moralischen kategorischen Imperativs sogleich ins Auge gefaßt, wenn er ihm die Rolle eines »[…] principium der diiudication« 74 zuschreibt. Die traditionelle terminologische Verkürzung dieser Charakterisierung durch die Rede von einem Kriterium hat er sich erst in der Phase der Ausarbeitung des rechtlichen Kategorischen Imperativs zunutze gemacht. 75 Ungeachtet dieser in der fortgesetzten Werkstattarbeit liegenden Verzögerung der terminologischen Zuspitzung ist gleichwohl spätestens durch Kants Rede vom moralischen Selbstbewußtsein klar, daß der moralische kategorische Imperativ ein Kriterium ausschließlich der moralischen Selbstbeurteilung des Subjekts dieses Selbstbewußtseins ist und nicht eines der moralischen Beurteilung eines anderen Subjekts durch dies Subjekt oder umgekehrt. Kants wiederholte Erörterung dieser Beurteilungsform im Rahmen des Quasi-Bildes vom inneren Gerichtshof 76 spricht in diesem Punkt eine hinreichend deutliche Sprache. Dennoch hat Kant gerade im Kontext dieses Quasi-Bildes einen außerordentlich wichtigen Hinweis auf eine komplexe Struktur gegeeinzigartige philosophische Satzform durch die Eigenschaft ausgezeichnet werden können muß, einer reflexiven Anwendung, also einer Anwendung auf sich selbst zugänglich zu sein, ohne durch diese Form der Anwendung irgendeine Form eines Widerspruchs, speziell eines performativen Widerspruchs zu provozieren; vgl. bes. S. 88–93. Den paradigmatischen Kandidaten für diese Satzform bildet im Rahmen von Kants Theorie die Urteilsform Ich denke, sofern ihre vollständige Form durch Ich denke, daß-p repräsentiert wird (vgl. oben S. 285 f. sowie 28537, 28744). Denn in dieser – und nur in dieser – Form ist eine Selbstanwendung in der Form (eines Urteilsdes-inneren-Sinns zweiter Stufe) Ich denke, daß ich denke, daß-p möglich, ohne irgendeine Form eines Widerspruchs zu provozieren. 74 Kant, AA XXVII, 2.2, S. 1428 f.; vgl. auch AA XXVII, 1, S. 274 f. 75 »[…] das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne«, Kant, MS, S. 229. 76 Vgl., S. 438–40.

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ben, die diesen inneren Gerichtshof zu einem Forum stempelt, das nicht nur den Inhalt eines anschaulichen, zu didaktischen Zwecken verwendeten Bildes bildet. Diese komplexe, der bildlichen Anschaulichkeit vorgeordnete Struktur hat Kant im Augen, wenn er mit Blick auf das Beurteilungsverfahren, das auf diesem Forum durchgeführt wird, die Beteiligung eines Klägers, eines Angeklagten, eines Beistands und eines Richters ins Auge faßt. 77 Damit macht Kant offensichtlich darauf aufmerksam, daß an der forensischen Komplexität dieses Verfahrens ganz unabhängig von dessen prozeduraler Komplexität jedenfalls auch eine wohlbestimmte komplexe, vierfältige Rollenverteilung beteiligt ist. Gleichwohl bildet seine Berücksichtigung dieser Rollenverteilung nicht den springenden Punkt seiner Gerichtshof-Analogie. Sie bildet vielmehr den vorletzten Schritt der Vorbereitung auf diesen springenden Punkt. Den letzten Schritt dieser Vorbereitung bildet der Gedanke, daß es »[…] eben derselbe Mensch« 78 ist, der in den Rollen des Klägers, des Angeklagten, des Beistands und des Richters die moralische Beurteilung einer Handlungsweise bzw. von deren Maxime ausübt. Andernfalls würde der Mensch einer ›Zerstreuung‹ in diese vier Rollen analog anheim gegeben sein wie Kant ihn in seiner Basistheorie des Selbstbewußtseins für den kontrafaktischen Fall ›zerstreut‹ sein läßt, daß er nicht von der logischen Fähigkeit Gebrauch machen könnte, die diversen ihm jeweils gegebenen Vorstellungen zur Einheit eines urteilsförmigen Gebildes zu verbinden. Den letzten Schritt der Vorbereitung des springenden Punkts und nicht diesen springenden Punkt selbst bildet der Identitäts-Gedanke ›eben desselben Menschen‹ deswegen, weil Kant mit ihm noch vor der Ausbuchstabierung dessen stehen bleibt, was denn nun genau die Struktur des von ihm apostrophierten moralischen Selbstbewußtseins ausmacht, das hier im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht. Die abstrakte theoretische Identitäts-These Kants macht lediglich indirekt auf den Inhalt des apostrophierten moralischen Selbstbewußtseins aufmerksam, präsentiert aber gerade noch nicht die Form, die es als ein identitäres Selbstbewußtsein prägt. Denn als solches muß es offenbar die besondere Form eines moralischen Identitätsbewußtseins haben, also die Form eines Bewußtseins, dessen Subjekt sich spontan seiner Identität in der Vierheit der an seiner moralischen Selbstbeurteilung beteiligten Kläger/Angeklagter/Beistand/Richter77 78

Vgl. S. 439*. Ebd.

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Rollen bewußt ist. Für die Präsentation der Spontaneität dieses moralischen Identitätsbewußtseins hat Kant ebenfalls die Spontaneitätsformel des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daßp vorgesehen. Diese Formel für das selbstbewußtseinstheoretisch wichtigste Urteil-des-inneren-Sinns muß offenbar an der propositionalen Leerstelle …, daß-p nur noch durch den Inhalt des spezifisch moralischen Identitätsbewußtsein ergänzt werden, also durch einen Inhalt, der auch die Ausübung der vier Rollen umfaßt, die an der moralischen Selbstbeurteilung eines Menschen beteiligt sind. Der erste Schritt zur Bildung dieses Bewußtseins besteht dann offenbar darin, daß der Inhalt des Kategorischen Imperativs aus seiner imperativischen, scheinbar subjekt-externen Lehrbuch-Form 79 in die subjekt-interne Form des spontanen moralischen Identitätsbewußtseins eines Urteils-des-inneren-Sinns transformiert wird: (1) Ich denke, daß ich jede meiner Handlungen so gestalten muß, daß die Maxime meines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Die Personal- und die Demonstrativpronomina dieser Formen signalisieren schon unabhängig von den vier forensischen Rollen noch eine andere, vielfache Rollenidentität, 80 die das Subjekt dieses Bewußtseins spontan übt – seine Identität mit einem bestimmten Handlungssubjekt und einem bestimmten Willensmaximen-Subjekt sowie mit einem Subjekt, das sich verpflichtet, seine Handlungsweisen und seine Willensmaximen im Licht eines nomologisch-universellen Kriteriums zu beurteilen. Die vier forensischen Rollen kommen nur, aber auch immer dann zum Zuge, wenn ›eben der selbe Mensch‹ in den Rollen des Klägers, des Angeklagten, des Beistands und des Richters zu beurteilen sucht, ob eine konkrete moralrelevante Handlungsweise so gestaltet ist, daß deren Willensmaxime jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Es handelt sich daher nicht einfach um eine nicht weiter begründbare moralanthroVgl. Kant, KpV, S. 30. Im Basistext von Kants Theorie des Selbstbewußtseins, KrV §§ 16 ff., spielen die Possessivpronomina offensichtlich die Rolle von sprachökonomisch verkürzten Identitätssignalen, z. B. der possessivistisch formulierte Halbsatz »Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben sind, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn […]«, B 132, ist gleichbedeutend mit dem Satz Denn ich wäre nicht dasselbe Subjekt aller Vorstellungen, die in einer Anschauung gegeben sind, wenn … 79 80

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pologische Identitätsthese Kants, wenn er die vier forensischen Rollen von einem und demselben Menschen ausgeübt sieht. Es ist vielmehr eine und dieselbe Form der moralischen Beurteilung einer Handlungsweise und der sie leitenden Willensmaxime, wodurch diese Identität gestiftet wird: Ein Mensch ist als Träger des moralischen Selbstbewußtseins nur insofern derselbe Mensch in der Ausübung dieser vier verschiedenen Rollen, als er in jeder dieser vier Rollen dieselbe Form einer solchen Beurteilung als einziges zuverlässiges Kriterium einer solchen Beurteilung respektiert. Nun ist dies Kriterium allerdings auch mit einer notorischen Schwierigkeit verbunden dadurch, daß es selbst »[…] keine moralischen Begriffe voraussetzt«. 81 Es scheint seine Benutzer daher schon bei der Frage, was für Handlungsweisen und sie leitende Willensmaximen auch nur als moralisch relevant in Frage kommen, im Stich zu lassen – von der Antwort auf die Frage, welche von ihnen definitiv moralisch untadelig und welche moralisch tadelhaft sind, ganz zu schweigen. Man ist bei wohlwollender Lesart zwar noch bereit, Kant zuzugestehen, daß dies Kriterium im exemplarischen Ausnahmefall der Lüge funktioniere, weil unter einem Lügen-Gesetz die wechselseitige Vertrauensmöglichkeit und damit die für die Möglichkeit gedeihlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der Menschen notwendige moralische Bedingung aufgehoben sei. 82 Doch über eine exemplarische Erörterung und über eine allenfalls ein Teilgebiet moralischer Verpflichtungen erschließende Erörterung ist Kant auch im Licht einer solchen wohlwollenden Lesart nicht hinausgekommen. Indessen ist Kant bei exemplarischen Analysen des Lügen-Falls nicht stehengeblieben, sondern hat seine Überlegungen schließlich zu einer moral-anthropologischen Basisthese ausgearbeitet: »Die Lüge (›vom Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist‹) ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur«. 83 Unter dieser Voraussetzung verwandeln sich Kants exemplarische Gelegenheitserörterungen des Falles der Lüge aus einer Moralkasuistik in einen Ansatz, dessen Tragfähigkeit und vor allem Tragweite dazu taugen können muß, einsichtig zu machen, daß und inwiefern die moralische Struktur der Lüge im Licht der formalen Beurteilung mit Hilfe des Kategorischen Imperativs dazu führt, daß von ihr gleichsam wie 81 82 83

Patzig, 1994, S. 67. Vgl. ebd. und S. 69–70. Kant, AA VIII, S. 422, vgl. auch AA VII, S. 431 f.

