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German Pages 214 Year 2015
Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht
T h e a t e r | Band 1
2008-09-02 10-50-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247593904|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 891.p 188247593912
Natascha Siouzouli ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des BMBFForschungsverbunds »Theater und Fest in Europa« (FU Berlin, Institut für Theaterwissenschaft) und als Übersetzerin (Heiner Müller, Elfriede Jelinek etc.) tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Präsenz, Blick im Theater, das Chorische, Theaterfestivals.
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Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht. Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy
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) T00_03 titel - 891.p 188247593992
Diese Arbeit wurde 2006 als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Freien Universität Berlin vorgelegt und angenommen. D 188
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Natascha Siouzouli Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-891-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Prolog Einführende Überlegungen und Ausgangsthesen 9
Der Forschungsstand und die Theorie Sekundärliteratur über Luc Bondy 18
Sekundärliteratur über Botho Strauß 19
Die Theorien über Präsenz 22
1. Präsenz als Feld 23 2. Präsenz als instant 34 3. Präsenz-Entzug 44
Präsenz/Aufführung: Bemerkungen und Fragen 55
4a. Die ekstatische Präsenz 61 4b. Präsenz versus Repräsentation? 64
Gliederung der Arbeit 72
Die Fremdenführerin Beschreibung und Analyse 75
Die Fremdenführerin: Der abschließende Blick 92
Absente und präsente Räume 94
Die Möglichkeit der Liebe: Die augenblickliche Präsenz 101
Die Zeit und das Zimmer 107
Beschreibung und Analyse 108
Die Zeit und das Zimmer: Der abschließende Blick 124
Marie Steuber versus Libgart Schwarz 128
Präsenz als Körper-Feld 134
Schlußchor 141
Beschreibung und Analyse 142
Schlußchor: Der abschließende Blick 168
Präsens und Präsensschwund 176
Die Präsenz der Zeit: Zeit als Präsens und präsente Zeit 184
Epilog 189
Literatur 207
DANKSAGUNG Diese Arbeit wäre ohne die wertvolle Hilfe sehr geschätzter Leute unmöglich. Ich möchte demgemäß hier vom Herzen Rafael Ugarte Chacón, Matthias Dreyer, Sabine Ganz, Dimitris Grigoropoulos, Antigone und Vassilis Siouzoulis, Dr. Wiebke-Marie Stock, Dr. des. Viktoria Tkaczyk danken. Die Durchführung der Arbeit wurde erst durch die vielseitige Unterstützung des DAAD und der DFG möglich. Ich möchte mich zum Schluss ausdrücklich bei Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte bedanken, der ich viel mehr schuldig bin, als nur annähernd zu sagen möglich ist.
PROLOG Einführende Überlegungen und Ausgangsthesen Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein spezifischer Beitrag zur heute geführten Debatte um Präsenz. Zentral dabei ist die Behandlung der Frage nach der Art und Weise der szenischen Produktion und Präsentation von Präsenz in Auseinandersetzung mit jenen Elementen des Dramas, die auf der Bühne in Präsenz transformiert werden. Die szenische Produktion und Präsentation von Präsenz Die geglückten Formulierungen „Produktion von Präsenz“ (Hans Ulrich Gumbrecht) 1 und „Präsentation von Präsenz“ (Martin Seel) 2 verdanken wir der zunehmenden Prominenz des Präsenzbegriffs und -diskurses im Kontext der kulturwissenschaftlichen und ästhetischen Theorieentwicklung. Entsprechend ist dem Präsenzbegriff eine herausragende und zentrale Position im theaterwissenschaftlichen Diskurs zuzusprechen, wenn vom Fakt ausgegangen wird, dass dieser sich zusehends im Raum entwickelt, den die Verschränkung vom ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs schafft. Tatsächlich stützt sich sowohl Gumbrechts als auch Seels Argumentation auf Beispiele aus dem Theaterbereich oder auf theaterwissenschaftliches Vokabular. Das Verhältnis zwischen den beiden Ansätzen ließe sich folgendermaßen formulieren: Während Gumbrecht die Produktion von Präsenz als vorrangig mediale Hervorbringung feststellt, stellt sie Seel vielmehr heraus, indem er dem Medium Kunst außer der präsenzproduzierenden auch eine präsenzpräsentierende Geste zuschreibt.
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Gumbrecht, Hans Ulrich: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 63-76; Ders.: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. Seel, Martin: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Früchtl, Josef, ebd., S. 48-62. 9
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Unter Medium bzw. Medium Kunst verstehen beide – in geringerem oder größerem Umfang – Theater. Gumbrecht versteht unter „Produktion von Präsenz“ „[d]as [...] Andere zur Produktion und Identifikation von Sinn“ 3 und präzisiert die beiden Begriffe der Relation folgendermaßen: „Das Wort ‚Präsenz‘ bezieht sich nicht (jedenfalls nicht hauptsächlich) auf ein zeitliches, sondern auf ein räumliches Verhältnis zur Welt und zu deren Gegenständen. Was ‚präsent‘ ist, soll für Menschenhände greifbar sein, was dann wiederum impliziert, daß es unmittelbar auf menschliche Körper einwirken kann. Das Wort ‚Produktion‘ wird in der Bedeutung seiner etymologischen Herkunft aus dem lateinischen Wort producere gebraucht, das sich auf einen Akt bezieht, bei dem ein Gegenstand im Raum ‚vor-geführt‘ wird. [...] Dementsprechend verweist der Ausdruck ‚Produktion von Präsenz‘ auf alle möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung ‚präsenter‘ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird.“ 4
Die „Produktion von Präsenz“ ist dementsprechend die Praxis der Präsentmachung. Gumbrecht unterstreicht dabei mehrfach „den Aspekt der Räumlichkeit im Präsenzbegriff“ 5 , den verräumlichenden Akt der Produktion, und konzipiert die Präsentmachung vorerst als eine gegenwärtige Verortung bzw. als ein Hier. Den Aspekt der Zeitlichkeit ordnet er prinzipiell den Repräsentations- und sinnproduzierenden Prozessen zu. 6 Allerdings kommt er letzten Endes nicht umhin, zur näheren Definierung sowohl von Präsenz als auch vom präsenzproduzierenden Akt temporale Termini einzusetzen. Dabei greift er beispielsweise auf die Urthematik des Zeitdiskurses zurück, nämlich die Unterscheidung zwischen linearer und zyklischer Zeit,7 um die Zeitkonzeptionen, welche den Modellen der „Sinn-“ und „Präsenzkultur“ 8 zugrunde liegen, zu differenzieren. 9 Anderswo und unter Einführung der Begriffe der „Epiphanie“ von Präsenz 10 und der „Präsen3 4 5 6 7
Gumbrecht: „Produktion von Präsenz…“, S. 63. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 10-11. Gumbrecht: „Produktion von Präsenz…“, S. 63. Vgl. ebd., S. 67. Zur einer spannenden Kulturgeschichte von Zeiten und Zeitkonzepten siehe Kaempfer, Wolfgang: Zeit des Menschen. Das Doppelspiel der Zeit im Spektrum der menschlichen Erfahrung, Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 1994. 8 Siehe hierzu Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 98-110. 9 Siehe Gumbrecht: „Produktion von Präsenz…“, S. 67. 10 „[U]nter der Überschrift ‚Epiphanie‘ [möchte ich] auf drei Merkmale eingehen, die die Art und Weise prägen, in der sich uns das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Sinn präsentiert. Gemeint sind: erstens der Eindruck, daß das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Sinn, sobald es eintritt, 10
PROLOG
tifikation“ als eine der Funktionen der präsenzproduzierenden Praxis bringt er – ohne allerdings auf Konkreteres einzugehen – noch ein Paar oppositiver Konzepte des zeitlichen Aspekts des Präsenzbegriffs in die Diskussion: einerseits das Verständnis von Präsenz als ephemeres 11 , plötzliches Ereignis 12 und andererseits das Konzept der „breiten Gegenwart“ 13 . Es ist offensichtlich, dass Gumbrecht das Jetzt des Präsenzbegriffs nicht benennt und nicht präzisiert; seine Vorstellung von der Produktion von Präsenz ist eher ein Positionieren (im) hic. Als ein derartiges Positionieren (im) hic lässt sich durchaus die (theatrale) Inszenierung – als Ausgangspunkt der Aufführung begriffen – verstehen: Sie ist nämlich (vorerst) eine mise en place im bzw. des präsenten (Spiel-)Raums. Sie ist mehr noch die kreative Instanz, die den präsenten (Spiel-)Raum bzw. das hic überhaupt schafft und in diesem Sinne der präsenzproduzierende Akt schlechthin. Die Inszenierung produziert ganz im Sinne Gumbrechts Präsenz; dies ist unter mise en place des präsenten Raums zu verstehen. Die Inszenierung positioniert nicht bloß das Hier, sondern positioniert auch im Hier. Das, was sie zuallererst (im) Hier positioniert, ist Zeit bzw. das Jetzt. Mehr noch: Mit der Setzung des Hier, setzt die Inszenierung zugleich das Jetzt, indem sie zu einer Betretung nicht nur des eigenen Raums (ihres Hier), sondern auch der eigenen Zeit (ihres Jetzt) einlädt. Das Verhältnis zwischen mise en place und mise en temps ist ein reziprokes: (Das) hic setzt sich (im) nunc und (das) nunc setzt sich (im) hic. Diese doppelte Setzung und gegenseitige Fundierung von Hier und Jetzt macht die szenische Präsenz aus und zeichnet die Inszenierung als präsenzproduzierenden Akt aus. Die Produktion der szenischen Präsenz ist dementsprechend nicht anders zu konzipieren als unter Berücksichtigung sowohl der präsenten Räumlichkeit als auch der präsenten Zeitlichkeit. Martin Seels Begriff von (inszenierter) Präsenz wird dieser Berücksichtigung gerecht: „Jede Inszenierung [...] ist eine Inszenierung von Geaus dem Nichts kommt; zweitens der Umstand, daß sich das Eintreten dieses Spannungsverhältnisses räumlich artikuliert; drittens die Möglichkeit, die Zeitlichkeit dieses Verhältnisses als ‚Ereignis‘ zu beschreiben.“ Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 131-132. 11 Ebd., S. 131. 12 Siehe Anm. 10 dieses Kapitels. 13 „Dieser Wunsch nach Präsentifikation lässt sich mit der Struktur einer breiten Gegenwart in Verbindung bringen, in der wir die Vergangenheit nicht mehr ‚hinter uns lassen‘ wollen und in der die Zukunft nicht versperrt ist. Eine solche breite Gegenwart würde schließlich in einem Bereich der Simultaneität verschiedene vergangene Welten versammeln.“ Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 142. Darauf wird noch später (siehe: Die Theorien über Präsenz, S. 22ff.) einzugehen sein. 11
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genwart. Sie ist ein auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das hier und jetzt geschieht...“ 14 . Künstlerische Inszenierungen gehen hier noch einen Schritt weiter, indem sie Gegenwarten nicht nur her- und herausstellen, sondern auch „darbieten“: „[Künstlerische Inszenierungen] produzieren Präsenz nicht allein, sie präsentieren Präsenz.“ 15 Diese besondere Darbietung oder Präsentation von Präsenz gelingt den künstlerischen Inszenierungen auf eine exzeptionelle Weise, weil ihnen eine einmalige Fähigkeit zu eigen ist: Sie sind nämlich das, „was sie zeigen“ 16 : „Denn künstlerische Inszenierungen lassen es nicht allein zu einer vorübergehenden auffälligen Gegenwart kommen; sie bieten nicht allein eine vergängliche Gegenwart in auffälliger Weise dar; sie leisten dies beides, und beides zugleich, indem sie sich ihrerseits als eine auffällig vorübergehende Gegenwart präsentieren. Ihr Verlauf ist das, was sie in und mit ihrem Verlauf zur Darbietung bringen – nämlich vergehende Gegenwart.“ 17
Hiermit führt Seel ein zentrales Charakteristikum der (inszenierten) Präsenz ein, ohne es zu benennen, nämlich ihre Performativität. 18 Inszenierte Präsenz zeigt oder präsentiert sich, indem sie sich vollzieht; sie ist ihr Vollzug und in diesem Sinne lässt sie sich prinzipiell weder auf ein Außerhalb zurückführen, noch verweist sie prinzipiell auf etwas außerhalb ihrer selbst. Indem sie derart ihre eigene Realität etabliert und performiert, kommt ihr eine Ereignishaftigkeit ex nihilo zu: Inszenierte Präsenz findet hier und jetzt als grundlose Ekstatik statt. Ehe ich diesen letzten Punkt im nächsten Abschnitt noch weiter diskutiere, möchte ich hier noch abschließend bemerken, dass auch Seel keine eindeutige Konzeption der Art und Weise des Erscheinens des PräsenzRaums und der Präsenz-Zeit vorzulegen vermag: Gegenwart kommt bei
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Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen…“, S. 53. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Zum Begriff und seinen Bedeutungen, auf die ich auch hier rekurriere, siehe Bohle, Ulrike/König, Ekkehard: „Zum Begriff des Performativen in der Sprachwissenschaft“, in: Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.), Theorien des Performativen, Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10, Heft 1, Berlin: Akademie 2001, S. 13-34, insbes. 21-24. 12
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ihm undifferenziert bzw. unpräzise als Entzug von Gegenwart, 19 als momentanes Erscheinen, 20 oder aber als andauerndes Präsens 21 vor. 22 Der präsente Chronotopos 23 Die theatrale Inszenierung stellt entsprechend diesen Ausführungen den Topos par excellence der Produktion und Präsentation von Präsenz dar: Sie stellt ein situatives Hier und Jetzt her und zeigt es, vorrangig indem sie selbst zuallererst dieses Hier und Jetzt ist. Performativität und Präsenz des szenischen Ereignisses 24 sind insofern konstitutiv aufeinander bezogen, als das, was das szenische Ereignis vorerst und vorrangig performiert, seine eigene Präsenz ist.
19 „[Das auffällige Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart] [...] [entzieht sich] jeder auch nur annähernd vollständigen Erfassung“, Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen…“, S. 53. 20 Siehe hierzu ebd., S. 60. 21 Siehe hierzu ebd., S. 56. 22 Siehe hierzu: Die Theorien über Präsenz, S. 22ff. 23 Zur Auslegung des Begriffs des theatralen bzw. szenischen Chronotopos siehe zum Beispiel Pavis, Patrice: L’analyse des spectacles, Paris: Armand Colin1996, S. 147-149; auch Schweizerhof, Barbara: „Jede Zeit hat ihren Ort – Timing und Chronotopos“, in: Birkenhauer, Theresia/Storr, Annette (Hg), Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8 1998, die zwei für die Arbeit belangvolle Bemerkungen macht, nämlich 1) dass der Chronotopos nicht „die bloße Korrelation von ‚Ort der Handlung‘ und ‚erzählter Zeit‘“ bezeichnen soll, sondern vielmehr eine „Form[] der künstlerischen-literarischen Aneignung von Realität“ (S. 151), und 2) dass im Begriff impliziert wird, dass „Räume und Zeiten“ nicht bloß „erzählt [werden]“, sondern dass sie auch „[selbst etwas] erzählen. Sie strukturieren den Verlauf, die Methode einer Erzählung und implizieren darüber hinaus Bedeutungen. Sie sind sowohl von sujetbildender als auch gestalterischer Relevanz.“ (ebd.) Hier wird implizit oder explizit darauf hingewiesen, dass der Chronotopos das Resultat eines produktiven Prozesses ist und darüber hinaus, dass er selber eine produktive Arbeit leistet: Er wird in diesem Sinne sowohl als Produkt als auch als Produzent (der inszenatorischen bzw. der Aufführungsprozedur) verstanden. 24 Den Begriff des szenischen Ereignisses verwende ich, um der Dichotomie zwischen Inszenierung und Aufführung zu entgehen; als einen Terminus, der die Korrelation zwischen Inszenierung und Aufführung akzentuieren soll. Die Arbeit fokussiert die Strategien, Methoden und Techniken der Inszenierung, liest allerdings diese von der Aufführung ab, welche dann die zu ziehenden Schlussfolgerungen betreffen; insofern interessiert sich die Arbeit für die Inszenierung keineswegs als Plan, sondern vielmehr als Resultat und Wirkung, so wie sie sich szenisch zu präsentieren vermögen. Der Begriff der Aufführung bedeutet nun im Arbeitskontext die „realisierte“ bzw. „gewordene“ Inszenierung und ist insofern vorwiegend als Synonym für das szenische Ereignis aufzufassen. 13
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Diese performative Präsenz des szenischen Ereignisses habe ich im vorangegangenen Abschnitt als grundlose Ekstatik bezeichnet und zwar insofern als die szenische Präsenz die eigene Wirklichkeit ereignishaft – und das heißt auch fern von Abhängigkeiten aller Art – erscheinen lässt bzw. setzt und vollzieht. Die als performativ verstandene szenische Präsenz (be)gründet ihre bezuglose Existenz, die nur durch sich selbst gerechtfertigt wird. Dementsprechend ist die szenische Präsenz nicht als das Produkt von Transformationsprozessen zu konzipieren: Sie ist nicht die szenische Übersetzung einer (vor-)geschriebenen Vorlage welcher Art auch immer. Vielmehr noch: Sie ist die exzeptionelle Eigenschaft des Theaterereignisses, die auf nichts rückführbar ist und die allein (zumindest vorerst) der szenischen Hervorbringung zuzuschreiben ist. Was aber genau ist an der szenischen Präsenz unter keinen Umständen auf eine (in unserem Zusammenhang dramatische) Vorlage rückführbar? Zunächst: Präsenz meint schlicht und einfach ausgedrückt etwas hier jetzt. Gumbrecht übersetzt das Etwas im Präsenzbegriff mit Gegenstand oder Körper 25 und Seel mit Geschehnis bzw. Ereignis und Vorhandenem. 26 Das alles lässt sich durchaus auf der Bühne wieder finden: Gegenstände bzw. Requisiten und Dekor, Geschehnisse und Situationen und vor allem Körper (von Akteuren). Das jeweils szenische präsente Etwas fungiert allerdings bis zu einem gewissen Grad (auch) als Produkt von Transformationsprozessen, die ihren Ausgangspunkt zum Teil im geschriebenen Text haben. Anders ausgedrückt: Das jeweils präsente Etwas unterhält eine wie auch immer geartete, leichter oder schwerer zu erkennende und zu benennende Beziehung zu der eventuellen Vorlage, die einer szenischen Hervorbringung vorausgeht. Einzig und allein – so meine These – der raumzeitliche Aspekt im Präsenzbegriff, nämlich das Hier (und) Jetzt, lässt sich an keine Vorlage rückkoppeln, ist vom Drama in keinster Weise ableitbar, sondern existiert an und für sich und ausschließlich als szenische Hervorbringung. In diesem Sinne, nämlich von der Performanz der szenischen Präsenz ausgehend, betrachte ich als primäre Aspekte des (szenischen) Präsenzbegriffs Raum als Hier und Zeit als Jetzt und berücksichtige entsprechend in der Arbeit das präsente Etwas ausschließlich in seiner Relation zum präsenten Chronotopos. Meine Ausgangsthese lautet also zusammengefasst: Das, was szenisch eigentlich, zuallererst und vorrangig produziert und präsentiert wird, ist Raum als Hier und Zeit als Jetzt. Dabei beschränke ich mich keineswegs nur auf den szenischen Chronotopos als Rahmen der Aufführung. Unter Präsenz verstehe ich sehr 25 Siehe beispielsweise Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 11, 100. 26 Siehe hierzu Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen…“, S. 54, 55. 14
