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German Pages 222 Year 2016
Judith Siegmund (Hg.) Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?
Image | Band 82
Judith Siegmund (Hg.)
Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?
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Inhalt
Einleitung
Judith Siegmund, Anna Calabrese | 7 Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst. Zum epistemischen Status der künstlerischen Forschung
Eva-Maria Jung | 23 Mit Abstand im Übergang. Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft
Rahel Puffert | 45 Forschung als Verkörperung. Zur Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind
Bernadette Collenberg-Plotnikov | 65 A Pervert’s Guide to Artistic Research
Cornelia Sollfrank | 87 Poiesis und künstlerische Forschung
Judith Siegmund | 105 Künstlerisch forschen. Über Herkunft und Zukunft eines ästhetischen Programms
Reinold Schmücker | 123 Felduntersuchungen im eigenen Vorgarten. Künstlerische Forschungen der 1970er Jahre zwischen Adaption und Abgrenzung
Lutz Hengst | 145 Ästhetische Amalgamierung. Zu Kunstformen der Theorie
Kathrin Busch | 163
Walter Benjamins Theorie der Reflexion und die Frage der künstlerischen Forschung
Michael Schwab | 179 Wie verändert sich Kunst, wenn sie zur Tätigkeit ohne Werk wird?
Roberto Nigro | 199 Autorinnen und Autoren | 215
Einleitung J UDITH S IEGMUND , A NNA C ALABRESE
Das Symposium »Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?« fand im Januar 2015 in der Universität der Künste Berlin statt. Seine titelgebende Fragestellung verweist auf eine grundlegende Abwägung des Verhältnisses von Kunst und Forschung. Die laufende Debatte über das Verhältnis von Künsten, Forschung und Wissenschaften, in der nicht von Anfang an zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden wurde, ist großenteils geprägt von der Sorge, an künstlerisches Forschen könnten die Maßstäbe der Wissenschaften angelegt werden.1 Eine andere Furcht, die von Anfang an in die Debatte einfloss, ist die Annahme, Kunst werde durch institutionelle Vorgaben so verändert, dass ihr autonomer Status verlorengehe, mit dem Künstlerinnen und Künstler, oft aber auch die ästhetische Theorie Handlungsfreiheit verbinden.2 Das Gemisch
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Diese Sorge ist heute wohl weitgehend überholt, da zumindest im deutschsprachigen Raum dieser Anspruch nicht verwirklicht wurde; vgl. aber stellvertretend Anke Haarmann: »Wieviel Wissenschaft bekommt der Kunst? Gibt es eine Methodologie künstlerischer Forschung?« Vortrag auf dem Symposium der ARGE Wissenschaft und Kunst der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, 4.5.11.2011, Akademie der bildenden Künste Wien; Dieter Mersch/Michaela Ott: »Tektonische Verschiebungen zwischen Kunst und Wissenschaft«, als Einleitung in: dies. (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München 2007, S. 9-31.
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Vgl. Tom Holert: »Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie«, in: Sybille Peters (Hg.), Das Forschen
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aus künstlerischen und kuratorischen Perspektiven, theoretischen Zuschreibungen und institutionellen Ansprüchen an die Künste – insbesondere in den Bereichen der künstlerischen Ausbildung und postgradualen Weiterbildung – erzeugte eine Kontroverse, die viel mit der Selbstpositionierung der an der Diskussion Beteiligten zu tun hat. So ist der Begriff der Forschung in der deutschsprachigen Debatte sehr umstritten, nicht selten lautet der Vorschlag, er sei durch den Terminus des »ästhetischen Denkens« zu ersetzen.3 Kaum Rechnung getragen wird dabei auch dem Umstand, dass relativ wenige Künstlerinnen und Künstler für sich in Anspruch nehmen, zu forschen, und auch hier gibt es eine Spannbreite von der gestaltenden Begleitung naturwissenschaftlicher Tätigkeit über deren performative Imitation4 bis hin zur Anwendung exakter Methoden wissenschaftlichen Experimentierens auf eigene Fragestellungen.5 Insofern ließe sich zur Beruhigung die Tatsache anführen, dass es sich bei der künstlerischen Forschung nicht um einen Trend handelt, der die Kunst im Ganzen erfasst hat und verändern wird, sondern um den Bereich einer (wenn man so will) zu den Künsten relativ neu hinzukommenden Tätigkeit, der dabei ist, sich herauszubilden. Künstlerische Tätigkeiten des Forschens empirisch zu beschreiben, ist eine Herausforderung für eine phänomenologische, die aktuellen Praxen beobachtende, Entwicklungen konstatierende Bestandsaufnahme. Ihre systematischen Koordinaten theoretisch zu explizieren, ist hingegen die aktuelle Herausforderung ästhetischer Theorie. Mitunter erscheint es so, als wäre der Bereich des künstlerischen Forschens in der ästhetischen Theorie ka-
aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 225-238. 3
Vgl. Elke Bippus: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kunst des Forschens – Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich 2009, S. 9-23; Mira Fliescher/Julia Rintz: »Toolbox. Für die Arbeit zwischen Nicht-Propositionalität und ästhetischem Denken«, in: Florian Dombois/Dieter Mersch/Julia Rintz (Hg.), Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014, S. 134-301. Vgl. auch den Beitrag von Kathrin Busch in diesem Band.
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Vgl. den Beitrag von Lutz Hengst in diesem Band.
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Vgl. dazu den Handbucheintrag von Jörg Rheinberger: »Labor und künstlerische Forschung«, in: Jens Badura/Selma Dubach/Anke Haarmann/Dieter Mersch/ Anton Rey/Christoph Schenker/Germán Toro Pérez (Hg.), Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 311-314.
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tegorisch oder sogar dogmatisch ausgeschlossen worden (und dies hat mit Vorentscheidungen zu tun, die die Theorie aus ihrer eigenen Geschichte ableitet). Wenn das so ist, dann stellt auch die Existenz einer kleinen Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die forschen, indirekt eine Aufforderung dar, die Frage nach dem künstlerischen Wissen und Forschen als die Frage nach der Kunst und ihrer Episteme neu zu stellen. Indes ist die Frage nach dem Epistemischen der Kunst keine neue Frage, nur wurde sie in den zurückliegenden Jahren in andere Begrifflichkeiten gefasst.6 Die Debatten der Wahrheitsfähigkeit der Kunst verhandelten seit langem die Frage nach ihrer Episteme.7 Was ist dann also das Neue an der Fragestellung, wenn nun die Begriffe der Forschung und des Wissens als Statthalter des Epistemischen der Kunst aufgerufen werden, wie in den letzten Jahren geschehen? Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der ästhetischen Theorie zeigt, dass seit dem Entstehen der ästhetischen Disziplin im 18. Jahrhundert den Künsten die Frage nach ihrer Erkenntnisfunktion anhaftet. Schönheit, von Baumgarten als »die Vollkommenheit sinnlicher Erkenntnis« aufgefasst, steht nicht im Gegensatz zu Wissen und Können, sondern ist eng mit beiden verwoben, sie ermöglichend.8 Unter sinnlicher Erkenntnis versteht
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So ist z.B. eine kürzlich erschienene Publikation von Anna Kreysing einer epistemischen Frage verpflichtet, ohne den Wissensbegriff ins Zentrum zu stellen. Anna Kreysing: Prozesse und Funktionen des Erkennens in Ästhetischer Erfahrung, Münster 2016.
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Vgl. etwa Martin Seel: »Kunst, Wahrheit, Welterschließung«, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Text und Diskussion, Frankfurt a.M. 1991, S. 36-80; Albrecht Wellmer: »Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M. 1985, S. 9-47. In der Bezugnahme auf Heideggers, Gadamers und Adornos Wahrheitsbegriff ging die Diskussion u.a. darum, wie diskursiv bzw. nichtdiskursiv ästhetische Wahrheit gefasst werden muss. Vgl. zu dieser Debatte Judith Siegmund: »Das Kunstwerk als Wahrheitsträger. Kritik zweier ästhetischer Theorien«, in: dies., Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation, Bielefeld 2007, S. 29-82 sowie Reinold Schmücker: Was ist Kunst? Eine Grundlegung. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2014, S. 23-67.
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Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, übersetzt von Dagmar Mirbach, Hamburg 2009, § 14, S. 21. Vgl. auch den Hinweis auf die Bedeutung von Baumgar-
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Baumgarten »die Gesamtheit der Vorstellungen, die unter der Deutlichkeit verbleiben«.9 Damit ist bereits ein nicht nur sprachlicher Erkenntnisbegriff entworfen. Angelehnt an Leibniz’ Lehre von den unteren Erkenntnisvermögen zergliedert Baumgarten Wahrnehmungsvorgänge als ›Perzeptionen‹ in ihre ›Sub-Perzeptionen‹, denen ein je abgestufter Begriff eines dunklen nichtsprachlichen Wissens in einer Art Stufenmodell bis hin zum ›Erreichen vollständiger Transparenz‹ zugedacht ist.10 Die traditionellen Bereiche der Rhetorik und Poetik in seine ästhetische Theorie einbeziehend, überträgt Baumgarten seine erkenntnistheoretischen Prämissen auf Fragen der Ausübung schöner Wissenschaften und Künste. Vieles, was heute unter dem Stichwort des ›ästhetischen Denkens‹ im Zwischen des Künstlerisch-Wissenschaftlichen versucht wird, ist bereits bei Baumgarten (und indirekt bei Leibniz) in seiner Grundanlage zu finden. Auch schon vor Baumgarten, in den Evidenztheorien des 17. Jahrhunderts, in denen der Evidenzbegriff der antiken Rhetorik aufgenommen wurde, geht es um einen erkennenden Zugriff des Subjekts in der Wahrnehmung und somit explizit um die Frage nach der Subjektivität und graduellen Verbindlichkeit eines anschaulichen Wissens.11 Formulierungen wie »figurale Herstellung von Evidenz« sowie »Formen der Präsenz und ihre epistemischen Funktionen«12 weisen in diese Denkrichtung. Der Bruch kommt mit Kant und seiner Trennung der erkennenden von den reflektierenden Urteilen.13 Die Trennung teleologischer und ästhetischer reflektierender Urteilsformen vom Erkennen legt die Fundamente für
tens ästhetischer Theorie in dem Beitrag von Reinold Schmücker in diesem Band. 9
Ebd. § 17, S. 21.
10 Vgl. Constanze Peres: »Die Grundlagen der Ästhetik in Leibniz’ und Baumgartens Konzeption der Kontinuität und Ganzheit«, in: Melanie Sachs/Sabine Sander (Hg.), Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden 2009, S. 139-162. 11 Vgl. Rüdiger Campe: »Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant«, in: Sybille Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25-43. 12 Ebd., S. 31. 13 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1974.
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die Schwierigkeiten, die wir heute damit haben, Künste bzw. Künstlerinnen und Künstler als Produzenten von Wissen anzusehen. Jedoch haben auch bei Kant die ästhetischen Tätigkeiten, insbesondere diejenigen der Kunstherstellung, noch eine ergänzende, komplementierende Funktion im Verhältnis zu erkennenden Urteilen, in denen Phantasie und Einbildungskraft streng unter dem Verstand subsumiert aufgefasst sind. In der künstlerischen Tätigkeit des Genies »ist die Einbildungskraft frei, […] um über jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht, reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber […] subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet […]«.14 Die Art der phantasievollen Erkenntnis, von der hier berichtet wird, birgt noch die Eigenarten Baumgartenscher und Leibnizscher dunkler Perzeptionen (wenn auch wenigen Genies vorbehalten) und verweist bereits auf das, wonach heute so intensiv in den Debatten über künstlerisches Forschen gesucht wird: das spezifisch Künstlerisch-Epistemische, das sich von anderen Erkenntnisarten unterscheidet. Diese Denkspur ist eigenartigerweise in der ästhetischen Theorie weitestgehend verlorengegangen und wird eher noch in erkenntnistheoretischen Kant-Interpretationen expliziert.15 Der allgemeine Gültigkeitsanspruch eines ästhetischen Geschmacksurteils über den naturschönen Gegenstand hingegen überträgt das Verhältnis eines Subjekts zu einem von ihm selbst als schön empfundenen Gegenstand als Forderung auf alle anderen Betrachter (und zwar im Hinblick auf einen ästhetischen Gemeinsinn oder sensus communis). Dieser übersubjektive Status des Urteilens bleibt aber, wie Kant zugibt, im Bereich der Behauptung. In einer Übertragung, welche die ästhetische Theorie im 20. Jahrhundert vorgenommen hat, indem sie den naturschönen Gegenstand durch den Kunstgegenstand ersetzte, hat sie zugleich die Behauptung des sensus com-
14 Ebd., S. 253f. (§ 49), Hervorhebung von mir, J.S. 15 Vgl. z.B. Andreas Kablitz: »Die Kunst und ihre prekäre Opposition zur Natur«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 151-172. Die Bemerkung von Michael Schwab über eine »›Handlung der Intelligenz‹, allgemeiner ›Denken‹ genannt«, die »auch dann noch im Spiel sei, wenn Begriffe fehlen«, geht als Überlegung in eine ähnliche Richtung, bezieht sich aber auf eine andere Passage der Kritik der Urteilskraft. Vgl. den Beitrag von Schwab in diesem Band.
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munis auf alle Kunst erweitert. Diesen Bereich der subjektiven Behauptung haben die Künste nicht mehr verlassen, ihnen haftet die uneingeholte und nicht prüfbare Forderung der übersubjektiven Gültigkeit ihrer Beurteilung und Erfahrung gleichsam qua Theoriegeschichte an. In solch einem Rahmen der strikten Zuweisung subjektiver Normbehauptungen an die Künste ist es kein Wunder, dass die Entfaltung eines Forschungsbegriffs provokant anmuten muss. Denn Forschung hat es mit objektiven, zumindest nachvollziehbaren Methoden und mit Anschlussfähigkeit zu tun. Aktuelle Debatten zum Thema scheinen dementsprechend mit internen Widersprüchen der Fragestellung nach den forschenden Künsten selbst zu kämpfen.16 Sollte man also Prämissen ändern? Ja. Natürlich, nicht jede Kunst ist Forschung, darin stimmen die meisten Debattenbeiträge überein, aber was ist neu und anders an den neuen künstlerischen forschenden Praktiken und hat somit auch das Potenzial, Denktraditionen in Frage zu stellen? Inwiefern stellen künstlerische Forschungspraxen eine Herausforderung für ihre Einschätzung durch Theorien der Kunst dar? Was wiederum ändert sich durch eine modifizierte kunsttheoretische Einschätzung für die künstlerische Praxis?17 Auf die hier genannten Fragen geben die verschiedenen Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes unterschiedliche, weiterführende Antworten im Sinne einer Befragung der Grundsätze, die sich hinter dem Forschungsparadigma verbergen. Eva Maria Jung, die in ihrem Aufsatz »Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst − Zum epistemischen Status der künstlerischen Forschung« eine wissenschaftsphilosophische Perspektive einnimmt, erkennt in der Debatte um die künstlerische Forschung Berührungspunkte mit er-
16 Dies spiegelt zum Beispiel auch das Handbuch zur künstlerischen Forschung: Jens Badura/Selma Dubach/Anke Haarmann/Dieter Mersch/Anton Rey/Christoph Schenker/Germán Toro Pérez (Hg.): Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015. 17 Anke Haarmann spricht z.B. von einer »praxologischen Wende«. Vgl. Anke Haarmann: »Praxisästhetik«, in: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 215-232. Die Auswirkungen institutioneller Forderungen, die im Rahmen einer veränderten Einschätzung der Kunst ansetzen, behandeln Cornelia Sollfrank und Rahel Puffert in ihren Beiträgen.
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kenntnis- und wissenschaftsphilosophischen Fragen, die das Verständnis von Wissen und Forschung und vor allem den Wissensbegriff betreffen. Die Rede von der künstlerischen Forschung mündet, so Jung unter Bezugnahme auf Henk Bergdorff, in ein Paradox: Kunst soll Ähnlichkeiten zu wissenschaftlichen Disziplinen aufweisen und zugleich ihren eigenständigen Charakter behalten. Die Auflösung dieses Paradoxons könne nur gelingen, indem die Rolle des Wissensbegriffs neu in den Fokus gerückt wird und das Wissen (der Kunst und der Wissenschaften) jenseits der Sprache mitgedacht wird. Polanyis Begriff des ›impliziten Wissens‹ verschafft hierbei Abhilfe, denn dieser ermöglicht der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie einen Zugang zu künstlerischen Wissensformen, die ihrerseits nicht ohne die künstlerische Praxis zu denken sind. Der Begriff des ›impliziten Wissens‹ könne letztendlich zu einer Reformierung des Wissensbegriffs führen, da sämtliches Wissen auf der Grundlage des impliziten Wissens stehe. Rahel Puffert hinterfragt in ihrem Text »Mit Abstand im Übergang. Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft« die Implikationen der Fragestellung des Symposiums, indem sie das ›man‹ der Frage Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? genauer diskutiert. Puffert versteht das Subjekt, welches sich hinter dem ›man‹ verbirgt, als institutionelles und pointiert damit die Bedeutung institutioneller Umstrukturierungen für die Kunst. Mit Luhmann und Bourdieu beschreibt Puffert zwei paradoxale Systemlogiken der Wissenschaften (insbesondere der Kunstwissenschaften) und der Kunst. Beiden Systemen wohnt ein reflexives Moment inne; doch während die (Kunst-)Wissenschaft ihre Legitimität durch ihre eigenen Regeln gewinnt und ihre Methode stets offenlegt, ist die Kunst abhängig von der Bestätigung der Kunstwissenschaften, aber zugleich darauf bedacht, den Schein ihrer Autonomie durch das Verhüllen ihrer Regeln zu sichern. Die Wissenschaften würdigen infolgedessen die Kunst nicht als ebenbürtige Anerkennungsinstanz, was das Paradox letztendlich nur verhärtet. Mit Blick auf den avantgardistischen Künstler Alexej Babicev, welcher der Kunst und der Wissenschaft ein erkenntnisgewinnendes Vermögen zuspricht, sucht Puffert nach einer Aufweichung dieses Paradoxons. Eine prominente Rolle spielt hierbei die Praxis des Schreibens (vgl. John Roberts), die bei den russischen Avantgarden nicht nur als künst-
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lerische Praxis verstanden wird, sondern auch rehistorisierend und theoretisierend auf kunsthistorische Schreibsysteme einwirkt. Bernadette Collenberg-Plotnikov behandelt in ihrem Beitrag »Forschung als Verkörperung. Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind« einen zentralen Gedanken der Schriften Edgar Winds – den der Verkörperung. Collenberg-Plotnikov beansprucht den Forschungsbegriff im Sinne einer Reflexionsform, die qua Verbundenheit mit der Welt auch der Kunst zugrunde liegt. Winds ›konkrete Kunstwissenschaft‹ befasst sich in ihren Anfängen zwar vornehmlich mit der formalen Gestaltung des Werks, die sich durch eine Kunstgrammatik dechiffrieren und nachvollziehen lässt, doch auch hier findet sich schon die Aussage, dass auch die Kunst Gegenstand des Wissens sei: Die Lösung »künstlerischer Probleme« sei die »künstlerische Leistung«, die sich im Werk verkörpert. Später dann stellt Wind der reinen Vernunft Kants seine »verkörperte Vernunft« entgegen, welche die Einheit von Anschauung und Denken, also die sinnliche Erfahrbarkeit von Wirklichkeit bezeichnet. Im (naturwissenschaftlichen) Experiment werde genau diese Einheit anschaulich bzw. verkörpert. So wie die Theorie eines Wissenschaftlers im Experiment real wird, wird das künstlerische Problem im Werk real. Wissenschaftstheoretisch sieht Wind also Kunst und Wissenschaft mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert: Sowohl wissenschaftliche Arbeiten als auch Kunstwerke laufen durch ihre gesetzten Axiome Gefahr, in einem methodischen Zyklus zu verharren, einzig die Verkörperung biete einen Ausweg, da sie Anschauliches und Geistiges zur Einheit führt, welche wiederum durch ihre Einbindung in die Welt zugleich Mittel und Gegenstand der Forschung sein kann. Reflexivität ist somit auch in der Kunst immer involviert. Collenberg-Plotnikov folgert daraus, dass Kunst nur unter der Voraussetzung, eine Reflexionsform zu sein, verstanden werden kann. Eine genaue Einsicht in die Praxis einer Künstlerin, die mit der institutionalisierten Form künstlerischer Forschung bestens vertraut ist, gibt Cornelia Sollfrank, indem sie in ihrem Text »A Pervert’s Guide to Artistic Research« das selbst erfahrene Modell künstlerischer Forschung in Großbritannien sowohl vorstellt als auch kritisiert. Praxisbasierte PhD-Programme fanden dort bereits vor 20 Jahren ihren Weg in die Institutionen. Zunächst erkennt Sollfrank schon in der Frage Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als
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Forschung versteht? eine hierarchische Herabstufung der Kunst, die immer noch nach wissenschaftlichen Methoden bewertet werde, zugunsten der Forschung. So werden auch bei der Vergabe der Fördermittel, die in den 1990er Jahren in Großbritannien nach der Anbindung von Kunsthochschulen an die universitäre Struktur auch für KünstlerInnen zugänglich wurden, wissenschaftliche Arbeitsweisen verlangt. Seither treten Kunsthochschulen bzw. Kunstuniversitäten mit anderen Universitäten in Konkurrenz, wobei erstere zu einer Anpassung an die Methoden letzterer gezwungen sind. Zwar werden spezifisch künstlerische ›Outputs‹ wie die Teilnahme an Einzel- oder Gruppenausstellungen eingebunden, dennoch müssen diese immer durch textbasierte Dokumentationen gestützt, also verschriftlicht werden. Dieses Erfordernis lässt Sollfrank nach dem der Kunst inhärenten Wissen fragen, nicht zuletzt auch, weil sie in den Beantragungsformalitäten und Evaluierungsprozessen eine Abwertung des Wissens der Kunst erkennt. Generell werde von dem Begriff des Wissens in den Richtlinienkatalogen der Institutionen unhinterfragt Gebrauch gemacht – klar werde nur, dass jede Forschungstätigkeit einen Wert für die Gesellschaft verheißen muss. Mit Anke Haarmann sieht Sollfrank jedoch auch, dass die Kunst durch aktuelle hochschulpolitische Entwicklungen als eine Art neue Wissenschaft den traditionellen Wissenschaften gegenübertreten kann – auch, was ihren epistemischen Wert betrifft. Fraglich bleibe nur noch, ob sich innerhalb der Hochschul- und Universitätsstrukturen neue künstlerische Praktiken ergeben. Um den umstrittenen Begriff der künstlerischen Forschung zu denken, schlägt Judith Siegmund ein Theoriedesign vor, das nach ihren Überlegungen geeigneter ist, den Forschungsbegriff zu umfassen, als rezeptionsästhetische Theorien. Siegmund hebt hervor, dass Rezeptionsästhetiken sowohl ästhetische Erfahrungen als auch Kunswerke als offen und unbestimmt denken und der Sinn der Werke so von der künstlerischen Tätigkeit als abgelöst gedacht wird. Forschung sei in diese Denkrichtung nur schwer zu integrieren, da Forschung gerade nicht bedeutungsoffen sein sollte. Statt von einer Unbestimmbarkeit des Kunstwerkes zu sprechen, schlägt Siegmund die Mehrbedeutung des Kunstwerks vor: Kunstwerke zeichnen sich wie Forschungsergebnisse durch die Pluralität möglicher Deutungen aus. Die künstlerische Forschung hebt sich aber durch ihren direkten Umgang mit Materialität von der wissenschaftlichen Forschung ab. Anhand dreier Bei-
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spiele aus der bildenden Kunst, die sich methodisch als Archivierung, Experiment und das Durchspielen von Möglichkeiten charakterisieren lassen, verdeutlicht Siegmund die Zielhaftigkeit manchen künstlerischen Tuns, welches konkret formulierte Erkenntnisinteressen und reflektierte Vorgehensweisen aufweist. Unter Rückbezug auf den aristotelischen Begriff der Poiesis entwirft Siegmund eine poetische Kunsttheorie, die Kunst und ihre Handlungen als kognitive Zugänge zur Welt versteht und den Begriff der künstlerischen Forschung zu umgreifen weiß. Mit Theodor Eberts Auslegung des Poiesis- und des Praxisbegriffs verschiebt sich der Fokus auf die Intention künstlerischer Tätigkeit, da sich das Resultat der Praxis nicht strikt von dem der Poiesis unterscheiden lässt, wie oft behauptet wird – ihre zugrunde liegenden Intentionen lassen sich jedoch präzise voneinander unterscheiden. Mit dieser Lesart Aristoteles’ kann man die Poiesis auch als eine von der Praxis motivierte denken; eine mit der Poiesis verknüpfte künstlerische Praxis könne auf diesem Weg einen Beitrag zur Praxis der Forschung leisten. Auch Reinold Schmücker analysiert in seinem Beitrag »Künstlerisch forschen. Über Herkunft und Zukunft eines ästhetischen Programms« den Forschungsbegriff, er perspektiviert diesen unter genauerer Betrachtung des Experiments. Sein Beitrag geht von der Annahme aus, dass Forschen absichtsvolles Handeln ist, künstlerisches Forschen von Künstlerinnen und Künstlern getätigt wird, um menschliches Wissen zu vermehren. Getrieben von der Frage, wie sich künstlerisches Handeln als Forschung verstehen lasse, begegnet Schmücker der Rede von künstlerischer Forschung zunächst mit Skepsis, zieht dann Adorno und Baumgarten hinzu, um diese anfängliche Skepsis zu mildern und Kunst als eine Art des Experimentierens zu denken. Gottfried Gabriels Versuch, Kunst und insbesondere die Literatur als nichtpropositionale Erkenntnis aufzufassen, bleibt für Schmücker vage, da das Spezifikum nichtpropositionaler Erkenntnis im Unterschied zur propositionalen Erkenntnis ungeklärt bleibt. Die Suche nach dem kunstspezifischen epistemologischen Wert führt Schmücker zu Adorno und Horkheimer, welche die Kunst als befähigt einschätzen, eine Denkweise zu beherrschen, die Widersprüche aufspürend eine radikale Kritik des Bestehenden ist und eine mögliche Welt in der Beschaffenheit ihrer Erlösung zu zeigen weiß – die Denkweise der Negativen Dialektik. Zwar ist die Kunst so transsubjektives Medium der Offenbarung einer besseren, möglichen
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Beschaffenheit der Welt und damit als Träger objektiven Wissens ausgewiesen, aber dennoch binden Adorno und Horkheimer dieses Wissen an die Vermittlung der Rezeption, genauer: an die philosophische (propositionale) Interpretation des im Werk inhärenten Wissens. Mit Baumgarten denkt Schmücker das kunstspezifische Erkennen nun aber weiter: Kunst könne die Individualität des Individuums erkennen, indem sie mögliche Welten erschafft. Wolle man Kunst als Forschung verstehen, müsse man sich, so Schmücker, an diese Denkrichtung halten. Anhand eines ›mittleren Begriffs‹ des Experiments – dieser lässt sich zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Experimentieren ansiedeln – begreift Schmücker künstlerisches Handeln, auf welches sich jener mittlere Begriff anwenden lässt, (auch) als Forschung. Der eingangs angesprochenen Angst vor einer Verwissenschaftlichung der Kunst begegnet Kathrin Busch in ihrem Beitrag »Ästhetische Amalgamierung. Zu Kunstformen der Theorie« mit der Beobachtung einer Annäherung von Kunst und Theorie. Der mehr verdeckende als zur Aufklärung beitragende Begriff der künstlerischen Forschung lehne sich eher an den Forschungsbegriff neuzeitlicher Wissenschaft an, Busch allerdings denkt dementgegen die künstlerische Forschung eher in einer Verwandtschaft mit der Theorie, nicht den Wissenschaften. Während man in der Theorie, speziell in der Philosophie, von einem Kunstwerden der Theorie sprechen könne, ließe sich seit den frühen Avantgarden ein Theoretischwerden der Kunst ausmachen. Der Gebrauch von Philosophie und Kunst transformiert sich, die Kunst bewegt sich vom Ästhetischen zum Epistemischen. Rancières ästhetisches Regime der Moderne werde gegenwärtig von einem ›epistemischen Regime‹ abgelöst – laut Busch Symptom einer fundamentalen Neugliederung im Bereich der Episteme selbst, die sich in der Rede von der Wissensgesellschaft zeigt. Doch sowohl Kunst als auch Philosophie reflektieren genau diese (Wissens-)Gesellschaft, auch durch ein Denken, das sich schwer unter dem Forschungsbegriff subsumieren lässt. Nach diesem Denken der Kunst fragt Busch und zieht zu diesem Zweck die französischen Theoretiker Rancière, Foucault und Deleuze hinzu, um später im Text den Essayismus als exemplarisches Modell künstlerischen Denkens anzubieten. Lutz Hengst liefert in seinem Beitrag »Felduntersuchungen im eigenen Vorgarten. Künstlerische Forschungen der 1970er Jahre zwischen Adaption
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und Abgrenzung« eine kunstwissenschaftliche Interpretation ausgewählter Arbeiten von Christian Boltanski und Nikolaus Lang, die 1974 im Rahmen der Ausstellung Spurensicherung als Kunst im Hamburger Kunstverein gezeigt wurden. Hierbei nähert sich Hengst dem Forschungsbegriff über den Begriff der Spur. Durch die Darlegung der Arbeiten Boltanskis und Langs unter ihrem ›spurenkünstlerischen‹ Aspekt demonstriert Hengst die den ›Spurenkünstlern‹ eigentümliche Vorgehensweise, die sich zwar an wissenschaftliche Forschungsmethoden – wie die der Feldforschung, der positivistischen Materialauswertung oder des Protokollierens – anlehnt und diese adaptiert, sie jedoch auf spielerische oder performative Weise umsetzt. Spurenkünstlerische Strategien gehen mit spurenfähigem Material um, welches systematisch erschlossen und arrangiert wird, wobei die Ordnungslogik von Archiven, Sammlungen und anderen institutionellen Aufbewahrungsstätten gezeigt und abermals zur Diskussion gestellt wird. Die Spur lasse sich auf die Fähigkeit des Spürens beziehen, die in ihrer Unwillkürlichkeit, in ihrem Sich-Einlassen über die Dimension der Wahrnehmung hinausgehe und von scheinbar peripherem Vorgefundenen aus ihre Umwelt erschließt. Im Sinne der Levi-Strauss’schen bricolage setzt Hengst die autodidaktisch, selbständig und nach individuellen Maßstäben agierende Forschung der Spurkunst der Deutungshoheit der institutionellen Disziplinen entgegen. Michael Schwab gelingt es in seinem Beitrag »Walter Benjamins Theorie der Reflexion und die Frage der künstlerischen Forschung«, eine Definition der Kunst zu erläutern, deren Werke, indem sie die Kritik selbst inkorporieren, keiner kritischen Reflexion und sprachlichen Auslegung durch äußere Instanzen wie z.B. die Philosophie bedürfen. Mit Benjamin versteht er Kunst als epistemologisch und nicht als ästhetisch, denn die ästhetische Interpretation der Kunst werde durch das Konzept von ›Wahrheit‹ in der westlichen Philosophie ausgeschlossen. Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu einer solchen möglichen Definition der Kunst sind institutionalisierte Anforderungen an Projekte künstlerischen Forschens, deren Praxis und Prozess laut kriterieller Forderung immer in textlichen Analysen dargestellt werden sollen – die also davon zeugen, dass der Kunst keine Kritikfähigkeit in Bezug auf sich selbst zugetraut wird. Da dies aus künstlerischer Perspektive seltsam anmute, sucht Schwab in einer Auseinandersetzung mit Fichte, der Frühromantik und
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Walter Benjamin nach einem Theoriemodell, das davon ausgeht, dass es sich bei den Denkvermögen, die in künstlerischen und philosophischen Urteilsformen am Werk sind, um ein und dasselbe Denkvermögen handelt. Kunstwerke der künstlerischen Forschung, so Schwab, müssten in diesem Sinne »doppelte Kunstwerke« sein, die ihre selbstreflexive Kritik als »umformendes Reflektieren auf eine Form« leisten können. Roberto Nigro konstatiert in seinem Text »Wie verändert sich Kunst, wenn sie zur Tätigkeit ohne Werk wird?« eine Transformation des ›ästhetischen Paradigmas‹. Während Menke und Adorno das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie als komplementär ansehen, wobei die Kunst die Sphäre der Sichtbarkeit und die Philosophie die Sphäre der Sagbarkeit für sich beansprucht, argumentiert Nigro mit Panofsky für eine komplexere Beziehung zwischen Kunst und Philosophie, die sich eher durch ihre Heterogenität auszeichnet. Der privilegierte Status des Sagbaren, der bei Menke und Adorno der Theorie bzw. der Philosophie vorbehalten ist, wird somit geschwächt: Kunst ist nicht mehr eine anders geartete Weise, etwas zu sagen, sondern zeigt Dinge, die ein Diskurs nicht zu sagen vermag. Mit Marin tritt Nigro, der hier bildtheoretisch wird, für eine ›Macht der Bilder‹ ein, die dem Bild die performative Kraft zuspricht, Welten zu erzeugen, es somit von seiner neuzeitlichen Repräsentationsfunktion löst und ihm ein Erkenntnisvermögen zuerkennt. Des weiteren werde das Kunstwerk mehr und mehr unter die Frage seines Herstellungsprozesses gestellt – die künstlerische Tätigkeit trete sogar so weit in den Vordergrund, dass es möglich werde, sie ohne ein produziertes Werk zu denken. Diese Transformation des ästhetischen Regimes bringt Nigro mit »einer Neudefinition von Subjektivitätsformen« in Verbindung, zu der es innerhalb der als »virtuos« (Paolo Virno) zu bezeichnenden kapitalistischen Produktionsweise komme und die letztendlich auch einen Anspruch formuliere: Sowohl Ästhetik und Philosophie als auch künstlerische Forschung sind angehalten, die Gegenwart und ihre historischen Bedingungen zu kritisieren. An allen Beiträgen lässt sich das Bedürfnis einer Emanzipation der künstlerischen Forschung von ›den‹ wissenschaftlichen Forschungsmethoden ablesen, wenngleich teilweise Versuche der Annäherung oder Parallelführung künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung vollzogen werden. In den Fokus rückt nicht nur die Herausarbeitung der epistemischen Qualität von
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Kunst, sondern die implizite Forderung nach einer Reorganisation des Forschungs- und Wissensbegriffs für die Kunst. Neben rezeptions- und werkästhetischen Aspekten tritt in diesem Sammelband vermehrt die Konzentration auf praxisorientierte Perspektiven in den Vordergrund – dieser Richtungswechsel soll den Fluchtpunkt der Forschung erneut visieren und fixieren.18
L ITERATUR Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/Rey, Anton/ Schenker, Christoph/Pérez, Germán Toro (Hg.): Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik, übersetzt von Dagmar Mirbach, Hamburg 2009. Bippus, Elke: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kunst des Forschens – Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich 2009, S. 9-23. Campe, Rüdiger: »Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant«, in: Sybille Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25-43. Fliescher, Mira/Rintz, Julia: »Toolbox. Für die Arbeit zwischen Nicht-Propositionalität und ästhetischem Denken«, in: Florian Dombois/Dieter Mersch/Julia Rintz (Hg.): Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014, S. 134-301. Haarmann, Anke: »Wieviel Wissenschaft bekommt der Kunst? Gibt es eine Methodologie künstlerischer Forschung?« Vortrag auf dem Symposium der ARGE Wissenschaft und Kunst der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, 4.-5.11.2011, Akademie der bildenden Künste Wien. –: »Praxisästhetik«, in: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 215-232. Holert, Tom: »Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie«, in: Sybille Peters (Hg.), Das For-
18 Für weiterführende Bemerkungen sowie für den Satz des Bandes danken wir Sara Ehrentraut.
E INLEITUNG
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schen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 225-238. Kablitz, Andreas: »Die Kunst und ihre prekäre Opposition zur Natur«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 151-172. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1974. Kreysing, Anna: Prozesse und Funktionen des Erkennens in Ästhetischer Erfahrung, Münster 2016. Mersch, Dieter/Ott, Michaela: »Tektonische Verschiebungen zwischen Kunst und Wissenschaft«, als Einleitung in: dies. (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München 2007, S. 9-31. Peres, Constanze: »Die Grundlagen der Ästhetik in Leibniz’ und Baumgartens Konzeption der Kontinuität und Ganzheit«, in: Melanie Sachs/Sabine Sander (Hg.), Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden 2009, S. 139-162. Schmücker, Reinold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2014. Seel, Martin: Kunst, Wahrheit, Welterschließung, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Text und Diskussion, Frankfurt a.M. 1991, S. 36-80. Siegmund, Judith: Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation, Bielefeld 2007. Wellmer, Albrecht: »Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität«, in ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M. 1985, S. 9-47.
Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst Zum epistemischen Status der künstlerischen Forschung E VA -M ARIA J UNG
1. E INLEITUNG Eine wissenschaftsphilosophische Reflexion der Kunst wirkt auf den ersten Blick wie ein sehr ungewöhnliches und obendrein aussichtsloses Unterfangen, gilt doch die Kunst zumeist als etwas, was überhaupt nicht in den Bereich der wissenschaftlichen Disziplinen fällt und mit diesen auch nicht konkurriert. Von der künstlerischen Praxis wird angenommen, dass sie, obgleich ihr ein Bildungswert zuzusprechen ist, schlicht anderen Zielen und Zwecken dient als wissenschaftliche Forschungen. Diese Vorstellung ist in unserer Alltagswelt weit verbreitet und spiegelt sich in der Ressorteinteilung von Zeitungen und Zeitschriften ebenso wider wie im Fernsehund Radioprogramm. Sendungen wie »Forschung aktuell«1 oder »W wie Wissen«2 informieren über die neuesten Entdeckungen aus Naturwissenschaft und Technik; über die Künste wird hingegen in Kulturprogrammen berichtet. Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig verwunderlich, dass
1
Vgl. Webseite des Deutschlandfunks: http://www.deutschlandfunk.de/forschungaktuell.675.de.html (abgerufen am 01.10.2015).
2
Vgl. Webseite der ARD: http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wiewissen/index.html (abgerufen am 01.10.2015).
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die Kunst in der Wissenschaftsphilosophie nur am Rande Erwähnung findet. Hier ist der Blick fast ausschließlich auf naturwissenschaftliche3 und erst seit den letzten Jahren auch vermehrt auf sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen gerichtet. In der Debatte um die künstlerische Forschung wird eben diese Gegenüberstellung von Kunst und Wissenschaft in Frage gestellt. Das Ziel meines Aufsatzes ist, zu zeigen, dass diese Debatte einige grundlegende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen berührt und zu einer Neubewertung der Grenze zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Vorgehensweisen führt. Hierzu argumentiere ich zunächst dafür, dass die Überzeugung, dass es künstlerische Forschung gibt, mit einem Paradox konfrontiert ist, welches sich nur dann auflösen lässt, wenn das Begriffsrepertoire, welches die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zur Verfügung stellt, reformiert wird. Einen wesentlichen Beitrag zu einer solchen Reformierung leistet die Annahme eines Wissensbegriffs, der sich nicht auf in Sprache und Formeln Ausdrückbares beschränkt, sondern auch ein implizites Wissen als Form der Erkenntnis gelten lässt. Ich werde zeigen, dass eine Analyse dieses impliziten Wissens nicht nur im Hinblick auf die Auflösung des Paradoxes hilfreich ist. Sie ist auch richtungsweisend für die Frage nach den Eigenheiten der künstlerischen Forschung, die sie von konventionellen Formen wissenschaftlicher Forschung unterscheiden.
2. D AS P ARADOX
DER KÜNSTLERISCHEN
F ORSCHUNG
Die Berührungspunkte zwischen Kunst und Wissenschaft sind äußerst vielfältig, und so mag es kaum verwundern, dass ein erheblicher Teil der Debatte um die künstlerische Forschung der Frage gewidmet ist, was überhaupt unter diesem Begriff zu verstehen ist. Die Antworten auf diese Frage fallen ganz unterschiedlich aus und stützen sich dabei zum einen auf eine theoretische Annäherung an den Begriff, zum anderen auf den Verweis auf
3
Der enge Fokus der Wissenschaftsphilosophie spiegelt sich auch im englischen Gegenstück der ›philosophy of science‹ wider, wird im Englischen doch der Bgriff ›science‹ zumeist ausschließlich für naturwissenschaftliche Disziplinen verwendet. Kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen werden hingegen unter dem Begriff der ›humanities‹ zusammengefasst.
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konkrete Beispiele, die belegen sollen, dass künstlerisches Forschen bereits in unterschiedlichster Weise an Kunsthochschulen und verwandten Institutionen praktiziert wird. Was die Debattenlage noch vielschichtiger macht, ist der Umstand, dass ganz unterschiedlichen Kunstformen, etwa der Malerei, der Musik, dem Design oder der Architektur – um nur einige zu nennen – ein forschender Charakter zugesprochen wird. Einigkeit herrscht weitestgehend darüber, dass unter künstlerischer Forschung etwas zu verstehen ist, das wesentlich über eine multidisziplinäre Zusammenführung im Sinne einer Kooperation oder einer wechselseitigen Inspiration zwischen Kunst und Wissenschaft hinausreicht. Um diese Grundidee besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich an der von Henk Borgdorff eingeführten Dreiteilung in 1) eine Forschung über die Künste (»research on the art«), 2) eine Forschung für die Künste (»research for the arts«) sowie 3) eine Forschung in den Künsten (»research in the arts«) zu orientieren.4 Forschung über die Künste umfasst hierbei alle akademischen Disziplinen, in denen »Kunst (die Kunstwelt, -praxis oder -werke) Gegenstand systematischer oder historischer Forschung«5 ist und welche einer »interpretativen Perspektive« zuzuordnen sind. Dazu zählen geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen wie die Kunstgeschichte, Musik- und Theaterwissenschaften ebenso wie die philosophische Ästhetik oder die Medientheorie. Obgleich in diesen Forschungen über die Künste ein enger Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft ausgedrückt wird, sollten wir Borgdorff zufolge hierbei nicht von einer »künstlerischen Forschung« sprechen. Der Grund dafür liege darin, dass die Kunst in diesen Fällen aus ei-
4
Vgl. Henk Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, in: Dutch Journal of Music Theory 12/1 (2007), S. 1-17, hier S. 4f. Borgdorffs Trichotomie ist eine Variation der von Christopher Fraylings eingeführten Unterscheidung von »research into art«, »research for art« und »research through art«. Vgl. Christopher Frayling: Research in Art and Design, Royal College of Art Research Paper Series 1/1, London 1993.
5
Henk Borgdorff: »Forschungstypen im Vergleich«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 69-76, hier S. 70.
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nem gewissen theoretischen Abstand betrachtet wird: »Wichtig für einen Vergleich mit der künstlerischen Forschung ist, dass diese Bezugssysteme, Perspektiven und Strategien sich den Künsten im Allgemeinen mit einer gewissen theoretischen Distanz nähern.«6 Das Ziel dieser Strömungen sei eine »Reflexion« oder »Interpretation« der Kunst, zu deren Zweck unterschiedliche methodische Ansätze – die »Großtheorien unserer Kultur«, wie Borgdorff es nennt – zum Einsatz kommen.7 Zu der Forschung für die Künste sind alle angewandten Forschungen zu zählen, die einer »instrumentellen Perspektive« zuzuordnen sind, insofern sie der Kunst in irgendeiner Weise dienlich sind, beispielsweise durch die technische Entwicklung von Verfahren zur elektronischen Musikerzeugung, von Farbtechniken oder künstlerischen Materialien.8 Trotz der Verdienste, die diese Forschungszweige zweifelsohne für die Künste haben, wird auch in ihnen keine ›echte‹ künstlerische Forschung zum Ausdruck gebracht. Diese steht vielmehr für eine wesentlich engere Beziehung zwischen Kunst und Forschung und wird durch das ausgedrückt, was Borgdorff »Forschung in den Künsten« nennt und einer »immanenten« oder »performativen Perspektive« zuordnet.9 Die oben beschriebene »theoretische Distanz« zwischen dem Forschenden und der Kunst wird hierbei aufgehoben, indem die künstlerische Perspektive selbst als wesentliche Komponente des Forschungsprozesses verstanden wird. Mit anderen Worten, Künstler werden als Forschende aufgefasst, die mit ihren eigenen – nicht mit den etablierten wissenschaftlichen Methoden – einen wesentlichen Beitrag zum Erkenntnisgewinn leisten. In diesem Sinne sollte die künstlerische Forschung, um nochmals mit Borgdorff zu sprechen, »als eine selbständige akademische Forschungsform betrachtet werden«.10 Die Vorstellung von einer Forschung in den Künsten ist folglich sehr viel radikaler als diejenige von Forschungen über oder für die Künste, da mit ihr bestimmte »Grenzverletzungen« (»border violations«) verbunden
6 7
Borgdorff: »Forschungstypen im Vergleich«, S. 70. Vgl. Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, S. 4, sowie ders.: »Forschungstypen im Vergleich«, S. 70.
8
Vgl. Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, S. 4.
9
Vgl. ebd.
10 Borgdorff: »Forschungstypen im Vergleich«, S. 76 (meine Hervorhebungen).
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sind,11 insofern sie der vorherrschenden Auffassung von Kunst zuwiderläuft. Diese Grenzverletzungen führen aber, zumindest auf den ersten Blick, auf ein Paradox. Will man die künstlerische Forschung als eine eigenständige Forschungsform etablieren, so muss einerseits deutlich werden, warum es sich um eine Form der Forschung handelt. Dies kann aber nur gelingen, indem systematische Ähnlichkeiten zu Vorgehensweisen in den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen aufgezeigt werden, die zumeist ein Forschungsmonopol für sich beanspruchen. Andererseits soll künstlerische Forschung – hierüber sind sich alle Diskutanten einig – einen eigenständigen Charakter aufweisen und sich wesentlich von den etablierten Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften unterscheiden. In diesem Zusammenhang behauptet etwa Elke Bippus, dass die künstlerische Forschung einige grundlegende Kriterien, die an Wissenschaften gestellt werden, etwa Wiederholbarkeit, Rationalität oder Universalisierbarkeit nicht erfüllt. Die epistemische Praxis der künstlerischen Forschung, so Bippus, »entspricht nicht der bevorzugten Form in den Wissenschaften, die jene der Prädikation ist, also allgemeingültiger Aussagen, deren Kern die Bestimmung von etwas als etwas ist, das die Form benennbarer Eigenschaften hat.«12 Aus diesen beiden Überlegungsrichtungen ergibt sich nun ein paradoxes Bild der künstlerischen Forschung: Betont man einerseits die Ähnlichkeiten, die zwischen der künstlerischen Praxis und anderen konventionellen wissenschaftlichen Vorgehensweisen bestehen, so steht dies in Konflikt mit der Vorstellung von Kunst als etwas von wissenschaftlichen Disziplinen grundlegend Verschiedenem. Verweist man andererseits darauf, dass künstlerische Forschung sich wesentlich von konventionellen wissenschaftlichen Vorgehensweisen unterscheidet, so wird dadurch die Redeweise von einer ›echten‹ Form der Forschung fragwürdig. Im Hinblick auf dieses Paradox berührt die Debatte um die künstlerische Forschung einige grundlegende erkenntnis- und wissenschaftstheo-
11 Henk Borgdorff: »The Production of Knowledge in Artistic Research«, in: Michael Biggs/Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London/New York 2011, S. 44-63, hier S. 44. 12 Elke Bippus: »Zwischen Systematik und Neugierde. Die epistemische Praxis künstlerischer Forschung«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Gegenworte. Hefte über den Disput über Wissen, H. 23 (Frühjahr 2010), S. 21-24, hier S. 24.
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retische Fragen. Denn wenn die künstlerische Forschung nicht mit den herkömmlichen Begrifflichkeiten der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie fassbar ist, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man verwirft das gesamte Projekt einer solchen Forschung oder aber man stellt das entsprechende Begriffsrepertoire in Frage. Dass die Vorstellung der künstlerischen Forschung einer Revision unserer Begriffe von Wissen und Forschung bedarf, behauptet beispielsweise auch Mark Johnson: »[I]n order to articulate a realistic notion of art research, it is necessary to rethink our received conception of knowledge and research.«13 Ich möchte im Folgenden skizzieren, wie eine Auflösung des Paradoxons aussehen kann. Hierbei werde ich die Rolle des Wissensbegriffs in der Debatte um die künstlerische Forschung in den Mittelpunkt stellen. Anhand dieses Wissensbegriffs zeigen sich einige systematische Herausforderungen, die das Projekt der künstlerischen Forschung als Ganzes betreffen.
3. D AS W ISSEN
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Innerhalb der Debatte um die künstlerische Forschung wird von vielen Seiten der Vorschlag gemacht, das Wissen, welches mit der künstlerischen Praxis verbunden ist, als ein Gegenstück zu sogenanntem ›propositionalem Wissen‹ aufzufassen. Letzteres wird als ein Faktenwissen aufgefasst, welches sich in Sprache oder Formeln ausdrücken lässt. Dies wird aber von einem Wissen in der Kunst nicht angenommen. Eine solche Auffassung wird durch folgende Überlegung motiviert: Während Wissenschaftler auf Kongressen ihre Forschungsergebnisse in Form von Texten, Vorträgen, Formeln oder Grafiken präsentieren und miteinander in einen Diskurs treten, stehen Künstler in einem anderen Verhältnis zu Forschung und Wissen. Das für die künstlerische Forschung zentrale Wissen lässt sich schlicht nicht in Worten ausdrücken. Selma Dubach und Jens Badura beschreiben dies etwa in folgender Weise:
13 Vgl. Mark Johnson: »Embodied Knowledge through Art«, in: Michael Biggs/ Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London/New York 2011, S. 141-151, hier S. 144.
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»In der Malerei und darüber hinaus im tätigen Umgang mit allen künstlerischen Medien wird eine ästhetische Erkenntnispraxis – ein Denken im Medium der Kunst – der propositionalen Erkenntnisproduktion gleichwertig zur Seite gestellt. Diesem Denken wird somit eine ›inhärente Wissensbildung‹ zugeschrieben, bei der anders als im etablierten und vor allem bei dem in den Wissenschaften strikt geforderten Artikulationsmodus, Wissen nicht mittels standardisierter, propositional-theorieför14
miger Veröffentlichungsformate nachvollziehbar und überprüfbar gemacht wird.«
Mit einer ähnlichen Stoßrichtung behauptet auch der Ökonom Fritz Machlup, der die Bedeutung des Wissens als wirtschaftliche Ressource analysiert, dass sich in der Kunst ein genuin praktisches Wissen jenseits der Sprache manifestiere (»knowledge without words«).15 Und auch der Philosoph David Carr argumentiert dafür, dass uns das in Künsten verkörperte Wissen so lange als mysteriös erscheine, wie wir davon ausgehen, dass es ein theoretisches Wissen über die Welt sei, welches sich in Aussagen oder Propositionen ausdrücken lasse.16 Es handle sich aber vielmehr um ein praxisbezogenes Wissen, das sich in bestimmten sensorisch-motorischen Reaktionen manifestiere: »So, though there is certainly knowledge and appreciation in aesthetic as well as artistic matters, an aesthetically aware or knowledgeable person is not one who has registered a set of propositions about the beautiful, or even of the grammar and semantics of a given form of aesthetic discourse, but someone to whom we are able to 17
attribute a high level of responsiveness to sensory particularly.«
Im Gegensatz zu propositionalen Wissensformen wird das Wissen im künstlerischen Prozess folglich als etwas von der künstlerischen Praxis Untrennbares aufgefasst; die kognitive und die praktische Komponente fallen
14 Selma Dubach/Jens Badura: »Denken/Reflektieren (im Medium der Kunst)«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 123-126, hier S. 124. 15 Fritz Machlup: Knowledge. Its Creation, Distribution and Economic Significance, Princeton 1980, S. 92ff. 16 Vgl. David Carr: »Art, Practical Knowledge and Aesthetic Objectivity«, in: Ratio 12 (1999), S. 240-256, hier S. 252. 17 Carr: »Art, Practical Knowledge and Aesthetic Objectivity«, S. 254.
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somit zusammen. Dies kommt etwa in Gerhard Richters Worten zum Ausdruck, wenn er Malen als »eine andere Form des Denkens«18 bezeichnet. Das in den Künsten ausgedrückte Wissen manifestiert sich, um mit Dubach und Badura zu sprechen, »im Prozess des Vollzugs künstlerischer Praxis als ›Agens‹ eines im Tun aufgehobenen denkenden Forschungsprozesses«.19 In der Debatte um künstlerische Forschung herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass das Wissen, welches die Kunst verkörpert, die genannten Besonderheiten aufweist. Mit dem Verweis auf unterschiedliche Schlagworte, etwa auf »verkörpertes Wissen« (»embodied knowledge«), auf »Wissenwie« (»knowing how«), auf ein Wissen in Handlungen (»knowledge in action«)20 oder auf »implizites Wissen« (»tacit«/»implicit knowledge) wird versucht, diese Eigentümlichkeiten einzufangen. Ich werde im Folgenden diese im Rahmen der Debatte postulierte Wissensform genauer analysieren und mich hierbei auf den Begriff des impliziten Wissens konzentrieren, der ursprünglich von dem ungarisch-britischen Chemiker und Philosophen Michael Polanyi stammt. Dass es einen engen Zusammenhang zwischen einem solchen Wissen und der Kunst gibt, wird nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung mit der künstlerischen Forschung deutlich. Es zeigt sich etwa auch an bestimmten institutionellen Einrichtungen, die ihr Selbstverständnis in der Förderung eines solchen Wissens gründen. Beispielhaft sei hier das »Labor für implizites und künstlerisches Wissen« der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen genannt,21 welches mit der Zielvorstellung gegründet wurde, »körperliches, ästhetisches und emotionales Erfahrungswissen in die universitäre Lehre und For-
18 Vgl. hierzu die Webseite zum Dokumentarfilm »Gerhard Richter Painting«: http:// www.gerhard-richter-painting.de/synopsis.php (abgerufen am 12.09.2015). 19 Dubach/Badura: »Denken/Reflektieren (im Medium der Kunst)«, S. 124. 20 Heike Roms: »Künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in den Ruinen der Universität? Performance als wissenschaftliche Veröffentlichungsform«, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 205-223, hier S. 207. 21 Für nähere Informationen zu diesem Labor vgl. die Webseite: https://www. zu.de/forschungthemen/forschungszentren/kulturproduktion/index.php (abgerufen am 31.08.2015).
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schung«22 zu integrieren und so bewusst eine Ergänzung zur theoretischabstrakt ausgerichteten Tätigkeit zu schaffen.
4. Z UR
IMPLIZITEN
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Dass in der Debatte um die künstlerische Forschung gerade diese implizite, von propositionalen Erkenntnissen verschiedene Wissensform so viel Aufmerksamkeit erfährt, fügt sich in eine Reihe von Entwicklungen, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte in unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern vollzogen haben. Auch hier findet die These, dass wir deutlich mehr wissen, als wir durch Sprache ausdrücken können, und dass ein großer Anteil unseres Wissens an praktische Kontexte gebunden ist, breite Zustimmung. Deutlich wird dies beispielsweise anhand des sogenannten ›practical turn‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften, mit dem die Bedeutung von praktischen Vollzügen, Handlungen und Interaktionen hervorgehoben wird. Hiermit verbunden ist zumeist ein Wechsel von einer ausschließlich auf Texte zentrierten Forschung hin zu einer stärker an performativen und materiellen Ausdrucksformen orientierten Forschung.23 In der Kognitionsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten die Annahme etabliert, dass kognitive Prozesse nicht ausschließlich an das Verfügen über Begriffe gebunden sind, sondern dass es auch nicht-begriffliche Fertigkeiten gibt, die sich in einem intelligenten Verhalten manifestieren und die auch Lebewesen, die (noch) nicht über Sprachfähigkeiten verfügen, etwa Kleinkindern und Tieren, zugesprochen werden können.24 In diesem Zusammenhang erhalten in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Zugänge zu praktischen Wissensformen, die in der Philosophiegeschichte in unterschiedlichen Epochen diskutiert wurden – etwa technê (Kunst/Handwerk) und phronesis (praktische Klugheit) aus der antiken Philosophie oder Gilbert Ryles knowing how –, als bedeutende Alternativen zu den theoretisch-symbolischen Wissensformen immer mehr Aufmerksamkeit. Vor dem
22 Ebd. 23 Vgl. auch Borgdorff: »The Production of Knowledge in Artistic Research«, S. 51. 24 Vgl. Eva-Maria Jung: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Boston/ Berlin 2012, Kapitel 1.
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Hintergrund dieser Entwicklungen stößt auch die Wissenstheorie Polanyis auf ein wachsendes Interesse.25 Für Polanyi bildet die Einsicht, dass wir mehr wissen können, als wir zu sagen vermögen (»we can know more than we can tell«26), den Ausgangspunkt für eine vielschichtige Theorie des impliziten Wissens, die nicht nur für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern auch für wissenschaftspolitische und wissenschaftsethische Fragen von Relevanz ist. Als Paradebeispiel für implizites Erkennen führt Polanyi die Gestaltwahrnehmung an. So seien das Erkennen von bestimmten Krankheitssymptomen anhand von Bildmaterial sowie die Einordnung von Gesteinen, Pflanzen und Tieren in Klassifikationsgruppen nur über jahrelange praktische Übung erlernbar, nicht über die Lektüre von Lehrbüchern.27 Wir können das entsprechende Wissen laut Polanyi nicht in Form einer Auflistung bestimmter Merkmale wiedergeben, beispielsweise dadurch, dass wir einer bestimmten Pflanze diese oder jene Eigenschaft zuschreiben und daraus letztlich auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse schließen. Vielmehr sei unser Erkennen ein ganzheitlicher, auf Prinzipien der Gestalttheorie basierender Prozess. Zentral für die Beschreibung dieses Prozesses ist die Unterscheidung von »subsidiärer« und »fokaler« Aufmerksamkeit.28 Während die Pflanze als Ganzes im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht, nehmen wir einige ihrer Merkmale nur »subsidiär« oder unterschwellig als »Hinweise« (»clues«) auf das »große Ganze« wahr. Und da das Ganze sich nicht auf die Summe seiner Einzelheiten reduzieren lässt, ist eine Auflistung von Einzelheiten, die unser Erkennen konstituieren, prinzipiell nicht möglich. In diesem Sinne ist menschliches Wissen für Polanyi implizit. Polanyis Konzept des impliziten Wissens umfasst eine Bandbreite an Merkmalen, die heute als wesentlich für menschliches Wissen anerkannt werden, etwa die Gebundenheit an praktische, individuelle und situative Momente. Auch die Bedeutung des Körpers für Wissensprozesse betonte
25 Vgl. Eva-Maria Jung (Hg.): Jenseits der Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zur Wissenstheorie Michael Polanyis, Münster 2014. 26 Michael Polanyi: The Tacit Dimension, Chicago/London 2009 (1966), S. 4. 27 Vgl. ebd., S. 5. 28 Vgl. Michael Polanyi: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1974 (1958), S. 55.