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vom faulen Fleck auf der Oberfläche einer Frucht eine unmoralische Tiefenwirkung in alle Teile der menschlichen Praxis ausgehen kann. Indessen hat Kant ungeachtet aller Vorläufigkeiten seiner kasuistischen Lügen-Analyse von Anfang klargestellt, daß die spätere Analog-Apostrophierung eines ›faulen Flecks‹ nicht auf einer naturalistischen Irreführung beruht: Die unmoralische Struktur der Lüge zeigt sich für die moralphilosophische Analyse von Anfang an in der noch genauer zu klärenden formalen Eigenschaft der Lügenmaxime, daß sie »[…] sich notwendig widersprechen müsse«. 84 Wohl ist es notorisch unklar, inwiefern ein und derselbe Satz – zumal wenn er eine Maxime ist – sich selbst widersprechen kann. Doch bei einem in logischen Fragen zu seiner Zeit vergleichsweise so streng blickenden Autor wie Kant lohnt sich ein Versuch allemal, dem logischen Gehalt der hinter dieser laxen Formulierung stehenden Intuition auf die Spur zu kommen, gleichgültig, ob er letztlich zugunsten oder zuungunsten von Kants theoretischen Intentionen ausgeht. Immerhin hängt davon ab, ob wir zu Kant auch in der moral-philosophischen Schlüsselfrage »[…] nur mit dankbarer Bewunderung aufblicken können« 85. Denn wer möchte nicht über die Struktur der Selbstverständlichkeit aufgeklärt werden, dank der jeder Mensch inmitten der lebenslangen widerspruchsträchtigen kognitiven und praktischen Zumutung seines praktischen Alltags wenigstens in moralischer Hinsicht ›eben derselbe Mensch‹ bleiben kann?

VI. Inzwischen hat sich mehrfach und unter verschiedenen Aspekten gezeigt, daß sich das Zutrauen in eine solche Intuition zugunsten von Kants Intentionen lohnt. Man muß die traditionelle Rekonstruktion der Form des Beurteilungsverfahrens, das der Kategorische Imperativ entwirft, allerdings in mehrfachen Hinsichten strenger gestalten und gerade in formaler Hinsicht besser durchsichtig machen als es in aller Regel unternommen worden ist. 86 Vor allem muß man diese Beurteilungsform im Licht von Kants Thematisierung der identitären Struktur des moralischen Selbstbewußtseins von Anfang an als die Form 84 85 86

Kant, GMS, S. 422. Frege 1961, S. 101. Vgl. Enskat, oben vor allem S. 65–70, 84–85, sowie 115–24.

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spontaner moralischer (Selbst-)Beurteilung von Maximeninhabern bzw. Akteuren konzipieren. Mit dem ersten Schritt muß die Lügenmaxime daher aus ihrer randständigen Rolle als wichtiges, aber okkasionelles exemplarisches Material zur Anwendung eines abstrakten formalen Beurteilungsverfahrens für beliebige moralisch relevante Maximen und Handlungsweisen gelöst werden und als das einzigartige Kernparadigma spontaner moralischer (Selbst-)Beurteilungen von Maximeninhabe den Anfang des Beurteilungsverfahrens bilden; sodann muß die banale Universalisierung der (Lügen-)Maxime – also vor allem die Umformung des individuellen ich der Maxime in den Quantor alle bzw. jeder zusammen mit dessen Referenzbereich der Menschen oder Personen – durch eine Operation der Nomologisierung ergänzt werden, durch die die Form des faktischen LügenWollens und -Handelns aller individuellen (Lügen-)Maximeninhaber in die gesetzlich normierte Form des Müssens oder Sollens ihres Lügen-Wollens und -Handelns transformiert wird; sodann muß – und das ist der erste wichtige Schritt der Respektierung der komplexen Verflechtung von Spontaneität und Identität – die spontane Selbstidentifizierung des individuellen (Lügen-)Maximeninhabers mit einem der gesetzesunterworfenen und -konformen Lügner (in der Rolle des ›Angeklagten‹) einen eigenständigen Schritt im formalen Rahmen der logischen Selbstbeurteilung des (Lügen-)Maximeninhabers bilden; erst diese Selbstidentifizierung eröffnet einem individuellen Maximeninhaber die Möglichkeit, die Form des Verhältnisses selbst zu beurteilen, in dem die charakteristische subjektive Erfolgspräsupposition seiner Lügenmaxime und die charakteristische objektive Erfolgsbedingung stehen, der er diese Erfolgspräsupposition im Einzugsbereich eines gesetzlichen Lügengebots aussetzt: Denn einerseits setzt ein Inhaber der Lügenmaxime voraus, daß es in der Gestalt des jeweiligen Adressaten der von ihm praktizierten Lügenmaxime wenigstens eine Person gibt, die auf die Wahrheit des propositionalen Gehalts seiner Lüge zu vertrauen bereit ist; und andererseits gibt es im Geltungsbereich eines allgemein respektierten Lügengesetzes offensichtlich nicht wenigstens eine Person, die auf die Wahrheit des propositionalen Gehalts seiner Lüge zu vertrauen bereit ist – zwischen der subjektiven Erfolgspräsupposition eines Inhabers der Lügenmaxime und der charakteristischen objektiven praktischen Konsequenz aus der allgemeinen Respektierung eines gesetzlichen Lügenverbots besteht offenkundig ein einfacher formaler Widerspruch. 304 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Der moralische Gehalt des um die Lügenmaxime zentrierten Beurteilungsfahrens ist durch den Vertrauensgehalt der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime zunächst gleichsam nur stillschweigend präsent. Er wird erst durch die Reflexionen zur Sprache gebracht, die, wenn man Kants Rollenverteilung im Beurteilungsverfahren berücksichtigt, zur ›anklagenden‹ Rolle gehören: Durch die nomologische Verschärfung der Verallgemeinerung seiner Maxime 87 sowie durch die Analyse seiner vertrauensbasierten Erfolgspräsupposition und durch seine Identität mit einem dem Lügengesetz Unterworfenen wird dem ›angeklagten‹ Maximeninhaber vor Augen geführt, wie er und jeder ebenbürtige Maximeninhaber und Akteur beurteilen und erkennen kann, daß die Lügenmaxime und -praxis zur Aufhebung der universellen Vertrauenssolidarität führt, auf die sie nicht nur angewiesen sind, sondern die sie in jeder interaktiven und kommunikativen Situation mehr oder weniger stillschweigend in Anspruch nehmen – und zwar sogar im unsolidarischen Schutz der Lügenmaxime und -praxis. 88 Es liegt fast schon auf der Hand, daß alle Handlungsweisen, die vom Strafrecht mit Sanktionen verbunden werden können, ihrer Struktur nach auf Maximen beruhen, mit denen ihre Inhaber lügenanaloge und damit Vertrauenssolidarität aufhebende Täuschungen ihrer Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationspartner verbinden. Umgekehrt setzen dagegen die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs strukturell voraus, daß die Subjekte der normierten vertragsförmigen Handlungsweisen diese Vertrauenssolidarität praktizieren. Das Beurteilungsverfahren, das der Kategorische Imperativ entwirft, ist daher durchaus nicht darauf eingeschränkt, nur ein Teilgebiet der menschlichen Praxis zu erfassen. Das bedeutet nicht, daß im Sinne von Kants Theorie das Strafrecht so etwas wie ein moralisches Minimum 89 garantieren bzw. das Bürgerliche Gesetzbuch ein moralisches Minimum enthalten würde. Es bedeutet ausschließlich, daß sich jeder einzelne Akteur im Rahmen seiner moralischen Selbstbesinnung prinzipiell aus eigener kognitiver Kraft die Verwerfungsbedürftigkeit jeder Maxime und jeder HandDiese deontologische Verschärfung bildet ebenso die Verschärfung des Universalitätsgedankens, der in der moralpädagogischen, aber im Irrealis (!) formulierten Alltagsformel des Was wäre, wenn alle so handeln würden präsent ist. 88 Daß das Sittengesetz in der Kantischen Fassung die ›Solidarformel der Menschheit‹ ist, zeigt schon Cohen, 1877, S. 199 ff., 263 f. 89 Vgl. zu dieser Konzeption – allerdings unter dem Namen eines ethischen Minimums – die in dieser Hinsicht einflußreich gewordene Schrift von Jellinek, 21908, S. 45 f. 87