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wohl auch die partiellen Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten, 27 welche Gegenstände, Körper und Situationen produzieren und gestalten. Das szenische Ereignis stellt sich für mich vielmehr als komplexes Präsenzen-Geflecht dar. Dieses Geflecht möchte ich hier analysieren, um herauszufinden, wie es sich konstituiert, woraus es sich zusammensetzt, wie es sich produziert und präsentiert. Das Beispiel: Bondy inszeniert Strauß Ich habe die These aufgestellt, dass im theatralen Präsenzbegriff im Prinzip die chronotopischen Aspekte in den Vordergrund gerückt werden sollen, insofern als die szenische Präsenz als Hervorbringung bzw. Produktion und Präsentation von Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu verstehen ist. Als herausragendes Beispiel von Produktion und Präsentation von Präsenz, in der obigen Bestimmung als präsentem Chronotopos aufgefasst, betrachte ich Luc Bondys Inszenierungen der Stücke Botho Strauß’. Die Auseinandersetzung des Regisseurs mit dem Autor ist eine langjährige und bis heute ununterbrochene, und es wäre eine lohnende Arbeit, die Geschichte dieser Zusammenarbeit detailliert zu untersuchen, um darin Leitmotive, Kohärenzen oder Diskontinuitäten aufzuspüren und zu benennen. 28 Exemplarisch dafür soll die vorliegende Studie stehen, die eben ein derartiges Leitmotiv fokussiert. Im Mittelpunkt der Arbeit steht nämlich implizit oder explizit immer die Frage nach der jeweiligen – das heißt seitens des Regisseurs und seitens des Autors – Art und Weise der Befassung mit und Behandlung der Raum-Zeit-Thematik. Damit ist zunächst konstatiert, dass die Befassung damit beiderseits eine spezifische und auch eine zentrale ist: Sowohl die straußschen Texte als auch deren Inszenierungen von Bondy verstehe ich als Auseinandersetzungen mit und Behandlungen der Raum-Zeit-Problematik. Zunächst zum Autor: Schon die Titel der der Untersuchung zugrunde liegenden Stücke (Die Fremdenführerin, Die Zeit und das Zimmer und Schlußchor) verwenden Wörter des raumzeitlichen Diskurses und führen
27 Die Begriffe der Räumlichkeit und Zeitlichkeit weisen in meinem Arbeitskontext auf die existentielle Dimension (von Agierenden, Aktionen etc.) oder Eigenschaft (der [Bühnen-]Elemente und Materialien) hin, räumlich und zeitlich (sowohl in Raum und Zeit als auch und vielmehr als Raum und Zeit) zu sein. 28 Zu einem solchen – allerdings unsystematischen – Versuch siehe Sucher, C. Bernd: „Luc Bondy: Ich inszeniere immer, wie ich empfinde“, in: Ders., Theaterzauberer 2 – Von Bondy bis Zadek, München: Piper 1990, S. 11-31, insbes. 19ff. 15
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die Thematik ein. 29 Nun möchte ich hier zwei Behauptungen aufstellen, die in der Arbeit ausführlich diskutiert und präzisiert werden sollen: Einerseits positioniert Strauß die Raum-Zeit-Frage vorrangig auf der semantisch-thematischen bzw. Inhalts-Ebene 30 und macht daraus eher einen Diskurs, sodass ich seine Stücke vielmehr als Spiele mit Raum und Zeit bezeichnen würde. Andererseits – und dies ist für meine Arbeit von größerer Bedeutung – resultiert aus dieser Behandlung der Raum-ZeitFrage eher eine Hervorbringung von Absenz im Sinne einer Suspension des Hier und Jetzt: Die Gegenwart, von der die straußschen Texte handeln, ist eine Gegenwart auf der Kippe, wenn nicht sogar eine nicht vorhandene Gegenwart. Ich suggeriere hier zunächst keinen Kausalzusammenhang zwischen diskursivem Behandlungsmodus der Raum-Zeit-Problematik und Suspension von Gegenwart bzw. Hervorbringung von Absenz. Es bleibt Gegenstand der Untersuchung und vorerst eine offene, über die konkreten Texte hinausgehende Frage, ob und, wenn ja, inwiefern eine kausale Beziehung zwischen den zwei hier aufgeführten Charakteristika der straußschen Texte herzustellen wäre. Luc Bondys Inszenierungen dieser Stücke auf der anderen Seite lassen sich als Hervorbringungen und Arrangements von Präsenz auffassen. Letztere avanciert in seinen Arbeiten zur jeweils zentralen thematischen Achse, sodass sie in jeder Inszenierung nicht lediglich – das heißt als unumstrittene genuine Eigenschaft des Theaterereignisses – fest-, sondern eher herausgestellt wird, indem sie eine permanente, durch bestimmte Techniken und Strategien angenäherte Thematik darstellt. Der Regisseur rekurriert diesbezüglich auf die formale bzw. Gestaltungs-Ebene und gelangt zur Produktion und Präsentation von Präsenz durch eine spezifische
29 Das Interesse Strauß’ für relevante Fragen ist umfassend rezipiert worden. Siehe diesbezüglich die eingehende Studie von Damm, Steffen: Die Archäologie der Zeit. Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten von Botho Strauß, Opladen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1998, und die Beiträge von Greiner, Bernhard: „‚Beginnlosigkeit‘ – ‚Schlußchor‘ – ‚Gleichgewicht‘. Der ‚Sprung‘ in der deutschen Nachkriegsgeschichte und Botho Strauß’ Jakobinische Dramaturgie“ und Riemer, Willy: „Problematik des Ursprungs. Kosmos und Chaos in Botho Strauß’ ‚Beginnlosigkeit‘“, in: Weimarer Beiträge, 40 (1994) 2, S. 245-265 und 316-320. Siehe auch: Sekundärliteratur über Botho Strauß, S. 19ff. 30 Allerdings nicht ausschließlich! Siehe hierzu beispielsweise Die Zeit und das Zimmer, wo teilweise auch andere Mittel, die der formalen Dimension des Stücks zuzuschreiben wären (zum Beispiel die vielen Identitäten der Person Marie Steuber), zur (indirekten) Hinterfragung räumlicher und zeitlicher Verhältnisse eingesetzt werden. Die genaue Strukturierung und Artikulation des Diskurses in den Stücken Strauß’ bleibt ein zentraler Forschungsgegenstand der Arbeit. 16
PROLOG
Behandlung und Gestaltung des Raums und der Zeit. Entsprechend möchte ich hier seine Inszenierungen als Spiele in Raum und Zeit verstehen. Im Kontext dieser Ausführungen ließe sich die Behauptung formulieren, dass hier Absenz in Präsenz transformiert wird, was als eine andere Formulierung der oben angesprochenen Creatio ex nihilo der szenischen Präsenz gelesen werden könnte. Ich behaupte hier, dass das Verhältnis zwischen den straußschen Texten und deren Inszenierungen von Bondy einen bestimmten und symptomatischen Fall der dialektischen Relation zwischen Absenz und Präsenz 31 darstellt, der sich in der je spezifischen Vorstellung und Gestaltung von Raum und Zeit artikuliert. Ich möchte nun zunächst kurz die vorhandene Literatur zu Bondy und Strauß besprechen, und zwar ausschließlich in Hinsicht auf deren Auseinandersetzungsmethodik mit der Raum-Zeit-Problematik in den Arbeiten des Regisseurs und des Autors. Diese Besprechung wird dazu dienen, meinen Blickwinkel von den bisherigen Annäherungen zu differenzieren und darüber hinaus mein Interesse und die Fokussierung der Arbeit zu erläutern. Anschließend werde ich die diversen theoretischen Präsenz-Konzepte diskutieren, die mir im Laufe der Analyse als Instrumente dienen werden. Die Diskussion der Präsenzkonzeptionen, die zum größten Teil nicht dem theaterwissenschaftlichen Diskurs entstammen, ist insofern von Belang, als die Theorien im Hinblick auf eine eventuelle Fruchtbarmachung im theatralen Kontext besprochen werden und eine entsprechende Fragestellung implizieren. In diesem Zusammenhang und mich konkret auf die Konzeptionsmethoden und -strategien von Präsenz beziehend werde ich anschließend detaillierter auf das Verhältnis zwischen den Wahrnehmungsmodi von Präsenz und szenischem Ereignis eingehen, um die der Arbeit zugrunde liegenden, zentralen Fragen zu formulieren. Zum Schluss werde ich einen Gesamtplan der Arbeit liefern, in dem die zuvor gestellten Fragen weiter entwickelt, konkreter bearbeitet und kontextualisiert werden sollen. 31 Eine allgemeine Formulierung dieser Relation hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Text und Bühne aus semiotischer Sicht liefert Pavis, Patrice: „Texte et scène“, in: Ders., Dictionnaire du théâtre, Paris: Armand Colin 1996, S. 356: „Cette confusion générale des deux types de fictionnalisation [textuelle et scénique] […] provient […] de l’échange de deux principes sémiotiques pour le texte linguistique et pour la figuration scénique: - le texte linguistique signifie au moyen de ses seuls signes, comme absence pour une présence, c’est-à-dire comme la réalité fictive éprouvée comme présente et réelle; - la scène se donne comme présence immédiate de ce qui n’est en fait qu’absence et confusion du signifiant et du référent.“ Diese Formulierung ist allerdings im Arbeitsverlauf zu überprüfen. 17
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Der Forschungsstand und die Theorie Die Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschung und der einrahmenden Theorie soll gemäß der Zielsetzung und Gliederung der Arbeit 32 in zwei Richtungen verlaufen: Zunächst interessiert mich der Raum, den die Sekundärliteratur der Auseinandersetzung des Autors und des Regisseurs mit der Raum-Zeit-Problematik – so wie sie sich in deren Arbeit manifestiert – zuspricht, und der Modus, durch den sie diese Auseinandersetzung diskutiert. Meine – jedenfalls synoptische – Befassung mit diesem Forschungsaspekt soll vor allem dazu dienen, die Differenz zwischen dem geläufigen Blick auf die Behandlung der Raum-Zeit-Frage im Werk Bondys und Strauß’ und meinem Operationsmodus im Beschreibungs- und Analyseprozess zu unterstreichen. Anschließend, und zwar auf betont ausführliche Weise werde ich mich der Präsenz-Theorie zuwenden, die für den Arbeitskontext von Belang ist. Ich werde die oben angesprochenen diversen, aus den unterschiedlichen Raum-Zeit-Theorien resultierenden Präsenzkonzepte erörtern und in diesem Zusammenhang versuchen, die einzusetzende Terminologie aufzuklären und zu explizieren. Insofern ist die Diskussion der Präsenzkonzepte nicht direkt der Diskussion der Forschungslage zuzuschreiben, sondern versteht sich einerseits als Präsentation des theoretischen Instrumentariums, das dann den Analysen zugrunde gelegt und in diesem Sinne in theaterwissenschaftlichem Kontext fruchtbar gemacht werden wird, und andererseits als Formulierung von Überlegungen und Auffassungen, bezogen nicht mehr nur auf die Präsenz der (konkreten) Aufführungen, sondern darüber hinaus auf die Präsenz der Aufführung im allgemeinen, auf die ausführlicher im Epilog zurückzukommen sein wird. 33
Sekundärliteratur über Luc Bondy Die Sekundärliteratur bezüglich der Arbeit Luc Bondys besteht aus einer Reihe höchst heterogener Texte: Rezensionen über seine Inszenierungen, Interviews des Regisseurs und vorwiegend knappe Essays über seinen Inszenierungsstil bilden einen nicht ignorierbaren Korpus von Informationsquellen, die allerdings im Rahmen der Arbeit nur begrenzt nützlich sein können. Das wichtigste Defizit, das das vorhandene Material aufweist, besteht darin, dass es kaum wissenschaftliche Qualifikationen besitzt. Die Texte 32 Siehe hierzu S. 72ff. 33 Siehe hierzu zunächst: Die ekstatische Präsenz (S. 61ff.) und: Präsenz versus Repräsentation? (S. 64ff.). 18
PROLOG
sind überwiegend unsystematisch aufgefasste Kommentare oder (persönliche) Äußerungen, die weder konkrete Themen ausführlich behandeln noch auf einer soliden Fragestellung und Argumentation beruhen. Den entscheidenden Punkt allerdings, der diese Arbeit auch von Studien, die eine gewisse Systematik vorzuweisen vermögen, 34 unterscheidet, stellt die grundlegende Differenz zwischen den jeweiligen Ausgangspunkten dar: Die hier vorliegende Arbeit geht – wie inzwischen schon deutlich sein sollte – von der Aufführung aus und liest von dort her die Inszenierung, ihre (vermeintlichen) Intentionen, Richtungen und Tendenzen, sowie auch die (eventuelle) Signatur des Regisseurs. Die Arbeit fokussiert (vorerst) nicht den Produzenten, sondern vielmehr die Produktion und das Produkt. Das gleiche gilt übrigens auch für die dramatischen Texte. In diesem Sinne sind Stil, Interessen, Vorlieben etc. von Botho Strauß oder Luc Bondy für mich von Belang, sofern sie in den konkreten Texten oder in den konkreten szenischen Darbietungen vermittelt werden.
Sekundärliteratur über Botho Strauß Die Sekundärliteratur über Botho Strauß weist ein völlig differentes Bild auf: Die literaturwissenschaftlich orientierten Annäherungen an das dramatische Werk Strauß’ sind nicht nur von großem Umfang, sondern auch besonders interessant und aufschlussreich. Allerdings stellt die angesprochene literaturwissenschaftliche Orientierung der vorhandenen Arbeiten schon den fundamentalen Unterschied zu meinem Forschungsunternehmen dar, dessen Ausgangspunkt ja die (konkreten) Inszenierungen bzw. Aufführungen bilden, an denen das jeweilige Theaterstück unter anderem teilhat. Die Involvierung des dramatischen Texts wird dementsprechend eher begrenzt erfolgen, und zwar in Form eines ausgewählten, spezifischen Aspekts, der im Vergleich zu den korrespondierenden Aufführungselementen untersucht werden wird. Die zweite wichtige Differenz, die die unbeschränkte Berücksichtigung der vorhandenen Forschungserträge im Rahmen meiner Arbeit verhindert, bezieht sich konkreter auf den Modus der Diskussion und Deutung der Raum-Zeit-Problematik, so wie sie sich im Werk Strauß’ manifestiert und entfaltet. Es wäre hier sinnvoll, auf einige Bemerkungen hinzuweisen, die im Großen und Ganzen das gesamte Spektrum der Auseinandersetzung der Forscher mit der straußschen Behandlung des RaumZeit-Themas umfassen, um die Besonderheiten meiner Annäherungstaktik zu verdeutlichen: 34 Vgl. hier beispielsweise Bondy, Luc: Das Fest des Augenblicks – Gespräche mit Georges Banu, Salzburg, Wien: Residenz 1997. 19
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Das Raum-Zeit-Problem als thematisches Substrat des gesamten straußschen Werks. Die Raum-Zeit-Thematik im Werk Strauß’ wurde von der Forschung unter diversen Gesichtspunkten behandelt: Die Symbolik bzw. die Bedeutung mythischer Bezugnahmen (beispielsweise Berka, Damm), die Auseinandersetzung mit der (deutschen) Geschichte (beispielsweise Damm, Herwig, Sormani), die Befassung mit Prozessen und Situationen der modernen Gesellschaft, die die Bühnenwelten bzw. -räume der Stücke entsprechend codieren (beispielsweise Kapitza, Herwig) und die Affinität des Werks des Autors zu philosophischen Strömungen und wissenschaftlichen Erträgen der modernen Physik (beispielsweise Brüster, Daiber, Hagestedt) stellen einige von den Forschern am weitläufigsten behandelten Teilaspekten der besonders umfangreichen Raum-Zeit-Problematik dar. 35 Letztere allerdings scheint bei allen diesen Studien als solche nur indirekt angesprochen zu werden und fungiert vielmehr als ein allumfassender Kontext, als ein Substrat, dessen verschiedene Formulierungen und Artikulationen besprochen werden. Diese spezifischen Artikulationen oder unterschiedlichen Aspekte des umfassenden thematischen Substrats interessieren insofern diese Arbeit als sie eine Auswirkung auf den Modus, durch den Raum und Zeit des Dramas konstituiert, gestaltet und semantisiert werden, zeitigen. Anstatt beispielsweise danach zu fragen, was das Eindringen der mythischen Raum-Zeit suggeriert oder bedeutet, 36 ist es in diesem Zusammenhang von größerer Relevanz zu untersuchen, ob und auf welche Weise dieses Eindringen den Chronotopos (das „Hier“ und „Jetzt“ des Dramas) (ver-)formt und was es ihm für Attribute zuschreibt bzw. für Wirkungen ermöglicht. Das hermeneutische Prinzip. Eine ebenfalls verbreitete Tendenz bei der Auseinandersetzung mit den Themen Raum und Zeit im Werk Strauß’, in diesem Fall als solche und meistens von seinem dramatischen Werk ausgehend diskutiert, stellt eine hermeneutische Annäherungsweise dar, die sich in Form „steil vertikaler Interpretationen“ äußert. Damit ist die Betrachtung der spezifischen Zeit- und vor allem Raumgestaltung als Zeichen und vielmehr als Symbol zur Darstellung oder Veranschaulichung einer Situation völlig anderer Ord-
35 Die konkreten Titel können dem Literaturverzeichnis (S. 207ff.) entnommen werden. 36 Ob es beispielsweise eine Kritik an der „entzauberten“ modernen Gesellschaft bzw. eine Formulierung der Notwendigkeit einer „Remythisierung“ unserer Welt darstellt. 20
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nung gemeint. 37 Raum-Zeit wird hier als ein geschlossenes System angesehen, dessen spezifische Beschaffenheit immer etwas symbolisiert oder auf etwas, das nicht mehr den Chronotopos als solchen betrifft, hinweist. Ihr Da- und Sosein wird dementsprechend ausschließlich – und zudem eingeschränkt – im Hinblick auf die Suche nach einem verborgenen Sinn erörtert. Die Konsequenz derartiger interpretativer Annäherungsweisen ist die aus der Abwesenheit einer detaillierten Deskription und Analyse resultierende Vernachlässigung der Untersuchung des raumzeitlichen Gestaltungsprozesses und die Betrachtung der Raum-Zeit als eines autonomen Konstrukts, das als Abbild des (tieferen) Sinns des Werks fungiert. Meine Auffassung der Raum-Zeit als Produkt diverser Dramen-Parameter 38 dagegen subvertiert die hier aufgeführte Logik des autonomen Systems und privilegiert eher die ständige Hinterfragung oder sogar den Verzicht auf jegliche solide (symbolische) Bedeutung, welche die Semantik des Chronotopos des Dramas transzendiert. Sie führt darüber hinaus zur letzten Bemerkung, die als Fortsetzung dieses zweiten Punkts zu verstehen ist: Die Raum-Zeit als statisches Konstrukt. Diese dritte Bemerkung bezieht sich auf ein mehr oder minder gemeinsames Charakteristikum, das der Konzeptionsweise der Raum-Zeit als solcher, in ihrer (dramatischen) Gestalt 39 seitens der (meisten) Forscher zugrunde liegt: Es betrifft die Hervorhebung und ausschließliche Betrachtung des Raums und der Zeit als einrahmende Strukturen, als vorhandene (und in diesem Sinne statische) Rahmungen, welche die Handlung beinhalten. Die Ansicht einer Raum-Zeit als statischer Rahmen kann
37 Siehe beispielsweise Kapitza, Ursula: Bewußtseinsspiele – Drama und Dramaturgie bei Botho Strauß, Frankfurt/Main: Peter Lang 1987, S. 53, wo in diesem Sinne behauptet wird, dass „die Bühne [...] die offenkundige Konkretisation des von Strauß mehrfach so genannten ‚Bewußtseinsraums‘ [sei]. Die lokale Situierung verliert an Wirklichkeit gegenüber dem symbolischen Wert, der auf die inneren Zustände der Personen hindeutet und diese auch äußerlich widerspiegelt.“ Siehe auch Sandhack, Monika: Jenseits des Rätsels – Versuch einer Spurensicherung im dramatischen Werk von Botho Strauß, Frankfurt/Main: Peter Lang 1986, wo die „Raumformen“ als „Raum-Chiffren“ (S. 21) betrachtet werden, die als Orte des „Ausdruck[s] für menschliche Grenzsituationen“ (S. 49) fungieren: „Raum-Bilder, entworfen von Botho Strauß, sind nicht Imitate einer selbst erfahrenen Wirklichkeit, halten dieser vielmehr ein durch die Innenwelt des Subjekts gefiltertes Spiegelbild vor.“ (ebd.) 38 Hierüber wird die Arbeit analytischer und präziser. Siehe zunächst auch Punkt 3 dieses Abschnitts. 39 Bzw. als dramatisches Element, diesseits oder fern von Interpretationen oder Deutungen. 21
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im Arbeitszusammenhang nicht akzeptiert werden, denn sie ignoriert den Beitrag der „restlichen“ Elemente (Handlung, Textstruktur, Personenaktivität etc.) zur Gestaltung der Raum-Zeit des Dramas. Meiner Auffassung nach sind Raum und Zeit nicht als tatsächlich autonome Drama- (bzw. Aufführungs-)Elemente neben allen anderen zu verstehen, sondern eher als substantielle Dimensionen der Elemente selbst: Sie sind nicht; vielmehr entstehen sie oder vermitteln sich; 40 in diesem Sinne sind Raum und Zeit wohl nicht (lediglich) als einrahmende Bedingungen des dramatischen (und szenischen) Prozesses, sondern vielmehr als dynamische, ständig werdende Strukturen zu konzipieren.