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Polanyi durchweg in seinen Werken. Unser Körper ist, so Polanyi, in die Wahrnehmung von Gegenständen involviert und hat somit an dem Wissen über die Welt stets seinen Anteil.29 Jedes Wissen setzt ein Eindringen in und ein Verweilen (»indwelling«)30 im erkannten Gegenstand voraus und kann aus diesem Grund nicht auf einer rein geistigen Tätigkeit beruhen, sondern fordert immer auch eine körperliche Perspektive. Wichtig ist – dies wird bereits an den oben angeführten Beispielen deutlich –, dass Polanyi das implizite Wissen nicht als eine zu propositionalem oder theoretischem Wissen komplementäre Wissensform versteht, die ausschließlich in den kreativ-künstlerischen Bereich fällt. Er verweist immer wieder auf Beispiele aus seiner eigenen naturwissenschaftlichen Tätigkeit und betont, dass das implizite Wissen auch in den Naturwissenschaften, ja in allen Wissenschaften verbreitet ist. Selbst stark formalisierte Disziplinen wie die Mathematik beruhen in seinen Augen auf implizitem Wissen.31 Viel mehr noch: Ein solches Wissen bildet für ihn die Grundlage allen Wissens. Zudem ist das Implizite laut Polanyi stets an das Persönliche gebunden. Die Vorstellung eines völlig objektiven, von seinen Trägern losgelösten Wissens ist für ihn völlig fehlgeleitet. Denn Wissen ist immer auch an die persönlichen Bedingungen desjenigen geknüpft, der über es verfügt, und weist daher eine irreduzibel subjektive Komponente auf. Mit diesem Grundsatz wendet sich Polanyi gegen eine in der Wissenschaftstheorie seiner Zeit verbreitete Ansicht, nach der ein völlig objektives Wissen das Ziel von Wissenschaft darstellt: »But suppose that tacit thought forms an indispensable part of all knowledge, then the ideal of eliminating all personal elements of knowledge would, in effect, aim at the destruction of all knowledge. The ideal of exact science would turn out to be 32
fundamentally misleading and possibly a source of devastating fallacies.«
Somit kann für Polanyi eine Wissenstheorie nur dann überzeugen, wenn sie auch individuelle, subjektive Momente mit einfängt. Diese Vorstellung ist aber, wie er selbst zugesteht, von paradoxen Überzeugungen durchdrungen,
29 Vgl. Polanyi: The Tacit Dimension, S. 29. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd., S. 21. 32 Vgl. ebd., S. 20.
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da Wissen für gewöhnlich als etwas Abstraktes, Objektives, intersubjektiv Teilbares aufgefasst wird.33 Vor diesem Hintergrund kann Polanyis Konzept des impliziten Wissens das im zweiten Abschnitt aufgezeigte Paradox der künstlerischen Forschung erhellen. Denn dass die Redeweise von einer Forschung in den Künsten fragwürdig erscheint, ist auch darauf zurückzuführen, dass sie essenziell auf ein solches implizites, nicht-propositionales Wissen bezogen ist. Bei der Kunst handelt es sich nicht, um mit Mark Johnson zu sprechen, um eine diskursive, auf Aussagen bezogene Praxis: »[T]he arts – especially the visual arts – don’t seem to be in the proposition-stating business.«34 Oder, mit den Worten von Elke Bippus: »Künstlerische Forschung operiert wie Kunst im Singulären, sie setzt auf das Denken und den forschenden Prozess.«35 Vor dem Hintergrund der Wissenstheorie Polanyis bleibt das Paradox der künstlerischen Forschung jedoch kein Einzelfall, sondern es erscheint vielmehr als ein Spezialfall eines Paradoxes, von dem letztlich alle Wissenschaften betroffen sind. Hält man an der Annahme eines impliziten Wissens fest, so verbleibt als Möglichkeit zur Auflösung des Paradoxes nur eine groß angelegte Reformierung des Wissensbegriffs. Polanyi ist sich dessen bewusst und konstruiert eine Vorstellung von Wissen, die letztlich die Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität aufhebt, was in erster Linie durch den Verweis auf die intellektuellen Leidenschaften und die Überzeugungen geleistet werden soll, auf die sich Wissenschaftler festlegen und zu denen sie sich verpflichten.36 Mit diesem radikalen Gegenentwurf zu konventionellen Wissensvorstellungen nimmt Polanyis Theorie nicht nur die oben beschriebenen Entwicklungen in den unterschiedlichen Wissenschaften über die menschliche Erkenntnis vorweg. Seine Theorie spiegelt auch einige grundlegende Veränderungen wider, die sich im Hinblick auf unser Wissenschaftsverständnis seit der Mitte des letzten Jahrhunderts vollzogen haben. Dies wird nicht zuletzt durch einen Vergleich des Wissens und der Wissenschaft mit der Kunst deutlich.
33 Polanyi: Personal Knowledge, S. vii. 34 Johnson: »Embodied Knowledge through Art«, S. 142. 35 Bippus: »Zwischen Systematik und Neugierde«, S. 24. 36 Vgl. Polanyi: Personal Knowledge, S. 17 sowie S. 300ff.
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Wir haben gesehen, dass sich Polanyi mit seiner Theorie gegen eine ›objektivistische Sichtweise‹ auf die Wissenschaft wehrt, die den Fokus auf die abstrakten Methoden oder Wissensgehalte legt, welche für die wissenschaftliche Vorgehensweise charakteristisch sind. Ein angemessenes Verständnis von Wissenschaft ist für ihn nur möglich, wenn historische, kulturelle und soziale Prozesse mit einbezogen werden und wenn Wissenschaft als etwas begriffen wird, das von Menschen gestaltet wird, die ihre persönlichen Hintergründe, Einstellungen und Überzeugungen haben. Polanyi drückt seine theoretische Grundausrichtung in dem Bild von Wissen und Wissenschaft als Kunst aus. So trägt das erste Kapitel seines Hauptwerks Personal Knowledge den Titel »The Art of Knowing«. Und dies bleibt keine unverbindliche Metapher. Polanyi weist in seinen Werken kontinuierlich auf die systematischen Zusammenhänge hin, die zwischen Kunst und Wissenschaft bestehen. Beispielsweise argumentiert er vehement dafür, dass wissenschaftliche Regeln immer bis zu einem gewissen Grade unspezifizierbar und undefinierbar sind: »Admittedly, there are rules which give valuable guidance to scientific discovery, but they are merely rules of art.«37 Insbesondere in Bezug auf den Erwerb wissenschaftlichen Wissens zeigt sich für Polanyi die Nähe zwischen Wissenschaft und Kunst: »[T]o produce an object by following a precise prescription is a process of manufacture and not the creation of art. And likewise, to acquire new knowledge by a prescribed manipulation is to make a survey and not a discovery. The rules of scientific enquiry leave their own application wide open to be decided by the scientist’s 38
judgment.«
Wissenschaftler sind demzufolge keine »Wahrheitsfinde-Maschinen« (»truth-finding machines«)39. Vielmehr sind bei jedem Schritt der wissenschaftlichen Entdeckung Entscheidungen notwendig, die Maschinen über-
37 Michael Polanyi: Science, Faith, and Society, Chicago/London 1964 (1946), S. 14. 38 Ebd., S. 14f. 39 Ebd., S. 15.
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haupt nicht leisten könnten, da sie nicht über intellektuelle Motivationen und Leidenschaften verfügen.40 Die Vorstellung von Wissenschaft als Kunst führt Polanyi auch auf ein neues Verständnis von Lehr- und Lernprozessen: »Since an art cannot be precisely defined, it can be transmitted only by examples of the practice which embodies it.«41 Anstelle von Textbüchern und einem ›unpersönlichen‹ Lernen sind es für Polanyi Autoritäten und Traditionen, die für die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens ausschlaggebend sind. Wir können keine Wissenschaft erlernen, solange wir uns nicht an praktischen Beispielen orientieren und unsere Lehrer in ihrer Tätigkeit beobachten und imitieren. Dies erfordert ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Lehrenden und Studierenden. Die kritische Philosophie im Sinne Poppers, die sich gegen die Übermacht von Autoritäten und Traditionen ausspricht und Wissenschaft aus ihrem historischen und institutionellen Rahmen weitestgehend zu lösen und aus einer objektivistischen Perspektive zu bestimmen versucht, geht vor diesem Hintergrund zu weit, indem sie außer Acht lässt, dass Wissen seiner Natur nach auf diesen Rahmen angewiesen ist und ohne ihn nicht verstanden werden kann. Polanyis Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst stehen in einer Reihe mit Paul Feyerabends weitaus radikalerem und polemischerem Plädoyer, die Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst ganz aufzugeben. Im Rahmen seiner anarchistischen Wissenschaftstheorie argumentiert Feyerabend dafür, dass es diese Trennung überhaupt nur »in den traumverseuchten Geistern unserer Philosophen«42 gibt. Die besten Teile der Wissenschaften, so Feyerabend, »sind Künste und nicht Wissenschaften im Sinne eines ›rationalen‹ Unternehmens, das allgemeinen Maßstäben der Vernunft genügt und wohldefinierte, stabile, ›objektive‹ und daher praxisunabhängige Begriffe verwendet«.43 Hier zeigen sich die weitreichenden Folgen für unser Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen, die sich aus dem Eingeständnis ergeben, dass alle Wissenschaften immer auch implizite Erkenntnisse einschließen.
40 Ebd. 41 Ebd. 42 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1986, S. 384. 43 Ebd. Siehe außerdem Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984.
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Denn die mit diesem Eingeständnis verbundene Revision des Bildes von menschlichem Wissen und Wissenschaft führt letztlich auch dazu, dass die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft eine Neubewertung erfährt. Und vor eben diesem Hintergrund ist zudem ein erster Schritt hin zu einer Auflösung des Paradoxes der künstlerischen Forschung möglich. Solange explizites, formal-abstraktes und durch Sprache ausgedrücktes Wissen als einzige Form menschlicher Erkenntnis gilt, gibt es keinen Raum für eine epistemische Einordnung der künstlerischen Forschung. Nur eine grundlegende Veränderung des Wissens- und Wissenschaftsbegriffs, in deren Rahmen auch epistemische Werte außerhalb des Propositionalen, Begrifflichen oder Diskursiven zugelassen sind, kann zu einer Lösung führen. Die Legitimationsprobleme im Hinblick auf ein Wissen jenseits der Sprache und eine Forschung in den Künsten lösen sich demzufolge auf, sofern die strikten Anforderungen, die an Verfahren gestellt werden, damit sie als ›epistemisch‹ oder ›wissenschaftlich‹ gelten können, fallen gelassen werden. Mit einer ähnlichen Stoßrichtung verweist auch Borgdorff darauf, dass eine zu eng gefasste Auffassung von Wissenschaft einem angemessenen Verständnis der künstlerischen Forschung im Wege steht: »Science at its best is less rigid and constrained than some participants in the debate would like to believe.«44 In einem engen Zusammenhang mit der Reformierung des Wissensund Wissenschaftsbegriffs steht auch Bruno Latours Plädoyer für eine Entwicklung von einer »Kultur der Wissenschaft« hin zu einer »Kultur der Forschung«, das für die Debatte um die künstlerische Forschung richtungsweisend ist.45 Latour beklagt, dass es zwar eine Wissenschaftsphilosophie, nicht aber eine Forschungsphilosophie gibt und dass dadurch der Fokus in erster Linie auf (vermeintlich) objektive Theorien und wissenschaftliche Methoden gelegt wird. Individuelle, emotionale und mitunter kontingente Momente würden dabei ebenso ausgeblendet wie die sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Vorgehensweisen. Durch all diese Überlegungen wird deutlich, dass die Debatte um die künstlerische Forschung nicht nur auf die Frage führt, wie sich unser Bild der Kunst verändert, wenn wir sie als Forschung verstehen. Sie führt auch
44 Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, S. 6. 45 Vgl. Bruno Latour: »From the World of Science to the World of Research?«, in: Science 280/5361 (1998), S. 208-209.
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auf die Frage, wie sich unser Bild der Wissenschaft verändert (oder verändern muss), wenn wir Kunst als eine Form der Forschung akzeptieren wollen.
6. Z UM
EPISTEMISCHEN S TATUS DER KÜNSTLERISCHEN F ORSCHUNG
Als Ergebnis der bisherigen Argumentation können wir Folgendes festhalten: Implizites Wissen kann, obgleich es für künstlerische Kontexte besonders charakteristisch sein mag, nicht als ein der Kunst eigentümliches Wissen aufgefasst werden, das wissenschaftlichem Wissen, verstanden als ein explizites, in Sprache oder Formeln gefasstes Wissen, gegenübersteht. Vielmehr ist jegliches Wissen – auch in den Wissenschaften – in hohem Maße implizit. Zugleich ist es unangemessen, implizites Wissen als einzige Form des Wissens zu betrachten, die sich in den Künsten manifestiert. Um mit Christoph Schenker zu sprechen: Es wäre vermessen, »für die Kunst – mithin auch für die künstlerische Forschung – nur ein Wissen, nur eine Wissensform gelten zu lassen, so wenig wie auch ihre Methoden, Instrumentarien und Gegenstandsbereiche eine Beschränkung erfahren oder nur ihr eigentümlich und eigen sind«.46 Zudem wird ein erster Schritt zur Auflösung des Paradoxes der künstlerischen Forschung durch eine Revision unserer Begriffe von Wissen und Wissenschaft geleistet, die Raum für epistemische Werte jenseits der Sprache schafft. Mit eben diesem Schritt ist jedoch noch keine erkenntnisund wissenschaftstheoretische Verortung der künstlerischen Forschung geleistet. Eine Auflösung des Paradoxes kann zweifelsohne nur durch einen Bruch mit konventionellen Kategorien geleistet werden. Dieser Bruch, der die Anerkennung eines impliziten Wissens mit einschließt, ist, für sich genommen, zwar wünschenswert, bewahrt er uns doch vor einer eindimensionalen Sichtweise auf wissenschaftliche und künstlerische Vorgehensweisen. Dennoch birgt die damit verbundene Ausweitung des Wissens-, Wissenschafts- und Forschungsbegriffs auch Gefahren in sich.
46 Christoph Schenker: »Wissensformen der Kunst«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 105-110, hier S. 105.
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Denn es wäre fatal, wenn sich eine Anwendung dieser Begriffe in Beliebigkeit verliert. Dass es noch weiterer Schritte bedarf, um den Kern der künstlerischen Forschung verständlich zu machen, wird auch innerhalb der Debatte von einigen Seiten anerkannt. Jens Badura weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass der bloße Verweis auf ein implizites Wissen in der Kunst nicht ausreicht, um die künstlerische Forschung als eigenständige Form der Forschung zu etablieren: »Zugleich aber muss der Anspruch, dass Kunst als Forschung anerkannt werden soll, auch mit der Bereitschaft einhergehen, sich bezüglich der Aushandlung von Konfigurationen der Wissensordnung nicht hinter der Affirmation einer ›ganz anderen‹ Erkenntnis zu verstecken.«47 Und Borgdorff erkennt die Gefahren, die ein zu weit gefasster Forschungsbegriff mit sich bringt: »If everything is research, then nothing is research any more.«48 Wird etwa jede künstlerische Praxis mit dem Hinweis auf ein nicht näher bestimmbares Reflexionsvermögen als Forschung aufgefasst, so ist dies wenig zielführend. Der Forschungsbegriff ist dann kein Begriff der Wertschätzung mehr, sondern ein nahezu nichtssagender Begriff. Die Loslösung von einigen fehlgeleiteten Kategorisierungen in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie schafft somit zwar eine Offenheit dafür, auch künstlerische Formen der Forschung anzuerkennen. Sie bietet aber noch keine Orientierung dafür, wie diese Anerkennung geleistet werden kann. Ich kann diese Problematik in diesem Aufsatz nicht umfassend diskutieren, möchte im Folgenden jedoch zwei Grundideen skizzieren, die in meinen Augen der Schlüssel zu einer Auflösung der Schwierigkeiten sind. Erstens: Trotz der Dringlichkeit, die praktische und implizite Dimension der menschlichen Erkenntnis in Kunst und Wissenschaft anzuerkennen, sollte man nicht vergessen, dass diese Dimension niemals isoliert, sondern immer an größere Zusammenhänge gebunden ist. Implizite Wissensformen stehen stets in einer engen Verbindung zu expliziten Wissensformen und zu bestimmten Diskursen. Eine angemessene Einordnung wissenschaftlicher wie künstlerischer Forschung kann in meinen Augen nur dann erfolgen, wenn man diese Diskurse mitberücksichtigt und den Blick
47 Jens Badura: »Erkenntnis (sinnliche)«, in: ders. u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 43-48, hier S. 48. 48 Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, S. 6, Fn. 20.
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darauf richtet, in welche Richtungen die jeweiligen Forschungsprozesse intendiert sind. Denn der Begriff der Forschung ist insofern nicht beliebig, als er an die Minimalbedingung geknüpft ist, dass Forschende bestimmte epistemische Ziele glaubhaft und mit geeigneten Mitteln verfolgen. Auch hier ist Polanyis Wissenstheorie richtungsweisend, betont diese doch, dass Wissenschaftler stets von intellektuellen Leidenschaften getrieben und auf Erkenntnisziele ausgerichtet sind. Auch wenn die praktische Ebene in der Kunst ebenso wie in den Wissenschaften wesentlich für das Verfolgen dieser epistemischen Ziele ist, ist die Verständigung über die jeweiligen Zielsetzungen, etwa bestimmte Erklärungen natürlicher Prozesse oder ein besseres Verständnis der menschlichen Lebensbedingungen zu gewinnen, wesentlich auf eine diskursive Ebene angewiesen. Zweitens: Richtet man den Blick auf die epistemischen Ziele, so kann es auch gelingen, den eigentümlichen Charakter der künstlerischen Forschung erkennbar zu machen, den diese im Gegensatz zu konventionelleren Forschungen aufweist. Es ist keineswegs erforderlich, dass eine Forschung in den Künsten auf eine mit den Wissenschaften konforme Theoriebildung abzielt. Der Kunst sind Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten gegeben, durch die wir eine andere Perspektive auf natürliche, kulturelle und soziale Phänomene gewinnen können. Die Anerkennung einer künstlerischen Forschung sollte daher nicht mit der Integration der Kunst in ein szientistisches Bild einhergehen, sondern vielmehr diese Besonderheiten berücksichtigen. Denn nur so wird das Potenzial einer künstlerischen Forschung sichtbar, die nicht in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Forschung steht, sondern als eine wichtige Ergänzung zu dieser zu verstehen ist. Diese Vorstellung kann letztlich auch mit dem Verweis auf die implizite Dimension des menschlichen Wissens verdeutlicht werden. Dass sich dieses Wissen in der Kunst manifestiert, macht aus künstlerischen Vorgehensweisen zwar noch keine Forschung. Doch im Hinblick auf das übergeordnete Erkenntnisziel – dieses Wissen in allen seinen Facetten begreifbar und seine Bedeutung für die unterschiedlichsten Lebensbereiche erkennbar zu machen – können die Künste zweifelsohne einen wichtigen Beitrag leisten. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie das erkenntniserweiternde Moment künstlerischer Tätigkeiten anerkannt werden kann. Keinesfalls sollten jedoch die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst fallen gelassen werden, denn dies wäre ein Verlust für beide Seiten.
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7. K ONKLUSION Die Debatte um die künstlerische Forschung führt insofern auf grundlegende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen, als sie mit einer Infragestellung einiger konventioneller Vorstellungen in Bezug auf das menschliche Wissen und auf wissenschaftliche Forschung einhergeht. Der Begriff des impliziten Wissens, der in der Diskussion als Schlagwort für die Bezeichnung der Eigentümlichkeiten einer Forschung in den Künsten breite Verwendung findet, kann hierbei als Schlüssel zu einer Zusammenführung von Reflexionen über Kunst und Wissenschaft betrachtet werden. Einerseits schafft die Anerkennung der impliziten Dimension des Wissens Raum für eine epistemische Verortung der Kunst, andererseits führt sie auch auf ein neues Verständnis von Wissenschaft, das mit konventionellen Kategorien bricht. Zugleich führt der Blick auf die Reichweite, die das Zugeständnis des Impliziten hat, auch auf weiterführende Fragen in Bezug auf die epistemische Einordnung und Wertschätzung künstlerischer Vorgehensweisen. Antworten auf diese Fragen sind nicht nur im Rahmen des Diskurses über künstlerisches Forschen erstrebenswert, sie sind auch für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie von zentraler Bedeutung. Denn letztlich betreffen sie die grundlegende Frage danach, was Wissen und Forschung im Kern ausmacht und ausmachen soll.
L ITERATUR Badura, Jens: »Erkenntnis (sinnliche)«, in: ders. u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 43-48. Bippus, Elke: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin 2009, S. 7-23. –: »Zwischen Systematik und Neugierde. Die epistemische Praxis künstlerischer Forschung«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Gegenworte. Hefte über den Disput über Wissen, H. 23 (Frühjahr 2010), S. 21-24. –: »Künstlerische Forschung«, in Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 65-68. Borgdorff, Henk: »The Debate on Research in the Arts«, in: Dutch Journal of Music Theory 12/1 (2007), S. 1-17.
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–: »Forschungstypen im Vergleich«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 69-76. –: »The Production of Knowledge in Artistic Research«, in: Michael Biggs/ Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London/New York 2011, S. 44-63. Carr, David: »Art, Practical Knowledge and Aesthetic Objectivity«, in: Ratio 12 (1999), S. 240-256. Dubach, Selma: »Bildende Kunst«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 17-22. –/Badura, Jens: »Denken/Reflektieren (im Medium der Kunst)«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/ Berlin 2015, S. 123-126. Feyerabend, Paul: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt a.M. 1984. –: Wider den Methodenzwang. Frankfurt a.M.1986. Frayling, Christopher: Research in Art and Design, Royal College of Art Research Paper Series 1/1, London 1993. Johnson, Mark: »Embodied Knowledge through Art«, in: Michael Biggs/ Henrik Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London/New York 2011, S. 141-151. Jung, Eva-Maria: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Berlin/ Boston 2012. – (Hg.): Jenseits der Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zur Wissenstheorie Michael Polanyis, Münster 2014. Latour, Bruno: »From the World of Science to the World of Research?«, in: Science 280/5361 (1998), S. 208-209. Machlup, Fritz: Knowledge. Its Creation, Distribution and Economic Significance, Princeton 1980. Polanyi, Michael: Science, Faith, and Society, Chicago/London 1964 (1946). –: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1974 (1958). –: The Tacit Dimension, Chicago/London 2009 (1966). Roms, Heike: »Künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in den Ruinen der Universität? Performance als wissenschaftliche Veröffentlichungsform«, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 205-223.
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Schenker, Christoph: »Wissensformen der Kunst«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 105-110.
Mit Abstand im Übergang Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft R AHEL P UFFERT
V ORREDE Im Folgenden nehme ich die Fragestellung der Tagung zum Ausgangspunkt, um das Gelände ihrer Implikationen und aufgerufenen Teilfragen zu durchwandern. Meine Perspektive ist die einer Kulturwissenschaftlerin, die im Hochschulkontext und anderen nahen Gegenden kunstvermittelnd operiert und dazu vorzugsweise Situationen sucht oder herstellt, in denen künstlerische, politische und pädagogische Arbeitsweisen aufeinandertreffen. Je näher der Redaktionsschluss zu diesem Text rückte, desto drängender stand die Frage im Raum, was genau daran hinderte, dem Schreiben jene Stringenz in der Abfolge von Argumenten und Gedankengängen zu verleihen, die ich mir für die Bearbeitung der Problemstellung wünschte. Das Thema machte einmal mehr deutlich, dass der häufig unterschätzte Anteil der Arbeit am Text darin besteht, die Schwierigkeiten, die bei der Beantwortung einer Frage entstehen, nicht überwinden zu wollen, sondern zunächst einmal zu benennen.
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D AS › UNGEFRAGTE S UBJEKT ‹ Die Frage »Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?« lässt einiges offen bezüglich ihrer Perspektivierung. So bleibt z.B. unklar, welche Rolle die Autorin oder der Autor im Verhältnis zu jenem unbestimmten »man«, das in der Frage steckt, einnehmen soll. Wen an die Stelle des »man« treten lassen, das da betrachtet und »versteht« und eine Veränderung zu beschreiben in der Lage ist? Einen distanzierten Beobachter? Eine Künstlerin? Einen Wissenschaftler? Welcher Disziplin sollte er oder sie angehören? Einer kunstnahen Geisteswissenschaft vielleicht? Oder gerade nicht? Und wird die Frage aus der Sicht von Produzent_innen gestellt oder aus der Sicht (fachfremder) Rezipient_innen? Schon in der Vorstellung wechselt die Fragestellung jedes Mal die Richtung, je nachdem, wer an die Stelle des Subjekts der Frage tritt. Was bei meinen Versuchen, das Subjekt der Frage zu bestimmen, außerdem und unvorhersehbar zum Vorschein kam, war ein angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten verwirrtes Subjekt. Ungefragt hatte es sich Raum verschafft, war in die Fänge seiner Omnipotenzphantasien geraten. Warum meinte dieses ›ungefragte Subjekt‹, sich in zahlreiche mögliche Perspektiven hineindenken zu können, identifizierte sich mal mit der einen Rolle, mal mit einer anderen und flüchtete dennoch vor Festlegung? Ließe sich dieses ›ungefragte Subjekt‹ als Effekt der unspezifischen und ausweichenden Verallgemeinerungslogik verstehen, die die Verwendung des Wortes ›man‹ mit sich bringt?
AKTUALITÄT : D AS › INSTITUTIONELLE S UBJEKT ‹ Etwas unverfänglicher ließ sich das »man« der Frage konkretisieren, indem an seine Stelle ein ›institutionelles Subjekt‹ rückte. Dieses ›institutionelle Subjekt‹ weiß um die Relevanz der Fragestellung, denn es hat die Veränderungen in der Hochschullandschaft registriert, die aus der Bologna-Reform der europäischen Universitäten und Kunsthochschulen resultieren. Gemeint sind die im Zuge dieser Reformierung entstandenen akademischen Infrastrukturen, die nach anglo-amerikanischem und britischem Vorbild der ›artbased research‹ Hochschulprogramme auflegen, Promotionsordnungen erfinden, Doktorandenstellen oder -kolloquien für Künstler_innen einrichten
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und somit auch auf der Ebene der betreuenden Professor_innen vollkommen neue Aufgabenbereiche erschließen.1 Künstler_innen erhalten erstmalig in größerem Maßstab die Möglichkeit, sich der Infrastruktur des Wissenschafts- und/oder Hochschulbetriebs zu bedienen und Funktionen zu übernehmen, die zuvor nur Wissenschaftler_innen zukamen, also institutionell legitimiert zu forschen. Das ›institutionelle Subjekt‹ richtet mehr oder weniger deutliche Erwartungen an die Kunst, wie z.B. die, bestimmte Wissensordnungen zu verändern, Forschungsgebiete zu erweitern oder andere Wege der ›knowledge production‹ vorzuführen.2 Die Frage »Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?« richtet die Aufmerksamkeit aber einmal nicht auf die durch Kunst hervorgebrachten Effekte auf den Hochschulkontext bzw. die Wissenschaft, sondern umgekehrt geht es um die Veränderungen, die die neue institutionelle Allianz für die Kunst bedeuten könnte. Ausgelöst wurden die infrastrukturellen Neuordnungen maßgeblich durch wissenschaftspolitisch eingerichtete Förderprogramme. Vom ›institutionellen Subjekt‹ aus gedacht geht es also um den verändernden Einfluss dieser der Kunst zugeordneten Rolle und Funktion. Dass die Kunst sich verändert, »wenn man sie als Forschung versteht«, ist in der Fragestellung als Behauptung enthalten. Es geht um das Wie. Ob sich das ›institutionelle Subjekt‹ als Anwalt der Kunst (welcher?) oder als Anwalt der Forschung bzw. Wissenschaft (welcher?) versteht, bleibt zu klären.
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An dieser Stelle scheint es nötig, Abstand zu nehmen und die Sicht so zu justieren, dass die Systemlogiken von Wissenschaft und Kunst beobachtbar
1
Vgl. hierzu Monika Mokre: »Forschungs- und Wissenschaftspolitik«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 249-252.
2
Einen Überblick über das weite Spektrum an derzeitigen Einsatzfeldern von Künstler_innen in der Wissenschaft gibt Henk Borgdorff: »Forschertypen im Vergleich«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 69-76.
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werden.3 Aus einem soziologischen Blickwinkel unterschied Niklas Luhmann die beiden Systeme Wissenschaft und Kunst unter anderem dadurch, dass die Kunst (in ihrer modernen Verfasstheit) notwendig von sich selbst handelt. Neben allen Infragestellungen und Ergründungen von Realitätskonstruktionen, die die Kunst sicherlich bewirkt und beabsichtigt, stellt sie immer auch eine Behauptung in den Raum. Nämlich die Behauptung, dass es sich bei dem jeweils Präsentierten um Kunst handele. »Und das ist möglich, weil es um Kommunikation geht und nicht um bloße Dinghaftigkeit.«4 In der Konsequenz reflektiert Kunst fortwährend die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit. Auch der Wissenschaft ist ein in diesem Sinne verstandenes selbstreflexives Moment nicht fremd. Spätestens mit Werner Heisenbergs Unschärferelation ist die Einflussnahme des Forschenden auf seinen Forschungsgegenstand auch in der Naturwissenschaft verbürgt und verlangt seither einen reflexiven Umgang mit der verunsicherten Autorität des Wissens. Allerdings ist die Legitimität von Wissenschaftlichkeit bereits durch die Anwendung und Befolgung bestimmter Regeln gegeben. »Die Erklärbarkeitszumutung«, also die Überzeugung, dass irgendwann alles erklärt werden kann, ist Legitimation für die Unentbehrlichkeit des Funktionssystems Wissenschaft.5 Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Rückführbarkeit von Quellen sowie die Offenlegung der Methode gehören zu ihren Regeln.6 Es ist die Befolgung und geschickte Anwendung dieser Regeln, die den/die Wissenschaftler_in als solche ausweisen, und weniger die Erfindung neuer Regeln und Kriterien, wie sie für die Kunst maßgeblich ist: zumindest solange sie – wie nach wie vor üblich – dem Gesetz ihrer eigenen Überbietung gehorcht. Nun lässt sich mit Pierre Bourdieus Kunstsoziologie argumentieren: Es gibt auch für die Kunst ein Regelwerk. Es besteht in bestimmten Konventionen, die sich in der Geschichte ihres Feldes herausgebildet haben. Nach
3
Niklas Luhmann untersuchte in seiner Reihe systemtheoretischer Analysen der Gesellschaft außerdem die Systemlogiken der Teilsysteme Wirtschaft, Recht, Massenmedien, Politik, Religion, Erziehungssystem und Moral.
4
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 481.
5
Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 624.
6
Luhmann macht auf das Paradox aufmerksam, dass die Eigensprache der Wissenschaft sich dennoch durch ein hohes Maß an Unverständlichkeit auszeichnet. Vgl. ebd., S. 623f.
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Bourdieu ist es aber gerade nicht die Offenlegung der Regeln, die einem als Produzenten im Kunstfeld Legitimität verschafft, sondern die stillschweigende, ja klammheimliche Anwendung der »Regeln der Kunst«7 bei gleichzeitiger Tabuisierung ihrer Explikation. Die Regeln der Kunst, wie Bourdieu sie analysiert, haben zwar Schnittstellen zum Feld der Wissenschaft, insbesondere der Kunstwissenschaft. Ihr Produktionsradius beziehe aber ebenso die öffentliche Zurschaustellung, den Kunstmarkt und die Auseinandersetzung mit Kolleg_innen ein. Im Kunstsystem herrschen ökonomische Regeln, Regeln des Geschmacks, Regeln der Durchsetzung und Aufmerksamkeitsökonomie. Zwar ergäben sich die Kriterien aus der Geschichte des Feldes, sie seien darüber hinaus aber relativ willkürlich und für Außenstehende und höchstwahrscheinlich auch für Innenstehende einigermaßen rätselhaft und schwer durchschaubar. Insbesondere zu Zeiten künstlerischer Umbrüche zeigen sie sich als konservative Hindernisse. Eine sich bis heute trotz vielfacher Dekonstruktionen haltende Leitfigur sei der »moderne[ ] Schriftsteller oder Künstler als Vollzeitprofessionelle[r], der sich seiner Arbeit total und ausschließlich widmet, den Anforderungen und Ansprüchen der Politik und den Imperativen der Moral gegenüber gleichgültig bleibt und keine andere Schiedsinstanz anerkennt als die spezifische Norm seiner Kunst«.8 Bourdieu geht davon aus, dass im Kunstfeld »der Wettstreit um den Spieleinsatz verschleiert« werde und »hinsichtlich der Grundregeln des Spiels bestes Einverständnis«9 bestehe. Daher sei die Frage nach der materiellen Basis von Kunst die »verbotene Frage«.10
7
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
8
Ebd., S. 127.
9
Ebd., S. 270.
Feldes, Frankfurt a.M. 2001 (zuerst 1992).
10 Ebd., S. 271.
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E RFOLGSFORSCHUNG Man könnte nun Kunst auch verstehen als Erforschung der Möglichkeit, sich als Kunst zu behaupten.11 Der Kunstwissenschaft kommt hierbei eine nicht ganz unerhebliche Rolle zu. Denn sie befasst sich im Sinne Bourdieus nicht nur mit der Produktion von Kunstwerken, sondern auch mit der »Produktion des Werts der Werke oder, was auf dasselbe hinausläuft, [der Produktion] des Glaubens an den Wert der Werke«.12 Ein aktuelles Beispiel für die Erkundung von Wegen, in und durch den Kunstmarkt erfolgreich zu sein, ist die Arbeitsweise von Damien Hirst. In seinem Fall ist die skrupellose Anwendung – und somit oberflächlich auch Offenlegung – aller denk-und gangbaren ökonomischen wie sensationellen Mittel künstlerisches Programm. Ebenso lässt sich Vanessa Beecroft als Künstlerin verstehen, die die Möglichkeiten erforscht, durch die Erzeugung von Sensationen erfolgreich zu sein. Die immer grenzenlosere Ausweitung dessen, was als öffentlichkeitswirksamer Gag möglich und nötig ist, wäre dieser Logik folgend eine soziologische Frage Machiavellischer Ausprägung nach den Grenzen der Machbarkeit und Überzeugungskunst: How far can we go? Diese Art von Kunst ist lukrativ, vielleicht insbesondere, weil sie Anleger_innen und Käufer_innen Marktforschung auf ›subtilem Niveau‹ liefert, innovative Spekulationswege vorführt oder amüsante mikroskopische Sozialanalysen liefert. Zum Erfolg garantierenden Ethos von Künstler_innen, die sich dem Erforschen der Überbietungslogik der Märkte widmen, gehört es allerdings, dass weder solche Forschungsabsichten noch ihre Adressaten offengelegt werden. Die sprachliche Legitimation, die dem Werk eine ›absolute‹, ›existenzielle‹ oder auf andere Weise kunsttheoretisch assoziierende Bedeutung verleiht, hat meist eher den Charakter der Zelebration und weniger den einer Reflexion, die um Er- oder gar Aufklärung bemüht ist.13 Das nimmt insofern nicht wunder, als nur eine kleine
11 Vgl. ebd., S. 362. 12 Ebd. 13 Ein aktuelles Beispiel liefert der Kunstkritiker und Kurator Rudi Fuchs, wenn er über Damien Hirsts Diamantentotenkopf ›For the Love of God‹ (2007) auf dessen Webseite schreibt: »The Hirst skull is not, however, just an exercise in beauty. The piece is much more ambiguous now because it has entered the world – and our awareness – as a contemporary work of art. It stirs things up; it
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Gesellschaft von Superreichen dazu in der Lage ist, die teuren und exklusiven Kunstgegenstände zu erstehen. Zu Hirsts Faszinationsaufbau gehört es, dass sein Marktinteresse (›Geht es Hirst eigentlich nur darum oder ist da noch mehr dran?‹) so geschickt der öffentlichen Spekulation überlassen wird – also aufgerufen, aber letztlich nicht offengelegt –, dass die Arbeiten auch kritische Geister des Kunstfelds nicht unberührt lassen und zur Inszenierung der Rätselhaftigkeit des Werks beitragen.14 So wird die illusio, jenes Glaubenssystem, das den Wert der Arbeit erzeugt, eben auch von der Kritik eher stabilisiert als erschüttert. Hans-Edwin Friedrich wendet aus literaturwissenschaftlicher Sicht deshalb gegen Bourdieus Illusio-Analyse des literarischen Feldes von 1976 ein, dass seit den 1990er Jahren »die Frage nach der materiellen Grundlage im künstlerischen Feld […] keine verbotene Frage mehr [ist], sie scheint im Gegenteil eine Generalfrage geworden zu sein«.15 Nur sei das literarische Feld in seiner Funktion davon überhaupt nicht gestört. Armen Avanessian stellt ebenso für das Feld der Bildenden Kunst fest, dass die Kritik und Reflexion der Produktionsbedingungen inzwischen zum guten Ton gehörten. An der Verteilungspolitik oder den Zugangsbedingungen habe sich dadurch aber nichts geändert; im Gegenteil, denn: »Was die Kritik der letzten Jahre dann als großen epistemologischen Erfolg feiert, nämlich genau genommen die immer schon offenkundige Einsicht ihrer Verstricktheit in die (Macht-)Verhältnisse, wird für sie damit zum Persilschein, konkurrenzlos weitermachen zu können wie bisher.«16 Als »ästhetisch-nominalistischen Zirkel« beschreibt Avanessian die um
is not at rest at all, and is formally challenging and daring and insolent. It is taking sculpture to the limit.« Rudi Fuchs: »Victory Over Decay«, http://www. damienhirst.com/texts/20071/jan--rudi-fuchs (abgerufen am 06.09.2015). 14 So fragt die Kritikerin Franziska Bossey: »Ist der britische Künstler nun ein zynischer Finanzhai oder ein kreativer Selbstvermarkter?« Vgl. dies.: »HirstSchau in der Tate Modern: Schnapp Dir die Kohle, Hai!«, http://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/damien-hirst-in-zehn-zahlen-zur-werkschau-in-dertate-modern-in-london-a-825283.html (abgerufen am 08.09. 2015). 15 Hans-Edwin Friedrich: »Vom Überleben im Dschungel des literarischen Feldes. Über Pierre Bourdieus ›Regeln der Kunst‹«, http://www.iaslonline.de/index. php?vorgang_id=2070 (abgerufen am 08.09. 2015). 16 Armen Avanessian: Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz, Berlin 2015, S. 33.
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sich selbst kreisenden Wertbildungsprozesse, die derzeit das Kunstsystem ankurbeln und bestätigen, wobei dem Ort der Wissenschaft eine entscheidende Rolle zukommt: »Wertvolle zeitgenössische Kunst ist, was erfolgreich (von den Organen der Kunstwissenschaft und der Kunstkritik) zu Kunst erklärt wird.« Und: »Die Universität erkennt als Kunst, was die im Diskurs dominanten Kunstzeitschriften theoretisch als Kunst deklarieren (oder etwas derber formuliert: die universitären Stichwortgeber machen Kunstpolitik, d.h. sie produzieren mit aller diskursiven und symbolischen Macht Realität).«17
U NGLEICHES V ERHÄLTNIS Der soziologische Blickwinkel macht Unterschiede der Systemlogiken zwischen Kunst und Wissenschaft kenntlich. Besonders deutlich werden diese, bedenkt man die Beziehung oder auch Nicht-Beziehung zwischen den beiden Bereichen. Während erfolgreiche oder marktorientierte Kunst in ihrer selbstreferenziellen Geltung auf die Bestätigung durch vom Ort der Wissenschaft artikulierte Anerkennung angewiesen ist, muss sie diese Angewiesenheit gleichzeitig leugnen, um aufrechtzuerhalten, was zu ihrer Selbstbehauptung als Kunst gehört: der Schein von Autonomie. Luhmann bemerkt, dass das Kunstsystem dieses Problem nur als paradoxes und daher zu verdeckendes beobachten kann.18 Auf andere Weise ist die Paradoxie im System der Wissenschaft als Wissenschaft eingeschrieben. Hier entstehe die paradoxe Struktur dadurch, dass die Wissenschaft sich – will sie sich selbst beobachten – von sich unterscheiden muss, andererseits aber höchste Schwierigkeiten hat, Beobachtungsweisen anzuerkennen, die nicht »alle logischen, theoretischen und methodischen Merkmale von Wissenschaftlichkeit«19 aufweisen. Da Selbstreflexivität in der Wissenschaft bis zum 20. Jahrhundert unüblich war, wird sie nach wie vor gern als Philosophie, Metaphysik, Spekulation oder Literatur und damit als unseriös abgetan.20 Während die Kunst ihre Angewiesen-
17 Ebd., S. 118. 18 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 488. 19 Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 532. 20 Ebd.
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heit auf Anerkennung unterdrückt, um Selbstbestimmung zu behaupten, verbietet sich die Wissenschaft die Anerkennung der Kunst als ebenbürtige aus Distinktionsgründen oder Selbstüberschätzung. Genau hierdurch allerdings stellt sie die Seriösität und Plausibilität ihrer unhinterfragten Methodenstrenge aufs Spiel.21 Für beide Systeme gilt, dass gerade das Festhalten an den jeweiligen, aus der systemeigenen Logik plausibel anmutenden Autonomieverständnissen die paradoxale Struktur eher verstärkt als auflöst. Festhalten lässt aus diesem Blickwinkel aber auch: Sowohl die Selbstbehauptung der Kunst als auch die Plausibilität der Wissenschaft ist auf das Andere des jeweils anderen angewiesen.
M ARGINALISIERTE ALTERNATIVEN Bourdieus Regeln der Kunst basieren auf der Dominanz des modernen Künstlertypus, wie er sich Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat und als Identifikationsfigur oder role model bis heute großen Einfluss hat.22 Spätestens mit der konsequenten Infragestellung institutioneller Bedingungen von Kunstproduktion und -verbreitung durch die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten sich dem (meist männlichen, weißen und politisch desinteressierten) modernistischen L’art-pour-l’art-Künstlertypus aber durchaus andere »Künstler_innentypen« zur Seite. Unzufrieden mit der ihr zugewiesenen Rolle, zur Kompensation und damit Stabilisierung von ihnen als ungerecht empfundener Machtverhältnisse beizutragen, begannen etwa Teile der russischen Intelligenzija sich insbesondere nach der Revolution von 1917 die Frage nach dem gesellschaftlichen Einsatz von Kunst sehr grundsätzlich zu stellen. Sie setzten fortan selbstbestimmte ›so-
21 Es geht nach Luhmann um das grundsätzliche Problem »der Wahrheit« bzw. um die Frage, »wie eine Erkenntnis, die nicht erkennt, wieso sie Erkenntnis ist, trotzdem arbeitsfähig bleibt«, vgl. ebd., S. 253f. 22 Neben dem L’art-pour-l’art-Künstlertypus benennt Bourdieu zwei weitere Künstlertypen im Ausgang des 19. Jahrhunderts. Es sind diese der kommerzielle Künstler und der sozial engagierte Künstler. Genau genommen handelt es sich um Pole, in die die künstlerische Produktion eingespannt ist. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 210f. und 228ff.
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ziale Funktionen‹23 ihrer Kunst mit dem institutionell überlieferten Auftrag in ein Spannungsverhältnis. Insofern sie dadurch die institutionelle Anerkennung ihrer Arbeit ›nach alten Regeln‹ aufs Spiel setzten, begaben sie sich zum Teil bewusst an die Grenzen der Nicht-Kunst.24 Entgegen der sich bis heute haltenden These vom »Scheitern der Avantgarden«25 ist im Rückblick aber festzustellen, dass gerade die avantgardistischen Vorstöße, Kunsthochschulen zu ändern bzw. neu zu denken und neu zu organisieren, sowohl in Russland (INChUk, VChUTEMAS) als auch im ›Westen‹ (Bauhaus, später: Black Mountain College) wenn nicht im Sinne der Bekanntheit erfolgreich, so doch langfristig folgenreich waren. Dazu gehört, dass nachfolgende Künstler_innengenerationen die hier getätigte Ideenproduktion aktualisierten und weiterführten. Viele der erarbeiteten Erkenntnisse und Ästhetiken beeinflussen bis heute Architektur, Design, Pädagogik, Medienpraxis etc. Dass diese institutionellen Gebilde real existiert haben, hinterlässt zudem die Sicherheit, dass alternative Formen des Lernens, Lehrens und der künstlerischen Forschung nicht nur ideell möglich, sondern auch sehr konkret realisierbar sind.26
Ü BERGÄNGE
BILDEN
Aus aktuellem Blickwinkel interessant ist, dass das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft in diesen avantgardistischen Kreisen reflektiert und tätig praktiziert wurde. So hält Alexej Babicev in seinen »Notizen zum Programm der Arbeitsgruppe für Objektive Analyse« um 1920 fest: »Wissenschaft und Kunst haben eine Aufgabe, nämlich die Erkenntnis und die Organisierung des Erkenntnisgegenstandes. Während die Methoden der
23 So wird es beispielsweise von Sergej Tretjakow formuliert, vgl. ders.: »Wir suchen«, »Wir schlagen Alarm«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003, S. 568-572, hier S. 568. 24 Hier beziehe ich mich auf den Produktivismus und die sogenannten KünstlerIngenieure. 25 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974. 26 Darüber hinaus lieferten sie Modelle für Neugründungen (Hochschule für Gestaltung Ulm) oder Änderungen der Curricula (Hochschule für Bildende Künste Hamburg).
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Wissenschaft sich herauskristallisiert haben, stellen die Methoden der Kunst ein reiches, noch unerforschtes wissenschaftliches Material dar.«27 Babicev gehörte zu einer Gruppe von Künstler_innen und Theoretiker_innen, die sich intensiv mit Fragen des Bildaufbaus beschäftigten. Von Januar bis April 1921 traf er sich in regelmäßigen Abständen mit seinen Künstlerkolleg_innen, unter ihnen Ljulbow Popowa, Wawara Stepanova und Alexander Rodtschenko. In vergleichenden Analysen betrachteten sie Bilder, um die spezifischen Merkmale und Prinzipien von Kompositionen im Vergleich zu dem neuen Begriff der Konstruktion herauszuarbeiten. Die schriftlich festgehaltenen Diskussionen und die zur Verdeutlichung von Unterschieden hergestellten Zeichnungen sind grundlegend für weiterführende kunsttheoretische Überlegungen der Konstruktivist_innen. Das Projekt wird von zwei Seiten her weiterverfolgt, die zueinander in Beziehung treten. Vertieft werden: 1) die theoretische Auseinandersetzung mit den Bildmitteln (Farbe, räumliche Illusion und Faktura) sowie mit den Ideen, die den Produktionen zugrunde liegen (Gebrauch und Zweck); 2) die praktische Erprobung der Inhalte aus 1) im Rahmen von Laboruntersuchungen (Konkretisierung von Farbe und räumlichen Konstruktionen).28 Die scheinbar formalistische Analyse des Bildaufbaus führte die Konstruktivist_innen zu Fragen des Raums, der zunächst noch skulptural untersucht, zunehmend aber auch in sozialen, architektonischen, politischen oder zeitlichen Dimensionen gedacht wurde. Dass die Arbeit an der Gestalt der Dinge gleichermaßen deren Handhabung und folglich auch soziale Interaktionen verändert, so dass die Verhältnisse der Menschen zueinander als Gestaltungsgebiet aufzufassen sind, war die faszinierende Entdeckung dieser Zeit.29
27 Alexej Babicev: »Notizen zum Programm der Arbeitsgruppe für Objektive Analyse« [um 1920], in: Hubertus Gaßner/Eckhart Gillen (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Debatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 109-110, hier S. 109. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. hierzu Rahel Puffert: Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Kunstvermittlung, Bielefeld 2013.
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Babicev verstand Kunst und Wissenschaft als zwei verschiedene Betätigungsfelder, die sich dieselbe Aufgabe teilen: Beide bringen Erkenntnisse hervor. Um dieses zu tun, müssen sie ihren Forschungsgegenstand aufbereiten oder ›organisieren‹. Indem sie Wissen anordnen und zubereiten, kreieren sowohl Kunst als auch Wissenschaft Aneignungsmöglichkeiten. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Vorgehensweise. Während die Methoden der Erkenntnisgewinnung innerhalb der Wissenschaft als bekannt vorausgesetzt würden, seien die Methoden der Kunst unerschlossen.30 Über diese künstlerischen Methoden Aufschluss zu geben, sei, so Babicev, eine ertragreiche Aufgabe – der Wissenschaft. Andersherum geben zahlreiche Quellen darüber Auskunft, dass Künstler_innen sich sukzessive bestimmter bis dahin der (marxistisch geprägten) Wissenschaft vorbehaltener Begriffe bedienten (Analyse, Synthese, etc.) und es sich z.B. zur Aufgabe machten, die Kunstgeschichte unter neuen Gesichtspunkten zu systematisieren, also Episteme zu verändern.31 Das heißt, es fand offenbar eine Transzendierung von Arbeits- und Denkweisen sowie Betätigungsfeldern statt, bei der die Trennungen zwischen theoretischer, künstlerischer und insbesondere pädagogischer Arbeit unscharf und durchlässiger wurden.
30 Zu vermuten ist, dass die Gruppe der Konstruktivisten von der literaturwissenschaftlichen Schule des ›Russischen Formalismus‹ angeregt waren. Es war Viktor Sklovskij, der in »Die Kunst als Verfahren« (1916) auf literarische Methoden der Verlangsamung und Entfremdung hinwies. Sklovskij unternahm damit eine Verschiebung des Blickpunkts der Literaturwissenschaft; auch stellte er die herkömmliche Vorstellung, was die Arbeit eines Künstlers ausmache, in Frage. Vgl. Viktor Sklovskij: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1971, S. 3-35. 31 Insbesondere ist hier die Gründung des Museums für künstlerische Kultur von 1921 zu nennen. Es verstand sich als ›kunstwissenschaftliche Forschungseinrichtung‹ und verweist in seiner Organisationsstruktur auf die enge Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Wissenschaftler_innen. Vgl. Gaßner/Gillen (Hg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, S. 92f.
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G RÜNDE
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ZU SCHREIBEN
Babicevs Äußerung lässt sich als charakteristisches Zeichen einer Wende verstehen, die das Selbstverständnis der Avantgarde-Künstler_innen zwischen 1910 und 1930 prägte. Den Kunstwissenschaftler John Roberts interessiert aus heutiger Sicht insbesondere die Rolle des Schreibens in diesem Prozess. Bereits in den 1870er Jahren hätten Künstler_innen begonnen, ihre Autonomie schriftlich zu verteidigen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts verfassen Künstler_innen Schriften, um die Kunst dezidiert gegen instrumentelle Zugriffe im Sinne der Verkaufbarkeit zu schützen. Sie tun dieses nicht mehr in vormoderner Ablehnung der Wissenschaftlichkeit (bei gleichzeitiger Ablehnung des Akademismus), sondern sehen sich im Einklang mit der wissenschaftlichen Forschung der Modernität verpflichtet.32 Für die Zeit zwischen 1910 und 1930 weist Roberts auf einen weiteren fundamentalen Wechsel der Funktion des Schreibens für die Kunst hin. Was zuvor ein Anhang oder Zusatz zur Atelierarbeit war, wird nun zur Atelierarbeit selbst. Schreiben wird zu einer unter vielen Tätigkeiten, denen Künstler_innen nachgehen. Es definiert und formt die künstlerische Praxis innerhalb und außerhalb des Ateliers. Die Arbeit am Text wird zu einer forschungsbasierten und theoretisch selbstbewussten interdisziplinären Praxis. Speziell für die russischen Avantgardist_innen gilt: Weil die Künstler_innen antreten, die Bedingungen der Kunstproduktion tiefgreifend zu verändern, beteiligen sie sich auch an der Arbeit der Rehistorisierung und Theoretisierung. Und – sie nutzen die Schrift, um ihre Arbeit an der institutionellen Transformation öffentlich zu debattieren und zu verteidigen: »That is, writing becomes the basis of a research-based and theoretically self-conscious, interdisciplinary practice. Hence the writing defines and shapes the art inside and outside the studio, dissolving the distinction between writerly practice and non-writerly practice.«33
32 John Roberts: »Writerly Artists: Conceptual Art, Bildung, and the Intellectual Division of Labour«, in: Rab-Rab. Journal for Political and Formal Inquiries in Art, Issue 01, Helsinki 2014, S. 9-19, hier S. 12. 33 Ebd., S. 13.
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G RENZÜBERSCHREITUNGEN Auch die Vertreter_innen der Conceptual Art warteten nicht mehr ab, bis ihre Praxis außerhalb des kunstproduzierenden Feldes durch kunsthistorische Einordnung oder kunstphilosophische Theoretisierung autorisiert wurde. Sie leisten diese Arbeit selbst. Parallel zur Entwicklung neuer künstlerischer Arbeits- und Themenbereiche wird von Künstler_innen und sympathisierenden Kritiker_innen (wie etwa Lucy Lippard) der textbasierte Diskurs kreiert.34 Auch hier gilt: Die schreibenden Künstler_innen grenzen sich nicht strikt vom Feld der bestehenden Kunstkritik oder -geschichte ab, sondern beide Felder ergänzen und beeinflussen sich gegenseitig.35 Die Kunstkritik wird als Feld entdeckt, auf dem Kunstbegriffe ohne den Umweg über Atelier oder Galerie erschaffen werden können. Erklärungen für diese erneut hochexperimentelle Phase transdisziplinärer Arbeit in den 1960er Jahren findet Roberts in der Offenheit der Kunstgeschichte für disziplinfremde Arbeitsweisen, gepaart mit der Einsicht in die eigene Unfähigkeit, auf die kritischen Impulse von Künstler_innen der (damaligen) Gegenwart zu antworten. Begünstigend wirkten sich zudem die Veränderungen des (britischen) Universitätssystems aus: Neue, lockerere Zugangsbedingungen hatten Studierenden aus der Arbeiter- und Mittelschicht zunehmend den Zugang zu Universitäten und höheren Ausbildungssystemen eröffnet.36 An den Kunsthochschulen herrschte zu dieser Zeit noch das Dogma der modernistischen Malerei des abstrakten Expressionismus mit seinem Geist der liberalen Selbstverwirklichung, das zu einem Mangel an Lehre und intellektueller Betätigung geführt hatte. Male selbst! – so könnte man die Kunst-Lehre des Liberalismus zusammenfassen. Die Nicht-Pädagogik bestand schlicht darin, die Studierenden für drei Jahre
34 Ebd. 35 Inzwischen stehen umfassende Anthologien als Ergebnis dieser Entwicklungen zur Verfügung. Die erste wurde von zwei Künstlern herausgegeben: Harrison, Charles/Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003. Die neuere stammt von Kunsthistorikern: Alberro, Alexander/ Stimson, Blake (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology, Cambridge/London 1999. 36 Roberts: »Writerly Artists«, S. 15f.
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ihres Studiums sich selbst zu überlassen. Diese pädagogische Lücke nutzten die Conceptualist_innen, indem sie mittels neuer theoretischer Entwürfe und Kunstkonzepte Verbindungen zwischen dem Seminarraum und dem Atelier herstellten. Sprache wurde jetzt zu einem Material unter anderen Materialien intellektueller bzw. künstlerischer Arbeit erhoben. Zunehmend nahmen Künstler_innen die Rolle von Autor_innen ein, betrieben eine partisanenhafte Kunstgeschichte, indem sie Kritiken ihrer eigenen Arbeit und der von anderen schrieben. Kunstwissenschaftliche Zugänge und Künstler_innentexte »teilten sich denselben Interpretationsraum«.37
M ETHODENFRAGEN Zur gleichen Zeit werden auch in anderen Wissensgebieten Disziplingrenzen überwunden, so etwa die zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Philosophie und Literatur. Der Künstler-Philosoph oder philosophische Literat – verkörpert durch Autor_innen wie etwa Sartre, Barthes, Derrida, Kristeva, Deleuze – ist die logische Folge.38 Mit dieser Figur und insbesondere durch Derrida wird das Methodenproblem sehr grundsätzlich aufgeworfen. Dass die Dekonstruktion keine Methode im Sinne einer Programmatik sei, dass es bei dieser Denkweise eben nicht um eine regelhafte bzw. nach Regeln der Unterweisung erlernbare Systematik gehe, hatte Derrida nicht unterlassen zu betonen. »Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren oder Techniken eröffnen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll.«39 Während Derrida seine NichtMethode anhand der Schrift sowie im Akt des Schreibens entwickelte, stellt
37 Ebd., S. 14. 38 Walter Benjamins Schriften oder Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie werden von Roberts nicht erwähnt, gehören meines Erachtens aber in diese unabgeschlossene Reihe. 39 Florian Roetzer: »Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Beilage zum Falter. Wiener Stadtzeitung, Nr. 22a/87, laufende Nummer 302, S. 11f., zit. nach http://de. wikimannia.org/Dekonstruktion#cite_ref-7 (abgerufen am 13.08.2015).
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Gilles Deleuze mit der Idee der Transversalität eine Art zu denken vor, die sich anarchistisch ohne Rücksicht auf Diskurs- und Disziplingrenzen bewegt und auf diese Weise nicht nur unkonventionelle Verbindungen und Verknüpfungen produziert, sondern auch die Ordnungen in den berührten Feldern zu erschüttern weiß. Was hier zur Geltung kommt, ist ein Konzept von Vernunft, das Wolfgang Welsch pointiert folgendermaßen charakterisiert: »Diese ist grundlegend verschieden von allen prinzipialistischen, hierarchischen und formalen Vernunftkonzeptionen, die allesamt ein Ganzes zu begreifen oder zu strukturieren suchen und darin Vernunft an Verstand assimilieren. Transversale Vernunft ist beschränkter und offener zugleich. Sie geht von einer Rationalitätskonfiguration zu einer anderen über, artikuliert Unterscheidungen, knüpft Verbindungen und betreibt Auseinandersetzungen und Veränderungen.«
U NVERMEIDLICHE P ROZESSE
40
DER
V ERÄNDERUNG
Nach einer These von Sabine Hark sind »noch die revolutionärsten Ideen substanziellen Veränderungen ausgesetzt […], wenn sie in die Form akademischen und lehrbaren Wissens gebracht werden«.41 Inhalte, die sich aus politischen Bewegungen entwickelt haben – Hark entwickelt ihre Argumentation am Beispiel des »charismatischen Charakters« der Frauenbewegung – würden bürokratisiert, sobald sie Eingang in den universitären Kontext fänden. Seien Prozesse der Veränderung von Wissen wie Institutionalisierung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Akademisierung unausweichlich, so Hark, so stelle sich die Frage, ob sie per se als problematisch, also exkludierend oder hierarchisierend angesehen werden müssten: »Schließlich ist Institutionalisierung und das heißt ja vor allem eine stabil(er)e materielle Infrastruktur, zunächst als eine Voraussetzung
40 Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1991, S. 295, zit. nach Pierangelo Maset: Ästhetische Bildung der Differenz. Wiederholung 2012, Lüneburg 2012, S. 45. 41 Sabine Hark: »Dissidente Partizipation«, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), pöpp68 Partizipative Einwände trotzdem. Texte, Gespräche und Beteiligung, Berlin 2009, S. 9-17, hier S. 9.