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lungsweise einsichtig machen kann, zu deren Struktur solche Erfolgspräsuppositionen gehören. Die strikt rechtliche Beurteilung entsprechender Handlungsweisen durch die zuständigen ordentlichen Gerichte eines republikanischen Gemeinwesens ist daher auf die Beurteilung ausschließlich der Handlungsweisen und deren objektive Konsequenzen für die durch sie jeweils betroffenen Sachen oder Interakteure des Subjekts solcher Handlungsweisen eingeschränkt. Doch den springenden Punkt dieses Beurteilungsverfahrens bildet, wie Kant durch die ausdrückliche Thematisierung des moralischen Selbstbewußtseins signalisiert, die Bindung an die in der Ersten Kritik ans Licht gebrachte Struktur des Selbstbewußtseins – an die Spontaneität des Bewußtseins, mit dem ein Maximeninhaber und Akteur selbst beurteilen und erkennen kann, ob er sich durch irgendwelche Erfolgspräsuppositionen seiner jeweiligen Maxime bzw. Handlungsweise selbst in den Widerspruch verstrickt, der das ausschlaggebende formale Indiz für die von ihm selbst intendierte bzw. praktizierte Aufhebung der universellen Vertrauenssolidarität abgibt, die er gleichwohl selbst in Anspruch nimmt, weil er wie jeder, der mit ihm ebenbürtig ist, selbst auf sie angewiesen ist. Die Form der praktischen Subjektivität ist daher diese Form des Selbstbewußtseins. Doch so wenig irgendein Subjekt des von Kant in der Ersten Kritik analysierten Selbst- bzw. Spontaneitätsbewußtseins irgendetwas von der durch Kant analysierten Spontaneität der Urteilsförmigkeit seines Denkens wissen muß, so wenig muß ein Subjekt des moralischen Selbstbewußtseins irgendetwas von der durch den Kategorischen Imperativ entworfenen Form der moralischen Beurteilung seiner Maximen und Handlungsweisen wissen. Kant macht im Licht dieser Urteilsform mit den typischen philosophischen Mitteln von Reflexion und Analyse lediglich nachträglich darauf aufmerksam, welche Struktur jeder Lügenmaxime und jeder Lüge auch dann zugrunde liegt, wenn der jeweilige Maximeninhaber bzw. Lügner von dieser Struktur gar nichts weiß. Gleichwohl bildet die Analyse dieser Struktur nicht etwa eine weltabgewandte Angelegenheit einer sich selbst genügenden philosophischen Reflexion. Sie ist als ein integraler Teil der Praktischen Philosophie ein unmittelbarer Beitrag zur Praxis selbst. Denn ihre Aneignung durch einen Maximeninhaber und Akteur eröffnet diesem zum ersten Mal die Möglichkeit, eine seine Praxis modifizierende strukturelle Einsicht zu gewinnen – die Einsicht, daß und inwiefern sich seine Praxis im Licht der Struktur, die seiner Einstellung zur Lüge unreflektiert zugrunde liegt, bewährt 306 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

oder aber einer Korrektur bedarf. Diese Einsicht kann jedem Maximeninhaber und Akteur zeigen, daß und wie er seine Maximen und Handlungsweisen in der von Kant berücksichtigten ›richterlichen‹ Rolle Schritt für Schritt selbst nicht nur prüfen, beurteilen und bewähren lassen kann. Nötigenfalls kann er sie in der Rolle eines ›reuigen‹ und von ihm selbst ›angeklagten‹ Maximeninhabers und Akteurs auch selbst so korrigieren, daß seine durch diese Beurteilungen und Korrekturen verworfenen Maximen und Handlungsweisen ein für alle Mal der Vergangenheit seiner Praxis und die durch diese Beurteilungen und Korrekturen gewonnenen Maximen und Handlungsweisen ein für alle Mal seiner jeweils gegenwärtigen künftigen Praxis angehören. Indessen übt dieselbe Einsicht im Bewußtsein dessen, der sie sich zu eigen macht, noch eine andere Funktion aus. Denn dadurch, daß er sie sich mit jedem von dieser einen und selben Beurteilungsform eröffneten Schritt selbst, also spontan bzw. selbsttätig zueigen macht, kann er auch einsehen, daß und warum er auch inmitten der unüberschaubaren Vielheit der praktischen und sozialen Rollen seines täglichen Lebens ›eben derselbe Mensch‹ sein kann. Das von Kant apostrophierte moralische Selbstbewußtsein ist dies durch selbstidentifikatorische Einsicht gewonnene Identitätsbewußtseins. Die Struktur der praktischen Subjektivität bildet es, weil es vom Subjekt nur in seiner alltäglichen Praxis gewonnen werden kann und weil es nur durch spontane und reflexive identifikatorische Urteilsakte des handelnden Subjekts gewonnen werden kann.

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307 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Moralität und Nützlichkeit 1

I. Wenn ein professioneller Philosoph analytische und hermeneutische Methoden seines Faches sowie formale Methoden der Logik zu gebrauchen versteht; wenn sich derselbe von der Auffassung leiten läßt, daß die klassische Arbeit der Philosophie ihre bedeutsamste Chance darin habe, mit Hilfe von kontrollierbaren Methoden wichtige wahre Gedanken ausfindig zu machen und mit Hilfe von starken Argumenten gegen nichtebenbürtige Kritik zu verteidigen; wenn derselbe die Erfahrung gemacht hat, daß die Arbeit der Philosophie nur zu ihrem eigenen Nachteil darauf verzichten könnte, sich um Belehrungen durch die Texte der philosophischen Klassiker zu bemühen; und wenn derselbe schließlich durch die Herausgabe seiner Gesammelten Schriften 2 demonstriert, wie er das Feld bestellt hat, das er insbesondere auch im Horizont der Grundlegungs- und der Anwendungsaufgaben der Ethik bearbeitet hat – dann darf man seine Gesammelten Schriften zu den Grundlagen der Ethik und zur Angewandten Ethik einer systematischen Bilanz zugänglich machen, indem man sich an diesen Standards orientiert. Günther Patzigs ethische Schriften sind

Günther Patzig, Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik. Göttingen 1994. Wallstein Verlag. 303 S. - Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik. Göttingen 1993. Wallstein Verlag. 191 S. 2 Soeben (Herbst 1996) sind die beiden letzten Bände der Sammlung erschienen: Gesammelte Schriften III. Schriften zur Antiken Philosophie. Göttingen 1996. Wallstein Verlag. 319 S. – Gesammelte Schriften IV. Theoretische Philosophie. Göttingen 1996. Wallstein Verlag. 278 S. – In die schon druckfertige Besprechung der beiden Bände zur Ethik konnten diese beiden Sammlungen nicht mehr gut einbezogen werden. Lediglich punktuell konnten einige ganz wenige sachliche Bezüge zu drei auch für die Ethik wichtigen Aufsätzen Patzigs aus dem Themenkreis der Theoretischen Philosophie berücksichtigt werden; vgl. unten S. 3135, 31615, 32525, 32727. 1

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jedenfalls Probestücke einer Ethik-ohne-Metaphysik, 3 die sich an drei großen Aufgaben bewähren soll. In der einen Richtung soll sie zeigen, daß und inwiefern Moralität und Nützlichkeit 1.) nicht nur radikal verschieden voneinander, sondern gleichwohl auch 2.) miteinander verträglich und sogar 3.) aufeinander angewiesen sind; in der anderen Richtung soll sie zeigen, daß und inwiefern Nützlichkeitserwägungen mit einem ähnlichen moralischen Ernst einer methodischen Kontrolle zugänglich zu machen und auch effektiv zu unterziehen sind, wie er für moralische Erwägungen und Beurteilungen schon längst habituell geworden ist (Bd. I). In der dritten Richtung schließlich und unter dem Namen einer Angewandten Ethik soll sie zeigen, daß und wie die ethische Prinzipientheorie zugunsten einer ethischen Kasuistik der modernen, von Wissenschaft und Technik geprägten Welt fruchtbar gemacht werden kann (Bd. II). Welche Wege und Erträge hat Patzigs Arbeit an dieser Ethik-ohne-Metaphysik gezeitigt?

II. Die erste gewichtige Publikation zum ethischen Themenkreis Die Begründbarkeit moralischer Forderungen (I 44–71) macht mit Grundzügen überlieferter ethischer Theorien vertraut. Sie wählt diese Theorien im Licht der Frage aus, ob sie Typen sittlicher Selbstbesinnung repräsentieren, bei denen man in jeder praktischen Orientierungkrise mit berechtigter Aussicht auf Erfolg Rat suchen könne oder nicht (1 44–47, 69–71). Der Aufsatz enthält überdies eine formale Einsicht, die trotz ihrer Unscheinbarkeit von nicht zu unterschätzender Tragweite für viele Dimensionen des immer komplizierter werdenden Arbeitsfeldes der Ethik ist: Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ stellt Patzig noch einmal nachdrücklich klar, daß dies Prinzip – analog zu Nützlichkeitskriterien – ein Kriterium für die moralische Beurteilung nicht von Handlungen, sondern von Handlungscharakteren ist (I 69 ff., 111– 112). Dieser metaethische Gedanke wirft ein Licht auf die unmittelbare, ontologische Nachbarschaft des Moralischen und des NützSo der programmatische Titel von Patzigs früherer Aufsatzsammlung: Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 11983.

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lichen: Es ist eine und dieselbe Handlung, was im Licht dieses Gedankens als Träger sowohl von moralischen wie von utilitären wie auch von anderen praktischen Charakteren in Frage kommt. Da durch moralische, rechtliche, utilitäre und andere derartige praktische Urteilskategorien ebenfalls Handlungscharaktere ausgezeichnet werden, gibt es auch nicht, wie Patzig in plausibler Weise zuungunsten einiger prominenter metaphysischer Irrwege argumentiert, eine exklusive ontische Sphäre selbständig existierender Werte und Unwerte oder selbständig existierender Güter und »Ungüter«; und dann ist es auch weder nötig noch plausibel, für die Menschen – oder für ausgezeichnete, elitäre Menschen – irgendeine eminente kognitive Fähigkeit zu postulieren, mit deren Hilfe sie sich solche Sphären erschließen und solche Werte oder Güter bzw. deren Gegenteil erfassen müßten oder könnten (I 13 f., 51 f., 180 ff.; II 15 f.). Dann hat die Ethik vielmehr die formale Aufgabe, die Kriterien und die Verfahren so weit wie möglich zu klären, mit deren Hilfe Menschen Handlungscharaktere in den verschiedenen praktischen Hinsichten möglichst zuverlässig beurteilen können. Patzig ist bis heute geneigt, der Klärung utilitaristischer Beurteilungskriterien und -verfahren vorläufig noch eine günstigere Erfolgsprognose zu stellen als den Bemühungen um ähnlich leistungsfähige moralische Kriterien und Methoden. Zeitweise hat er sogar die interessante Forschungsstrategie favorisiert, unter den utilitaristischen Regeln diejenigen – gewissermaßen utilitaristische Regeln zweiter Stufe (vgl. I 82 f.) – zu ermitteln, die geradezu im Status von moralischen »Kategorischen Imperativen« in ein ethisches System des Regelutilitarismus eingebaut werden können müßten, weil ihre allgemeine Respektierung erst die Voraussetzungen schaffe, unter denen langfristig und für die meisten Menschen ein gedeihliches Zusammenwirken möglich ist (I 115–116). Denn bei den, insbesondere von Kant ins Auge gefaßten, formal-moralischen Kategorischen Imperativen handle es sich um »Wahrsprüche einer transzendentalen Vernunft«, die »um alles Glück von Menschen unbekümmert (…)« seien (I 115). Diese bedürften auch im günstigsten Fall selbst noch einer Ergänzung durch material-moralische Imperative, die regelutilitaristische Prüfungen bestehen können müssen (I 37 f., 70 f.). 4 Inzwischen hat Patzig diese Forschungsstrategie mit der selbstkriti4 Eine ähnliche Strategie hält auch William K. Frankena, Analytische Ethik. Eine Einführung (engl. 1963), München 1972, S. 61 f., für bevorzugenswert.