Die Theorien über Präsenz Ich habe zu Beginn der Arbeit Raum und Zeit – in ihren Dimensionen des hic et nunc – als die konstitutiven Parameter des Präsenz-Begriffs anerkannt und definiert. In der Tat sind es vorrangig die Raum- und Zeittheorien, welche detailliert und in allen möglichen Richtungen das in Rede stehende Thema behandeln und diskutieren. Der Rahmen solcher Theorieansätze diktiert notwendigerweise eine Verschiebung des Akzents vom Präsenz- auf den Präsens- (bzw. Gegenwarts-)Begriff, der ja Raum und Zeit an sich – das heißt fern von einem erforderlich Anwesenden – zu erfassen versucht. Eine derartige Annäherung erweist sich allerdings letzten Endes – und interessanterweise – als unmöglich, da unser subjektund logozentrischer Denkmodus immer wenigstens ein wahrnehmendes Subjekt vorauszusetzen hat, das Raum und Zeit so und nicht anders perzipiert und benennt. 41 Das heißt, dass auch in den Fällen, wo das präsente Sein – welcher Art auch immer – nicht explizit angesprochen oder benannt wird, ist es das permanent implizite, niemals auszuschließende, ja präsente Wahrnehmungssubjekt, das in der Lage ist, dieses Sein in der Gegenwart sozusagen automatisch zu (er)setzen. Unter Berücksichtigung 40 Diese These soll im Laufe des Beschreibungs- und Analyseverfahrens erläutert werden. 41 „[...] Zeit- und Raum-Koordinaten verknüpfen sich im hic et nunc, im hier und jetzt, des Ego. Ein solches Modell ist nicht nur metaphorisch und ikonologisch, sondern auch sprachwissenschaftlich und glottologisch nachweisbar.“ Marramao, Giacomo: Minima Temporalia. Zeit-Raum-Erfahrung, Wien: Passagen 1992, S. 18. Zu einer radikaleren Lektüre des Relationsmodus zwischen Subjekt (Mensch) und Zeit(erfahrung) siehe Maturana, Humberto R.: „Die Natur der Zeit“, in: Gimmler, Antje/Sandbothe, Mike/ Zimmerli, Walther Ch. (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit, Darmstadt: Primus 1997, S. 114-125. 22
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dieses Aspekts würde ich in den meisten Fällen eine Konfusion der Begriffe Präsens und Präsenz konstatieren, die demgemäß nicht auseinanderzudenken sind. 42 Vorab und um meine Vorgehensweise deutlicher zu schildern, muss ich betonen, dass besagtem Präsens- (bzw. Präsenz-)Terminus, dem ich mich hier zunächst zuwenden werde, keineswegs eine selbstverständliche, auf Konsens beruhende, einheitliche Definition zugesprochen werden kann; es handelt sich vielmehr um eine Begrifflichkeit, die auf die verschiedensten Weisen konzipiert worden ist und die im Kontext der jeweiligen theoretischen Annäherung einen mehr oder minder autonomisierten Inhalt und eine je spezifische, kontextbezogene Bestimmung erhalten hat. Es wäre hier nicht übertrieben zu behaupten, dass keine andere Kategorie des raumzeitlichen Diskurses eine derartige – übrigens im Folgenden ausführlich zu erörternde und deutlich aufzuzeigende – Elastizität bei der Umfangs- und Grenzen-Definierung aufzuweisen scheint. Drei grundlegende Konzepte von Präsenz, die allerdings verschiedene Formulierungen und Artikulationen erfahren, sollen nun präsentiert und diskutiert werden. Ich gehe dabei von Theorieansätzen aus, welche 1) Präsenz vorrangig als präsenten Chronotopos [als Hier (und) Jetzt] erfassen und auslegen und 2) in der Analyse und Deutung des szenischen Chronotopos fruchtbar gemacht werden können. Die Tatsache, dass ich die Erörterung der Theorien, die später in die Aufführungsanalyse zu integrieren sind, hier und jetzt vornehme und nicht etwa im jeweiligen Abschnitt deren Anwendung, hängt einerseits mit der Intention, den Nuancen- und Aspektumfang der Begrifflichkeiten und Konzepte kompakt und konzentriert zu präsentieren, und andererseits mit der Benötigung der Überlegungen zur anschließenden Formulierung der der Arbeit zugrunde gelegten Fragen 43 zusammen. 1. Präsenz als Feld Die erste Kategorie von Theorien, die ich hier ausführlich diskutieren möchte, konzipiert Präsenz im Sinne eines (raumzeitlichen) Felds, dessen Funktion nicht darin besteht, die Rolle einer Art Zäsur übernehmend, Vergangenheit und Zukunft zu trennen, sondern vielmehr zwischen den 42 Dies gilt ebenfalls für die Raum- und Zeitkonzepte, die im Rahmen der Physikforschung entwickelt werden und wo der Beobachter/Betrachter – das wahrnehmende Subjekt – entweder stillschweigend oder aber auf völlig offene und direkte Weise impliziert wird. Auch hier können Raum und Zeit nicht unabhängig von dem präsenten (Da)Sein gedacht und begriffen werden. 43 Siehe: Präsenz/Aufführung: Bemerkungen und Fragen, S. 55ff. 23
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beiden zu vermitteln und eine mit spezifischen Charakteristika und Eigenschaften versehene Liaison zwischen Gewesenem und Kommendem herzustellen. Präsenz wird dementsprechend – und darauf deutet der Terminus „Feld“ hin – eine gewisse Expansion und Dauer zugesprochen, in deren Rahmen Raum und Zeit nur in ihrer Dimension als gegenwärtig bzw. in ihrer gegenwärtigen Manifestation wahrgenommen und gedeutet werden. Ein prominenter Vertreter dieser Denkrichtung ist Maurice MerleauPonty, der sein Präsenzkonzept umfassend in seinem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung 44 behandelt und dargelegt hat; dieses Werk ist deswegen vom großem Belang für diese Arbeit, weil der Autor Präsenz einerseits in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension diskutiert (was im Rahmen anderer Behandlungen nicht unbedingt die Regel ist!) und andererseits mit dem Terminus der Leiblichkeit in direkte und konstitutive Verbindung setzt, wobei er die beiden Begriffe als einander bedingend zusammendenkt. Merleau-Ponty unterscheidet zwischen zwei Begriffen von Präsens: Er bedient sich einerseits des Terminus des „Präsenzfelds“ – der Gegenwart „im weitesten Sinne“ 45 – „mit seinem doppelten Horizont originärer Vergangenheit und Zukunft“ 46 , „das sich nach zwei Dimensionen erstreckt: der Dimension des Hier-Dort und der Dimension VergangenheitGegenwart-Zukunft“ 47 und das er „als das Feld der originären Erfahrung, wo die Zeit mit ihren Dimensionen leibhaftig erscheint, in letzter Evidenz und ohne eingeschobenen Abstand“ 48 definiert; und andererseits des Begriffs der „Gegenwart selbst (im engen Sinne)“ 49 , die „als solche der Erfahrung entzogen ist“. 50 Letzterem wird in seinen Überlegungen aller44 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966. 45 Ebd., S. 472. 46 Ebd., S. 481; hier ist das Echo des Denkens Edmund Husserls, der ein „zeitlich ausgedehntes [...] ‚Präsenzfeld‘“ (Bernet, Rudolf: „Phänomenologische Analyse bei Husserl und Heidegger“, in: Tholen, Georg Christoph/ Scholl, Michael O. (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: Wiley-VCH 1990, S. 82) einführt, zu dem „ein retentionales Bewußtsein der schon abgelaufenen Zeitstrecke [...], sowie ein protentionales Bewußtsein der Fortsetzung der zeitlichen Dauer [...]“ (ebd., S. 75) gehört, nicht überhörbar. 47 Merleau-Ponty, S. 309. 48 Ebd., S. 473. 49 Ebd. 50 A.N.: Einführung zum Kapitel: Merleau-Ponty, Maurice: „Die Zeitlichkeit (1945)“, in: Köveker, Dietmar/Niederberger, Andreas (Hg.), Chronologie. Texte zur französischen Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S.75; vgl. hierzu auch PräsenzEntzug, S.44ff. 24
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dings keine tragende Rolle eingeräumt, da er die Zeit als „keine Linie“ – wo der (Jetzt-)Punkt eventuell eine bedeutende Position einnehmen könnte – sondern als „ein Geflecht [UdV] von Intentionalitäten“ 51 begreift. Das „Präsenzfeld“ bekommt in seinem Denken den Stellenwert einer atomischen – nicht zu zergliedernden, nicht zu teilenden – Entität: Es stellt das zentrale Schema der (ursprünglichen) Erfahrung der „eigentlichen Zeit“ dar, welche mit der Erfahrung „des Vergehens oder des Übergangs selber“ 52 einhergeht. 53 Zeit stellt sich so als „ein einziges Ablaufsphänomen [...], die einzigartige Bewegung, die in all ihren Teilen ganz sich selbst entspricht“ 54 und letztendlich als die „kontinuierliche Verkettung der Präsenzfelder“ 55 dar, die in diesem Sinne die eigentliche temporale Monade unserer (Zeit-)Wahrnehmung bilden: „Zeit ist für mich da, weil ich Gegenwart habe. Zur Gegenwart kommend, gewinnt ein Moment der Zeit seine unauslösliche Individualität, jenes ‚ein für allemal‘, auf Grund dessen er alle Zeit zu durchschreiten vermag und das uns die Illusion der Ewigkeit gibt. Keine der Dimensionen der Zeit läßt sich aus den anderen deduzieren. Indessen eignet der Gegenwart [...] ein privilegierter Vorrang, insofern sie die Zone umgrenzt, in der Sein und Bewußtsein koinzidieren.“ 56
51 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 474. 52 Ebd., S. 472. 53 (Ursprüngliche) Zeit(erfahrung) identifiziert sich für Merleau-Ponty durchaus mit der Erfahrung des Vergehens oder des Übergangs selber, dieser „tieferen Bewegung“ (Good, Paul: Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf, Bonn: Parerga 1998, S. 136), durch welche die immer zu vervollständigende „Synthesis“ der Zeit vollzogen wird: „Die Zeit als immanenter Bewußtseinsgegenstand ist eine nivellierte Zeit, m.a.W. ist keine Zeit mehr. Zeit kann es nur geben, wo sie nicht gänzlich entfaltet ist, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht im gleichen Sinne sind. Es ist der Zeit wesentlich, sich zu bilden, und nicht zu sein, nie vollständig konstituiert zu sein“ (Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 471); „die ‚Synthesis‘ der Zeit ist eine Übergangssynthese, die Bewegung eines sich entfaltenden Lebens, und sie ist auf keine Weise zu vollziehen denn durch das Leben dieses Lebens, es gibt keinen Ort der Zeit, die Zeit ist es selbst, die sich selber trägt und immer neu hervorbringt. Allein die Zeit als ungeteilter Andrang und Übergang vermag die Zeit als Mannigfaltigkeit des Nacheinander zu ermöglichen, am Ursprung aller Innerzeitlichkeit liegt eine konstituierende Zeit.“ (ebd., S. 481). 54 Ebd., S. 476. 55 Ebd., S. 481; siehe auch Good, S. 137: „Zeit erscheint uns nicht in diskreten Augenblicken, der Übergang ist nicht der von Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft, sondern der von einer Zeit-Struktur Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft zur nächsten Struktur.“ 56 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 482. 25
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Der Autor konkludiert seine Chronologie mit einem heideggerschen Zitat, das „die Zeit (als) ‚Affektion ihrer selbst durch sich selbst‘“ 57 betrachtet; dessen Auslegung von Merleau-Ponty unterstreicht abermals die Signifikanz der Gegenwart und hebt Präsens als die eigentlich einzige Möglichkeit von Temporalität hervor: „[d]as Affizierende ist die Zeit als der Andrang und Übergang zur Zukunft hin; das Affizierte ist die Zeit als die entfaltete Reihe von Gegenwarten; Affizierendes und Affiziertes sind ein und dasselbe, da der Andrang der Zeit nichts anderes ist als der Übergang von Gegenwart zu Gegenwart.“ 58
Nun wurde auf den zeitlichen Aspekt des „Präsenzfelds“, dieser „Gegenwart im weiten Sinne“ 59 , die als der eigentliche Modus der Zeit(erfahrung) zu begreifen ist, 60 hingewiesen. Es wäre jetzt angebracht, auch die Relation anzusprechen, die Merleau-Ponty zwischen der Zeitlichkeit 61 – der zeitlichen Dimension des Seins, die in diesem konkreten Kontext als der spezifische Modus „mein[es] Engagement[s] in der Gegenwart“ 62 verstanden werden kann – und zwei weiteren Begrifflichkeiten herstellt, die eine höchst relevante Position in seinem philosophischen Konstrukt innehaben, nämlich die der Leiblichkeit und der Räumlichkeit. Der Autor stellt den Begriff des Leibes in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und betrachtet ihn als die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt. Er definiert den Leib als „das Vehikel des ZurWelt-seins“ 63 , als „meinen Angelpunkt [in] der Welt“ 64 und sieht in ihm 57 Ebd., S. 484. 58 Ebd. 59 Die übrigens auch mit Bergsons „wirkliche[r], [...] konkrete[r], erlebte[r] Gegenwart“ (Bergson, Henri: „Materie und Gedächtnis (1896)“, in: Köveker, Dietmar u.a. (Hg), Chronologie, S. 24) korrespondiert, welche als der „psychische Zustand, [...] [der] zugleich eine Wahrnehmung der unmittelbaren Vergangenheit und eine Bestimmung der unmittelbaren Zukunft sein [muß]“ (ebd.), definiert wird (siehe auch weiter im Text). 60 „Jede Gegenwart erfasst letztlich durch ihre Horizonte unmittelbarer Vergangenheit und nächster Zukunft hindurch das Ganze aller möglichen Zeit.“ (Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 109). 61 Merleau-Ponty betitelt das Kapitel seiner Zeitdiskussion „Die Zeitlichkeit“ (ebd., S. 466-492); in seinem Diskurskontext ist „Zeitlichkeit“ unmissverständlich als Seins- bzw. Subjektsdimension zu betrachten. Er diskutiert entsprechend die Zeit nicht anders denn in ihrer ontologischen oder existentiellen Relation zum Sein oder zum Subjekt. Zeit ist in seinem Diskurskontext eigentlich (nur) als Sein-Zeitlichkeit zu verstehen. 62 Good, S. 138. 63 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 106. 64 Ebd. 26
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„die allen Gegenständen gemeinsame Textur, und zumindest bezüglich der wahrgenommenen Welt [...] das Werkzeug all [des] ‚Verstehens‘ überhaupt“. 65 Der Leib stellt quasi den „natürlichen Umschlagplatz von Geist und Materie“ 66 und in diesem Sinne das unabdingbare Bindeglied zwischen Bewusstsein und Welt bzw. Wahrnehmungsgegenstand dar. 67 Der Leib ist im Sinne Merleau-Pontys sozusagen der Leistungsträger der Wahrnehmung; letztere wiederum ereignet oder vollzieht sich prinzipiell in Raum und Zeit, und dementsprechend muss es der Leib sein, „der uns allererst ursprünglich in den Raum und die Zeit einführt“. 68 In der Tat setzt der Autor ins Zentrum seiner Philosophie die Behandlung der Frage nach der Art und Weise des Verhältnisses zwischen Leiblichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit und definiert auf folgende Weise die Haltung des Leibes dem Raum und der Zeit gegenüber: „Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebensowenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.“ 69 „Insofern ich einen Leib habe und durch ihn hindurch in der Welt handle, sind Raum und Zeit für mich nicht Summen aneinandergereihter Punkte, noch auch übrigens eine Unendlichkeit von Beziehungen, deren Synthese mein Bewußtsein vollzöge, meinen Leib in sie einbeziehend; ich bin nicht im Raum und in der Zeit, ich denke nicht Raum und Zeit; ich bin vielmehr zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich ihnen an und umfängt sie.“ 70
65 Ebd., S. 275. 66 Good, S. 79. 67 Bezüglich der Verflechtung zwischen Leib, Bewusstsein und Welt siehe folgende Stellen: „Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes“ (Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 167-8); „Bewußtsein [ist] durch seine Integration in einen Leib schon immer mit Welt verbunden“ (Good, S. 84); „Reflektierend über das Wesen der Subjektivität, finde ich dieses gebunden an das des Leibes und das der Welt, weil meine Existenz als Subjektivität eins ist mit meiner Existenz als Leib und mit der Existenz der Welt und letztlich das Subjekt, das ich bin, konkret genommen untrennbar ist von diesem Leib und dieser Welt hier.“ (Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 464). 68 Good, S. 80. 69 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 169. 70 Ebd., S. 170; die Arbeit legt genau diese Definition der Relation zwischen Körper und Raum/Zeit den Aufführungsanalysen zugrunde; der Begriff der „personellen Räumlichkeit/Zeitlichkeit“, der in den Analysen häufig vorkommen wird, spricht diesen zentralen Punkt der Spannung zwischen Raum- und Zeitaufnahme und Raum- und Zeitproduktion bzw. -stiftung (siehe weiter im Text) seitens des Körpers an. 27
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Der Leib – oder vielmehr der sich bewegende Leib 71 – avanciert zur eigentlichen Ursache von Räumlichkeits- und Zeitlichkeitsstiftung72 überhaupt und somit zum Generator, zum primären Träger des oben angesprochenen „Präsenzfelds“ schlechthin: „Der, der in sinnlicher Forschung der Gegenwart eine Vergangenheit gibt und sie auf eine Zukunft hin orientiert, bin nicht ich als autonomes Subjekt, sondern bin ich, sofern ich leiblich bin und zu ‚blicken‘ vermag.“ 73 „Mein Leib ergreift Besitz von der Zeit und läßt für eine Gegenwart Vergangenheit und Zukunft dasein.“ 74
Die Voraussetzung für Wahrnehmung überhaupt ist die Existenz eines „Präsenzfelds“, das Leib, Raum und Zeit vereint: „Die Teile des Raumes nach Breite, Höhe oder Tiefe [sind] nicht nebeneinander gestellt, sondern koexistieren dadurch, daß sie sämtlich umfaßt finden von einem einzigen Anhalt unseres Leibes an der Welt, und dieses Verhältnis [...] [ist] ein zeitliches, ehe es noch zum räumlichen wird. Die Dinge koexistieren im Raume, da sie demselben Wahrnehmungssubjekt gegenwärtig und von einer einzigen Zeitwelle getragen sind.“ 75
71 Im Kontext der Räumlichkeits- und Zeitlichkeitsstiftung speziell – als Wahrnehmungsvoraussetzung oder als erster Wahrnehmungsschritt verstanden – wird der Bewegung des Leibes eine herausragende Rolle eingeräumt: Sie wird anerkannt als der eigentliche Modus, durch den der Leib die Präsenz von Raum und Zeit gewährleistet: „Bei der Betrachtung des Leibes in Bewegung wird deutlicher sichtbar, welchergestalt er dem Raum (und übrigens auch der Zeit) einwohnt, weil die Bewegung Raum und Zeit nicht einfach über sich ergehen lässt, sondern sie aktiv übernimmt und in ihrer ursprünglichen Bedeutung faßt, die in der Banalität schon festgestellter Situationen verschwimmt.“ (ebd., S. 128). 72 Vgl. Good, S. 79. 73 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, S. 280; die Parallele zu Bergson wird hier ebenfalls deutlich: „Meine Gegenwart ist also zugleich Empfindung [als was sich die unmittelbare Vergangenheit darstellt, BdV] und Bewegung [als was sich die unmittelbare Zukunft manifestiert, BdV]; und da meine Gegenwart ein unmittelbares Ganzes bildet, muß diese Bewegung sich dieser Empfindung anschließen und sie als Handlung fortführen. [...] Meine Gegenwart ist ihrem Wesen nach sensorisch-motorisch. Das bedeutet, daß meine Gegenwart in dem Bewußtsein besteht, das ich von meinem Körper habe.“ (Köveker, Dietmar u.a. (Hg.), Chronologie, S. 24). 74 Merleau-Ponty: Phänomenologie…, ebd. 75 Ebd., S. 320. 28
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Das „Präsenzfeld“ in seiner leiblich-räumlich-zeitlichen Textur und Struktur stellt letzten Endes den unentbehrlichen Kontext jeder (Ap)Perzeption, den einzigen Topos, wo Wahrnehmung möglich ist, dar. 76 Das Präsenskonzept, das Götz Großklaus in seinem Werk Medien-Zeit. Medien-Raum 77 liefert und herausarbeitet, legt den Terminus der Fläche bzw. des Plateaus zugrunde und gehört damit auch zu den Raum-ZeitTheorien, die mit der Begrifflichkeit der ausgedehnten Präsenz oder der Präsenz als Feld 78 operieren. Großklaus platziert in den Mittelpunkt seiner Untersuchung die Frage nach der Art und der Spezifik der Gegenwartserfahrung in der Moderne und argumentiert vorrangig aus medienhistorischer und -theoretischer Sicht, die Modifikationen, denen sich das Zeit- (und Raum-)Bild mit der Erfindung der neuen Medien (von der Fotografie ausgehend und sich bis zur Einführung der Computer-Animation erstreckend) unterzogen hat, verfolgend und reflektierend. Den Ausgangspunkt seiner Studie bildet folgende in zwei Richtungen verlaufende These: „Die medialen Apparate [repräsentieren und veröffentlichen] die neuen Zeitverhältnisse einerseits über eine Fülle medienspezifischer ‚Chrono-Zeichen‘ (Deleuze), andererseits [sind sie entscheidend beteiligt] am Entwurf neuer Standards des Zeiterlebens.“ 79 76 Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive könnte sich der Begriff des „Präsenzfelds“ – immer in seiner oben angesprochenen Triptychon-Struktur gedacht – insofern als aufschlussreich erweisen, als die Theateraufführung insgesamt – ein Ort des Wahrnehmungstrainings par excellence – als der realisierte (verkörperte/verräumlichte/verzeitlichte) Index des Präsenzfelds verstanden werden könnte. Es ist allerdings zu untersuchen, inwieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form sich der Präsenzfeld-Begriff auch im Rahmen der Analyse des konkreten szenischen Ereignisses, als Produktion und Präsentation von Präsenz verstanden, zu gebrauchen ist (siehe hierzu: Die Zeit und das Zimmer, S. 107ff.). 77 Großklaus, Götz: Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. 78 Es ist hier zu betonen, dass der Autor den Terminus der Präsenz – der ja an sich ein Sein im Hier und Jetzt voraussetzt oder mit einbezieht – meidet und stattdessen konsequenter den Präsens-Begriff vorzieht: Seine Aufgabe ist es, die raumzeitliche Gegenwart per se zu durchleuchten und eine Beschreibung ihrer Erfahrung zu liefern, ohne ein gegenwärtiges Sein – welcher Form oder Art auch immer – explizit vorauszusetzen oder einzuführen. Dementsprechend benutze ich hier den Präsenz-Terminus strikt als chronotopisches Indiz bzw. seinen chronotopischen Aspekt fokussierend. 79 Großklaus, S. 14. 29
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Dementsprechend ließe sich seine Untersuchung als eine zykloide Annäherung verstehen, wo mediale Repräsentation (der raumzeitlichen Verhältnisse) und Wahrnehmung oder Wahrnehmungsveränderung Hand in Hand gehen und einander bedingen. Wie schon erwähnt stellt das Präsens, das im Kontext seiner Annäherung als „Schnittfläche unterschiedlichster Temporalitäten“ 80 zu betrachten ist, das eigentliche Untersuchungsobjekt dar. Der Autor behauptet, dass die Präsensimpression, welche die Moderne durch die Einführung und rapiden Verbreitung der neuen Medien zu vermitteln vermag, auf ein Feld bzw. ein Plateau hindeutet, im Sinne „einer Erweiterung und Verdichtung des Gegenwarts- und Jetzt-Feldes“ 81 , die aus „der Tendenz des gesamten Modernisierungsprozesses, zeitliche und räumliche Ferne zu vernichten“ 82 , resultieren: „Alles tendiert dazu, Gegenwart zu sein, hier zu sein, jetzt zu geschehen“ 83 . Damit wird „die im linearen Zeitmodell gegebene Vorstellung von Gegenwart als (Grenz)punkt“ 84 durch das Bild eines expandierten Präsenz-Felds oder -Plateaus ersetzt, das dazu fähig ist, räumlich und zeitlich Entferntes quasi anzuziehen, zu konzentrieren und in Verbindung zu bringen. Damit ist die zweite zentrale Begrifflichkeit, die der Autor in engem Zusammenhang und in Interdependenz mit dem Begriff des GegenwartsFelds einführt und verwendet, angedeutet: Es handelt sich um den Begriff der Gleichzeitigkeit, der sich sozusagen auf den inneren Zustand der Gegenwarts-Felder bezieht. In der Tat lassen sich letztere quasi in „Gleichzeitigkeits-Plateaus“ 85 – im Sinne von „Felder verdichteter Zeit“ 86 – umbenennen, wo die chronotopischen Intervalle annulliert worden sind 87 und „alles Geschehen – so entfernt es zeitlich und räumlich auch sein mag – in das enge Sichtfenster des Momentanen und Aktuellen [gesaugt wird]“ 88 . Der durch die neue Medienrealität verursachte „ständige Synchronisierungsdruck“ 89 , der die chronotopischen Differenzen neutralisiert und lediglich deren Gegenwartsstatus zu bewahren in der Lage ist, verleiht dem Präsens die Gestalt eines sich expandierenden Felds oder Plateaus, in dem diverse und zueinander fremde Räumlichkei80 81 82 83 84 85 86 87