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anzusehen, um dieses neue andere Wissen überhaupt produzieren und zugänglich machen zu können.«42 Dass die Organisationen der Wissenschaft, also etwa Hochschulen, wissenschaftliche Vereinigungen und Zeitschriften, »nicht nur Zwang, sondern vor allem eine funktionierende Infrastruktur« für die Verbreitung von Wissen böten, ist für die Frage nach der Veränderung der Kunst ein nicht unerheblicher Hinweis: Deutlich wird, dass bei der Frage nach der Veränderung nicht nur die Eingemeindung der Kunst in institutionelle Zusammenhänge bedacht werden muss, sondern ebenso der Wunsch vonseiten der Künstler_innen, ihre Denk- und Arbeitsweisen innerhalb oder mittels dieser Infrastruktur zu platzieren. Künstlerische Praxis erwächst aus den Verhältnissen, in denen sie steht, und wird gleichzeitig durch die Verbreitungs- und Vermittlungswege – mit Foucault gesprochen: Dispositive – bestimmt, in denen sie stattfindet. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage danach, wie diese Infrastruktur im Sinne eines Mediums künstlerischer Verfahren operiert bzw. operieren könnte. Oder, noch weiter gedacht, wie sie operieren müsste, damit sich Forschung als Kunst hier überhaupt ereignen kann, ohne »in Form akademisch und lehrbaren Wissens« gebracht zu werden. Nach wie vor ist es notwendig, für das Andere eines Wissenschaftsverständnisses einzutreten, welches dadurch gekennzeichnet ist, sich genau hiergegen verwehrt zu haben. Ohnehin wird die Wissenschaft von dieser Art Verdrängungsarbeit regelmäßig eingeholt. Etwas unwegsam erscheint ein solches Vorhaben derzeit durch die Zerfurchungen der grundlegenden und noch nicht ganz durchschaubaren Veränderungen der Hochschullandschaft, die der Bologna-Prozess hinterlassen hat. Auf diesem unübersichtlichen Gelände werden inmitten des Gerölls Konstruktionen sichtbar, und die historisch verbürgte produktive Verschränkung zwischen Kunstwissenschaft, Philosophie und kritischer Pädagogik wird nach und nach freigelegt. Künstlerische Forschung als Forschung über Kunst, die diese Verschränkungen aktualisieren will, muss vielleicht zuerst das Kriterium der Verkaufbarkeit an einen enttabuisierten, aber nebensächlichen Platz räumen. Auf diese Weise würde dann der Blick wieder frei für all jene Aspekte künstlerischer Arbeitsweisen, die nach der vernachlässigten Arbeit an anderen Kriterien als denen der ökonomischen Verwertung verlangen.
42 Ebd., S. 10.
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In den Stätten der Forschung praktizierte, ortsspezifische Kunst, die man auch institutionelle Forschung oder Forschung als Kunst nennen könnte, setzt sich mit den Bedingungen auseinander, die die hinzugewonnene Infrastruktur des Hochschulkontextes der Kunst bietet. Ob sich ihre Morphologie oder ihre Verfahren dabei ändern, ergibt sich notwendig aus den infrastrukturellen Bedingungen und Formaten, die der Kunst als Kunst jeweils zur Verfügung stehen. Die Wege des Wissens, seine Lagerung, Aufbereitung und Verwaltung, Bewertung und Prüfung, seine Kanalisierung und Blockierung bis hin zu all jenen Bedingungen, die gemeinsame Denk- und Lernprozesse ermöglichen oder auch verhindern – all das ist durch das Recht, im Rahmen der Forschungsstätten künstlerisch zu operieren, zum Material geworden. Vorausgesetzt, dass Medienreflexivität im Sinne der Repräsentationskritik Modus operandi künstlerischen Handelns ist, Kunst sich also in diesem Sinn nicht verändert hat, kann Kunst, die ›institutionell forscht‹, meines Erachtens nicht umhin, das neu eroberte Terrain wahrnehmbar zur Reflexion anzubieten. Die Schrift und das Schreiben mitsamt den hier skizzierten Vorarbeiten durch Künstler_innen und Künstler-Philosoph_innen bilden dann nur den Anfang eines wesentlich umfassenderen Vorhabens, welches die Praxis institutionalisierter Forschung sichtbar oder besser wahrnehmbar macht und dazu einlädt, zu weiteren unerforschten Gebieten vorzudringen.
L ITERATUR Avanessian, Armen: Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz, Berlin 2015. Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology, Cambridge/London 1999. Babicev, Alexej: »Notizen zum Programm der Arbeitsgruppe für Objektive Analyse« [um 1920], in: Hubertus Gaßner/Eckhart Gillen (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Debatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, S. 109110. Borgdoff, Henk: »Forschertypen im Vergleich«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 69-76.
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Bossey, Franziska: »Hirst-Schau in der Tate Modern: Schnapp Dir die Kohle, Hai!«, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/damien-hirst-inzehn-zahlen-zur-werkschau-in-der-tate-modern-in-london-a-825283.html (abgerufen am 8.9.2015). Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001 (zuerst 1992). Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974. Friedrich, Hans-Edwin: »Vom Überleben im Dschungel des literarischen Feldes. Über Pierre Bourdieus ›Regeln der Kunst‹«, http://www.iaslonline.de/ index.php?vorgang_id=2070 (abgerufen am 08. 09.2015). Fuchs, Rudi: »Victory Over Decay«, http://www.damienhirst.com/texts/ 20071/jan--rudi-fuchs (abgerufen am 06.09.2015). Hark, Sabine: »Dissidente Partizipation«, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), pöpp68. Partizipative Einwände trotzdem. Texte, Gespräche und Beteiligung, Berlin 2009, S. 9-17. Harrison, Charles/Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003. Hubertus Gaßner/Eckhart Gillen (Hg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Debatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997. –: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. Maset, Pierangelo: Ästhetische Bildung der Differenz. Wiederholung 2012, Lüneburg 2012. Mokre, Monika: »Forschungs- und Wissenschaftspolitik«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 249-252. Puffert, Rahel: Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Kunstvermittlung, Bielefeld 2013. Roberts, John: »Writerly Artists: Conceptual Art, Bildung, and the Intellectual Division of Labour«, in: Rab-Rab. Journal for Political and Formal Inquiries in Art, Issue 01, Helsinki 2014, S. 9-19. Roetzer, Florian: »Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Beilage zum Falter. Wiener Stadtzeitung, Nr. 22a/87, laufende Nummer 302, S. 11f., zitiert nach http://de.wikimannia.org/Dekonstruktion#cite_ref-7 (abgerufen am 13.08.2015).
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Sklovskij, Viktor: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1971, S. 3-35. Tretjakow, Sergej: »Wir suchen«, »Wir schlagen Alarm«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003, S. 568-572.
Forschung als Verkörperung Zur Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind B ERNADETTE C OLLENBERG -P LOTNIKOV
Im Zusammenhang mit der Renaissance der kunst- und bildwissenschaftlichen Arbeiten Aby Warburgs, die in der Bundesrepublik erst spät, seit den 1970er Jahren, aber dafür umso lebhafter eingesetzt hat, ist der Blick ebenfalls auf die Forschungen von Persönlichkeiten aus seinem Umfeld gefallen. Neben Wissenschaftlern wie Erwin Panofsky und Ernst Gombrich gehört hierzu auch der Philosoph und Kunsthistoriker Edgar Wind (19001971), der allerdings, wenngleich er bereits als »brillantester Vertreter« der »sogenannten Warburg-Schule«1 apostrophiert wurde, nach wie vor weniger bekannt ist. Winds nicht besonders umfangreiches, aber – schon aufgrund seiner doppelten Expertise als Kunsthistoriker und Philosoph – ungewöhnlich vielfältiges wissenschaftliches Œuvre ist trotz verschiedener Neueditionen, Übersetzungen und Forschungsarbeiten bis heute erst in Ansätzen erschlos-
1
Bernhard Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung und seine methodologische Bedeutung für die Kulturwissenschaften« [Nachwort], in: Edgar Wind, Das Experiment und die Metaphysik (1930), hg. und mit einem Nachwort versehen von B. Buschendorf, eingeleitet von Brigitte Falkenburg, Frankfurt a.M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934), S. 270-326, hier S. 276.
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sen.2 Es enthält nun aber neben philosophischen und kunsthistorischen Reflexionen zur Ikonologie auch grundlegende Beiträge zur Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft, näherhin zu der Frage, ob bzw. in welcher Hinsicht Kunst als Forschung verstanden werden kann und was dies für die Kunst bedeutet. Diese Beiträge zur Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft sollen im Folgenden skizziert werden. Dabei soll zum einen gezeigt werden, dass Wind damit – historisch betrachtet – eine in dieser Zeit singuläre Vermittlung von anglo-amerikanischer und kontinentaler Denktradition, konkret: den pragmatistischen Thesen insbesondere von Charles Sanders Peirce einerseits und den kulturwissenschaftlichen Thesen von Ernst Cassirer und Warburg andererseits leistet, mit der er sich, bei allen Bezugnahmen und Verflechtungen, als eigenständiger Forscher positioniert. Zum anderen soll gezeigt werden, dass Wind auch hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft – systematisch betrachtet – eine »kulturwissenschaftliche[ ], au fond interdisziplinäre[ ]
2
Die inhaltliche Erschließung der Kunst- und Kulturtheorie Winds geht vor allem auf den Germanisten Bernhard Buschendorf zurück, der sich bereits seit der Mitte der 1980er Jahre mit den historischen und systematischen Aspekten dieses Ansatzes befasst (vgl. Literaturliste). Weitere Studien sind vor allem in den letzten Jahren entstanden, nachdem 1996 am Potsdamer Einstein Forum ein internationales Symposium unter dem Titel Edgar Wind (1900-1971). Kunsthistoriker und Philosoph stattgefunden hatte (hg. von Horst Bredekamp u.a.). Dabei beginnt man, nicht allein Winds Anliegen, Kunstgeschichte und Philosophie zu verbinden, rückblickend als wegweisend zu erkennen, sondern man geht inzwischen auch dazu über, Wind explizit als Bildwissenschaftler zu würdigen und auf diese Weise in neuere Debatten einzubeziehen. Insbesondere ist hier auf die Forschungen des Philosophen John Michael Krois zu verweisen, der im Ausgang von Wind auch den Begriff der Verkörperung als bild- und wissenschaftstheoretischen Schlüsselbegriff implementiert hat. So ist dieser Begriff ebenfalls in den Titel der von Krois zusammen mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp konzipierten DFG-Kollegforschergruppe Bildakt und Verkörperung eingegangen, die in den Jahren 2008 bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt war. Derzeit wird diese Arbeit dort insbesondere von der DFG-Forschergruppe »Ikonische Formprozesse« fortgeführt.
F ORSCHUNG
ALS
V ERKÖRPERUNG
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Methode«3 entwickelt, die nicht nur in philosophischer und kunsthistorischer, sondern allgemeiner in humanwissenschaftlicher Hinsicht bis heute bedenkenswert ist. Eine Schlüsselstellung kommt dabei seinem Konzept der ›Verkörperung‹ zu.
I. K UNST
ALS
G EGENSTAND
DER
F ORSCHUNG
Winds Bestimmung von Kunst und Wissenschaft in seiner Schrift Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand (1922) und deren Umfeld So liberal Wind in seinen politischen Überzeugungen und so innovationsfreudig er als Wissenschaftler in der Herstellung kühner historischer und thematischer Bezüge ist, so konservativ ist er in Bezug auf die Grundthesen seiner Forschungstätigkeit. Es ist nämlich ein Charakteristikum von Winds Methode, dass er auf einmal entwickelte Grundthesen immer wieder – oft über Jahrzehnte hinweg, vielfach sogar in identischem Wortlaut – zurückkommt und sie in den verschiedensten argumentativen Kontexten auf ihre Tragfähigkeit bzw. ihre Problemlösungskapazität hin überprüft. Dies betrifft unter anderem – neben seinem Kampf gegen die »Lehre von der ›Kunstfeindlichkeit‹ der Kunstwissenschaft«, also das seit der Romantik verbreitete »Dogma«, dass Kunst wesentlich Sache des ästhetischen Genusses, das heißt des Gefühls und nicht des Wissens, sei4 – auch seine Thesen zu der Frage, ob bzw. in welcher Hinsicht Kunst als Forschung verstanden werden kann. Wind entwickelt die Grundlinien seiner Antwort nämlich bereits in seinem wissenschaftstheoretischen Frühwerk, also in seiner Dissertation Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand und deren Umfeld5 sowie in seiner Habilitationsschrift Das Expe-
3 4
Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 271. Edgar Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [phil. Diss. Hamburg 1922], hg. von Pablo Schneider, Hamburg 2011, S. 33.
5
Da Wind seine Dissertation selbst nicht publizieren konnte, hat er die zentralen Thesen dieser Arbeit in Aufsätzen zur Diskussion gestellt. Vgl. bes. Edgar
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riment und die Metaphysik, das heißt – bezeichnend für seinen sach- und fachübergreifenden Forschungsansatz – in einer Studie zur Methodologie der Kunstwissenschaften einerseits und in einer naturphilosophischen Studie andererseits. Gegenstand von Winds 1922 abgeschlossener Dissertation ist – ganz im Sinne seiner These von der kognitiven Erschließbarkeit der Kunst und der kantianischen Orientierung seiner beiden Lehrer und Gutachter Cassirer und Panofsky zu diesem Zeitpunkt – die apriorische Grundlegung einer Geisteswissenschaft, die Wind näherhin als ›konkrete Kunstwissenschaft‹ bezeichnet. Aufgabe dieser Wissenschaft ist es, durch die Freilegung der Strukturprinzipien, die in einem Kunstwerk zum Tragen kommen, die Rationalität der kunstwissenschaftlichen Methode zu gewährleisten. Dies betrifft dann auch die historische und die ästhetisch-kennerschaftliche Auseinandersetzung mit der Kunst. Wind geht hier nämlich davon aus, dass Kunstgeschichte und Kennerschaft, wenn sie nicht leerlaufen sollen, des rationalen und objektiven Fundaments einer Kunst-›Grammatik‹ bedürfen, das eben die ›konkrete Kunstwissenschaft‹ legt.6 Diese Verpflichtung zur Objektivität erhellt für Wind schon daraus, dass der Betrachter in der ästhetischen Erfahrung der Kunst, anders als der Betrachter der Natur, mit einer Sinngebung von Seiten des Künstlers konfrontiert ist, die er keineswegs selbst spontan hervorbringt, sondern vielmehr ›rekonstitutiv‹ nachzuvollziehen hat.7 Die ›konkrete Kunstwissenschaft‹ befasst sich demnach weder mit äußeren Faktoren, die Einfluss auf das Kunstwerk und seine Gestaltung genommen haben, noch mit der Wirkung der Kunst auf den Menschen. Sie richtet sich vielmehr auf die »begriffliche Gestaltung und Bewältigung der anschaulichen Fülle des Kunstwerks«8, also auf erkenntnistheoretische bzw. ontologische Fragen. Wind bezeichnet den Gegenstand dieser Fragen im Anschluss an den formalistischen Kunsttheoretiker Alois Riegl auch als die apriorischen ›künstlerischen Probleme‹, in deren Lösung die ›künstleri-
Wind: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), S. 438-486; ders.: »Theory of Art versus Aesthetics«, in: The Philosophical Review 34 (1925), S. 350-359. 6
Vgl. ebd., S. 356 und S. 359.
7
Vgl. Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 43.
8
Ebd., S. 26.
F ORSCHUNG
ALS
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sche Leistung‹ besteht.9 Das zentrale Merkmal dieser Probleme ist nun, dass sie durchgängig eine »innere Spaltung« aufweisen.10 Hierzu führt Wind aus: »Um etwas als ›künstlerische Leistung‹ zu begreifen, muß ich es als Lösung eines vorher Ungelösten ansehen, d.h.: Ich muß einen Konflikt setzen, der sich in der künstlerischen Erscheinung als ›versöhnt‹ darstellt. Im Denken muß also das Problem gesetzt sein, dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist. Hiermit ist die Eigentümlichkeit der ›künstlerischen Probleme‹ gekennzeichnet: sie schließen eine vom Denken gesetzte Antithetik in sich, die dennoch keine Antithetik 11
für das Denken ist.«
Dies gilt Winds Überzeugung nach für alle Künste gleichermaßen. Bei seinen näheren Analysen beschränkt sich Wind allerdings ausdrücklich auf die bildende Kunst.12 Die ›innere Spaltung‹, die in jedem Werk der bildenden Kunst ›versöhnt‹ ist, bzw. das ›künstlerische Problem‹, das hier ›gelöst‹ ist,13 besteht nämlich – indem diese Werke auf die »visuelle Sphäre« ausgerichtet sind – in jeweils gegensätzlichen »anschaulichen Ordnungen«.14 Und so entwickelt Wind im Rahmen seiner Dissertation, wiederum im Anschluss an Riegl, im Ausgang von der grundlegenden, auf die »sinnlich-elementaren Voraussetzungen der Gestaltung«15 bezogenen Polarität des ›Haptischen‹ und ›Optischen‹ ein komplexes System verschiedenster kategorialer Antithesen, die in jedem Werk der bildenden
9
Vgl. ebd., S. 232; siehe auch ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 439f.
10 Ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 232; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 440. 11 Ebd.; vgl. ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 232f. 12 Vgl. ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 462; siehe auch ders.: »Theory of Art versus Aesthetics«, S. 358. 13 Vgl. ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 232; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 440. 14 Ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 243; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 447. 15 Ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 249; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 451.
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Kunst relevant werden und die er hier in einer ›Tafel‹ organisiert. Hierzu gehören etwa die Polaritäten ›Fläche‹ und ›Tiefe‹, ›Zerteilung‹ und ›Verschmelzung‹ sowie ›Statuierung‹ und ›Belebung‹. Das Entscheidende ist dabei, dass in der »konkret-anschaulichen Gestaltung« des Kunstwerks hinsichtlich dieser Polaritäten zwar immer eine bestimmte Akzentuierung nach der einen oder anderen Seite vorliegt, die Pole aber stets beide präsent sind, indem hier eine jeweils spezifische »Wechselbeziehung« der Gegensätze zu identifizieren ist.16 Bezieht man also »eine künstlerische Erscheinung auf ein bestimmtes ›Problem‹, so erschließt sich ihr ›Sinn‹ in der besonderen Stellungnahme zu dieser Polarität. Die Antwort ruht in der besonderen Form des Ausgleichs. Und damit kommt etwas ganz Neues zum Ausdruck, was aus der Frage als solcher nicht abzulesen war: – die künstlerische Indivi17
dualität.«
Die ›künstlerischen Probleme‹ unterscheiden sich damit nicht nur von den – zumindest prinzipiell – eindeutig zu beantwortenden Fragen nach den historischen Entstehungszusammenhängen eines Werks und seiner äußeren Erscheinung, also z.B. seiner Technik, seinem Sujet oder seiner Gattungszugehörigkeit. Vielmehr unterscheiden sie sich so auch von der »Naturerkenntnis«, die, so Wind, immer das Ziel hat, Gegensätze im Sinne einer Gesetzmäßigkeit aufzulösen – also etwa den Gegensatz von ›Fülle‹ und ›Form‹ im Sinne der ›Form‹, indem für sie in der Form »das eigentlich Gesetzliche« liegt und die Fülle eine »bloß vorwissenschaftliche Gegebenheit« darstellt.18 Die unaufhebbare Präsenz der in den vielfältigen ›künstlerischen Problemen‹ gefassten Polaritäten macht demnach das Spezifikum der Kunstwerke gegenüber dem Natürlichen aus. Bereits auf der Stufe seiner Dissertation geht Wind also davon aus, dass im Kunstwerk Denken und Anschauung, allgemeine Gesetzmäßigkeit und individuelle Erfahrung, aufeinander verwiesen sind, indem die ›künstlerischen Probleme‹ eine »vom Denken gesetzte Antithetik« in sich schließen,
16 Ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 263; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 460. 17 Ders: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 268f. 18 Ebd., S. 263; ders.: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 460.
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die »dennoch keine Antithetik für das Denken ist«. Denn im »Denken« wird ein Problem gesetzt, »dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist«.19 Dabei artikuliert sich dieses ›Denken‹ in der künstlerischen Produktion nicht diskursiv, sondern sozusagen als implizites Wissen, nämlich eben in Form der jeweils für die Anschauung gegebenen Antworten auf die ›künstlerischen Probleme‹ und dem damit vom Künstler intendierten »Sinn«.20 In der ästhetischen Erfahrung wird dieser ›Sinn‹ zwar spontan als solcher erfasst, sie bleibt aber, anders als die kunstwissenschaftliche Erkenntnis, notwendig subjektiv und irrational.21 Und bereits in diesem Zusammenhang bezeichnet Wind die individuelle Weise, wie diese Antwort im Kunstwerk »realisiert«22 ist, auch als ›Verkörperung‹.23 Allerdings bleiben hier ›objektive‹ begriffliche Erkenntnis und ›subjektive‹ ästhetische Erfahrung einerseits, Natur und Kunst als Gegenstände der Wissenschaft andererseits jeweils strikt voneinander unterschieden, mehr noch: einander weithin entgegengesetzt. Für die Bestimmung der künstlerischen Forschung ist diese Position zunächst einmal wenig ergiebig: Winds Intention ist es hier, die Wissenschaftlichkeit der Erforschung der Kunst neu zu begründen. Die Kunst selbst kann dagegen zwar in gewisser Hinsicht als Form des Wissens verstanden werden; in Bezug auf die künstlerische Praxis von ›Forschung‹ zu sprechen, ginge aber zu weit – will man als eine solche Forschung nicht schon verstehen, dass im Verlauf der Kunstgeschichte das in der ›Grammatik‹ der Kunst enthaltene Potenzial zur Herstellung immer neuer Formen von künstlerischer Individualität entfaltet wird.
19 Siehe oben Anm. 11. 20 Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, S. 107. 21 Vgl. z.B. ebd., S. 86. 22 Ebd., S. 62. 23 Vgl. ebd.
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Winds Bestimmung von Kunst und Wissenschaft in seiner Schrift Das Experiment und die Metaphysik (1930) und deren Umfeld Die Konsequenzen, die Wind im Rahmen seiner Dissertation aus seiner kunstwissenschaftlichen Zentralthese, dass hinsichtlich des Kunstwerks im Denken »das Problem gesetzt« sein muss, »dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist«,24 zieht, bleiben also hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Forschung auf eher traditionellen Bahnen. Dies ändert sich nun allerdings entschieden, wenn er in seiner naturphilosophischen Habilitationsschrift über Das Experiment und die Metaphysik von 1930 und den diese flankierenden Schriften auf eben diese These, nun aber in Bezug auf das naturwissenschaftliche Experiment, zurückkommt. Im Experiment wird nämlich, wie Wind hier erklärt, eine »logische Forderung« in eine »metaphysische Frage, auf die es empirische Antworten gibt, verwandelt«.25 Dabei nennt er diese Frage ›metaphysisch‹, weil hier eine Instanz – die ›Natur‹ – in Anspruch genommen wird, über die wir »keinerlei Macht« haben, die uns »ihrem Wesen nach unbekannt«, aber zugleich »für unsere Erkenntnis unentbehrlich« ist.26 Die Parallele zu seiner früheren These liegt auf der Hand: Der ›metaphysischen‹ Instanz der ›Natur‹ entspricht im kunstwissenschaftlichen Kontext die ›Kunst‹, dem ›Experiment‹ das konkrete, anschauliche Kunstwerk. Diese Parallele kann Wind nun selbst explizit ziehen und allgemein wissenschafts- und kulturtheoretisch fruchtbar machen, indem er zum einen
24 Siehe oben Anm. 11. 25 Wind: Das Experiment und die Metaphysik, S. 117. 26 Vgl. ebd., S. 106-108. – Zu Winds Begriff der Metaphysik vgl. bes. Bernhard Buschendorf: »›War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern‹. Edgar Wind und Aby Warburg«, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4 (1985), S. 165209, hier S. 173; ders.: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 283-285; siehe auch John Michael Krois: Körperbilder und Bildschemata. Aufsätze zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 32f.
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auf Argumente von Peirce zurückgreift, die er nach dem Abschluss seines Promotionsverfahrens in den USA kennenlernt,27 zum anderen auf Überlegungen von Warburg, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit diesem als Mitarbeiter an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek diskutiert. In beiden Fällen stehen Begriffe im Mittelpunkt, die Wind in seiner Dissertation in einem eher unspezifischen und beiläufigen Sinn verwendet hatte: Neben dem Begriff der ›Verkörperung‹ ist dies der des ›Symbols‹. Zwar hatte Wind sich bereits in seiner noch streng neukantianisch inspirierten Dissertation insofern von Kant gelöst, als sich der gesuchte ›Sinn‹ der künstlerischen Sprache für Wind nicht – wie Panofsky es zu diesem Zeitpunkt noch (vergeblich) nachweisen will – bereits aus der Analyse der ganz elementaren formalen Ebene der Bildgestaltung ergibt, wo er sich als ihr »immanenter Sinn« zeigen soll.28 Der Sinn der Kunst erschließt sich in Winds erkenntnistheoretischem Modell vielmehr erst, wenn neben der formalen Gestaltung zweitens auch das, was das Werk darstellt, und drittens die »Lebensäußerung«, die in dem, was dargestellt ist, zum ›Ausdruck‹ kommt, berücksichtigt wird.29 Damit kommen aber – in Abwendung von
27 Neben den Forschungen von B. Buschendorf und J. M. Krois vgl. hierzu kürzlich Tullio Viola: »›Ein geistvoller Amerikaner‹. The Relevance of Charles S. Peirce to Debates on the Iconological Method«, in: Sabine Marienberg/Jürgen Trabant (Hg.), Bildakt at the Warburg Institute, Berlin 2014 (Actus et Imago 12), S. 117-136, hier S. 117-120; siehe auch Sascha Freyberg: »Peirce in Germany: A Long Time Coming«, in: European Journal of Pragmatism and American Philosophy 6/1 (2014), S. 28-33, S. 29f. 28 Erwin Panofsky: »Der Begriff des Kunstwollens«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), S. 321-339, hier S. 332 u.ö. – Zum Status dieser These und ihrem Verhältnis zu der später von Panofsky entwickelten Ikonologie vgl. Karlheinz Lüdeking: »Panofskys Umweg zur Ikonographie«, in: Josef Früchtl/Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, Hamburg 2007 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8), S. 201-224, hier S. 213; zum ›immanenten Sinn‹ der Kunst bei Panofsky vgl. ebd., S. 206 und S. 210-213. 29 Wind: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, S. 469 (»Lebensäußerung«), vgl. S. 473f. (›Ausdruck‹).
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Kantischen Vorgaben – historische und inhaltliche Aspekte ins Spiel.30 In dieser Dreiteilung Winds klingt so bereits jene kunst- und bildwissenschaftliche Arbeitsform an, die gemeinhin vor allem mit dem Namen Panofskys verbunden ist: die von diesem seit 1930 betriebene ›Ikonographie‹ und ›Ikonologie‹, mit der er seine frühe, formalistisch und neukantianisch geprägte Weise der Kunstreflexion hinter sich lässt.31 Diese Abwendung von Kant treibt Wind im Kontext seiner Habilitation aber noch weiter voran: Der Kantianismus sucht die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in der Beschaffenheit des Geistes und geht davon aus, dass die sinngebenden Prinzipien der Erfahrung durch Erfahrung nicht widerlegt werden können. Wind stellt nun der Kantischen ›reinen‹ Vernunft die ›verkörperte Vernunft‹ entgegen, die ihre Ideen direkt anschaubar macht.32 Unter dem Einfluss des Pragmatismus von Peirce gelangt Wind nämlich zuerst zu der grundlegenden Einsicht, dass Gedanken einen Anspruch auf Geltung bzw. Realität nur dann erheben können, wenn sie sich verkörpern, also in eine von ihnen selbst unterschiedene Sphäre überführen und auf die-
30 Vgl. auch Walter Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930, mit einem Nachwort von Ernst Wolfgang Huber, Mittenwald 1981, S. 36. 31 Panofsky legt 1930 mit Herkules am Scheideweg seine erste ikonographische Arbeit vor. 1932 erscheint dann Panofskys Studie »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«; jetzt in Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1985, S. 85-97. Dieser Aufsatz wird in seiner erweiterten Fassung, die Panofsky seinem Sammelband Studies in Iconology (New York 1939) als Einleitung vorangestellt und dann wieder in Meaning in the Visual Arts (Garden City 1957) veröffentlicht hat, als programmatische methodische Grundlegung der Ikonographie und Ikonologie rezipiert. 32 Siehe auch Bernadette Collenberg-Plotnikov: »›Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.‹ Zur Bestimmung des Verhältnisses von Sehen und Wissen bei Edgar Wind«, in: Nikolaj Plotnikov (Hg.), Kunst als Sprache – Sprachen der Kunst. Russische Ästhetik und Kunsttheorie der 1920er Jahre in der europäischen Diskussion, Hamburg 2014 (Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), S. 92-110.
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se Weise an der Realität erproben lassen.33 Mit ›Verkörperung‹ ist nun also die grundlegende Annahme gemeint, dass Wirklichkeit sich immer, auch als geistige Wirklichkeit, in einem Akt oder einer Wirkung zeigt, d.h. sinnlich erfahrbar sein muss.34 Hatte Wind in seiner Dissertation noch die Irrationalität und den Subjektivismus der ästhetischen Einstellung an die Objektivität der Kunstwissenschaft zurückbinden wollen, verwirft er jetzt das positivistische Vertrauen auf die Selbstaussprache der Phänomene ebenso wie den Rationalismus. Stattdessen geht er nun im Sinne des Pragmatismus davon aus, dass nur das im vollen Sinn wirklich und wahr ist, was als Einheit von Anschauung und Denken verstanden werden kann. Im Anschluss an Warburg und in Modifikation der Thesen, die Cassirer in diesen Jahren entwickelt, spricht Wind hier auch von ›Symbolen‹.35 In den Naturwissenschaften – Winds Beispiel ist hier insbesondere die moderne Physik – ist so das ›experimentum crucis‹ die Instanz, mit der für die Tätigkeit des Naturwissenschaftlers diese Einheit von Anschauung und Denken erreicht wird, indem hier eine physikalische Theorie, also Gedachtes, im Medium der Sinnlichkeit bestätigt oder umgestoßen wird. So erklärt Wind selbst rückblickend: »My thesis was that symbols are ›real‹ only to the extent in which they can be embodied in an experimentum crucis whose outcome is directly observable«.36
33 Vgl. Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 279. 34 Vgl. Krois: Körperbilder und Bildschemata, S. 32. 35 Vgl. hierzu bes. Edgar Wind: »Einleitung« zu ›Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike‹, in: ders., Das Experiment und die Metaphysik, S. 235-253; ders.: »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik«, in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.-9. Oktober 1930. Bericht, hg. im Auftrage des Ortsausschusses von Hermann Noack, Stuttgart 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beilageheft zu Bd. 25), S. 163-179. 36 Ders.: »Microcosm & Memory«, in: The Times Literary Supplement, 30. Mai 1958, S. 297. In Absetzung von der Position Cassirers heißt es hier weiter: »[…] – in his [d.h. Cassirers; B. C.-P.] view a deplorable lapse into ›empiricism.‹« Entsprechend hält Wind in Das Experiment und die Metaphysik den Unterschied zwischen seiner eigenen Position und der Kants bzw. des Kantianismus fest: »In Kants Aufbau der Erfahrung hat das Experiment überhaupt keinen logischen
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Allerdings reklamiert Wind diese Fähigkeit zur ›Verwirklichung‹ als Kriterium der Realität nicht nur für die Naturwissenschaften, wo sich im experimentellen Gebrauch von Instrumenten die Naturgesetze verkörpern und somit erkennbar werden.37 Vielmehr macht er sie ebenso für die Kulturwissenschaften und alle »selbstgesetzliche[n] Gebilde unseres Geistes, weit über das theoretische Gebiet hinaus« geltend – so nicht zuletzt auch für die Kunst. Wind wendet sich damit gegen Diltheys Versuch, den Geisteswissenschaften ihre Eigenständigkeit durch die Zuweisung einer bestimmten Denkmethode – des ›Verstehens‹ – zu sichern. Auch etwa eine künstlerische Konzeption wird nämlich erst dadurch real, dass sie sich im Kunstwerk »verkörpert und in dieser Verkörperung ihre ästhetische Geltung bewahrt. Sonst bleibt sie ein bloßes Phantasiegebilde, das sich der Gefahr des Fehlschlags nicht aussetzt und dadurch die Gelegenheit zur Objektivierung verscherzt. Auch eine ethische Forderung oder ein soziales Gesetz sind utopische Gedanken, solange sie sich nicht in Handlungen (Individual- oder Kollektivhandlungen) verkörpern und in den Verwicklungen, zu denen sie als Handlungen führen, ihren Sinn beizubehalten vermö38
gen.«
Ort. Genau an derjenigen Stelle, an der für den Forscher die Erprobung eines Gedankens durch Experimente einsetzt, steht bei Kant die ›Realität der Empfindung‹, die die kategoriale Formung niemals erproben, sondern immer nur erdulden kann« (ders.: Das Experiment und die Metaphysik, S. 66). – Cassirer bleibt demgegenüber skeptisch, ob wir auf dem Weg des experimentum crucis etwas über das von ihm so genannte ›freie Denken‹ aussagen können. In einer persönlichen Äußerung nennt er Wind daher einen ›geläuterten Empiristen‹, worauf Wind mit dem eingangs angeführten Zitat anspielt (vgl. Bernhard Buschendorf: »Auf dem Weg nach England. Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg«, in: Michael Diers [Hg.], Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute, Hamburg 1993, S. 85-128, hier S. 89; ders.: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, bes. S. 276-278). 37 Vgl. Krois: Körperbilder und Bildschemata, S. 33. 38 Wind: Das Experiment und die Metaphysik, S. 108. – Vgl. Buschendorf: »›War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern‹«, S. 172f.
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Die Verkörperung bleibt den Ideen also nicht äußerlich, sondern sie müssen sich in ihr bewähren.39 Diese Gemeinsamkeit von Natur- und Humanwissenschaften beruht darauf, dass Winds Auffassung nach alle Wissenschaften ein und demselben Prinzip entspringen, das er als das Prinzip der ›inneren Grenzsetzung‹ bezeichnet. Es handelt sich dabei um die »methodologische Konsequenz aus der Tatsache, daß wir selbst Teil der Welt sind und daher unser Wissen über die Welt grundsätzlich nur durch Mittel erlangen können, die sie selbst uns liefert«.40 Aus diesem Prinzip ergibt sich daher ein Zirkel der Erkenntnis: »Ein Historiker, der seine Dokumente befragt, um über einen politischen Vorgang Aufschluß zu erhalten, kann diese Dokumente nur sinngerecht auslegen, wenn er sich über ihre Stellung innerhalb des Vorgangs klar ist, über den er sie gerade befragen wollte. Ebenso wird auch ein Kunsthistoriker, der aus einem gegebenen Werk etwas über die Entwicklung seines Urhebers schließen will, unversehens zum Stilkritiker, der die Zugehörigkeit dieses Werks zum Œuvre des betreffenden Meisters prüft; wobei er die Erkenntnis von dessen Entwicklung, die er gerade erforschen 41
wollte, voraussetzen muß.«
Dies hätte auch Dilthey wohl nicht anders gesehen. Im Unterschied zu Dilthey betrifft der Zirkel der Erkenntnis Winds Auffassung nach aber nicht nur die Human-, sondern auch die Naturwissenschaften: »Alle Kenntnis physikalischer Gesetze gründet sich auf die Ergebnisse der physikalischen Messung. Physikalische Messungen sind aber als physikalische Vorgänge den Gesetzen, die sie erschließen sollen, selbst unterworfen. Daher kann der Physiker die Exaktheit eines Experiments nicht anders prüfen und begründen, als indem er 42
die Gesetze, die in ihm erprobt werden sollen, bereits als bekannt voraussetzt.«
39 Vgl. Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 313. 40 Ebd., S. 279f. 41 Edgar Wind: »Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte« (1936), in: ders., Das Experiment und die Metaphysik, S. 254-269, hier S. 256. 42 Ders.: Das Experiment und die Metaphysik, S. 70.
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Die Forschungsmittel werden damit als Teil des Gegenstands erkannt, den sie erforschen sollen.43 Dieses »Umschlagen der Erkenntnisrichtung vom eigentlichen Gegenstand der Forschung auf die Forschungsmittel und die damit verbundene Vorwegnahme dessen, was man eigentlich erst ergründen wollte«,44 ist aber, so Wind, kein vitiöser, sondern ein »methodischer Zyklus, der sich selbst reguliert«.45 Hier wird die rein logische Sphäre nämlich dadurch gesprengt, dass in das kreisschlüssige Verfahren ein Akt der Verkörperung eingeschaltet wird. Dies ist aber nicht nur logisch unbedenklich, sondern für eine authentische Erschließung der Welt sogar unabdingbar.46 Denn als endliche Wesen verfügen wir eben über keine unendlichen, also auch über keine völlig reinen Formen des Zugangs zur Welt. In diesem Zirkel der Erkenntnis rufen sich der Akt des Deutens oder Schließens und der Akt der Verkörperung beständig gegenseitig hervor und treiben so die sukzessive Erschließung der Welt voran.47 Instrumente in der Natur und Dokumente in der Geschichte haben somit eine doppelte Stellung: Sie sind Teile der natürlichen bzw. der historischen Welt und sie geben zugleich darüber Aufschluss.48 Natur- und Kulturwissenschaften funktionieren damit gleichermaßen auf der Basis einer Kooperation mit der Welt: zum einen in Gestalt von Experimenten, zum anderen in Gestalt von Dokumenten. Im Unterschied zu den Experimenten der Naturwissenschaftler werden die Dokumente von den Kulturwissen-
43 Vgl. ebd., S. 216. 44 Wind: »Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte«, S. 256. 45 Ders.: Das Experiment und die Metaphysik, S. 100. 46 Vgl. Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 281f. – Diesen Gedanken greift dann auch Panofsky auf. Vgl. Panofsky: »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«, S. 96: Werkzeug und Objekt bewähren sich an- und durcheinander (wie Seiltänzer und Balancierstange). 47 Vgl. Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 282. Buschendorf erläutert hier weiter: »Im wissenschaftlichen Prozedere sind der logische Akt des Deutens oder Schließens und der meta-logische Akt der Verkörperung gewissermaßen ineinander verschachtelt, so daß sie einander permanent ablösen oder ineinander umschlagen« (ebd.). 48 Vgl. Krois: Körperbilder und Bildschemata, S. 36.
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schaftlern aber nicht hervorgebracht, sondern lediglich ausgewählt. Im Bereich der Kultur wird die Anverwandlung der Welt also nicht erst durch das verstehende Handeln des Forschers geleistet, sondern dieses Handeln greift bereits auf Manifestationen solcher Anverwandlungen zurück. Insofern kann man sagen, dass die Forschungsleistung, die in den Naturwissenschaften nur vom Wissenschaftler erbracht wird, im Bereich der Kultur bereits von den Produzenten der Kulturgegenstände erbracht wird. Dementsprechend kann Wind eben auch das naturwissenschaftliche Experiment und das Kunstwerk strukturell parallel als Antworten auf ein Problem, »dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist«,49 charakterisieren. Kunstwerke sind demnach – ebenso wie jede andere kulturelle Manifestation – als Verkörperungen Mittel und Gegenstände der Forschung zugleich. In der Arbeit der Kulturwissenschaftler wird lediglich das in den kulturellen Verkörperungen manifestierte implizite Wissen explizit gemacht. Diese Arbeit der Kulturwissenschaftler ist allerdings keineswegs überflüssig. Indem nämlich die Dokumente der Kultur als Verkörperungen Teil der Welt sind und mit dieser in vielfältigsten Verbindungen stehen, sind sie immer in dem gleichen Maß unbekannt, in dem das mit ihnen zusammenhängende Weltganze unbekannt ist. Kulturgegenstände sind daher, wie Wind bereits im Zusammenhang mit seiner Dissertation mit Blick auf die Kunst festgestellt hatte, stets mehrdeutig. Allerdings ergibt sich diese Mehrdeutigkeit nun eben nicht mehr aus primär formalistischen Erwägungen, sondern aus der Einbindung des Kunstwerks in vielfältige kulturelle, nicht nur künstlerische, Bereiche. Die Pole, zwischen denen die künstlerische Gestaltung einen Ausgleich leistet, sind daher nun auch nicht mehr formaler, sondern inhaltlicher Art: Mit Warburg sieht Wind das Kunstwerk nun im Spannungsfeld von Rationalität und Irrationalität. Dabei wird im jeweiligen Kunstwerk aber eben kein Ausgleich zwischen den Polen erreicht, sondern beide Pole bleiben, wenngleich mit unterschiedlicher Akzentuierung, stets als solche erhalten; die Synthese bleibt labil. Ebenso wie aus diesem Grund etwa im Zusammenhang der Kunst die Künstler mit ihrer forschenden Verkörperungsarbeit die Auseinandersetzung mit der Welt immer weiter vorantreiben, müssen auch die Kunstwissenschaftler ihre Deutungsarbeit durch eine fortschreitende Kontextualisierung des Kunstwerks immer weiter fortsetzen. Kunstwissenschaft ist da-
49 Siehe oben Anm. 11.
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her, so Wind wiederum mit Warburg, immer prinzipiell interdisziplinär konzipierte Kulturwissenschaft. Die Überzeugung von der Mehrdeutigkeit des Kulturgegenstands aufgrund seiner Einbindung in Kontexte liegt grundsätzlich auf der Linie einer Hermeneutik im Diltheyschen Verständnis. Interessant ist allerdings, dass Wind im Sinne seiner Verkörperungsthese die gleiche Mehrdeutigkeit nun auch hinsichtlich der Gegenstände der Naturwissenschaften notiert: »Völlige Isoliertheit des Gegenstandes macht eigentliche Erkenntnis unmöglich – Jede Wissenschaft bezieht aber ihre Instrumente in die Erforschung der Objekte ein. Aber diese Instrumente [sind] selbst auch nicht genau bekannt. […] Das führt zur 50
einer ›Ausgefranstheit‹ der Natur […].«
Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft wäre also festzuhalten, dass Wind das Kunstwerk nun im Prinzip als Forschung bzw. als Mittel der Forschung bestimmt: Kunst ist Forschung, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Verkörperung versteht. Dabei wird im Kunstwerk nun nicht mehr nur allgemein erforscht, was die Kunst ist bzw. sein kann, wie Wind dies auf der Stufe seiner Dissertation nahegelegt hatte. Vielmehr bezieht die Forschungsleistung des Kunstwerks sich nun auch auf die Welt, deren Teil es ist und mit der es in vielfältigen Beziehungen steht. Dies verbindet das Kunstwerk aber grundsätzlich mit allen anderen Kulturgegenständen. Die Frage, was es für die Kunst bedeutet, wenn sie als Forschung verstanden wird, und wie sie sich unter dieser Maßgabe verändert, wird also auch hier noch nicht beantwortet. Dazu äußert sich Wind vielmehr in seinen späteren Schriften, besonders in den 1960 von der BBC gesendeten Vorträgen, die später unter dem Titel Kunst und Anarchie publiziert werden.
50 Edgar Wind: Grundbegriffe der Geschichte und Kulturphilosophie (1932/33), unveröffentl. Vorlesungsmanuskript, Wind-Archiv (Oxford) Nr. I,2, ii, S. 6; zit. nach Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung«, S. 286f.
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III. W IE VERÄNDERT SICH K UNST , F ORSCHUNG VERSTEHT ?
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WENN MAN SIE ALS
Winds Bestimmung von Kunst und Wissenschaft in Kunst und Anarchie (1960/68) Dass eine explizite Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft überhaupt nötig ist, hält Wind für einen weiteren Beleg der Triftigkeit von Hegels berühmter These vom ›Ende der Kunst‹. Denn ins Zentrum des Lebens tritt nun anstelle der Kunst, die bis dahin der kulturellen Gemeinschaft ihre Handlungsorientierungen vorgegeben hatte, die Wissenschaft: »An den Rand des Lebens gerückt«, wird die Kunst, so Wind mit Hegel, nun zwar »weit, wunderbar und gestaltenreich«. Aber im Mittelpunkt des Lebens steht jetzt »die Wissenschaft«, »der rastlose Geist vernünftigen Fragens«.51 Ihren Ausdruck findet diese Marginalisierung der Kunst in der Herausbildung der Extreme eines ›L’art pour l’art‹, das sich im reinen Spiel der Formen ergeht, auf der einen Seite, und einer abstrakt räsonierenden didaktischen Kunst auf der anderen Seite, gipfelnd im ›Art engagé‹. Die immanente Spannung, die nach Wind und Warburg das Charakteristikum der Kunst ausmacht, geht dabei verloren. Den Grund für diese Entkoppelung von Kunst und Wissen, die auf die Spannungslosigkeit und konsequenterweise auf die Marginalisierung der Kunst hinausläuft, sieht Wind nun in einem zentralen Merkmal der modernen Wissenschaft, nämlich ihrer Unanschaulichkeit. Waren die Künstler der Renaissance, aber auch noch George Stubbs mit seinen Tierbildern, der als Dozent für Anatomie am Krankenhaus von York mehrere wissenschaftliche Werke veröffentlichte, und Constable, »der seine Wolkenbilder mit meteorologischen Anmerkungen versah«,52 noch so vollständig auf der wissenschaftlichen Höhe ihrer Zeit, dass sie allgemein als Künstler und
51 Edgar Wind: Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960, durchgesehene Ausgabe mit den Zusätzen von 1968 und späteren Ergänzungen, Frankfurt a.M. 1994 (zuerst engl. unter dem Titel Art and Anarchy, London 1963), S. 19. 52 Ebd., S. 64.
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Wissenschaftler gleichermaßen angesehen werden konnten, ist dies in der Gegenwart nicht mehr der Fall. Allerdings wäre es für Wind ein Kurzschluss, zu meinen, Kunst und Wissenschaft müssten heute notwendigerweise getrennte Wege gehen. Und noch kurzschlüssiger wäre es nach Winds Ansicht, zu meinen, dies sollte auch so sein. Es ist nämlich, so Wind, ein ›naives Vorurteil‹, zu meinen, »Phantasie und Präzision paßten nicht zusammen«:53 Wo Kunst und Wissenschaft sich entkoppeln, wird nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Kunst selbst unanschaulich, indem sie – im Sinne der Verkörperungsthese – keinen Denkzusammenhang mehr anschaulich vergegenwärtigt. Kunst als Forschung zu verstehen heißt aber, wenn man Winds Verkörperungstheorie ernst nimmt, eben nicht, dass Kunst sich explizit oder auch implizit auf wissenschaftliche Verfahren, Thesen und Prinzipien beziehen müsste. Und noch viel weniger heißt es, das »Bild« zum »Argument« zu machen, ebenso wie umgekehrt auch »das schönste Argument noch kein gutes Bild« ergibt.54 Es heißt vielmehr, dass, wie Wind dies bereits in seiner Dissertation notiert hatte, im Denken ein »Problem gesetzt« ist, »dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist«.55 Sinnliches und Geistiges muss als ein Strukturzusammenhang erfahren werden können, in dem eine Seite die andere erläutert. Künstlerische Forschung muss daher immer darauf abzielen, beide Aspekte, Anschauliches und Geistiges, in einen Zusammenhang zu bringen, der als Verkörperung einer Idee zu überzeugen vermag und sich im Sinne der Einbindung des Werks in seine Welt ergiebig ausdeuten lässt. Auf diesem Weg könnte die Kunst, so Wind, dann auch in der Gegenwart eine Stellung einnehmen, die Hegel ihr nicht mehr zutrauen mochte.56 Nun wird man allerdings im Sinne der Verkörperungstheorie sagen müssen, dass nicht nur die Kunst, sondern alle kulturellen Gegenstände grundsätzlich einen solchen Zusammenhang von Geistigem und Sinnlichem bilden. Deswegen ist noch einmal die Frage zu stellen, was es für die Kunst bedeutet, wenn man sie als Forschung versteht und wie sie sich unter dieser Maßgabe verändert. Diese Frage stellt sich heute, angesichts der viel-
53 Ebd. 54 Ebd., S. 59. 55 Siehe oben Anm. 11. 56 Ebd., S. 22.
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beschworenen ›Bilderflut‹, womöglich mit größerer Dringlichkeit als zu Winds Zeiten. Die Kunst ist nämlich derjenige Bereich in der Kultur, wo die beiden Pole der Kultur, wie Wind sie mit Warburg identifiziert hatte, also Rationales und Irrationales, nicht nur in einem prekären Gleichgewicht gehalten werden, sondern wo diese Spannung auch als solche zu Bewusstsein kommt. Das heißt: Die Reflexivität, die bei Bildern wie bei allen anderen Kulturgegenständen erst durch den kulturwissenschaftlichen Zugang als solche thematisch wird,57 ist in der Kunst immer schon als Imperativ an die Rezeption enthalten. Kunst ist, wie man in Anlehnung an Hegels Bestimmung der Kunst als Form des absoluten Geistes sagen könnte, nicht nur, wie das Bild, eine Form des Wissens, sondern eine Weise, sich über diese Wissensform zu verständigen. Insofern kann man auch sagen, dass die Kunst sich grundsätzlich nicht verändert, wenn man sie als Forschung versteht, weil sie überhaupt nur unter der Voraussetzung, dass man sie als Forschung, also als Reflexionsform, versteht, Kunst ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Kunst nämlich, wie Wind notiert, ein »Spiel der Einbildungskraft«, das uns »zu gleicher Zeit bindet und löst, uns gefangen nimmt im Dargestellten und es doch nur als ästhetischen Schein darstellt«. Und nur dank ihrer reflexiven Brechung hält sich die Kunst im »Bereich dieser Vieldeutigkeit und Spannung«, und nur »solange sie ihr doppeltes Gesicht bewahrt, bleibt sie, was sie ist«. Hierin besteht ihre unverzichtbare kulturelle Bedeutung – wissen wir doch, so Wind, »sehr genau: wenn die phantastischen Bilder auf uns einzuwirken beginnen, treiben wir haltlos ins offene Meer«.58
57 Vgl. hierzu kürzlich Sascha Freyberg/Katharina Blühm: »Bildakt Demystified. Remarks on Philosophical Iconology and Empirical Aesthetics«, in: Sabine Marienberg/Jürgen Trabant (Hg.), Bildakt at the Warburg Institute, Berlin 2014 (Actus et Imago 12), S. 51-68. 58 Wind: Kunst und Anarchie, S. 30f.
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L ITERATUR Bredekamp, Horst/Buschendorf, Bernhard/Hartung, Freia/Krois, John Michael (Hg.), Edgar Wind (1900-1971). Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998. Buschendorf, Bernhard: »Einige Motive im Denken Edgar Winds« [Nachwort], in: Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, übers. von Christa Münstermann unter Mitarbeit von Bernhard Buschendorf und Gisela Heinrichs, mit einem Nachwort von B. Buschendorf, Frankfurt a.M. 41987 (11981), S. 396-415. –: »›War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern‹. Edgar Wind und Aby Warburg«, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4 (1985), S. 165-209. –: »Enthusiasmus und Erinnerung in der Kunsttheorie Edgar Winds«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 21993 (11991), S. 319-334. –: »Auf dem Weg nach England. Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg«, in: Michael Diers (Hg.), Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute, Hamburg 1993, S. 85-128. –: »Zur Begründung der Kulturwissenschaft. Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind«, in: Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois (Hg.), Edgar Wind (1900-1971). Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, S. 227-248. –: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung und seine methodologische Bedeutung für die Kulturwissenschaften« [Nachwort], in: Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik (1930), hg. und mit einem Nachwort versehen von B. Buschendorf, eingeleitet von Brigitte Falkenburg, Frankfurt a.M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934), S. 270-326. Collenberg-Plotnikov, Bernadette: »›Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.‹ Zur Bestimmung des Verhältnisses von Sehen und Wissen bei Edgar Wind«, in: Nikolaj Plotnikov (Hg.), Kunst als Sprache – Sprachen der Kunst. Russische Ästhetik und Kunsttheorie der 1920er Jahre in der europäischen Diskussion, Hamburg 2014 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 12), S. 92-110.
F ORSCHUNG
ALS
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Freyberg, Sascha: »Peirce in Germany: A Long Time Coming«, in: European Journal of Pragmatism and American Philosophy 6/1 (2014), S. 28-33. –/Blühm, Katharina: »Bildakt Demystified. Remarks on Philosophical Iconology and Empirical Aesthetics«, in: Sabine Marienberg/Jürgen Trabant (Hg.), Bildakt at the Warburg Institute, Berlin 2014 (Actus et Imago 12), S. 51-68. Krois, John Michael: Körperbilder und Bildschemata. Aufsätze zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011. Lüdeking, Karlheinz: »Panofskys Umweg zur Ikonographie«, in: Josef Früchtl/ Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, Hamburg 2007 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8), S. 201-224. Panofsky, Erwin: »Der Begriff des Kunstwollens«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), S. 321-339. –: »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« (1932), in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1985, S. 85-97. Passarge, Walter: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930, mit einem Nachwort von Ernst Wolfgang Huber, Mittenwald 1981. Viola, Tullio: »›Ein geistvoller Amerikaner‹. The Relevance of Charles S. Peirce to Debates on the Iconological Method«, in: Sabine Marienberg/ Jürgen Trabant (Hg.), Bildakt at the Warburg Institute, Berlin 2014 (Actus et Imago 12), S. 117-136. Wind, Edgar: »Theory of Art versus Aesthetics«, in: The Philosophical Review 34 (1925), S. 350-359. –: »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), S. 438-486. –: »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik«, in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.-9. Oktober 1930. Bericht, hg. im Auftrage des Ortsausschusses von Hermann Noack, Stuttgart 1931 (Zeitschrift
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für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beilageheft zu Bd. 25), S. 163-179. »Microcosm & Memory«, in: The Times Literary Supplement, 30. Mai 1958, S. 297. Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960, durchgesehene Ausgabe mit den Zusätzen von 1968 und späteren Ergänzungen, Frankfurt a.M. 1994 (zuerst engl. unter dem Titel Art and Anarchy. London 1963). Das Experiment und die Metaphysik (1930), hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Buschendorf, eingeleitet von Brigitte Falkenburg, Frankfurt a.M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934). »Einleitung« zu ›Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike‹, in: ders., Das Experiment und die Metaphysik, S. 235-253. »Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte« (1936), in: ders., Das Experiment und die Metaphysik, S. 254269. Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [phil. Diss. Hamburg 1922], hg. von Pablo Schneider, Hamburg 2011.
A Pervert’s Guide to Artistic Research C ORNELIA S OLLFRANK
Über das Verhältnis von Kunst, Forschung und Wissen kann man nicht sprechen, ohne anzuerkennen, dass der unmittelbare Anlass dafür hochschulpolitische Entwicklungen sind, in denen es weniger darum geht, Grundlagenforschung zu ermöglichen oder Freiräume für neue Formen der Wissensproduktion zu schaffen, als vielmehr administrativ vorgegebene Formate und Standards flächendeckend einzuführen – auch für die Kunst. Der inflationär verwendete Begriff ›künstlerische Forschung‹ ist stellvertretend für diese Entwicklung und insofern bezeichnend, als es weiterhin umstritten ist, wofür er inhaltlich genau steht bzw. stehen sollte. Ob es sich um eine Erweiterung künstlerischer Praxis oder wissenschaftlicher Kategorisierung handeln soll oder um eine neu zu bestimmende Kategorie jenseits oder zwischen Kunst und Wissenschaft, darum kreisen die Diskussionen. Ich verwende den Begriff ›künstlerische Forschung‹ in dieser Unbestimmtheit und betrachte diese als Freiraum, einige grundlegende Überlegungen anzustellen. Die Position, von der aus ich spreche, zeichnet sich dadurch aus, dass ich mich dem Thema nicht rein theoretisch nähere, sondern auf dem Hintergrund einer über zehnjährigen künstlerischen Praxis, gefolgt von einer fünfjährigen institutionellen künstlerischen Forschung an einer britischen Universität. Mit dem Phänomen der institutionalisierten künstlerischen Forschung wurde ich zum ersten Mal 2001 konfrontiert, als ich mich als Artist-inResidence an der University of Dundee in Schottland aufhielt. Das Art College der Universität hatte mir angeboten, im Rahmen eines europäischen Austauschprogrammes für einige Monate dort zu arbeiten. Mein Arbeits-
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platz war im Visual Research Centre angesiedelt, und ich teilte mir einen großen Arbeitsraum mit den damals dort arbeitenden PhD-Forscher_innen, allesamt Künstler_innen und Designer_innen. Durch den täglichen Umgang miteinander lernte ich sie und ihre Arbeitsweisen kennen und stellte fest, dass wir viele Gemeinsamkeiten besaßen, nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch was Arbeitsweisen betrifft. Allerdings waren mir die Leichtigkeit, mit der ihnen Begriffe wie ›Research‹ und ›Methodology‹ über die Lippen gingen, sehr fremd. Nach sechsjährigem Kunststudium – zuerst an einer konservativen Akademie und später an einer Kunsthochschule – verstand ich mich ganz eindeutig als Künstlerin, nicht als Forscherin. An dem, was man in Großbritannien meint, wenn man im Kontext künstlerischer Forschung von ›Methodology‹ spricht, sollte ich mich später noch viele Jahre abarbeiten. Als ich aus Dundee abreiste, hatte ich neue Freunde gefunden und Kolleg_innen, mit denen ich bis heute in beruflicher Verbindung stehe und auch teilweise zusammenarbeite. Darüber hinaus hatte ich eine Einladung bekommen, zurückzukommen, um selbst ein PhD zu machen – was mir allerdings lange sehr suspekt blieb. Aber meine Neugier war geweckt. Schließlich brauchte es noch etliche Besuche und Gespräche, bis es endlich so weit war: Fünf Jahre später wurde ich offiziell PhD researcher an einer britischen Universität, ohne Bachelor und ohne Master, mit einem Diplom der Hamburger Kunsthochschule. Weitere fünf Jahre später wurde ich zum Dr. phil. promoviert, um kurz darauf eine Stelle als Lecturer und Researcher an der Uni anzutreten. Mein Werdegang vom Studium der Malerei an einer deutschen Kunstakademie bis hin zur Mitgliedschaft in der Forschungsevaluierungskommission einer britischen Universität ist der Erfahrungshintergrund, vor dem ich meine Überlegungen anstelle. Die Realität der künstlerischen Forschung an britischen Universitäten wird dabei eine besondere Rolle spielen. Aufgrund der inzwischen fast 20-jährigen Praxis des practice-based PhD in Großbritannien hat sich dort eine gewisse Routine etabliert und damit auch ein Format, das kaum noch in Frage gestellt wird. Obwohl ich tagtäglich mit den praktischen Problemen der künstlerischen Forschung konfrontiert war, gab es kaum noch Gelegenheiten, diese gemeinsam zu reflektieren oder zu diskutieren. Diese Diskussion findet nun sehr engagiert in vielen europäischen Ländern statt, die sich aktiv um die Einführung eines sinn-
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vollen Modells der künstlerischen Forschung bemühen.1 Das Symposium »Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?« lieferte einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion, und ich freue mich, in diesem Rahmen einige meiner Erfahrungen teilen zu können. Und, um es vorwegzunehmen, ich bin durch die harte Schule gegangen, habe den Abgründen des bürokratischen Wahnsinns ins Auge geblickt und auch ein tieferes Verständnis davon bekommen, was Artistic Research besser nicht sein sollte. Umso mehr bemühe ich mich darum, den Möglichkeitsraum zu verteidigen, den das formalisierte Zusammentreffen von Kunst und Forschung eröffnen kann. Den Anforderungen der BolognaReform sowie den dahinter stehenden Interessen kritisch gegenüberzustehen, ist unerlässlich. Diese kritische Haltung rechtfertigt aber nicht blinden Konservativismus oder Verweigerung gegenüber der Weiterentwicklung des institutionellen Rahmens von Kunst, Lehre und Forschung. Nur eine kritische und konstruktive Diskussion der Fragestellungen der künstlerischen Forschung kann diese Weiterentwicklung gewährleisten.