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schen Begründung aufgegeben, daß die gesuchten moralischen Imperative jeden utilitaristischen Rahmen deswegen sprengen würden, weil sie – wie z. B. Gerechtigkeitsimperative – gerade ihre moralische Relevanz prinzipiell nicht aus irgendwelchen individuellen oder kollektiven Erfolgsbilanzen beziehen können (I 1161; vgl. auch I 82 f.). 5 Anzeichen für einen Wandel zugunsten förderungswürdiger, stärker moralphilosophisch orientierter Untersuchungsrichtungen sieht Patzig inzwischen allerdings in der Wiederbelebung von Ansätzen Leonard Nelsons zu einer Ethik der Solidarität und der Fairness (I 7, 82– 84, 137 f.; vgl. auch II 16 ff., 167 ff., 182 ff.). 6

III. Die wachsende ethische Aufmerksamkeit für utilitaristische Beurteilungsprobleme hat auch den metaethischen Blick für die Feinstruktur der Handlungen geschärft. Eine Handlung ist nicht ein ungegliedertes oder undifferenzierbares Ganzes, auf dem sich ihre moralischen, ihre utilitären und ihre anderen praktischen Charaktere in ungeordneter Form gleichsam häufen würden. Sie ist vielmehr ein gegliedertes und differenzierbares Ganzes, auf dessen Komponenten sich diese Charaktere zwar nicht in strikt eindeutiger Form, aber doch in wohlunterscheidbarer Form verteilen. So ist die utilitaristische Ethik zunächst hauptsächlich als eine Theorie von den praktischen Charakteren der Resultate und der Folgen von Handlungen entwickelt und ausgearbeitet worden. 7 In seiner kleinen protreptischen Schrift Ein Plädoyer für utilitaristische Grundsätze in der Ethik (I 99–117) arguEbenso urteilt wiederum Frankena, op.cit., S. 59–61. – Eine der wichtigsten Konsequenzen aus dieser selbstkritischen Revision Patzigs scheint in der ebenfalls selbstkritischen Auffassung zu bestehen, daß eine rationale (nicht-utilitaristische?) Begründung der Pflicht, die Fortexistenz der Menschheit zu sichern, doch möglich sei; vgl. II 1771. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieser selbstkritischen Revision hat Patzig in dem – allerdings der Abteilung Theoretische Philosophie zugeschlagenen – Vortragstext »Aspekte der Rationalität« (IV, 99–116) dokumentiert. Hier führt Patzig Argumentations-Schritte vor (vgl. bes. IV, 108 ff.), durch die er zu einer vorsichtigen Erprobung von strikt nicht-utilitaristischen, moralorientierten Argumenten auf bestimmten ethischen Problemfeldern (Rücksicht auf schwer Behinderte, auf zukünftige Generationen usw.) gelangt ist, vgl. auch unten S. 31615. 6 Vgl. hierzu unten S. 315–17, 323–24. 7 Vgl. Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, Freiburg/ München 21977, S. 11–24. 5

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mentiert Patzig zugunsten einer Konzentration der ethischen Arbeit auf die Klärung von regelutilitaristischen Grundsätzen (I 112 ff.; vgl. auch I 42 f., II 92 f.). Dies Plädoyer hat zwar einen Teil seines systematischen Gewichts durch Patzigs selbstkritische Einsicht in die fundamental verschiedenen Funktionen von moralischen und von utilitären Prinzipien (s. o. S. 312–13) eingebüßt. Doch die damit verworfene spezielle Forschungsstrategie Patzigs ist in einem weiter gespannten, systematischen Bestreben aufgehoben. Jedenfalls fügt sich die verworfene Strategie als spezieller Fall in ein Spektrum möglicher Untersuchungsrichtungen, die sich alle von der Arbeitshypothese leiten lassen, daß es möglich sei, eine interne moralische Dimension des Utilitarismus ausfindig zu machen. Angesichts seiner Selbstkritik und im Hinblick auf die von ihm behandelten Themen und umrißhaft erörterten Theorien stehen Patzig aus diesem Spektrum wenigstens zwei Optionen offen, eine solche Dimension zu erschließen und durchsichtig zu machen. Die eine, theoretisch schwächere, aber heuristisch wichtigere, dieser beiden Optionen erschließt diese Dimension durch ihre Orientierung am Gedanken der Verantwortlichkeit für Folgen von Handlungen. In seiner Gelegenheitsschrift Noch einmal: ›Gesinnungsethik‹ und ›Verantwortungsethik‹ (I 163–173) sowie in dem stärker prinzipienorientierten Aufsatz Philosophische Bemerkungen zu Willensfreiheit, Verantwortung und Schuld (I 190– 208) hat Patzig den nahezu intrinsischen Zusammenhang zwischen Verantwortung und Handlungsfolgen am ausführlichsten erörtert (I 164–173, 191 f., 203–205). Da der Utilitarismus eine handlungsfolgenorientierte Theorie ist, hat man zweifellos in eine interne moralische Dimension dieses ethischen Ansatzes gefunden, wenn man an die moralische Einstellung namens Verantwortung erinnert, in der Akteure – planend oder bilanzierend – Folgen ihrer Handlungen berücksichtigen. Doch was macht die Verantwortung für Folgen einer Handlung überhaupt zu einer moralischen Einstellung – also zu einer Einstellung, so daß die Berücksichtigung dieser Folgen sogar eine entsprechende Pflicht eines Akteurs ist? Die opinio communis, der Patzig sich anschließt, verleiht der Auffassung vom moralischen Charakter der Verantwortung zwar ein so respesktables Gewicht, daß es sich zu lohnen scheint, nach dem Ursprung der Berechtigung dieser opinio communis mit mehr Zuversicht als Skepsis zu fragen. Aber offen bleibt diese Frage auch bei Patzig Für die Beantwortung dieser Frage könnte Patzig mit Gewinn 314 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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eine zweite, theoretisch fruchtbare, Option verfolgen, wie er sie sich durch seine kritische Auseinandersetzung mit Elementen der Ethik Leonard Nelsons (I 7, 83–90, 137 f., II 166) eröffnet hat. Diese wichtige Theorie moralischer Urteile spiegelt in Patzigs Augen in besonders klarer Weise die »Doppelheit der relevanten Gesichtspunkte (die der Moralität und die der Nützlichkeit, R. E.)« (I 83) wieder. In einen Brennpunkt dieser kritischen Auseinandersetzung gehört das von Nelson eingeführte – und von Patzig auch kurz erörterte (I 83 f.) – sogenannte Abwägungsgesetz: »Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären«. 8 Wie Patzig gezeigt hat, tut sich zwischen dem Inhalt dieses Prinzips und seinen von Nelson erörterten Anwendbarkeitsbedingungen 9 eine von Nelson nicht ausgetragene sachliche Spannung auf: Nelson arbeitet mit einem überspannten Kriterium der Vorzugswürdigkeit eines Interesses (1 84–87). Dies Kriterium stilisiert in der phantastischen Gestalt der »vollkommen gebildeten Person« 10 eine unerfüllbare (subjektive) Bedingung dieser Vorzugswürdigkeit zu einer jedenfalls hinreichenden Bedingung. Doch mit dem Abwägungsgesetz ist auch eine Anwendbarkeitsbedingung verbunden, die denkbar weit von der Überspanntheit entfernt ist, mit der Nelson die phantastische Urteilskraft der vollkommen gebildeten Person zu einer solchen Bedingung stilisiert: Die Menschen leben nun einmal inmitten einer Natur, deren Format es mit sich bringt, daß jede Handlung, die im Rahmen dieser Natur praktiziert wird, überhaupt irgendwelche Folgen hat. 11 Deswegen kann man solche Folgen ja mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nur mit Hilfe von Naturgesetzen – seien sie nun deterministisch oder statistisch – zu ermitteln suchen. 12 Die Folgenträchtigkeit menschlicher Handlungen gehört zur natürlichen conditio humana. Unter allen möglichen Handlungsfolgen zeichnet das Abwägungsgesetz nur solche aus, wie sie sich aus Handlungen ergeben, durch die unterschiedliche Interessen verwirklicht werden. AndernLeonhard Nelson, Kritik der praktischen Vernunft (1917), wieder abgedr. in: Gesammelte Schriften in 9 Bänden (Hg. P. Bernays u. a.), Hamburg 1964 ff., Bd. 4, S. 133. 9 Vgl. ebd., S. 287–291. 10 Vgl. ebd., S. 252 f. 11 Vgl. ebd., S. 288 ff., 305 ff. 12 Vgl. ebd., S. 141 f. 8