Ebd., S. 9. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 27. Ebd. Vgl. ebd. Bezüglich der Verfahren des Verschwindens der raumzeitlichen Intervalle im medialen Präsensbild siehe ausführlicher Ders.: Medien-Bilder, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 169-189. 88 Großklaus: Medien-Zeit…, S. 40. 89 Ebd. 30
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ten und Temporalitäten zusammengebracht und als simultan existierende angesehen werden. Auf welche Art und Weise korrespondieren nun im Kontext dieses Felds die heterogenen chronotopischen Indizien miteinander? Großklaus betrachtet diese durch Tautochronie gekennzeichnete Gegenwart „als komplexes Netzwerk vieler Gegenwartspunkte oder -stränge“ 90 und führt „die Metapher des Zeitmosaiks“ 91 ein, in welcher „die Vorstellung von diskontinuierlich, in Zeitsprüngen wechselnden Konstellationen oder Zeitgestalten“ 92 dominierend ist. Die Synchronisationsverfahren und die Verknüpfungen von raumzeitlich disparaten Vorgängen und Ereignissen im medialen Gegenwartsfeld verlaufen dementsprechend nicht mehr „linear“ 93 , auf Kontinuität und Kohärenz beruhend, sondern eher in Form von „augenblickliche[r] Vernetzung und Verzweigung“ 94 , eine Tatsache, welche Präsenz „als nichtlineares Netzwerk“ 95 , in dem „es zu wechselnden Konstellationen einer Vielzahl von Zeitpunkten (bzw. -feldern, BdV) [kommt]“ 96 und „alles mit jedem: das Nächste mit dem Fernsten augenblicklich in Verbindung gesetzt werden kann“ 97 , erscheinen lässt. 98 Großklaus’ Studie mündet in die Schlussfolgerung, dass „die mediale Ästhetik [...] mit den kognitiven Programmen unseres Bewußtseins [...], die verbildlichte Zeit der neuen Medienkünste [...] mit der Zeitlichkeit unserer Innen-Bilder, ästhetische Gleichzeitigkeit mit neuronaler [korrelieren]“ 99 . Das Zeit- (bzw. auch Raum-)Konstrukt, das die medienbeherrschte Wirklichkeit suggeriert, divergiert von beiden traditionellen 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Ebd., S. 23. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 46. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 96. Hierzu vgl. Keller, Ursula: „Vorwort“, in: Dies. (Hg.), Zeitsprünge, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 8: „In dem von Virilio konstatierten Zeitmodus eines ‚rasenden Stillstands‘, einer auf der Stelle tretenden Beschleunigung, hat die Gegenwart ihren Angriff auf die übrige Zeit verstärkt und eine Zeitmaschine in Gang gesetzt, die die vertraute Zeitdynamik demontiert und in einen unkontrollierten Taumel versetzt. Wo die Vorstellung das Feld der Zeit besetzt hatte mit Bildern vom unumkehrbaren Strom, von Anfang und Ende der Zeit, vom bruchlosen Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, da sieht sie sich jetzt konfrontiert mit endlosen Wiederholungen, seltsamen Schleifen, Verzweigungen und Turbulenzen und einer Vielzahl verschieden beschleunigter Zeit. Echtzeit, Eigenzeit, Weltzeit, Hyperzeit, Zeitzonen und Zeitinseln künden von der wundersamen Vermehrung von Zeit, von Zeitpluralismus und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einer ‚all-inclusive-nowness‘.“ 99 Großklaus: Medien-Zeit…, S. 70. 31
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Zeitmodellen – dem zyklischen und dem linearen – und lässt sie als obsolet und überholt erscheinen. Der neue mediale Sachverhalt, dem Begriffe wie Kontinuität, Kohärenz und Kausalität bzw. Iteration, Wiederkehr und Periodizität nicht mehr gerecht werden können, bildet unter diesen Aspekten eine Art ästhetischer Projektion der „rein innerzeitlichen Bewegungen unseres Bewußtseins“ 100 , des neuronalen „‚Mosaiks‘“ 101 von „ineinander übergehende[n] und überlappende[n] Akte[n] des Erinnerns, Erwartens, Vorstellens, Imaginierens und des unmittelbaren Anschauens“ 102 , eine Art Visualisierung der perplexen „Innerzeitlichkeit unserer Bewußtseinsströme“ 103 . Im Gegensatz zum Merleau-Pontys Interesse für eine Grenzziehung des Präsenzfelds, befasst sich Großklaus’ Theorie des netzwerkartigen Gegenwartsfelds eher mit der Beschreibung und Präsentierung seiner inneren Einrichtung, der Art und Weise dessen Zusammensetzung und internen Strukturierung. 104 Zur Genese seines Gegenwartsplateaus tragen als gleichwertige Partikel vergangene, gegenwärtige und künftige, ferne und nahe chronotopische Indizien bei. Obwohl der Autor im strikten Rahmen der Diskussion und Darlegung seiner Theorie jeglichen expliziten Bezug auf Begriffe wie Vergangenheit und Zukunft meidet, geht aus der Auswahl und Ausführung seiner Beispiele hervor, dass er sie sehr wohl in seine Überlegungen mit einschließt und darüber hinaus als konstitutiv für die Gestaltung des Gegenwartsfelds betrachtet. Letzteres besteht nun aus den unterschiedlichsten raumzeitlichen Augenblicken oder Punkten jeglicher Art und jeglichen Ursprungs in allen möglichen Verbindungen und Interaktionen. Ein expliziter, als Unikum 100 101 102 103
Ebd., S. 70. Ebd. Ebd. Ebd., S. 63. Diese Relation, die der Autor zwischen der medialen Ästhetik und unserem inneren Zeittakt herstellt, ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung nicht mehr zu verfolgen oder zu kommentieren. Mein Interesse fokussiert eher die Erfahrung von Präsenz an sich, welche die neue Medienrealität gestaltet und vermittelt, und nicht die eventuellen Konnotationen und Parallelisierungen jeglicher Art, die ihre Beschreibung und Bestimmung zulassen würde. 104 Es ist mir selbstverständlich bewusst, dass die Annäherungen MerleauPontys und Großklaus’ zum einen via unterschiedliche Wege erfolgen bzw. auf voneinander divergierenden Argumentationen beruhen, und zum anderen in völlig eigenen und miteinander kaum vergleichbaren Kontexten entwickelt worden sind. Die hier vorgenommene Korrelation allerdings ist meines Erachtens nicht willkürlich und unannehmbar, da sie zwei Wahrnehmungstheorien der Raum-Zeit bzw. der Präsenz oder des Präsens, die ähnliche terminologische Codes benutzen, zusammenführt und zugleich deren jeweilige Grenze und Spezifik respektiert. 32
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herausragender Gegenwarts-Punkt in engem Sinne existiert im Gegenwartsfeld nicht, sondern alle partizipierenden chronotopischen Elemente, aus ihren ehemaligen oder ursprünglichen Kontexten herausgerissen und vergegenwärtigt, werden bloß als präsente betrachtet, ohne dass deren ehemaliger oder ursprünglicher Status bewahrt oder von Interesse wäre. 105 Dementsprechend gelingt es Großklaus tatsächlich, eine Version des Konzeptes von Präsenz als Feld, im Sinne einer homogenisierten Korrelation diverser chronotopischer Zeichen in einem gegenwärtigen Kontext, präzis und mehr oder minder lückenlos zu entwerfen und zu präsentieren. 106
105 Es ist in diesem Zusammenhang zu vermerken, dass, obwohl der Autor den Begriff des „Augenblicklichen“ als substantiell für seine Theorie versteht und trotz der Rede vom Gegenwartsfeld oder -plateau auf ihn quasi angewiesen ist, er ihn keineswegs zwanghaft mit einem GegenwartsMomentum „in engem Sinne“ – das vom vergangenen oder künftigen zu unterscheiden wäre – verbindet. In diesem Sinne ist seine Studie in dieser Theorienkategorie, welche Präsenz in ihrer Ausdehnung und Dauer konzipiert, problem- und widerspruchslos einzuordnen. 106 Großklaus’ Studie konzentriert sich, wie schon erwähnt, strikt auf die durch die neuen Medien vermittelte oder ermöglichte Raum- und Zeiterfahrung und spricht entsprechend die dritte Komponente der Präsenz (das Sein im Chronotopos) nur am Rande oder ohne dass er sich für die Spezifik der jeweiligen mediatisierten Übermittlung interessieren würde, an. In diesem Zusammenhang scheint mir die Unterscheidung, die Erika Fischer-Lichte (Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004) zwischen der Präsenz, als Erscheinen des menschlichen Leibes (auf der Bühne), und den Präsenz-Effekten, als Erzeugnissen der technischen und elektronischen Medien und insofern mit dem Sein in Großklaus’ Präsenzmosaik korrespondierend, macht, von Interesse: „Während in der Präsenz der menschliche Leib auch und gerade in seiner Materialität in Erscheinung tritt, [...] rufen die technischen und elektronischen Medien den Schein der Gegenwart des menschlichen Leibes hervor, indem sie diesen entmaterialisieren, ihn entleiblichen.“ (S. 174-175) Die Autorin geht in ihrer Studie von einer Präsenz-Definition aus, deren unabdingbaren, ja gewichtigsten Parameter der Begriff des (menschlichen) Körpers darstellt (zu diesem Punkt: Epilog, insbes. S. 197-198); die Arbeit dagegen versteht den Präsenz-Terminus als einen umfassenderen Begriff, der wohl ein Sein im gegenwärtigen Chronotopos vorsieht, es allerdings hinsichtlich seiner raumzeitlichen Artikulation hier (und) jetzt untersucht und weniger sein Da- und Sosein als solches zu definieren versucht. Die Arbeit verschiebt in diesem Sinne den Akzent vom Sein (im) Hier und Jetzt eher auf das Hier und Jetzt des Seins. 33
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2. Präsenz als instant In L’ intuition de l’ instant 107 entwirft Gaston Bachelard, von Gaston Roupnels Werk Siloë ausgehend, eine umfassende Zeittheorie, der der Begriff des verdichteten Augenblicks zugrunde liegt und die mich hier beschäftigen wird. Bachelards Studie ist in meinem Arbeitskontext insofern von Belang, als der Autor einerseits den gegenwärtigen Augenblick fokussiert und andererseits ihn als eine intuitive Gegebenheit betrachtet, ihn also in die grundlegendsten Eigenschaften des (Bewusst-)Seins einschreibt und insofern im Grunde Präsenz an sich (als Sein Hier Jetzt verstanden) anspricht. Bachelard entwickelt sein Konzept des (präsenten) instant in Auseinandersetzung mit Henri Bergsons Theorie der durée 108 , die er in Frage stellt bzw. zu widerlegen sucht. Neben anderen, nicht minder interessanten Unterschieden 109 , die hier nur am Rande diskutiert werden sollen, legt Bachelard die grundlegendste Differenz zwischen seiner und Bergsons Theorie als einen „methodologischen Unterschied“ aus, den er folgendermaßen expliziert: „[M. Bergson] prend le temps plein d’événements au niveau même de la conscience des événements, puis il efface peu à peu les événements, ou la conscience des événements; il atteindrait alors, croit-il, le temps sans événements, ou la 107 Bachelard, Gaston: L’intuition de l’instant, Paris: Stock 1992. 108 Bergsons für seine Theorie der Zeiterfahrung grundlegender Begriff der durée concrète wird definiert als „die lebendige, im Strömen übergreifende Dauer im menschlichen Bewußtsein“ (Wendorff, Rudolf: „Zur Erfahrung und Erforschung von Zeit im 20. Jahrhundert“, in: Paflik, Hannelore (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim: WileyVCH 1987, S. 74) und ist im Gegensatz zu temps (nämlich „die abstrakte und verräumlichte, gegliederte Uhrenzeit als eine Summe statischer Momente“, ebd.) zu konzipieren. Vgl. auch Präsenz als Feld, S. 23ff. 109 Ein essentielles Defizit, das Bachelard in Bergsons Theorie konstatiert und im Rahmen der Theorie des instant durch die Erfassung der Zeit im Aktuellen bzw. im Akt, von der ich noch sprechen werde, eliminiert wird, besteht im der Dauer genuinen Topos der Beginnlosigkeit: „Ayant triomphé en prouvant l’irréalité de l’instant, comment parlerons-nous du commencement d’un acte? Quelle puissance surnaturelle, placée en dehors de la durée, aura donc la faveur de marquer d’un signe décisif une heure féconde qui, pour durer, doit tout de même commencer?“ (Bachelard, S. 18). In diesem Zusammenhang möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass für Bachelard die leere Zeit, die Zeit ohne Akte, mit dem unmessbaren und jeglicher Größe entbehrenden Nichts gleichzusetzen ist: „nous nous entêterons à affirmer que le temps n’est rien s’il ne s’y passe rien, que l’Eternité avant la création n’a pas de sens; que le néant ne se mesure pas, qu’il ne saurait avoir une grandeur.“ (Bachelard, S. 39) (Siehe auch weiter im Text). 34
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conscience de la durée pure. Au contraire, nous ne savons sentir le temps qu’en multipliant les instants conscients. […] La conscience du temps est toujours pour nous une conscience de l’utilisation des instants, elle est toujours active, jamais passive, bref la conscience de notre durée est la conscience d’un progrès de notre être intime…“ 110
Hier wird unmissverständlich auf die unerlässliche und konstitutive Relation zwischen Zeit und aktivem (präsentem) (Bewusst-)Sein hingewiesen und in diesem Sinne die eigentliche Quintessenz der Ausgangsthese der bachelardschen Überlegungen formuliert, die andeutet, dass sein Diskurs über Zeit im Grunde ein Diskurs über Präsenz (i.e. Sein Hier Jetzt) sein wird. Ehe ich detaillierter auf die Eigenschaften und Qualitäten des bachelardschen (präsenten) Moments eingehe, möchte ich kurz zwei andere Begrifflichkeiten diskutieren, die in seiner Studie ausführlich behandelt werden, die mich jedoch nur am Rande beschäftigen werden und die sich auf die im Sinne des Autors die eigentliche Seinsdauer erzeugende Dynamik beziehen: Es handelt sich um die Termini der habitude (Gewohnheit) und des progrès (Fortschritts), die im Rahmen seiner seinsbezogenen Zeittheorie an die Stellen des Vergangenheits- und Zukunftsdiskurses treten. Bachelard definiert die existentielle Gewohnheit folgendermaßen: „l’habitude est la volonté de commencer à se répéter soi-même“ 111 . Anderswo schreibt er, dass die Gewohnheit „la synthèse de la nouveauté et de la routine“ sei, „et cette synthèse est réalisée par les instants féconds“ 112 . In der Definition sind beide dieser Gewohnheit genuinen Charakteristika beinhaltet, die sich unter den Begriffen des Beginns und der Wiederholung auffassen lassen; darüber hinaus wird der Begriff des Willens eingeführt, den der Autor als „cette habitude générale – claire et consciente…“ 113 begreift, von der jede partielle Gewohnheit abhängt. Sowohl die Vergangenheit des Seins, die er präziser als Anamnese bestimmt, als auch seine Zukunft, die in seinem Sinne den Stellenwert eines Voraussehens annimmt, stellen Gewohnheiten dar, 114 die das Sein um-schreiben 115 und die eigentlichen Träger des Werdens sind. Beginn und Wiederholung, als die zentralen Eigenschaften der Gewohnheit, spielen in diesem Prozess insofern eine wichtige Rolle, als sie letzterer 110 111 112 113 114 115
Ebd., S. 88. Ebd., S. 79. Ebd., S. 65. Ebd., S. 79. Ebd., S. 51. Ebd., S. 67. 35
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Attribute eines Progresses zuschreiben und sie als Fortschritt erscheinen lassen; Gewohnheit hat nämlich nur dann einen Sinn, wenn sie sich als Progressivität oder progressiver Agens (des Seins) darbietet. Habitude wird von Bachelard unter diesen Aspekten konzipiert: „…il ne faut pas prendre l’habitude comme un mécanisme dépourvu d’action novatrice. Il y aurait contradiction dans les termes à dire que l’habitude est une puissance passive. La répétition qui la caractérise est une répétition qui en s’instruisant construit.“ 116 „‚L’introduction d’éléments légèrement nouveaux dans notre manière d’agir nous est avantageuse: le nouveau se fond alors avec l’ancien et cela nous aide à supporter la monotonie de notre action. Mais si l’élément nouveau nous est trop étranger, la fusion de l’ancien avec le nouveau ne se fait pas, car la Nature semble avoir en égale horreur toute déviation trop grande de notre pratique ordinaire et l’absence de toute déviation.‘ C’est ainsi que l’habitude devient un progrès. D’où la nécessité de désirer le progrès pour garder à l’habitude son efficace. Dans toutes les reprises, c’est ce désir de progrès qui donne sa vraie valeur à l’instant initial qui déclenche une habitude.“ 117
Um die innovative Kraft, die der Wiederholung innewohnt, hervorzuheben und die Liaison zwischen den zunächst widersprüchlichen Begriffen Beginn und Wiederholung zu verdeutlichen und zu untermauern, definiert Bachelard die roupnelsche These, die er zu veranschaulichen sucht, als eine „Doktrin der ewigen Wiederaufnahme bzw. Wieder-Holung und nicht der ewigen Wiederkehr.“ 118 Dementsprechend ist die bachelardsche reine 119 Seinsdauer die sich fortwährend erneuernde Gewohnheit, die sich letzten Endes als Fortschritt offenbart. 120 In seinem Thesenkontext wird die Dauer als das Resultat einer Aktion des (Bewusst-)Seins angesehen, die Augenblicke zu nutzen, um kohärenzschaffende Bahnen zu organisieren; dabei betont er die freie Wahl des Seins, seinen Willen nach Fortschritt zu artikulieren und die Momente entsprechend herauszusuchen und zu kombinieren. Dauer ist in diesem Sinne eine nachträgliche, seinsabhängige Konstruktion, die den Eindrücken der Kohärenz, der Kontinuität und des Fortschritts gleichermaßen Rechnung tragen soll. 121 116 117 118 119 120 121
Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 86. Ebd., S. 82. Siehe hierzu folgende Stellen: „La durée est donc une richesse, on ne la trouve pas par abstraction. On en construit la trame en mettant l’un derrière l’autre – toujours sans qu’ils se touchent – des instants concrets, ri36
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Um das Konzept der progressiven Gewohnheit in den Rahmen der roupnelschen Theorie der zeitlichen Diskontinuität zu integrieren, bedient sich Bachelard der Begrifflichkeit des Rhythmus, den er als das Organisationsprinzip der Augenblicke, der Gewohnheit betrachtet. 122 Es ist der Rhythmus oder vielmehr die Vielfalt von Rhythmen, welche die Kontinuität im Diskontinuierlichen stiften und die Kohärenz des Seins gewährleisten. 123 Das Individuum avanciert unter diesen Aspekten zum Topos der Realisierung der Harmonie unterschiedlicher Zeitrhythmen, 124 die es selbst zu selektieren, zusammenzustellen und zu kombinieren hat. 125 In diesem Sinne wird das Sein als „un lieu de résonance pour les rythmes des instants...“ 126 bestimmt, als der Topos der Anhäufung und Verschränkung diverser oder disparater rhythmischer Pattern, die wiederum als aus Augenblicken zusammengesetzte Bahnen begriffen werden sollen. Ich möchte dementsprechend Präsenz als Momentum der Begegnung oder des Aufeinandertreffens von Sein und Werden – als eigen-
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ches de nouveauté consciente et bien mesurée. […] La seule durée uniforme réelle est à notre avis une durée uniformément variée, une durée progressive.“, ebd., S. 88-89; „La ligne qui réunit les points et qui schématise la durée n’est qu’une fonction panoramique et rétrospective, dont nous montrerons par la suite le caractère subjectif indirect et secondaire.“, ebd., S. 33; „Encore une fois, c’est à notre conscience que revient la charge de tendre sur le canevas des instants une trame suffisamment régulière pour donner en même temps l’impression de la continuité de l’être et de la rapidité du devenir.“, ebd., S. 73. „[…] c’est le groupe des instants qui forme naturellement pour nous le rythme temporal.“, ebd., und: „Une habitude particulière est un rythme soutenu, où tous les actes se répètent en égalisant assez exactement leur valeur de nouveauté, mais jamais perdre ce caractère dominant d’être une nouveauté.“, ebd., S. 68. „[…] c’est par le rythme qu’on comprendra le mieux cette continuité du discontinu qu’il nous faut maintenant établir pour relier les sommets de l’être et dessiner son unité. Le rythme franchit le silence, de la même manière que l’être franchit le vide temporel qui sépare les instants.“, ebd. „[…] un individu pris dans la somme de ses qualités et de son devenir correspond à une harmonie de rythmes temporels.“, ebd. Siehe hierzu die konstatierte „soudaine possibilité de choix des instants créateurs, cette liberté dans leur liaison en des rythmes distincts…“, ebd., S. 73. In diesem Zusammenhang verwendet Bachelard den Terminus des Chronotropismus, den er als konstitutive Eigenschaft des lebenden Wesens ansieht und direkt auf die rhythmische Strukturierung der selektierten Momente bezieht: „La fibre, c’est une habitude matérialisée; elle est faite d’instants bien choisis, fortement solidarisés par un rythme. Dès lors, si l’on se place devant l’énorme richesse de choix qu’offrent les instants discontinus ligaturés par des habitudes, on voit qu’on pourra parler de chronotropismes qui correspondent aux divers rythmes qui constituent l’être vivant.“, ebd., S. 72. Ebd., S. 52. 37
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tümliche, sich unterscheidende (raum-)zeitliche Modi aufgefasst – verstehen; die Folgen dieser Begegnung und deren gegenwärtige Präsentation möchte ich nun untersuchen. Damit bin ich zum konstitutiven Element der bachelardschen Theorie angelangt, nämlich zum bis jetzt nur peripher angesprochenen instant, dessen spezifische Eigenschaften ich hier aufzählen möchte: Präsenz schlechthin: Das Momentum wird mit der Gegenwart und darüber hinaus mit der eigentlichen Zeit 127 identifiziert. Er postuliert die „totale égalité de l’instant présent et du réel“ 128 , im Sinne, dass der gegenwärtige Augenblick den eigentlichen und einzigen Topos des Aufeinandertreffens von (Bewusst-)Sein und Realität darstellt. Präsenz – hier als das (Bewusst-)Sein (im) hic et nunc aufgefasst – wird zur tragenden Instanz von Zeit (und Raum, wie noch zu sehen ist) überhaupt erhoben. In Bachelards Worten: „Le temps n’a qu’une réalité, celle de l’Instant“ (13) „Si mon être ne prend conscience de soi que dans l’instant présent, comment ne pas voir que l’instant présent est le seul domaine où la réalité s’éprouve ?“ (14) „…le Temps c’est l’instant et c’est l’instant présent qui a toute la charge temporelle.“ (48)