K ATEGORIEN
UND IHRE
G RENZEN
Grundsätzlich kann man zwei Kontexte unterscheiden, in denen die Debatte um Kunst und Forschung stattfindet: einmal den hochschulpolitischen, bei dem Kunst und Forschung hauptsächlich im Hinblick auf die Struktur des Studiums, die Abschlüsse und ihre europäische Vergleichbarkeit diskutiert
1
Zu den Standard-Werken im deutschsprachigen Raum gehören inzwischen Jens Badura u.a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015; Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin, 22012; Isabell Graw (Hg.): Texte zur Kunst 82: Artistic Research (2011). Im englischsprachigen/internationalen Kontext bieten die Webseiten und Publikationen der verschiedenen offiziellen Netzwerke einen guten Überblick über die Diskussion: SHARE (Step-Change for Higher Arts and Research Education), Mick Wilson/Schelte van Ruiten (Hg.): SHARE Handbook for Artistic Research Education (2013); Society for Artistic Reseach (Hg.): jar – journal for artistic research, http://www.societyforartisticresearch.org/society-for-artisticresearch/ (abgerufen am 23.03.2016).
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werden. Zum anderen gibt es eine kunsttheoretisch-philosophische Debatte, in der grundsätzlicher untersucht wird, wie ein wissenschaftlich geprägter Forschungsbegriff auf Kunst angewendet werden kann bzw. wie ein solcher Forschungsbegriff den Bedingungen des Kunstfeldes angepasst und seinen Bedürfnissen dienlich gemacht werden kann. Oder, wenn der Forschungsbegriff nicht an die Kunst angepasst wird, wie sich die Kunst der aus der Wissenschaft stammenden Normen unterordnet – was wohl die große Angst der Gegner der künstlerischen Forschung ist. Die Frage, die als Klammer für die Tagung an der Universität der Künste im Januar 2015 diente, nämlich »Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?«, scheint in jedem Fall davon auszugehen, dass das Aufeinandertreffen der beiden eigentlich getrennt gedachten Kategorien erst einmal die Kunst verändert, sonst müsste man im gleichen Atemzug fragen: »Wie verändert sich Forschung, wenn man sie als Kunst versteht oder künstlerisch anwendet?« Beiden Fragen zugrunde liegt die Annahme der grundsätzlichen Trennung beider Bereiche sowie die einer Hierarchisierung. Die jeweils dominantere unterwirft die andere ihrer Logik. Bei der Bezeichnung eines solchen Verhältnisses drückt sich die Dominanz in der jeweiligen grammatikalischen Beziehung der Begriffe zueinander aus: Handelt es sich um eine forschende Kunst, die eine Kunst ist, zu deren Arbeitsmethoden das Forschen gehört, oder handelt es sich um eine künstlerische Forschung (artistic research), d.h. eine Forschung, die sich auch oder ausschließlich künstlerischer Methoden bedient? Durch die Begriffswahl wird also das Spektrum bereits eingegrenzt. Die Skepsis gegenüber dem Begriff künstlerische Forschung begründet sich zum Teil genau darin, dass er Kunst als ein Attribut einer gewissen Art der Forschung bezeichnet und damit kunstfremden Logiken und Interessen unterzuordnen scheint. Wie wäre es also mit der Bezeichnung Kunst und Forschung? Die Verwendung der Konjunktion und bedeutet, dass beides zutrifft und dass nicht zwangsläufig eine Hierarchie zwischen den beiden Kategorien entsteht, diese aber in eine inhaltliche Beziehung zueinander gesetzt werden. Was allerdings nicht bezeichnet wird, ist die Art der Beziehung – und das stellt doch genau die Schwierigkeit dar. Diese Vagheit lässt erst einmal Platz für weitere Überlegungen. Im Problem der Bezeichnung sind bereits alle wichtigen Fragen angelegt, nämlich ob die Aktivitäten, die man bezeichnen will, einer der beiden Kategorien zugeschlagen werden können – selbst wenn es sich um eine Er-
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weiterung ihres jeweiligen traditionellen Verständnisses handeln würde – oder ob man diese Kategorien gänzlich hinter sich lassen muss, um etwas anderes, Neues möglich zu machen. Einige Stimmen der Diskussion um Kunst und Forschung schlagen vor, sich nicht an dem Versuch abzuarbeiten, beide Bereiche näher zu bestimmen, um auf diese Weise theoretisch mögliche Verhältnisse herauszuarbeiten. So hatten sich z.B. die Mitarbeiter_innen des Forschungsprojektes »Troubling Research«2, das vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds finanziert und an der Akademie der bildenden Künste angesiedelt war, vorgenommen, »bequeme Kategorisierungen zu verunsichern«3. Ihrer Meinung nach sei es höchst problematisch, von einer klaren Trennung auszugehen; anstatt Wissensformationen und deren Zustandekommen kritisch zu befragen, fiele man durch die Setzung von Kunst und Wissenschaft als getrennten Kategorien weit hinter bereits errungene Erweiterungen beider Bereiche zurück. Ihrer Frage, ob nicht genau an den aufgeweichten Rändern dieser Kategorien die eigentlich interessanten Praxen angesiedelt sind, kann ich mich nur anschließen. Das Projekt »Troubling Research«, das von Künstler_innen und Wissenschaftler_innen gemeinsam durchgeführt wurde, diente als eine Art Thinktank für ein neu zu etablierendes ›PhD in practice‹ an der Wiener Akademie, einer Akademie mit Universitätsstatus, die bis vor drei Jahren die Promotion den wissenschaftlichen Disziplinen vorbehalten hatte. Die Tendenz von »Troubling Research« war es, den Forderungen der Bologna-Reform kritisch zu begegnen, wissenschaftliche Standards nicht unreflektiert für die Kunst zu übernehmen und trotzdem ein neues akademisches Format zu schaffen, allerdings eines, das Künstler_innen möglichst viel Freiraum lässt, die ihnen eigenen Arbeitsmethoden in die Forschung einzubringen und damit eine neue Art von Forschung zu etablieren. Die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojektes sind in einer Publikation zusammengefasst, und auf der Website des Projektes kann man den Forschungsprozess verfolgen. Die Wiener Akademie zeigt Mut zum Experiment und gibt seit 2011 auch Künstler_innen die Möglichkeit zur Promotion.
2
Online-Dokumentation des Projektes »Troubling Research«: http://troublingresearch. net/ (abgerufen am 12.12.2015).
3
Johanna Schaffer: Interviews. What Is It That Makes Research in the Arts so Different, so appealing?, Wien 2011, S. 73.
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K ÜNSTLER _ INNEN FORSCHEN H OCHSCHULZUSAMMENHANG
IM
Dass Künstler_innen schon immer auch geforscht haben und dass Forschungsmethoden auf vielfältige Weise am Zustandekommen von Kunstwerken beteiligt sein können, ist wohl unbestritten. Man denke hier an Recherche-basierte und interdisziplinäre Arbeitsweisen – oder Praxen, die kritischen Diskurs als ihnen zugehörig verstehen und mit betreiben. Stichwort: ›discursive turn‹ in konzeptuellen und post-konzeptuellen Praxen. Andere verwandte Ansätze stellen den Aspekt von Kunst in den Vordergrund, Wissen zu produzieren oder Wissen zu vermitteln. Wieder andere fokussieren sich auf den Prozess oder auf relationale Aspekte. Derlei Ansätze, wie sie etwa von Künstler_innen wie Critical Art Ensemble, UltraRed, Chto Delat, Art & Language, Hans Haacke, Andrea Fraser verfolgt werden, um nur einige wenige zeitgenössische Beispiele zu nennen, könnte man als kunstimmanente Entwicklung in Richtung Forschung betrachten. Diese Tendenz ist nicht mein Thema. Zum einen wurde sie andernorts bereits ausreichend diskutiert, und zum anderen möchte ich eine Unterscheidung treffen zwischen Forschung innerhalb der Kunst, Forschung, die am Zustandekommen eines Kunstwerks beteiligt ist (also einem Forschen für die Kunstproduktion) und dem institutionell angebundenen Forschen von Künstler_innen. Aktuell besonders umstritten ist dabei die Einführung des Doktorats für Künstler_innen und die damit verbundene Berechtigung, auf Mittel der Forschungsförderung zuzugreifen. Für diese hochschulpolitische Debatte ist auch der Status der jeweiligen Institution relevant. Grundsätzlich haben Kunstausbildungseinrichtungen mit Universitätsstatus die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob sie diese höchste Stufe der universitären Ausbildung auch für Künstler_innen zugänglich machen. Einrichtungen ohne Universitätsstatus können dies aber auch in Zusammenarbeit mit einer Universität anbieten. Wie dieses universitäre Forschen von Künstler_innen in der Praxis aussehen kann, möchte ich nun an einem Beispiel erläutern, dem Beispiel Großbritannien. Die Vor- und Nachteile dieses Modells bzw. auf welche Art es die Kategorien Kunst und Wissenschaft miteinander verbindet, werden im Anschluss diskutiert. In Großbritannien wurde in den 1990er Jahren eine Umstrukturierung der Hochschullandschaft durchgeführt, die zur Folge hatte, dass sich die
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Studentenzahlen verdoppeln konnten, bei gleichzeitig geringer werdenden Mitteln (Vermassung, schlechtere Betreuung einerseits und Etablierung von Elite- bzw. Exzellenzeinrichtungen andererseits). Zu dieser Entwicklung gehörte auch, dass die Kunsthochschulen entweder in bestehende Universitäten integriert wurden oder den gleichen Status wie Universitäten erhielten. Stichwort: »Equal player in the academic world«. Der (vielleicht vermeintliche) Vorteil dieser Entwicklung bestand darin, dass die Kunsthochschulen nun auch berechtigt waren, Forschungsmittel zu beantragen, wobei die Forschungsförderung hauptsächlich von Einrichtungen betrieben wird, die wissenschaftliche Vorgaben zugrunde legen. Im Bereich der Geisteswissenschaft und der Kunst ist es das Arts and Humanities Research Council (AHRC, vergleichbar etwa der Deutschen Forschungsgemeinschaft, nur dass die DFG künstlerische Forschung gerade nicht fördert – und dies meines Wissens auch nicht vorhat). Ein weiteres wesentliches Förderinstrument ist das Research Excellence Framework (REF), das nicht wie das AHRC auf der Grundlage von Anträgen Mittel vergibt, sondern perspektivisch für fünf Jahre auf der Grundlage bereits erbrachter Forschungsleistungen Hochschulbudgets aufstockt. Die dafür erforderliche Evaluierung muss von den Hochschulen nach genau festgelegten Richtlinien erbracht werden. Wie diese für die Kunst aussehen, werde ich im späteren Verlauf noch zeigen. Während diese Entwicklung für die Kunst eine Gleichberechtigung im Sinne einer Berechtigung zur Antragstellung bedeutet, ist der praktische Nachteil dieses Modells, dass die Kunst mit wissenschaftlichen Disziplinen in direkte Konkurrenz tritt. Da die Förderkriterien aber von wissenschaftlichen Arbeitsweisen ausgehen, befindet sich die Kunst in diesem Modell ganz klar im Nachteil.4 Durch die Einführung des practice-based PhD und den damit verbundenen Zugang zu Forschungsmitteln ist der Begriff ›Research‹ (also Forschung) in Großbritannien seit fast zwanzig Jahren ein geläufiger Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch von Künstler_innen. Die Jagd nach Forschungsmitteln wurde ein selbstverständlicher Teil jeder akademischen Tä-
4
Ein Modell, das spezifische Förderung künstlerischer Forschung ermöglicht und dabei den Wettbewerb mit anderen Disziplinen vermeidet, ist das in Norwegen praktizierte Norwegian Artistic Research Programme, dessen Forschungsmittel ausschließlich Künstler_innen vorbehalten sind. Nähere Informationen sind auf der Website nachzulesen: http://artistic-research.no (abgerufen am 12.12.2015).
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tigkeit und bestimmt weitgehend akademische Karrieren wie Verlängerung von Beschäftigungsverträgen, Beförderung und Menge der zu erbringenden Lehrtätigkeit (mehr Forschungsförderung bedeutet weniger Lehrverpflichtung). Das insgesamt höhere Prestige, das mit der Forschungstätigkeit verbunden ist, führte tendenziell auch zu einer Vernachlässigung von Lehre – und das bei gleichzeitig steigenden Studiengebühren. Anstatt Forschung sinnvoll in Lehre einzubinden, führte das in der Praxis oft zu einem Ausspielen von Forschung gegen Lehre und dem Zwang zur Priorisierung bei den einzelnen Hochschulmitarbeiter_innen. Das gilt in der Kunst ebenso wie in den meisten anderen Disziplinen. Bei einer Verteilung der Verpflichtungen von 50 Prozent Forschungstätigkeit und 50 Prozent Lehre bestand die Forschungstätigkeit in meinem Fall vorwiegend nicht etwa in der Realisierung von Kunstprojekten, sondern im Erarbeiten von Anträgen, Erstellen von Evaluierungen und Peer-to-peer-Reviews sowie der Mitarbeit in diversen Forschungsgremien etc. Im Hinblick auf die Fragestellung der Tagung ist bemerkenswert, dass die Künstler_innen, die Forschung betreiben, dies nach den Kriterien der jeweiligen Geldgeber tun müssen. Diese bestimmen, was im Bereich der Kunst als Forschung anerkannt wird, d.h. was gefördert wird, wie die Projekte durchzuführen sind, was als Ergebnis (Output) akzeptiert wird und wie hoch es im Rahmen der Evaluierung eingestuft wird. Um es kurz zusammenzufassen, hier die drei goldenen Regeln der Forschung, die mehr oder weniger bei allen akademisch orientierten Fördereinrichtungen in Großbritannien ähnlich sind: »(1) It [the research application] must define a series of research questions, issues or problems that will be addressed in the course of the research. It must also define its aims and objectives in terms of seeking to enhance knowledge and understanding relating to the questions, issues or problems to be addressed. (2) It must specify a research context for the questions, issues or problems to be addressed. You must specify why it is important that these particular questions, issues or problems should be addressed; what other research is being or has been conducted in this area; and what particular contribution this project will make to the advancement of creativity, insights, knowledge and understanding in this area; what constitutes the ›original contribution to knowledge‹? The knowledge produced must be transferable and communicable.
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(3) It must specify the research methods for addressing and answering the research questions, issues or problems. You must state how, in the course of the research project, you will seek to answer the questions, address the issues or solve the problems. You should also explain the rationale for your chosen research methods and why you think they provide the most appropriate means 5
by which to address the research questions, issues or problems.«
Im Wesentlichen geht es also darum, eine Fragestellung zu erarbeiten, die Grundlage der Forschung ist, den Kontext und die Relevanz der Forschung im Vergleich darzustellen sowie die Forschungsmethoden anzugeben, die zur Anwendung kommen. Ein zentrales Konstrukt der gesamten Forschungsförderpolitik ist dabei der Begriff Wissen (»original contribution to knowledge«), der vollkommen unhinterfragt postuliert und verwendet wird.6 (Ohne genauere Kenntnis davon zu haben, gehe ich davon aus, dass die Richtlinien bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ganz ähnliche sind und Wissenschaftler_innen mit diesem Verständnis von Wissen und Forschung durchaus vertraut sind.) Interessant im Hinblick auf die Diskussion zur künstlerischen Forschung ist, dass die oben dargestellten Vorgaben genauso für die Kunst übernommen wurden. Dabei wird aber zugestanden, dass (künstlerische) Praxis als Teil der Forschung verstanden werden kann. Das ist so formuliert: »[…] practice can be undertaken, as an integral part of a research process as defined above. The Council would expect, however, this practice to be accompanied by some form of documentation of the research process, as well as some form of textual analysis or explanation to support its position and as a record of your critical reflection. Equally, creativity or practice may involve no such process at all, in which case
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Auszug aus dem AHRC Funding Guide, der eine detaillierte Auflistung aller Förderrichtlinien enthält: http://www.ahrc.ac.uk/documents/guides/researchfunding-guide/ (abgerufen am 12.12.2015).
6
Wie kontingent und wenig objektiv Wissenformen sind und inwiefern ihnen eine Rolle als Machtinstrument zukommt, ist zentraler Gegenstand der Arbeit von Michel Foucault, z.B. in Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973 (frz. 1969).
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it would be ineligible for funding from the Arts and Humanities Research Council.« (AHRC Research Funding Guide)
Im Hinblick auf die möglichen Forschungsergebnisse kommt das Council den Künstler_innen entgegen, wenn es schreibt: »The outputs of the research may include, for example, monographs, editions or articles; electronic data, including sound or images; performances, films or broadcasts; or exhibitions.« (AHRC Research Funding Guide)
Künstlerische Arbeiten und Ausstellungen können also als Teil des Forschungsergebnisses gezählt werden, wenn sie durch entsprechende schriftliche Ausführungen ausreichend kontextualisiert werden. Die Erläuterung der Forschungsfrage sowie die Darstellung der Methode – von der künstlerische Praxis ein Teil sein kann – sowie die Darstellung der Ergebnisse bedürfen in jedem Fall der Verschriftlichung. Die Künstler_innen, die diese Forschung durchführen, wechseln also zwischen dem Modus, Künstler zu sein und künstlerische Arbeiten zu produzieren, und dem Modus, eine kritisch-analytische Distanz zum eigenen Schaffen einzunehmen und in schriftlicher Form zu präsentieren. Ganz klar in diesem Modell ist, dass Kunstmachen allein keinesfalls als Forschung gelten kann, selbst wenn Künstler_innen Forschungsmethoden für ihre Kunst oder als Kunst anwenden, seien dies nun speziell künstlerische oder aus der Wissenschaft übernommene. Zur erfolgreichen Forschung gehört zwingend, dass ›neues Wissen‹ entsteht, und die Art von Wissen, die hier entstehen soll, muss übertragbar (transferable) und kommunizierbar (communicable) sein. Offensichtlich wird davon ausgegangen, dass Kunst per se nicht diese Art von Wissen darstellt, obwohl eingestanden wird, dass es der Kunst inhärent sein kann. Um als Forschung zu gelten, muss es allerdings durch Versprachlichung explizit gemacht werden. Dem Streit darum, ob Kunst selbst eine Form von Wissen ist oder Wissen verkörpert, z.B. im Sinne von tacit oder situative knowledge, wird damit ein eindeutiges Ende gesetzt. Dieses ›andere Wissen‹ der Kunst mag vielleicht eine Form von Wissen sein, aber keine, die der Wissensformation angehört, die Förderinstitutionen für unterstützenswert halten. Um es noch einmal zusammenzufassen: Kunst jeder Form und jeden Inhalts kann als Teil von Forschung gelten, aber nur im Zusammenspiel mit
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schriftlicher Darstellung, Erläuterung von Methode und Ergebnis und theoretischer Kontextualisierung.
K ÜNSTLERISCH FORSCHEN F ORSCHUNG EVALUIEREN
UND KÜNSTLERISCHE
Nachdem ich die Rahmenbedingungen dargestellt habe, möchte ich nun anhand meines eigenen PhD und meiner Tätigkeit in der Evaluierungskommission konkrete Beispiele anführen. Mein PhD hatte den Titel »Performing the Paradoxes of Intellectual Property. A practice-led Investigation into the Conflicting Relationship between Copyright and Art« (2012). Im Rahmen dieser Forschungsarbeit benutzte ich künstlerische Arbeiten, aber auch andere Forschungsmethoden wie empirische Methoden und auch Literaturstudien, um der Frage nachzugehen, wie Urheberrecht derzeit künstlerische Freiheit einschränkt. Teil der Forschung war es, künstlerische Arbeiten zu realisieren, aber ich bettete diese Arbeiten ein in einen ästhetischen und rechtshistorischen Kontext sowie aktuelle Entwicklungen wie die veränderte Rolle des Urheberrechts in der Wissensgesellschaft. Die schriftliche Dissertation hatte drei Kapitel: 1) Generating Conflict 2) Cause of the Conflict: the Legal Framework 3) Performing the Paradoxes Im ersten Kapitel wird näher untersucht, welche künstlerischen Praktiken mit dem Urheberrecht in Konflikt geraten und in welchem kunsthistorischen und kunsttheoretischen Zusammenhang sie zu sehen sind. Das zweite Kapitel beschäftigt sich intensiv mit den juristischen Grundlagen des Konflikts und beleuchtet einerseits die historische Verstrickung von Urheberrecht und Ästhetik, andererseits aber auch die veränderte Rolle des Urheberrechts in der Wissensgesellschaft. Im dritten Kapitel wird dargestellt, wie die künstlerischen Arbeiten des Projektes This is not by me die Paradoxien des geistigen Eigentums untersuchen und performen. Den Anstoß zu diesem Projekt gab eine persönliche Zensurerfahrung aufgrund angeblicher Urheberrechtsverletzung.
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Abb. 1: Screenshot aus dem Video »copyright © cornelia sollfrank 2004«. Die Künstlerin präsentiert ihre selbst verfasste juristische Expertise zu den anonymous_warhol-flowers.
Bei den diversen Ausstellungen, bei denen diese künstlerischen Arbeiten gezeigt wurden, traten sie nicht als Forschung in Erscheinung, sondern funktionierten als herkömmliche Kunstwerke. Ihr Zustandekommen verdankten sie zum Teil aber recherchebasierten Methoden. Im Rahmen des dritten Kapitels werden die Arbeiten dann ausführlich beschrieben und erörtert. Schwierigkeit und Freiheit der künstlerischen Forschung besteht darin, eine eigene Forschungsmethode zu entwickeln und zu beschreiben. Bei der Beschreibung meiner Methode, die ebenfalls im dritten Kapitel stattfindet, wird deutlich, wie ich die Verbindung herstelle zwischen Fragestellungen und Ergebnissen. Die von mir vorgestellte Methode nenne ich unter Bezugnahme auf Brad Haseman ›performative research‹.7 Es ist eine Weiterführung seines Ansatzes und kombiniert das Konzept von ›practice-led research‹, wie es von Carole Gray definiert wurde, mit Judith Butlers Konzept von Performativität und der von Julie Stone Peters konzeptualisierten
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Brad Haseman: »A Manifesto for Performative Research«, in: Media International Australia Incorporating Culture and Policy 118 (2006), S. 98-106.
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Theatralität von Gesetz.8 Grundlage meines Ansatzes war es, den Konflikt zwischen Kunst und Urheberrecht nicht nur theoretisch zu untersuchen, sondern die zugrundeliegenden unauflösbaren Paradoxien des Konzeptes des geistigen Eigentums auch im Kunstraum aufzuführen (performative copyright infringement). Im Rahmen der künstlerischen Forschung kann in Praxisdisziplinen eine klassische Doktorarbeit ersetzt werden durch einen Werkkomplex, der begleitet wird von ›written evidence‹, also einer Darstellung des Kontexts, der Fragestellung, der Methode und der Ergebnisse. Wie umfangreich und tiefgreifend diese Darstellung sein sollte, wie eine Gewichtung zwischen Theorie und Praxis vorgenommen werden soll, wie Theorie und Praxis sinnvoll verknüpft werden sollten und nach welchen Qualitätskriterien eine Bewertung stattfindet, das liegt im Ermessen der jeweiligen Institution, der Betreuer, der Gutachter und Prüfer. Die Tendenz geht dahin, sowohl was Umfang als auch was Methoden anbelangt, sich sehr in Richtung Wissenschaft zu neigen, um sich damit möglichst gegen Kritik abzusichern. Oftmals ist in den Statuten der Hochschulen und Universitäten mehr Freiraum angelegt als in der Praxis genutzt wird. Das zumindest entspricht meiner Beobachtung und Erfahrung. Die Richtlinien werden von den jeweiligen Betreuern in konkrete Ratschläge und Vorgaben übersetzt. Insofern spielen die Betreuer oft keine geringe Rolle bei der Verengung der tatsächlichen Möglichkeiten – sei es aus Mangel an Fachkompetenz, sei es aus Mangel an Experimentierfreude. Folgende Universitätsrichtlinie macht deutlich, wie groß der Spielraum eigentlich ist: »In architecture, design, fine art or media art a substantial body of investigative visual output in an appropriate medium supported by written evidence which clearly identifies the innovative nature of the research work undertaken may be substituted for a thesis.« (University of Dundee, Code of Practice)
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Carole Gray: »Inquiry through practice: developing appropriate research strategies«, in: No Guru, No Method? Discussions on Art and Design Research, University of Art & Design (UIAH), Helsinki 1996; Judith Butler: Gender Trouble, New York/London 1990; dies.: Bodies that matter: on the discursive limits of »sex«, New York/London 1993; Julie Stone Peters: »Performing the Law: Theatricality, Antitheatricality, and Legal History« (2009), www.law.harvard.edu/ faculty/facultyworkshops/performing-the-law.pdf (abgerufen am 01.06.2011).
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Während im Rahmen eines künstlerischen PhD also noch relativ viele Freiheiten bestehen, verändert sich der Begriff von künstlerischer Forschung für Mitarbeiter einer Universität oder Hochschule noch einmal drastisch. Entsprechend der prozentualen Aufteilung ihrer Arbeitszeit in Forschung und Lehre sind sie verpflichtet, eine gewisse Anzahl von Forschungsergebnissen, sogenannten ›Outputs‹, im Rahmen der alle fünf Jahre stattfindenden REF-Evaluierung aufzuführen. Die Outputs werden in einem hochschulinternen Peer-review-Verfahren in vier Qualitätsstufen eingeteilt. Hat ein Mitarbeiter nicht genügend oder zu schlecht bewertete Outputs, wirkt sich das negativ auf die Zuweisung seiner Forschungszeit aus. Für die Evaluierung gibt es ein standardisiertes Formular, in dem die Art des Outputs sowie Titel und Autor benannt werden. Im wissenschaftlichen Kontext besteht der Output in der Regel in Zeitschriftenartikeln (journal articles), Beiträgen zu Sammelbänden oder eigenen Buchpublikationen. In der künstlerischen Forschung wird die Liste der möglichen Outputs ergänzt durch Ausstellungsbeteiligungen und Einzelausstellungen.9 Entgegen vielfältigen kulturtheoretischen Versuchen, Autorschaft im vernetzten Zeitalter neu zu denken, ist für die Forschungsevaluierung Autorschaft von herausragender Bedeutung. Grundsätzlich wird individuelle Autorschaft höher eingestuft als Mitautorschaft. In einem vorgegebenen Umfang von 300 Wörtern wird dann das Projekt beschrieben. Wichtig bei der Darstellung sind Forschungsgehalt, Originalität, Relevanz und Stringenz. Das Prinzip, den Wert eines Forschungsergebnisses von der Reputation der Fachzeitschrift oder des Verlages abhängig zu machen, in der ein Artikel oder ein Buch erschienen ist, wird bei der künstlerischen Forschung übertragen auf das Prestige einer Galerie oder eines Ausstellungshauses. Bei der Quantifizierung der künstlerischen Forschung zusätzlich behilflich sein sollen auch Angaben über die Anzahl der Exponate sowie das Budget, das für eine Ausstellung bzw. die darin gezeigten Exponate zur Verfügung steht. Weiterhin werden hochschulinterne und -externe Kollaborationen sowie als ein sehr schwerwiegendes Kriterium der Impact abgefragt, den ein Forschungsergebnis
9
Grundsätzlich kann als Output nur gelten, was veröffentlicht wurde oder in Form einer Ausstellung z.B. öffentlich gezeigt wurde. Das heißt: Kunstwerke, die zwar realisiert, aber nicht im Rahmen einer Ausstellung gezeigt wurden, gelten nicht als Forschungsergebnis.
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nachweisen kann. Mit Impact gemeint ist die Wirkung oder der Effekt, den eine Forschung hat, einmal innerhalb der akademischen Gemeinschaft, aber auch für die Gesellschaft allgemein. Für den Nachweis von Impact können wiederum numerische Angaben herangezogen werden, etwa Verkaufs- oder Besucherzahlen, aber auch Bezugnahmen in Form von Besprechungen und Zitaten, Einladungen zu Vorträgen und anderen Veranstaltungen oder aus der Forschung resultierende neue Kollaborationen, weiterführende Forschungsmittel sowie Preise und Anerkennungen. Hat man einmal ein eigenes Kunstprojekt anhand dieser Quantifizierungsmaßgaben durchgearbeitet, werden zwei Dinge deutlich: Viele Aspekte, die abgefragt werden, sind selbstverständlich in den meisten Kunstprojekten angelegt, bleiben aber meist implizit. Darüber hinaus sind Künstler_innen inzwischen durchaus damit vertraut, ihre Vorhaben zu beschreiben, zu begründen, zu budgetieren, abzurechnen und die Ergebnisse darzustellen. Das ist gängige Praxis bei jeder Art von Kunstförderung. Was im Rahmen der Evaluierung von Kunst als Forschung passiert, ist, dass das, was öffentliche Kunstförderung und das Regime der Kreativindustrie der Kunst längst aufgezwungen haben, nur weiter zugespitzt wird. Das ist sicher nicht begrüßenswert, ganz abgesehen davon, ob es sinnvoll ist, aber es ist auch in seiner Qualität nicht schockierend neu. Die Frage, die sich stellt, ist vielmehr, ob sich innerhalb dieses Systems der wuchernden Bürokratie tatsächlich noch neue und interessante Arbeitsmöglichkeiten für Künstler_innen ergeben können, ob tatsächlich mit neuen Formen der Wissensproduktion experimentiert werden kann.
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Was in den gezeigten Beispielen deutlich wird, ist, dass der Kunst zwar durch die ästhetische Erfahrung, die sie bewirkt, eine gewisse Fähigkeit zuerkannt wird, Erkenntnis zu befördern, diese aber als individuell, lokal, einzigartig, partikulär und nicht im Sinne von objektiver Wissenschaft als verallgemeinerbar gilt: ›knowledge of the singular‹. Auch wird die »ästhetische Eigenständigkeit«10 der Kunst nicht in Frage gestellt. Vielmehr wird
10 Elke Bippus: »Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung«, in: Texte zur Kunst 82 (2011), S. 98-107.
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dem spezifischen Wissen, das durch Kunst entsteht, nicht die gleiche Wertigkeit zugestanden wie dem durch herkömmliche wissenschaftliche Methoden erlangten Wissen. Die Methoden der künstlerischen Forschung können also durchaus die der Kunst eigenen sein und bleiben, aber es wird an einer Hegemonie der Sprache festgehalten, an dem Glauben an eine rationalistische Transparenz, die durch einen zusätzlichen reflektierenden Text erzielt wird. Dieser Text hat somit die Funktion, das emergente und subjektive Wissen der Kunst zu erschließen, kommunizierbar und in gewisser Weise auch bewertbar oder messbar zu machen. Damit wird eine eindeutige Hierarchisierung zwischen Kunst und Wissenschaft festgeschrieben. Für Aufregung sorgt im Kontext der künstlerischen Forschung aber nicht die Tatsache, dass Kunst beschrieben, erläutert, kontextualisiert und theoretisiert wird, sondern dass dies nun nicht mehr den Kunstwissenschaftler_innen und Kunsthistoriker_innen vorbehalten ist. Mag in dieser Grenzüberschreitung vielleicht auch ein Grund dafür liegen, warum viele kritische Positionen zur künstlerischen Forschung sich bemüßigt fühlen, die Kunst vor der Wissenschaft zu schützen? Meinen sie vielleicht nicht ebenso sehr, dass man ihre jeweilige wissenschaftliche Disziplin vor den Künstler_innen schützen müsse? Einen souveränen Vorschlag macht die Künstlerin und Philosophin Anke Haarmann, wenn sie – statt um künstlerische Eigenständigkeit zu bangen oder ein überholtes Wissenschaftsverständnis anzuprangern – Kunst als neue Wissenschaft entwirft.11 Sie verortet die Diskussion um künstlerische Forschung in einer allgemeinen Transformation der Wissensordnung, wie sie, historisch betrachtet, immer wieder stattgefunden hat. Als Indizien einer stattfindenden Transformation nennt sie die stete Diversifizierung der Methoden der Wissensproduktion in der Folge der philosophischen Wahrheitskritik sowie die Dominanz audiovisueller Kultur, die die besondere Kompetenz der Kunst, Welt zu erklären, geradezu herausfordere.12 Dazu komme zum einen, dass Kunst längst reflexiv geworden sei und daher in der Lage sei, sich selbst zu erklären; zum anderen bekomme sie durch die derzeitige Hochschulpolitik einen konkreten Ort im Feld der Wissenschaften zugeordnet. In diesem Sinn Kunst als forschende Wissensproduzentin
11 Anke Haarmann: »Transformation der Wissensordnung«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015, S. 99-103. 12 Ebd., S. 100.
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zu denken, befreit sie aus der Rolle der ›ewig anderen‹, unverstanden und erklärungsbedürftig, und stellt sie und die ihr eigenen Parameter des Erkennens gleichberechtigt neben andere Wissenschaften. Es geht also in der Diskussion um die künstlerische Forschung nicht nur um die Kunst und wie sich diese verändert, wenn man sie als Forschung versteht, sondern um viel mehr. »Es geht um das Verhältnis der Menschen zur Welt und wer darüber mitbestimmen darf, was wahr und was falsch ist.«13
L ITERATUR Badura, Jens u.a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015. Bippus, Elke: »Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung«, in: Texte zur Kunst 82 (2011), S. 98-107. Busch, Kathrin: »Wissensbildung in den Künsten – eine philosophische Träumerei«, in: Texte zur Kunst 82 (2011), S. 70-80. Butler, Judith: Gender Trouble, New York/London 1990. –: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of »sex«, New York/London 1993. Dertnig, Carola/Diederichsen, Diedrich/Holert, Tom u.a. (Hg.): Troubling Research. Performing Knowledge in the Arts, Berlin 2014. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973. Gray, Carole: »Inquiry through practice: developing appropriate research strategies«, in: No Guru, No Method? Discussions on Art and Design Research, University of Art & Design (UIAH), Helsinki 1996. Haarmann, Anke: »Transformation der Wissensordnung«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015, S. 99-103. Haseman, Brad: »A Manifesto for Performative Research«, in: Media International Australia Incorporating Culture and Policy 118 (2006), S. 98-106. Partridge, Stephen: »Frascati, excellence, practice and the drift towards orthodoxy«, https://www.academia.edu/2237601/Frascati_excellence_ practice_and_the_drift_towards_orthodoxy (abgerufen am 12.12.2015).
13 Ebd.
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Peters, Julie Stone: »Performing the Law: Theatricality, Antitheatricality, and Legal History« (2009), www.law.harvard.edu/faculty/facultyworkshops/ performing-the-law.pdf (abgerufen am 01.06.2011). Schaffer, Johanna: Interviews. What Is It That Makes Research in the Arts so Different, so appealing?, Wien 2011.
Poiesis und künstlerische Forschung J UDITH S IEGMUND
Betrachtet man die Diskussionen des Forschungsbegriffs in den letzten Jahren im Kontext deutschsprachiger Kunsttheorie, so fällt sofort ins Auge, dass es selten einen derart umstrittenen Begriff in der Ästhetischen Theorie gegeben hat wie den des ›künstlerischen Forschens‹.1 Und nicht nur das – auch in der Kunstpraxis wird die Behauptung eines ›Forschens‹ sowohl von einigen aus Überzeugung in den Dienst genommen als auch von anderen vehement abgelehnt. Eine Entscheidung für den einen richtigen Begriff des Forschens in der Kunst zwischen all den verschiedenen Diskussionen, die geführt werden, (oder gar eine Befriedung der Debatte) kann natürlich auch an dieser Stelle nicht geleistet werden. Ich möchte jedoch versuchen, eine bessere Variante, wie man im Rahmen ästhetischer Theoriebildung über Forschung nachdenken könnte, von einer – wie mir scheint – ungünstigeren Variante abzugrenzen. Dem, was ich hier als einen gedanklichen Versuch vorlegen möchte, liegt eine Vermutung zugrunde, nämlich die, dass sich im Rahmen einiger Theorieausformungen besser über den Forschungsbegriff der Kunst nachdenken lässt als im Rahmen anderer. Es kommt bei der Beantwortung der
1
Diesen Befund stützt auch ein kürzlich erschienenes Handbuch, in dem konträre Positionen zum Thema versammelt sind, die aus unterschiedlichen Debatten stammen. Vgl. Jens Badura/Selma Dubach/Anke Haarmann/Dieter Mersch/ Anton Rey/Christoph Schenker/Germán Toro Pérez (Hg.), Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015.
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Frage, ob sich solch ein Begriff überhaupt plausibel machen ließe, wesentlich auf das zugrundeliegende Theoriedesign an – so die Idee. Die folgenden Gedanken beschäftigen sich also mit der Vermutung, dass ein Forschungsbegriff der Kunst im Theoriedesign einer Theorie ästhetischer Rezeptionserfahrung nicht oder nur unter sehr spezifischen Prämissen denkbar wird, da sich eine Unbestimmbarkeit der Kunst (bzw. eine starke Lesart der Unabgeschlossenheit der Interpretation ihrer Werke) schwer mit Ansprüchen des Forschens vereinbaren lässt. Im Rahmen einer Poietik aber, einer Theorie der Poiesis als des menschlichen Machens oder auch Herstellens, wird die »Möglichkeit künstlerischer, zu Erkenntnis führender Forschung«2 leichter denkbar, dies nicht zuletzt deswegen, weil sich mit Hilfe einer solchen poietischen Theorie künstlerisches Forschen leichter als ein Tun der Künstler und Künstlerinnen erläutern lässt. Mein gedanklicher Entwurf schwankt zwischen dem Vorhaben, eine Theorie der künstlerischen Forschung innerhalb einer Produktionsästhetik zu entwerfen und dem Ansinnen, nur ›Fragen an die künstlerische Forschung aus der Sicht der Produktionsästhetik‹ zu stellen. Es handelt sich, so gesehen, noch um ein unfertiges Denken. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Erstens möchte ich etwas zur These der Unbestimmtheit ästhetischer Erfahrungen und künstlerischer Werke in Erfahrungstheorien der Kunst sagen, zweitens einige Gedanken zur Universalität eines zunächst allgemeinen, nicht nur künstlerischen Forschungsbegriffs vortragen, um drittens im Rahmen einer Poietik der Kunst über eine Zielhaftigkeit im künstlerischen Tun nachzudenken.
1. R EZEPTIONSÄSTHETIK DER ÄSTHETISCHEN E RFAHRUNG UND KÜNSTLERISCHE F ORSCHUNG Ich beginne mit einigen schematischen Bemerkungen über die Rezeptionstheorien der ästhetischen Erfahrung. Hervorheben möchte ich lediglich Aspekte an ihnen, ohne sie damit in Gänze zu würdigen oder gar zu erläutern. Im Sinne der eingangs formulierten Frage nach einer Platzierung des Forschungsbegriffs im Rahmen ästhetischer Theorie möchte ich zuerst etwas zur Distinktionsthese sagen. Die Distinktionsthese besagt, dass ästhetische
2
Otto Neumaier: »Poiesis, Praxis, Theorie«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 95-98, hier S. 95.
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Erfahrungen sowohl von einem Erwerb von Erkenntnissen als auch von moralisch begründeten Handlungsentscheidungen radikal geschieden sind. Das Neue oder das Eigene der Erfahrungsästhetik in ihrer Entstehung seit den 70er Jahren bestand darin, dass Kunst nunmehr ganz im Lichte von gegebenen Erfahrungen und deren Wirkungen auf die rezipierenden Subjekte beschrieben wurde, während man sich ihr zuvor eher in der Form von anderen Denkfiguren genähert hatte, z.B. in Form von Erläuterungen ihrer Werke, Fragen nach ihrer Herstellung, ihrer Gestalt oder ihrem Sinngehalt. Man fragte auch entsprechend den jeweils aktuellen Praxen der Künste nach ihren Einteilungen in Gattungen oder dachte nach über Phänomene wie Geschmack, Genie oder Talent. Die Distinktion des Ästhetischen im Rahmen einer Theorie der ästhetischen Erfahrung geht hingegen von einer Andersheit ästhetischer Urteile und Erfahrungen gegenüber allen anderen menschlichen Vollzügen aus und bezieht ihre Grundstruktur aus der Bestimmung des ästhetischen Urteils bei Kant. Kant sagt sinngemäß: Ein Mensch, der ein ästhetisches Urteil fällt, gelangt zu keiner abschließenden Erkenntnis oder kann keine moralisch begründete Handlungsentscheidung treffen, denn das Ästhetische ist gerade durch die Unendlichkeit und Unbestimmbarkeit seines Urteils charakterisiert. Es ist quasi das Gegenteil davon, sich festzulegen oder sich festlegen zu können. Erst in der Erfahrung bzw. in der Interpretation der Kunstwerke durch die Rezipienten werden die Qualitäten von so verstandenen Kunstwerken etabliert. In diesem Gedanken zeigt sich bereits, dass die Bedeutungsoffenheit, die Prozesshaftigkeit und Offenheit, die der Erfahrungsbegriffs intendiert, in einer Art Rückübertragung auch in die Bestimmung des Kunstwerks eingegangen ist. Nach dieser Lesart hat jedes Werk etwas konstitutiv Unabgeschlossenes – denn jede Interpretation arbeitet dessen Sinn in neuer Weise heraus.3 Kunstwerke sind im Rahmen der Erfahrungsästhetik also unbestimmte Gegenstände, ihr Sinn ergibt sich nicht aus dem Handeln der Künstlerinnen und Künstler, sondern erst in der jeweiligen Rezeption.4
3
Vgl. Daniel M. Feige: »Die Form künstlerischen Handelns. Eine Analyse aus dem Geiste ästhetischen Gelingens«, in: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung, Bielefeld 2015, S. 173-191.
4
Eine solche Unbestimmtheitsthese ließe sich allgemein für die Ergebnisse aller möglichen Handlungen aufstellen. Vgl. Robert Pippin: Kunst als Philosophie, Berlin 2012, z.B. S. 93. Vgl. auch Judith Siegmund: »Gedanken zu einer sozia-
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Würde man eine solche Unbestimmtheit und generelle Unabgeschlossenheit von Werken mit der Tätigkeit des künstlerischen Forschens zusammendenken wollen, so deutet sich, wie mir scheint, ein Widerspruch an: Forschungsergebnisse müssen (in irgendeiner Form) etwas Nichtbeliebiges vermitteln oder in einer bestimmten Weise anschlussfähig sein. Eine solche Nichtbeliebigkeit der Forschung ist mit einer generellen Bedeutungsoffenheit und Prozesshaftigkeit des Werks, seiner Unabgeschlossenheit, nur schwer zu vereinbaren. Gleichwohl gibt es Möglichkeiten, ästhetisch Erfahrenes und nichtästhetisch Vollzogenes in ein Verhältnis zu setzen, ohne den Rahmen der Erfahrungstheorien zu verlassen. Ich nenne als Beispiel hier die Transformationsthese, die von einer verändernden Kraft der Erfahrung ausgeht. Die Transformationsthese besagt, dass grundlegende Wahrnehmungsmuster und auch Denkweisen durch Kunst infrage gestellt werden können. Dies geschehe durch eine Art von Erschütterung oder Schwellenerfahrung vermittels der Rezeption von Kunst (oder anderer Dinge, die ästhetisch wahrgenommen werden).5 Hierbei finde eine Art von Wechselwirkung statt zwischen körperlichen Reaktionen auf das ästhetisch Erfahrene und den daraus folgenden anderweitigen Urteilen unter neuen bzw. veränderten somatischen, also körperlichen Bedingungen. Auf jeden Fall beruht die Transformationsthese auf der Annahme einer Veränderung der körperlichen Verfassung von Kunstrezipienten, und es bleibt unklar, wie eine solche Veränderung zur Tätigkeit des künstlerischen Forschens im Verhältnis steht. Eine wesentliche Pointe der Ästhetik der Performativität ist, dass »[f]ür Aufführungen gilt, daß der produzierende Künstler nicht von seinem Material abgelöst werden kann«.6 Dies würde es ermöglichen, sich einen Zusammenhang vorzustellen zwischen einem Forschungsinteresse der Schauspielerin und der Rezeption. Aber entgegen dem, was damit für die Schauspielerin und den Schauspieler geltend gemacht wird, zielen Theorien
len Handlungstheorie der Kunst«, in: Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung, Bielefeld 2015, S. 119-142. 5
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Fischer-Lichte entwickelt die hier ›Transformationsthese‹ genannte These über die Affizierung durch den Ereignischarakter ästhetischer Rezeption anhand der Analyse von Theateraufführungen.
6
Ebd., S. 129.
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der Kunstrezeption, die eher von den bildenden und literarischen Künsten inspiriert sind, auf eine Selbständigkeit des Kunstwerks gegenüber seiner Produzentin. Es ist nun ganz wesentlich, wie diese Selbständigkeit des Werks, wie dieser »Überschuss über Handlungsintentionen« gedacht ist.7 Solange in der Erfahrungsästhetik explizit von einer ›Abgelöstheit des Kunstwerks‹ von seinen Produzenten die Rede ist, fällt es doch schwer, von einem nichtbeliebigen Zusammenhang zwischen den Absichten oder auch Arbeitshypothesen einer forschenden Künstlerin, den präsentierten Ergebnissen ihrer Forschung und den Reaktionen, die diese auslösen, zu sprechen. Wollte man den Forschungsbegriff auf akzeptable Weise in das erfahrungstheoretische Setting einführen, also Forschung ästhetisch denken, so könnte eventuell ein Weg sein, nicht mehr von der generellen Unbestimmbarkeit von Kunstwerken oder Ereignissen künstlerischen Tuns zu sprechen, sondern alternativ von ihrer Mehrbedeutung. Die Rede von einem Bedeutungsüberschuss des Werks gegenüber seiner Interpretation dürfte dann nicht im Sinne eines ›Sich-Entziehens‹ bzw. einer generellen NichtVerstehbarkeit des Kunstwerks gedeutet werden, sondern im Sinne einer Mehrbedeutung als Pluralität möglicher Deutungen. Denn mehrdeutig können auch Forschungsergebnisse sein, jedoch ohne deshalb auch schon beliebig interpretierbar zu sein. Mehrdeutigkeit und Nichtbeliebigkeit lassen sich zusammen denken, auch wenn man genauer ausführen müsste, welche konkreten Wirkungen diese Vereinbarkeit hat und welche Formen sie annimmt. Zusammenfassend kann man sagen: In erfahrungstheoretischer Perspektive lässt sich der Forschungsgedanke nur glaubwürdig verteidigen, wenn eine Möglichkeit gegeben ist, eine Verschränkung von gestalteter Materialität (oder Situation) und deren Bedeutung anzunehmen; irgendetwas Nichtbeliebiges muss erkennbar werden. Die Mehrbedeutung des in bestimmter Weise Arrangierten dürfte sich dann jedoch lediglich in einem vorgegebenen Rahmen bewegen, um die Anschlussfähigkeit der Forschung sowie eine Nachvollziehbarkeit des Erforschten zu gewährleisten.8 Künstlerische Arbeiten müssten als Forschung für etwas stehen, das sich anhand
7
Vgl. Siegmund: »Gedanken zu einer sozialen Handlungstheorie der Kunst«, S. 120.
8
Vgl. auch das Zitat von Hans-Jörg Rheinberger unten bei Anm. 31.
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von Materialitäten bzw. Formierungen und Gestaltungen vermittelt. Eine ästhetische Theorie, die dagegen von einer absoluten Abgetrenntheit des Hergestellten von den Intentionen und Handlungen seiner Produzentinnen sowie der konstitutiven Unbestimmbarkeit des Hergestellten bzw. Gesammelten ausgeht, verunmöglicht einen sinnvollen Begriff des künstlerischen Forschens bzw. muss diesen logisch zurückweisen.
2. Z UM F ORSCHUNGSBEGRIFF
ALLGEMEIN
Im zweiten Abschnitt möchte ich einige Gedanken zum allgemeinen Begriff der Forschung vortragen, um dann zu fragen, ob sich ein künstlerischer Begriff der Forschung überhaupt von einem wissenschaftlichen Forschungsbegriff unterscheiden lässt. Ich möchte hierbei zeigen, dass Forschung immer in irgendeiner Weise ergebnisorientiert ist, und diesbezüglich annehmen, dass der Begriff der Forschung oder des Forschens kontraintuitiv verwendet wird, wenn man ihn als Erläuterung eines bestimmten schauspielerischen Handelns verwendet, in dem so getan wird, als ob geforscht würde. Unter Forschung wird im Allgemeinen eine Suche nach neuen Erkenntnissen verstanden, die in irgendeiner Form kollektiv betrieben wird. Das muss nicht Teamarbeit bedeuten, sondern meint, dass sich in jedem Fall andere Menschen auf die Ergebnisse der Forschung als etwas in ihr Gewonnenes beziehen. Es gibt also eine (wie auch immer gestaltete) Organisiertheit der Abläufe sowie eine Methodenreflexion. Forschung kann angewandte Forschung sein oder wird als Grundlagenforschung betrieben,9 sie ist einerseits eine freie Tätigkeit, die doch andererseits immer an Institutionen gebunden bleibt. Diese Gedankenkombination findet man z.B. bei Humboldt in der Idee der freien Lehre und Forschung an der Universität.10
9
Zitiert in Anlehnung an Gerhard Schweppenhäuser: »Kulturindustrie, Populismus und das Populäre. Der Forschungsbegriff in der Kritischen Theorie und in den Cultural Studies. Vortrag auf der Tagung der Gesellschaft für Designtheorie und -forschung in Mannheim 28. Januar 2005«, www.dgtf.de/pdownload/ 25/2_ Schweppenh.PDF (abgerufen am 12.08.2015).
10 Jürgen Mittelstraß: »Die philosophische Fakultät, der Forschungsbegriff und die Philosophie«, in: ders., Leibniz und Kant: Erkenntnistheoretische Studien, Berlin/Boston 2011, S. 272-278.
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Forschung ist auch an eine Legitimation und Verbreitung ihrer Ergebnisse gebunden, d.h. sie findet nicht statt, wenn jemand lediglich zu forschen meint. Die Idee der Anerkennung dessen, was erforscht wurde, durch andere Subjekte ist meines Erachtens konstitutiv für den Begriff, und die für die künstlerische Forschung interessante Frage ist hierbei: Was wird hier anerkannt durch die anderen? Forschungsergebnisse sind also (allgemein zusammengefasst) vergleichbar, nachprüfbar, mitteilbar und anschlussfähig an etabliertes Wissen. Darüber hinaus zeichnen sich die verschiedenen Wissenschaften durch verschiedene Forschungsmethoden aus. In den Naturwissenschaften sind es experimentelle Methoden und Versuchsanordnungen zur Überprüfung von Hypothesen; in den Sozialwissenschaften werden empirische Erhebungen gemacht, z.B. in Form von Umfragen oder Interviews, die dann wiederum nach konkreten Methoden ausgewertet werden. In den Geistes- und Kulturwissenschaften sind Philologie, Quellenkritik, Hermeneutik (also Textauslegung) und Diskursanalyse die Methoden.11 Gestalterische und künstlerische Forschung ist in diesem Sinne streng genommen weder eine Geisteswissenschaft noch eine Natur- oder Sozialwissenschaft. Ist künstlerisch-gestalterische Forschung trotzdem an Kriterien der Vergleichbarkeit, Nachprüfbarkeit und Mitteilbarkeit gebunden? In welchem Sinn lässt sich von einer Anschlussfähigkeit der Forschungsergebnisse sprechen? Ich denke, Ergebnisse künstlerischer bzw. gestalterischer Forschung entstehen – anders als in den Wissenschaften – aus dem direkten Umgang mit dem Material. Es geht (erkenntnistheoretisch gesprochen) darum, Materialien als Bedeutungsträger in einer historischen Kontextualisierung zu verstehen. Es geht in ihrer Bestimmung zugleich um die Erläuterung jeweiliger Materialbearbeitungen so wie um die Beschreibung von Tätigkeiten und Methoden, z.B. die Tätigkeit des Archivierens oder die des Experimentierens oder eines »Durchspielens von Möglichkeiten«, wie Ludger Schwarte es formuliert hat.12 Im Folgenden möchte ich drei Beispiele aus der Bildenden Kunst nennen.
11 Vgl. Schweppenhäuser: »Kulturindustrie, Populismus und das Populäre«. 12 Ludger Schwarte: »Experimentelle Ästhetik, Arbeit an den Grenzen des Sinns«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 57/2 (2012), Schwerpunkt »Experimentelle Ästhetik«, hg. von Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald, S. 185-196.
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(1) Das Archiv industrieller Architektur von Bernd und Hilla Becher stellt ein bekanntes Beispiel dar für die künstlerische Tätigkeit des Archivierens. Bernd und Hilla Becher arbeiten seit nunmehr über vierzig Jahren gemeinsam an einem Archiv industrieller Architektur.13 Um möglichst detaillierte und nachvollziehbare Aufnahmen zu erzielen, benutzen sie (seit den 1950er Jahren) eine Plattenkamera mit dem Bildformat 13 x 18 cm. Die großen Negative erlauben Abzüge, die ein genaues Studium der Details zulassen. Vor einem immer ähnlich neutral gehaltenen Hintergrund, dem grauen und wolkenlosen Himmel, platzieren sie mittig und formatfüllend ausgewählte Objekte verschiedener Arten industrieller Nutzbauten. Die Künstler sagen über ihre Arbeit: »Den Objekten, die uns interessieren, ist gemeinsam, dass sie ohne Rücksicht auf Maßverhältnisse und ornamentale Raster gebaut wurden. Ihre Ästhetik besteht darin, dass sie ohne ästhetische Absicht entstanden sind. Der Reiz, den das Thema für uns hat, liegt in der Tatsache, dass Bauten von prinzipiell gleicher Funktion in einer Vielzahl von Formen auftreten. Wir versuchen mit Hilfe der Fotografie diese For14
men zu ordnen und vergleichbar zu machen.«
(2) Ein Beipiel, in dem der Künstler experimentiert (aber auch zugleich im Experiment bzw. anhand des Experimentes reflektiert), sind die Fingerprints von Paul Vanouse. Der in den USA arbeitende Paul Vanouse ist einer der Protagonisten der wachsenden Bio-Art-Szene. Die BiomedienInstallationen von Paul Vanouse hinterfragen die Codes und Bilder der heutigen Molekularbiologie, insbesondere arbeitet Vanouse mit dem Material der DNA in einer bestimmten Hinsicht – nämlich in Hinsicht ihrer bildlichen modellhaften Darstellung und Vermittlung. Der Künstler installiert z.B. Laborsituationen im Rahmen von Ausstellungen und arbeitet mit einer Mitarbeiterin vor Ort im Labor. Die Ausstellungssituation ist aber nicht der ausschlaggebende Grund, diese Arbeit hier vorzustellen; sondern es ist die Tatsache, dass Vanouse mit dem genetischen Material im Rahmen
13 »Bernd und Hilla Becher. Typologien industrieller Bauten. Ausstellung im Haus der Kunst München, 16.06.-19.09.2004«, http://www.hausderkunst.de/agenda/ detail/bernd-und-hilla-becher-typologien-industrieller-bauten (abgerufen am 12. 08.2015). 14 Ebd.
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einer ganz spezifischen Fragestellung arbeitet. In seiner Arbeit Suspect Inversion Center z.B. baut Vanouse den genetischen Fingerabdruck des mutmaßlichen Mörders O. J. Simpson exakt nach – aber aus dem Erbmaterial seiner eigenen DNA. Es geht ihm dabei darum, dem genetischen Fingerabdruck die Qualität der ›Körperspur‹ zu nehmen, also die kulturelle Konstruiertheit von angeblich biologischem Beweismaterial nachzuweisen. Es geht ihm auch – ganz aktuell – um rassistisch motivierte Vorverurteilungen z.B. im Rahmen von Gerichtsverhandlungen.15 Vanouse sagt: »[Es] war mein Ziel, die Zusammenhänge so spezifisch wie möglich zu verkoppeln, und detailgenau ein Labor nachzubauen, das der Rekonstruktion und damit effizienten Dekonstruktion des historischen Beweismaterials gewidmet war. Die diskursive Ebene war mir dabei genauso wichtig. In meinem eigenen Atelierlabor bemerkte ich etwas, das auch die Arbeit in professionellen DNA-Testlabors begleitet: Je mehr meine Assistentin Kerry Sheehan und ich versuchten, die Technik zu perfektionieren, um verschiedene forensische DNA-Verfahren einwandfrei durchführen zu können, desto klarer wurde uns, dass wir dabei die DNA-Bildgebung de-naturalisier16
ten.«
(3) Die Formulierung eines Durchspielens von Möglichkeiten möchte ich am Beispiel einer seriellen Arbeit der Künstlerin und Zeichnerin Juliane Laitzsch erläutern. Es handelt sich um eine Serie von zeichnerischen Arbeiten, die den Titel trägt: Unendlichkeit in kleinen Fetzen. Juliane Laitzsch befasste sich lange Zeit mit einer Gruppe liturgischer Gewänder aus dem 13. Jahrhundert, dem sogenannten Ornat des heiligen Valerius von Saragossa. »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden von diesen Gewändern zahlreiche Fragmente – mehr als zweihundert – abgetrennt und auf den Kunstmarkt gebracht.«17 Im Folgenden geht es der Künstlerin
15 Vgl. Paul Vanouse: Fingerprints. Index – Abdruck – Spur, hg. von Jens Hauser anlässlich der Ausstellung Paul Vanouse – Fingerprints im Projektraum der Schering Stiftung, 28. Januar bis 16. April 2011, Berlin 2011. 16 Ebd., S. 54. 17 Juliane Laitzsch: »Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes«, in: Susanne Stemmler (Hg.), Wahrnehmung, Erfahrung, Experiment, Wissen. Objektivität und Subjektivität in den Künsten und den Wissenschaften, Zürich/Berlin 2014, S. 81-97.