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falls wären sie einer Abwägung ihrer (relativen) Vorzugswürdigkeit ja gar nicht bedürftig. Doch auch Handlungen, durch die verschiedene Akteure gleiche Interessen verwirklichen, haben im Sinne Nelsons Wirkungsbereiche, also Folgen, so daß ein Interesse eines Akteurs durch Folgen einer Handlung irgendeines anderen Trägers des gleichen Interesses betroffen sein kann. 13 Gleiche Interessen bedürfen allerdings keiner Abwägung ihrer Vorzugswürdigkeit, sondern einer Koordination ihrer Realisierung, 14 also einer Koordinierung vor allem der Zeiten, der Orte und der technischen Modi für die Handlungsweisen, durch die sie realisiert werden. 15 Am offenkundigsten wird die praktische Notwendigkeit dieser Koordinierung am Muster der bei allen Menschen gleichen Interessen an der Verfügung über angemessene Mittel für die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse des Durstes und des Hungers, der vitalen Sicherheitsbedürfnisse sowie des Bedürfnisses nach Gesundheit (vgl. I 94 f., II 31 f.). Eine Gleichheit – oder Gleichberechtigung – der Interessen von erfolgsbeflissenen Urhebern folgenträchtiger Handlungen macht es offenbar aus praktischen Gründen nötig, daß alle diese Akteure wechselseitig auf das chronische gemeinsame Risiko Rücksicht nehmen, daß jeder Akteur jederzeit durch irgendwelche Folgen seines Handelns ein Interesse irgendeines anderen Akteurs stört. Wer sich durch Vermeidungs- und durch Hilfsattitüden an dieser Form der Rücksichtnahme beteiligt, übt ersichtlich Solidarität. Diese Solidarität macht offensichtlich den moralischen Kern der Verantwortlichkeit für Handlungsfolgen aus. Sie kann in kollektiver Form wahrgenommen werden durch ein »Regelsystem gegenseitiger allgemeiner Rücksichtnahme« (II 22, 168), also durch ein Koordinationssystem; in individueller Form durch fallweise Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und andere kognitive Tugenden der praktischen Urteilskraft; und sie kann – und wird in der Regel auch – durch Verbindungen dieser beiVgl. ebd., S. 288 ff. Zur Struktur solcher Koordinationsprobleme vgl. R. B. Braithwaite, Theory of Games as a Tool for the Moral Philosopher, Cambridge 1963. 15 Völlig zu Recht hat Hare daran erinnert, daß Handlungsweisen sogar bei unterschiedlichen, aber gleichermaßen berechtigten Interessen ebenfalls einer Koordinierung, aber keiner Präferenz bedürfen, op. cit., S. 132 f. Die formalen Unterschiede zwischen Präferenz- und Koordinationsproblemen berücksichtigt Patzig im Licht der mathematischen Entscheidungs- bzw. Spieltheorie (vgl. IV, 108–111.); die praktischen Unterschiede erörtert Patzig im Licht des Unterschiedes zwischen Entscheidungen unter Sicherheit, Risiko bzw. Unsicherheit einerseits und andererseits Entscheidungen, deren Realisierung so oder so einer Kooperation bedürfen (vgl. IV, 109–112). 13 14

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den Formen wahrgenommen werden. Kurz und in der von Nelson benutzten imperativischen Form: Handle nie so, daß du die wahrscheinlichen, für gleiche oder gleichberechtigte Interessen anderer Akteure riskanten Folgen deiner Handlungen nicht auch dann nach Kräften zu vermeiden trachtest, wenn diese Rücksichtnahme deinen Interessen nicht förderlich ist. Dies Solidaritätsprinzip erfüllt offenkundig mehrere von Patzig für eine leistungsfähige Ethik reklamierte Bedingungen: 1. Es führt eine notwendige Bedingung jenes allgemeinen wechselseitigen Vertrauens von Akteuren vor Augen, ohne dessen Schutz eine utilitäre Erfolgsbeflissenheit nicht allgemein gedeihen könnte (I 37 f., 69 f., 106 f., 115–17, 254 f.); 2. es trägt der Auffassung, wonach die praktische Tragweite von Prinzipien der Moral von deren Konformität mit der conditio humana abhängt (I 7, 128 ff.), durch drei Voraussetzungen Rechnung: (i) alle Menschen haben Interessen, (ii) jede menschliche Handlung ist folgenträchtig und (iii) die Folgenträchtigkeit jeder menschlichen Handlung beschert allen Menschen das chronische gemeinsame Risiko wechselseitiger Interessengefährdung; 3. es spiegelt die »Doppeltheit der relevanten Gesichtspunkte«, also die der Moralität und der Nützlichkeit (vgl. I 83), indem es die Nutzenbeflissenheit, die ja der praktische Haupttyp der Erfolgsbeflissenheit ist, unter dem Schutz der vertrauensstiftenden Risikosolidarität zeigt, und umgekehrt eben diese Gestalt der Solidarität durch Risikominimalisierung zugunsten dieser Nutzenbeflissenheit walten sieht. 16

IV. Patzigs Arbeit an den Grundlagen der Ethik ist, gleichsam wie von einem zweistimmigen cantus firmus, durchzogen von seiner Auseinandersetzung mit Kants Praktischer Philosophie, vor allem mit der Lehre vom Kategorischen Imperativ. So ist Patzigs wichtige methoZur Kritik an der im Gegensatz hierzu rigoros utiliatistisch konzipierten Ethik der Verantwortung vgl. inzwischen Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prinzip der Ethik?, Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 16 (1999), Heidelberg 1999.

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dische Programmformel von der Ethik-ohne-Methaphysik aus einer Abgrenzung auch gegen die quasi-platonistische Metaphysik entwikkelt worden, die Patzig in Kants bekannter Auffassung zum Zuge kommen sieht, wonach sich die Menschen bei Gelegenheit der moralischen Beurteilung ihrer Maximen und Handlungsweisen den Umstand erschließen können, Angehörige sowohl einer sinnenfälligen wie einer übersinnlichen Welt zu sein (I 68 f., 176–178, II 164 f.). Patzig sieht in dieser Auffassung ein Element einer schlechten ZweiWelten-Metaphysik, die zum Schaden der Sache den Blick auf die Wahrheit und die Tiefe des formalen Gedankens störe, der in den Formulierungen des von Kant entdeckten Kategorischen Imperativs ausgedrückt werde und der deshalb aus dieser metaphysischen Verdunkelung befreit werden müsse (I 68 f., 242 f., 254 f.). Hier verwechselt Patzig Metaphorik mit Metaphysik. Der metaphorischen Unterscheidung zwischen einer sinnenfälligen und einer übersinnlichen Welt, denen jeder Mensch auf nicht kontrollierbare Weise anzugehören scheint, liegt in der praktischen Philosophie der Unterschied zwischen empirischen (›sinnlichen‹) und nichtempirischen, intelligiblen (›übersinnlichen‹) Handlungscharakteren zugrunde. 17 Zu beiden Klassen (›Welten‹) von Handlungscharakteren haben die Menschen nach dieser Auffassung einen kontrollierbaren kognitiven Zugang. Nicht nur empirische Handlungscharaktere wie die, daß jemand schnell oder langsam, bedächtig oder impulsiv, umständlich oder zügig, hektisch oder phlegmatisch handelt, können demnach mit Hilfe von kontrollierbaren Methoden ermittelt und in differenzierter Weise beschrieben werden; auch nichtempirische, intelligible Handlungscharaktere wie insbesondere die moralischen Handlungscharaktere können demnach auf eine solche Weise ermittelt werden. Patzigs Befangenheit in diesem Punkt seiner Kant-Kritik ist umso verwunderlicher als er selbst in musterhafter Weise vorführt, wie man die logische Kehrseite dieser Aufgabenstellung, nämlich die Frage nach dem logischen Typus der Prädikate behandeln kann, mit deren Hilfe man moralische Handlungscharaktere ausspricht (I 15–19). Die logische Kehrseite der Kantischen Aufgabenstellung meldet sich indessen in der Frage nach dem logischen Status der Prädikate, durch die moralische Handlungscharaktere ausgespro-

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Hg. Raymund Schmidt), Philosophische Bibliothek Band 37a, Hamburg 1971, A 538, B 566-A 558, B 586.