Inexistenz von Vergangenheit und Zukunft: Dass der Präsenz eine privilegierte und exzeptionelle Existenz zugesprochen wird, bestätigt und bekräftigt sich durch diese zweite Behauptung, dass nämlich sowohl das Vergangene als auch das Kommende von keiner Relevanz weder für den gegenwärtigen Augenblick noch für das Sein überhaupt sind. Damit negiert Bachelard die Zwangläufigkeit des Einflusses bzw. einer vor- oder festgeschriebenen Seinsrichtung. Präsenz stellt lediglich eine (Seins-) Möglichkeit dar, die von einer anderen ersetzt wird etc. Das Kausalitätsprinzip wird komplett außer Kraft gesetzt und an seiner Stelle treten Möglichkeit, Zufall und Potentialität. Präsenz wird dadurch zum Synonym des Topos der Epiphanie des Zufälligen. Bachelard hierzu: „Passé et avenir ne touche pas à l’essence de l’être, encore moins à l’essence première du Temps. […] Le passé est aussi vide que l’avenir. L’avenir est aussi mort que le passé.“ (48) 127 Dafür verwendet Bachelard das Wort „Temps“, mit kapitalem T geschrieben. 128 Bachelard, S. 13. 38
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„Il serait évidemment anormal de donner à l’avenir une force de sollicitation réelle, dans une thèse où l’on refuse au passé une force réelle de causalité.“ (72)
Isolation und Integrität: Einen besonderen Topos der bachelardschen Theorie bildet der Diskurs über die Einsamkeit des Seins bzw. des gegenwärtigen Momentums, eine durchaus konsequente Ableitung von dem bisher Gesagten. Diese Isolierung des Augenblicks tritt noch dezidierter hervor durch dessen explizite Platzierung zwischen zwei Vakua, zwischen zwei Leerstellen, die der Autor auf die Begrifflichkeit des Nichts (néant) bezieht. Das bachelardsche Momentum ist nicht nur einsam, sondern auch 1) integer – entzieht sich jeglicher Unterteilung, 2) absolut – in Anlehnung an Albert Einsteins Relativitätstheorie, die nach dem Autor die Absolutheit des Moments aufrechterhält, während sie die Absolutheit des Dauerhaften verwirft 129 und 3) durchaus momenthaft – ohne Dauer. Damit wird meines Erachtens der Präsenz insofern eine gewisse Plötzlichkeit zugesprochen, als sie unerwartet als Ganzheit quasi aufblitzt. Im Original: „…le temps est une réalité resserrée sur l’instant et suspendue entre deux néants. […] le temps se présente comme l’instant solitaire, comme la conscience d’une solitude.“ (13) „L’intuition temporelle de M. Roupnel affirme : 1° le caractère absolument discontinu du temps; 2° le caractère absolument ponctiforme de l’instant. La thèse de M. Roupnel réalise donc l’arithmétisation la plus complète et la plus franche du temps. La durée n’est qu’un nombre dont l’unité est l’instant.“ (38) „L’instant ne tient pas une durée en son sein; il ne pousse pas une force dans un sens ou dans un autre. Il n’a pas deux faces, il est entier et seul.“ (48-49) „[…] on se rend compte que le présent ne passe pas, car on ne quitte un instant que pour en retrouver un autre; […] la conscience a l’immobilité de l’instant isolé.“ (49)
Erfüllung und Schöpfung: Bachelard spricht mehrmals und in verschiedenen Zusammenhängen dem instant die Qualitäten der Schöpfungskraft und der Fruchtbarkeit zu. Die Erfahrung und die Behauptung des Momentums werden dann ermöglicht, wenn letzteres als Topos einer Hervorbringung fungiert. Präsenz tritt hervor, indem sie sich durch Kreativität bzw. Produktivität auszeichnet:
129 Siehe auch Anm. 131 dieses Kapitels. 39
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„Or toute évolution, dans la proportion où elle est décisive, est ponctuée par des instants créateurs. Cette connaissance de l’instant créateur, où la trouveronsnous plus sûrement que dans le jaillissement de notre conscience?“ (18-19) (Auf die Synthese der Gewohnheit bezogen:) „[...] cette synthèse est réalisée par les instants féconds.“ (65)
Aktivität und Praxis: Die eben angesprochene Produktivität steht in der Studie Bachelards meistens ganz konkret für die Hervorbringung von Praxis. Der bachelardsche instant existiert, indem er agiert oder als Praxis wahrgenommen wird. Umgekehrt ist für Bachelard die Praxis stets augenblicklich; damit etabliert der Autor eine Gleichung zwischen Praxis und instant, welche Präsenz schlechthin mit der praxis-zeitigenden Aktivität identifiziert. In Bachelards Worten: „[…] la philosophie bergsonienne est une philosophie de l’action; la philosophie roupnelienne est une philosophie de l’acte. Pour M. Bergson, une action est toujours un déroulement continu qui place entre la décision et le but – tous deux plus ou moins schématiques – une durée toujours originale et réelle. Pour un partisan de M. Roupnel, un acte est avant tout une décision instantanée, et cette décision qui a toute la charge de l’originalité.“ (21-22) „Il n’y a que la paresse qui soit durable, l’acte est instantané. Comment ne pas dire alors que réciproquement l’instantané est acte? […] Comment dès lors ne pas voir que la nature de l’acte, par une singulière rencontre verbale, c’est d’être actuel? Et comment ne pas voir ensuite que la vie c’est le discontinu des actes?“ (23) 130
Innovation bzw. ständige Erneuerung: Ich habe weiter oben in Zusammenhang mit der Erörterung der Eigenschaften der Gewohnheit deren immanente Erneuerungs-Geste erwähnt; nun zu einer Präzisierung: Erneuerung und Innovation sind nicht generell der fortschreitenden Ge130 Bezüglich der aktiven Disposition des instant siehe die zitierten Stellen auf S. 36 und in der Anm. 109 dieses Kapitels. Es wäre hier zu konstatieren, dass Bachelard eine Präzision des Praxis-Begriffs meidet: Nicht selten ersetzt er diesen durch den Begriff des Geschehnisses: siehe beispielsweise Anm. 109: „[…] le temps n’est rien, s’il ne s’y passe rien“, oder Bachelard, S. 33: „Pourquoi alors ne pas accepter, comme métaphysiquement plus prudent, d’égaler le temps à l’accident, ce qui revient à égaler le temps à son phénomène?“ Durch diesen unkonkretisierten Umgang mit dem acte-Begriff gewinnt die Auslegung der Präsenz-Aktivität meines Erachtens eine gewisse Flexibilität, welche die Präsenz-Aktivität (auch) als eine Art Hervorbringung der Präsenz selbst verstehen lässt; in diesem Sinne wäre der Präsenz neben der Ereignisbezogenheit auch eine konstitutive Ereignishaftigkeit zuzuschreiben. 40
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wohnheit zuzuschreiben, sondern dem instant selbst: Es ist der Augenblick als Zeitmonade (Zeit an sich), dem die Erneuerung oder die Erneuerungsdynamik eingeschrieben ist. Präsenz wird hierdurch ein Transformationspotential zugesprochen, von dem Bachelard behauptet, es sei eine Zeit-Gabe: „Si donc la nouveauté est essentielle au devenir, on a tout à gagner à mettre cette nouveauté au compte du Temps lui-même: ce n’est pas l’être qui est nouveau dans une forme uniforme, c’est l’instant qui en se renouvelant reporte l’être à la liberté ou à la chance initiale du devenir.“ (27) „Il faut du nouveau pour que la pensée intervienne, il faut du nouveau pour que la conscience s’affirme et que la vie progresse. Or, dans son principe, la nouveauté est évidemment instantanée.“ (37)
Bachelard resümiert nun den Kernpunkt seiner instant-Theorie in folgender Formulierung: „Le complexe espace-temps-conscience 131 , c’est l’atomisme à triple essence, c’est la monade affirmée dans sa triple solitude, sans communication avec les choses, sans communication avec le passé, sans communication avec les âmes étrangères.“ 132
Damit ist meines Erachtens der Übergang zu einem vervollständigten Präsenzbegriff explizit vollzogen: Sein, Hier und Jetzt werden als Monade – als unteilbare Einheit – begriffen, die durch Autopoeisis und Autonomie gekennzeichnet ist, ihren Anfang und ihr Ende in sich trägt und sich instantan manifestiert. Eine Radikalisierung bzw. Präzisierung erfährt das bachelardsche Momentum schließlich in seiner Manifestation als poetischer Moment. 133 131 In Anlehnung an Albert Einsteins Relativitätstheorie, im Rahmen derer Bachelard die Bestätigung für die Absolutheit des Augenblicks sucht, führt der Autor explizit auch die räumliche Qualität des instant ein und sieht in ihr eine grundlegende Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Absolutheit des Momentums: „Pour lui donner cette valeur d’absolu, il suffit de considérer l’instant dans son état synthétique, comme un point de l’espace-temps. Autrement dit, il faut prendre l’être comme une synthèse appuyée à la fois sur l’espace et le temps. Il est au point de concours du lieu et du présent : hic et nunc […]“ (Bachelard, S. 30-31). 132 Ebd., S. 37. 133 Obwohl Bachelard die poetische von der prosaischen Zeit oder der Zeit der Prosodie, die er mit der Prosa verbindet, abgrenzt, relativiert er sofort diese seine Aussage, indem er neben der Prosa eine Reihe anderer Zeiten hinzufügt, die mit der Zeit der Prosa kaum etwas zu tun haben: „[...] la 41
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Diesen definiert der Autor durch eine Reihe dialektischer Gegenüberstellungen, auf die ich hier kurz eingehen möchte: Vertikalität versus Horizontalität: Die poetische Zeit ist vertikal, während die Zeit der Prosodie oder die des Alltags eine horizontale Zeit ist. Bachelard greift hier auf die allgegenwärtige, triviale Vorstellung der Zeit als einer linearen und fließenden Zeit zurück, um die Besonderheit der poetischen Zeit als eines bahnbrechenden Ereignisses deutlicher werden zu lassen. Die poetische (ästhetische) Praxis stellt einen im Sinne Bachelards schöpferischen instant dar, von dem schon die Rede war, der die waagerecht-lineare Alltagszeit senkrecht zäsuriert: „En tout vrai poème, on peut alors trouver les éléments […] d’un temps qui ne suit pas la mesure, d’un temps que nous appellerons vertical pour le distinguer du temps commun qui fuit horizontalement avec l’eau du fleuve, avec le vent qui passe. […] alors que le temps de la prosodie est horizontal, le temps de la poésie est vertical. La prosodie n’organise que des sonorités successives; elle règle des cadences, administre les fougues et des émois, souvent, hélas, à contre-temps. […] toutes les règles prosodiques ne sont que des moyens, de vieux moyens. Le but, c’est la verticalité, la profondeur ou la hauteur; […]“ (104) „Soudain toute l’horizontalité plate s’efface. Le temps ne coule plus. Il jallit.“ (106)
Wie artikuliert sich nun diese senkrechte Zeit oder die senkrechte Zäsur des poetischen/ästhetischen Momentums? Tautochronie versus Sukzession: Der poetische Moment ist ein komplexer Moment, der sich durch die simultane Existenz von Ambivalenzen auszeichnet. Im poetischen Moment offenbart sich eine subtile Dialektik, deren Pole koexistieren und sich gleichzeitig präsentieren, ohne dass der eine vom anderen ableitbar wäre oder im anderen aufgehe. Bachelard bedient sich der Beispiele des „instant androgyne“ (105) und des „regret souriant“ (108), um seinen Begriff von Ambivalenz zu plausibilisieren
prosodie permet de rejoindre la prose, la pensée expliquée, les amours éprouvées, la vie sociale, la vie courante, la vie glissante, linéaire, continue.“ ebd., S. 104. Ich betrachte diese Gegenüberstellung als eine Übertreibung, die umso stärker das poetische Momentum in den Vordergrund rücken lässt; letzteres würde ich doch als eine Metonymie für den ästhetischen Moment überhaupt ansehen und ihn dem Moment der alltäglichen Erfahrung entgegenstellen. 42
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und ihn deutlich von der sukzessiven Gegensätzlichkeit zu differenzieren: „C’est pour construire un instant complexe, pour nouer sur cet instant des simultanéités nombreuses que le poète détruit la continuité simple du temps enchaîné.“ (103) „Essentiellement, l’instant poétique est une relation harmonique de deux contraires. […] Mais pour le ravissement, pour l’extase, il faut que les antithèses se contractent en ambivalence. Alors l’instant poétique surgit… Pour le moins, l’instant poétique est la conscience d’une ambivalence. Mais il est plus, car c’est une ambivalence excitée, active, dynamique. L’instant poétique oblige l’être à valoriser ou à dévaloriser. Dans l’instant poétique, l’être monte ou descend, sans accepter le temps du monde qui ramènerait l’ambivalence à l’antithèse, le simultané au successif.“ (104-105)
Aufhalten der Zeit versus Fließen der Zeit: Bachelard schreibt dem poetischen Moment ein weiteres Charakteristikum zu, das er allerdings nicht ausführlich diskutiert, obwohl es meines Erachtens weitreichende Konsequenzen für seine gesamte Theorie haben könnte: 134 Der poetische Moment stellt demnach eine Art Epoche dar, im Sinne eines Innehaltens oder Aufhaltens der Zeit: „elle [la poésie] ne peut être plus que la vie qu’en immobilisant la vie, qu’en vivant sur place la dialectique des joies et des peines.“ (103) „En tout vrai poème, on peut alors trouver les éléments d’un temps arrêté […]“ (104) „Pour retenir ou plutôt retrouver cet instant poétique stabilisé […]“ (106)
Die Frage, die sich stellt, lautet: Suggeriert dieses Aufhalten der Zeit nicht eigentlich eine Absenz oder einen Entzug von Zeit? Bedeutet die Immobilität des poetischen Moments nicht eine Zäsur, die als eine Art A-Chronie und A-Topie gedeutet werden könnte oder sogar sollte? Bachelard beantwortet derartige Fragestellungen, indem er einerseits dem 134 Vielleicht diskutiert er dies genau deswegen nicht! – Der Text spricht im Folgenden die Problematik an, die sich an dem hier angeführten Charakteristikum anknöpfen könnte. Allerdings und um gerecht zu sein, ist zu bedenken, dass Bachelard hier keine systematische Theorie des poetischen Moments erarbeitet, sondern höchstens die Ansatz- oder Eckpunkte einer derartigen eventuellen Theorie formuliert und deswegen höchstwahrscheinlich an einer tief greifenden Analyse der Details nicht interessiert ist. 43
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poetischen Moment eine unvermeidbare Dimension zuspricht – und somit beiläufig wieder eine Art von Dauer ins Spiel bringt 135 – und andererseits eine innere Ordnung in der Strukturierung des Moments anerkennt, die er mit der (Zeitlichkeit der) Zeit schlechthin identifiziert: „Est-ce du temps, toute cette perspective verticale qui surplombe l’instant poétique? Oui, car les simultanéités accumulées sont des simultanéités ordonnées. Elles donnent une dimension à l’instant puisqu’elles lui donnent un ordre interne. Or le temps est un ordre et n’est rien autre chose. Et tout ordre est un temps. L’ordre des ambivalences dans l’instant est donc un temps. Et c’est ce temps vertical que le poète découvre quand il refuse le temps horizontal, c’est-à-dire le devenir des autres, le devenir de la vie, le devenir du monde.“ (105)
Zwei Zeit-Konzepte lassen sich nun aus dem Gesagten Bachelards skizzieren: Das eine setzt zwei Zeitordnungen voraus, nämlich eine fließende, lineare Zeit, die mit dem alltäglichen Lebensstrom korrespondiert und der eine gewisse Dauer bzw. eine Undifferenziertheit anhaftet, und eine außerordentliche, bahnbrechende Zeit, die sich aus schöpferischen, erfüllten Momenten zusammensetzt, welche unter exzeptionellen Bedingungen eintreten und die fließende Zeit zäsurieren; das andere sieht vor, dass die exzeptionellen Momenten im konventionellen Zeitfluss integriert sind und unter bestimmten Bedingungen als derartige hervortreten. 136 Beide Zeit-Konzepte suggerieren allerdings die Existenz einer Zeit, die sich der Momenthaftigkeit widersetzt, als bedürfe das Hervortreten oder die Präsentierung des Augenblicks eines rivalisierenden Hintergrunds, um erst zur Geltung kommen zu können. Wir kommen meines Erachtens nicht umhin, eine stillschweigende Wiedereinführung von Bildern des Dauerhaften, des ewig Währenden zu konstatieren; 137 allerdings deswegen, um gerade deutlicher die Exzeptionalität und Eigenartigkeit des instant herauszustellen. 3. Präsenz-Entzug Ich komme nun auf ein negatives Präsenz-Konzept zu sprechen, das sich nicht mehr durch das (Her-)Ausstellen auszuzeichnen scheint, sondern vielmehr einen Entzug, eine Lücke, eine Abwesenheit bekundet. Der Präsenz-Entzug, von dem hier die Rede sein wird, wurde von der Theorie 135 Siehe hierzu Bachelard, S. 26ff., wo er dem Moment genau jene Dimension abzusprechen versucht. 136 In diesem zweiten Fall müssten allerdings diese bestimmten Bedingungen benannt und definiert werden bzw. die Ursache oder der Agens benannt werden, die/der jenen Prozess der „Präsenz des Augenblicks“ in Gang setzt. 137 Obwohl sie Bachelard flächendeckend vehement negiert hat! 44
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auf höchst unterschiedliche Weisen begriffen und unter verschiedene Aspekte gestellt, eine Tatsache, die den Komplexitätsgrad der Diskussion außerordentlich erhöht. Andererseits könnte es kaum anders sein, angesichts der Notwendigkeit von etwas zu sprechen, was die Präsenz negiert bzw. sich in diesem Sinne als die reine Negation darstellt und entsprechend eine gewisse unhintergehbare Unsagbarkeit in sich trägt. Wie lässt sich nun trotzdem und im Kontext dieser Beschränkungen die Nicht-Präsenz begreifen und benennen? Wie manifestiert sich diese Absenz (in) der Präsenz? Diesen Fragen ist im Folgenden nachzugehen. Die Selbstaufhebung der Gegenwart Die Unmöglichkeit, ein „unbewegtes Jetzt“ 138 (ein unzeitliches, der Zeit jenseitiges Jetzt) im Zeit- bzw. Bewegungsfluss zu situieren oder zu akzeptieren, macht jede Gegenwart 139 zu einem „übergehenden Jetzt“ 140 , das als „werdendes, veränderliches [...] Wesen“ 141 gedacht wird. Die Betrachtung der Gegenwart als Übergangs- oder Durchgangsstadium, als mit der „in ihr“ sich vollziehenden Bewegung identifizierte, versieht sie mit Eigenschaften, die der Negation ihrer selbst dienen: Präsens „wird [...] gedacht als etwas, das in sich selbst seine Aufhebung als Gegenwart enthält“ 142 ; Präsenz „ist Selbstüberschreitung der Gegenwart und damit Selbstaufhebung der an die jeweilige Gegenwart gebundenen Wirklichkeit“ 143 und besitzt „in sich selber eine Tendenz zum Nichtsein (tendentia ad non esse) [...]“ 144 . Hier macht sich wahrhaftig eine „Topologie des Entzugs“ 145 präsent, die über die Unmöglichkeit der Präsenz-Verortung im Zeit- und Bewegungsfluss Bericht erstattet. An der Präsenz haftet nämlich eine unumgehbare Flüchtigkeit, die bewirkt, dass erstere fortwährend im Zuge zu sein bzw. sich aufzuheben ist.
138 Baumgartner, Hans Michael: „Zeit und Zeitertfahrung“, in: Ders. (Hg.), Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, Freiburg, München: Alber 1994, S. 199. 139 Hier von der Bewegung her oder physikalisch gedacht. 140 Baumgartner, S. 200. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 201. 144 Ebd., S. 209. 145 Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael O.: „Einleitung: Temporale Zäsuren“, in: Dies. (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: Wiley-VCH 1990, S. 2. 45
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Die unvollständige Präsenz Die eben angesprochene Betrachtung der Präsenz als Übergangsstadium verweist indirekt auf das Konzept der unmöglichen Integrität der Präsenz, indem die ihr zugewiesene transitive Beschaffenheit sie zwangsläufig, ja sogar konstitutiv mit Vergangenem und Künftigem verknüpft. Vergangenheit und Zukunft fungieren hier als Supplemente einer nicht vollends gegenwärtig sein könnenden Gegenwart. Denn: „Wäre nicht Vergangenheit in der Gegenwart zurückbehalten [...] oder wäre in ihr Zukunft nicht vor-weg-genommen [...], so wären Zukunft und Vergangenheit ein leeres, abwesendes Nichts. Damit aber gleichsam die Zukunft in der Gegenwart vorbehalten und Vergangenheit in ihr einbehalten sein kann, kann Gegenwart nie vollständig gegenwärtig sein. In ihr tritt die Differenz mit sich selbst als Gegenwart ein.“ 146
Im selben Kontext lässt sich ebenfalls der Begriff der „schwindenden Anwesenheit“ integrieren, den Hans-Thies Lehmann in die Diskussion über die Theatergegenwart einführt. 147 Diesem Konzept nach wäre Präsens „ein Schwinden [...], ein gegenwärtiges Vergehen“ 148 . Kein
146 Tholen, Georg Christoph: „Risse im Gefüge der Zeit. Zur Dekonstruktion von Begriffsbildern“, in: Keller, Zeitsprünge, S. 88. 147 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1999, S. 260; Lehmann konzipiert die Gegenwart des Theaters „als Verweis, als präsente Spur einer anderen Zeit“ (Ders.: „Die Gegenwart des Theaters“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.), Transformationen – Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 14 ), wobei unter „anderer Zeit“ sowohl die spezifische theatrale Raum-Zeit, die von der alltäglichen Raum- und Zeiterfahrung divergiert, als auch eine auf der Bühne vergegenwärtigte, vergangene oder künftige Raum-Zeit zu verstehen ist. Der Autor radikalisiert diesen Gedanken über die „andere Zeit“, und zwar auf höchst interessante Weise, indem er nämlich die theatrale Raum-Zeit nicht nur von der Gegenwart, sondern überhaupt von der Zeit unterscheidet. Damit tritt das weiter oben angesprochene Unsagbare und Unbestimmbare definitiv in die (theatrale) Präsenz ein, welches das Subjekt zu einem untilgbaren Schweigen zwingt: „Erfahrung findet [...] in dieser ‚anderen‘ Zeit statt, wenn Elemente der individuellen Geschichte mit solchen der Kollektiven zusammentreffen und eine Jetzt-Zeit des Erinnerns entsteht, die zugleich unwillkürlich aufblitzendes Gedächtnis und, untrennbar davon, Antizipation ist. Man erfährt in diesen Momenten des Nicht-Verstehens, des Schocks, der sprachlosen Wahrnehmung das Ausgesetztsein in eine andere Zeit, die nicht einfach Gegenwart ist und in ihrer Vieldimensionalität vielleicht nicht einmal in einem deutlich anzugebenden Sinne Zeit.“ (Lehmann: Postdramatisches..., S. 349). 148 Ders.: „Die Gegenwart...“, S. 25. 46
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„verdinglichter Jetztpunkt auf einer Linie der Zeit, sondern […] ein unaufhörliches Schwinden dieses Punkts schon Übergang und zugleich Zäsur zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden. Präsens ist notwendig Aushöhlung und Entgleiten der Präsenz. Es bezeichnet ein Ereignis, das das Jetzt entleert und in dieser Leere selbst Erinnerung und Antizipation aufleuchten lässt. Präsens ist nichts, was sich konzeptuell fassen lässt, sondern ein mitzuvollziehender Prozeß fortwährender Selbstteilung des Jetzt in immer neue Splitter aus ‚eben noch‘ und ‚jetzt gleich‘“; „eine[] schwebende[], schwindende[] Anwesenheit, die zugleich als ‚Fort‘, Abwesen, als Schon-Weggehen in die Erfahrung tritt [...]“ 149 .