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aber nicht um eine kunsthistorische oder allein zeichnerische Erfassung ihres Gegenstandes, sondern die Medien und Kontexte seiner Präsentation und Abbildung werden zunehmend – mit jedem gezeichneten Stück mehr – zum Thema der künstlerischen Arbeit. »Nach der Lektüre des Restaurierungsberichts […] bestand eine erste Konzeption und Planung darin, mich zeichnerisch mit den irrwitzigen Umrisslinien der einzelnen Fragmente zu befassen. Zudem wollte ich mir ihre jeweils aktuelle museale Umgebung anschauen. Das Projekt sollte eine Erkundung der Zeit und korrespondierender Zeitebenen sein. […] Die schlechte Kopie der Fotografie vermittelt genauso wie der hinter Glas zu sehende Stoff im Museum und die Geschichten der Historiker eine Vorstellung von dem Stoff. Die Erkenntnis, dass es sich jeweils um vermittelte Vorstellungen handelt, ist zunächst banal. […] In der schlechten Kopie einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie, die eine nicht mehr datierbare Ausstellungssituation des Pluviale zeigt, ist von dem Stoff nur noch ein sehr vager Nachhall zu sehen. Diesen zeichne ich, so präzise wie möglich, genauso wie den Lichtreflex im Glas, oder die 18
Rasterpunkte, die der Offsetdruck in der Buchpublikation verursacht.«
Die drei hier genannten Künstler und Künstlerinnen stehen vielleicht dem Forschen nicht ablehnend gegenüber, jedoch bezeichnen sie ihre eigenen Arbeiten nur teilweise auch als Forschung. Dennoch ist es möglich, bestimmte methodische Ählichkeiten an ihren Projekten festzustellen: Es gibt ein konkretes und formuliertes Erkenntnisinteresse, ein Vorgehen, das genau reflektiert wird und mit bestimmten materialtechnischen Überlegungen verbunden ist; der Einsatz der Mittel wird nicht allein reflektiert, sondern auch variiert, er kann sich im Prozess ändern.
3. Ü BER
DIE
Z IELHAFTIGKEIT
POIETISCHEN
T UNS
Die Fokussierung auf das Machen und das Verfolgen von etwas, dieses Interesse am Erzielen bestimmter Ergebnisse führt mich zu meiner dritten Überlegung, die sich auf die Zielhaftigkeit des poietischen Tuns bezieht. Ich möchte eine poietische Theorie skizzieren, in der sich meines Erachtens Kunst und ihre Handlungen unter anderem auch als »kognitive Zugänge zur
18 Ebd., S. 84f.
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Welt« beschreiben lassen.19 Meine Vermutung ist, dass sich eine poietische Kunsttheorie eignet, den Begriff künstlerischer Forschung zu thematisieren. Zunächst soll mit einigen allgemeinen Bemerkungen zum Begriff der Poesis begonnen werden: Der Begriff spielt allgemein im Rahmen antiker Theorien eine Rolle, ich beschränke mich hier auf seine Verwendung bei Aristoteles. ›Poiesis‹ bedeutet bei Aristoteles (wie auch sonst im Altgriechischen) ›Herstellen‹, also etwas tun in der Absicht, ein bestimmtes Artefakt zu produzieren, an dem man zur weiteren Verwendung interessiert ist – Kleidung, Schuhe, Hausbau, Möbeltischlerei, Schiffbau, Waffenschmiedehandwerk, Instrumentenbau, Herstellung von Schmuck und Zierat usw. Als zwei abweichende Sonderfälle im Verhältnis zu dem, »was von Natur aus wird«, findet man bei Aristoteles zunächst zwei menschliche Tätigkeiten beschrieben, die Poiesis und die Praxis.20 Poiesis ist das menschliche Machen (in welchem die Kunst der technê zur Anwendung kommt). Es muss beachtet werden: Mit technê als Kunst ist etwas ganz anderes gemeint, als wir heute unter Kunst verstehen. Andererseits stimmt der Terminus technê aber auch nicht mit unserem heutigen Verständnis von ›Technik‹ überein. Zwei Aspekte sind in ihm bei Aristoteles zusammengedacht – einerseits die Kenntnis von Regeln und andererseits Kompetenzen bzw. Fähigkeiten, diese Regeln umzusetzen. Poiesis richtet sich als ein Herstellen zunächst auf das Herzustellende, d.h. auf ein Werk.21 Die Praxis als ein Tun bzw. Handeln richtet sich nicht auf die Herstellung von Werken, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, dass Dinge oder Objekte im Handeln zum Einsatz kommen. In der Aristoteles-Rezeption werden daher oft Poiesis und Praxis anhand der Unterscheidung von verschiedenen Zwecken unterschieden – eine Zweckgerichtetheit auf den Gegenstand im Hervorbringen (der Poiesis) wird von einer selbstzweckhaften Tätigkeit im Handeln (der Praxis) unterschieden. Das hieße, in der Poiesis ist der Zweck das Werk und in der Praxis ist der Zweck die Handlung selbst. Eine solche Komplementarität ist aber nicht in Aristoteles’ Sinn, wie der Philosoph
19 Vgl. Neumaier: »Poiesis, Praxis, Theorie«, S. 95. 20 Vgl. Ralf Elm: »poiêsis« in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 469-471. 21 Ebd.
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Theodor Ebert erläutert.22 Mehr als die Frage nach einer adäquaten Aristoteles-Auslegung interessiert im Rahmen unserer Fragestellung das Ergebnis dieser neuen Zuordnung durch Ebert. Poiesis und Praxis ließen sich zwar durch die intentionale Verschiedenheit beider Tätigkeiten bestimmen, in ihrer Extensionalität (also in ihren Resultaten) seien sie aber beide nicht mehr direkt unterscheidbar. Das heißt, Poiesis ist von ihrer Intention her auf das Werk gerichtet, aber dieses Machen kann durch etwas motiviert sein, das eine Praxis ist, die z.B. einen bestimmten Gebrauch des Hervorgebrachten beinhaltet.23 Und auch Handlungen müssen nicht zwangsläufig allein als Selbstzweck begriffen werden, so z.B. beim Überbordwerfen der Schiffsladung im Sturm, einem Beispiel, das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gibt.24 Auch kriegerisches und politisches Handeln haben bestimmte Resultate im Auge und geschehen nicht allein um ihrer selbst willen.25 Eine Fokussierung auf die Intentionalität derjenigen, die etwas hervorbringen (also die Anerkennung einer Ausgerichtetheit bei gleichzeitiger Offenheit des Gebrauchs) gibt Anlass, die Bewegungs- und Zweckursache für die Poiesis nicht allein in den Kunstprodukten, sondern ebenso in dem Vermögen und der Überlegung der Produzenten zu suchen.26 »Damit liegt das Prinzip des kunstmäßigen Hervorbringens außerhalb der Kunstprodukte, nämlich in der Seele des Künstlers bzw. im ›Hervorbringenden‹, nicht jedoch im Hervorgebrachten«, schreibt Aristoteles in der Physik.27 »Das, was als Prinzip im Künstler leitend ist, ist die Form des Herzustellenden als Ziel, Zweck des Herstellungsvorganges selbst.«28 Dies sollte nicht verstanden werden als ein Plädoyer dafür, dass Künstler, Handwerker oder Designer das, was entstehen soll, bereits genau vor ihrem inneren Auge sähen, sondern es
22 Theodor Ebert: »Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30/1 (1976), S. 12-30. 23 Ebd., S. 21. 24 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE] III.1, 1110a 9-14. 25 Vgl. Ebert: »Praxis und Poiesis«, S. 18; Aristoteles: NE X.7, 1177b 6-9 sowie 12-15. 26 Elm: »poiêsis«; Aristoteles: NE VII.7, 1032a 25ff. 27 Elm: »poiêsis«, S. 470; vgl. Aristoteles: Met. VII.7, 1032b 1, b 23; Aristoteles: Physik II.3, 194b 26; NE VI.4, 1040a 13. 28 Elm: »poiêsis«, ebd.
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heißt lediglich, dass der Zweck im Produzierenden liegt in dem Sinne, dass die Künstlerin ihre Tätigkeit mit der Fokussierung auf ein (wie auch immer geartetes) Ziel beginnt. Dieser als Ziel anvisierte Zweck kann einerseits auch die Fertigung des Werks übersteigen, nämlich dann, wenn die Kontextualisierung des Werks in einer Welt bzw. seine Wirkung auf andere Menschen mitgedacht sind. In Bezug auf die drei oben genannten künstlerischen Beispiele wäre eine solche Kontextualisierung bei fotografischen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher eine Art von kollektivem Erinnern an eine verschwindende Industriearchitektur; bei den Fingerprints von Paul Vanouse ginge es um die eindrückliche Entlarvung der biologischen Fundierung von Rassismen, die es in der Geschichte bereits oft gegeben hat; und eine Kontextualisierung der vorgestellten Arbeit von Juliane Laitzsch wäre etwa die Thematisierung einer Medialität und Zeitstruktur, die im Rahmen des musealen Betriebs unmittelbar die Wirkung und Vorstellung des textilen Objekts mit beeinflussen. Solche Kontextualisierungen führen immer zurück zu der Frage, wie denn das Hervorzubringende geschaffen sein müsste. Von »dem Zweck als Erstem geht die Überlegung zu den Mitteln«.29 Die Formulierung, Poiesis sei dadurch bestimmt, dass sie ihre »Bewegungs- und Zweckursache in der Kunst« habe, bekommt unter diesen Voraussetzungen eine etwas andere Pointe als die zu Beginn des Kapitels benannte. Denn das entstehende Werk ist nicht allein der Zweck der Handlung; es ist nicht Zweck an sich, sondern Zweck für etwas. Die Frage nach der Zweck-Mittel-Relation kann also vom Machen her gedacht werden, und dieses Machen kann durch etwas motiviert sein, das eine Praxis ist.30 Wenn nun eine mit der Poiesis verbundene Praxis Forschung heißt, bedeutet dies, dass Kunst so arrangiert oder formiert werden könnte, dass sie gegebenenfalls in einigen speziellen Fällen etwas zur Praxis der Forschung beiträgt. Diese Abgrenzung gegenüber einer Selbstzweckhaftigkeit der Kunst soll aber kein Plädoyer für ihre Instrumentalisierung darstellen. Ich finde, die genannten Beispiele legen eine solche instrumentalistische Konsequenz auch nicht nahe. Es geht vielmehr um eine doppelte Abgrenzung – gegenüber einer Selbstzweckhaftigkeit und gegenüber einer banalen Instrumentalisierung.
29 Ebd. 30 Ebert: »Praxis und Poiesis«, S. 12-30.
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Und hier bietet es sich an, noch einmal auf die Bestimmung, der generellen Anschlussfähigkeit, der Dialogizität bzw. der Kollektivität von Forschung zurückzukommen. Die einzelne künstlerische Forschung ist kontinuierlich an einem Thema orientiert; anschlussfähig sind die Ergebnisse gestalterischer bzw. künstlerischer Forschung mindestens an selbst Etabliertes, aber die Frage nach der Kollektivität stellt sich dennoch. Hans-Jörg Rheinberger schreibt dazu: »Wo künstlerische Forschung als Laborarbeit verstanden wird, müssen konsequenter Weise die Momente des Diskursiven und des Kollektiven thematisiert werden.« Und er setzt dann einschränkend hinzu: »Die dazu gehörigen Formen von Dokumentation und Öffentlichkeit befinden sich erst in den Anfängen ihrer Entwicklung.«31 Vergleichend sei an dieser Stelle angemerkt, dass auch diejenigen, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis streben, darauf angewiesen sind, diese Erkenntnisse anderen durch Werke zu vermitteln.32 Zu diskutieren wäre, ob eine solche Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis tatsächlich ähnliche Fähigkeiten voraussetzt wie in den Künsten oder vielmehr ganz andere.33 Ich tendiere eher zur zweiten Behauptung, also zu der Feststellung, dass unterschiedliche Fähigkeiten notwendig sind, um wissenschaftliche oder künstlerische Forschung zu betreiben bzw. deren Ergebnisse darzustellen und zu vermitteln. Kriterien der Abgrenzbarkeit beider Forschungshandlungen wären nicht im kollektiven Singular der Kunst oder der Wissenschaft, sondern konkreter an spezifischen Vorhaben zu entwickeln. Ein materielles oder soziales künstlerisches Artefakt ist das Produkt einer intentionalen Handlung, Aristoteles würde sagen: einer Handlung, die mit Vernunft verbunden ist, und auch mit Kant lässt sich sagen, dass dieser künstlerischen Handlung ein freier Wille zugrunde liegt, der im Hinblick auf das, was er tut, vernünftige Entscheidungen trifft.34 Bis hierhin unterscheiden sich künstlerische Werke in ihrer Beschreibung nicht von Ergebnissen künstlerischen Forschens. Die Praxis, welche die Herstellenden ›im
31 Hans-Jörg Rheinberger: »Labor«, S. 311-314, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung – Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 311-314, hier S. 314. 32 Neumaier: »Poiesis, Praxis, Theorie«, S. 96. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Kants Bestimmung der mechanischen Kunst in Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, S. 305-456 (»Kritik der teleologischen Urteilskraft«).
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Auge haben‹, kann aber eine je verschiedene Praxis sein. Und so ist es folgerichtig, nur diejenigen Artefakte als Forschungsergebnisse zu bezeichnen, die mit einer Absicht des Forschens entstanden sind – wenn sie denn Kriterien der Kollektivität, Vermittlung bzw. Diskursivität genügen. Es macht also bis hierher – auch im Rahmen einer poietischen Theorie gedacht – keinen Sinn, pauschal alle Produkte der Handlungen von Künstlerinnen und Künstlern als Forschungsergebnisse aufzufassen. Aber dennoch kann für einige künstlerische Handlungen und die ihnen zugehörigen Methoden, Ergebnisse oder Dokumentationen der Forschungsbegriff beansprucht werden. Dies soll nicht bedeuten, dass alles Forschung ist, was von seinen Schöpfern als Forschung ausgegeben wird. Denn so wichtig es ist, zunächst die forschende Praxis überhaupt zu fokussieren, so wichtig ist es, diese Praxis mit Hilfe materieller bzw. gestalteter Notationen auch zu ›treffen‹. Ist nun die Produktionsästhetik letztendlich ein ›natürlicher Verbündeter‹ der künstlerischen Forschung? Die Antwort lautet: nicht in jedem Fall. Aber im Rahmen ihrer Fragestellungen lässt sich angemessen über künstlerisches Forschen nachdenken. Die produktionsästhetische Perspektive eröffnet einen Spielraum, in dem künstlerische Forschung denkbar wird. Denn das, was in der Kunst des Forschens passiert, ist etwas anderes als das, was sonst in der Kunst geschieht. Die forschenden Künstlerinnen und Künstler bringen ihre individuellen Forschungsmethoden poietisch hervor. Ergebnisse, die im Rahmen dieser individuellen Methodiken entstehen, sind aufgrund ihres methodischen Ursprungs anschlussfähig. Das heißt, es handelt sich dabei um generierte Erkenntnisse – um künstlerisch hervorgebrachte Erkenntnisse –, an welche z.B. Wissenschaftler anschließen können. Allein dadurch, dass die Ergebnisse anschlussfähig sind, sind sie aber noch nicht selbst Wissenschaft. Mit anderen Worten zusammengefasst: Künstlerische Forschung ist ein relativ schmaler Bereich in der Kunst, der auf der einen Seite begrenzt ist durch die ›reine Performance‹, die allein noch kein Forschen sein kann; auf der anderen Seite ist dieser Bereich begrenzt durch das, was schon Wissenschaft ist – auch von ihr unterscheidet sich künstlerische Forschung etwa dadurch, dass sie ihre Methoden selbst definiert. Indem künstlerische Forschung sich vollzieht, stellt sie allerdings eine Herausforderung dar für die Tradition der Autonomieästhetik, in der die epistemische Seite der Kunst sich nicht als ihre Funktionalität und somit nicht als Anschlussfähigkeit denken lässt.
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L ITERATUR Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE], übers. und mit einem Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Stuttgart 1969. Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/Rey, Anton/ Schenker, Christoph/Pérez, Germán Toro (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015. »Becher, Bernd und Hilla. Typologien industrieller Bauten. Ausstellung im Haus der Kunst München, 16.6.-19.9.2004«, http://www.hausderkunst.de/ agenda/detail/bernd-und-hilla-becher-typologien-industrieller-bauten (abgerufen am 12.08.2015). Ebert, Theodor: »Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30/1 (1976), S. 12-30. Elm, Ralf: »poiêsis«, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 469-471. Feige, Daniel M.: »Die Form künstlerischen Handelns. Eine Analyse aus dem Geiste ästhetischen Gelingens«, S. 173-191, in Daniel Martin Feige/Judith Siegmund (Hg.), Kunst und Handlung, Bielefeld 2015. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974. Laitzsch, Juliane: »Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes«, in: Susanne Stemmler (Hg.), Wahrnehmung, Erfahrung, Experiment, Wissen. Objektivität und Subjektivität in den Künsten und den Wissenschaften, Zürich/Berlin 2014, S. 81-97. Mittelstraß, Jürgen: »Die philosophische Fakultät, der Forschungsbegriff und die Philosophie«, in: ders., Leibniz und Kant: Erkenntnistheoretische Studien, Berlin/Boston 2011, S. 272-278. Neumaier, Otto: »Poiesis, Praxis, Theorie«, in: Jens Badura/Selma Dubach/ Anke Haarmann/Dieter Mersch/Anton Rey/Christoph Schenker/ Germán Toro Pérez (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 95-98. Pippin, Robert: Kunst als Philosophie, Berlin 2012. Schwarte, Ludger: »Experimentelle Ästhetik, Arbeit an den Grenzen des Sinns«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
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57/2 (2012), Schwerpunkt »Experimentelle Ästhetik«, hg. von Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald, S. 185-196. Schweppenhäuser, Gerhard: »Kulturindustrie, Populismus und das Populäre. Der Forschungsbegriff in der Kritischen Theorie und in den Cultural Studies. Vortrag auf der Tagung der Gesellschaft für Designtheorie und -forschung in Mannheim 28. Januar 2005«, www.dgtf.de/pdownload/ 25/2_Schweppenh.PDF (abgerufen am 12.08.2015). Vanouse, Paul: Fingerprints. Index – Abdruck – Spur, hg. von Jens Hauser anlässlich der Ausstellung Paul Vanouse – Fingerprints im Projektraum der Schering Stiftung, 28. Januar bis 16. April 2011, Berlin 2011.
Künstlerisch forschen Über Herkunft und Zukunft eines ästhetischen Programms R EINOLD S CHMÜCKER
»Kein Wunder, dass dieses […] Experiment auf einer Wiese am Künstlerdorf Schöppingen beginnt. Schließlich handelt es sich hier um eine Spielwiese von Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Was da der Berliner Künstlerin Miriam Kilali vorschwebt, ist eine Welt, die keine Horizonte kennt, in der kreative Menschen leben, die frei experimentieren können, also unermüdlich Natur, Welt und Menschen um sich herum beobachten, bis sie zu neuen außergewöhnlichen Erkenntnissen gelangen. […] ›Konkret gesprochen, legen wir im Künstlerdorf den Grundstein für ein Langzeitexperiment mit ergebnisoffenem Ausgang‹, erzählt Miriam Kilali. ›Es nimmt seinen Anfang in Schöppingen und wird später, so hoffe ich, die Grenzen des Münsterlandes überschreiten und in die Welt hinaus getragen. Große Erfindungen setzen Experimente voraus. Es liegt also nah, dass experimentierfreudige Welten etwas Aufregendes, Wünschenswertes sind, das unbedingt unterstützt werden muss‹, so die Künstlerin. Entsprechend glanzvoll soll der Auftakt werden, mit geladenen Ehrengästen, vielen Schöppingern und der Feuerwehrkapelle. Sie alle […] tragen dazu bei, dass das Experiment in unserer Welt eine Neubelebung erfährt und vielleicht schon bald zu ersten neuen wichtigen Erfindungen führt. Diese, so schreibt Miriam Kilali in ihrem künstlerischen Manifest, sollten ›statt kommerziell verwertet zu werden allen Menschen zur freien Verfügung stehen‹.«
So weit die Einladung des Künstlerdorfs Schöppingen zur ›Grundsteinlegung‹ für das Kunstprojekt Experimentierfreudige Welten am 30. Septem-
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ber 2011, die ich seinerzeit in meiner Mailbox fand.1 Auch im Münsterland ist man also, wenn auch dank willkommener Entwicklungshilfe aus Berlin, up to date. Es wird künstlerisch geforscht, was das Zeug hält. Mit »ergebnisoffenem Ausgang«, aber in der Gewissheit, dass sich ›neue außergewöhnliche Erkenntnisse‹ einstellen werden. Wird aber in Miriam Kilalis experimentierfreudigen Welten tatsächlich geforscht? Einwenden ließe sich, dass wir es hier zwar vielleicht mit einer Form des Experimentierens zu tun haben, die dem Experimentieren von Kindern vergleichbar ist, die herauszufinden versuchen, wie weit sie gehen können, ohne dass sie der Zorn der Eltern trifft. Solches Experimentieren habe aber mit Forschung nichts zu tun. Kontern wir den Einwand versuchsweise einmal mit der Gegenfrage: Warum denn eigentlich nicht? Weil es sich beim kindlichen Versuch, die Grenzen der elterlichen Toleranz zu ermitteln, und beim Schöppinger »Langzeitexperiment mit ergebnisoffenem Ausgang« nicht um von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsvorhaben handelt? Weil es keine Projekte sind, die von einer Person durchgeführt oder geleitet werden, die sich durch eine erfolgreiche Promotion als Wissenschaftlerin ausgewiesen hat? Oder ist es, im Fall der experimentierfreudigen Welten in Schöppingen, die naiv anmutende Exposition einer auf nichts Bestimmtes gerichteten Erkenntnislust, die den Argwohn weckt, hier werde zwar vielleicht experimentiert, keinesfalls aber geforscht? Freilich, Hand aufs Herz: Wird hier denn überhaupt wirklich experimentiert? Bedürfte es dazu nicht vielmehr einer sehr viel präziser geplanten Versuchsanordnung, die so viele Störvariablen wie möglich eliminiert, um eine kontrollierte Be-
1
Die Pressemitteilung, die als solche nicht veröffentlicht ist, wurde, nur geringfügig modifiziert, in der Lokalzeitung Westfälische Nachrichten nachgedruckt. Der entsprechende ›Artikel‹ findet sich unter http://www.wn.de/Muensterland/ Kreis-Borken/Schoeppingen/2011/09/Schoeppingen-ExperimentierfreudigeWelten (abgerufen am 21.12.2015). Vgl. außerdem die »Regieanweisung« der Künstlerin für das Projekt unter http://www.stiftung-kuenstlerdorf.de/apollo/ miriam_kilalli_apollo.pdf (abgerufen am 21.12.2015); man beachte bei der Eingabe der URL, dass der Name der Künstlerin falsch geschrieben werden muss.
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obachtung der Auswirkungen der Veränderung einer bestimmten Variablen und dadurch empirische Erkenntnis allererst möglich zu machen?2 Klammern wir an dieser Stelle unserer Überlegungen zunächst einmal selbst alle naheliegenden Störgrößen aus: all diejenigen Fragen, die auf die Verhältnisse abzielen, in denen Forschen und Experimentieren, Forschen und Erkennen, Erkennen und Wissen, Erkenntnis und Wahrheit, Kunst und Wissenschaft zueinander stehen. Vereinbaren wir außerdem – wohl wissend, dass das eine Übervereinfachung der Verhältnisse ist –, dass der Begriff künstlerischer Forschung als Oberbegriff alle Formen künstlerischen Handelns unter sich befasst, denen es um die Erzielung von Einsichten, die Gewinnung von Erkenntnis oder Erkenntnissen, mithin um die Vermehrung menschlichen Wissens geht. Dann nämlich können wir, wie mir scheint, von folgenden Annahmen ausgehen: 1) Forschen ist kein zufälliges Geschehen, sondern absichtsvolles Handeln, das auf die Gewinnung von Erkenntnis und insofern auf die Vermehrung der Gesamtheit menschlichen Wissens gerichtet ist.3 2) Künstlerisch nennen wir forschendes Handeln dann, wenn es Künstlerinnen oder Künstler sind, die in der Absicht handeln, die Gesamtheit des menschlichen Wissens zu vermehren, oder wenn es unter den Mitgliedern unserer Sprachgemeinschaft einen weitreichenden Konsens gibt, dass das, was die handelnden Personen tun, Kunst hervorbringt oder Kunst ist.
2
Natürlich hat die Theorie künstlerischer Forschung darauf die Antwort parat, dass es künstlerischer Forschung vielmehr gerade darum gehe, »methodische[n] Störsinn« zu entwickeln, siehe etwa Anette Baldauf/Ana Hoffner: »Methodischer Störsinn«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 81-84. Damit ist allerdings noch nicht begründet, warum die Entwicklung solchen Störsinns unter den Begriff der Forschung gerechnet werden soll.
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Es sei ausdrücklich hervorgehoben, dass diese Annahme nichts darüber besagt, von welcher Art das Wissen ist, das qua Forschung vermehrt werden soll. Es könnte sich dabei also beispielsweise auch um solches Wissen handeln, das Michael Polanyi als »implizites Wissen« charakterisiert hat; vgl. dazu den Beitrag von Eva-Maria Jung in diesem Band.
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3) Nicht jedes Experiment stellt einen Forschungsbeitrag dar, und Forschung wird nicht notwendigerweise in Gestalt der Durchführung von Experimenten vollzogen. 4) Forschung kann sich aber in Experimenten manifestieren, und es liegt nahe, anzunehmen, dass sich künstlerische Forschung jedenfalls in den bildenden Künsten in den meisten Fällen in Experimenten manifestiert. Denn andere etablierte Formen des Forschens, zu denen beispielsweise das Schreiben diskursiver Texte und das logische Schließen gehören, spielen jedenfalls in den bildenden Künsten allenfalls eine marginale Rolle. Was könnte es unter diesen Prämissen heißen, Kunst oder das Handeln von Künstlern als Forschung zu verstehen? Inwiefern ist das möglich? Und inwiefern ist es sinnvoll? Mein Versuch einer Antwort gliedert sich in vier Abschnitte. Zunächst erläutere ich, warum ich der Rede von künstlerischer Forschung ursprünglich sehr skeptisch gegenüberstand (I). Im zweiten Abschnitt weise ich dann auf zwei oft beschworene, heute aber nur noch selten gelesene Ahnen eines ästhetischen Programms hin, das sich – vielleicht – hinter der Rede von künstlerischer Forschung verbirgt: auf Theodor W. Adorno (1903-1969) und auf Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762). Ich tue das deshalb, weil mich die Beschäftigung mit diesen Autoren milder gestimmt hat gegenüber der gegenwärtig ubiquitären Deklaration künstlerischen Handelns als Forschung und weil ich glaube, dass man von ihnen lernen kann, warum es sinnvoll sein könnte, Kunst als Forschung zu verstehen (II). Anschließend lote ich aus, inwiefern sich Kunst tatsächlich als Forschung verstehen lässt, indem ich überlege, was es heißen könnte, Kunst als eine Form des Experimentierens zu verstehen (III). Im letzten Abschnitt fasse ich schließlich den aktuellen Stand meines Nachdenkens über Möglichkeit, Sinn und Grenzen eines Verständnisses von Kunst als Forschung in fünf Thesen zusammen (IV).
I. Künstlerisch forschen? Wie soll das gehen? Ist das nicht lediglich ein ebenso naives wie anmaßendes ästhetisches Programm, ersonnen von (Konzept-)Künstlerinnen, die nur zu gern ihre künstlerischen Interventionen als
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ein analogon scientiae, als der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenbürtig darstellen und damit an der hohen gesellschaftlichen Reputation der Wissenschaft teilhaben lassen wollen?4 Zweifellos manifestieren sich in aktuellen Tendenzen der Kunst und der Kunsttheorie, Kunst als eine Form von Erkenntnisgewinnung und Forschung zu begreifen, auch ziemlich handfeste materielle und kunstpolitische Interessen.5 Dass sie kein Grund sind, Kunst als Forschung zu begreifen, liegt auf der Hand. Sie sind allerdings auch kein Grund, sich die Frage nach der Möglichkeit künstlerischen Forschens zu versagen. Die Vorstellung, Kunst könne ein analogon scientiae sein, ist nämlich älteren Datums als die Bologna-Reform des europäischen Hochschulsystems.6 In der deutschsprachigen Philosophie hat zuletzt namentlich Gottfried Gabriel den Versuch unternommen, Kunst und insbesondere Literatur als eine Form von Erkenntnis auszuweisen. Seine Kernthese lautet: Es gibt unterschiedliche Arten von Erkenntnis: propositionale Erkenntnis und nichtpropositionale Erkenntnis. Begriffe man als Erkenntnis allein propositionale Erkenntnis, redete man einem szientistisch verengten Verständnis von
4
Diesen Verdacht hegen zum Beispiel Peter Geimer (»Das große RechercheGetue in der Kunst«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April 2011, S. N5) und Daniel Hornuff (»Praxis Dr. Kunst geschlossen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juli 2015, S. N4).
5
Vgl. dazu z.B. die wissenschaftspolitischen Resümees von Monika Mokre (»Forschungs- und Wissenschaftspolitik«, S. 249-252) und Alexander Damianisch (»Förderung künstlerischer Forschung«, S. 253-257) in dem von Jens Badura u.a. herausgegebenen Handbuch Künstlerische Forschung (Zürich/Berlin 2015), die zu Recht hervorheben, dass in Europa »die Konjunktur der künstlerischen Forschung eng mit dem Bologna-Prozess verknüpft« sei (Mokre, ebd., S. 249), und die Bedeutung der Frage nach »Förderschiene[n]« (ebd., S. 251) und »Förderungsformaten« (Damianisch, ebd., S. 255) für Kunst akzentuieren.
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Wer will, kann sie bis auf Platons Theaitet (146 d-e) zurückdatieren; jedenfalls aber wird man, wie Otto Neumaier gezeigt hat, in Aristoteles’ Annahme, dass Erkenntnis sich auch qua Poiesis – durch das Schaffen von Werken also – vollziehen könne, ihr Urbild erkennen können; vgl. Otto Neumaier: »Philosophische Tätigkeiten zwischen Wissenschaft und Kunst«, in: ders. (Hg.), Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Kunst, Wien/Münster 2015, S. 25-52, hier S. 43.
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Erkenntnis das Wort, das es nicht erlaube, die kognitive Funktion von Kunst einzusehen.7 Was aber könnte nichtpropositionale Erkenntnis sein? Wie oder worin könnte sie sich manifestieren? Zweifellos gibt es Phänomene, die sich durch Propositionen nicht angemessen repräsentieren lassen. Bezeichnet man solche Phänomene als nichtpropositional, kann nichtpropositional eine Erkenntnis heißen, die sich durch Propositionen nicht angemessen repräsentieren lässt. Wie aber können wir um eine solche Erkenntnis wissen, wie sie weitergeben, wenn sie sich nicht durch Aussagesätze repräsentieren lässt? Inwiefern kann es sich bei etwas, was sich nicht durch Aussagesätze repräsentieren lässt, überhaupt um eine bestimmte Erkenntnis handeln? Inwiefern haben wir es nicht einfach nur mit irgendwas zu tun, über das sich mehr nicht sagen lässt, als dass es eben irgendwas ist? Solange darauf keine überzeugende Antwort vorliegt, scheint es angebracht, der Idee nichtpropositionaler Erkenntnis mit Skepsis zu begegnen. Denn die Bestimmung dessen, was nichtpropositionale Erkenntnis ist, bleibt bei ihren Verfechtern denkbar vage. Nach Gottfried Gabriel handelt es sich um eine Erkenntnis, die sich nicht in einer propositionalen Information manifestiert, sondern in »vergegenwärtigender Darstellung« der »conditio humana« bzw. in »anschaulich-ästhetische[r] Welterschließung«.8 Nun ist die Sterblichkeit des Menschen zweifellos ein sehr zentrales Element der Conditio humana. Und man wird nicht bestreiten können, dass Paul Cézannes Stilleben mit Schädel ebendieses Element der Conditio humana vergegenwärtigt. Wenn man aber den Begriff der Erkenntnis auf dieses Gemälde anwenden will, wird man meines Erachtens entweder zu dem Resultat kommen, dass das Gemälde vergegenwärtige (oder von mir aus: vergegenwärtigend zur Darstellung bringe), dass der Mensch sterblich ist; dass der Tod des Menschen als Schlaf verharmlosend und unrealistisch beschrieben wird oder werden würde; dass es entgegen der christlichen Auffassung nach dem Tod keine Auferweckung, sondern nur Verwesung gebe; und Ähnliches mehr. Oder aber man wird zu dem Ergebnis kommen, dass das Gemälde etwas, vielleicht eine Erfahrung ermögliche, die sich nicht in Gestalt einer Proposition formulieren lässt. Erachtet man das Gemälde als
7
Vgl. Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991.
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Ebd., S. 215f.
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eine vergegenwärtigende Darstellung der Sterblichkeit des Menschen, wird man allerdings konstatieren müssen und dürfen, dass das Gemälde eine Erkenntnis befördert oder evoziert, die sich durch einzelne oder mehrere Propositionen wiedergeben lässt. Man wird also von propositionaler Erkenntnis sprechen können, die durch das Gemälde ermöglicht wird. Begreift man das Gemälde hingegen als eine Bedingung der Möglichkeit einer Erfahrung, die sich nicht in Form einer Proposition formulieren lässt, bleibt unklar, warum es sinnvoll sein sollte, diese durch das Gemälde ermöglichte Erfahrung als Erkenntnis zu apostrophieren. Natürlich kann man statt der in der heutigen Philosophie geläufigen Standardauffassung von Erkenntnis einen in gewisser Hinsicht weiteren, der Sache nach sozusagen ermäßigten Erkenntnisbegriff zugrunde legen und unter Erkenntnis nicht länger nur das begründete Fürwahrhalten von etwas, was tatsächlich wahr ist, verstehen, sondern jede Form eines Wahrheitserfahrens. Auch unter der Voraussetzung eines derart ›ermäßigten‹ Erkenntnisbegriffs will es aber (jedenfalls mir) nicht einleuchten, warum unter diesen Begriff, der doch selbst in seiner denkbar ›abgespecktesten‹ Form grammatikalisch – jedenfalls im Deutschen – noch ein Objekt zu erfordern scheint, neben Fällen des begründeten Fürwahrhaltens von etwas, was tatsächlich wahr ist oder uns als wahr erscheint, auch ein Wahrheitserfahren subsumiert werden sollte, das kein Wahrheitserfahren von etwas ist (und von dem überdies erst noch zu zeigen wäre, inwiefern es überhaupt als ein Wahrheitserfahren angesehen werden kann). Ist aber im Hinblick auf die Möglichkeit nichtpropositionaler Erkenntnis durch Kunst Skepsis geboten, erscheint diese auch in Bezug auf die Amalgamierung von Kunst und Wissenschaft, Epistemologie und ästhetischer Erfahrung als Gebot der Stunde: Wenn ein umfangreicher, auf Initiative der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegebener Band, der Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft ausloten will, im Untertitel behauptet: Kunst ist Wissen. Wissen ist Kunst,9 dann wissen wir, dass das so nicht stimmt. Warum aber sollte man so offenkundig Verschiedenes wie Kunst und Wissen unter ein und denselben Begriff fassen, warum Kunst ebenso als eine Praxisform des Forschens begreifen wie Wissenschaft?
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Hermann Parzinger/Stefan Aue/Günter Stock (Hg.): ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen. Reflexionen und Praktiken künstlerisch-wissenschaftlicher Begegnungen, Bielefeld 2014.
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II. Man kann das Werk Theodor W. Adornos als einen Versuch lesen, auf das hinzuweisen, was uns entginge, wenn es keine Kunst gäbe oder wir die Augen vor dem kognitiven Potenzial der Kunst verschlössen.10 Adorno (und dem Koautor der Dialektik der Aufklärung, Max Horkheimer) zufolge leben wir als Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in einer vollständig »verwalteten Welt«,11 in der unablässig das Individuum zum bloßen Exemplar einer Art oder Gattung und die Natur zum Objekt menschlicher Verfügungsgewalt erniedrigt wird. Hervorstechendes Kennzeichen der »verwalteten Welt« ist eine universale Entmächtigung des Individuellen: Alles ist nur noch Exemplar von etwas, ein jederzeit gegen ein funktionales Äquivalent austauschbares Mittel zu einem Zweck. Die universale Entmächtigung des Individuellen manifestiert sich in der Allgegenwart realer Herrschaft von Menschen über Menschen; ihre Grundlage aber hat sie für Adorno in der Subsumtionslogik des begrifflich-identifizierenden Denkens.12 Traditionelle Philosophie kann dies nach Adornos Meinung nicht durchschauen; denn sie bewegt sich immer schon im Rahmen ebenjenes »identifizierenden Denkens«, das dem einzelnen die Einsicht in seine tatsächliche Entmächtigung versagt, so dass er in einem »universalen Verblendungszusammenhang«13 gefangen bleibt und die Realität nicht als einen »falschen Zustand«14 erkennen kann. Damit die Falschheit des falschen
10 Ich resümiere im Folgenden meine anderenorts eingehend entfaltete AdornoDeutung, vgl. Reinold Schmücker: »Kunst als Ideologiekritik? Zum systematischen Ort der Ästhetischen Theorie«, in: ders. (Hg.), Zwischen »Minima Moralia« und »Ästhetischer Theorie«. Theodor W. Adorno im Kontext von Ethik, Ästhetik und Utopie, Iserlohn 1994, S. 35-53. 11 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt a.M. 1986, S. IX et passim; Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966], Frankfurt a.M. 1982, S. 51 et passim. 12 Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S. 152 u.ö. sowie S. 58. 13 Ebd., S. 397 et passim. In der Dialektik der Aufklärung sprechen Horkheimer und Adorno vom »gesellschaftliche[n] Verblendungszusammenhang« (S. 48 et passim). 14 Adorno: Negative Dialektik, S. 22.
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Weltzustands kenntlich wird, bedarf es Adorno zufolge einer besonderen Denkweise, die er »negative Dialektik«, gelegentlich aber auch »Ideologiekritik«15 nennt. Negative Dialektik, wie Adorno sie konzipiert, vergegenwärtigt die universale Entmächtigung des Individuellen; denn sie verfährt weder identifizierend noch subsumtiv, sondern entwirft ›Denkmodelle‹16 und ›Konstellationen‹17. Anders als logische Argumentationen zielt das konstellierende, negativ dialektische Denken nicht darauf ab, Widersprüche auszuräumen, damit eindeutige Identifizierungen möglich werden; es spürt vielmehr jene Widersprüche auf, die das identifizierende Denken leugnet oder entschärft.18 Negative Dialektik muss allerdings ein Wissen in Anspruch nehmen, das sie mit ihren eigenen Mitteln nicht zu erlangen vermag: Sie muss zum einen um die Notwendigkeit einer besseren Einrichtung der Welt und zum anderen um die Möglichkeit einer solchen besseren Einrichtung der Welt wissen. Adorno begegnet dieser Schwierigkeit, indem er annimmt, dass Kunst die Prämissen negativer Dialektik – dass ein besserer Weltzustand nötig und möglich sei – transsubjektiv als gültig zu offenbaren vermag: Kunst ist, Adornos Ästhetischer Theorie zufolge, beides: radikale Kritik des Bestehenden, für deren Wahrheit nicht bloß die subjektive Erfahrung eines einzelnen bürgt, und Vorschein der Welt im Zustand der Erlösung. Wie aber kann Kunst diese »Wahrheit im doppelten Verstande«19 offenbaren? Adorno zufolge wird im Kunstwerk als einem »subjektiv imaginierten An sich ein Transsubjektives lesbar«;20 Kunstwerke gewährten deshalb einen Vorblick auf die in der Wirklichkeit noch nicht erfolgte, ausstehende Versöhnung. Die eben darin zum Ausdruck kommende Wahrheit eines Kunstwerks sei aber kein Gehalt, den man als seine Bedeutung unabhängig von der ästhetischen Erfahrung des betreffenden Werks angeben könnte. Die Idee nichtpropositionaler Erkenntnis ist insofern bei Adorno schon vorgeprägt. Auch wenn Adorno Kunstwerke als Rätsel bestimmt, erachtet
15 Ebd., S. 151. 16 Ebd., S. 39. 17 Ebd., S. 62 und S. 164ff. 18 Vgl. ebd., S. 148. 19 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann [1970], Frankfurt a.M. 1973, S. 26. 20 Ebd., S. 421.
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er sie allerdings als Träger objektiven Sinns. Adorno siedelt die Signifikanz eines Kunstwerks zwar nicht auf der Ebene referierbarer Bedeutungen an, sondern leitet sie gerade aus dem Scheitern aller hermeneutischen Entschlüsselungsbemühungen ab. Gleichwohl bedingt die Signifikanz des Werks den Wahrheitsgehalt der Kunst. Die der Kunst eigentümliche Wahrheit lokalisiert Adorno damit im Artefakt. Die Annahme einer im Kunstwerk fixierten Wahrheit, die philosophische Reflexion zwar zu rekonstruieren, mit ihren eigenen Mitteln aber nicht zu erlangen vermag, ist jedoch problematisch: Etwas zu erkennen geben Kunstwerke nämlich nicht unmittelbar als die Phänomene, die sie sind, sondern nur in Bezug auf ästhetische Erfahrung, d.h. relativ auf Vermittlungsleistungen der menschlichen Subjektivität, die sie sich in spezifischer Weise aneignet. Auch der objektive Sinn, in dem Adorno die Wahrheit der Kunst erkennt, kann sich deshalb an Kunstwerken nur zeigen, sofern sie durch ästhetische Erfahrung vermittelt sind. Adorno muss deshalb zu einem doppelten Kunstgriff Zuflucht nehmen, um seine These, dass Kunst eine – nennen wir sie ruhig einmal so – nichtpropositionale Wahrheit sichtbar werden lasse, aufrechterhalten zu können. Er bindet das epistemische Potenzial von Kunst nicht nur an eine ganz bestimmte Form der Kunstrezeption: an objektzentrierte Kontemplation, sondern er schränkt auch seine These eines kognitiven Potenzials der Kunst auf bestimmte Kunstwerke ein. Zum einen trennt er nämlich zwischen Werken der Kunst und Produkten der »Kulturindustrie«.21 Adorno erkennt also nur einen Teil der Phänomene, die nach unserem alltagssprachlichen Gemeinverständnis Kunstwerke sind, als solche an. Darüber hinaus unterscheidet er bei denjenigen Phänomenen, die er als Kunst anerkennt, nochmals zwischen ›avancierten‹, ›fortschrittlichen‹ Werken (die er häufig auch als ›authentisch‹ oder ›gelungen‹ bezeichnet) einerseits und ›affirmativen‹, ›reaktionären‹ andererseits.22 Auch diese beiden Kunstgriffe reichen jedoch noch nicht aus, damit plausibel wird, dass Kunst eine dem begrifflich-identifizierenden Denken unzu-
21 Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 128ff. sowie Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie« [1967], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft (= Gesammelte Schriften, Bd. 10), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1977, S. 337-345. 22 Besonders deutlich in Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik [1949, 3
1966] (= Gesammelte Schriften, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1975.
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gängliche Wahrheit offenbart. Adorno weist deshalb in der Ästhetischen Theorie geradezu penetrant – nämlich nicht weniger als vierzehnmal – darauf hin, dass es der Philosophie bedürfe, damit der Wahrheitsgehalt der Kunst offenbar werden kann.23 Das aber heißt, dass die Erkenntnis qua Kunst einer Wahrheit gilt, die allein der Kunst eignen soll, andererseits aber an den Kunstwerken durch philosophische Interpretation allererst sichtbar gemacht werden muss. Wenn aber die Philosophie in der Lage ist, die Wahrheit der Kunst an den Kunstwerken sichtbar zu machen, dann ist es nicht plausibel, dass ihr die Wahrheit der Kunst prinzipiell verborgen ist. Der Wahrheitsgehalt, den die Ästhetische Theorie der Kunst zuspricht, erweist sich so bei näherem Hinsehen als ein von der Philosophie immer schon Gewusstes oder Vermeintes, das die Philosophie an die Kunst delegiert, um es dann als ein Objektives an ihr ablesen zu können. Meines Erachtens kann man aus diesem Versuch Adornos, der Kunst eine epistemische Funktion zuzuweisen, zweierlei lernen: 1) Offenbar lässt sich nicht alle Kunst ohne Gewaltsamkeit als etwas begreifen, was Erkenntnis ermöglicht, sondern allenfalls bestimmte Kunst. Forschung zu sein kann deshalb kein Merkmal von Kunst als solcher sein, sondern allenfalls ein Anspruch, der bestimmter Kunst zugeordnet wird. 2) Der Versuch, Kunst auf eine Erkenntnis, ein Wissen oder eine Wahrheit zu beziehen, die sich nicht in Aussagesätzen reformulieren lässt, ist jedenfalls dann unplausibel, wenn er uns am Ende dann doch auf die Philosophie oder eine andere Form des propositional verfahrenden Denkens verweisen muss, die dem vorgeblich Nichtpropositionalen implizit einen propositionalen Gehalt unterlegt – und zwar einen, der sich im Unterschied zu unserem propositional strukturierten Wissen nicht im Vollzug einer Argumentation gegenüber Einwänden hat behaupten müssen. Die Frage, die uns zu diesem Blick auf Adorno Anlass gab, ist damit aber noch nicht beantwortet: Warum sollte man das Tun mancher Künstler und das Tun von Erfahrungswissenschaftlern gleichermaßen unter den Begriff
23 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 113, 137, 189, 193, 197, 269, 281f., 286, 289, 364, 391, 507, 520, 524.
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der Forschung fassen? Warum sollten wir darin unterschiedliche Weisen des Erkennens sehen? Mir scheint, dass der Hinweis, den Adorno uns gibt, durchaus auf die richtige Fährte führt: weil unser Erkennen sonst an demjenigen vorbeigeht, was das Individuelle als solches auszeichnet, es zu demjenigen Individuellen macht, das es ist. Adorno hat diesen Gedanken, den er aus der philosophischen Tradition übernimmt, allerdings mit gesellschaftskritischen Annahmen verbunden, die ihn weniger einleuchtend erscheinen lassen können, als er ist. Das wird deutlich, wenn man diesen Gedanken an seinem Ursprung aufsucht: bei Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen in zwei Bänden 1750 und 1758 erschienenes und gleichwohl Fragment gebliebenes Buch Aesthetica als die Gründungsurkunde der neuzeitlichen Ästhetik gilt.24 Erst in den letzten zwanzig Jahren hat die Baumgarten-Forschung die von Baumgarten entworfene Ästhetik als eine auf die Erkenntnis des Individuellen durch Kunst gerichtete philosophische Disziplin in aller Schärfe kenntlich gemacht. Ich deute diese Pointe der Baumgartenschen Ästhetik hier nur in äußerster Grobzeichnung und Vereinfachung an und abstrahiere insbesondere von Baumgartens metaphysischen Prämissen; wer sie in Baumgartens Texten nachvollziehen will, findet in dem außerordentlich anregenden Aufsatz »Veritas aesthetica« des italienischen BaumgartenForschers Pietro Pimpinella aus dem Jahr 2008, auf den sich meine Darstellung stützt, hilfreiche Hinweise.25 Man kann, wie Pimpinella zeigt, die Pointe von Baumgartens Idee einer ästhetischen Wahrheit nur dann verstehen, wenn man sie als den Versuch
24 Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik [lat. 1750/58], übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, Bd. 1, Hamburg 2007. Zur Bedeutung Baumgartens aus heutiger Sicht vgl. demnächst Andrea Allerkamp/Dagmar Mirbach (Hg.): Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Metaphysik und Naturrecht; erscheint Hamburg 2016; Ursula Franke: Baumgartens Erfindung der Ästhetik, erscheint Münster 2017. 25 Pietro Pimpinella: »Veritas aesthetica. Erkenntnis des Individuellen und mögliche Welten«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 20 (2008), S. 37-60. Zum Kontext dieses Gedankens, insbesondere in Baumgartens Werk vor der Ästhetik, vgl. immer noch Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972.
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begreift, ein Problem zu lösen, das sich für Leibniz aus der Annahme ergab, dass Erkenntnis in der exakten logischen Bestimmung einer Sache bestehe, d.h. in deren Definition durch die vollständige Angabe aller ihrer Attribute. Ebendies, die vollständige Angabe aller ihrer Attribute, ist nach Leibniz’ Auffassung bei einer individuellen Substanz, einem singulären Seienden jedoch nicht möglich; denn bei einem singulären Seienden gibt es, sosehr man die Spezifikation der Attribute auch ins Detail treiben mag, immer noch etwas, durch das es sich von jeder anderen Sache unterscheidet. Die Aufgabe, die Gesamtheit der Prädikate anzugeben, durch die ein Individuum, ein singuläres Seiendes, bestimmt ist, erscheint deshalb als unerfüllbar; sie erforderte unendliche Erkenntnis. Das Individuum, das singuläre Seiende, ist insofern nach Leibniz’ Meinung für den endlichen menschlichen Verstand prinzipiell unerkennbar. Das aber ist ein in erkenntnistheoretischer Hinsicht unbefriedigender Befund. Denn er bedeutet, dass der endliche Verstand mit den Mitteln der definierend operierenden Logik die Realität nicht zur Gänze erkennen kann. Baumgarten reagiert auf diesen unbefriedigenden Befund, indem er der Kunst die Fähigkeit zuspricht, ein Individuum, ein singuläres Seiendes, in seiner Individualität zu erkennen. Die Kunst – und Baumgarten denkt hier zwar auch, aber nicht nur an die Dichtung – sei dazu deshalb in der Lage, weil sie »eine mögliche Welt erschafft«26 und der Künstler dabei »den allgemeineren, abstrakteren Wahrheiten immer die bestimmteren und individualisierenden vorzieht, individuelle Themen auswählt und sie in möglichst bestimmter Form, d.h. mit einer außerordentlichen Menge von Einzelmerkmalen, darstellt«.27 Die auf diese
26 Pimpinella: »Veritas aesthetica«, S. 47 mit Bezug auf Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle 1735). Lateinisch-Deutsch, übers. u. hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, § LXVIII, Anm.: »Dudum observatum, poetam quasi factorem sive creatorem esse, hinc poema esse debet quasi mundus.« 27 Baumgarten: Ästhetik, § 565: »Sumat itaque pulcre cogitaturus sibi materiam vel determinationem, unam ex generibus inferioribus aut omnino speciebus rerum, vel si altius videatur in genera superiora adscendere, teneatur tamen eadem vestire multis, quas omittit purior scientia, notis et characteribus, vel tandem singularia sibi legat themata, in quibus regnet perfectio veritatis materialis.« Meine Wiedergabe folgt nicht der Mirbachschen Übertragung, sondern der
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Weise in den durch Kunst eröffneten möglichen Welten sich manifestierende Wahrheit des Individuellen sei jedoch nur als sinnliche Vorstellung erfassbar – nur einer cognitio sensitiva, einer sinnlichen Erkenntnis, zugänglich. Baumgarten nimmt so eine epistemologische Aufwertung des Bereichs der sinnlichen Vorstellungen vor: Ebendas, was für Leibniz nur eine cognitio clara et confusa – nur eine zwar klare, weil auf etwas Bestimmtes gerichtete, aber verworrene, weil nicht in Form einer Nominaldefinition, die notwendige und hinreichende Bedingungen spezifiziert, angebbare Erkenntnis – ermöglicht, wird bei Baumgarten zur einzigen Option, das Individuelle als solches zu erkennen und damit zu vollständiger Realitätserkenntnis zu gelangen. Wer Kunst als Forschung verstehen will, wird sich meines Erachtens in diese Tradition stellen müssen.28 Wenn es einen Grund gibt, die Rede von Forschung, Erkenntnis und Wissen auf Kunst auszudehnen, dann dürfte er darin liegen, dass eine Episteme, die sich auf die Rekonstruktion von Kausalzusammenhängen, das Aufstellen von Gesetzeshypothesen und die Strukturierung unserer Weltwahrnehmung durch das Aufstellen von Definitionen beschränkt, Individuelles als Individuelles nicht angemessen zu repräsentieren vermag. Und solche Repräsentation kann als eine Form der Erkenntnis und der Gewinnung von Wissen verstanden werden. Daran erinnert schon der synonyme Gebrauch, den Leibniz etwa in den Meditationes von den Termini cognitio und repraesentatio macht. Solche Repräsentation – auch daran wäre mit Baumgarten zu erinnern, der die ästhetische von der logischen Wahrheit klar unterschied – bleibt jedoch immer Erkenntnis in einem anderen Sinn als diejenige, die sich am Ziel der Gewinnung bestätigbarer Prognosen orientiert.
Übersetzung, die Pimpinella in seinem Aufsatz über die Baumgartensche »Veritas aesthetica« für diese Stelle gibt, vgl. Pimpinella: »Veritas aesthetica«, S. 50. 28 Deshalb ist es überraschend, dass Baumgarten den Verteidigern der Idee künstlerischer Forschung nur sehr selten als Ahn in den Blick gerät; vgl. aber Jens Badura: »Erkenntnis (sinnliche)«, in: ders. u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 43-48. Genauer: Neumaier: »Philosophische Tätigkeiten zwischen Wissenschaft und Kunst«, S. 47ff.
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III. Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, könnte ein Weg sein, um Individuelles als Individuelles zu repräsentieren, d.h. uns einen epistemischen Zugang zu Individuen und Einzeldingen zu verschaffen, deren je individuelles Sosein begrifflich-subsumierend verfahrende wissenschaftliche Forschung nicht vollständig zu erfassen vermag. Das ist die – vorsichtige – konstruktive Bilanz des zweiten Teils meiner Überlegungen. Ist es aber tatsächlich gerechtfertigt, künstlerischer Forschung, d.h. als Forschung verstandener Kunst, epistemische Qualität zuzuschreiben? Oder anders gefragt: Inwiefern lässt sich die Art und Weise, in der Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, Individuelles als Individuelles repräsentiert, tatsächlich als ein epistemischer Zugang zu Individuen und Einzeldingen verstehen? Mein Versuch, darauf zu antworten, greift die eingangs geäußerte Vermutung auf, dass sich künstlerische Forschung jedenfalls in den bildenden Künsten vermutlich zumeist in Experimenten manifestiert. Indem ich überlege, was es heißen könnte, Kunst als eine Form des Experimentierens zu verstehen, lote ich aus, inwiefern sich Kunst tatsächlich als eine Praxis des Forschens verstehen lassen könnte. Was ist ein Experiment? Zwei Verwendungsweisen des Wortes werden gemeinhin im Deutschen, aber auch in vielen anderen Gegenwartssprachen, unterschieden. Experiment kann zum einen jede Handlung heißen, die das Risiko einer nicht vorhergesehenen Wirkung in Kauf nimmt. In diesem allgemeinen Sinn des Begriffs ist jedes gewagte Unterfangen ein Experiment; und wir können in diesem Sinn sogar von einem unfreiwilligen Experiment sprechen, das jemand unternimmt, der sich zu einer Handlung entschließt, deren Risiken er verkennt. Der Begriff des Experiments kann zum anderen aber auch einen wissenschaftlichen Versuch bezeichnen, der es durch die planmäßige, gemäß wissenschaftlichen Methoden kontrollierte Herbeiführung oder Variierung bestimmter beobachtbarer Umstände ermöglicht, deren Wirkungen auf andere beobachtbare Umstände zu studieren. Welche Anforderungen im Einzelnen an ein Experiment in diesem spezifischeren Sinn des Begriffs zu stellen sind, ist einerseits von Disziplin zu Disziplin verschieden. Andererseits sind die Bedingungen valider Experimente aber auch Gegenstand von Kontroversen insbesondere in den speziellen Wissenschaftstheorien der einzelnen erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen.
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Ein breiter, großenteils über die Naturwissenschaften hinaus- und in die experimentelle Psychologie und die empirischen Sozialwissenschaften hineinreichender Konsens besteht jedoch hinsichtlich einiger basaler Anforderungen an wissenschaftliche Experimente und hinsichtlich bestimmter grundsätzlicher Annahmen über deren Leistungsfähigkeit und Zweck. So besteht weithin Einigkeit darüber, dass Experimente der Beobachtung der menschlichen oder außermenschlichen Natur oder der sozialen Welt, der Entdeckung von Kausalzusammenhängen und der Überprüfung von Hypothesen dienen können, die sich auf solche Kausalzusammenhänge beziehen. Die Hypothesenprüfung kann dabei nur zur Verwerfung oder zur Erweiterung der Ausgangshypothese führen, nicht aber deren Verifikation zum Ergebnis haben. Ein zentrales Charakteristikum wissenschaftlicher Experimente ist es zudem, dass sie auf einer Planung beruhen, die unter anderem auf die möglichst weitgehende Eliminierung möglicher Störvariablen gerichtet sein muss, die eine falsche Interpretation der Ergebnisse hervorrufen könnten. Im Übrigen müssen Planung und Durchführung wissenschaftlicher Experimente methodischen Standards genügen, die auf disziplinspezifischen Konventionen beruhen und teilweise gegenstandsspezifisch sind. Unverzichtbar ist außerdem die Verwendung von Verfahren oder Instrumenten der Messung, die eine quantitative Darstellung der Ergebnisse erlauben. Ein weiteres Merkmal eines wissenschaftlichen Experiments wird in der Physik zwar zum Teil in Frage gestellt, spielt aber in der Forschungspraxis der Erfahrungswissenschaften de facto immer noch eine nahezu unangefochtene Rolle: Ein wissenschaftliches Experiment muss wiederholbar sein, damit ausgeschlossen werden kann, dass das beobachtete Resultat ein Zufallsergebnis ist. Auf welche dieser beiden Grundbedeutungen des Begriffs ›Experiment‹ nehmen wir Bezug, wenn wir von künstlerischen Experimenten sprechen? Durch den Hinweis auf die erste, allgemeine Bedeutung lassen sich die Rede von experimenteller Kunst und der Begriff des ästhetischen Experiments einsichtig machen: Experimentelle Kunst wagt – ebenso wie ein ästhetisches Experiment – die Erprobung noch nicht approbierter künstlerischer Verfahren – zum Beispiel solcher, die sich durch neue Entdeckungen oder durch neue Technologien nahelegen – und nimmt dabei in Kauf, dass sich
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deren Wirkung nicht ähnlich verlässlich vorhersehen lässt, wie dies bei etablierten Verfahren und Techniken der Fall ist.29 Demgegenüber scheint es mir nicht möglich zu sein, die Rede von künstlerischer Forschung und von künstlerischen Experimenten plausibel auf eine der beiden genannten Bedeutungen des Begriffs zurückzuführen. Nicht jede Form experimenteller Kunst, nicht schon der Umstand, dass ein bestimmtes Kunstobjekt ein ästhetisches Experiment darstellt, gibt uns Grund, Kunst als Forschung zu verstehen. Das ist offenbar nur dann möglich, wenn wir es mit künstlerischen Experimenten zu tun haben. Ein künstlerisches Experiment ist aber etwas anderes als experimentelle Kunst. Als eine bloße Handlung, die das Risiko einer nicht vorhergesehenen Wirkung in Kauf nimmt, wäre ein künstlerisches Experiment unterbestimmt. Denn als künstlerisches Experiment kann, in einem nicht nur metaphorischen Sinn, nur solche Kunst apostrophiert werden, die den Charakter einer Versuchsanordnung besitzt. Andererseits unterscheidet künstlerische Experimente in aller Regel von wissenschaftlichen Versuchen, dass sie nicht notwendigerweise auf die Erkenntnis von gesetzesartig beschreibbaren Regularitäten gerichtet sind und dass sie sich nicht streng an methodischen Standards orientieren – die es für die Künste heute ohnehin nicht mehr gibt. Außerdem sind sie nicht notwendigerweise wiederholbar. Und es wird in einem künstlerischen Experiment nicht notwendigerweise gemessen und gerechnet. All diese kardinalen Differenzen beziehen sich auf Aspekte des spezifisch wissenschaftlichen Charakters wissenschaftlicher Experimente. Deshalb lassen sich künstlerische Experimente nicht den wissenschaftlichen Versuchen subsumieren. Ich ziehe daraus den folgenden Schluss: Will man das Phänomen des künstlerischen Experiments erklären und ein angemessenes Verständnis dessen gewinnen, was es heißt, Kunst als Forschung zu verstehen, dann reicht die Unterscheidung zweier Bedeutungen des Wortes ›Experiment‹
29 Von experimenteller Kunst, ästhetischen Experimenten und künstlerischem Experimentieren grundsätzlich zu unterscheiden ist die Idee einer experimentellen Ästhetik, die hier außer Betracht bleiben muss; vgl. dazu grundlegend Bernadette Collenberg-Plotnikov: »›Zoologen und Physiker als die berufensten Forscher in Sachen der Aesthetik‹? Zur Bestimmung der experimentellen Ästhetik in der Allgemeinen Kunstwissenschaft«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58 (2013), S. 11-34.