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chen werden, sofern diese eine nichtempirische, intelligible Prägung haben. Patzig hat am Kantischen Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem logischen Typus der moralischen Prädikate so unbeirrt wie kaum ein anderer ähnlich herber Kant-Kritiker festgehalten: am Formalismus des Kategorischen Imperativs (I 242 f.) und am Verfahren zur Prüfung der Konsistenz bzw. Inkonsistenz von Maximen (I 245 f., 248 f.). Zu Recht hebt Patzig noch einmal den wichtigen Umstand hervor, daß Kant den ebenso prozeduralen wie rein formalen Kerngedanken des Kategorischen Imperativs, nämlich den der Umformung einer Maxime in ein praktisches Gesetz, nur auf dem Weg einer formalen Analyse von Maximen gewinnen konnte (I 242 f.). Die Verwandlung einer Maxime in ein praktisches Gesetz verdient ja nur dann den Namen einer Umformung, wenn diese Maxime durch eine entsprechende Behandlung ihrer Form in ein Gebilde verwandelt wird, das allein wegen seiner Form ein (praktisches) Gesetz ist. Am Beispiel der Lügenmaxime skizziert Patzig eine Probe für die Anwendung dieses Verfahrens und erläutert, inwiefern dieses Verfahren zeige, daß die Lügenmaxime inkonsistent und deswegen moralisch verwerflich sei (I 66–68). Damit hat Patzig den logischen Status der typischen moralischen Prädikate eindeutig auf die Bedingung festgelegt, daß die Frage der Berechtigung ihrer Anwendung auf eine Maxime bzw. eine maximenkonforme Handlungsweise ausschließlich dadurch entschieden werden kann, ob sich eine (formale) Konsistenz oder aber Inkonsistenz ergibt, wenn man eine Maxime, die diese Handlungsweise zur Regel macht, in ein praktisches Gesetz umformt. Doch dann hängt die nichtempirische, intelligible Prägung moralischer Handlungscharaktere auch ausschließlich davon ab, daß die Moralität, die Unmoralität und die Amoralität einer Handlungsweise nicht ohne Hilfe eines nichtempirischen, formalen Konsistenz- bzw. Inkonsistenztests einsehbar (›intelligibel‹) sind. Kants Zwei-Welten-Metaphorik signalisiert eine formale Metaphysik, die, wenn sie tragfähig ist, erlaubt, zwischen nichtempirischen moralischen und empirischen nicht-moralischen Charakteren von Maximen und entsprechend maximenkonformen Handlungsweisen trennscharf zu unterscheiden. Patzig hat im Blick auf dies strenge und enge formale Verfahrenskriterium zu Recht betont, daß die für die moralische Verwerflichkeit erforderliche Inkonsistenz, wenn überhaupt für irgendwelche Maximen, dann allenfalls für die Lügenmaxime zumindest am ein319 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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leuchtendsten sei (I 67 f., 239 f.). An einer pünktlichen Demonstration dieser Inkonsistenz hat Patzig sich indessen nicht versucht; auch bezweifelt er, daß es sich dabei um einen strikt logischen Widerspruch handle (I 239 f.). Angesichts der extremen Einschränkung der Evidenz einer wie auch immer gearteten Inkonsistenz auf die Lügenmaxime ist es gleichwohl gut verständlich, daß Patzig die Tragweite dieses ganzen formalen und prozeduralen Kriteriums auf einige wenige, wenngleich wichtige, moralische Handlungscharaktere eingeschränkt sieht (I 67 f., 79 f., 246 f.). Doch wäre es für Patzig nicht konsequenter gewesen, diesem Ansatz eine über die Lüge und die Unwahrhaftigkeit hinausreichende Tragweite für die moralischen Beurteilungsprobleme ganz einfach abzusprechen? Patzig ist auf dem Weg, der aus diesen teils hermeneutischen und teils sachlichen Schwierigkeiten herausführen kann, schon einen bedeutsamen Schritt weiter als es seine Kant-Kritik erkennen läßt. Verdunkelt wird die Bedeutsamkeit dieses Schritts lediglich dadurch, daß Patzig es ohne Not versäumt hat, Licht in das Dunkel zu bringen, das die ominöse Widersprüchlichkeit moralisch verwerflicher Maximen nur allzu lange umgeben hat. 18 Patzig hat lediglich übersehen, daß eine von ihm selbst berücksichtigte spezifisch anthropologische Anwendbarkeitsbedingung des Kategorischen Imperativs den Schlüssel hierfür liefert. Denn wenn er betont, daß die charakteristische Erfolgsbedingung der Lügenmaxime darin besteht, daß der Lügner auf ein ihm von seinem Adressaten entgegengebrachtes Vertrauen in seine Wahrhaftigkeit angewiesen ist (I 239, II 165 f.), dann hat er dieses Schlüsselelement identifiziert. 19 Kant hat den anthropologischen Schlüsselcharakter dieser Anwendbarkeitsbedingung des Kategorischen Imperativs gelegentlich selbst wie durch ein Kontrastverfahren mit Hilfe einer kontrafaktischen Hypothese im Rahmen eines (nicht durchgeführten) Gedankenexperiments beleuchtet: »Es könnte wohl sein: daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. im Wachen, wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegeneinander abgeZur detaillierten Klärung dieser Dunkelheit vgl. oben S. 65–70, 84–85, sowie 115– 24. 19 Vgl. hierzu bes. oben S. 173–75. 18

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geben«. 20 Wesen, die die Technik des Lügens aus genetischen Gründen nicht vollziehen können, sind auch nicht auf Erfolgsbedingungen des Lügens angewiesen. Insofern ist die Angewiesenheit eines Lügners auf das Vertrauen seines Adressaten in seine Wahrhaftigkeit eine typisch anthropologische Anwendbarkeitsbedingung des Kategorischen Imperativs. Eine behutsame formale Stilisierung kann dies zeigen. Man braucht die Erfolgsbedingung der Lügenmaxime nur in der Form: Jedesmal, sobald ich lüge, gibt es auch irgendjemand, der darauf vertraut, daß ich nicht lüge – also wahrhaftig rede –, während ich lüge zu nehmen. Man braucht dann nur eine praktische Konsequenz aus dem Fall zu erwägen, in dem jeder Inhaber der Lügenmaxime und jeder seiner Adressaten dem Lügengesetz in loyaler Weise anbefohlen ist, wie es das vom Kategorischen Imperativ vorgesehene Verfahren regelt. Im Bann dieses Gesetzes kann es sich offenkundig niemand leisten, darauf zu vertrauen, daß jemand anders nicht lügt, während er lügt. 21 Eine (logisch abgeschwächte) Form dieser praktischen Konsequenz ist offenkundig die Negation der Erfolgsbedingung der Lügenmaxime: Es ist nicht der Fall, daß es jedesmal, sobald ich lüge, auch irgendjemand gibt, der darauf vertraut, daß ich nicht lüge – also wahrhaftig rede –, während ich lüge. Ausschlaggebend für die moralische Bedeutsamkeit dieser konkreten Inkonsistenz zwischen der Erfolgsbedingung der Lügenmaxime und ihrer Negation ist nur allzu offensichtlich der Inhalt dieser Erfolgsbedingung: das Vertrauen des Adressaten einer Lüge in die Wahrhaftigkeit des jeweiligen Lügners. Dabei darf man allerdings auch nicht auf den funktionalen Zusammenhang zwischen der Lügenmaxime und diesem Vertrauen in die Wahrhaftigkeit fixiert bleiben. Ihre Tragweite bezieht die aufgezeigte Inkonsistenz u. a. aus dem Umstand, daß dies Vertrauen in die Wahrhaftigkeit eines Maximeninhabers genauso die Erfolgsbedingung bildet, wenn dieser das Gegenteil der Lügenmaxime hegt und regelmäßig nur solche Aussagen trifft, die er selbst für wahr oder jedenfalls für gut genug begründet hält. In der Menschenwelt haben Kommunikationspartner das wech-

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in Kants gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff., Bd. VII, S. 332. Vgl. hierzu auch oben bes. S. 165–66. 21 »[…] weil es vergeblich (also ohne Erfolgsaussicht, R. E.) wäre, meinen Willen […] anderen vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben […] würden«, Kant, Grundlegung der Metaphysik zur Sitten, a. a. O., Bd. IV, S. 403. 20

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selseitige Vertrauen in ihre Wahrhaftigkeit ganz unabhängig davon allgemein nötig, ob sich irgendjemand von ihnen in irgendeiner Situation unwahrhaftig verhält oder nicht. Warum?

V. Patzig hat die Voraussetzungen, mit deren Hilfe man die Gründe für die Tragweite dieser Gestalt von Wahrhaftigkeitssolidarität durchsichtig machen kann, an verschiedenen Stellen seiner ethischen Schriften eingeführt. In seinen Plädoyers zugunsten der utilitaristischen Ethik hat Patzig überzeugend demonstriert, daß und inwiefern Informationen über Umstände von Handlungssituationen sowie über Handlungsfolgen zu den wichtigsten Requisiten von Nützlichkeitsurteilen gehören (I 29–31, 40 f., 111 f.). Ein Hauptsatz dieser speziellen Requisitentheorie des Utilitarismus formuliert die (unerfüllbare) informatorische Idealnorm von Nützlichkeitsurteilen: »Wahres, objektives Interesse [das also jedem Interessierten nützt und keinem Betroffenen schadet, R. E.] setzt vollständige Information über alle relevanten Umstände voraus« (I 86). Im Licht dieser Idealnorm erinnert Patzig an einige Umstände aus der conditio humana, die die wichtigsten epistemischen Faktoren unter den chronischen Risikofaktoren der menschlichen Existenz ausmachen: 1.) Die Informationen der Menschen über die relevanten Umstände einer Handlungsweise und damit über die (wahrscheinlichen) Folgen dieser Handlungsweise können nie lückenlos sein (I 31 f.); 2.) zwischen den Menschen gibt es die unterschiedlichsten Gestalten von Informationsgefällen ebenso (I 31 f.) wie 3.) die unterschiedlichsten Formen von Informationszuwächsen (I 30 f.). Und der Risikocharakter dieser chronischen epistemischen Faktoren der menschlichen Existenz wird von Patzig wiederum auf einen chronischen praktischen Faktor in der conditio humana zurückgeführt: Die Menschen sind nun einmal »Wesen, die auf sachgerechte Informationen hinsichtlich der Wirklichkeit, in der sie existieren, angewiesen sind« (II 57, Hervorhebung R. E.). Ohne solche Informationen wären sie eben nicht in der Lage, (wahrscheinliche) Folgen ihrer Handlungen zu erkennen, und daher auch nicht in der Lage, unter diesen Handlungsfolgen zwischen riskanten und unriskanten sowie nützlichen und nutzlosen Handlungsfolgen abzuwägen. 322 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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Berücksichtigt man andererseits Patzigs Präferenz für eine Wiederbelebung der tragfähigen und fruchtbaren Elemente der von Leonard Nelson entworfenen Ethik der Solidarität und der Gerechtigkeit, dann geraten diese anthropologischen Wahrheiten im Handumdrehen in die Rolle von Prämissen einer Argumentation, an der Auffassungen von Nelson sowohl aus formalen wie aus sachlichen Gründen unmittelbar beteiligt werden können. Denn die chronische Lückenhaftigkeit von Informationen, die chronischen Informationsgefälle zwischen Menschen und die chronischen Zuwächse an Informationen zusammen mit der chronischen praktischen Angewiesenheit auf Informationen begründen ja nur allzu offenkundig »unser dauerndes Interesse daran, uns überhaupt auf die Aussagen […] anderer verlassen zu können« 22, also »im Einzelfall eine richtige Mitteilung zu erhalten, auch wenn diese nicht das zukünftige Verhalten anderer, sondern irgendwelche Tatsachen betrifft« 23, kurz und zugespitzt gesagt, begründen sie unser dauerndes Interesse daran, in einer »Wahrheitsgemeinschaft zu leben«. 24 Die chronisch defizitären Formen des Informationshaushaltes der Menschen machen also zusammen mit der ebenso chronischen praktischen Angewiesenheit der Menschen auf Informationen auch noch eine andere Gestalt der Solidarität nötig als sie in der »gegenseitigen allgemeinen Rücksichtnahme« (vgl. II 22, 68) zum Zuge kommt, in deren Rahmen sich jeder Mensch darum zu sorgen hat, daß die wahrscheinlichen Folgen seiner Handlungsweisen nicht zu Risiken für diejenigen Menschen ausarten, die im ›Wirkungsbereich‹ (Nelson) seiner Handlungen leben (s. o. S. 315–17). Diese andere Gestalt der Solidarität ist offenkundig sogar zentraler, weil sie die informatorischen Grundlagen der Risikosolidarität betrifft. Denn durch jeden Akt der Unwahrhaftigkeit vereitelt dessen Urheber in vermeidbarer Weise eine Chance, daß es in der Kommunikation mit dem Adressaten seiner Unwahrhaftigkeit zum Ausgleich von dessen Informationsdefizit und damit zu einer Minderung der Handlungsfolgenrisiken kommen kann, die von diesem Defizit abhängen. Die zentrale Gestalt der Solidarität kommt insofern in der allgemeinen wechselseitigen Rücksichtnahme zum Zuge, in deren Rahmen sich jeder Mensch darum zu sorgen hat, daß die ohnehin unvermeidlichen, viel22 23 24

Leonard Nelson, op. cit., S. 141, Hervorhebung R. E. Ebd., Hervorhebung R. E. Ebd., S. 142.