Präsenz wird in diesem Sinne eine immanente Empfänglichkeit für die Alterität zugeschrieben: Ihr eignet eine zu füllende (oder auch nicht!) Lücke, 150 deren primäre Funktion darin besteht, erstere zu spalten und entsprechend hinsichtlich einer Vielzahl von Möglichkeiten zu öffnen. Deshalb ist Präsenz „keineswegs die schlichte Alternative zu Abwesenheit“ 151 , sondern birgt immer schon „ein Ungegenwärtiges“ 152 und stellt sich stets auch als „Abweichung von Gegenwart“ 153 dar. Es ist hier nicht zu übersehen, dass Präsenz eben durch die Spaltung und Öffnung eine gewisse Dimensionalität zugeteilt wird, die ihr Bild transformiert und eine Verschiebung vom Punkt zum Feld provoziert: Präsenz geht hier mit einer chronotopischen Expandiertheit einher, die, wie wir noch sehen werden, den Moment keinesfalls negiert oder ausschließt, sondern auf spezielle Art und Weise kontextualisiert und instrumentalisiert. 149 Ders.: Postdramatisches…, S. 259-260. 150 „Keine Erfahrung einer Anwesenheit ohne Lücke: jeder Akt des Bewußtseins und der Aufmerksamkeit blendet aus, vergißt, ‚absentiert‘ gleichsam auch Teile des Anwesenden.“ (Ders.: „Die Gegenwart...“, S. 25). An diesem Punkt schließt auch jene These Stephan Grätzels an, die von einer Ausblendung nicht mehr des Wahrnehmungsobjekts, sondern quasi des Wahrnehmungssubjekts bzw. des -prozesses als solchen im Präsenzereignis spricht: „Die Wahrnehmung der Außenwelt und ihrer Relationen wird erst durch die Ausblendung von Subjektivität möglich. Dies geschieht durch ein ständiges Entfernthalten unmittelbarer Präsenz oder Selbstwahrnehmung. Dabei wird in der Gegenwart die Gegenwart selbst, die unmittelbare Präsenz des Jetztseins, ausgeschlossen. Die Gegenwart ist also nur unter Ausschluß der eigentlichen Gegenwart, der eigentlichen Zeit des Erlebens, wahrnehmbar. Die Gegenwart entzieht sich deshalb jeglicher Fixierung, weil in ihr die ihr eigene Zeit unsichtbar bleibt.“ (Grätzel, Stephan: Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Vergessen, Freiburg, München: Alber 1993, S. 56). 151 Lehmann, ebd. 152 Ebd., S. 18. 153 Ebd. 47
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Präsenz-Verlust Die Begriffe des Mangels und des Verlusts stellen einen mehr oder weniger gemeinsamen Topos im Rahmen der Erörterung der Manifestationsweise des Präsenz-Entzugs dar. Präsenz wird in diesem Sinne als eine imperfekte Matrix begriffen und beschrieben, derer Verlust und Mangel inhärent und vielmehr wesenskonstitutiv sind. 154 Präsenz geht hier mit einem Fehlen einher, das sich allerdings verschiedenartig auf erstere bezieht. Zunächst: Jegliche Verlorenheitserfahrung vollzieht sich in der Präsenz: Das Sein besinnt sich auf Verlorengehendes oder -gegangenes hier und jetzt; und ferner noch: „Der Charakter der Verlorenheit bezieht sich [...] nicht auf die Inhalte der Vergangenheit [...] sondern eher darauf, daß sie durch Auflösung der Präsenz, durch Differenzierung und Distanzierung von Gegenwärtigkeit entsteht. [Die Verlorenheit] [...] ist der Beleg dafür, daß Gegenwart nicht gegenwärtig, sondern aufschiebend und abschattend erlebt wird.“ 155
Ein „Zustand der Nicht-Gegenwärtigkeit der Gegenwart“ 156 tritt ein, der keinen Ersatz mehr zulässt, sondern vielmehr stets als Mangel und Abwesenheit erlebt wird. Dieser nicht zu kompensierende Mangel, der in Form einer Spur in der Präsenz verharrt, wurde von Hans-Thies Lehmann und Doris Kolesch auch mit der Erfahrung von „intensiver“ 157 , i.e. ästhetischer Präsenz in Verbindung gebracht: In Hinsicht auf den Benennungsversuch der Erfahrung der Theatergegenwart formulieren beide Autoren ihre Gedanken in evidenter Übereinstimmung: „Gegenwart als [...] nicht sistierte und sistierbare Erfahrung ist Erfahren des Versäumens. Im Versäumen findet die Erfahrung statt, am Saum der Zeit“ 158 und „Präsenz meint [...] nicht bloß die reale körperliche Präsenz des oder der jeweils auf der Bühne Agierenden, sondern die ko-präsente Wahrnehmung eines Verlusts, eines Mangels oder einer Abwesenheit“ 159 . Die Autoren grenzen die ästheti-
154 Baumgartner positioniert sogar den „Ursprung der menschlichen Zeiterfahrung primär in [die] Erfahrung von Negativität oder eines Verlustes“. (Baumgartner, S. 210). 155 Grätzel, S. 42. 156 Ebd. 157 Lehmann: „Die Gegenwart...“, S. 13; Kolesch, Doris: „Ästhetik der Präsenz“, in: Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Transformationen..., S. 67. 158 Lehmann: Postdramatisches…, S. 258. 159 Kolesch: „Ästhetik der Präsenz“, S. 58. 48
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sche Präsenzerfahrung von der des „erfüllten Augenblicks“ 160 ab, indem sie ihr jegliche Vollendungsmöglichkeit absprechen und ein konstitutives negatives Moment der Leere konstatieren. Dieses korrespondiert wiederum einerseits mit dem Gefühl der Vergänglichkeit und Sterblichkeit, als vermittle die (intensive) Präsenzerfahrung auch eine Todeserfahrung, 161 andererseits aber auch mit der Öffnung eines Spielraums „differenter, potentiell unendlicher Möglichkeiten des Menschen“ 162 , deren Unendlichkeit allerdings eben die Tilgung der Kluft und die Überwindung der Lücke verhindert: Präsenz ist hier stets als mangel- und lückenhaft zu begreifen, ohne dass dieses Vakuum aufgehoben werden könnte. Dieser hier zunächst generell angesprochene und nicht näher definierte Mangel (in) der Präsenz kann auch konkretere Formen annehmen und auf spezielle Defizite hinweisen: Ich möchte in diesem Zusammenhang vorrangig auf zwei aufschlussreiche Texte Karl Heinz Bohrers 163 verweisen, die von Gestalten des Verlusts und deren gemeinsamer Grundfigur berichten. Das übergeordnete Schema, im Rahmen dessen die Verlustgestalten ihre Bedeutung erhalten und ausgelegt werden, tituliert der Autor als die 160 „Eigentümlich an der ästhetischen Erfahrung ist es, daß darin Gegenwart gerade nicht einfach ‚Fülle der Zeit‘ heißt – wie etwa im nunc stans der mystischen Erfahrung.“ (Lehmann: „Die Gegenwart...“, S. 13); „Präsenz darf hier nicht als erfüllter Augenblick, als Moment unmittelbarer und ungebrochener Gegebenheit verstanden werden. Die Erfahrung von Präsenz ist im Gegenteil gebunden an Erfahrungen der Fremdheit, des Entzugs und des Mangels.“ (Kolesch, Doris: „Ästhetik der Präsenz: TheaterStimmen“, in: Früchtl, Josef u.a. (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, S. 262). 161 „[Präsens] hat mehr mit dem Tod als dem vielberufenen ‚Leben‘ des Theaters zu tun.“ (Lehmann: Postdramatisches..., S. 260); „Gerade in dieser Ruhe, die als Schatten zu einer schon vorgerückten Stunde den Tod in Erinnerung ruft, manifestiert sich, daß Gegenwart verstrickt ist mit Augenblick, Ereignis, Schock, Pause, Unterbrechung, Innehalten im Gang des Verstehens.“ (Ders.: „Die Gegenwart...“, S. 21). „Die performative Ästhetik der Präsenz gemahnt an die Vergänglichkeit von Ereignissen und Formen im ephemeren theatralen Moment ebenso wie an die Vergänglichkeit des Menschen.“ (Kolesch: „Ästhetik der Präsenz“, in: FischerLichte u.a. (Hg.), Transformationen..., S. 65); „Der Moment intensiver Präsenz unterhält eine intrikate Verbindung zum Tod und zur Sterblichkeit. Jener flüchtige, unwiederbringlich verlorene Augenblick [...]“ (ebd., S. 67). 162 Kolesch, ebd., S. 58. 163 Bohrer, Karl Heinz: „Augenblicke mit abnehmender Repräsentanz. Das Problem der Epiphanie in der Dichtung der klassischen Moderne“ und „Die Zukunft der Geisteswissenschaften“, in: Ders.: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München, Wien: Hanser 2003. 49
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„Epiphanie sui generis“ 164 , die plötzliche Erscheinung „in der Form des ‚Blitzes‘ [...] de[s] Augenblick[s] mit Signalwirkung“ 165 , dem allerdings ein Verlust inhärent ist. Dieser Verlust kann zum einen als „Enteignung des Geistes“ vorkommen, 166 regelrecht als Fassungslosigkeit und Ohnmacht des Wahrnehmenden, die Präsenz insofern beeinflussen und als mangelhaft erscheinen lassen, als sie deren Erfahrung verhindern oder verunmöglichen: Präsenz stößt dem Wahrnehmenden zu, entmachtet ihn und büßt dabei ein Teil ihrer Wahrnehmbarkeit selbst ein. Zum Anderen und von der eben angesprochenen Bewusstseinssuspension nicht unabhängig kann der Präsenzverlust die Gestalt des Referenz- bzw. Repräsentanzverlusts annehmen: „Allein die Temporalität des ‚Augenblicks‘ der Wahrnehmung ist betont, so wie das Ausbleiben einer Erklärung. Die wahrnehmungstheoretische Betonung des Augenblicks heißt auch die völlige Aufhebung eines metaphysischen Bezugspunkts [...]“ 167 . Präsenz tritt hier nur in ihrer chronotopischen Dimension hervor, als Signifikant ohne Signifikat sozusagen, in ihrem Da- und Sosein hic et nunc, ohne dass sie irgendetwas berge oder auf etwas verweise, das einer Verständnismobilisierung bedürfe. Als eine Radikalisierung des Präsenzverlusts ist die von Bohrer so genannte „poetische Negativität“ oder der „poetische Nihilismus“ aufzufassen, die/den der Autor folgendermaßen definiert: „Das Negative, um das es hier geht, ist eine spezifische poetische Reflexion von Zeiterfahrung. In ihr ist ein permanenter Verlust an Präsenz, an Wahrnehmung des Augenblicks als eines schon immer sich Auflösenden dargestellt.“ 168 Und: „Poetischer Nihilismus oder poetische Negativität taucht [...] dort auf, wo der Modus der Plötzlichkeitsbestimmung nicht mehr positiv [als eine Epiphanie, BdV], sondern negativ codiert ist.“ 169 Es handelt sich um 164 Ders.: Das absolute Präsens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 181. 165 Ders.: Ekstasen…, S. 86. Siehe hierzu ebenfalls Lehmann (Postdramatisches..., S. 258), der die ästhetische Gegenwartserfahrung ebenfalls als „ein Signal, das man nicht deuten kann und das einen trifft“ konzipiert. 166 Siehe hierzu Lyotard zit. nach Tholen („Risse...“, S. 84-85): „Da die darstellende Gegenwart absolut ist, ist sie nicht faßbar: sie ist entweder noch nicht oder nicht mehr gegenwärtig. Es ist immer zu früh oder zu spät, um die Darstellung selbst zu erfassen und darzustellen. Von dieser spezifischen und paradoxen Beschaffenheit ist das Ereignis. Daß etwas als Vorkommnis geschieht, bedeutet, daß der Geist enteignet wird [...]“. Bohrer verweist ebenfalls auf Lyotard, den er in Nietzsches Tradition positioniert, indem er das lyotardsche vom Bewusstsein unkontrollierbare „Jetzt“ mit dem „Dionysischen Augenblick“ Nietzsches, der ebenfalls die Suspension des Bewusstseins provoziert, parallelisiert. Siehe hierzu: Ekstasen..., S. 89 und 116ff. 167 Bohrer, ebd., S. 88. 168 Ebd., S. 113. 169 Ebd., S. 119. 50
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eine Präsenzerfahrung, die von „reiner Negativität“ 170 durchzogen ist, und zwar in dem Sinne, dass der „empfundene Augenblick [...] als ein immer schon gewesener [...] reflektiert ist.“ 171 Das Präsens wird hier „selbst immer schon als zur Vergangenheit Umgeschlagenes“ 172 begriffen, als ein stets verlorener Moment, der hier und jetzt stets verspätet und als Leere manifest wird. Hic et Nunc präsentiert sich hier als Spur eines Früheren, bereits Vollzogenen, das selber deswegen als absolute Abwesenheit erlebt wird. Präsenz im Riss/Schock/Bruch Der Titel dieses Abschnitts annonciert, dass ich nun auf den spezifischen Modus der Präsenzpräsentierung im Sinne der vorangegangenen Überlegungen zu sprechen komme, der allerdings während der Diskussion immer implizit (oder explizit) angesprochen worden ist. Die Übereinstimmung aller hier zitierten Autoren hinsichtlich des „Wie“ der Präsenzerscheinung ist unübersehbar: Präsenz tritt in diesem Kontext als plötzliches Ereignis hervor; dieses manifestiert sich als „Riß im Sein, der die Dauer sprengt“ 173 bzw. als „Riß im Raum oder Sprung in der Zeit“ 174 ; im „Intervall[] der Zeit“ 175 , als „Bruch, als etwas radikal Unversöhnliches in meine[m] eigenen Diskurs“ 176 , als „Trauma“ 177 , als „(Auf)Schrecken“ 178 , als „Schock[], [...] sprachlose[] Wahrnehmung [des] Ausgesetztsein[s] in eine andere Zeit“ 179 . In allen diesen Beschreibungs- oder Bestimmungsversuchen der Präsenzmanifestation wird das Vorhandensein einer wie auch immer zu bezeichnenden vorgängigen Raum-Zeit vorausgesetzt, die sich von der Präsenz abzuheben hat und als ihr (radikal) differentes hervortreten soll. 180 Dadurch tritt Präsenz in einen Zustand, als befinde sie sich „zugleich in
170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180
Ebd., S. 120. Ebd. Ebd. Baumgartner, S. 210. Gendolla, Peter: „‚Mehr Zeit in weniger Raum‘. Zur Zeitwahrnehmung in Literatur und Kunst“, in: Keller, Zeitsprünge, S. 195-196. Tholen: „Risse...“, S. 80. Kolesch: „Ästhetik der Präsenz“, in: Fischer-Lichte u. a. (Hg), Transformationen..., S. 67-68. Tholen: „Risse...“, S. 88. Lehmann: Postdramatisches..., S. 258; Ders.: „Die Gegenwart...“, S. 13. Ders., Postdramatisches…, ebd., S. 349. Lehmann verbindet die Gegenwart sowohl „mit Augenblick, Ereignis, Schock“, als auch mit „Pause, Unterbrechung, Innehalten im Gang des Verstehens“ („Die Gegenwart...“, S. 21) und fasst noch einmal zusammen, wie Präsenz hier zu konzipieren ist: nämlich als Epoche und ultimative Differenz im Chronotopos zugleich. 51
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und außerhalb der Zeit“ 181 . Unter dem Gesichtspunkt, dass Präsenz stets am Raumzeitkontinuum teilhat und dementsprechend nicht in einer vollkommenen Autonomie zu denken ist, können Bezeichnungen wie „Utopos oder Heterotopos“ 182 bzw. „Zwischen-“ und „Unzeit“ 183 ihr adäquat sein. Diese ihre jedenfalls privilegierte Positionierung im Chronotopos bewirkt meines Erachtens darüber hinaus, dass ihr eine eigene – horizontale oder vertikale – Expansion und Dauer bzw. eine Dimension zugesprochen werden kann, als eröffne der Augenblick das „Tor einer Erfahrung“ 184 des Dauerhaften oder des Verharrenden und sei es „nur“ die währende Ekstatik des Hic et Nunc selbst. Exkurs: Der währende Moment „Wenn die Präsenz der Gegenwart im Laufe der Performance einen [...] Schock auslöst, darf man ihn nicht als nur augenblicklichen Stoß verstehen: man muß ihn vielmehr in seiner ganzen Dauer, also in seiner ‚Echt‘-Zeit erfassen.“ 185
In dieser Auffassung der (ästhetischen) Präsenz wird der momenthafte Schock oder Stoß mit einer Erfahrung des Dauerhaften verknüpft, und zwar in dem Sinne, als führe der Augenblick in eben jene Erfahrung ein, als bilde er das eben angesprochene „Tor“ zum Verharrenden. Gewiss suggeriert die zitierte Aussage die Untrennbarkeit von Augenblick und Dauer, aber es ist meines Erachtens nicht zu übersehen, dass dem Augenblick eine chronotopische Vorgängigkeit zugesprochen wird, im Sinne, dass der Moment – die Flüchtigkeit, ja die Vertikalität – die unabdingbare Voraussetzung für Dauer – Bestehen und Horizontalität – darstellt, der (der Moment) aber je schon in seinem „Produkt“ aufgegangen ist. Vom Augenblick als Ausgangspunkt bzw. als bedeutungsvollen Ursprungstopos einer andauernden Präsenzerfahrung berichtet auch die Lehre Lessings vom „prägnanten Augenblick“, den der Autor in die Diskussion über die Leistungen der Malerei integriert, 186 der aber durchaus im Rahmen des allgemeinen Präsenzdiskurses auslegbar ist. 181 182 183 184 185
Gottfried Boehm zitiert nach Lehmann, ebd., S. 24. Gendolla, S. 195. Tholen, „Risse...“, S. 88. Boehm zit. nach Lehmann: „Die Gegenwart...“, S. 24. Charles, Daniel: Zeitspielräume. Performance Musik Ästhetik, Berlin: Merve 1989, S. 71. 186 Lessing definiert den prägnanten oder fruchtbaren Augenblick folgendermaßen: „Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“ (Lessing, G.E.: Laokoon, Stuttgart: Reclam 1964, S. 115); „so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks, nicht fruchtbar genug gewählt 52
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Lessings „prägnanter Augenblick“ wurde zum einen hinsichtlich seiner Bezogenheit zum Werkinhalt bzw. seines Beitrags zur Bedeutungskonstitution interpretiert: Der Moment übernimmt hier quasi die Rolle eines Signifikants, dem ein in Zeit abzuwickelndes Dauer-Signifikat entspricht; der signifikante Moment oder der Moment-Signifikant kondensiert eine Geschichte, deren Erzählung der Einbildungskraft des Wahrnehmenden überlassen ist. 187 In diesem Sinne, eine unaufzulösende Verbindung zwischen Malerei/Material (Signifikant-Status) und Poesie/Narrativem (Signifikat-Status) herstellend, definiert David Wellbery den „prägnanten Augenblick“ als „das Produkt [eines] ästhetischen Koitus“ zwischen „der maternalen Instanz“, welche die Malerei repräsentiert, und „dem geistigen Samen des Vater-Dichters“, der „einen imaginativen Rezeptionsprozeß [gebiert], in dem die Einbildungskraft die materiellen Schranken der Malerei überflügelt und sich im Narrativen entfaltet.“ 188 Zum anderen wurde der „prägnante Augenblick“ auch als formbezogenes Moment und in seiner Wirkung auf der Darstellungsebene diskutiert. Im Rahmen dieser Annäherung verschiebt sich der Schwerpunkt auf das im „fruchtbaren Augenblick“ enthaltene „Darstellungspotential [...], das einzig durch das Spiel der Einbildungskraft erweckt werden kann.“ 189 Die Einbildungskraft unterhält hier einen Dialog mit dem ästhetischen Objekt, „der sich weder beim ‚materiell‘ Gesehenen noch aber bei der einmaligen Projektion narrativer Bedeutung stillstellen läßt.“ 190 Dadurch bewirkt erstere nicht mehr nur die Ergänzung oder „Belebung des Dargestellten“, sondern zielt darüber hinaus „auf die Belebung der Darstellung selbst“ 191 . Im Rahmen meiner Diskussion, die hier nach der Art des aus dem „prägnanten Augenblick“ suggerierten Präsenz- bzw. Gegenwartsbegriffs fragt, dessen Funktionalität im Rahmen der Präsenz-Produktion fokus-