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nicht aus. Erforderlich ist dazu vielmehr ein dritter, in gewisser Hinsicht ›mittlerer‹ Begriff des Experiments. Ein solcher ›mittlerer‹ Begriff des Experiments muss deutlich werden lassen, dass es eine Art des Experiments gibt, die nicht auf die Zielsetzungen und konventionellen Standards einer wissenschaftlichen Disziplin festgelegt ist, im Übrigen aber wissenschaftlichen Experimenten strukturell stark ähnelt. Mein Vorschlag für einen solchen ›mittleren‹ Begriff des Experiments lautet: Als Experiment können wir – drittens – auch jeden Versuch verstehen, durch die reflektierte Herbeiführung oder Variierung bestimmter Umstände tatsächliche oder vermutete Zusammenhänge deutlicher hervortreten zu lassen, als sie im Alltag normalerweise hervortreten. Diese Definition verzichtet darauf, den Begriff des Experiments in einem spezifischen, aber eben nicht spezifisch wissenschaftlichen Sinn an die exakte Beachtung wissenschaftlicher Methodenkonventionen zu binden. Zugleich grenzt sie den Kreis möglicher Experimente nicht auf solche ein, die sich auf sinnlich beobachtbare Umstände beziehen. Sie fasst den Begriff des Experiments also so weit, dass er beispielsweise auch die Hinzufügung von Sätzen zu einer Theorie oder die Modifikation einer Theorie einschließen kann. Und sie weitet auch den Bereich der möglichen Zielsetzung eines Experiments derart aus, dass diese sich nicht notwendigerweise auf die Erkenntnis von Kausalzusammenhängen beziehen muss. So kann Experiment – gleichsam vor der Schwelle zu einem erfahrungswissenschaftlichen Begriff des Experiments – jede Verwendung einer Versuchsanordnung heißen, die etwas Nichtevidentes aus einem Alltagskontext so hervorzuheben sucht, dass es ein Aufmerken, ein später sich anschließendes Erinnern, eine Aufmerksamkeitskonzentration, einen Anstoß oder auch das Einleuchten eines Arguments oder eines vermuteten Zusammenhangs hervorzurufen vermag. Wenn sich in diesem Sinn von einem künstlerischen Experiment sprechen lässt, dann könnte Kunst als Forschung zu verstehen heißen: Kunst als eine Versuchsanordnung zu verstehen, die etwas Nichtevidentes aus einem Alltagskontext so hervorzuheben sucht, dass es ein Aufmerken, ein später sich anschließendes Erinnern, eine Aufmerksamkeitskonzentration, einen Anstoß oder auch das Einleuchten eines Arguments oder eines vermuteten Zusammenhangs hervorzurufen vermag. Dann aber bestätigt sich auch unser oben schon im Anschluss an den Rückblick auf den Versuch Adornos, die epistemische Funktion von Kunst zu rekonstruieren, festgehaltener Befund: Nicht alle Kunst kann in einem solchen Sinn als Forschung verstanden werden; denn dies scheint nur
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bei solcher Kunst möglich zu sein, die sich als eine Versuchsanordnung begreifen lässt.
IV. Ich fasse meine Überlegungen in fünf Thesen zusammen: 1) Kunst lässt sich nicht als solche als Forschung verstehen. Denn es gibt Kunst, die sich weder plausibel als Experiment im Sinne eines ›mittleren‹ Begriffs des Experiments noch in einem anderen Sinn plausibel als Forschung verstehen lässt. 2) Kunst lässt sich in der Regel dann als Forschung verstehen, wenn sie als eine Versuchsanordnung gedeutet werden kann, die Versuchsanordnungen, die in den empirischen Wissenschaften Verwendung finden, strukturell ähnlich ist. 3) Kunst lässt sich in der Regel dann als Forschung verstehen, wenn sie plausibel als ein Versuch gedeutet werden kann, durch die reflektierte Herbeiführung oder Variierung bestimmter Umstände tatsächliche oder vermutete Zusammenhänge deutlicher hervortreten zu lassen, als sie im Alltag normalerweise hervortreten. Dass Kunst von ihren Urhebern als Forschung intendiert worden ist, reicht also nicht aus. 4) Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, ist immer Forschung von anderer Art, als es insbesondere naturwissenschaftliche Forschung ist: Ihr Telos kann nicht die Gewinnung bestätigbarer Prognosen sein, sondern ›nur‹ – und dieses ›nur‹ mag man in Anführungszeichen setzen oder auch nicht – die angemessene Repräsentation von Individuellem als solchem. 5) Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, ist immer nur auch Forschung. Das unterscheidet künstlerische Forschung grundlegend von wissenschaftlicher Forschung. Denn Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, dient immer auch anderen Zwecken als solchen der Forschung – sonst wäre sie nicht länger Kunst.30
30 Zur Begründung siehe Reinold Schmücker: Was ist Kunst? Eine Grundlegung. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2014, S. 271ff.
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Es sind vor allem die beiden letzten Thesen, die Künstlerinnen und Ästhetiker, die Kunst als Forschung verstehen wollen, zur Bescheidenheit mahnen: Künstlerische Forschung ist nicht der Königsweg der Wissenschaft. Solche Forschung, als die Kunst verstanden werden kann, kann wissenschaftliche Forschung in einem engeren Sinn nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, komplementieren. Auch dies scheint mir jedoch richtig zu sein: Künstlerische Forschung ist nicht der Königsweg der Kunst. Solche Kunst, die als Forschung verstanden werden kann, ist nämlich nur eine Möglichkeit von Kunst unter anderen. ›Näher dran‹ als andere Kunst an dem, was Kunst ihrer Aufgabe, ihrer gesellschaftlichen Funktion oder, für die ganz Antiquierten, ihrem Wesen nach ist, ist sie jedenfalls nicht. Das enthebt die Philosophie der Kunst allerdings nicht der Frage danach, inwiefern künstlerische Forschung möglich ist und inwiefern sie andere Formen des Erkennens zu komplementieren vermag. Denn Kunst, die weiß, dass, warum und in welchem Sinn sie für sich in Anspruch nehmen kann, dass sie forscht, braucht nicht zu fürchten, belächelt zu werden. Sie ist nämlich immer schon darüber im Bilde, dass nicht jeder schon forscht, der eine Spielwiese betritt.31
L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann [1970], Frankfurt a.M. 1973. –: Philosophie der neuen Musik [1949, 31966] (= Gesammelte Schriften, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1975. –: »Résumé über Kulturindustrie« [1967], in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft (= Gesammelte Schriften, Bd. 10), hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1977, S. 337-345. –: Negative Dialektik [1966], Frankfurt a.M. 1982.
31 Als Kronzeuge dafür, dass auch »das spielerische Erkunden von Möglichkeiten« eine Form des Forschens und sogar der »Suche nach grundlegenden Wahrheiten« dienlich sein kann, ließe sich indes kein Geringerer als einer der Ahnen gegenwärtiger analytischer Philosophie, Bernard Bolzano, bemühen; vgl. Neumaier, »Philosophische Tätigkeiten zwischen Wissenschaft und Kunst«, S. 29ff. mit weiteren Nachweisen; die Zitate ebd., S. 41.
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Allerkamp, Andrea/Mirbach, Dagmar (Hg.): Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Metaphysik und Naturrecht; erscheint Hamburg 2016. Badura, Jens: »Erkenntnis (sinnliche)«, in: ders. u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 43-48. Baldauf, Anette/Hoffner, Ana: »Methodischer Störsinn«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 81-84. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle 1735). Lateinisch-Deutsch, übers. und hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. –: Ästhetik [lat. 1750/58], übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, Bd. 1, Hamburg 2007. Collenberg-Plotnikov, Bernadette: »›Zoologen und Physiker als die berufensten Forscher in Sachen der Aesthetik‹? Zur Bestimmung der experimentellen Ästhetik in der Allgemeinen Kunstwissenschaft«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58 (2013), S. 1134. Damianisch, Alexander: »Förderung künstlerischer Forschung«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/ Berlin 2015, S. 253-257. Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972. –: Baumgartens Erfindung der Ästhetik, erscheint Münster 2017. Gabriel, Gottfried: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. Geimer, Peter: »Das große Recherche-Getue in der Kunst«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April 2011, S. N5. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt a.M. 1986. Hornuff, Daniel: »Praxis Dr. Kunst geschlossen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juli 2015, S. N4. Mokre, Monika: »Forschungs- und Wissenschaftspolitik«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 249-252.
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Neumaier, Otto: »Philosophische Tätigkeiten zwischen Wissenschaft und Kunst«, in: ders. (Hg.), Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Kunst, Wien/Münster 2015, S. 25-52. Parzinger, Hermann/Aue, Stefan/Stock, Günter (Hg.): ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen. Reflexionen und Praktiken künstlerischwissenschaftlicher Begegnungen, Bielefeld 2014. Peters, Sibylle: »Das Forschen aller – ein Vorwort«, in: dies. (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 7-21. Pimpinella, Pietro: »Veritas aesthetica. Erkenntnis des Individuellen und mögliche Welten«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 20 (2008), S. 37-60. Schmücker, Reinold: »Kunst als Ideologiekritik? Zum systematischen Ort der Ästhetischen Theorie«, in: ders. (Hg.), Zwischen »Minima Moralia« und »Ästhetischer Theorie«. Theodor W. Adorno im Kontext von Ethik, Ästhetik und Utopie, Iserlohn 1994, S. 35-53. –: Was ist Kunst? Eine Grundlegung. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2014.
Felduntersuchungen im eigenen Vorgarten Künstlerische Forschungen der 1970er Jahre zwischen Adaption und Abgrenzung L UTZ H ENGST
1. E INLEITENDES Einem Beitrag, der auf einer fokussierten Betrachtung weniger Beispiele der Kunstproduktion um das Jahr 1975 basiert, fällt im Zusammenhang dieses Bandes in gewisser Weise eine Mittlerrolle zu. Sie besteht darin, sowohl rein theoretische wie aus je eigener Praxis gewonnene Zugänge zum ›Kunstforschungsproblem‹1 konkret mit solchen künstlerischen Arbeiten zu konfrontieren, die auf Feldern im Übergang zu institutioneller Forschung und Erschließung intervenieren. Zur Verdeutlichung möchte ich im Folgenden (freilich in meiner, einer primär kunstwissenschaftlichen Interpretation) ausgewählte Werke ›sprechen‹ lassen, die erst – und das ist nicht untypisch gerade auch für den Kunstbetrieb der 1970er Jahre – über einen kuratorischen Artikulationsweg als Tendenz gebündelt erscheinen: So fand 1974 im Hamburger Kunstverein eine Ausstellung zu Spurensicherung als
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Das Problem ergibt sich nach meinem Eindruck überhaupt erst dann, wenn man den Begriff der Forschung von vornherein der Sphäre der Wissenschaften zuschlägt und/oder bezweckt, mehr noch als eine Äquivalenz verschiedener Welterschließungsmodi (wie künstlerisch – wissenschaftlich) deren epistemologische Gleichrangigkeit zu postulieren.
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Kunst statt, die erstmals eine thematische Klammer für formal und ästhetisch heterogene Arbeiten von Künstlern wie Christian Boltanski und Nikolaus Lang fand. Das schmale Begleitheftchen2 zu dieser Initialschau ist heute selten in Bibliotheken zu finden. Da es als ein Katalogheft von seinen Verfassern Günter Metken und Uwe Schneede drucktechnisch mehr improvisiert denn ausgearbeitet worden war, zeigen sich an den überlieferten Exemplaren gehäuft Abnutzungszeichen. Ein Exemplar etwa aus den Beständen des Kasseler documenta-Archivs, mit dem ich selbst forschend3 arbeitete, ziert ein Fleck gleich auf der Umschlagseite. Dass dieser sich als Gebrauchsspur ansprechen lässt, gibt mir Gelegenheit zu der Vorbemerkung, dass ich Spuren hier primär empirisch verstehe (und nicht etwa mit Derrida als eine Art ersatzmetaphysischen Quellgrund im Sinne differenzstiftender Basiselemente von Zeichensystemen).4 Zum Spurbegriff gleich etwas mehr; zunächst ein weiterer Blick auf eine einschlägige Publikation, die der Kurator der soeben erwähnten Ausstellung, Günter Metken, 1977 gleichsam als Erweiterung seines Ursprungskonzepts nachlegte: Der Zweittitel dieser Ergänzungspublikation unter der Überschrift ›Spurensicherung‹ lautet Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung – Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst. Dieser Subtitel operiert offenkundig mit einer mehrfach paradoxalen Formel: Wenn nämlich Wissenschaft – zum Beispiel mit Rudolf Wohlgenannt5 – als ein Zusammenhang von widerspruchsfreien Satzfunktionen in einem System wahrer und intersubjektiv prüfbarer faktischer Aussagen gefasst wird, eröffnet
2
Hamburger Kunstverein (Hg.): Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung,
3
Wesentliche Teile des vorliegenden Artikels basieren auf meiner Forschung zu
Hamburg 1974. spurensichernder Kunst: Vgl. Lutz Hengst: ›Ich war gestern‹ – Spurensichernde Kunst und Kulturtechniken nach 1960. Wegmarken für eine künstlerische petite mémoire zwischen Referenz und Anverwandlung, Berlin/Gießen 2015. 4
Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1967], Frankfurt a.M. 1983, hier insbes. S. 107ff.
5
Hans Poser referiert Wohlgenannts hier erwähnte definitorische Bemühung um den Wissenschaftsbegriff in pointierter Zusammenfassung und unter Einordnung sowohl in einen methodischen Zusammenhang (zu Carnaps Begriffsanalytik) als auch den philosophiegeschichtlichen mit Kant. Vgl. Hans Poser: Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2001, hier S. 22f.
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Metken hier dagegen schon semantisch mit der Formel von der ›fiktiven Wissenschaft‹ explizit einen Vorstellungsraum der Regelüberschreitung; jedenfalls insoweit Wissenschaft im konventionellen, nicht-konstruktivistischen Begriff als ausgesprochen non-fiktional firmiert. Dass dann noch zu Wissenschaft im Langtitel gleich zweimal Kunst und mit ihr sowohl Anthropologie als auch Selbsterforschung herangezogen werden, lässt sich ebenso wenig direkt in den Dienst einer konventionellen Aussagenregel nehmen und so um paradoxale Gehalte reduzieren. (Kunst wäre konventionell von Anthropologie und selbst noch von einer Selbsterforschung deutlich zu differenzieren. Das relationale ›als‹ relativiert im Titel jedoch weniger im Sinne eines ›als ob‹, sondern verstärkt zunächst den Eindruck verwirrender Identität von per definitionem Ungleichem.) Womöglich aber lässt sich ein Aussagesinn alternativ im Rückgang auf den Obertitel ›Spurensicherung‹ besser von einer Art Spurdenken, einem künstlerischen allzumal, herleiten. Denn Spurdenken muss in bestimmten Hinsichten immer schon mit einer Erweiterung des Bloß-Vorgegebenen (der Konvention) einsetzen. So setzt es die Bereitschaft zur Interpretation voraus, sich über Spuren zu verständigen. Ein Kleinteil oder eine Einkerbung treten zumeist erst in nachforschend-deutender Perspektive als Rest oder als Resultat von etwas hervor, das nicht länger vollständig vorhanden bzw. nicht mehr als Auslösekraft präsent ist. Das Sprechen über spurensichernde Kunst baut auf diesem Deutungsapriori der Spurwahrnehmung auf. Dabei gehen Vertreterinnen und Vertreter spurensichernder Kunst von zumindest potenziell spurfähigem Material aus; und in diesem Ausgehen bzw. der Insinuierung, dass solches Material Basis beispielsweise einer Installation sei, liegt im Kern ein geteilter grundkonzeptueller Zugang. Zwar lässt dieser Zugangsrahmen fallweise – wie Beispiele noch verdeutlichen sollen – eine künstlerisch kritische Überschreitung einer (indizienwissenschaftlichen) Plausibilisierungslogik in der Aufbereitung von Spuren zu; einer ›Logik‹, wie sie sich nicht zuletzt in der Systematisierungsinstitution Museum mit deren eingeordneten historischen Artefakten einstellt. (Im traditionellen Museum gruppiert man verschiedene Objekte regelmäßig so zueinander, dass sie sich für Rezipienten wie spurbesetzte Zeugen einer konsistenten Chronologie darstellen. Dagegen wäre dann ein spurkünstlerisches Verfahren Boltanskis anzuführen, das eine solche Logik nicht länger als Eigenlogik der Spurträger, sondern als institutionalisierte Ordnungslogistik erscheinen lassen will und dafür
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bisweilen auch unterhalb der Institution Museum, gleichsam im Privatarchiv, ansetzt: So platziert der Künstler beispielsweise bewusst Fotos von Personen, die er qua Unkenntnis von Hintergründen gar nicht seriös zuordnen kann, gleichwohl so, dass sie sich zumindest einem flüchtigen Blick als Teile eines vermeintlich homogenen Familienalbums anbieten.) Doch auch in einer solchen Konstellation bleibt ein nicht-metaphysisches Residuum der Spurauffassung gewahrt: Trotz aller spurkünstlerischen Problematisierung von blinden Flecken in nur scheinbar transparenten Überlieferungen eines als konsistent spurtragend verstandenen Materialensembles wird damit die Auffassung nicht fundamental in Frage gestellt, dass das herangezogene Material Spuren trägt. Spurkunst weist vielmehr kritisch auf, dass Ordnungen der Spurmaterialien und damit die (Fort-)Schreibung von Zusammenhängen nach diesen fraglich sind, nicht aber deren spezifische Substanzialität – und sei es, dass diese, wie im Fall der Fotografie, in den Konturlinien einer ›Lichtspur‹6 respektive in etwas genuin Flüchtigem ausgemacht wird. (Im Foto wäre demgemäß die Spur des Fotografierten zu sehen und auch, zuwenigst graduell, aufbewahrt.) Über eine kritische wie strategische Zuwendung zu Überlieferungsformationen spurfähigen Materials (vom Foto bis zum ganzen Hausstand) hinaus etabliert, um noch einmal etwas eingehender auf Charakteristika von Spurkunst hinzuweisen, kein klarer Materialkanon und keine durchgängig verbindende Stilistik, kein Manifest und auch keine Schule eine Kunst der Spurensicherung. Spurensicherung – das hatte schon ihr Namensgeber Günter Metken angesprochen – ist keine Richtung.7 Lediglich eine begrenzte Zeit bildete sie, nicht zuletzt im Sinn einer Exemplifizierung eines kuratorischen Konzepts, eine zwar nicht in Gruppenformation auftretende, aber thematisch-methodisch konturierte Kunsttendenz mit wenigen, gleichsam gesetzten Vertretern. (Aus der Zeit um die einschlägige Ausstellung wären als solche besonders noch Didier Bay, Claudio Costa, Nancy Kitchel oder auch Anne und Patrick Poirier zu erwähnen, obgleich ich mich hier weiter-
6
Die verwandte Vorstellung eines lichtübertragenen Abdrucks, im Foto bewahrt, findet sich bis in die jüngere Fototheorie, z.B. bei Rosalind Krauss: »Notes on the Index: Seventies Art in America«, in: dies., The Originality of the Avantgarde and Other Modernist Myths, Cambridge 1985, S. 196-209, hier S. 203.
7
Vgl. Günter Metken: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung – Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977, S. 19.
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hin allein auf wenige Beispiele von Nikolaus Lang und punktuell nochmals Christian Boltanski beziehe.) Die Zusammenstellung der Genannten unter dem Bogen Spurensicherung folgt in Erweiterung des oben angesprochenen konzeptuellen Kerns der Analyse, dass sich deren Spurkunst fast ausschließlich durch Leitstrategien charakterisieren lässt. Diese Fundierung der spurensichernden Kunst auf systematisches Vorgehen zeigt sich in konkreten Arbeiten vor allem als ein Erheben solcher Materialien, die sich durch ihre spezifische Spurhaltigkeit oder -fähigkeit auszeichnen, also durch ihr sichtliches und plausibles Verweisenkönnen auf einen Hervorbringungskomplex, der sich geschichtlich einmal wie im Werk repräsentiert dargestellt haben kann. Für dieses Verweisenkönnen bildet das systematische Erschließen bzw. Arrangieren von Archiv- und Nachlassbeständen eine geteilte künstlerische Strategie. Spurkunst setzt sich auf diese Weise regelmäßig in ein Verhältnis zu außerkünstlerischen Umgangsweisen mit überliefertem Gut (z.B. in Formen der Archäologie) und setzt sich formal wie funktionell mit Institutionen der Sammlung, Ordnung und Aufbewahrung auseinander. Jene spurkünstlerischen Referenzen auf strukturierte Erschließungsformen, die sich über Reflexe auf Ordnungsinstitutionen und ein allgemeineres Sich-ins-VerhältnisSetzen zu gleichfalls überlieferungsbezogenen Disziplinen hinaus spezifizieren, ergeben sich vor allem durch Adaptionen ausgesuchter wissenschaftlicher und konservatorischer Vorgehensweisen (beispielsweise Formen einer quasi-ethno- bzw. -soziologischen Feldforschungsdokumentation). Allerdings werden die jeweiligen Referenzmethoden und -ordnungen selektiv und zudem spielerisch-dilettierend, bisweilen ausgesprochen performativ, adaptiert. Es handelt sich um ebenso inhomogene wie freie Inspirationen und Anleihen. Hinzu kommen habituelle Elemente und klischeehafte Versatzstücke – populäre Bilder etwa vom (Natur-)Forscher am Rande der Zivilisation wirken mitunter an einer künstlerischen Inszenierung im Feld mit, die nicht selten spurkünstlerischen Installationen vorausgeht bzw. innerhalb dieser dargestellt wird. Veranschaulichen lassen sich einige der hier angesprochenen Aspekte an einem Beispiel aus dem Werk Nikolaus Langs.
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2. K ÜNSTLERISCH - HISTORISCHES F ELDFORSCHEN AUS EINER ›F ROSCHPERSPEKTIVE ‹ IN W ERKBEISPIELEN N IKOLAUS L ANGS Im Jahr 1971 wendet sich der Künstler als Stipendiat in Japan einem Froschlurch zu, den er tot auffindet, wie er in Parenthese in einem seiner charakteristischen Fundberichte vermerkt.8 In einem solchen Bericht wird nun nicht allein unmittelbar Sachbezogenes wie der Fundzustand des Frosches protokolliert, sondern fallweise eigenes Verhalten reflektiert, regelmäßig aber spezifisch kontextualisiert. Lang findet das Amphibium, wie wir aus den Begleittexten erfahren, auf der Holzsuche vor den Toren Tokios bei einem Fluss. Auch ein shintoistischer Schrein in der Nähe bleibt nicht unerwähnt, und mikrotopographische Beschreibungen erfassen Gelände wie Fundsituation plastisch. Lang, der zuvor bereits in seiner Heimat Kadaver gesammelt (und zudem quasi-präparatorisch für Ausstellungszwecke konserviert) hatte, beschreibt außerdem, wie er aus dem Froschfund heraus ein regelrechtes Begräbnisritual entwickelt: Nachdem er nämlich den toten Lurch am Fundtag in einem Plastikbeutel im Fluss versenkt hat, fährt er an dem darauffolgenden per Vorortzug erneut in die Peripherie der Metropole. Er findet spielend zu dem eingesackten Frosch zurück, obwohl er, wie er bemerkenswerterweise festhält, an dieser Uferstelle vortags bemüht war, eigene »Spuren«9 zu beseitigen. Am provisorischen Unterwassergrab angelangt, holt der Künstler das Tier wieder an die Oberfläche, studiert dessen Zustand genau und überliefert auch diesen im Protokoll. Anschließend macht er sich in Richtung Schrein auf, um in der Nähe verfügbare, trockene Bambusstangen zu ernten. Nach der Ernte verbringt er das Sammelgut samt Frosch auf eine Insel im Fluss. Dieses wenige Meter schmale Eiland vermisst Lang gehend und betont im Tagesbericht, dass er, trotz der offenkundigen Konzentration auf die Geländebeschaffenheit der Insel, Stimmen von Anglern bei einer Betonbrücke an einem benachbarten
8
Zu Charakteristik und Stellung der Berichte bei Lang vgl. in sehr bündiger Zusammenfassung auch Bernd Evers u.a. (Hg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Bücher, Manifeste, Dokumente, Berlin 1999, S. 171.
9
Zitiert nach Nikolaus Lang: »Arbeiten. Texte«, in: Kestner-Gesellschaft (Hg.), Nikolaus Lang, Hannover 1975, S. 13-89, hier S. 26.
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Flussabschnitt aufmerksam hörte. Lang beschreibt sogar, wie sie, deren allzu direkte Nähe er schon am Vortag eigentlich gemieden hatte, sich an einem Tonnenfeuer wärmen. Wie ein Reformfeldforscher weist Lang mit solchen Notizen aus, dass er seine Wahrnehmung selbst in der Kaprizierung auf einen Mikrokosmos kontextsensibel und in viele Richtungen rezeptiv hält. Spurkunst partizipiert – unbenommen der Spielfreude und eines gewissen Dilettantismus – nicht nur in diesem Arbeitsexempel an einem Umfeld avancierter konzeptueller Kompetenzerweiterungsversuche in der Kunst um 1970. Joseph Kosuth etwa, der nie mit der Spurensicherungskunst näher in Verbindung gebracht wurde, verfasst just zu dieser Zeit recht elaborierte Betrachtungen über eine »anthropologisierte Kunst«10 und stellt sich dabei in ausgewählte (konkret z.B. spieltheoretisch unterfütterte) Kulturdiskurse. Eine teilweise Affinität zu einer wissenschaftsdiskursiven Position von Spurensicherungskunst zeigt sich dann in solchen Betrachtungen Kosuths, in denen er einschlägige Quellen verwertet, namentlich etwa die Anthropologin Mary Douglas mit dem Diktum zitiert, dass die Zeit reif sei, Alltagswissen gleichermaßen wie wissenschaftliches als ein einziges soziologisches Feld zu betrachten.11 Bisher getrennt betrachtete Wissens- und Wissensgewinnungsbestände sollen integriert werden – derartige Forderungen, die man nicht zuletzt im Zuge neuer sozialanthropologischer Forschungsansätze nach 1960 in England (insbesondere am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies) formuliert, diffundieren schließlich in den Bereich der Kunst; wobei die Spurkunst Forschungsfelder mitzuerschließen reklamiert, ohne darin das Gleiche wie fachdisziplinär Forschende zu wollen oder zu suchen. Gleichwohl erkennt sie Kunst eine Rolle im Rückgewinnungsprozess von zwischenzeitlich scheinbar monopolisierten Welterschließungsmöglichkeiten zu. Und Konzeptkunstschaffende einer zweiten, postminimalistischen Generation setzen sich nachgerade wissenschaftlich gründlich insbesondere »mit archäologischen und anthropologischen Re-
10 Vgl. Kosuth: »(Notes) On an ›Anthropologized‹ Art«, in: Wallraf-RichartzMuseum (Hg.), Kunst bleibt Kunst. Projekt ’74 Katalog + Dokumentation, Köln 1974, S. 234-237. 11 Zitiert nach ebd., S. 234.
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konstruktionen«12 auseinander, wie die Kunsthistorikerin und Kuratorin Evelyn Weiss 1974 zusammenfasst. Der Kurator Günter Metken schaltet sich in einen solchen Diskurs um Kunst und Wissenschaft zur selben Zeit durch die Spurensicherungsausstellung direkt ein. Er betont durch seine Werkauswahl eine Vorliebe von Künstlerinnen und Künstlern der 1970er für die retrograde Seite des Diskurses Kunst-Wissenschaft. Tatsächlich referenzieren Spurkünstlerinnen und -künstler dieses Typs vorwiegend Disziplinen mit historischer Perspektive. Nicht zuletzt Ausdruck solch spezifischer Retrogradie bzw. ihrer Transzendierung scheint es zu sein, dass Nikolaus Lang, um ein weiteres Werk sprechen zu lassen, eine spezielle Form von Begräbnissen wie artifizielle Wiederauferstehungen inszeniert: Im Sommer 1973 findet er einen toten Bussard im Hochmoor bei Murnau, was bei seinem eigenen bayerischen Geburtsort und zugleich in der Lebensregion der – ich komme unten noch einmal darauf zurück – werkzentralen Geschwister Götte liegt. Um den Vogel spannt Lang am Fundplatz ein kleines Fadenrechteck, überzieht das verstorbene Tier mit Leim und hebt das Gefüge schließlich aus. Die damit entstandene Hohlform wird unter Steinen begraben. Später dient das Formgeviert als Ausgangspunkt für Markierungen von re-konstruierten Flugpunkten im Gelände. Als vorläufiger Höhepunkt weiterer Bussardaktionen formt er mit Greifenpräparaten, die zwischen einem Dutzend Ästchen befestigt werden, fotografisch festgehaltene »Flugbilder«.13 Die Arbeit im Feld mündet in eine Installation, die mit einer Bodenabnahme, einem Wanddisplay und einem Vogelpräparat zwischen naturkundlichem Museumsdiorama und eigenwilliger künstlerischer Grazilität changiert. Mittels der zuvor, im Forschungsfeld, abgenommenen ›Bussard-Schicht‹ und deren Verwiesenheit auf einen konkreten, tatsächlichen Hebungspunkt setzt Lang seinen Arbeitsort als Teil eines historisch gewachsenen Zusammenhangs in Szene. Sein Blick geht buchstäblich auf den Boden und erfasst, wie oft ebenjenes, das wir als Spur ansprechen, einer Tragödie im Kleinsten, einem jähen Ende entspringt.
12 Evelyn Weiss: »Die wiedergefundene Zeit«, in: Wallraf-Richartz-Museum (Hg.), Kunst bleibt Kunst. Projekt ’74 Katalog + Dokumentation, Köln 1974, S. 14-25, hier S. 20. 13 Vgl. Lang: »Arbeiten. Texte«, S. 80f.
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In der Aufbereitung dessen, was er gefunden hat, zeigt er sich bisweilen zupackend: Die beiden toten, aneinandergepressten Lurche der Arbeit Zwei Frösche von 1970 konserviert er nicht nur in Alkohol. Er schnürt sie in ein straffes Korsett aus rotem Doppelfaden. Bezüglich der Frösche erkennt der Kurator Anselm Crämer nicht bloß in den Fäden im Innern des Präsentationsobjekts »Metaphern für schwebendes Festhalten«, er hält dergleichen Tierpräparate zusammengenommen für »Vorläufer von Schaukästen, die komplexere Strukturen an die Stelle ›ästhetisch‹ schlagkräftiger Zuspitzung setzen«.14 Die Strukturierung im Kastenraster behält Lang über die frühen Fundaufbereitungen hinaus tatsächlich wiederholt bei. Zur gleichen Zeit offenbart die ›Froschperspektive‹, die Lang in Bearbeitung kleiner, trauriger Geschichten einnimmt – sad stories heißt die Serie –, einen dezidiert spurhaften Zugang zu seinen Materialien. Was bedeutet hier aber ein spurhafter Zugang?
3. S PURFORSCHUNGEN ALS KREATIVES M ÄANDERN ZWISCHEN K UNST UND ( ERWEITERTER ) I NDIZIENWISSENSCHAFT Als spurhaft ließe sich mit Carlo Ginzburg15 ein ganzer Bereich verschiedener quasi- und proto-humanwissenschaftlicher Problemzugänge beschreiben, der sich um 1900 besonders in der Kriminalliteratur populär abbildet. Diese liefert, so sinngemäß Ginzburg, mit dem Typus des detektivischen Connaisseurs ein Spiegelbild für zeitgleich forcierte disziplinäre Eklärungsansätze in Fächern wie Medizin und Psychologie. Sie beruhen wesentlich auf der deutenden Typologisierung von Detailmerkmalen an Studienobjekten. Das können dann zum Beispiel physiognomische Auffälligkeiten sein – ein starrer Blick mit verengten Pupillen etwa, den man als
14 Anselm Crämer: »Einführung«, in: Städtische Galerie im Lenbachhaus (Hg.), Nikolaus Lang. Japanische Landschaften, München 1973, S. 5-6, hier S. 5. 15 Vgl. Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst« [1983], in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57.
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Indiz für eine bestimmte Stressreaktion nimmt. Zwar kann ein solch frühmodernes Indizienparadigma (Ginzburg), gerade im vordergründigen Widerspruch zu einer sich eben erst entwickelnden exakten Naturwissenschaft, in einer longue durée menschlichen Operierens mit praktischem Orientierungswissen seit Jäger- und Sammlertagen16 gesehen werden. Doch KunstSpurensicherer wenden sich in diesem Referenzraum einer weiteren Begriffsdimension zu, in welcher der Connaisseur (noch) deutlicher als ein Medium der Interpretation und weniger als rational distanzierter Interpret erscheint: Wie Spur-Medien wirken die Künstler dann, wenn sie sich physisch-rezeptiv auf ihre Untersuchungsfelder ausrichten, was wiederum durchaus durch eine Begriffsdimension gedeckt scheint; denn der Begriff Spur lässt sich nicht zuletzt auf Fähigkeiten des ›Spürens‹ beziehen,17 wobei das Spüren an sich zunächst die unwillkürliche Seite auszeichnet, also auch erlittene, nicht bewusst gesteuerte Erfahrung wie Schmerz umfasst. Einlassung auf Erlittenes, Empathiefähigkeit erleichtert Lang nicht bloß die spätere Feininterpretation von Spuren. Das Sich-Einlassen, in diesem Zusammenhang auch als ein Nachspüren verstanden, setzt zugleich ein Sensorium voraus, das über den Bereich der unmittelbar eigenen Wahrnehmung hinausgeht. Hinsichtlich einer Einlassung auf Tiere entsteht der Verdacht, dass darin ein Anthropomorphismus walte, also eine genuin menschliche Tragik auf Lebensformen projiziert werde, deren Welterfahrung sich vermutlich außerhalb der Kategorien von traurig und glücklich vollzieht. Lang nutzt in dieser potenziellen Legitimations- und Repräsentationskrise den in einer quasi-schamanischen18 Weise zu erweiternden Spielraum performativer Kunst, indem er sich in die Deutungshandlung einschaltet und sich so zu einem Konzept der ›Spurinterpretation als Konstrukt‹ bekennt. Nur auf Indizien gestützt, beschwört er eine Geschichte herauf. In den differenziertesten Aspekten seines Werks bleibt es für Rezipienten weitgehend offen,
16 Vgl. Sybille Krämer: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: dies. u.a. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 11-33, hier S. 21. 17 Dazu vgl. ebd. 18 Zum Langschen Schamanismus vgl. bspw. Peter Friese: »Terra Nullius. Zu den neuen Arbeiten von Nikolaus Lang«, in: ders./Claudia Heinrich (Hg.), Nikolaus Lang. Terra Nullius, Essen 1992, S. 3-21, hier S. 11.
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ob ein tragisches Moment darin liegt, dass tatsächlich etwas Jähes passiert ist, oder vielmehr darin, dass wir nicht mehr sicher wissen können, in welchen, jetzt zerfallenen Zusammenhang die Überbleibsel einmal eingebunden waren. Bei Lang erscheint die Spur als ein noch energiegeladener Ausweis eines Zerfallsgeschehens. Mit ihrem Erscheinen zeichnet sich eine mögliche Tragödie überhaupt erst aus einem Gestern her ab – und spendet Material für symbolische Überbrückungsmühen. Dass nun auch positivistische Materialauswertungen regelmäßig über Forschungssettings Lückenschlüsse simulieren, akzentuiert fachforschungskritisch wieder Christian Boltanski. So bildet er nicht nur im oben erwähnten Familienalbum, sondern auch in anderen Arbeiten regelmäßig Präsentationen auf Basis serieller (Schwarz-Weiß-)Fotografie. Darin spiegelt sich qua thematischer Reihung, beispielsweise von Bürgern einer Schweizer Region, die historisch grundierte Evidenz soziologischer Musterformungen vordergründig stimmig (Gruppierung von Einzelbeispielen zu einer ›gewachsenen‹ Merkmalsgemeinschaft, hier: Schweizern einer Kohorte). Doch schon aufgrund ihrer, bei näherem Besehen, oftmals bewusst schwachen Qualität wirken solche Bilder in der Auswahl Boltanskis bisweilen so verschattet, wie spezifischere Zusammenhänge der mit den Fotoreihen aufgerufenen Lebensgeschichten eigentlich im Dunkeln bleiben. (Jene Blechkästen etwa, die der Künstler oft solchen Fotografien wie ungeöffnete archivalische Black Boxes zuordnet, verharren, gleichförmig und unerschlossen, in enigmatischer Indifferenz.) Auch das verschlissene Relikt aus einem längst zerfallenen kleinstbäuerlichen Fundus, um erneut ein medial bzw. materiell anderes, aber auch typisch spurkünstlerisches Langsches Exponat anzuschließen, scheint trotz der Ordnungsbemühung (beispielsweise in der Zusammenfassung zu thematischen Präsentationsblöcken) am Ende die Entzogenheit, ja einen heillos a-logischen und dissoziativen Zug von Spuren auszustellen. In Ausstellungsinstallationen staffelte Lang etwa historisches Inventar klar zu Blöcken gerastert aus einer Kornkiste heraus; vom Steinbrocken bis zum papiernen Dokument reichend, erwies sich das Material indes nur als scheinbar konsequent systematisch aufbereitetes Konvolut. (So kamen etwa Rehknöchelchen, die einen Block bzw. ein Display des Aufbaus füllten, aus anderen Zeit- und Fundschichten als beispielsweise das bäuerliche Werkzeug daneben.) Allerdings, und solchen künstlerischen Standardisierungsbrechungen zum Trotz, kann sich Spurkunst gerade erst in der Konfrontation mit dem
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Auseinanderreichen spurenführenden Materials und auch mit dem Verfall von Spurtragendem empirisch an historischen Lebensvollzug rückbinden, und sie eröffnet zudem über eine je spezifische Rekonstruktionsbemühung hinaus pointierte Aussichten auf eine geschichtliche Situation am Ende des 20. Jahrhunderts: Spurkünstler reagieren in ihrem Zusammentragen von Resten auf gesellschaftliche Wirklichkeit in der Spätmoderne und folgen der Fährte des paradoxen Fetischismus einer ebenso nach authentischem Erinnerungsgut verlangenden wie andererseits Material verschleißenden Kultur. Kulturelle Verwerfungen, das schließt jene zwischen Verschleiß und Aufwertung materieller Kultur ein, lassen sich zwar im Überblick beschreiben, müssen aber jeweils von Einzelnen realisiert (und ausgehalten) werden – von Individuen, die an kulturellem Wandel mit existenziell bemessenen, sozial unterschiedlichen Gestaltungs- und mithin auch limitierten Erkenntnisreichweiten teilhaben. Zuallererst von deren Wechselfällen kündet spurkünstlerisches Arbeiten, besonders bei Nikolaus Lang. Über Jahre dokumentiert dieser im Rahmen eines werkzentralen Zyklus – daraus ist die gerade schon erwähnte Kornkiste ein Werk – den Verfall des ehemaligen Siedlungsplatzes der (mit einer Ausnahme) verarmt in seiner oberbayerischen Heimat verstorbenen Kleinstbauerngeschwister Götte. Lang bleibt auch in diesem Nachlassaufarbeiten nicht passiver Chronist. Stattdessen bringt er seine Person, seine volle, auch physische Rezeptivität ein, um etwas – das sollte jetzt erkennbar geworden sein – tatsächlich Paradigmatisches für diese Kunstform zu tun: Spuren respektive Spurträger in Form von gebrauchten Gegenständen oder auch einem natürlich im Habitat vorkommenden Material unterschiedlicher Art vor Ort aufzunehmen und die Funde sodann – oft in Kästen – zu sichern. Dabei gehört es zu den Charakteristika seines Œuvres, Schlüsseltechniken und Radien des Lebensvollzugs der historischen Referenzakteure performativ und im Rahmen intensiver Feldphasen nachzuarbeiten (z.B. durch Holzernte in den Voralpen oder Ockergewinnung in Australien). Die Genauigkeit, mit der Lang in den parallel zu den Feldphasen angefertigten Protokollen kleinteilige Beobachtungen auflistet und mit ergänzenden Informationen verknüpft, dazu die Fotoinventare, manchmal auch Karten, Skizzen und Befragungen – all das prägt mehrschichtige Installationen. Für ihr Entstehen werden, wie erwähnt, Gliederungsstandards aus verschiedenen Feldforschungs- und Fachkontexten (naturkundlichen, archäologischen und historisch-ethnologischen) frei adaptiert. Die gelegentlich schon launische, in der Zusammenschau der
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Werke aber konstitutive Offenheit, mit der Lang sich im Herstellungsprozess zugleich durch die eigene Rezeptivität lenken lässt, markiert dabei die anschaulichsten Unterschiede zu jenen Ethnologen und Archäologen eines traditionellen, nachgerade vorkritischen Typs, die als Exponenten der referenzierten Gliederungs- und Welterschließungsverfahren Bezugspunkte spurkünstlerischer Arbeitsansätze liefern. Jenseits eines durchskalierbaren Zwecks kann erst die künstlerisch-symbolische Intervention eine – wie im Umgang mit den Raubvogelkadavern (Bussardrevier): sehr anschauliche – Re-Präsenz von verfallenen Zusammenhängen hervorbringen. Dafür bedarf es eines gestaltenden, bastelbegabten Individuums, das sich einlässt und nicht vor Improvisationen mit verwitterndem Material zurückschreckt.
4. F AZIT Kritik an einer positivistisch gefärbten Verwissenschaftlichung und Technifizierung der Welt, die ihre Modellierungsschritte durch eine Glättung der eigenen Operationsspuren opak bzw. unhintergehbar erscheinen lässt,19 kommt hierbei am Ende fast ohne Ironie aus: Subjektives Stückwerk inmitten der Ordnung und damit gegen ein totales Regime verobjektivierender Schemata lautet, so betrachtet, die Losung Langscher Individualforschung. Sie eröffnet eine bis in die Gegenwart ethisch relevante Perspektive und
19 Schon in den 1930er Jahren konnte Ludwik Fleck anhand einer wissenschaftssoziologischen Studie (zur Wassermann-Reaktion) nachweisen, wie proportional zum Ausbau eines Wissensgebietes die Meinungsdifferenzen – und damit die Hinterfragbarkeit eines operationalen Systems – innerhalb einer Forschergruppe abnimmt. Vgl. dazu Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935], hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, hier insbes. S. 110. Diese Studie ist aber erst in den 1980er Jahren wieder nennenswert rezipiert worden; und so ist trotz einer allgemein weiter erstarkenden Fortschrittsskepsis bereits in den Dekaden davor nicht davon auszugehen, dass Konzeptkünstler um 1970 Zugang zu einer historischsoziologisch fundierten Kritik an wissenschaftlichen Operationalisierungen gehabt hätten, wie sie in der jüngeren Vergangenheit – wenngleich mit recht anderem Akzent und in gewisser Weise in der Tradition Kuhns – durch Autoren wie Hans-Jörg Rheinberger popularisiert worden ist.
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zeichnet sich dadurch aus, dass sie konventionellen (Darstellungs-) Mechanismen mit Zug zu einer Marginalisierung des Anteils individuell-alltäglicher Beiträge an Menschheitsgeschichte entgegensteht. Individuen treten in der Vorformung wie der Ausbreitung der (späteren) Funde als Gestalter von Lebensräumen in Erscheinung, die dann zu Feldern einer Forschung werden. Es zeigt sich im künstlerischen Fokus: So verwitterungsanfällig und gefährdet deren Aktivität an spezifischen Punkten sein kann, so ubiquitär sind Spuren von Individuen insgesamt. Unablässig schichten sie sich anund übereinander. Spurvorkommen spannen sich chronisch zwischen den Horizonten des Verlusts und des Wachstums auf – mit dem Vergehen von Leben wächst das Zurückbleibende; mit dem Überprägen oder auch dem Abheben von Spuren entstehen neue. Perspektiven auf die Komplementarität von Verlust und Zuwachs begünstigen in der künstlerischen Übertragung schließlich einen fallweise fast unterschiedslosen Zugang zu tatsächlichen wie bloß möglichen biographischen Beständen (gleichsam um Verluste durch sekundäre Verfüllung zu überbrücken). Mithin artikulieren Kunst-Spurensicherer im Kompensieren von Verlusten eine postmoderne Ambivalenz, die sich durch die gleichzeitig spielerische und ernste Konzentration auf Spurenlesen, -bewahren und auch -legen auszeichnet. Dazu passt eine gewissermaßen programmatische Froschperspektive, also ein Umwelterschließen von kleinsten Geschichten her, das Spurkünstler gegen eine Deutungsdominanz durch fachdisziplinäre Forschungsleitbilder und Meistererzählungen aufbieten. Sie realisieren diese Perspektive, indem sie autodidaktisch und selbsttätig spurtragendes Material aus vielfach vergessenen, randlichen und vor allem persönlichen Beständen suchen und individualmaßstäblich ordnen, um es schließlich kleinteilig vorzuhalten. Forschen wird im spurkünstlerischen Materialaufschluss als kreativer Prozess außerhalb von Institutionen sichtbar, wahrt jedoch die Referenz auf diese. Der Forschungsprozess zeigt sich ebenso für die ästhetische Dimension von Sammlungsordnungen empfänglich wie für die Integration alternativer Welterschließungsweisen (von hobbywissenschaftlichen über kindlich-naive bis zu quasi-schamanischen). Das alternative, Lévi-Strauss’sche Konzept wilder Bastelei20 (bricolage) als einer anderen Interpretations- und Verarbeitungsweise vorgefun-
20 Das meint hier im Kern die Konzeption aus Elementen eines durch den Ethnologen so bezeichneten »mythischen Denkens« und des Bastelns im (stets) vor-
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dener Umwelt insbesondere aus einem direkten persönlichen Involviertsein vermag hier die (von den spätkolonialen Untertönen Lévi-Strauss’ emanzipierten) Sphären von Ordnung und Unordnung in eine Konzeption zu integrieren. Mit der Breite der Spurensicherung trifft – in Bildern dieser Kunst summiert – Sammlungsraster auf staubigen Ockerklumpen, Fotoformat auf geknitterte Bettwäsche. Über ihre so zusammengruppierten Gegenstände eröffnet sich eine induktive Perspektive auf Schichtungen einzelner Lebensgeschichten, in denen sich Bereiche relativer Ordnung (konventionelle Kulturmuster) mit solchen relativer Unordnung (Individualismen, Zerstreuungen, auch Vermüllung) regelhaft überlappen. An Günter Metkens ethnologischem Haupt-Referenzkonzept der bricolage gemessen, in dessen Kontext übrigens Lévi-Strauss selbst Künstler wie Halbwesen zwischen »Gelehrten«21 und Bastlern auf den Wegen der Welterschließung eingestuft hatte, muss folglich mit Blick auf einen bricolierenden Forschungsbeitrag aus der Spurkunst betont werden, dass darin kein egalisierender Beitrag zu einer artistic research (im Sinn einer Äquivalenz zu wissenschaftlicher Forschung) erbracht oder versucht wird, also keine Gleich-, sondern eher eine Entgegensetzung zu einer voll standardisierten wissenschaftlichen Forschung traditionellen Typs stattfindet. Konstruktiv gefasst handelt es sich um ein Komplement zu typologisch festen wissenschaftlichen Standardisierungen, durch das Spurkunst gerade ihren Zug zum Semi-Systematischen und Sub-Institutionellen mitausstellt (und darin am Ende ideologisch auch nur bedingt mit zeitgleichen Reformbestrebungen in Bereichen der Ethnologie, der Geschichte und Soziologie parallel läuft). Spurensichernde Kunst unternimmt um nichts weniger einen Anlauf, individuelle und kreative Hoheit über den Aufschluss jeweiliger Lebenswelten zurückzuerobern. Damit behauptet sie Kunst als eine – und das möchte ich ebenfalls betonen – andere Form, eine andere Praxis forschenden Weltaufschlusses. Damit trotzt sie übrigens zugleich der These von der Weltflucht in der spätmodernen Kunst just so entschieden, wie sie sich Formen einer angemessenen Re-präsentation individueller Teilhabe am Weltaufschluss zuwendet. Was hier wie eine finale Fußnote zu einer ideologisierten Kunstkritik der Zeit nach 1968 klingen mag, trägt einen weiteren Aspekt in unseren
konnotierten Umraum; vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken [1968], Frankfurt a.M. 1973, S. 34ff. 21 Ebd., S. 36.
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Themenhorizont: Denn das Politischbleiben neu-subjektiver Kunstformen (nicht nur in der Bildenden Kunst, sondern auch beispielsweise in der Literatur Nicolas Borns) bei gleichzeitiger Verlagerung des Akzents des Politischen sozusagen ins Vorgärtnerisch-Persönliche belegt einmal mehr die Veränderungsfähigkeit von Kunst; eine Veränderungsfähigkeit, die um 1970 durch die selektive und bricolierende Adaption bestimmter, historisch festgeschriebener Forschungsstandards angeregt wird.
L ITERATUR Crämer, Anselm: »Einführung«, in: Städtische Galerie im Lenbachhaus (Hg.), Nikolaus Lang. Japanische Landschaften, München 1973, S. 5-6. Derrida, Jacques: Grammatologie [1967], Frankfurt a.M. 1983. Evers, Bernd u.a. (Hg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Bücher, Manifeste, Dokumente, Berlin 1999. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935], hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980. Friese, Peter: »Terra Nullius. Zu den neuen Arbeiten von Nikolaus Lang«, in: ders./Heinrich, Claudia (Hg.), Nikolaus Lang. Terra Nullius, Essen 1992, S. 3-21. Ginzburg, Carlo: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57. Hengst, Lutz: ›Ich war gestern‹ – Spurensichernde Kunst und Kulturtechniken nach 1960. Wegmarken für eine künstlerische petite mémoire zwischen Referenz und Anverwandlung, Berlin/Gießen 2015. Kosuth, Joseph: »(Notes) On an ›Anthropologized‹ Art«, in: WallrafRichartz-Museum (Hg.), Kunst bleibt Kunst. Projekt ’74 Katalog + Dokumentation, Köln 1974, S. 234-237. Krämer, Sybille: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: dies. u.a. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007.
F ELDUNTERSUCHUNGEN IM EIGENEN V ORGARTEN
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Krauss, Rosalind: »Notes on the Index: Seventies Art in America«, in: dies., The Originality of the Avantgarde and Other Modernist Myths, Cambridge 1985, S. 196-209. Lang, Nikolaus: »Arbeiten. Texte«, in: Kestner-Gesellschaft (Hg.), Nikolaus Lang, Hannover 1975, S. 13-89. Lévi-Strauss: Das wilde Denken [1968], Frankfurt a.M. 1973. Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung – Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977. Poser, Hans: Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2001. Weiss, Evelyn: »Die wiedergefundene Zeit«, in: Wallraf-Richartz-Museum (Hg.), Kunst bleibt Kunst. Projekt ’74 Katalog + Dokumentation, Köln 1974, S. 14-25.
Ästhetische Amalgamierung Zu Kunstformen der Theorie1 K ATHRIN B USCH
Mit dem Begriff der künstlerischen Forschung wird in der Kennzeichnung zeitgenössischer Kunst heute mehr verdeckt als aufgeklärt. Denn Forschung gilt als Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft,2 und ihren Kriterien folgt die Kunst auch als forschende im Grunde nicht.3 Die unter dem Begriff der
1
Der Text beruht in leicht abgewandelter Form auf Überlegungen, die ich in »Wissen anders denken«, in: Kathrin Busch (Hg.), Anderes Wissen, München 2016, formuliert habe.
2
Vgl. Martin Heidegger: »Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt
3
Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass das, was heute mit dem Begriff der
a.M. 1980, S. 73-110, hier S. 75. künstlerischen Forschung belegt wird, selbst ausgesprochen vielgestaltig ist. Es gibt Künstler, die wissenschaftliche Ergebnisse ästhetisch vermitteln oder in transdisziplinären Projekten mit Wissenschaftlern gemeinsam arbeiten, ohne selbst wissenschaftliche Verfahren anzuwenden. Andere Künstler beziehen qualitative Forschungsmethoden wie Interviews und Feldforschung in ihre künstlerische Arbeit ein, ohne dass die Ergebnisse deshalb schon wissenschaftlich wären. Wiederum andere künstlerische Positionen zeichnen sich dadurch aus, ästhetische Umsetzungen wissenschaftlicher Ergebnisse vorzulegen. Andere begnügen sich nicht mit einer Vermittlung eines in den Wissenschaften gewonnenen Wissens, sondern arbeiten an einer künstlerischen Fortführung von Forschungsergebnissen, was zu einem hybriden künstlerisch-wissenschaftlichen
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künstlerischen Forschung firmierende Kunst rückt nicht in die Nähe der Wissenschaften, wie der Begriff der Forschung nahelegt, sondern in die Nachbarschaft zur Theorie. In den Künsten haben sich neue ästhetische Erkenntnisformen etabliert, in denen sich Kunst und Theorie amalgamieren. Die Auseinandersetzung um künstlerische Forschung ist dabei nur Symptom einer grundlegenderen Verschiebung, durch die sich das Verhältnis von Kunst und Wissen neu figuriert und die wesentlich weiter reicht als die rezenten Debatten über künstlerische Promotionen. Worum es im Grunde geht, ist eine Neuaufteilung im Feld der Episteme, in dem sich neue Wissensformen etablieren. Ihre Spuren kann man bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Seit den frühen Avantgarden hat es in der Kunst eine Annäherung an die Theorie und zugleich in der Theorie eine Annäherung an die Kunst gegeben. So wie von einem Theoretisch-Werden der Kunst kann man von einem Kunst-Werden der Theorie sprechen. Auf der einen Seite wird Kunst zum Medium der Theorie: Kunst fungiert etwa in der Philosophie von Martin Heidegger, Gilles Deleuze oder Jacques Derrida nicht als der Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung, sondern sie wird in der Philosophie – als Veränderung des Denkens – wirksam. Kunst ist darin weniger Sujet einer philosophischen Betrachtung als vielmehr Austragungsort für eine andere Form des Denkens, das sich entlang und vermittels der Kunst vollzieht, sich von der Kunst in Anspruch nehmen lässt und sich durch sie transformiert. Im Gegenzug wird auf der anderen Seite auch die Philosophie zum Material und Arbeitsmittel der Kunst, sei es, dass die Kunst selbst eine philosophische Funktion in Bezug auf die Klärung ihres eigenen Status gewinnt – wie etwa bei Marcel Duchamp, Andy Warhol oder Joseph Kosuth –, sei
Wissen führt. Auch wird als künstlerische Forschung angesehen, wenn Künstler wissenschaftliche Methoden und Darstellungsverfahren oder wissenschaftliche Labore, Archive und Bibliotheken auf ihre impliziten Voraussetzungen hin befragen und damit eine Art künstlerische Epistemologie und Institutionskritik der Wissenschaften oder des akademischen Feldes vornehmen. Einen guten Einblick in die unterschiedlichen Formen künstlerischer Forschung geben Jens Badura u.a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, das Journal for Artistic Research, http://jar-online.net/ (abgerufen am 19.08.2015) und das Themenheft Artistic Research der Zeitschrift Texte zur Kunst, Heft 82 (2011).
Ä STHETISCHE A MALGAMIERUNG
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es, dass eine Arbeit mit Philosophie in die Verfahren der Kunst aufgenommen wird – wie in der postkonzeptuellen Kunst, die mit und auf der Grundlage von Theorien arbeitet. So wie Kunst in die Philosophie einwandert und dort ein eigenes Leben entfaltet, so wandern im Gegenzug Theorien in das Feld der Kunst aus, wo sie eine Umarbeitung und Fortführung erfahren.4 Von der Kunst und der Philosophie wird bei diesen Transformations- und Migrationsbewegungen jeweils ein unüblicher – geradezu entfremdender – Gebrauch gemacht: von der Kunst ein ›geistiger‹ (und eben nicht nur ästhetischer) Gebrauch und von der Philosophie ein künstlerischer (und nicht nur epistemischer) Gebrauch. Diese Missbräuche, Migrationen und Transformationen treten in der Gegenwart besonders offensichtlich zutage und gehen mit einer weitreichenden epistemischen Verschiebung im Ästhetischen einher. Oder präziser formuliert: Es vollzieht sich in der Kunst eine Verschiebung vom Ästhetischen zum Epistemischen. Hatte Jacques Rancière von einem »ästhetischen Regime« in der Kunst seit der Moderne gesprochen, in dem Kunst durch ihre »sinnliche Seinsweise«5 ausgezeichnet ist, so hat man für die Gegenwartskunst von einem epistemischen Regime zu sprechen. Die postkonzeptuelle Kunst wird nicht im Hinblick auf die Möglichkeiten einer ästhetischen Erfahrung, sondern vermehrt im Hinblick auf ihren Erkenntnisgehalt, ihr kritisches Vermögen und die Bereitstellung eines anderen Wissens beurteilt. Diese Verschiebung zum epistemischen Register bricht mit der modernistischen Kunsttheorie insofern, als Kunst sich weniger durch Selbstreflexion im Ästhetischen auszeichnet als vielmehr durch die Einbeziehung von Theorien, durch eine Positionierung in Diskur-
4
Vgl. zu den Migrationsbewegungen zwischen Kunst und Philosophie Mirjam Schaub: »Plädoyer für Kunst als verkannte Heuristik der Philosophie«, in: No. 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Nr. 18/19 (2012): Ins Offene. Gegenwart, Ästhetik, Theorie, S. 71-79.