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fältigen Formen chronischer Informationsdefizite unter den Menschen nicht in unnötiger und daher in unerträglicher und unzumutbarer Weise verschärft werden dadurch, daß er es im aktiven Zusammenleben mit seinesgleichen an der Wahrhaftigkeit mangeln läßt.

VI. Angesichts seiner geschichtlichen Situation bezieht Patzig die ethisch relevanten Komplikationen dieser informatorischen Problematik auf jene inzwischen chronisch gewordene Grundsituation, in der der Ethiker »auf die Unterrichtung durch den wissenschaftlichen Experten angewiesen [ist]« (II 10). Dabei ist es zunächst ganz gleichgültig, über was für Typen von Tatsachen man durch den wissenschaftlichen Experten unterrichtet werden kann: Sie mögen zu den vorfindlichen, aber erforschungsbedürftigen Umständen von Handlungssituationen gehören (I 25–29) oder zu den wahrscheinlichen Handlungsfolgen (I 29–31); es mag sich um kausale Wirkungszusammenhänge, um Tendenzen, Entwicklungen oder Dispositionen handeln, durch die faktische Umstände von Handlungssituationen mit wahrscheinlichen Handlungsfolgen verknüpft sind; es mag sich schließlich um technische Tatsachen, also um tatsächliche verfügbare Techniken für die Intervention in natürliche, speziell biotische Prozesse handeln (II 86– 127, 144–61, 174–81) oder um tatsächlich verfügbare Techniken für die Diagnose pathologischer Lebensprozesse (II 128–43). Ausschlaggebend für die methodische Hauptorientierung von Patzigs Beiträgen zur Angewandten Ethik ist der tiefgreifende geschichtliche Situationswandel, an dessen vorläufigem Ende die Unterrichtung durch den wissenschaftlichen Experten mit einer präzedenzlosen Exklusivität zu einer Quelle für praktisch relevante Informationen geworden ist. Diese Exklusivität und diese Relevanz machen ebenso präzedenzlose öffentliche Formen der Kooperation und der Arbeitsteilung und damit auch der Verteilung von Verantwortung zwischen Wissenschaft und Praxis nötig (II 9–42). Der Praktischen Philosophie fällt in dieser Situation die Aufgabe zu, sich durch die Erarbeitung einer Ethik der Wissenschaften an der Klärung dieses neuartigen Problemfeldes zu beteiligen (II 10–14). Den Schlüssel zur methodischen Hauptorientierung von Patzigs Beiträgen zu dieser Ethik liefern die ebenso notorischen wie chronischen Probleme des angemessenen Umgangs mit Informationen über »Tatsachen, deren normative Bedeutung ermittelt 324 https://doi.org/10.5771/9783495817094 .

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werden soll« (II 10). Diese Ermittlung läßt sich von der Frage leiten, welches Gewicht einer Tatsache zukommt, wenn ein Akteur von der Information über diese Tatsache sein praktisches Urteil darüber abhängig macht, wie er handeln soll und wie nicht (I 25–31). 25 An einem Kriterium des praktischen Gewichts von Tatsachen sowie von Informationen über Tatsachen hat ebenfalls bereits Nelson gearbeitet, wenn er speziell mit Blick auf die tatsächlichen Umstände einer Handlungssituation formuliert: »Wesentlich [d. h. praktisch und normativ wesentlich, R. E.] nenne ich solche Umstände, die, wenn man sie in Rücksicht zieht, die Entscheidung modifizieren«. 26 Es liegt indessen auf der Hand, daß man mit Hilfe desselben Kriteriums das praktische und das normative Gewicht genauso von wahrscheinlichen Handlungsfolgen wie von kausalen Wirkungszusammenhängen, von Dispositionen, Tendenzen und von Entwicklungen ins Auge fassen kann. Mit seinen Beiträgen zur Angewandten Ethik erinnert Patzig die ethische Kasuistik unter diesen Vorzeichen an ihr wichtigstes Bewährungsfeld. Denn in diesem Rahmen greift Patzig durchweg in Kontroversen um moralische, rechtliche, politische und utilitäre Themen ein, die in der Öffentlichkeit nach wie vor strittig debattiert werden. Die Tragweite, die solche Beiträge für diese Debatten mit sich bringen können, bleibt zwar in die methodischen Grenzen verwiesen, die jeder ethischen Kasuistik von Hause aus gezogen sind. Sie kann auch im günstigsten Fall immer nur Muster für praktische Beurteilungen von Handlungen, von Situationen und Institutionen, von Akteuren und von Personen in irgendwelchen Rollen erarbeiten. Auch der Autor der umsichtigsten, scharfsinnigsten und tiefsinnigsten ethischen Kasuistik hat es prinzipiell niemals unmittelbar mit solchen Elementen des praktischen Lebens zu tun. Er hat es vielmehr prinzipiell und Zu dem hier wichtigen Tatsachen-Begriff vgl. nach wie vor Patzigs lehrreiche Abhandlung »Satz und Tatsache« (IV, 9–42), allerdings auch die selbstkritischen Vorbehalte, die Patzig mehr als dreißig Jahre nach der ersten Publikation im Hinblick auf die Grenzen der Tragfähigkeit anmeldet, die die von ihm entwickelte semantische Explikation des Tatsachenbegriffs u. a. dann zeigt, wenn man fragt, auf was für Tatsachen sich logisch wahre Sätze beziehen (vgl. bes. IV, 371). Doch da die Anwendbarkeit des so explizierten Tatsachenbegriffs auf empirische Tatsachen von diesen Vorbehalten, die im übrigen selbst nicht ohne weiteres zwingend sind, unberührt bleibt, kann dieser Begriff immer noch mit einem beträchtlichen Gewinn an Klarheit in den Debatten um die Kriterien für die normative Gewichtung von Informationen über empirische Tatsachen zugrunde gelegt werden. 26 Nelson, op. cit., S. 182, Hervorhebungen R. E. 25

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ausschließlich mit Abstraktionsprodukten zu tun, also mit Resultaten von Typisierungen, Stilisierungen und Schematisierungen von Handlungen und von Situationen, von Institutionen sowie von Akteuren und von Personen in irgendwelchen Rollen. In die ethischen Entwürfe, Analysen und Beurteilungen solcher Muster durch die Kasuistik bringt Patzig mit seinen Beiträgen zur Angewandten Ethik indessen dadurch ein neues Licht, daß er immer wieder von neuem an die Schlüsselrolle der unscheinbaren methodologischen Frage erinnert, wie man das normative Gewicht einer Tatsache ermitteln kann. Im Licht der Grundlagenprobleme der Ethik verzweigt sich diese Frage in die Frage, welches Modell von Gerechtigkeit, von Fairness, von Solidarität oder von Utilität auf welche Weise an der Ermittlung des normativen Gewichts welcher Tatsachen mit berechtigter Aussicht auf Erfolg beteiligt werden kann. Hingegen im Lichte der präzedenzlosen Angewieseneit des gegenwärtigen und des zukünftigen praktischen Lebens auf die Unterrichtung durch wissenschaftliche Experten verzweigt sich die methodologische Leitfrage in die andere Frage, was für Informationen durch was für wissenschaftliche Experten in was für Situationen so zur Verfügung gestellt werden können sollten, daß in empirisch wohlfundierter Weise die Frage beantwortet werden kann, im Licht welcher Modelle von Gerechtigkeit, Solidarität, Fairness oder Utilität die Tatsachen, über die man auf diese Weise informiert wird, welches normative Gewicht haben. Patzigs Beiträge zur Angewandten Ethik sind Muster einer Methodik der Urteilsbildung, die sich an diesem Fragen-Komplex zu bewähren sucht. 27

VII. Ich fasse zusammen: 1. Patzigs Weg durch das Labyrinth der überlieferten und der aktuellen ethischen Theorien hat die Gestalt einer Kehre: Ausgehend von [Vgl. hierzu die bedeutende mikro-analytische und fundamental-anthropologische Studie von Edward Craig, Was wir meinen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 42 ff. Craig berücksichtigt die wechselseitige Angewiesenheit der Menschen auf Informationen vom Fall der Angewiesenheit auf Informationen darüber, was jeweils »hinter meinem Rücken geschieht«, S. 89, bis zum Fall der Angewiesenheit auf Informationen darüber, »wie man eine Atombombe entschärft«, S. 108; vgl. hierzu auch oben S. 173–75.]