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werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.“ (ebd., S. 23). „Seine [des Betrachters] ‚Einbildungskraft‘ löst, indem sie das ‚Vorhergehende und Folgende‘ des Inhalts selbsttätig ergänzt, dessen zeitlichräumliche Erstarrung wieder auf und schafft aus dem ‚einzigen‘ konzentrierten Augenblick wiederum ein sukzessives. Auch dem ‚prägnanten‘ Moment wohnt also das Element des Zeitlichen inne.“ (Kreuzer, Ingrid: „Nachwort“, in: Lessing, ebd., S. 223-224). Wellbery, David E.: „Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation“, in: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.), Was heißt „Darstellen“?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 197. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 148. Ebd. Ebd. 53
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siert und entsprechend von einer eventuellen Debatte hinsichtlich des Grades dessen Werkinhalts- oder Sinnbezogenheit absehen kann, ist, auch aus den vorausgegangenen Auslegungen, zweierlei festzuhalten: 1) Der „prägnante Augenblick“ stellt eine Art von Präsenz dar, die eine spezifische Relation zwischen Moment und Dauer manifest werden lässt: Der Augenblick ist hier die prägnante Instanz, der ausschlaggebende Topos einer eine gewisse Dauer und Expansion beanspruchenden Präsenz und kann in diesem Sinne als die äußerste Gegenwart bezeichnet werden; zugleich aber, und zwar indem er die anhaltende Präsenz provoziert und produziert, bildet er eine Art elastische Matrix, welche eben diese Dauer-Präsenz konturiert und entsprechend expandiert. Der präsente Augenblick ist hier das unendlich Kleine 192 und unendlich Große zugleich und es ist diese seine paradoxe Beschaffenheit, die seine Existenz zugleich gewährleistet wie bedroht. 2) Sowohl als äußerste Gegenwart als auch als elastische Matrix ist hier Präsenz als mangelhafte bzw. durch Abwesenheit ausgezeichnete zu verstehen. Einerseits stellt sie nämlich das flüchtige, schwindende Provisorium dar, das stets auf der Schwelle zwischen Sein und Nicht-Sein befangen bleibt, 193 andererseits bedarf es zu ihrer Vervollständigung eines Vergangenen oder Künftigen, einer Historie, welche die Präsenz besetzt, ihr erst eine Bedeutung zuschreibt, zugleich aber verstellt und verzerrt. 194 Lessings Theorie des „prägnanten Augenblicks“ lässt sich unter diesen Aspekten im Kontext jenes Präsenzdiskurses denken und auslegen, der Präsenz als defizitär bzw. durch Absenz belastet konzipiert; darüber hinaus noch bildet sie meines Erachtens die Grundlage eines paradigmatischen Konnexionsversuchs zwischen Punkt und Feld, indem sie deren Nexus einerseits anspricht, andererseits aber auch auf eine bestimmte Art und Weise konzeptualisiert. 192 Vgl. Virilio, Paul: „Der Augenblick der beschleunigten Zeit“, in: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.), Die sterbende Zeit – 20 Diagnosen, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 255ff. 193 „[…] so muß er [der Augenblick] nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können [...]“ (Lessing, S. 23); siehe hierzu auch: Goethe zit. nach Kreuzer: „der höchste pathetische Ausdruck, den sie [die bildende Kunst] darstellen kann, schwebt auf dem Übergange eines Zustandes in den andern.“ (ebd., S. 224). 194 Hier wären eventuell die Parallelen zu Diderots entsprechender Theorie zu suchen, der den „einen Augenblick“ der Malerei als „eine Hieroglyphe, aus der sich auf einen Blick die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft des Dargestellten, das heißt sein historischer oder narrativer Sinn herauslesen läßt“ konzipiert (Rebentisch, S. 147). 54
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Präsenz/Aufführung: Bemerkungen und Fragen In den vorangegangenen Abschnitten wurden nun die drei (herrschenden) Präsenz-Konzeptionen präsentiert und diskutiert, so wie sie die Theorie aufgefasst und analysiert hat. Die zwei noch anzusprechenden Fälle – die ekstatische Präsenz und die Korrelation von Präsenz und Repräsentation – verlegen den Akzent von der Präsenzkonstitution und -definition eher auf den Modus der Präsenz-Epiphanie oder -Aphanie, also eher auf das Wie der Präsenzäußerung und -artikulation, ohne einen bestimmten Präsenzterminus vorauszusetzen oder zugrunde zulegen. Meine (Hypo-) These von der Auffassung der theatralen Aufführung als Produktionsstätte von Präsenz weist deutlich darauf hin, dass im Mittelpunkt meines Interesses die jeweils spezifische Art und Weise der Produktion oder Konstitution von Präsenz, welche jeweils mit unterschiedlichen Präsenzkonzepten zu korrespondieren vermag, und konkreter die Annäherung, Beschreibung und Auslegung der rekonstruierbaren, szenischen Artikulation und Präsentation von Präsenz steht; deswegen halte ich es hier für angebracht, einige für meine theaterwissenschaftlich orientierte Arbeit belangvolle Schlüsse zu ziehen und darüber hinaus eine diesen Schlüssen Rechnung tragende Fragestellung zu entwickeln, die den Rahmen und die Grundlage der gesamten Arbeit darstellen werden. An diesem Forschungspunkt angelangt, interessiert mich zunächst die Suche nach einer Korrespondenzmöglichkeit zwischen den hier vorgestellten theoretischen Ansätzen, die eine Präsenzanalyse versuchen, und dem theoretischen Instrumentarium der Aufführungsanalyse und -definition. Ich möchte hier mit anderen Worten einen Parallelisierungsversuch zwischen Präsenz- und Aufführungsdefinition durch das Prisma des jeweils angewandten Annäherungsverfahrens und dadurch einen Vergleich zwischen den jeweils zuzuschreibenden Merkmalen vornehmen. In dieser Hinsicht wird zunächst vom jeweils resultierten Präsenzkonzept als solchen abgesehen und die Methodik, also die konkrete Weise, durch die sich an Präsenz angenähert und durch die Präsenz definiert wird, fokussiert und expliziert. Die herausragende methodische Gemeinsamkeit aller hier aufgeführten Überlegungen stellt die Tatsache dar, dass Präsenz auf die eine oder andere Art einerseits auf Wahrnehmung und andererseits (oder dementsprechend) auf ein menschliches Dasein bezogen wird. Dabei lässt sich die Präsenzkonzipierung als ein Oszillieren zwischen Objekt- und Schema- bzw. Rahmen-Sein auffassen: Präsenz fungiert sowohl als Gegenstand der Wahrnehmung als auch als (ursprüngliche) Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt. Entsprechend ist die Positio-
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nierung des menschlichen Daseins eine doppelte: Auf der einen Seite stellt es das Subjekt der Wahrnehmung und auf der anderen ein konstitutives Element und einen Bestandteil der Präsenz, i.e. des Wahrnehmungsobjekts, dar. Dieses zweifache Verständnis von Präsenz-Wahrnehmung lässt sich in den Theorien keineswegs trennen, sondern ist permanent gleichzeitig vorhanden. Die doppelte Bezogenheit der Präsenz auf Wahrnehmung – und umgekehrt – ist wiederum assoziiert mit der essentiellen Grundeigenschaft der Präsenz, die in all den hier angesprochenen Überlegungen mitschwingt, nämlich gleichzeitig zwischen Sein (hier: Objekt, Wahrzunehmendes) und Nicht-Sein (hier: Schema, Nicht Wahrzunehmendes) zu oszillieren. 195 Im Sinne der so konstatierten Relation zwischen Präsenz und Wahrnehmung wäre es nicht verkehrt zu behaupten, dass die oben vorgestellten Theorieansätze den Status eines Diskurses über eine Aisthetik der Präsenz annehmen und in diesem Kontext der Präsenz eine performative Eigenschaft und Funktionalität zuschreiben. Von einer Aisthetik der Präsenz ist hier insofern zu sprechen, als Präsenz in ihrer spezifischen Relation zu Wahrnehmung mit Begrifflichkeiten wie Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit assoziiert ist und entsprechend vorerst diesseits des Terrains des Verstands oder der Ratio zu positionieren wäre: Präsenz sowohl als Wahrnehmungsobjekt als auch als -schema adressiert sich (zunächst) nicht an Rationalität, sondern suggeriert ein anderes – welcher Art auch immer – Erfahrungsverständnis. In diesem Zusammenhang ist Präsenz insofern als performativ zu verstehen, als sie sich als „bloße“ Setzung ihrer selbst – im Sinne einer Erscheinung, Epiphanie und Eröffnung – durch einen gewissen Grad an Selbstreferentialität und Wirklichkeitskonstitution 196 auszeichnet: Präsenz, so wie sie hier konzipiert und verstanden wurde, stellt ein quasi autoreflexives System dar, das stets auf sich selbst verweist; zugleich und indem sie sich setzt bzw. ist, gründet sie eine eigene, (von der Banalität, Alltäglichkeit etc.) abweichende und divergierende Realität. Diese realitätskonstituierende Geste der Präsenz weist auf zwei weitere Eigenschaften hin, die im Rahmen der oben präsentierten PräsenzKonzeptionen immer wieder implizit angesprochen worden sind: Es handelt sich zum einen um die der Präsenz eingeschriebene mediale Funktionalität und zum anderen um ihre semiotische Veranlagung. Tatsächlich ist Präsenz in den meisten Fällen – allerdings nicht immer explizit – als eine Art medialer Topos, der zwischen Subjekt und der Welt bzw. Mani195 Vgl. hierzu vor allem: Präsenz-Entzug (S. 44ff.). 196 Zu einer umfassenden Behandlung des Performativitätsbegriffs siehe Bohle, Ulrike/König, Ekkehard: „Zum Begriff des Performativen..., insbes. S. 21-25. 56
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festationen der Wirklichkeit vermittelt, behandelt worden: Präsenz fungiert stets als das unumgängliche Medium, durch das nicht nur Wahrnehmung stattfindet, sondern vielmehr Wahrnehmung erst möglich wird. 197 Darüber hinaus unterhält Präsenz eine doppelte Relation zur Semiotizität: Einerseits fungiert sie selbst als Zeichen, indem ihr unterschiedliche Bedeutungen und Attribute beigelegt werden können, 198 und andererseits fungiert sie selber als „Zeichenproduzent“, indem sie in ihrem Da- und Sosein die Bedingung der Möglichkeit zur Bedeutungsherstellung und -konstitution darstellt. 199 Die Frage, die hier erhoben werden könnte, betrifft die Art und Spezifität des Realitätsbilds, das Präsenz, zugleich sowohl als Zeichen als auch als Medium fungierend, darbietet. Es wäre meines Erachtens hier nicht verkehrt, von einer erhöhten semiotischen Potentialität, einem Überschuss an Sinn zu sprechen, welche/welcher die Realitätserfahrung notwendigerweise als gesteuert und konditioniert erscheinen lässt. In diesem Sinne ist die Realität, welche durch die Präsenz(setzung) erfahren wird, stets (auch) ein Präsenzprodukt. 200 Die Präsenzkonzeptionen, die ich oben vorgestellt und diskutiert habe, erfassen also Präsenz in ihrem spezifischen Verhältnis zur Aisthetik, in ihrer Performativität, Medialität und Semiotizität. Im Rahmen dieser Kategorien wiederum konzipiert und diskutiert die Theatertheorie das Aufführungsereignis, 201 eine Tatsache, die mich zu folgender Behauptung führt: Wenn Präsenz- und Aufführungsdefinition identischen oder äquivalenten Kategorisierungen unterliegen, liegt es nahe, anzunehmen, 197 Die zunächst als paradox zu bezeichnende Behauptung von Präsenz als sowohl als wirklichkeitskonstituierend als auch als zwischen Subjekt und Realität vermittelnd aufzufassende, hebt sich meines Erachtens auf, wenn die zuvor angesprochene Präsenz-Eigenschaft, nämlich zwischen Sein und Nicht Sein zu oszillieren, erwogen wird: Präsenz ist immer zugleich außerhalb und innerhalb der Raum-Zeit (siehe hier Anm. 181 dieses Kapitels), und das heißt, dass sie sowohl die eigene Wirklichkeit (be)gründet, als auch Realitätserfahrung ermöglicht und konditioniert. Dies lässt sich auch anders oder leicht differenziert formulieren: Indem Präsenz sich setzt, diktiert sie eine bestimmte Realitätserfahrung und gestaltet dadurch das eigene Realitätsbild. 198 Siehe hierzu beispielsweise die der Präsenz zugeschriebenen Bedeutungen von Praxis oder von Mangel und Verlust, die übrigens häufig als deren Metonymien verwendet werden. 199 Als Beispiele könnten hier die unterschiedlichen Bedeutungen von Vergangenheit und Zukunft (als Grenze bzw. Bestandteile des Präsenzfelds, als Vakua etc.), die vom jeweiligen Präsenzverständnis abhängen, genannt werden. 200 Vgl. hierzu Anm. 197 dieses Kapitels. 201 Siehe zu diesem: Fischer-Lichte, Erika/Roselt, Jens: „Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: Theorien des Performativen, S. 237-253; auch: Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 31-57. 57
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dass auch die Definitionen an sich gewisse Parallelisierungen und Korrelationen aufweisen. Den Ausgangspunkt und Grund eines Unterfangens, das eventuelle Gemeinsamkeiten von Präsenz- und Aufführungskonzept aufzuspüren hätte, bildet eine Eigenschaft, auf die sowohl Präsenz als auch Aufführung fußen: Beide fungieren nämlich zugleich sowohl als Wahrnehmungsobjekte, indem sie als solche erfahren und rezipiert werden sollen, als auch als Wahrnehmungsschemata, indem sie dem Wahrnehmungssubjekt eine eigenartige und spezifische Erfahrung und Rezeption ermöglichen oder sogar diktieren. Wie übersetzt sich nun dieses Identifikationspotential oder diese gemeinsame Disposition, das/die hinsichtlich der jeweils aufgestellten operationalen Kategorien konstatiert wurde, im Rahmen des Diskurses über Präsenz und Aufführung als solche oder wenn der Diskurs die konkreten Formen und Inhalte der beiden Termini betrifft? Wie lässt sich deren Relation unter den hier diskutierten Aspekten bestimmen und benennen? Von ihrer doppelten Bezogenheit auf Wahrnehmung ausgehend, lässt sich ein besonderes Angewiesen-Sein der Aufführung auf Wahrnehmung feststellen, welches das theatrale Ereignis als einen sonderbaren und herausragenden Topos des Wahrnehmungstrainings erscheinen lässt: Aufführungs- sowie Präsenzerfahrung ist vorerst und vor allem Wahrnehmung, die an eine bestimmte, diesseits oder jenseits des Verstands zu lokalisierende Ästhetizität gebunden ist. Was aber wird vorerst oder vor allem in einer theatralen Aufführung wahrgenommen? Es ist ohne weiteres die andere Raum-Zeit, die sich von der Alltäglichkeit abhebt und eine abgrenzende Differenz markiert. Die Aufführung ist zunächst und primär ein Hetero-Chronotopos, der von Akteuren und Zuschauern zugleich gestaltet und wahrgenommen wird. Gestaltung und Wahrnehmung allerdings sind nur hier und jetzt möglich, sofern dieser Chronotopos Präsens bzw. präsent ist. Die theatrale Aufführung identifiziert sich mit Präsenz schon durch die Setzung und Performanz dieser anderen Raum-Zeit. 202 Hieraus lassen sich zwei Thesen ableiten: • Der theatrale Chronotopos identifiziert sich mit Präsenz, indem er als Hetero-Chronotopos aufgefasst wird: Der theatrale Chronotopos tritt aus dem Raum-Zeit-Kontinuum heraus 203 bzw. stellt ein exzeptionelles Moment in der Raum-Zeit dar und markiert dadurch eine Anomalie im Kontinuum. Diese Anomalie bedeutet die Suspension von 202 Insofern als Präsenz im Sinne der oben diskutierten Theorien in der Tat eine exzeptionelle – und dementsprechend andere – Raum-Zeit-Erfahrung zu ermöglichen scheint. 203 In diesem Sinne ist er auch als ekstatisch aufzufassen. Siehe weiter: Die ekstatische Präsenz (S. 61ff.). 58
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•
Raumordnung und Zeitfluss, ein wie auch immer gestaltetes Re-Arrangement der Raum-Zeit-Verhältnisse, welches zunächst und vor allem die Kontinuität aufhebt. In diesem Sinne – die Aufführung als Entfremdung hinsichtlich der Kontinuitäts- und Kohärenzverhältnisse konzipierend – ist der theatrale Chronotopos vorerst als der a-chronotopische Punkt im Kontinuum zu verstehen, der außerhalb bzw. jenseits von Raumordnung und Zeitfluss existiert und dementsprechend nur als Präsens (oder Präsenz) zu begreifen ist. Die theatrale Präsenz, die den Bruch im Kontinuum markiert, ließe sich als der Gegenwartstopos der Begegnung und Interaktion (zwischen Wahrnehmungssubjekt und -objekt oder zwischen unterschiedlichen Präsenz-Manifestationen) begreifen, wo die gewohnten raumzeitlichen Verhältnisse subvertiert oder sogar entmachtet worden sind und wo die chronotopischen Indizien – so verschiedenartig sie auch sein mögen – nicht mehr Kontinuitäts- oder Kausalitätsordnungen unterliegen, sondern bloß in ihrem präsenten Da- und Sosein erscheinen und wahrgenommen werden. Der theatrale (Hetero-)Chronotopos stellt eine besondere Form von Präsenz dar, sofern er ein raumzeitliches Arrangement oder eine raumzeitliche Gestaltung voraussetzt bzw. sofern ihm eine Inszenierung zugrunde liegt: Jegliche Präsenzerfahrung im Theater beginnt mit oder wird ausgelöst von einer Inszenierung von Präsenz und sei es „nur“ das Betreten eines zuvor ausgewählten und entsprechend arrangierten Raums. Präsenz und Präsenzerfahrung im Theater ist immer schon eine inszenierte. Das heißt keineswegs, dass sie durch und durch bedacht, geplant und gesteuert ist. Sie beruht aber auf einem raumzeitlichen Arrangement und entspringt einem inszenierten Chronotopos, der sie entsprechend beeinflusst und bis zu einem Punkt konditioniert. Diese spezielle Setzung und Inszenierung des theatralen (Hetero-)Chronotopos ist der Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit der „Entstehung“ des theatralen Ereignisses „zur Präsenz“ 204 .