5
Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2006, S. 39ff. Rancière unterscheidet drei Regime der Kunst: das ästhetische Regime, das sich mit der Autonomie der Künste durchsetzt, folgt auf das repräsentationale Regime, in dem Kunst im Hinblick auf die Nachahmung der Wirklichkeit beurteilt wird. Im ethischen Regime der Kunst, das Platon etabliert, werden Bilder im Hinblick darauf beurteilt, wie sie »das ethos, also die Seinsweise der Individuen und der Kollektive« (ebd., S. 37) bestimmen.
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sen oder durch das Freilegen eines verworfenen Wissens. Diese Verlagerung zum Epistemischen korrespondiert einer Umwälzung im Feld des Wissens selbst, die Jean-François Lyotard bereits in das Das postmoderne Wissen beschrieben hat und die heute unter dem Begriff der Wissensgesellschaft analysiert wird.6 Einerseits geht die epistemische Orientierung der Künste also konform mit der generellen Bedeutungszunahme von Wissen innerhalb der Gesellschaft, andererseits zeichnet sich die Kunst, ebenso wie die Philosophie, gerade dadurch aus, für ein anderes Denken oder inkommensurables Wissen einzutreten, das auch das Funktionieren der heutigen Wissensgesellschaft reflektiert, die Wissensökonomien selbst in den Blick nimmt und die institutionellen Bedingungen der Wissensproduktion und -vermittlung reflektiert.7 Bedenkt man ausgehend von diesen Verschiebungen die Frage, wie Kunst sich verändert, wenn man sie als Forschung versteht, dann schränkt man mit dem Begriff der Forschung den Blick auf die Umschichtungen und Neuaufteilungen des epistemischen Feldes bereits in signifikanter Weise ein. Denn der Begriff der Forschung tendiert zu einer wissenschaftlichen Einhegung der Kunst, die diejenigen künstlerischen Denkweisen und ästhetischen Theorieformen ausschließt, die sich keinen strengen Methoden unterwerfen, sich gegen disziplinäre Zuordnungen verwehren oder sich erlauben, Fakten und Fiktion zu mischen.8 Statt über den Begriff der Forschung wäre das neue epistemische Regime der Künste besser über Konzepte eines anderen Wissens, über Modelle künstlerischer Theorieformen oder eines ästhetischen Denkens9 beschreibbar – es sei denn, man würde sich zuallererst die Gegenfrage vorlegen, was es für den Begriff der Forschung bedeutet, dass sie auch in der Kunst betrieben wird.
6
Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. von
7
Tom Holert: »Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedin-
Otto Pfersmann, Wien 1986. gungen der Wissensökonomie«, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 223-238. 8
So argumentiert etwa Irit Rogoff: »Academy as Potentiality«, in: Angelika Nollert u.a. (Hg.), Academy, Frankfurt a.M. 2006, S. 13-20.
9
Siehe hierzu etwa Florian Dombois u.a. (Hg.): Ästhetisches Denken. NichtPropositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014.
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Um einer voreiligen Subsumption unter einen verengten Forschungsbegriff zu entgehen, soll im Folgenden auf die Philosophie rekurriert werden, um zu klären, was ein künstlerisches Denken abseits eines wissenschaftlichen Anspruchs sein könnte und wie sich in ihm Kunst und Theorie verbinden und vermischen. Ausgehend von der eingangs beschriebenen Amalgamierung von Kunst und Philosophie sollen Aspekte einer neuen Wissensform oder eines anderen Denkens skizziert werden, wie sie sich vor allem in der französischen Theorie entwickelt haben. Um ein ›anderes‹ Denken der Kunst handelt es sich hierbei, weil es nicht um eine Theorie der Kunst geht, in der die Kunst das Objekt der Theorie ist, wie in den üblichen ästhetischen Theorien, sondern die Kunst als Subjekt der Theorie in den Blick gerät.10 Außerdem handelt es sich um eine ›andere‹ Kunsttheorie, weil ihr historischer und auch aktueller Bezugspunkt in einer anti-modernistischen Konzeption aufzufinden ist, in der allen Formen des Anderen im Sinne der Heterologie oder Alteration besondere Bedeutung zukommt. Während man gängigerweise die künstlerische Forschung mit der modernistischen Tradition des Selbstreflexivwerdens der Künste in Kontinuität sieht und eine Linie zieht von der Modernen Kunst über die Konzeptkunst bis zur Kontextkunst, die eine Erforschung ihrer eigenen Bedingungen in den gesellschaftlichen Strukturen verfolgt, soll hier eine nicht ganz so rationalistische Genealogie nachgezeichnet werden. Dabei wird auch nach der Transformation der ästhetischen Theorie und nach anderen Formen des künstlerischen Denkens gefragt. Ein solches Denken in der Kunst wird das implizieren, was bereits in der philosophischen Ästhetik herausgestellt wurde, nämlich dass im Denken der Kunst unbewusste Kräfte im Spiel sind – woran (1.) unter Bezugnahme auf Rancière erinnert werden soll. Dass diese Dimension über das »ästhetische Regime« der Künste hinaus wirksam bleibt und sich auch für die theoretisch informierte Kunst des 20. Jahrhunderts nachweisen lässt, wird (2.) anhand von Michel Foucaults »Denken des Außen« gezeigt. Foucault bezieht sich hier auf Maurice Blanchot, dem es gelingt, Literatur und Philosophie in einzigartiger Weise zu verschmelzen und damit ein neues Bild des Denkens zu entwerfen. Dieses andere Bild des Denkens soll (3.)
10 Siehe hierzu den Artikel von Marcel Finke: »Denken (mit) der Kunst oder: Was ist ein theoretisches Objekt?«, in: http://wissenderkuenste.de/texte/denken-mitder-kunst-oder-was-ist-ein-theoretisches-objekt/ (abgerufen am 11.10.2015).
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unter Rückgriff auf Gilles Deleuze weiter verdeutlicht werden, um schließlich (4.) an den Essayismus als exemplarische Form von künstlerischem Denken zu erinnern.
1. D AS
UNBEWUSSTE
D ENKEN
Mit Rancière kann man eine Charakterisierung dieses anderen Denkens über den Begriff des ›ästhetischen Unbewussten‹ vornehmen. Rancière zeichnet nach, wie mit der Ästhetik im 18. Jahrhundert die Idee von Kunst als unbewussten Denkmodus entsteht. Kunstwerke sind demnach »Zeugnisse für die Existenz einer bestimmten Beziehung zwischen Denken und Nichtdenken, einer bestimmten Art von Präsenz des Denkens in der sinnlich spürbaren Materialität, für das Unwillkürliche im bewußten Denken und den Sinn im Sinnlosen«.11 Anders als im wissenschaftlichen, methodisch gestützten Wissen wird im künstlerischen Denken der Anteil des Unbewussten am Denken nicht minimiert, sondern exponiert. In der Kunst ist eine anders geartete Erkenntnisfähigkeit am Werk, »eine Wildheit des Denkens«,12 die ihre Andersheit aus dem Zuspiel des Unbewussten gewinnt. Die Tatsache, dass alle Denkvorgänge Dynamiken unterstehen, die sie selbst nicht vollständig regulieren, zeigt sich in besonderer Weise in der Kunst. Das Werk ist »Wirkungsbereich« des Unbewussten.13 Für eine Epistemologie der Kunst ist diese Berücksichtigung eines nicht auf das Bewusstsein eingeschränkten Begriffs vom Denken besonders interessant. Gegen eine rationalistische Verengung künstlerischer Forschung wird ein Wissensbegriff konturierbar, der unbewusste Artikulationen einschließt und ihnen ein Wissenspotenzial zuerkennt. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass Kunst tatsächlich ein Modus des Denkens ist, und zwar eines Denkens, das »von Kunstwerken ausgeführt wird«.14 Diesen Modus zeichnet aus, dass er sich nicht ausschließlich einer bewussten Betätigung, sondern Kräften verdankt, die einerseits im Subjekt, andererseits im Sinnli-
11 Jacques Rancière: Das ästhetische Unbewußte, übers. von Ronald Voullié, Zürich 2006, S. 8. 12 Ebd., S. 19. 13 Ebd., S. 8. 14 Ebd., S. 10.
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chen, im Material oder Medium des Werks wirken. Das Werk ist aufzufassen »als Zeugnis der Tätigkeit von Kräften, die über das Subjekt hinausgehen und es aus sich selbst herausreißen«.15 Das Werk zeugt von etwas, das sich in ihm denkt. Mit diesem »es denkt« wird in der Ästhetik ein neues Wissensregime entdeckt. Der Rätselcharakter der Kunst, die Uneinholbarkeit der Bedeutung von Kunstwerken, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen anders zu interpretieren: Kunst ist nicht das Andere des Denkens, dessen ästhetischer Überschuss die Offenheit von Kunst bedingt, sondern in ihr artikuliert sich ein anderes Denken, das über die Beschränkungen eines rationalistischen Wissensbegriffs hinausgeht. Auf dieses Unbewusste im Ästhetischen bezieht sich, so müsste man Rancières Überlegungen fortführen, die Kunst im 20. Jahrhundert, insofern sie es zum Gegenstand ihrer künstlerischen Erforschung macht. Spätestens seit dem Surrealismus stehen in der Kunst Ansätze einer künstlerischen Offenlegung des ästhetischen Unbewussten bereit.16 Die künstlerische Praxis der Surrealisten beschränkt sich nicht darauf, einen unbewussten Sinn zu artikulieren, sondern zielt darauf ab, ihn zu erkunden. Sie verfährt analysierend im Hinblick auf das ästhetische Unbewusste und macht es in den Werken sichtbar. Was von der surrealistischen Malerei entdeckt und künstlerisch erforscht wird, ist vor allem, dass und inwiefern das Sehen passivisch strukturiert ist. Es gibt eine Vorgegebenheit im Visuellen, die das Sehen in gleicher Weise strukturiert wie die Sprache das Sprechen. Der Surrealist verfügt nicht über die Bilder, von denen er heimgesucht ist und deren Wesen er entschlüsselt. Vielmehr legt er Zeugnis ab von dem ›Gefangengenommensein‹ oder ›Ergriffensein‹ durch das Sichtbare und durch ein bereits ›Vor-Gesehenes‹. Gegen die Positivität des Visuellen und gegen die Gleichsetzung von Sehen und bewusster Wahrnehmung gewendet,17 arbeiten diese anti-modernistischen Künstler in ihren Werken einer anderen Theorie des Sehens zu.
15 Ebd., S. 61. 16 Siehe hierzu die Studie von Rosalind Krauss: Das optische Unbewusste, übers. von Hans H. Harbort und Andreas Stuhlmann, Hamburg 2011. Die Erforschung des optischen Unbewussten, derer sich Künstler im 20. Jahrhundert annehmen, lässt sich nach Krauss als Erkundung der Kehrseiten des Modernismus und als eine Kritik an dessen Verkürzungen verstehen. 17 Ebd., S. 35.
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In Abgrenzung vom modernistischen Paradigma versteht der surrealistische Gegenentwurf die visuellen Tatsachen als Effekte von Verdrängungen und erkundet den Prozess, in dem bestimmte Sichtbarkeiten gegenüber anderen verworfenen Sichtbarkeiten durchgesetzt werden. Man kann den surrealistischen Werken also ein Denken des Visuellen entnehmen, das von Maurice Merleau-Ponty und Jacques Lacan aufgenommen worden ist. Die Kunst unternimmt streng genommen eine Erforschung jener »dunklen Stellen«, von denen die »Fundamente des Modernismus durchsetzt«18 sind: wie des Unheimlichen, des Formlosen, der Mimikry und des Blickbegehrens, deren Theoretisierung man wiederum in den Texten Georges Batailles, Roger Caillois’ oder Pierre Klossowskis findet und die sich bis in das Werk von Gilles Deleuze oder Michel Foucault nachverfolgen lässt.
2. E IN D ENKEN
DES
A USSEN
Insbesondere bei Foucault findet man eine solche anti-modernistische Kunstkonzeption weitergeführt. Foucault zeigt in »Das Denken des Außen«19 für die Kunst, vor allem für die Literatur, dass sie in ihrer Selbstthematisierung nicht zu sich zurückkommt, sondern das produzierende Subjekt über sich und seine inneren, subjektiven Vermögen hinaustreibt ins Außen und dabei – anders als es die modernistische Kunsttheorie will – keine Bewegung der reflexiven Aneignung ihrer eigenen Voraussetzungen vollzieht. Eben dieses Hinausgetriebensein über das eigene Vermögen zeichne ein angemessenes Bild des Denkens in der Kunst. Wenn man annehmen möchte, dass es die Kunst des 20. Jahrhunderts ausmacht, den repräsentationalen Bezug auf die außerkünstlerische Wirklichkeit zugunsten einer Selbstreferentialität zu suspendieren, dann wäre es falsch zu meinen, sie komme in ihrem Inneren an, vielmehr werde sie in ihr Außen versetzt. In der Thematisierung ihrer eigenen materiellen und medialen Bedingungen stößt die Kunst an deren Uneinholbarkeit. Foucault weist anhand der Schreibweise des dem Surrealismus nahestehenden Maurice Blanchot
18 Ebd., S. 47. 19 Michel Foucault: »Das Denken des Außen«, übers. von Michael Bischoff, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2011, S. 670-697.
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auf, dass dieser vor allem zwei Verfahren entwickelt hat, um das, was nicht im Rahmen der subjektiven Vermögen einzuholen ist, im Werk dennoch zur Sprache kommen zu lassen. An der Grenze der subjektiven Vermögen situiert, lässt sich sein Schreiben von einer Anziehung bestimmen, es betätigt sich nicht. Blanchot hat aus solcher Anziehung ein regelrechtes Verfahren gemacht, das ein Gegenmodell zur wissenschaftlichen Methodik ist. Anziehung eröffnet eine Erfahrung von etwas, das man nicht hat und das seine Kraft aus einem Abstand entfaltet. Blanchot nennt es eine Wirkung in die Ferne – nicht nur aus der Ferne –, weil die Distanz zu dem Anziehenden nicht verringert oder überbrückt, sondern als Entfernung erfahrbar ist. Für Blanchot ist es das Bild vom Gesang der Sirenen,20 das er in dieser Weise als Bild eines Denkens interpretiert, das angezogen wird und fasziniert ist von etwas, das in Distanz bleibt. Dies birgt insofern Ungewissheit und sogar Gefahr, als man sich in der künstlerischen Produktion einem Prozess zu überlassen hat, ohne zu wissen, wo dieser Prozess endet, und ohne das Ziel zu kennen. Deshalb sei der künstlerische Produktionsprozess ein Wagnis, ein Aufbruch ins Ungewisse, eine Erfahrung des Nächtlichen und Dunklen und keine Bewegung der Selbstvergewisserung und Aufklärung.21 Das zweite künstlerische Verfahren von Blanchot belegt Foucault mit dem Begriff der Achtlosigkeit oder des Unbeabsichtigten. In einem Verzicht auf eine Beherrschung der künstlerischen Produktionsmittel werde die Erfahrung einer Fremdheit gemacht. Auch hierbei geht es um die Öffnung des künstlerischen Denkens für etwas Unbekanntes und nicht um dessen Aufklärung oder Vergewisserung. Das Denken des Außen ist also ein Denken, das sich nicht ausgehend vom Subjekt entrollt, um zu diesem zurückzukehren, das nicht dessen Intentionen und Annahmen folgt, dem Subjekt keine Selbstgewissheit schenkt, vielmehr seine Selbstbezüglichkeit aufkündigt, um in den Raum seiner Bedingtheit aufzubrechen, der nur zugänglich wird, wenn das Subjekt sich von sich selbst entfernt. Dieses Denken versichert sich dabei nicht der es bestimmenden äußeren Bedingungen. Eben deshalb ist das Denken
20 Siehe Maurice Blanchot: »Die Begegnung mit dem Imaginären«, in: ders., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übers. von Karl August Horst, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 11-21, hier S. 11f. 21 Maurice Blanchot: Der literarische Raum, übers. von Marco Gutjahr und Jonas Hock, Zürich 2012, S. 167ff.
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des Außen, wie Foucault es in der Kunst seiner Zeit auffindet, keine aneignende Sichtbarmachung der unsichtbaren Bedingungen, sondern es zeige, »wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren«22 sei. Das Denken des Außen lege seine historischen Konstitutionsbedingungen frei, ohne sie ihrerseits transparent machen zu können. Dieses Denken versucht zu jenen das Denkbare, Sagbare und Sichtbare bestimmenden Strukturen vorzudringen, also die Dispositive des Sichtbaren und Sagbaren freizulegen, die nicht vom Subjekt konstituiert und reguliert werden, sondern ihm gegenüber eigenständig und eigengesetzlich sind. Mit ihren Gesetzen kann man nur in Berührung kommen, wenn man die subjektiven Kategorien und Vermögen suspendiert. Daher sind künstlerische Verfahren der Neutralisierung des eigenen Tuns zugunsten von Nichttun und Unvermögen, die Blanchot auch als Ent-werkung bezeichnet, die angemessenen Mittel zur Erforschung dieses Bestimmenden. Dieses Anliegen von Blanchot, eine Erfahrung des Ausgesetztseins zum Ausgangspunkt der denkerischen Praxis zu machen, findet sich auch in der Philosophie wieder, wenn sie sich ausgehend von einem Kern der Beunruhigung und des Fragwürdigen entspinnt – wie dies nun kurz unter Bezugnahme auf Deleuze erläutert werden soll.
3. D ELEUZES B ILD
DES
D ENKENS
Auch Deleuze zeichnet ein neues Bild des Denkens.23 Er räumt mit drei traditionellen Vorstellungen vom Denken auf, die sich auch oft noch in der Idee künstlerischer Forschung wiederfinden lassen: erstens dass das Denken der Vollzug eines Vermögens sei, das, angemessen ausgeführt, zum Wahren führe; zweitens dass die Abweichung vom Wahren, also der Irrtum, durch Kräfte verursacht sei, die dem Denkvermögen äußerlich sind und vom Körper, den Leidenschaften oder Affekten ausstrahlen, und drittens dass ein methodisches Vorgehen verbürge, dass man richtig denkt. Dank der Methode soll es gelingen, den irrläuferischen Kräften zu entgehen. Damit aber, so die zentrale These von Deleuze, verkenne man gerade
22 Foucault: »Das Denken des Außen«, S. 678. 23 Siehe hierzu Raymond Bellour: »Das Bild des Denkens. Kunst oder Philosophie, oder darüber hinaus?«, in: Peter Gente/Peter Weibel (Hg.), Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 13-25.
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dasjenige, was im eigentlichen Sinne zu denken gibt. Es seien die affektiven und unbewussten Kräfte, die das Denken ausmachen und die Prozesse des »Wahr-Werdens« befeuern. »Die Denktätigkeit ist immer eine sekundäre Macht des Denkens, kein natürlicher Vollzug eines Vermögens, sondern ein außergewöhnliches Ereignis im Denken, für das Denken selbst.«24 Und: »Dem Denken muß sich eine Gewalt in Form eines Gedankens aufdrängen, eine Macht muß es zwingen zu denken, es einem Aktiv-werden aussetzen.«25 Denken heiße, sich diesen zwingenden Kräften auszusetzen und in Antwort auf sie Gedanken zu gewinnen. Denken sei Bildung von Gedanken auf der Grundlage von Affizierung, immer hervorgerufen in bestimmten Situationen und Zeiten und sich in je eigenen Elementen vollziehend, und gerade nicht die Anwendung einer objektiv verbürgten Methode. Das Denken ist deshalb im Grunde nicht willkürlich, sondern unwillkürlich, ein regelrechtes »Abenteuer des Unwillkürlichen«,26 das seinen Augang von etwas nimmt, das sich zu denken gibt – wie Deleuze unter deutlicher Bezugnahme auf Heidegger formuliert. Allerdings spricht Heidegger von der Gabe des zu Denkenden,27 während Deleuze den Zwang akzentuiert: »Das Denken ist nichts, ohne irgendetwas, das es zu denken zwingt, das dem Denken Gewalt antut.«28 Dieses affizierte Denken findet Deleuze in der Kunst wieder. In ihr wird offensichtlich, dass das Denken von außen hervorgerufen oder evoziert wird, so dass alle Vermögen – des Verstandes und der Einbildungskraft – Spuren des Unwillkürlichen tragen. Dies behauptet die Kunst gegen die klassische philosophische Konzeption des Denkens, die es dem Willen zum Wissen und der Entscheidung für eine gesicherte Methode unterstellt. Dagegen zeigt die Kunst – so interpretiert Deleuze den eminent philosophischen Einsatz und Ertrag des Werks von Marcel Proust –, dass der Akt des Denkens selbst nichts Willkürliches ist.29 Die Vermögen des Denkens stehen mit dem Unvermögen in engster Beziehung, denn als »Un-
24 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, übers. von Bernd Schwibs, Hamburg 1991, S. 118. 25 Ebd., S. 119. 26 Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen, übers. von Henriette Beese, Berlin 1993, S. 79. 27 Vgl. Martin Heidegger: Was heißt denken?, Tübingen 1954, S. 51. 28 Deleuze: Proust und die Zeichen, S. 79. 29 Vgl. ebd., S. 82.
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vermögen« muss man ein unwillkürliches Vermögen, ein Vermögen, über das man nicht verfügt, sondern dessen Gewalt man unterworfen ist, tatsächlich bezeichnen. »Jedesmal, wenn man einen konkreten und gefährlichen Gedanken ersinnt, weiß man wohl, daß er nicht von einer expliziten Entscheidung oder Methode abhängt, sondern von einer Gewalt, der wir begegnen, an der wir uns brechen, die uns gegen unsern Willen bis zu den Essenzen führt. Denn die Essenzen leben in dunklen Zonen, nicht in den gemäßigten Gegenden des Klaren und Distinkten. Sie sind in dem 30
zusammengerollt, was zu denken zwingt […].«
Denken heißt, dieses im Sinnlichen ›Zusammengerollte‹ zu entrollen und das Begegnende oder Zwingende zu interpretieren.
4. E SSAYISTISCHES D ENKEN Parallel zu solchen Auseinandersetzungen mit einem ›anderen Denken‹ in der Kunst gewinnt die Philosophie selbst neue Formen und experimentiert mit dem Kunst-Werden der Theorie. Es werden künstlerische Denkformen in die Philosophie eingeführt. Als Beispiel kann etwa Georges Bataille gelten, der nicht nur in seinen literarischen Werken seine Philosophie weiterdenkt, sondern auch in den Artikeln der Zeitschrift Documents seine Überlegungen in Konstellation mit Bildern präsentiert. Auch Walter Benjamin entwickelt Kunstformen der Theorie, wenn er seine Überlegungen in Denkbildern, als kleinen literarischen Formen, niederlegt. Er leitet sein Denken nicht begrifflich ab, sondern stellt es anschaulich dar, so dass seine Gedanken, wie Adorno bemerkt, »in einer Farbe [leuchten], die im Spektrum der Begriffe kaum vorkommt und die einer Ordnung angehört, gegen die sonst das Bewußtsein sich sogleich abblendet«.31 Neben einem literarischen oder bildlichen Denken ist aber auch an die von verschiedenen Philosophen entwickelten Ausstellungen zu denken, in denen die Argumente eine verräumlichte, installative, körperlich zu ergehende Form gewinnen – wie etwa in
30 Ebd., S. 82f. 31 Theodor W. Adorno: »Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 567-582, hier S. 568.
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Jean-François Lyotards Ausstellung »Les Immatériaux« im Centre Pompidou, die er selbst in den Rang eines philosophischen Werkes erhoben hat, oder die Ausstellungen von Jacques Derrida im Louvre und von Jean-Luc Nancy im Musée des Beaux Arts in Lyon. Alle diese Denker machen mit der Kritik des Totalitätsanspruchs des Wissens Ernst und verschreiben sich stattdessen anderen Weisen der Theoriearbeit, die man unter dem weiten Begriff des Essayismus zusammenfassen kann. Der Essay gilt – spätestens seit Adorno – als eine Form, die sich weder dem methodisch abgesicherten Wissen noch einer rein ästhetisch verstandenen Kunst zuschlagen lässt.32 Im Essay kristallisiert sich ein ästhetisches Denken, das nicht von der Kunst theoretisch, sondern von konkreten Phänomenen künstlerisch handelt. Das Begegnende, an dem sich die Idee entzündet und das das Denken bindet, wird kraft Assoziationen, Bildern und Vergleichen gleichsam »durchexperimentiert«.33 Der Essayist erfasst oder bezeichnet also nicht, sondern er »verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt«, wie Max Bense formuliert.34 Für die Philosophie ist der Essay die Versuchsanordnung, in der sich eine andere Erkenntnis ergibt. Dieser philosophische Essayismus konvergiert mit anderen essayistischen Formen in der Kunst vor allem im Foto-, Film- oder Videoessay.35 Im Essayismus hat sich eine Kunstform der Theorie etabliert, die quer zu den Gattungen und Medien verläuft und die Unterscheidung zwischen Kunst und Theorie verschwimmen lässt. Er wird ergänzt durch performative, diagrammatische und modellierende Verfahren, an denen sich schließlich die Philosophie auch mit dem Theater, der visuellen Kommunikation und dem Design vermählt. Entscheidend bei all diesen Formen ist der Vollzug des Erkennens unter den Bedingungen der Darstellung. Es wird nicht ein zuvor gewonnenes Wissen ästhetisch präsentiert, sondern das Wissen wird in der Darstellung und durch sie gewonnen. Das Erkennen vollzieht sich am Entworfenen. Man lernt aus dem, was man konstruiert –
32 Vgl. Theodor W. Adorno: »Der Essay als Form«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 9-33. 33 Max Bense: »Über den Essay und seine Prosa«, in: Merkur 1/3 (1947), S. 414424, hier S. 423. 34 Ebd., S. 418. 35 Siehe hierzu exemplarisch Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006.
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wie eine Einsicht des Epistemologen Gaston Bachelard lautet. Bereits Nietzsche hatte diese Darstellungsgebundenheit der Philosophie zum Anlass genommen, sich als Künstler-Philosophen zu etikettieren, der die philosophische Arbeit an den Begriffen nicht als Wissenschaft, sondern, aufgrund des metaphorischen Charakters aller Sprache, als Kunst versteht. Derrida spitzt dies zu, wenn er formuliert, man könne im 20. Jahrhundert nicht mehr streng zwischen Kunst und Philosophie unterscheiden,36 weil die philosophische Erkenntnisbildung selbst abhängig sei von ihren Darstellungsformen, ihren Aufzeichnungsweisen und Notationen und überdies einen identitären Denkmodus zurückweise. Damit zeichnet sich ein neuer Denkstil in der Philosophie ab, der sich an der Literatur ebenso entlangbewegt wie an Bildern oder Filmen und sich an Architekturen und Modelle heranwagt, die nicht der Illustration, sondern der Bewegung, dem Movens des Denkens dienen. In diesen Denkformen findet eine Legierung von Kunst und Philosophie statt, die sich einer künstlerischen Episteme annähert und etwas ganz anderes bedeutet als eine Verwissenschaftlichung der Kunst.
L ITERATUR Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 9-33. –: »Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 567-582. Artistic Research. Texte zur Kunst, Heft 82 (2011). Badura, Jens u.a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/ Berlin 2015. Blanchot, Maurice: »Die Begegnung mit dem Imaginären«, in: ders., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übers. von Karl August Horst, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 11-21. –: Der literarische Raum, übers. von Marco Gutjahr und Jonas Hock, Zürich 2012.
36 Jacques Derrida: »Artists, Philosophers and Institutions«, in: Rampike 3 (1984/ 85), S. 34-35.
Ä STHETISCHE A MALGAMIERUNG
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Bense, Max: »Über den Essay und seine Prosa«, in: Merkur 1/3 (1947), S. 414-424. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, übers. von Bernd Schwibs, Hamburg 1991. –: Proust und die Zeichen, übers. von Henriette Beese, Berlin 1993. Derrida, Jacques: »Artists, Philosophers and Institutions«, in: Rampike 3 (1984/85), S. 34-35. Dombois, Florian u.a. (Hg.): Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014. Finke, Marcel: »Denken (mit) der Kunst oder: Was ist ein theoretisches Objekt?«, http://wissenderkuenste.de/texte/denken-mit-der-kunst-oderwas-ist-ein-theoretisches-objekt/ (abgerufen am 11.10.2015). Foucault, Michel: »Das Denken des Außen«, übers. von Michael Bischoff, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2011, S. 670-697. Heidegger, Martin: Was heißt denken?, Tübingen 1954. –: »Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1980, S. 73110. Holert, Tom: »Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie«, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 223-238. Journal for Artistic Research, http://jar-online.net/ (abgerufen am 19.08. 2015). Krauss, Rosalind: Das optische Unbewusste, übers. von Hans H. Harbort und Andreas Stuhlmann, Hamburg 2011. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, übers. von Otto Pfersmann, Wien 1986. Pantenburg, Volker: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2006. –: Das ästhetische Unbewußte, übers. von Ronald Voullié, Zürich 2006. Rogoff, Irit: »Academy as Potentiality«, in: Angelika Nollert u.a. (Hg.), Academy, Frankfurt a.M. 2006, S. 13-20.
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Schaub, Mirjam: »Plädoyer für Kunst als verkannte Heuristik der Philosophie«, in: No. 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Nr. 18/19 (2012): Ins Offene. Gegenwart, Ästhetik, Theorie, S. 71-79.
Walter Benjamins Theorie der Reflexion und die Frage der künstlerischen Forschung1 M ICHAEL S CHWAB
Kritik wird gemeinhin mit Sprache, Reflexion und Erkenntnis assoziiert; Konzepte, mit denen Kunst eher weniger identifiziert wird. Mein Beitrag zielt hingegen darauf ab, über eine Definition der Kunst nachzudenken, bei der Kritik essentiell ist – bei der also Sprache, Reflexion oder Erkenntnis ›künstlerisch‹ entwickelt werden, damit Kritik ein wesentlicher Teil der Kunst sein kann. Wenn es möglich wäre, eine solche Kunst zu definieren, könnte das der aktuellen Debatte über den Beitrag der Kunst zum Wissen und zur Erkenntnis (»contribution to knowledge and understanding« – so die derzeitige Charakterisierung von ›Forschung‹ des britischen Arts and Humanities Research Council [AHRC]) eine neue Grundlage geben. Weil die Entwicklung von Wissen und Erkenntnis der Kunst nicht unterstellt werden könne, erwartet das AHRC derzeit »practice to be accompanied by some form of documentation of the research process, as well as some form of textual analysis or explanation to support its position and to demonstrate critical reflection« (AHRC 2004); der Forschungsprozess künstlerischer Praxis soll
1
Die erste Version dieses Beitrags erschien 2008 unter dem Titel »First, the Second: Walter Benjamin’s Theory of Reflection and the Question of Artistic Research« im Journal of Visual Arts Practice 7(3), S. 213-223.
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dokumentiert, analysiert oder erklärt werden, bedarf also textbasierter Unterstützung, um kritische Reflexion zu demonstrieren. Mein Beitrag ist nicht von dem Bestreben geleitet, mit solch einer geschriebenen ›Darlegung‹ aufzuräumen; vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass ein Fokus auf das nachgeordnete Schreiben als Ort der Kritik, wenn er auch innerhalb des institutionellen Rahmens praktische Vorteile hat, hinderliche Auswirkungen speziell auf die Ausarbeitung von in künstlerischer Praxis verwurzelten Epistemologien hat. Die Herausforderung, die die Entwicklung solcher Epistemologien darstellt, ist jedoch außerordentlich, da ein Großteil unserer westlichen Philosophie auf der Exklusion von Kunst basiert. Friedrich Nietzsche zufolge kann die Exklusion der Kunst nur überwunden werden, wenn das Konzept der ›Wahrheit‹, das die westliche Philosophie seit Platon regiert, hinterfragt wird. Nietzsche nennt den Punkt, an dem jenes Konzept »abgeschafft« werden würde, das »Ende des längsten Irrthums«.2 Das Problem ist, verkürzt ausgedrückt, dass Platon nicht in der Lage gewesen sei, die Kunst innerhalb seiner Kategorie der Wahrheit zu denken, auch wenn der Wille, ein angemessenes Register für die Kunst zu finden, in seinen Schriften offensichtlich ist. Bevor Sokrates in Der Staat deklariert, »daß man sich um die Dichtkunst nicht ernsthaft bemühen würde, als ob sie selbst ernsthaft sei und die Wahrheit treffe« (Pol 608a), bietet er in der Diskussion mit Glaukon der Kunst eine mögliche Verteidigungslinie, indem er sagt: »Dennoch sei ihr gesagt, daß wir ja, wenn nur die der Lust dienende Dichtung und Nachbildnerei etwas anzuführen weiß, weshalb auch ihr ein Platz zukomme in einem wohlverwalteten Staate, sie mit Freuden aufnehmen würden, da wir es uns bewußt sind, wie auch wir von ihr angezogen werden. Aber was uns wahr dünkt preiszugeben, wäre doch nicht ohne Frevel. Nicht wahr, Freund, zieht sie dich nicht auch an, und am meisten wenn sie dir im Homer erscheint? – Dann bei weitem. Können wir also nicht mit Recht verlangen, daß sie herabsteige um sich zu verteidigen, sei es nun in Strophen oder anderm Sylbenmaß? – Allerdings.
2
Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1988, S. 55-161, hier S. 81.
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Doch wollen wir auch ihren Schutzmännern, so viele deren nicht selbst Dichter sind sondern nur Dichterfreunde, gern vergönnen auch in ungebundenener Rede für sie sprechend zu beweisen, daß sie nicht nur anmutig sei, sondern auch förderlich für die Staaten und das gesamte menschliche Leben, und wir wollen unbefangen und wohlwollend zuhören. Denn es wäre ja unser eigner Vorteil, wenn sich zeigte, sie sei nicht nur angenehm sondern auch heilsam. – Wie sollte es nicht unser Vorteil sein! sagte er. Wenn aber etwa nicht, lieber Freund: dann werden wohl auch wir, wie diejenigen die einmal verliebt waren, wenn sie glauben, daß ihnen die Liebe nicht mehr förderlich sei, sich mit Mühe zwar aber doch zurückziehen […].« (Pol 607c-e)
Sokrates zufolge muss Kunst für sich selbst eintreten, aber seltsamerweise benötigt sie »Schutzmänner, [die] nicht selbst Dichter sind«, um in ihrem Namen zu sprechen. Die Kunst, die nur in der Welt der Erscheinungen tätig ist, ist so weit von der Wahrheit (d.h. dem »wahren Wesen«, 597e) entfernt, dass ein sekundärer Prozess festgelegt werden muss, durch den ihr Anspruch auf Wahrheit gestützt werden kann: ein sekundärer Prozess, der, wie oben vorgestellt, mit Kritik verknüpft werden könnte. Die ›Rückkehr‹ der Kunst ist abhängig von der Fähigkeit der Kunst, ihre eigene genuine und positive Beziehung zur Wahrheit zu reflektieren, ohne die »ihre Schutzmänner« an demselben Punkt zurückbleiben würden, an dem Sokrates sich befindet. Wenn die Kunst im Schatten der Philosophie verbleibt und keine eigenen epistemologischen Perspektiven entwirft, würde Sokrates auch weiterhin nur gute Gründe sehen, die Kunst abzulehnen.3 Das bedeutet nicht, dass die Kunst Sokrates’ Forderung erfüllen muss, tut sie dies jedoch nicht, überlässt sie den Bereich des Wissens der Obhut anderer Disziplinen, insbesondere der Philosophie, die, so Sokrates, die Kunst schweren Herzens nur ablehnen kann. Wenn also eine Epistemologie entwickelt werden könnte, die Kritik als eine künstlerische Angelegenheit inkludiert, könnte eine Position bezogen werden, von der aus die Kunst nicht nur verteidigt, sondern auch von einer Gesellschaft, die sich durch ›Wissen‹ definiert, in ihrer Spezifität anerkannt werden kann.
3
Die andere Alternative ist, dass ein besserer Philosoph als Sokrates eine andere Verteidigungsstrategie findet, die es nicht erfordert, Epistemologie von der Kunst her zu denken. Das wird allerdings nicht diskutiert.
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Um einen solchen Begriff bemüht sich Walter Benjamin in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik.4 Kritik, obwohl durch den Titel der Arbeit hervorgehoben, ist nicht das Hauptthema der Dissertation. Benjamin schlägt eine Theorie der unendlichen Reflexion vor, die konsequenterweise nicht nur die romantische Vorstellung von ›Kritik‹ untermauert, sondern auch, wie Winfried Menninghaus anmerkt, die ebenso entwickelten Vorstellungen von »Form, Werk, Ironie, Transzendentalpoesie, [und dem] Roman«.5 Im Grunde ist es vielleicht sogar möglich zu sagen, dass ›alles‹ von dieser Vorstellung von Reflexion abhängt, weswegen man von der Frühromantik als einem System sprechen kann, ungeachtet der Tatsache, dass das Denken der Romantik dieses System nicht systematisch behandelt hat.6 Die Forschungsdefinition des AHRC, die »kritische Reflexion« einfordert, illustriert möglicherweise – wenn auch weniger radikal – die Fundamentalität der Reflexion in einem aktuellen Kontext, während es aus künstlerischer Sicht seltsam anmutet, dass die künstlerische Praxis und das Kunstwerk darin nicht einbezogen scheinen. In der Einleitung seines Buchs betont Benjamin die Tatsache, dass eine »Begriffsbestimmung der Kunstkritik«7 sowohl ästhetisch als auch epistemologisch bedingt ist. Obwohl Ästhetik Kognition impliziere – eine Schlussfolgerung, die Jean-Luc Nancy unter Bezugnahme auf Kants Konzept der ›Schönheit‹ kommentiert, wenn er sagt, dass »the aesthetic […] itself the anticipation of knowledge«8 sei –, schwebt es Benjamin nicht vor, sich der Erkenntnis durch die Ästhetik zu nähern. Vielmehr, so Benjamin, sei »auch die romantische Begriffsbestimmung der Kunstkritik durchaus
4
Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1919], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 21978, S. 7-122.
5
Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987, S. 30.
6
Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 40f.; Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy: The Literary Absolute, Albany 1988, S. 46.
7
Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 11.
8
Jean-Luc Nancy: A Finite Thinking, Stanford CA 2003, S. 218.
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auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aufgebaut«.9 Folglich gibt Benjamin von vornherein der epistemologischen Option gegenüber der ästhetischen den Vorrang, die, obwohl im frühromantischen Denken nicht systematisch entwickelt, essentiell sein könnte für die Darstellung der Frühromantik als eines Projekts, das in erster Linie an der Erweiterung des Wissens durch die Kunst interessiert war. Bevor die Bedeutung des Erkennens, die Benjamin im frühromantischen Denken entdeckt, erläutert wird, sollte man einen Moment innehalten, um die Tatsache hervorzuheben, dass Benjamins Gebrauch der primären Quellen, wie Menninghaus zeigt, »zunächst zu einer Methode der Verkennung«10 führt. Laut Menninghaus mangelte es Benjamin nicht nur an Schlüsseltexten Friedrich Schlegels, die erst Jahrzehnte nach seiner Dissertation zugänglich wurden, sondern er gebrauchte auch einige Zitate falsch und übersah wichtige Passagen bei Novalis, zu denen er sehr wohl Zugang hatte. Benjamins Hauptbefund allerdings – die gemeinsame Verbindung von Unendlichkeit und Unmittelbarkeit mit Reflexion – erwies sich, laut Menninghaus, als korrekt.11 Da Menninghaus eine »geniale Intuition«12 als mögliche Erklärung für das korrekte Ergebnis einer mangelhaften Interpretation nicht akzeptieren möchte, schlägt er vor, dass wir Benjamins eigenes Denken und Interesse als treibenden Faktor ansehen. Eine lehrbuchmäßige Analyse der Deutschen Frühromantik ist mithin weniger wichtig als Benjamins eigenes Denken, dem es erlaubt ist, sich mit und gegen eine romantische Position zu entwickeln. Dieser Option noch mehr Bedeutung zusprechend, sehen Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy Benjamins Entscheidung als das Ergebnis einer fortlaufenden, wenn auch verschleierten Relevanz der Romantik für die Moderne, mit der sich Benjamin in ihren Augen konfrontieren musste. Was mit Menninghaus »Verkennung« genannt werden könnte, ist tatsächlich die notwendige Konsequenz eines
9
Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 11.
10 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 32. 11 Winfried Menninghaus: »Walter Benjamin’s Exposition of the Romantic Theory of Reflection«, in: B. Hanssen/A. Benjamin (Hg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York/London 2002, S. 27. 12 Ebd., S. 42.
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»trap in the imprecisions of the Schlegels«.13 »To suspect a trap«, so Lacoue-Labarthe und Nancy, »required all the lucidity of a Benjamin«.14 Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei dieser ›Falle‹, in Benjamins eigenen Worten, um den »Radikalismus« der Romantik, der in einer »gewisse[n] Unklarheit« verankert ist,15 verursacht durch ein geplantes mögliches System der Reflexion, das widersprüchliche, nicht-reflektive Elemente unterbringen konnte, gerade weil es nicht systematisch entwickelt wurde. Somit kommt Benjamins Dissertation nicht umhin, die Romantik zu missdeuten, um eine reflexive Ambition darzustellen, die er als die Leistung der Romantik ansieht. Wie im weiteren Verlauf dieses Artikels deutlicher werden wird, passt solch ein produktives Spiel zwischen Darstellung und Fehldarstellung in das Konzept von Kritik, das Benjamin entwickelt. Benjamin sieht das frühromantische Denken in Johann Gottlieb Fichtes Philosophie bis zum Jahr 1794 begründet, wie sie von Friedrich Schlegel und Novalis als den Schlüsselfiguren der Romantik interpretiert wurde. Fichtes Schaffen muss im Kontext von Immanuel Kants Serie philosophischer Kritiken gesehen werden, deren letzte – die Kritik der Urteilskraft – 1790 veröffentlicht wurde. Laut Kant sind logische Urteile solche, durch die wir ein Objekt verstehen können, da sie auf Begriffen basieren. Ästhetische Urteile hingegen sind nicht durch Begriffe bestimmt, sondern durch Gefühle des Wohlgefallens bzw. Missfallens, der Lust bzw. Unlust. Man ist also aufgefordert, entweder die Einheit der verschiedenen Kategorien der Urteilskraft aufzugeben oder zu behaupten, dass das, was Fichte »Handlung der Intelligenz«16 oder allgemeiner ›Denken‹ nennt, auch dann noch im Spiel sei, wenn Begriffe fehlen. Der frühe Fichte war, laut Benjamin, an der Einheit des Urteilsvermögens interessiert und versuchte ein System auszuarbeiten, dessen Kernstück der Begriff der ›Reflexion‹ war. Vom Denken wird vorausgesetzt, dass es
13 Benjamins Interesse richtet sich fast ausschließlich auf Friedrich Schlegel; für dessen Bruder August Wilhelm sei Kunstkritik kein philosophisches Problem gewesen (vgl. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 118). Wenn in vorliegendem Beitrag von Schlegel die Rede ist, ist daher immer Friedrich Schlegel gemeint. 14 Lacoue-Labarthe/Nancy: The Literary Absolute, S. 15. 15 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, S. 105. 16 Zitiert nach Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 20.
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sowohl beim ästhetischen als auch bei logischen Urteilen im Spiel sei. Da die Urteilsarten, Kant folgend, als grundlegend verschieden angesehen werden, kann das Denken nicht einfach als einheitsstiftendes Prinzip fungieren: Wie können wir wissen, dass es dasselbe Denkvermögen ist, das in beiden Urteilsformen am Werk ist? Laut Fichte ist die Einheit der Urteilsvermögen erst erreicht, wenn das Denken sich selbst denkt, also reflexiv wird. Wenn Kunst eine andere Sphäre als das begriffliche Verstehen einnimmt, können wir nur behaupten, dass beide Bereiche denselben Ursprung teilen, sofern Kunst (und nicht nur Philosophie) als reflexiv angesehen wird. Solch eine Einheit ist nur möglich, wenn die Reflexion ungeachtet ihres Gegenstands funktioniert: Reflexion muss ein strikt formaler Prozess sein. Dennoch reflektiert die Reflexion nicht wahllos dieses oder jenes, sondern Handlungen der Intelligenz, wenn dies oder jenes gedacht wird. Diese Akte sind an sich schon formal, was die Reflexion zur Anwendung einer Form auf eine Form macht, oder um es mit Benjamin zu sagen: »Es wird also unter Reflexion das umformende – und nichts als umformende – Reflektieren auf eine Form verstanden.«17 Menninghaus betont in seinem Buch Unendliche Verdopplung, Benjamin habe in seiner Arbeit versucht, »durch ihre inhaltlichen Akzente wie durch ihre rigide philosophische Form, so schroff wie möglich mit depravierten Vorstellungen des ›Romantischen‹ – im Sinne einer formlosen Poesie des Unbewußten oder der dunklen Nachtbereiche der Erfahrung – zu brechen«.18 Das Beharren auf der Form und den aus der Reflexion resultierenden »Mechanismen« – in demselben Sinne, wie Novalis »die inneren Prinzipien der Kunst und der Wissenschaft« als »mechanisch« beschreibt19 –, sind für Benjamins Bemühen, die Theorie der Romantik neu zu definieren, essentiell. Benjamins zuvor beschriebene Ablehnung der ästhetischen zugunsten der epistemologischen Option dürfte auch eine Konsequenz hieraus sein; denn infolge dieses Fokus auf die Reflexion muss er nicht auf das ›Gefühl‹ eingehen, um zur ›Erkenntnis‹ zu gelangen. Statt die Reflexion auf ein Gefühl oder eine Intuition zu gründen, gehen die Romantiker laut Benjamin »vom bloßen Sich-Selbst-Denken als Phänomen
17 Ebd. 18 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 52 (Herv. von mir). 19 Zitiert nach Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 52.
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aus«.20 Novalis kann daher die Philosophie mit der Kunst identifizieren: »[…] Denken und Dichten [sind] also einerlei.«21 Kunst ist in der Romantik wesentlich mit der Reflexion – also mit dem Denken – verknüpft und nicht mit ästhetischen Urteilen. Obgleich ›Schönheit‹ auch in der romantischen Theorie ein wichtiger Begriff ist, ist er nach Benjamins Auffassung für die reflexive Potenz der Kunst zweitrangig. »Letzten Endes muß der Begriff der Schönheit aus der romantischen Kunstphilosophie überhaupt weichen […].«22 Diese Verschiebung hat eine wichtige Konsequenz für die Beziehung der Kunst zur Erkenntnis. Wäre Kunst allein durch ästhetische Urteile definiert, würde sie, laut Kant, von der Erkenntnis ausgeschlossen. Durch die Reflexion definierte Kunst hingegen ist der Erkenntnis ausgesetzt, nicht weil sie Erkenntnis antizipiert (Nancy), sondern weil sie mit der Erkenntnis dieselben reflexiven Wurzeln teilt. Das Denken der Romantik sieht die Reflexion, die nur als sekundärer Vorgang erscheint, als primär an und sieht sie mitten im Zentrum kreativer Produktivität im Spiel. Die Reflexion erscheint nur deshalb als sekundär, weil sie, nachdem sie ihr Objekt produziert hat, in dieser Produktion verschwindet. Menninghaus setzt daher nicht nur Derridas Verständnis einer genuinen Differenz, die permanent verschoben und aufgeschoben wird (différance), mit dem romantischen Denken in Beziehung, sondern findet, was überraschend erscheinen mag, dass Derrida nichts »substantiell Neues« anbiete. Menninghaus behauptet im Gegensatz zu Derrida, dass in der Romantik die »supplementierenden« Figuren, die durchweg Identität verschieben, nicht nur ihrerseits schon identitäre Strukturen aufweisen, sondern auch generell »Fassung von Identität« sind.23 Allein aufgrund von Identitätsstrukturen kann différance als ungleich erfahren werden, die damit Sein und Werden erlaubt. Zudem, und für den aktuellen Kontext am wichtigsten, kann man behaupten, dass die Produktion solcher ›Figuren‹ immer schon ein Hauptanliegen in der Geschichte der Kunst gewesen sei.24 Jean-François Lyotards Auffassung des ›Figuralen‹, die mit
20 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 29. 21 Zitiert nach ebd., S. 64. 22 Ebd., S. 106. 23 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 131. 24 Vgl. insbesondere den Begriff der ›Figuration‹, mit dem Georges Didi-Huberman in seinem Buch Fra Angelico: Dissemblence and Figuration (Chicago
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Derridas différance vergleichbar ist, hat die Funktion, ›das Auge‹, und mit ihm die Kunst, für das Denken zu öffnen.25 In Benjamins Interpretation ist Reflexion die formale Beziehung zwischen zwei Bewusstseinsebenen, durch die eine unmittelbare und sichere Wahrnehmung gegeben ist, weil beide Ebenen letztendlich demselben angehören, nämlich dem Denken. Mittels Reflexion wird das Wissen, das wir von der Welt haben, transformiert in unser Engagement (oder identifiziert als unser Engagement) in der Welt, und zwar als eine »Handlung der Freiheit«,26 wie Fichte es nennt: als unabhängig von den Bedingungen, aus denen es entsteht. Um den Punkt zu bestimmen, an dem das romantische Denken von Fichtes Philosophie abrückt, macht Benjamin drei Stufen der Reflexion aus. Die erste nennt er »Urreflexion«; diese wird von Schlegel schlicht »Sinn« genannt.27 Obschon die originäre Reflexion eine Form des Denkens darstellt, ist sie nicht Reflexion im strengen Sinne des Wortes, da die daraus hervorgehende Form nicht das Resultat einer Transformation ist. Denken wird nur zur Reflexion, wenn es sich selbst auf der zweiten Stufe denkt, während Reflexion auf der dritten Stufe sich selbst denkend denkt.28 An dieser Stelle muss natürlich nicht haltgemacht werden: Reflexion kann sich selbst in immer höhere Stufen reflektieren (eine Reflexion einer Reflexion einer Reflexion usw.), was zeigt, dass das Moment der Unendlichkeit in das Konzept der Reflexion eingeflochten ist, neben einer Unmittelbarkeit, die aus einer Definition von Reflexion als eingebettet in das Denken resultiert. Fichte – und das ist der Punkt, an dem laut Benjamin die Romantik ihm widerspricht – glaubt, dass die unendliche Reflexion das Subjekt angreift. Denn wenn die Ursache der Reflexion (die Handlung der Freiheit) nicht auf der ersten Reflexionsstufe zu finden sei, wäre sie auf keiner zu finden. Schlimmer noch, das Beharren auf einer »subjektiven Theorie« unendlicher Reflexion, sagt Schlegel, würde nicht nur die Ursache bis ins Unendliche aufschieben, sondern auch die Reflexion entleeren und zu einer »unendli-
1995) operiert, oder die Diskussion der ›Figur‹ in Yve-Alain Bois/Rosalind Krauss: Formless: A User’s Guide, New York 1997. 25 Lyotard, Jean-François: Discours/Figure, Paris 2002, S. 11. 26 Zitiert nach Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 21. 27 Ebd., S. 27. 28 Vgl. ebd., S. 30.
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chen Reihe von Spiegelbildern führ[en], die immer nur dasselbe und nichts Neues enthalten«.29 Für Fichte ist es die Integrität des Subjekts der Reflexion, welche die Reflexion eingrenzt: Das Ich, das reflektiert, ist daher das wahre Kernstück seiner Philosophie. Menninghaus folgert daraus (Dieter Henrich zitierend), dass »Fichtes Ich-›Definitionen‹ daher ›aus dem Gegensatz gegen die Reflexionstheorie‹ verstanden werden [müssen]«.30 Aus der Sicht der Romantik ist es nicht die unendliche Reflexion als solche, die bei Fichte Probleme bereitet; es ist Fichtes Insistieren auf dem Akteur der Reflexion, dem Ich, das sich als verantwortlich für die Entleerung und als Hindernis für eine immer vollkommenere Reflexion erweist. Der Kontrast zwischen Fichtes Philosophie und dem romantischen Denken kann wahrscheinlich am besten anhand eines Blicks auf Fichtes Formel »A=A« illustriert werden. Diese Formel steht für die Identität des reflektierenden Subjekts. Novalis reinterpretiert diese Formel allerdings, indem er behauptet, dass die Identität von A nur durch dessen Spaltung ›gezeigt‹ werden kann. Identität entsteht gewissermaßen nur durch die reflexive Differenz und kann daher nicht für eine Begrenzung der Reflexion herangezogen werden.31 Das Ich, das Fichte wahren will, kann weder mittels Reflexion noch mittels einzelner Urteile geschaffen werden, da das Ich zunächst eingeführt wurde, um den Urteilen inhärente Differenzen zu einen. Fichtes Ich erhält daher seine Integrität nicht durch die Reflexion, sondern durch eine intellektuelle Anschauung, die nicht auf Erfahrung angewiesen ist, um Wissen zu produzieren. Die Unmittelbarkeit, mit der die intellektuelle Anschauung Wissen erzeugt, weist in Schellings früher, speziell auf die Kunst bezogener Philosophie der Kunst teilweise denselben hohen Status zu wie die Romantik, abgesehen von der Tatsache, dass Unmittelbarkeit nicht durch Reflexion erlangt wird. In seiner Vorlesung Über die Wissenschaft der Kunst, in Bezug auf das akademische Studium von 1806 schlägt Schelling beispielsweise vor, Kunst, die darauf zielt, ein schönes Trugbild zu produzieren, von einer, wie er sie nennt, »heiligeren Kunst« zu unterscheiden: einer Kunst, die eine in den Sinnen versteckte nichtsensorische, intelligible Qualität aufzeigen könnte. Benjamins Bemühen, »so schroff wie möglich« mit einer
29 Zitiert nach ebd., S. 35. 30 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 127. 31 Ebd., S. 91.
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nicht-reflektierenden Theorie der Kunst zu brechen, zeigt sich womöglich am offensichtlichsten in seiner Entscheidung, Schellings Theorie nicht zu diskutieren und so die Irrelevanz der intellektuellen Anschauung für eine romantische Kunsttheorie hervorzuheben.32 Eine solche Missachtung ähnelt der vorhin erwähnten ›Verkennung‹, indem sie wiederholt, was die ›romantische Methode‹ genannt werden könnte; diese, so Benjamin, kann nicht etwas kritisieren, das als wertlos erachtet wird. Wendet man Benjamins Geste auf das Argument an, das diesem Artikel seine Richtung gibt – dass nämlich Kunst nur durch Reflexion zu Forschung wird –, sollte man vielleicht darauf insistieren, dass es nicht ausreicht, einen ›höheren‹ Ort für die Kunst anzustreben (wie Schelling es vorschwebt), wenn dies nicht durch einen Prozess unterstützt wird, der einen solchen Ort produzieren und den Grund erklären kann, auf dem er gebaut ist. Intellektuelle Anschauung oder Anschauung überhaupt dürfte daher im Forschungskontext scheitern. Wenn Fichte die Reflexion begrenzt, um die Bedeutung zu bewahren, muss eine romantische Theorie der Reflexion zeigen, dass die unendliche Reflexion nicht in Bedeutungslosigkeit endet. Dies wird laut Benjamin dadurch erreicht, dass die romantische Position die Reflexion eher als ein räumliches denn als zeitliches Ereignis ansieht. Wenn in Fichtes Philosophie das Ich ein potentiell unendliches Reflexionsvermögen beinhaltet, das, weil es im Ich zu verorten ist, zeitlich sein muss, ist das Ich aus romantischer Sicht ein Bestandteil eines reflektierenden Ganzen. Jeder Reflexionsakt ruft daher andere Reflexionsakte hervor, so dass ein interkonnektives Netzwerk von Reflexionen geschaffen wird. »Die Unendlichkeit der Reflexion ist für Schlegel und Novalis in erster Linie nicht eine Unendlichkeit des Fortgangs, sondern eine Unendlichkeit des Zusammenhangs.«33 Ist die reflexive Differenz das genuine Phänomen des romantischen Denkens, muss diese Differenz schon räumlich sein, denn wenn sie es nicht wäre, wäre Differenz nicht ursprünglich. Ebenso würde aus absoluter Sicht – d.h. aus Sicht einer vollständig reflektierenden Konstellation – die Zeit verschwunden sein, da es keine zukünftige Reflexion mehr geben könnte, die das Reflexionsensemble verändern könnte: Wäre eine Ergänzung möglich, wäre die Reflexionskonstellation nicht vollständig gewesen. Da das Subjekt nicht existiert, bevor es mittels Reflexion gebildet wurde, kann das Subjekt
32 Ebd., S. 54f. 33 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 26.
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nicht äußerlich der Zeit ausgesetzt sein. Dadurch allerdings, dass es der Reflexion vollkommen ausgesetzt ist, erlebt das Subjekt sich selbst radikal als gefangen zwischen den ähnlich differenzierenden, aber zeitlichen Modi der ›Erinnerung‹ und ›Erwartung‹, durch die es versucht, seine eigene Identität und Präsenz zu konstruieren.34 Wenn wir die Frage des ›Absoluten‹ für einen Moment ignorieren, lässt sich verdeutlichen, dass eine romantische Reflexionstheorie die subjektive Reflexionserfahrung eher erweitert als sie zu negieren. Was in einer erweiterten Sicht hervortritt, ist das Verschwinden der »Subjekt-Objekt-Korrelation«.35 Steht alles in reflexiver Beziehung, identifiziert sich ein Subjekt, das ein Objekt erkennt, tatsächlich reflektierend mit einer Reflexion, d.h. mit einem Objekt als Subjekt. Was in einem Objekt nicht reflexiv ist, existiert streng genommen nicht für die Reflexion, die definiert war als ein formaler Eingriff in eine (reflexive) Form. Im herkömmlichen Sinne des Wortes ›Objekt‹, das heißt als bloße Entität, wäre ein Objekt ein reflexives Zentrum, seiner Reflexivität entkleidet. Von diesem Standpunkt aus scheinen institutionelle Definitionen von Forschung wie die oben erwähnte – selbst wenn sie sich auf Reflexion stützen – kontraproduktiv, da sie das Kunst-objekt zuerst seiner Reflexivität berauben, nur um sie dann indirekt wieder einzuführen – nämlich durch einen Fokus auf menschliche Handlungsfähigkeit, der nicht geeignet ist, basale und grundlegende Prozesse der Reflexion als Element künstlerischer Praxis zu erklären. Wenn man das Selbst das Subjekt der Reflexion nennen kann und das Ich die menschliche Form dieses Subjekts, war das Ich für Fichte die einzige Form, die das Selbst annehmen könnte. Im frühromantischen Denken jedenfalls dehnte sich das Konzept des Selbst auf alles aus – alles wurde nun als reflektierendes Selbst betrachtet. Kunst wird in der Frühromantik als genau das realisierend angesehen: Reflexion über die Grenzen des Ichs hinaus. In The Literary Absolute beziehen sich Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy hierauf mit dem Begriff des »subject-work«.36 Dessen Subjektivität liegt essentiell in seiner Reflexivität, die jedoch nicht als abgelöst von anderen solchen ›Subjekt-Werken‹ gedacht werden kann, da die Unendlichkeit der Reflexion alles mit allem verbindet. Die frühromantische
34 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 95. 35 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 56. 36 Lacoue-Labarthe/Nancy: The Literary Absolute, S. 115.