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der Arbeitshypothese, daß es sich bei moralischen Prinzipien um Nützlichkeitskriterien einer höheren Stufe deswegen handle, weil sie im Vergleich mit allen anderen utilitären Kriterien auf den langfristigsten und umfassendsten Nutzen zielen, ist er zu der selbstkritischen Auffassung gelangt, daß auch die am besten durchgearbeitete utilitaristische Ethik die moralischen Prinzipien immer noch gleichsam in ihrem Rücken hat. 28 2. Vollzieht man mit Patzig diese Kehre, dann zeigen die moralischen Prinzipien ein ganz und gar nicht-utilitäres Gesicht: Während Nützlichkeitsprinzipien ausschließlich Kriterien – oder auch Verfahren – für die Bilanzierung von Erfolgen und Mißerfolgen von Nutzenbeflissenheit festlegen, legen moralische Prinzipien Bedingungen der Möglichkeit gedeihlicher Nutzenbeflissenheit fest. 3. Die wichtigste moralische Möglichkeitsbedingung gedeihlicher Nutzenbeflissenheit besteht in einem Mindestmaß allgemeinen wechselseitigen Vertrauens nutzenbeflissener Akteure.

Unabhängig von dieser Selbstkritik hatte Patzig allerdings auch schon früher angefangen, das Teilkriterium der Langfristigkeit des vermeintlichen Nutzens des Moralischen indirekt auszuhöhlen. In der handlungstheoretischen Skizze des Aufsatzes »Theoretische Elemente in der Geschichtswissenschaft« (IV 64–81, bes. 77 ff.) hat er überzeugend argumentiert, daß eine »Handlung […] nur korrekt beschrieben [wird], wenn ihre unmittelbaren Ziele erwähnt werden« (78), aber nicht irgendwelche »Fernziele« (ebd.), weil eine »Handlung […], nach Meinung des Handelnden, hinreichende Bedingung für die Realisierung ihrer Intention sein [muß]« (ebd.). Führt man unter diesen Voraussetzungen die Moralität einer Handlungsweise u. a. auf die Langfristigkeit ihres (vermeintlichen) Nutzens zurück, dann handelt man sich mindestens vier Konsequenzen ein, von denen jede mit einem Essential der Auffassung vom Wesen des Moralischen unverträglich ist, die nicht nur von Patzig gehegt wird: 1.) man verwandelt den moralischen Charakter einer Handlungsweise weitgehend in eine Funktion irgendwelcher Fernziele oder -wirkungen; 2.) man sorgt dafür, daß das, wofür eine Handlung, nach Meinung des Handelnden, die hinreichende Bedingung sein muß, gerade unter dem Aspekt der Moralität der Intention der Handlung weitgehend entzogen zu sein scheint; 3.) man sorgt daher dafür, daß gerade der moralische Charakter einer Handlungsweise ihrer direkten, personalen Zurechenbarkeit an die Adresse des Handelnden weitgehend entzogen zu sein scheint; 4.) und schließlich verleiht man moralischen Beurteilungen von Handlungen den Status von prinzipiell offenen, ständig neu anzureichernden geschichtlichen Spätbilanzen, wie sie weder irgendein Handelnder noch irgendein unmittelbarer Zeuge eines Handelnden in der Hand haben kann.

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4. Gestiftet wird dies Minimalvertrauen durch verschiedene Formen praktizierter Solidarität. 5. Patzigs Plädoyer für eine Wiederbelebung der tragfähigen und fruchtbaren Elemente der Ethik Leonard Nelsons führt zum Gedanken einer Risikosolidarität, die an der zur conditio humana gehörenden natürlichen Folgenträchtigkeit menschlicher Handlungen orientiert ist. 6. Beteiligt man Nelsons Ethik an Patzigs beständigem Zwiegespräch mit Kants Moralphilosohie, dann ergibt sich der Gedanke einer Wahrhaftigkeitssolidarität, die an dem zur conditio humana gehörenden chronisch defizitären Informationshaushalt der Menschen orientiert ist. 7. Zu den wichtigsten Aufgaben der Angewandten Ethik gehört es, Modelle der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Fairness und der Utilität sowie exemplarische wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Informationen zu Mustern einer Methodik der Urteilsbildung zu verarbeiten, die das normative Gewicht von Tatsachen zu ermitteln sucht. 8. Ob die Ethik ohne Metaphysik auskommt oder nicht, hängt davon ab, ob man im Blick auf das allgemeine wechselseitige Vertrauen unter den Menschen ausschließlich mit Hilfe von empirischen Kriterien oder nicht ohne Zuhilfenahme nichtempirischer, formaler Kriterien einsichtig machen kann, daß es die charakteristische moralische Gedeihlichkeitsbedingung aller erfolgsbeflissenen menschlichen Praxis abgibt. Will man die ethischen Schriften Günther Patzigs indessen auf eine Weise würdigen, die nicht nur der verhandelten Sache, sondern auch der vom Autor entwickelten Methodik gerecht zu werden sucht, dann sollte ein Rezensent von Anfang an eine Schwierigkeit einkalkulieren, die seiner Aufgabe gerade durch eine methodische Stärke des Autors bereitet wird. Eingedenk der aristotelischen Mahnung, daß wir insbesondere praktische Philosophie nicht deswegen treiben, weil wir möglichst viele tiefe und wahre Gedanken über das Wesen der praktischen Tüchtigkeit ausfindig machen wollen, sondern weil wir

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tüchtige Bürger werden wollen, 29 ist es unübersehbar, daß Patzig in seinen Arbeiten zur Ethik eine methodische Einstellung übt, in der jedes ethische Problem, das diesen Namen verdient, – aber auch manches ethische Scheinproblem – in erster Linie im Modus der Beratschlagung behandelt wird. In dieser Einstellung bleibt die Trennung zwischen prinzipieller und kasuistischer Ethik gerade in ihrer strikten Form ausschließlich auf die buchtechnische Verteilung von Patzigs Aufsätzen in Beiträge zu den Grundlagen der Ethik und zur Angewandten Ethik beschränkt. In methodischer Hinsicht bringt es der Beratschlagungsmodus indessen mit sich, daß Prinzipienerörterungen in nicht weniger subtiler Form mit kasuistischen Erörterungen verflochten sind als Fallerörterungen mit Erwägungen und Analysen von Prinzipien. Auf die methodischen Komplikationen dieses Beratschlagungsmodus wird Patzig offensichtlich durch eine praktische Sorge eingestimmt: Die alltägliche Bedrängnis der Menschen durch die Schwierigkeiten der trefflichen praktischen Beurteilung ihrer ständig wechselnden sowie schwer durchschaubaren und überblickbaren Lebenssituationen würden ohne kontrollierbare Orientierungshilfen bleiben, wenn ihnen die Ethik nicht wohldurchdachte Ratschläge bezüglich der Wege geben könnte, auf denen sie sich mit möglichst leistungsfähigen Begriffen, Methoden, Regeln, Kriterien und Prinzipien für die Prüfung und die Begründung praktischer Urteile vertraut machen können; und eine ethische Prinzipientheorie würde umgekehrt die wichtigste Chance zum Nachweis ihrer praktischen Relevanz vernachlässigen, wenn sie nicht durch hinreichend differenzierte paradigmatische Fallerörterungen die Grenzen markieren würde, innerhalb derer man sie wegen solcher Orientierungshilfen mit berechtigter Aussicht auf Erfolg um Rat fragen kann. Patzigs ethische Schriften dokumentieren eine hochentwickelte methodische Kunst, die Balance zwischen diesen beiden Aufgaben ethischer Beratschlagung zu suchen. Dies ist ein so charakteristischer, in mancherlei Hinsicht geradezu persönlicher, und daher so wenig objektivierbarer Grundzug von Patzigs hier publizierten Arbeiten, daß er sich mit Gewinn nur dadurch vermitteln läßt, daß man ihn im authentischen Studium der mitgeteilten Überlegungen nachvollzieht. Jeder Versuch, dieser Kunst der Beratschlagung dadurch auf die Spur zu kommen, daß man Regeln zu formulieren suchte, auf deren Beherrschung

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Vgl. Aristoteles, Nik. Eth. 1103 b 27–9; vgl. auch 1095 a 2–6.

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sie sich zurückführen läßt, verfehlte daher die wichtigste Lektion, die man ihr entnehmen kann – die Demonstration eines Musters, wie man diese Kunst meistern kann, ohne ihre Regeln irgendwo gelernt zu haben.

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Publikationsnachweise

Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren, in: Systematische Ethik mit Kant. Festschrift für Gerold Prauss zum 65. Geburtstag (Hg. H.-U. Baumgartner/ C. Held), Freiburg 2001, S. 82–123. Universalität, Spontaneität und Solidarität. Formale und prozedurale Grundzüge der Sittlichkeit, in: Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie (Hg. G. Funke/Th. S. Seebohm), Akten der Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland vom 27. 9.–30. 9. 1989 in Mainz, Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Veröffentlichungen der geisteswissenschaftlichen Klasse, Mainz 1990, S. 33–79. Rechtlicher Schutz für moralische Notwehr. Angewandte Ethik oder tätige Urteilskraft?, in: Methodus. (Revista internacional de filosofia moderna) International Journal for Modern Philosophy, No 1–2006, S. 7–37. Religion trotz Aufklärung? Retraktationen einer ungelösten philosophischen Aufgabe Platons für Kant, in: Religion und Philosophie im Widerstreit?. Band 1 (Hgg. C. Bickmann, M. Wirtz, H.-J. Scheidgen), Nordhausen 2008, S. 45–102. Ist die Moral strukturell rational? Die kantische Antwort, in: Praktische Rationalität (Hg. A. Vigo) (Dokumentenband der Tagung Razionalidad Practica an der Universität von Navarra, Mai 2008), Braunschweig 2010, S. 97–121. The Cognitive Dimension of Freedom as Autonomy, in: Cultivating Personhood: Kant and Asian Philosophy (Dokumentenband der Ta-

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Publikationsnachweise

gung Kant in Asia an der Baptist University Hongkong vom 19.– 21. Mai 2009), Berlin/New York 2010, S. 233–46. Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität, in: Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie (Hgg. Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs), Berlin 2013, S. 51–80. Moralität und Nützlichkeit, Rezension von: Günther Patzig, Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, 303 S. – Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik, Göttingen 1993, 191 S., in: Philosophische Rundschau, Bd. 44, Heft 2 (1997), S. 152–66.

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