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Theorie ist grundlegend künstlerisch, weil sie, was sie als die Qualität eines Kunstwerks wahrnimmt (nämlich die Reflexivität), als ›Mittelpunkt‹ setzt, den sie auf alles anwendet, was ist. »Die Ich-freie Reflexion ist«, so Benjamin, »eine Reflexion im Absolutum der Kunst«.37 Als Konsequenz wird die unendliche Reflexion, die für Fichte und Schelling eine Gefährdung der Identität und der Erkenntnis ist, zu einer zentralen Kraft der Frühromantik, wo in jeder Reflexionsstufe eine Form transformiert wird, vorherige Transformationen durch den Reflexionsakt umgreifend. Als zeitliche Struktur gedacht, könnte man sich an die Dialektik erinnert fühlen, aber Zeit (und mit ihr Geschichte) sind im Denken der Frühromantik aufgrund der Tatsache, dass sich die Differenz in ein undifferenziertes Vorher und Nachher verliert, exkludiert. Mit der Unmittelbarkeit fordert die Romantik eine originäre Differenz ein, die nicht durch die Zeit vermittelt werden kann. Die Sprache, von der die Denker der Romantik Gebrauch machen, um die Reflexion zu beschreiben, hat daher keine Überschneidung mit Hegels Begriff der ›Aufhebung‹. Der Schlüsselbegriff, den Novalis gebraucht, ist »Romantisieren«, das er definiert als »nichts als eine qualitative Potenzierung«38 – ein Prozess, durch den ein mutmaßlich weniger reflektierter Knoten des Netzwerks als höher reflektierter Knoten identifiziert und damit transformiert wird. Jeder Reflexionsknoten hat das schlummernde Potential zu einer höheren Reflexion, das identifiziert werden kann, wenn er angemessen reflektiert (d.h. transformiert) wird. Wenn dies geschehen ist, bleibt der Reflexionsknoten gleichwohl unverändert, da er dieses Potential immer schon hatte; was sich hingegen geändert hat, ist die Kenntnis des Knotens und seiner Relevanz für das Reflexionsganze. »[D]urch seine Form ist das Kunstwerk ein lebendiges Zentrum der Reflexion«, schreibt Benjamin.39 Dies wiederum bewog Menninghaus zu der Schlussfolgerung, das frühromantische Denken habe letztendlich die »Konvergenz von Leben und Reflexion« produziert.40 Statt in Sinnlosigkeit und »Tod«, wie Schelling es nennt,41 zu enden, mündet die Reflexion in der Romantik in potentiell unendliches »Erfülltsein«.42
37 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 40. 38 Ebd., S. 37. 39 Ebd., S. 73. 40 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 112. 41 Vgl. ebd., S. 132. 42 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 35.
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Weil alles im Kunstkontext durch einen Denkvorgang existiert, hat alles solch ein Potential. Tatsächlich ist es bedeutungslos, worauf wir uns beziehen, wenn wir reflektierend auswählen; es gilt lediglich, dass unsere Fähigkeit zu transformieren – also zu reflektieren und zu verstehen – angemessen sein muss. Was Kunst oder Forschung betrifft, kann alles zur Reflexionsgrundlage gemacht werden; deswegen schreibt Benjamin, dass »jede einfache Reflexion […] absolut aus einem Indifferenzpunkt [entspringt]«43, und deswegen betont Maurice Blanchot in Nietzsches Werk die Wichtigkeit einer »not fortuitous« Chance, also eines Zufalls jenseits von ›Glück‹.44 Da der »Indifferenzpunkt der Reflexion« arbiträr ist, entspringt die Reflexion »aus dem Nichts«, die Wahl des Reflexionsobjekts trifft das »poetische Gefühl«,45 das keine reflektierte Beziehung zum Ausgewählten hat. Wie Schlegel schreibt, gibt es »unendlich viele Anfänge der Philosophie«, »das Erste [ist] immer willkürlich und symbolisch«.46 Die Kraft oder Qualität der reflexiven Reaktion auf diesen »Indifferenzpunkt« allerdings ist es, was das Werk ausmacht. Angesichts dieser extremen Betonung der Form und der vollständigen Arbitrarität des Stoffs ist es für Benjamin klar, dass das Kunstwerk »nicht Mittel zur Darstellung eines Inhalts ist«;47 Kunst kann lediglich das Reflexionsmedium sein. Auch die Kunstkritik hat eine reflexive Funktion in der Reflexionskette. Für Benjamin produziert sie Erkenntnis im »Medium der Kunst«.48 Darüber hinaus muss sie, ähnlich allem Reflexiven, die Form (d.h. Kunst) in einem Kunstwerk ausfindig machen. Diese Identifizierung lässt das Werk letztlich in einer »völligen Objektivierung um den Preis seines Untergangs«49 aufgehen, indem die Kritik »das einzelne Kunstwerk im Medium der Kunst«50
43 Ebd., S. 39. 44 Maurice Blanchot: The Infinite Conversation, Minneapolis/London 1992, S. 154. 45 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 63. 46 Zitiert nach Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 151. 47 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 76. 48 Ebd., S. 68. 49 Ebd., S. 85. 50 Ebd., S. 68.
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auflöst.51 Kunst, die ihre Kritik schon inkorporiert, wird hoch bewertet, etwa Goethes Wilhelm Meister oder Miguel de Cervantes’ Don Quixote. Ein Werk diesen Typs ist, so Schlegel, »das eine unteilbare Werk«, das »in gewissem Sinn doch zugleich ein zweifaches, doppeltes ist«52, weil es nicht nur das Werk, sondern zugleich dessen Kritik ist. Schlegel selbst demonstriert dies in seiner Kritik des Wilhelm Meister von 1798, während Benjamin 1922 ein anderes Buch Goethes wählt, nämlich die Wahlverwandtschaften. Es könnte gleichwohl überraschen, dass sowohl Benjamin als auch Schlegel mit ihren kritischen Bemühungen auf Kunstwerke zielen, in denen sie eine solche innere Dopplung sehen, denn diese Werke, die ihre eigene Kritik in sich tragen, sollten eigentlich gerade keine weitere externe Kritik erfordern. Die Hauptfunktion der Bezugnahme gerade auf diese Werke muss also darin liegen, zu demonstrieren, dass solche absolut kritischen Kunstwerke möglich sind, d.h. dass Kunst letztlich fähig ist, Kritik in sich zu begreifen. Bezieht man diese Idee auf die künstlerische Forschung, so könnte man annehmen, dass solche ›doppelten‹ Kunstwerke künstlerische Reflexion auch repräsentieren könnten, während, wenn dies nicht geleistet wird, externe, unterstützende Kritik nötig wird. Wenn das zutrifft, ist das Hauptaugenmerk bei der Betrachtung des Forschungsbeitrags der Kunst auf das Werk zu legen, welches dann die oben genannten Unterstützungen überflüssig machen dürfte. Außerdem dürfte es bei anspruchsvolleren Arbeiten schwieriger werden, eine reflexive Unterstützungsstruktur zu schaffen, da sie die Werke limitieren und verundeutlichen würde.53
51 Dieser Punkt mag als ein Widerspruch zum Begriff des Kunstwerks als Reflexionszentrum erscheinen. Das Kunstwerk ist jedoch ein solcher Mittelpunkt nur deshalb, weil es an der Kunst Anteil hat. Kunstkritik, so wie Benjamin sie versteht, identifiziert das Werk nur in der Hinsicht, dass es Kunst ist. Der Begriff des Werkes, so wichtig er ist, wird durch eine an Reflexion gebundene Definition von Kunst letztlich in Frage gestellt. Deshalb spricht Schlegel im weiter unten angeführten Zitat von einem ›doppelten‹, d.h. erweiterten Werk. 52 Zitiert nach Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 171. 53 Das Journal for Artistic Research (JAR) kann als eine pragmatische Antwort auf solche Konzeptualisierungen betrachtet werden, denn wenn es dazu auffordert, Praxis als Forschung darzustellen, scheint es auf Fälle einer reflexiven Selbst-Identifikation künstlerischer Praxis abzuzielen.
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Kritik innerhalb oder außerhalb des Werks muss einem Werk seinen Ort geben. Laut Benjamin kann ein Kunstwerk, als Teil eines kritischen »Experiments«54, zwischen zwei Polen situiert werden: dem Pol der absoluten Reflexion und dem Pol der ersten, ursprünglichen Reflexion. Er schreibt: »Man hätte zum Behuf ihrer Unterscheidung anzunehmen, daß die absolute Reflexion das Maximum, die Urreflexion das Minimum der Wirklichkeit in dem Sinne umfasse, daß zwar in beide durchaus der Inhalt der ganzen Wirklichkeit, das ganze Denken enthalten sei, jedoch zur höchsten Deutlichkeit in der ersten entfaltet, 55
unentfaltet und undeutlich in der andern.«
Die Bedeutung eines Kunstwerks – also seine Qualität – kann dadurch beurteilt werden, dass man es auf dieser Skala einordnet. Diese Einordnung ist Benjamin zufolge die Aufgabe der Kritik. Liegt der Subtext des vorliegenden Artikels in der Vorbereitung einer künstlerischen Grundlage für die Forschung, so könnte man in Versuchung geraten, der Einfachheit halber einer gewissen aufklärerischen Tendenz in Benjamins Argumentation zu folgen, laut der die Reflexion an das Denkvermögen geknüpft ist, während das Gefühl vernachlässigt wird. Von der Klärung vieler Punkte Benjamins abgesehen, liegt der Hauptbeitrag von Menninghaus’ Unendlicher Verdopplung in seiner Erweiterung der Benjamin’schen Theorie um eine Erklärung des Status des Gefühls. Da die Reflexion von einem sekundären zu einem primären Ereignis wird, kann sie, ohne Benjamins Argument zu widersprechen, als nicht nur den Intellekt, sondern auch das Gefühl anregend verstanden werden. Benjamins Vermeidung dieser Thematik, so Menninghaus, könne nur durch sein Bestreben erklärt werden, die intellektuelle Anschauung, die unmittelbare Erkenntnis mittels Kunst verspricht, auszuklammern. Menninghaus folgend, ließ jene Vermeidung Benjamin blind werden für eine romantische Theorie der Gefühle, die die Reflexion einbindet. Wenn durch zunehmende Reflexion und durch deren Kontakt mit der Erkenntnis die Bestimmtheit wächst, so gilt dies auch für die Unbestimmtheit, die Reflexion im Kontakt mit Gefühl ist. Daraus resultierend muss gesteigerte Reflexion in gesteigerter Erkenntnis kulminieren,
54 Benjamin übernimmt den Begriff von Schlegel; vgl. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik, S. 65. 55 Ebd., S. 31.
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die begrifflich bestimmt werden kann; zugleich resultiert aber daraus auch eine Steigerung des Gefühls, die begrifflich gerade nicht bestimmt werden kann. Folglich ist der Betrag an Unbestimmtheit genauso ein Indikator für die Reflexion wie der Betrag an Bestimmtheit. Menninghaus schreibt unter Rückgriff auf Schlegel: »Jede weitere Reflexion im romantischen Sinn erhöht nicht nur die Bestimmtheit, sondern auch die Unbestimmtheit; die reflektierende Bestimmung des Unbestimmten schlägt permanent um in ReChaotisierung, in eine ›Rückkehr des Bestimmten ins Unbestimmte‹«.56 Es gibt einen weiteren Zugang jenseits von Menninghaus’ Kritik an Benjamin, der beim Nachdenken über mögliche künstlerische Epistemologien, die für die künstlerische Forschung geeignet wären, Beachtung verdient. Es scheint, als habe der Fichte’sche Weg zur Frühromantik, den Benjamin nahm, ihn nicht nur dazu gebracht, sich auf die Reflexion zu fokussieren, sondern ihn auch in metaphysische oder sogar messianische Spekulationen verwickelt, die aus heutiger Sicht als nicht mehr zeitgemäß anmuten. Lacoue-Labarthe und Nancy erkennen zwar Benjamins enorme Bedeutung an,57 optieren aber in ihrer Interpretation der Frühromantik für eine eher nietzscheanische Perspektive, die das von Blanchot herausgearbeitete Fragmentarische in den Blick nimmt, wenn auch vielleicht in einer weniger emphatischen Weise. Dies hat die Hervorhebung von Aspekten der Immanenz zur Folge, entgegen den eher transzendentalen Lesarten, die manch einen Kommentator daran zweifeln lassen,58 ob Nietzsche – sei es auch als Kritiker und als »Hammer«, als der er sich selbst bezeichnete – Teil eines allgemeinen romantischen Entwicklungsverlauf ist, der die Frühromantik auch heute noch so relevant bleiben lässt. Eine mögliche fragmentarische und künstlerische Epistemologie müsste nicht zwingend vielen der in diesem Text vorgebrachten Punkten widersprechen; nichtsdestotrotz müsste sie Nietzsche in der Limitierung solcher metaphysischen Spekula-
56 Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 206. 57 Rodolphe Gasché: »The Sober Absolute: On Benjamin and the Early Romantics«, in: Beatrice Hanssen/Andrew Benjamin (Hg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York/London 2002, S. 51-68. 58 Zum Beispiel Judith Norman: »Nietzsche and Early Romanticism«, in: Journal of the History of Ideas 63 (2002), S. 501-519.
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tionen folgen, um einem eher »rigorous knowledge« den Vortritt zu gewähren.59 Auf dem Weg zu diesen epistemologischen Zielen, die uns zu durchdenken erlauben, was ›künstlerische Forschung‹, aber auch ›Forschung‹ und ›Wissen‹ heute bedeuten könnten, ist sicher noch weitere Arbeit zu leisten. Während einige wohl die Auffassung vertreten werden, dass der Weg der Episteme, der die Frühromantiker motivierte, gleichsam ein Irrweg gewesen sei, ist es für diejenigen, die Kritik und kritische Wirkung innerhalb der künstlerischen Praxis schätzen, schwierig einzusehen, wieso eine These, die um 1800 entstand und im Sinne Nietzsches, Benjamins und Blanchots kritisch transformiert worden ist, nicht als Bezugspunkt sollte auftreten können. Für sie könnten auf der Basis des zuvor Erörterten die folgenden Ingredienzen für eine zukünftige künstlerische Epistemologie relevant sein: ein (post-)humanes Verständnis von Tätigkeit, wenn nicht sogar die Subjektivität des ›Werks‹, wobei seine distributive Natur (seine Verbundenheit) weiterhin mitzudenken wäre; das Kunstwerk als differentielles, fragmentarisches und schließlich multiples; der arbiträre Charakter des ›Inhalts‹, so dass Jegliches als Forschungsgegenstand erschlossen werden könnte; schließlich – in einer kritischeren Haltung gegenüber Benjamin – eine gesteigerte Unbestimmtheit des Gefühls, eine Materialität und Lokalität des ›Werks‹ und eine Immanenz des Denkens, die universelle oder transzendentale Ansprüche in ihre Schranken weist. Übersetzung von Anna Calabrese
L ITERATUR AHRC (2004): Guide for Applicants for Postgraduate Awards in the Arts and Humanities. The Doctoral Awards Scheme, http://www.ahrb.ac.uk/ images/4_95110.doc (Zugriff 23.02.2005). Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1919], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 21978, S. 7-122. Blanchot, Maurice: The Infinite Conversation, Minneapolis/London 1992.
59 Blanchot: The Infinite Conversation, S. 145.
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Bois, Yve-Alain/Krauss, Rosalind: Formless: A User’s Guide, New York 1997. Didi-Huberman, Georges: Fra Angelico: Dissemblence and Figuration, Chicago/London 1995. Gasché, Rodolphe: »The Sober Absolute: On Benjamin and the Early Romantics«, in: Beatrice Hanssen/Andrew Benjamin (Hg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York/London 2002, S. 51-68. Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: The Literary Absolute, Albany 1988. Lyotard, Jean-François: Discours/Figure, Paris 2002. Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987. –: »Walter Benjamin’s Exposition of the Romantic Theory of Reflection«, in: B. Hanssen/A. Benjamin (Hg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York/London 2002. Nancy, Jean-Luc: A Finite Thinking, Stanford, CA 2003. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1988, S. 55-161. Norman, Judith: »Nietzsche and Early Romanticism«, in: Journal of the History of Ideas 63 (2002), S. 501-519. Platon: Der Staat, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Karlheinz Hülser, Bd. V, Frankfurt a.M./Leipzig 1991. Schelling, F. W. J.: »Über Wissenschaft der Kunst, in Bezug auf das akademische Studium« [1806], in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/Main 1985, S. 567-577. Schwab, Michael/Borgdorff, Henk (Hg.): The Exposition of Artistic Research: Publishing Art in Academia, Leiden 2014.
Wie verändert sich Kunst, wenn sie zur Tätigkeit ohne Werk wird? R OBERTO N IGRO
Im Tyrrhenischen Meer, im Golf von Gaeta, westlich von Neapel gibt es eine ständig vom Wind gepeitschte Insel, die Santo Stefano heißt. Auf der Insel befindet sich ein hufeisenförmiges Gebäude, das Ferdinand IV. (König von Neapel) im Jahr 1795 als Gefängnis bauen ließ. 1965 wurde das Gefängnis geschlossen. Seitdem ist es verlassen. 2012 ist die Künstlerin Rossella Biscotti zu dieser Insel gefahren. Ihr Werk dokumentiert diese Reise. Auf Fotos und in Videos sieht man das Gefängnis von Santo Stefano; Menschen, die schwere Tafelbleie transportieren, einige Zellen; man bemerkt die Mühe der Künstlerin, sichtbar werden zu lassen, was das längst Vergangene unsichtbar gemacht hat.1 Es gibt ein anderes Werk dieser Künstlerin, in dem man sie sieht, während sie auf der Ringmauer irgendeiner Stadtperipherie läuft. Aber es ist nicht irgendeine beliebige Ringmauer. Es handelt sich um die Ringmauer des ehemaligen Nazi-Konzentrationslagers in der Stadt Bozen. Man kann mit Sicherheit sagen, dass diese Werke verschiedene Fragen ins Zentrum der Gegenwart tragen. Mit einigen habe ich mich schon be-
1
The Bare Prison of Santo Stefano. Artist: Rossella Biscotti [published as an Accompaniment to the Presentation at Frieze Art Fair 2011 from 13 October to 16 October 2011 by Wilfried Lentz Gallery, Band 7], Rotterdam 2011.
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schäftigt.2 Aber es gibt einen Aspekt, vielleicht marginal, vielleicht unbedeutend, den ich hier hervorheben möchte (oder mit dem ich beginnen möchte), weil er mir wichtig scheint, um über das vorgeschlagene Thema einer Tätigkeit ohne Werk nachdenken zu können. In dem Werk der Künstlerin, das ich genannt habe, ist gut erkennbar, dass und inwiefern das künstlerische Werk vom Prozess seiner Herstellung untrennbar ist. Das Werk deckt sich mit der künstlerischen Tätigkeit oder mit dem künstlerischen Prozess, der das Werk entstehen lässt; das Werk existiert in seinem Werden und wird in seinem Werden gezeigt; es besteht in der künstlerischen Praxis. Im Übrigen dokumentiert das Werk eine Lebensform, die von der Existenz der Künstlerin selber nicht getrennt werden kann. Die Künstlerin inszeniert sich selbst. Man könnte auch sagen, dass ihr Leben mit der Form des Werks so innig verbunden ist, dass es von ihm nicht unterschieden werden kann. Man könnte sogar sagen, dass Leben und Lebensform innig verbunden sind:3 Das Leben gewinnt seine Form durch Rituale, Prozeduren, Technologien. Es gibt eine Dramaturgie des Lebens, die seine Darstellung sowie die Rituale betrifft, durch die es seine Formen annimmt.4 Dieses Thema der engen Verbindung zwischen Leben und Form des Werks oder zwischen Leben und Lebensform bringt mich zur Frage der vielseitigen Beziehungen zwischen Künstler, Werk und Tätigkeit – den drei Komponenten, die die künstlerische ›Maschine‹ der Moderne oder das ästhetische Gefüge der Moderne bestimmt haben. Den Weisen, wie Künstler, Werk und Tätigkeit miteinander verbunden sind, korrespondieren die sukzessiven Transformationen der ästhetischen Paradigmen. Bei diesen Themen, sowohl der Beziehung zwischen Werk und Tätigkeit wie auch bei einem neuen ästhetischen Paradigma, möchte ich im zweiten Teil meines Textes im Besonderen verweilen. Aber um dahin zu kommen, möchte ich zuerst über das Unbehagen in der ästhetischen Reflexion nachdenken.
2
Roberto Nigro: Mechanisms of Imprisonment, booklet, Wilfried Lentz, Rotterdam 2011. (Dieser Text erschien auch mit Bildern von Rossella Biscotti in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie 18/19 [Juni 2012], S. 55-64).
3
Siehe Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frank-
4
Siehe das »Vorwort« in: Elke Bippus/Jörg Huber/Roberto Nigro (Hg.), Ästhetik
furt a.M. 2012. der Existenz. Lebensformen im Widerstreit, Zürich 2013, S. 7-19.
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Beginnen möchte ich mit einer Frage, die teilweise auch aus meiner persönlichen Erfahrung stammt. Wie schon angedeutet, wurde ich einmal darum gebeten, über das Werk von Rossella Biscotti nachzudenken, etwas über ihre Werke zu schreiben – ein wenig so, als ob diese an ihre Blindheit gebunden wären. Christoph Menke hat eine schöne Passage über dieses Thema geschrieben. Es handelt sich darum, über ein Werk zu schreiben oder zu reden, als ob – sagt er – die Kunst nicht selbst sprechen könne, »weil sie nicht wissen (wollen) kann, was sie tut; sobald sie es sagte und wüsste, täte sie es nicht mehr«.5 Menke weist hier auf eine Konzeption des Verhältnisses zwischen Philosophie und Kunst (oder zwischen Theorie und Kunst) hin, die denken lässt, dass Philosophie und Kunst füreinander die jeweils andere Hälfte sind, »die sie verloren haben – die sie ebenso wiederzugewinnen versuchen, wie sie sie zurückweisen müssen«.6 Es ist kein Wunder, wenn Adorno in dieser Passage widerhallt. In seinem Werk Ästhetische Theorie hat Adorno geschrieben, dass, was zu begreifen wäre, die Unbegreiflichkeit der Kunstwerke sei. An einer zentralen Stelle seines Werkes schreibt er: »Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von der Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.«7 Ausgehend von diesen Gedanken wird die Komplementarität zwischen Theorie und Kunst, die Menkes Analyse suggeriert, zum Paradox. Zur Theorie gehört die Reise nach draußen, das Zuschauen und die nachfolgende Rückkehr nach Hause. »Aber weil das Zuschauen […] nicht gesagt und daher nicht gewusst werden kann, ›hat‹ die Philosophie nicht, wovon sie redet
5
Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a.M. 2013, S. 130.
6
Ebd. Über diese Themen vgl. auch Alexander García Düttmann: Was weiß Kunst? Für eine Ästhetik des Widerstandes, Konstanz 2015, S. 191-212. In diesem Abschnitt spricht García Düttmann von einer »Unruhe des Wissens« in der Kunst und in der Wissenschaft und bemerkt unter anderem, dass die Kunst keine Wissensformen produziere. Er schreibt: »Man erträgt es nicht, dass die Kunst ein Wagnis ist, das kein Wissen produziert. […] Nicht zufällig tritt zu der Rede von der Kunst als Wissensform immer wieder die Rede von der künstlerischen Praxis als Forschung hinzu« (ebd., S. 194).
7
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 113; siehe auch S. 179.
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und weiß.«8 Das Paradox der Theorie entsteht im Prozess vom Zuschauen zum Bericht vom Zuschauen. Die Beziehung wird zum Paradox: Sie wird an ihre Grenze geführt, an der das Wort zur Stille kommt; und trotzdem muss man – und besteht nicht genau darin das Paradox? –, Wörter sagen, solange es welche gibt. Man kann die Beziehung zwischen Theorie und Kunst oder Philosophie und Kunst so denken, als ob sie ein Verhältnis zwischen Feldern der Lesbarkeit (oder Sagbarkeit) und Zonen der Sichtbarkeit wäre. Durch die Sprache bildet die Philosophie Felder der Lesbarkeit, während besondere künstlerische Praktiken durch die Bilder Zonen der Sichtbarkeit auftauchen lassen.9 Aber die Rede von den historischen Formationen des Sichtbaren und des Sagbaren erlaubt es, einen Riss in diese Konzeption der Beziehung zwischen Theorie und Kunst einzuführen. Es geht nicht mehr um die dialektische Komplementarität von Sprache und Bilder, auch wenn sie auf Paradoxien und Grenzerfahrungen beruht, sondern um die Idee ihrer absoluten Heterogenität und Differenz. Nehmen wir ein Beispiel. In seinen Studien über die Ikonographie und Ikonologie zeigt Erwin Panofsky, dass der Diskurs und die Figur jeweils ihre eigene Seinsweise haben, dass sie jedoch komplexe und verschlungene Beziehungen zueinander unterhalten. Panofsky geht bei der Analyse dieser Beziehung nicht von der Sprache und ihrer Fähigkeit aus, die Wahrnehmung festzuhalten, sondern von den Bildern und ihren Differenzen in Bezug auf die Sinnphänomene. Panofsky hebt das Privileg des Diskurses auf, nicht um die Autonomie des plastischen Universums einzufordern, sondern um die Komplexität ihrer Beziehung zu beschreiben. Es ist nicht nur so, dass sich Diskurs und Form wechselseitig verschieben, sondern dass der Diskurs nicht der gemeinsame Interpretationsboden für alle Phänomene einer Kultur bildet. Die Hervorbringung einer Form ist nicht eine abgewandelte Weise, etwas zu sagen. Panofskys Analyse vermeidet, das Wort da wiederherzustellen, wo sich die Form der Wörter entledigt hat. Panofsky macht die Beziehungsformen zwischen Sichtbarem und Sagbarem komplexer.10
8 9
Menke: Die Kraft der Kunst, S. 130. Gilles Deleuze: »Die Schichten oder historischen Formationen. Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)«, in: ders., Foucault, Frankfurt a.M. 1995, S. 69-98.
10 Erwin Panofsky: »Ikonographie und Ikonologie«, in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie, Bd. 1:
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Aber das Verhältnis zwischen Sagbarem und Sichtbarem ist nicht nur eine Beziehung zwischen zwei heterogenen Universen. Es bildet eine Maschine oder ein Dispositiv, das sehen und sprechen lässt. Gilles Deleuze stellt klar, dass jedes Dispositiv seine Lichtordnung hat und dass das Objekt nicht ohne dieses Licht existiert.11 Das Dispositiv ergreift die Kräfte nicht nur, sondern es lässt sie auch bilden. »Das Dispositiv verbindet verschiedene Aspekte und Praktiken miteinander, es ist ein heterogenes Ensemble, das Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. Ein Dispositiv bestimmt das, was wir in einem historischen Machtgefüge sehen und sagen können«.12 Es wäre interessant, diese Überlegungen von Deleuze mit den Analysen zu verbinden, die Louis Marin dem Sein des Bildes und seiner Wirkungskraft gewidmet hat. In seinem Buch Von den Mächten des Bildes schlägt er vor, die Frage nach dem Sein des Bildes durch jene nach der Macht der Bilder zu ersetzen. Marin zufolge bleibt die Frage nach dem Sein des Bildes der Problemstellung der Repräsentation verhaftet und konzipiert das Bild als eine Kopie der Realität. Er schreibt, dass die eilfertige Antwort der »abendländischen“ Philosophie auf die Frage »Was ist das Bild?« darin bestehe, »aus dem Sein des Bildes ein geringeres Sein zu machen, einen Abklatsch, eine Kopie, ein Zweitding von minderem Realitätsstatus«.13 Es lässt sich hier anfügen, dass diese ›Antwort‹ der abendländischen Philosophie dem entspricht, was der französische Philosoph Alain Badiou didaktisches Schema nennt, wenn er von der Beziehung zwischen Kunst und Phi-
Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1994, S. 207-225. Dazu auch Michel Foucault: »Worte und Bilder« [1967], in: ders., Schriften, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2001, Bd. I, S. 794-797, hier S. 795f. 11 Deleuze schreibt: »Die Sichtbarkeit verweist nicht auf ein Licht im allgemeinen, welches zuvor schon existierende Objekte erhellen würde; sie ist aus Lichtlinien gemacht, die variable, von diesem oder jenem Dispositiv nicht zu trennende Figuren bilden.« Gilles Deleuze: »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald/ Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 153-162, hier S. 154. Vgl. auch ders.: Foucault, S. 6998. 12 Elke Bippus/Jörg Huber/Roberto Nigro (Hg.): Ästhetik x Dispositiv. Die Erprobung von Erfahrungsfeldern, Zürich/Wien/New York 2012, S. 7. 13 Louis Marin: Von den Mächten des Bildes. Glossen, Zürich/Berlin 2007, S. 12.
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losophie spricht. Das didaktische Schema basiert auf der Annahme, »Kunst besitze kein Vermögen zur Wahrheit oder Wahrheit gebe es überhaupt nur außerhalb von ihr«.14 Im Mittelpunkt von Marins Überlegungen stehen ähnliche Gedanken. Marin stellt in Frage, dass das Bild eine Abbildung der Realität ist. Die Beziehung der Bilder zum Sein sei keine Nachahmung der Realität. Im Gegenteil gehe es bei der Frage nach der Macht der Bilder um die Kraft, die Performativität, die Wirksamkeit der Bilder. Aus der Anerkennung der performativen Macht der Bilder folgt in einer bestimmten Hinsicht die Feststellung der Begründungsfunktion des Bildes. Das Bild habe die Macht, performativ die Welt zu schöpfen.15 Die Macht der Bilder besteht unter anderem darin, dass sie zeigen, was das Wort nicht ausdrücken kann, was ein Text nicht lesbar machen kann. Auf der anderen Seite kann das Bild nicht die Logik der Sinnproduktion deutlich machen, wie die Figuren des Diskurses es können. Doch die Rolle, die der Begriff der Repräsentation in Marins Werk und insbesondere in seinen Untersuchungen über die Funktion, die Macht und die Subjekte der Repräsentation in der Neuzeit spielt, erinnert an Heideggers Überlegungen über Die Zeit des Weltbildes. In dieser 1938 publizierten Schrift beschreibt Heidegger das, was er den Grundvorgang der neuzeitlichen Geschichte nennt, nämlich dass »die Welt zum Bild und der Mensch zum Subjectum
14 Es handelt sich um den Kern der platonischen Polemik über die Mimesis. Nach Badiou betrifft Platons Verbannungsurteil gegen die Künste die Tatsache, dass sie eine Nachahmung der Effekte der Wahrheit sind. Platon bezeichne Kunst nicht als eine Nachahmung der Realität, sondern als eine Nachahmung der Effekte der Wahrheit. Alain Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, Wien 2009, S. 9. 15 Louis Marin schreibt: »Das Sein des Bildes wäre also, mit einem Wort, seine Kraft« (Marin: Von den Mächten des Bildes, S. 13). Dies folgt daraus, dass die Analyse auf die Möglichkeitsbedingungen der Erscheinung und der Existenz der Bilder fokussieren soll. In Marins Analysen geht es um die performative Kraft der Sprache, der Symbole und der Bilder. Siehe seine der Fabel Le Chat botté von Charles Perrault gewidmeten Analysen, in denen es um die performative Macht der Sprache geht, in Louis Marin: »Le chat botté: Pouvoir des signes, signes de pouvoir«, in: ders., Politiques de la représentation, Paris 2005.
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wird«. Mit dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« bezeichnet Heidegger das Wesen der Neuzeit.16 Die Neuzeit ist die Zeit der Repräsentation. Aber haben wir dieses Regime der Repräsentation oder dieses repräsentative Regime, von dem bei Marin die Rede ist, vielleicht schon seit jeher abgelegt oder sind auf dem besten Weg, es hinter uns zu lassen?17 Welches
16 Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in ders., Holzwege, GA Bd. 5, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 75-113, hier S. 92. 17 Man könnte die verschiedenen Verschiebungen der ästhetischen Gefüge auch mit Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Rezeptionsästhetik, Produktionsästhetik und Ereignisästhetik interpretieren, wie von Dieter Mersch vorgeschlagen. Siehe ders.: »Rezeptionsästhetik/Produktionsästhetik/Ereignisästhetik«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 49-57. Mersch bemerkt, dass die klassische Theorie der Kunst das Werk zu ihrem Mittelpunkt erhebt. Die Rezeptionsästhetik lässt Kunst vornehmlich im Auge des Betrachters entstehen und führt sie damit auf den produktiven Akt der Interpretation zurück. »Demgegenüber setzt die Produktionsästhetik bei den Praktiken selbst an, die notwendig sind, um ein Produkt, einen künstlerischen Prozess oder ein ›Werk‹ hervorzubringen« (ebd. S. 52). Mit der Ästhetik des Ereignisses »kommen andere Aspekte ins Spiel wie die Temporalität des Schnitts, die ›Präsenz der Nichtpräsenz‹ oder ›Materialität‹, ›Performativität‹ und ›Aisthesis‹ […] die Besonderheiten des Körpers oder die Irreduzibilität des ›Fleisches‹« (ebd. S. 55). Zu diesen Aspekten vgl. auch Giorgio Agamben: »Was das Unheimlichste ist«, in: ders., Der Mensch ohne Inhalt, Frankfurt a.M. 2012, S. 7-15. Mit Blick auf die dritte Abhandlung Zur Genealogie der Moral zeigt Agamben, dass Nietzsche die Perspektive der Tradition auf das Kunstwerk umgekehrt hat: »An die Stelle der Dimension des Ästhetischen – der sinnlichen Aneignung des schönen Objekts durch den Betrachter – tritt die schöpferische Erfahrung des Künstlers, der im eigenen Werk une promesse de bonheur erkennt« (ebd., S. 8). Agamben bemerkt, dass der Eintritt der Kunst in die ästhetische Dimension kein unschuldiges und natürliches Phänomen ist. »Und darum gibt es – falls es uns im Ernst darum zu tun ist, die Frage der Kunst in unserer Zeit zu stellen – wohl nichts Dringlicheres als eine Destruktion der Ästhetik, die das gewohnheitsmäßig als Evidenz Erlebte entthronen und sich bereit finden würde, die Zuständigkeit der Ästhetik als Wissenschaft vom Kunstwerk anzufechten« (ebd., S. 14).
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sind die Symptome dieser Verschiebung? Woher kommt das Bedürfnis, ein neues ästhetisches Paradigma zu definieren? Um mich diesen Themen anzunähern, möchte ich jetzt einige Transformationen untersuchen, die mit der Verschiebung des ästhetischen Paradigmas und der Entstehung eines neuen Paradigmas verbunden sind. Man weiß, dass die Griechen eine sehr klare Unterscheidung zwischen poiesis und praxis trafen, zwischen ›produzieren‹ im Sinne von ›ins Sein bringen‹ und ›tun‹ im Sinne von ›tätig sein‹. Während im Zentrum der Praxis die Idee des Willens steht, der sich jeweils unmittelbar in einer Handlung ausdrückt, ist die zentrale Erfahrung der poiesis die Produktion in die Anwesenheit, das heißt das Faktum, dass etwas vom Nichtsein ins Sein, aus der Verborgenheit ins volle Licht des Werks tritt. Das wesentliche Merkmal der poiesis besteht nicht darin, dass es sich dabei um einen praktischen, willentlichen Prozess handelt, sondern darin, dass sie einen Modus der Wahrheit darstellt. Mit ›Wahrheit‹ ist hier der griechische Begriff a-letheia gemeint: Wahrheit als Entbergung. Die poiesis steht in essenzieller Nähe zur Wahrheit.18 Agamben hat bemerkt, dass in der abendländischen Tradition die Unterscheidung innerhalb des Bereiches des ›Tuns‹ zunehmend verwischt. »Was die Griechen als poiesis dachten, wurde von den Römern als ein Modus des Handelns (agere), als ein Etwas-ins-Werk-Setzen, ein operari verstanden. […] Damit tritt an die Stelle der grundlegenden Erfahrung der poiesis […] nun die Frage des ›Wie‹, also die Frage nach dem Prozess, durch welchen ein Objekt hergestellt wurde. Was das Kunstwerk betrifft, heißt dies, dass der Akzent sich von dem, was für die Griechen das Wesen des Werks ausmachte, […] auf das operari des Künstlers verschob, das heißt auf das kreative Genie und auf die besonderen Eigenschaf19
ten des künstlerischen Prozesses, in welchem dieses zum Ausdruck kommt.«
Für die Griechen ist das Kunstwerk nicht das Ergebnis eines Tuns. In der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles, dass Gegenstand jeder Kunst
18 Siehe Agamben: Der Mensch ohne Inhalt, § 8: Poiesis und Praxis, S. 91-124, hier S. 92. 19 Ebd., S. 93f.
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das Entstehen ist.20 Das Kunstwerk ist eine Hervorbringung, die die Wahrheit ans Licht bringt. Man könnte sagen, dass das Werk für die Griechen wichtig ist, insofern in ihm etwas aus dem Nichtsein ins Sein tritt, so dass eine Welt errichtet wird. Der Eintritt der Kunst in die ästhetische Dimension ist deshalb nur dann möglich, wenn die Kunst selbst bereits die Sphäre der Produktion, der poiesis, verlassen hat und in die der praxis hinübergewechselt ist. Die moderne ästhetische Disposition beginnt in dem Moment, in dem die Kunst aufhört, Hervorbringung zu sein, und zur Praxis oder Tätigkeit wird, die ihre Erfüllung in sich selbst findet. In der Evolution des okzidentalen Denkens ist das Kunstwerk aus der Sphäre der poiesis in jene der praxis hinübergewechselt und hat seinen Status im Rahmen einer Metaphysik des Willens, das heißt des Lebens und seiner Kreativität, gefunden.21 Die künstlerische Maschine der Moderne beginnt in dem Moment, in dem die Performance des Künstlers die Oberhand über das Werk gewinnt. Daraus folgt, dass das Werk auch verschwinden kann und sich Kunst als eine Tätigkeit ohne Werk ergeben kann. Aber was heißt diese Verschiebung, wenn wir die Analyse auf die Gegenwart richten? Ich gehe von der Hypothese aus, dass die Fragen, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind, als spezifische Symptome einer übergreifenden Veränderung des Kapitalismus begriffen werden müssen, die mit einer Neudefinition von Subjektivitätsformen einhergehen. Mit Rückgriff auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles bezieht sich der italienische Philosoph Paolo Virno ebenfalls auf die Unterscheidung von poiesis, praxis und Intellekt. Nach Virno teilte Aristoteles die menschliche Erfahrung in drei grundlegende Bereiche auf, die der Arbeit, dem politischen Handeln und dem Intellekt entsprechen. Man muss bemerken, dass Virno keine Unterscheidung zwischen der Arbeit und der poiesis einführt. Er identifiziert einfach die Arbeit mit der poiesis. Dass sich die Griechen mit der Arbeit als Grundmodus des menschlichen Handelns neben der poiesis und der praxis nicht theoretisch auseinandersetzten, weil sie die Arbeit der nackten biologischen Existenz zuschrieben, ist für Virno kein Thema.
20 Aristoteles: Nikomachische Ethik, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 3, Hamburg 1995, 1140a, S. 134. 21 Agamben: Der Mensch ohne Inhalt, S. 97.
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Daher entspricht in seiner Analyse die Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik festhält, der Unterscheidung zwischen Arbeit (poiesis) und politischem Handeln (praxis): Wenn ein Objekt produziert wird, spricht man von Arbeit; wenn das Handeln seinen Zweck in sich selbst hat, spricht man von Praxis. Virno erklärt, dass diese klassische Aufteilung von Hannah Arendt in The Human Condition (Vita activa oder vom tätigen Leben) wieder aufgenommen wurde. Aber Hannah Arendt geht einen Schritt weiter in Richtung einer Analyse der Gegenwart, und zwar mit der Pointe, dass die Gegenwart die Grenzen zwischen Arbeit und Politik aufhebe. Ihre These lautet, dass die Politik im 20. Jahrhundert begonnen habe, die Arbeit zu imitieren. Aber Virno bemerkt, dass, auch wenn Hannah Arendt einen Schritt weiter geht, sie sich täuscht, weil sie die Beziehung zwischen Arbeit und Politik umkehrt. Im Gegensatz zu Arendt legt Virno dar, dass sich nicht die Politik der Arbeit angepasst habe, sondern die Arbeit die traditionellen Eigenschaften des politischen Handelns angenommen habe.22 Unter Politik sei die allgemein menschliche Erfahrung verstehen, das heißt das politische Handeln in seiner klassischen Bedeutung, welches die Interaktion oder die Kommunikation, die sich zwischen den Individuen abspielt, voraussetzt. Oder wie Virno betont: ›Politik‹ bedeutet, sich den Blicken der Anderen auszusetzen. Wenn die Arbeit die traditionellen Eigenschaften des politischen Handelns angenommen hat, dann verschwindet die alte Dreiteilung zwischen poiesis, praxis und Intellekt. Um diese Verschiebung oder Änderung zu erklären, bezieht sich Virno auf den Begriff der Virtuosität. Unter diesem Begriff versteht er die besonderen Fähigkeiten eines ausführenden Künstlers oder einer Künstlerin. Die Virtuosen verrichten eine Tätigkeit, die ihre Erfüllung, ihren Zweck in sich selbst findet, ohne sich in einem fertigen Produkt zu sedimentieren, das heißt in einem Gegenstand, der über die Ausführung hinaus existiert. Tätig-
22 Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect. Individuation bei Duns Scotus und Gilbert Simondon, aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger; hg. und eingeleitet von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien 2005, hier S. 61-65.
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keit ohne Werk, könnte man sagen.23 In zweiter Linie handelt es sich um eine Tätigkeit, die die Anwesenheit anderer voraussetzt, nur im Angesicht eines Publikums existiert.24 Mit diesem Begriff von Virtuosität kennzeichnet Virno den ›virtuosen‹ Charakter der heutigen kapitalistischen Produktionsweise. Das politische Handeln ist in sich virtuos. Wo es ein Werk, ein selbständiges Produkt gibt, dort hat man es mit ›Arbeit‹ und nicht mehr mit Virtuosität zu tun. Marx fragte sich, wie die Arbeit ohne Werk produktiv sein kann. Die Antwort darauf besteht darin, zu zeigen, dass sich die produktive Arbeit in ihrer Gesamtheit die besonderen Wesenszüge der künstlerischen, darstellenden Tätigkeit zu eigen gemacht hat.25 Die These Virnos erläutert die aktuellen Produktionsweisen und beschreibt die Transformation der Natur der Arbeit im Zeitalter des Postfordismus, wie er es nennt.26 Man muss beachten, dass er unter Produktionsweise nicht nur eine bestimmte ökonomische Konfiguration versteht, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Lebensformen, eine Konstellation mit sozialen, anthropologischen, ökosophischen, ästhetischen und ethischen Komponenten. Diese Überlegungen lassen sich mit den von Félix Guattari entwickelten Analysen verknüpfen. In seinem letzten Buch, 1992 auf französisch publiziert, aber erst 2014 unter dem Originaltitel Chaosmose in deutscher Übersetzung erschienen, insistiert Guattari unter anderem auf einem neuen ästhetischen Paradigma. Er bemerkt, dass das ästhetische Empfin-
23 Diese Transformationen werden mit Hinblick auf eine technologische Sinnverschiebung untersucht von Erich Hörl: »Das Arbeitslose der Technik. Zur Destruktion der Ergontologie und Ausarbeitung einer neuen Technologischen Sinnkultur bei Heidegger und Simondon«, in: Claus Leggewie/Ursula Renner/ Peter Risthaus (Hg.), Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her?, München 2013, S. 111-136. 24 Paolo Virno: Grammatik der Multitude, S. 66. 25 Siehe Roberto Nigro: »Alienation, The Social Individual, and Communism: Marx in the 21st Century«, in: Dorothee Richter (Hg.), Open Curating Studio Gasthaus zum Bären/Museum Bärengasse January 2014-March 2015, Zürich 2015, S. 17-24. 26 Zu diesem Thema siehe die Beiträge in Isabell Lorey/Klaus Neundlinger (Hg.): Kognitiver Kapitalismus, Wien 2012 sowie Gerald Raunig: Industrien der Kreativität, Zürich 2012, S. 20-30.
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dungsvermögen auf dem besten Weg sei, »innerhalb der kollektiven Enunziationsgefüge unserer Epoche eine privilegierte Position einzunehmen«27. Hier liegt ein erweitertes Verständnis von Ästhetik zugrunde. Das neue ästhetische Paradigma ist auch ein ethisches Paradigma, das auf neuen Formen der Produktion von Subjektivität beruht, ein »ethiko-ästhetisches Paradigma«. Guattaris letztes Buch beginnt mit einer intensiven Untersuchung über die Frage, wie Subjektivität produziert wird. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die lange Geschichte der klassischen Opposition von individuellem Subjekt und Gesellschaft – und auch die Geschichte der Überwindung dieser Opposition. Guattari zufolge ist eine Rückkehr zu den traditionellen binären Bestimmungssystemen (materieller Unterbau – ideologischer Überbau) heute nicht mehr möglich. »Die verschiedenen semiotischen Register, die dazu beitragen, Subjektivität hervorzubringen, unterhalten keine bindenden, ein für alle Mal fixierten hierarchischen Beziehungen.« Guattari zeigt, dass Subjektivität plural und polyphon ist: »Sie kennt keine dominante Bestimmungsinstanz, die die anderen Instanzen gemäß einer univoken Kausalität führt.«28 Unter ›Produktionsweise‹ müssen transversale Dimensionen verstanden werden, die maschinische Komponenten enthalten, wie semiotische Produktionen der Massenmedien, der Informatik usw., signifikante semiologische Komponenten und asignifikante semiologische Komponenten. Mit der Frage nach der Produktion der Subjektivität sucht Guattari nach neuen Wegen, die in einem postmassenmedialen Zeitalter über die etablierten unterwerfenden Subjektivierungsregime hinausgehen können. In Guattaris Kapitelüberschrift »Das neue ästhetische Paradigma« hallt die Aufgabe des Denkens und einer Kultur der Kritik wider. Der Ästhetik, der Philosophie, der künstlerischen Praxis obliegt es, die Gegenwart zu denken, die Zeit und die historische Lage, in der wir leben, zu untersuchen. Ihnen gehört der Versuch, die historischen Bedingungen, auf denen die Produktion von Subjektivität beruht, zu denken: den Boden, das Gemeinsame, die vorindividuelle Realität, aus der, um es mit Gilbert Simondon zu sagen, Individuationsprozesse schöpfen.29
27 Félix Guattari: Chaosmose, Wien 2014, S. 129. 28 Ebd. 29 Gilbert Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und
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Die Aufgabe der Ästhetik besteht dann darin, die Gegenwart zu beleuchten. Aber es handelt sich um eine sehr besondere Erfahrung der Beleuchtung. Es geht dabei um einen auf die Dunkelheit geworfenen Blick auf der Suche nach einem schwachen Licht, das sich immer verschiebt, das sich immer von uns distanziert. Der Versuch, in die Finsternis zu schauen, ist eine mutige Geste, die uns gleichzeitig in eine unheimliche Lage bringt, so wie der Beobachter vor der Szene in dem Bild ›Reproduktion verboten‹ von Magritte. Hier wird die ästhetische Erfahrung zum Unbehagen, weil sie, anstatt sich in der Klarheit des Tageslichtes zu reflektieren oder sich im reflektierten Bild des Spiegels zu spiegeln, den unzeitgemäßen Charakter der Gegenwart zeigt.30 Anstatt vom Licht der Gegenwart geblendet zu werden, handelt es sich darum, den Blick auf die Schattenseite der Gegenwart zu werfen. Nicht das Mittagslicht, sondern die Blässe und die Undurchsichtigkeit, durch die sich die ästhetische Erfahrung ergibt, zeigen, dass die historischen Bedingungen, auf denen die künstlerische Erfahrung beruht, nicht in einem Verhältnis von Übereinstimmung mit der Zeit, mit der Gegenwart stehen, sondern in einer Beziehung des Kampfes. Hier erscheint das Unzeitgemäße der Ästhetik, ihr Einwirken gegen die Zeit, auf die Zeit, auch im Sinne einer noch kommenden Zeit.31 Und nun verstehe ich besser die Gefahren, die sich in einem Diskurs, der mit einer Seefahrt beginnen will, versteckten: War es nicht vielleicht schon eine unzeitgemäß Geste der Künstlerin, übers Meer zu einer verlassenen Insel zu fahren, wo die Zeit regungslos ruht und Stimmen einer vergessenen Vergangenheit noch widerhallen?
Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin 2007, S. 29-45. Ders.: »Ergänzende Bemerkung zu den Konsequenzen des Individuationsbegriffs«, in: Ilka Becker/ Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.), Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht? München 2008, S. 45-74. 30 Giorgio Agamben: »Was ist Zeitgenossenschaft«, in ders., Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010. Vgl. auch Elke Bippus/Jörg Huber/Roberto Nigro: »Vorwort«, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie, H. 18/19: Ins Offene. Gegenwart: Ästhetik: Theorie, S. 3f. 31 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Berlin 1988, S. 243-334, hier S. 247.
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L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973. Agamben, Giorgio: »Was ist Zeitgenossenschaft«, in: ders., Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010. –: Der Mensch ohne Inhalt, Frankfurt a.M. 2012. –: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frankfurt a.M. 2012. Aristoteles: Nikomachische Ethik, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 3, Hamburg 1995. Badiou, Alain: Kleines Handbuch zur Inästhetik, Wien 2009. Bippus, Elke/Huber, Jörg/Nigro, Roberto (Hg.): Ästhetik der Existenz. Lebensformen im Widerstreit, Zürich 2013. –/Huber, Jörg/Nigro, Roberto (Hg.): Ästhetik x Dispositiv. Die Erprobung von Erfahrungsfeldern, Zürich/Wien/New York 2012. –/Huber, Jörg/Nigro, Roberto (Hg.): 31. Das Magazin des Instituts für Theorie, H. 18/19: Ins Offene. Gegenwart: Ästhetik: Theorie, Zürich 2012. Biscotti, Rossella: The Bare Prison of Santo Stefano [publ. as an Accompaniment to the Presentation at Frieze Art Fair 2011 from 13 October to 16 October 2011 by Wilfried Lentz Gallery], Bd. 7, Rotterdam 2011. Deleuze, Gilles: »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 153-162. –: Foucault, Frankfurt a.M. 1995. Foucault, Michel: »Worte und Bilder«, in: ders., Schriften, Bd. II: 19701975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2001, S. 794-797. García Düttmann, Alexander: Was weiß Kunst? Für eine Ästhetik des Widerstandes, Konstanz 2015. Guattari, Félix: Chaosmose, Wien 2014. Heidegger, Martin: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, GA Bd. 5, hg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a.M. 1997, S. 75-113. Hörl, Erich: »Das Arbeitslose der Technik. Zur Destruktion der Ergontologie und Ausarbeitung einer neuen technologischen Sinnkultur bei Heidegger und Simondon«, in: Claus Leggewie/Ursula Renner/Peter Risthaus (Hg.), Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her?, München 2013, S. 111-136.
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Lorey, Isabell/Neundlinger, Klaus (Hg.): Kognitiver Kapitalismus, Wien 2012. Marin, Louis: Politiques de la représentation, Paris 2005. –: Von den Mächten des Bildes. Glossen, Zürich/Berlin 2007. Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a.M. 2013. Mersch, Dieter: »Rezeptionsästhetik/Produktionsästhetik/Ereignisästhetik«, in: Jens Badura u.a. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 49-57. Nigro, Roberto: Mechanisms of Imprisonment [booklet, Wilfried Lentz], Rotterdam 2011. Mit Bildern von Rossella Biscotti auch in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie, H. 18/19, Zürich 2012. –: »Alienation, The Social Individual, and Communism: Marx in the 21st Century«, in: Dorothee Richter (Hg.), Open Curating Studio Gasthaus zum Bären/Museum Bärengasse January 2014-March 2015, Zürich 2015, S. 17-24. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Berlin 1988, S. 243-334. Panofsky, Erwin: »Ikonographie und Ikonologie«, in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie, Bd. 1: Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1994. Raunig, Gerald: Industrien der Kreativität, Zürich 2012. Simondon, Gilbert: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin 2007, S. 29-45. –: »Ergänzende Bemerkung zu den Konsequenzen des Individuationsbegriffs«, in: Ilka Becker/Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.), Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München 2008, S. 45-74. Steinweg, Markus: Kunst und Philosophie / Art and Philosophy, Köln 2012. Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellekt. Individuation bei Duns Scotus und Gilbert Simondon, hg. und eingeleitet von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien 2005.
Autorinnen und Autoren
Kathrin Busch ist Professorin an der Universität der Künste Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der französischen Gegenwartsphilosophie, mit Konzentration auf Kunst- und Kulturtheorie.Thematisch stehen Fragen der zeitgenössischen Kunst, der Passivität und künstlerischen Forschung im Zentrum der Beschäftigung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Anderes Wissen, München 2016 (Hg.), P – Passivität, Hamburg 2012; Bildtheorien aus Frankreich, München 2011 (Hg. mit Iris Därmann); A Portrait of the Artist as a Researcher (2007) (Hg. mit Dieter Lesage). Anna Calabrese schloss 2013 ihren Bachelor in Philosophie und Gesellschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Ästhetik, Wissenschaftsund Geschlechterforschung an der Universität Basel ab. Nach einem Halt an der Universität Leipzig (Kunstgeschichte) studiert sie seit 2014 an der Technischen Universität Berlin Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik im Master und arbeitet seit 2015 als Tutorin bei Prof. Dr. Siegmund. Bernadette Collenberg-Plotnikov studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Philosophie in Bochum, Paris und Konstanz; 1996 Promotion an der FU Berlin; 2009 Habilitation an der FernUniversität in Hagen. Seit 2014 apl. Professorin in Hagen und wissenschaftliche Mitarbeiterin (›Eigene Stelle‹) im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Das Projekt ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ (1906-1943): Leitidee – Institution – Kontext« am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
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Lutz Hengst, Dr. phil., arbeitet seit 2012 im Lehrgebiet Kunst- und Kulturgeschichte der Universität der Künste, Berlin. Stationen – vor Abschluss der Promotion zur Kunst der Spurensicherung und nach dem Studium der Volkskunde, Kunstgeschichte und Historischen Geographie: Stipendiat des Exzellenzzentrums Graduate Centre for the Study of Culture, Universität Gießen, Assistent für Kunst- und Designgeschichte an der Universität Wuppertal und im Ausstellungswesen. Zurzeit widmet er sich Ökologien künstlerischer Landschaftsauffassung. Eva-Maria Jung ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar und Geschäftsführerin des Zentrums für Wissenschaftstheorie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Philosophie, Mathematik und Physik in Freiburg, Rom und Berlin und schloss ihre Promotion 2009 an der Ruhr-Universität Bochum ab. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Philosophie des Geistes. Roberto Nigro hat seit 2016 die Professur für Philosophie, insbesondere kontinentale Philosophie der Leuphana Universität Lüneburg inne. Er ist zudem Programmdirektor am Collège International de Philosophie in Paris. Zuvor war er Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste. Gastprofessuren an der EHESS, Paris, an der Université Paris Ouest Nanterre, École Normale Supérieure (Paris und Lyon); Visiting Scholar an der Harvard University und Assistenzprofessur an der Michigan State University und an der Universität Bari. Zuletzt erschienen: Wahrheitsregime, Diaphanes 2015. Dr. Rahel Puffert (Hamburg) ist derzeit Vertretungsprofessorin am Institut für Kunst und visuelle Kultur (Kunst – Vermittlung – Bildung) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2013 gehört sie zur künstlerischen Leitung des »Werkhaus Münzviertel. Modellprojekt zur Verschränkung von Pädagogik, Kunst & Quartiersarbeit« in Hamburg. Vorzugsweise arbeitet sie in Kollektiven wie den Künstlergruppen »target: autonopop«, Archiv »Kultur & Soziale Bewegung«, FRONTBILDUNG und war Mitbegründerin und Redakteurin von THE THING Hamburg. Plattform für Kunst & Kritik 2006-09.
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Reinold Schmücker ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Neben Büchern und Aufsätzen zur Ästhetik und Philosophie der Kunst hat er zur Ethik und Artefaktphilosophie, zur Rechtsphilosophie und zur Politischen Philosophie publiziert. Sein besonderes Interesse gilt gegenwärtig der Kulturtechnik des Kopierens; am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld leitete er 2015/16 eine internationale Forschungsgruppe zum Thema The Ethics of Copying. Michael Schwab ist ein post-konzeptioneller Künstler mit besonderem Interesse an der künstlerischen Forschung, die er durch Begriffe wie ›Experiment‹ und ›Exposition‹ zu fassen versucht. Im durch den Europäischen Forschungsrat geförderten Forschungsprojekt MusicExperiment21 (Leitung: Paulo de Assis) arbeitet er an epistemologischen und ästhetischen Grundlagen der künstlerischen Forschung. Zusammen mit Gerhard Eckel leitet er außerdem das durch den österreichischen Wissenschaftsfonds geförderte Projekt Transpositionen: Künstlerische Datenverarbeitung. Er ist Chefredakteur des Journal for Artistic Research (JAR). Judith Siegmund ist Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie und Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte: ästhetische Theorie, produktionsästhetische Epistemologie und neuere Theorien zum Arbeitsbegriff. Mitarbeit im Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« (ab Okt. 2016) sowie im Beirat der Graduiertenschule der UdK Berlin, langjährige Arbeit als Konzept- und Videokünstlerin. 2015/16 vertrat sie das Fachgebiet »Geschichte der Philosophie« an der Freien Universität Berlin. Cornelia Sollfrank (PhD) ist postmediale Konzeptkünstlerin und interdisziplinäre Forscherin. Sie studierte Malerei an der Kunstakademie München, bildende Kunst an der Universität der Künste Hamburg und wurde an der University of Dundee (UK) promoviert. Auf der Grundlage von Experimenten mit Autorschaft, digitalen Medien, Vernetzung und feministischer Theorie lotet sie in ihren Arbeiten neue Kunstbegriffe aus.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)
Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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