Meine Arbeit fokussiert eben diese besondere Form von Präsenz in ihrem Ursprung, in ihrer inszenierten bzw. szenischen Entstehung, Produktion und Präsentation, in ihrer spezifischen Setzung als Agens und Movens der gesamten theatralen Präsenz(erfahrung). Mein Ziel ist es, anhand der ausgewählten Beispiele einerseits die szenischen Präsenzäußerungen zu rekonstruieren, zu beschreiben und zu analysieren und andererseits oder 204 Die geglückte Formulierung entnehme ich Jean-Luc Nancy („Entstehung zur Präsenz“, in: Hart Nibbrig, Was heißt „Darstellen“?, S. 103-106). 59
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darüber hinaus deren Spezifität und Besonderheit herauszuarbeiten und zu explizieren. In dieser Hinsicht und durch die oben präsentierten theoretischen Instrumentarien zur Annäherung an den Präsenz-Begriff angeregt wären hier folgende Fragen zu formulieren, die wegweisend für die gesamte Arbeit funktionieren sollen: 1. Auf welche Art und Weise wird Präsenz jeweils produziert und gestaltet? Es werden diesbezüglich die Mittel und Mechanismen, die Trajekte und Wege aufgespürt, nachgegangen und rekonstruiert, durch welche Präsenz produziert, inszeniert und präsentiert wird. Es geht mir hier hauptsächlich um den Umgang mit dem bzw. das Arrangement des Bühnen-Chronotopos nicht nur als Rahmung der Performance, sondern in seiner Performativität selbst – i.e. seiner ständigen Konstituierung durch Situationen, Aktionen und Geschehnisse – und die Art und Weise seiner „Entstehung zur Präsenz“. 2. Was transformiert sich jeweils in szenische Präsenz? Hier wird detailliert nach dem Beziehungsmodus zwischen den Produktionsmedien der szenischen Präsenz und derer dramatischen Vorlage, den zugrunde liegenden dramatischen Schemata gefragt. In diesem Zusammenhang wird zu fragen sein, auf welche Art und Weise die Präsenz der Aufführung, als Aufführungs-Hier-Jetzt verstanden, auf die dramatische Aufführungsvorlage hinzuweisen vermag. 3. Wie artikuliert sich jeweils Präsenz und welches Präsenzkonzept lässt sich jeweils ablesen? Diesbezüglich werden die spezifischen Eigenschaften und Charakteristika, die der jeweiligen Präsenzartikulation – als Gesamtheit betrachtet – zuzuschreiben sind, herausgearbeitet und präsentiert. In diesem Kontext werden die Beschreibungs- und Analyseinstrumentarien der PräsenzTheorien verwendet, geprüft und eventuell entsprechend modifiziert. 4. Was macht die Präsenz der Aufführung aus? In einem abschließenden Arbeitsabschnitt sollen die im Analysenverlauf entstandenen Überlegungen, Beobachtungen und Bemerkungen nun hinsichtlich einer Annäherung der Präsenz der Aufführung im Allgemeinen hinterfragt werden. Dabei möchte ich 1) untersuchen, inwieweit oder unter welchen Beschränkungen und Präzisierungen sich die bei den einzelnen Aufführungsanalysen verwendeten Begrifflichkeiten in einen weiteren Diskurskontext integrieren lassen und 2) die Eckpunkte eines Prä-
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senzbegriffs entwickeln, der die Präsenz(erfahrung) des theatralen Ereignisses zu erfassen in der Lage wäre. 4a. Die ekstatische Präsenz Den Begriff der ekstatischen Präsenz behandelt Gernot Böhme in seiner Atmosphäre-Studie 205 ausführlich und in einer Weise, die auch für die Theaterwissenschaft und meine Arbeit belangvoll erscheint. Der Autor erklärt die ekstatische Präsenz zu einer der beiden Voraussetzungen der Atmosphärenerzeugung, die er wiederum zum zentralen Motiv seiner „Neuen Ästhetik“ deklariert. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Einbettung – im Sinne einer unumgehbaren Abhängigkeit – der ekstatischen Präsenz in den Rahmen einer Wahrnehmungssituation, in der die Präsenz des Wahrnehmenden als conditio sine qua non für die (ekstatische) Präsenz des Wahrgenommenen fungiert. Die ekstatische Präsenz avanciert somit zum zentralen Terminus einer Aisthetik par excellence, die Wahrnehmungssubjekt und -objekt nicht auseinander zu denken vermag und ferner noch das eine als Voraussetzung für die Existenz des anderen ansieht. Was wird aber konkret im Rahmen einer Wahrnehmungssituation unter ekstatischer Präsenz verstanden? Es handelt sich um die Art und Weise, „durch die ein Ding [das Wahrgenommene, BdV] charakteristisch aus sich heraustritt“ 206 ; um die Art und Weise, auf die es sich zeigt und präsentiert. 207 Dabei wird immer wieder betont, dass das Heraustreten, das Sich-Zeigen oder Präsentieren des Dings, also seine Darbietung als ekstatisch Seiendes, nur unter der Prämisse seines Fungierens als Wahrgenommenes, seiner Integrierung in eine konkrete Wahrnehmungssituation realisiert werden können. In diesem Sinne spricht Böhme vom „Geschehen [des] Aufgehens“ des Dings und dessen Erfahrung „in seiner vereinzelten aktuellen Präsenz“ 208 , als Äußerungen des Dings eben im Kontext
205 Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. 206 Ebd., S. 167. 207 Fischer-Lichte plädiert für eine Differenzierung zwischen den Begriffen Ekstase und Präsenz: Es wäre eher angemessen, von den „Ekstasen des Dinges“ und der „Präsenz des Menschen“ bzw. in ihrem Sinne „des Akteurs“ zu sprechen (vgl. hierzu Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 160-175 und 200-209; zu dem Vorschlag konkreter S. 173-174). Im Zusammenhang dieser Arbeit spielt eine derartige Differenzierung eine eher geringere Rolle, da ich vielmehr die chronotopischen Komponenten der Präsenz zu erforschen suche und mich eher undifferenziert mit der gegenwärtigen und anwesenden Erscheinung an sich auseinandersetze (vgl. auch Anm. 106 dieses Kapitels). 208 Böhme, S. 174. 61
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der konkreten Wahrnehmungssituation. 209 Der ekstatischen Präsenz liegt grundsätzlich eine ästhetische Erfahrung – im ursprünglichen Sinn, als Wahrnehmungsinteraktion verstanden – zugrunde, und zwar als Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst. Was im Rahmen der Auslegung der ekstatischen Präsenz von Böhme von Interesse und Belang erscheint, ist die direkte und substantielle Relation, die der Autor zwischen ekstatischer Präsenz und Räumlichkeit konstatiert. Präsenz wird als ekstatisch empfunden oder verstanden, sofern sie „nach außen...[wirkt]“, quasi „in die Umgebung hinein[strahlt], […] dem Raum um das Ding seine Homogenität [nimmt], [...] ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen [erfüllt]“ 210 , sofern sie sich räumlich artikuliert und dementsprechend die eigene Räumlichkeit etabliert. Diese von der ekstatischen Präsenz produzierte Räumlichkeit nennt Böhme „die Sphäre [ihrer] [der ekstatischen Präsenz, BdV] Anwesenheit [...], ihre Wirklichkeit im Raume“ 211 . Der dieses ekstatisch Präsente Wahrnehmende wird von Böhme ebenfalls durch räumliche Termini definiert: Seine Präsenz wird nämlich als eine spezifische leibliche Anwesenheit 212 bestimmt, was wiederum auf die Erschaffung einer eigenen Räumlichkeit schließen lässt, sofern sie ebenfalls eine Wirklichkeit beansprucht, ja sogar konstituieren muss. Atmosphäre meint nichts anderes als die resultierende Räumlichkeit zweier oder mehrerer sich aufeinander treffender Räumlichkeiten im Rahmen einer Wahrnehmungssituation, wo das Wahrgenommene – indem es auf Rezeption angelegt ist – sich ekstatisch präsentiert und der Wahrnehmende – indem er zu rezipieren sucht – ebenfalls als ekstatische Präsenz aufzufassen ist. Der Autor vermeidet eine präzisere oder ausführliche Befassung mit dem Präsenzmodus des Wahrnehmenden und konzentriert sich vorrangig auf den Präsentationsmodus des wahrzunehmenden Objekts und die Mechanismen seiner Rezeption. Ich bin allerdings der Meinung, dass auch der Rezipient nicht anders als ein ekstatisches Dasein aufzufassen ist, da seine Position mit einer Öffnung, Extrovertiert- und Gerichtetheit der 209 Die Betrachtung des ekstatisch Seienden als Ereignis und Aktivierung einer Dynamik unter gewissen Umständen suggeriert das Vorhanden sein auch einer anderen, nicht ekstatischen Präsenz, die Böhme „die permanente Grundpräsenz“ (ebd.) nennt. Letztere lässt sich in Definitionen erfassen, im Gegensatz zur ekstatischen, die eher beschrieben wird. Sie hat mit dem Was-Sein des Dings zu tun und grenzt dieses entsprechend ein (vgl. ebd.). Der Autor geht nicht näher darauf ein, da sein Anliegen ein völlig anderes ist. Ich frage mich allerdings diesbezüglich, wie und überhaupt ob Präsenz außerhalb eines Wahrnehmungsverhältnisses zu erfassen und zu bestimmen ist. Hierauf komme ich noch später zu sprechen. 210 Ebd., S. 33. 211 Ebd. 212 Vgl. ebd., S. 34. 62
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Sinne einhergeht. Nicht nur das Wahrgenommene ist auf einen Rezipienten angewiesen und deswegen durch die Potentialität einer ekstatischen Präsenz charakterisiert; auch der Wahrnehmende, um sich als solcher zu behaupten, benötigt essentiell ein wahrzunehmendes Etwas. Die „gemeinsame Wirklichkeit“ 213 vom Wahrgenommenen und Wahrnehmenden, die der Autor in einer Wahrnehmungssituation etabliert sieht, ist meines Erachtens ein Aufeinandertreffen und Interagieren (mindestens) zweier dynamischer Präsenzen, die nur deswegen in der Lage sind, diese gemeinsame Wirklichkeit zu konstituieren, weil sie aus sich selbst heraustreten, die eigenen Grenzen überschreiten und sich gegenseitig beeinflussen. Zudem würde ich noch eine zweite Erweiterung des böhmeschen Begriffs der ekstatischen Präsenz wagen, die der Autor nicht direkt anspricht, auf die aber implizit hingewiesen wird. Es wäre, denke ich, nicht verkehrt, neben den Begriff der Räumlichkeit auch den der Zeitlichkeit zu stellen, sofern die Wahrnehmungssituation als eine dynamische Interaktion zu verstehen und zu definieren ist. Der Begriff der Präsenz verbindet ja in sich sowohl eine räumliche Komponente, nämlich die der Anwesenheit, als auch eine zeitliche, die der Gegenwärtigkeit. Die Wahrnehmungssituation, als Wechselwirkung (mindestens) zweier Präsenzen aufgefasst, findet nicht nur im Hier, sondern auch im Jetzt statt, nimmt nicht nur Raum, sondern auch Zeit in Anspruch und ist dementsprechend eher als ein Ereignis und weniger als ein Zustand zu bezeichnen. Die Bemerkung Böhmes, das ekstatische „Ding“ erfülle den Raum „mit Spannungen und Bewegungssuggestionen“ 214 , führt eben diese zeitliche Qualität der Präsenz ein, ohne sie allerdings weiterzuverfolgen. Abschließend möchte ich auf einen schon formulierten Einwand zurückkommen und ihn in den Rahmen unseres Forschungsgebiets integrieren. Es geht mir hier um die Fragwürdigkeit des Begriffs der Grundpräsenz und um die Frage, ob nicht jede Präsenz eigentlich ekstatisch sei. 215 Böhme diskutiert das Problem der Grundpräsenz im Kontext seiner Konzipierung des Hervortretens als eines Aktualitätsvollzugs und als Resultat eines Anregungsakts 216 seitens des Rezipienten. Indem er jedoch zuvor alle Qualitäten des „Dinges“, sowohl die sekundären (beispielsweise Farben, Gerüche) als auch die primären, nämlich Ausdehnung und Form, als Ekstasen bezeichnet und verstanden hat, 217 fragt man sich, was der Grundpräsenz des Dings vorbehalten bleibt. Außerdem suggeriert der 213 214 215 216 217
Ebd. Ebd., S. 33. Siehe Anm. 209 dieses Kapitels. Vgl. Böhme, S. 174. Vgl. ebd., S. 33. 63
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Grundpräsenz-Begriff ein Da- und Sosein des Dings „außerhalb“ bzw. vor oder jenseits einer Wahrnehmungssituation. Dieses Was-Sein des Dings aber unterliegt einer Definitionsnotwendigkeit oder -möglichkeit, 218 eine Tatsache, die es ohnehin wieder in seine Eigenschaft als Wahrnehmungsobjekt zurückversetzt. Ich habe das theatrale Ereignis als den optimalen Rahmen des Wahrnehmungstrainings herausgestellt und damit indirekt auf die Bedingung der Möglichkeit seines Stattfindens überhaupt, nämlich den Vollzug eines Wahrnehmungsakts, hingewiesen. Die Aufführung hat im böhmeschen Schema die Stelle des Wahrnehmungsobjekts oder des „Dinges“ inne und, indem sie a priori und ausschließlich im Rahmen einer Wahrnehmungssituation existiert, eben die des ekstatischen Dings und zwar par excellence, denn sie definiert sich ontologisch durch ihre Position in einem Wahrnehmungsprozess: Das Wahrnehmungsobjekt Aufführung besitzt keine andere Präsenz denn eine ekstatische. Zudem ist die Aufführungspräsenz eine mehr oder weniger inszenierte Präsenz, deren Heraustreten auf teilweise festgelegten Pattern beruht oder von ihnen abhängt. Die Aufführungspräsenz präsentiert sich in diesem Sinne auf eine – zumindest teilweise – bestimmte Art und Weise, die Rezeption bis zu einem gewissen Grad lenkend. Ich würde diese inszenierte Aufführungspräsenz mit der „artikulierten Präsenz“ 219 parallelisieren, und zwar insofern, als die Arbeit das szenische Ereignis als eine „Entstehung zur Präsenz [UdV]“ 220 versteht und auslegt. 4b. Präsenz versus Repräsentation? Die Geschichte der Deutung und Auslegung der Begrifflichkeiten Präsenz und Repräsentation weist ein quasi paradoxes Charakteristikum auf: Zwar wurden sie häufigst – und werden immer noch – als rivalisierende bzw. sich im dialektischen Verhältnis befindende Gegenfiguren, mit nicht selten qualitativen Charakteristika versehen, betrachtet, 221 doch sind sie stets zusammengedacht und als sich einander bedingende Glieder 218 Vgl. ebd., S. 174. 219 Ebd., S. 187 und 189. Als „artikulierte“ oder besser „sich artikulierende Präsenz“ versteht die Analyse die szenischen Chronotopoi; die Phrase birgt in sich eine Paradoxie, sofern der Begriff der Präsenz eher mit einem Sein-Status korrespondiert, während ihr Attribut vielmehr ein werdendes Ereignis suggeriert. Genau die Art und Weise der Äußerung und darüber hinaus die Suche nach einer „Lösung“ dieser Paradoxie stellen zentrale Achsen der Arbeit dar (siehe auch weiter im Text). 220 Nancy, in: Hart Nibbrig. 221 Zu einer zusammenfassenden Darstellung dieses Verhältnisses siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 255-256. 64
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einer Relation verstanden worden. Zwar wurde Präsenz zusehends als das Andere der Repräsentation angesehen – und umgekehrt –, aber zugleich galt Präsenz als die Bedingung der Möglichkeit (der Definierung) der Repräsentation – und umgekehrt. Meine Aufgabe hier ist keineswegs die Verfolgung dieser langwierigen und vieldimensionalen Geschichte; vielmehr interessieren mich die Weisen der Korrelation der zwei Begrifflichkeiten und die Bedeutung dieser Korrelation hinsichtlich einer präzisen und detaillierten Beschreibung und Analyse des Arbeitsgegenstands, nämlich der Aufführungspräsenz. Die repräsentierte Präsenz Präsenz bildet in der hier gemeinten Relation die „Sache selbst, [die] gegenwärtige[] Sache, wobei ‚Sache‘ hier sowohl für die Bedeutung als auch für den Referenten gilt“ 222 ; es ist das, wofür das Zeichen steht, worauf das Zeichen verweist, was das Zeichen ersetzt oder repräsentiert. Derrida fasst dieses Verhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation folgendermaßen zusammen: „Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es nimmt dessen Stelle ein. Wenn wir die Sache, sagen wir das Gegenwärtige, das gegenwärtig Seiende, nicht fassen oder zeigen können, wenn das Gegenwärtige nicht anwesend ist, bezeichnen wir, gehen wir über den Umweg des Zeichens. [...] Das Zeichen wäre [...] die aufgeschobene [différée] Gegenwart. [...] Was ich hier beschreibe [...], ist die klassisch anerkannte Struktur des Zeichens: sie setzt voraus, daß das Zeichen, welches die Präsenz aufschiebt [différant], nur von der Präsenz, die es aufschiebt, ausgehend und im Hinblick auf die aufgeschobene Präsenz, nach deren Wiederaneignung man strebt, gedacht werden kann. Gemäß einer solchen klassischen Semiologie ist das Ersetzen der Sache selbst durch das Zeichen zugleich sekundär und vorläufig: sekundär nach einer ursprünglichen und verlorenen Präsenz, aus der sich das Zeichen abgeleitet hat; vorläufig zu jener endgültigen und fehlenden Präsenz, angesichts derer das Zeichen sich in einer vermittelnden Bewegung befände.“ 223
Präsenz wird in diesem Zusammenhang als die Absenz schlechthin definiert, die durch das Zeichen bzw. repräsentativ kompensiert wird. Präsenz ist hier das, was eigentlich niemals präsent ist oder sein kann.
222 Derrida, Jacques: „Die différance“, in: Ders., Die différance – Ausgewählte Texte, Stuttgart: Reclam 2004, S. 119; an anderer Stelle („Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift“, in: ebd., S. 51) konstatiert Derrida auf etwas paradoxe Weise, dass gemäß der „abendländischen Tradition“ „[d]as formale Wesen des Signifikats [Sinn oder Ding, noëma oder Realität] die Präsenz [sei] [...]“. 223 Derrida: „Die différance“, S. 119-120. 65
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Derrida liest folgende im Rahmen des westlichen Logozentrismus herauskristallisierte Präsenz-Bezeichnungen oder -Definitionen: „Präsenz des betrachteten Dinges als eidos, Präsenz als Substanz/Essenz/Existenz [ousia], Präsenz als Punkt [stigme] des Jetzt oder des Augenblicks [nun], Selbstpräsenz des cogito, Bewußtsein, Subjektivität, gemeinsame Präsenz von und mit dem anderen, Intersubjektivität als intentionales Phänomen des Ego usw.“ [...] Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher.“ 224
Die so verstandene Präsenz als ousia, ewige Wahrheit, Ursprünglichkeit etc., welche die Zeichen „einzufangen“ und zu repräsentieren trachten, nimmt die Stelle einer jenseitigen Transzendenz, einer A-Chronie und A-Topie ein, die eventuell der Gegenstand einer Metaphysik wäre, die aber im Hinblick auf deren Artikulation via Codierung nicht mehr als solche – nämlich als Präsenz – zu bestimmen ist. Die Codierung und die Repräsentation und darüber hinaus jeglicher Kommunikationsakt und alle Erfahrung fängt bei Derrida mit der Schrift an. Ihre Wirklichkeit oder besser die Wirklichkeit des Texts ist die einzige, die er anerkennt. In diesem Sinne lehnt er den Vorrang und die Vorträglichkeit der Präsenz, von der her die Repräsentation zu definieren sei, rigoros und kategorisch ab. „Am Anfang“ steht das Supplement bzw. – als Element der Schrift – die Spur, die in deren Zeichenhaftigkeit eine „ursprüngliche“ Spaltung in sich trägt (sie ist je durch die „Als-Struktur“ gekennzeichnet) und von einer unversöhnlichen, inhärenten und apriorischen Differenz kündet. Das (Schrift-)Zeichen als Spur verstanden ist auch selbst nicht präsent, „sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet“ 225 ; „sie [die Spur] verweis[t] nicht auf eine Abwesenheit, soweit sie einen ‚Abdruck‘ hinterließ[e], sondern [ist] selbst schon vorübergegangen, abwesend“ 226 . Will man in diesem Zusammenhang den Begriff der „Präsenz“ dennoch benutzen, dann nur im Sinne des Zeichen-Konstrukts oder -Produkts, das nicht mehr in der Lage ist, auf ein „[A]ußerhalb des Texts bzw. des Kontexts“ 227 zu verweisen, sondern nur innerhalb einer Spuren-Ordnung eine sekundäre und vorläufige Existenz erlebt. 228 224 Ders.: „Das Ende des Buches...“, S. 41. 225 Ders.: „Die différance“, S. 142. 226 Mersch, Dieter: Was sich zeigt – Materialität Präsenz Ereignis, München: Wilhelm Fink 2002, S. 340. 227 Vgl. Derrida: „Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion“, in: Ders., Die différance…, S. 290. 228 „Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz 66
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Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Derrida für die Beschreibung der neudefinierten Relation zwischen Präsenz und Repräsentation unter den Begriffen der Spur und der différance, die als Spiel oder Bewegung, welche Zeichen und Zeichensysteme als in sich genuin und ontologisch gespalten, als „Gewebe von Differenzen“ 229 herausstellt, definiert wird, ein in großem Umfang vom raumzeitlichen Diskurs geprägtes Vokabular benutzt. Die derridasche Philosophie dekonstruiert die Begriffe der Gegenwärtigkeit und der Anwesenheit, die er als andere Namen seines essentialistischen Präsenz-Begriffs und meines Erachtens eher als Synonyme von A-Chronie (Entzeitlichung) und A-Topie (Enträumlichung) versteht und strebt sozusagen die (Wieder-)Anerkennung und Hervorhebung der räumlich-zeitlichen Struktur von Zeichen und Zeichensystemen an. Begrifflichkeiten wie Wiederholung oder Iterabilität (als Eigenschaft und sogar Privileg des Zeichens), Verspätung und Verzögerung (als zentrale Funktionen der différance), Nachträglichkeit (der Präsenz gegenüber ihrer Repräsentation 230 ), Abstand und Intervall (als Merkmale der Spur), Verräumlichung und Temporisation oder Temporalisation und Ähnliches bilden die derridasche Standard-Terminologie, die dazu verwendet wird, um die Relation zwischen Repräsentation und Präsenz zu bestimmen und die Eigenschaften von Spur und différance zu verdeutlichen und zu konkretisieren. Demnach zeugt die différance von einem steten Unterscheiden und Aufschieben im Zeichen selbst und im Zeichensystem, welche somit mit räumlich-zeitlichen Qualitäten versehen werden: „Différer [...] heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren, welcher die Ausführung oder Erfüllung des ‚Wunsches‘ oder ‚Willens‘ [i.e. der Suche nach der verlorenen Präsenz?, BdV] suspendiert und sie ebenfalls auf eine Art verwirklicht, die ihre Wirkung aufhebt oder temperiert.“ 231
Etwas später kommt Derrida zu folgender Definition des Verbums différer, die zwei Bedeutungen von différance (i.e. Unterscheiden und Aufimmer ‚nachträglich‘, im nachherein und zusätzlich [supplémentairement] rekonstituiert wird. Das Aufgebot des Nachtrags [supplément] ist hier ursprünglich und untergräbt das, was man nachträglich als Präsenz rekonstituiert.“ (anlässlich der freudschen Überlegungen zum „Übersetzungsmechanismus“ des „unbewußten Gedankens“, Ders.: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: Die différance…, S. 240. 229 Ders.: „Die différance“, S. 124. 230 Siehe hierzu die epigrammatischen Formulierungen von Dieter Mersch: „Das Jetzt geschieht danach“ und: „Das Vorträgliche ist das Nachträgliche“, in: Was sich zeigt..., S. 361 und 363. 231 Derrida, „Die différance“, S. 117. 67
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schieben) verbindend: „das différer als Unterscheidbarkeit, Unterscheidung, Abweichung, Diastema, Verräumlichung, und das différer als Umweg, Aufschub, Reserve, Temporisation.“ 232 Derrida ersetzt die Begriffe Gegenwärtigkeit und Anwesenheit, die er eher mit Begriffen wie Ewigkeit, Allgegenwart etc. konnotiert und in diesem Sinne mit einer starren, etablierten und unveränderbaren Allmacht assoziiert, mit Begriffen, die sozusagen Zeit und Raum fließen lassen, die raumzeitliche Bewegung ins Spiel bringen, und lässt alle Repräsentationspraxis deutlich als Chronologie und Topologie erscheinen. Es ist selbstverständlich, dass sich die derridasche Philosophie keineswegs in solcher Kürze vorstellen, geschweige denn umfassend diskutieren lässt. Für meine Arbeit allerdings bildet die Dekonstruktion des Präsenz-Begriffs – als immobile A-Chronie und A-Topie verstanden – und die a priori sich räumlich und zeitlich artikulierende Struktur des Zeichens und des Zeichensystems, die entsprechend Gegenwart als solche nicht mehr zulässt, einen interessanten, zu beachtenden Aspekt, der durchaus aus den hier selektierten und vorgestellten Eckpunkten deutlich hervorgeht. Die sich präsentierende Präsenz Den völlig entgegengesetzten Begriff von Präsenz entwickelt Dieter Mersch in erster Linie und auf ausführliche Weise in seinem Buch Was sich zeigt – Materialität Präsenz Ereignis 233 . Schon der Titel fasst in wenigen aber ausschlaggebenden und in der Schrift dominierenden Worten zusammen, was für ein Präsenz-Verständnis hier zugrunde gelegt und exponiert wird: Präsenz ist das, was sich [im Zeichen oder im Repräsentationsakt] zeigt; die besondere Materialität [der Vehikel der Kommunikation], als Ekstase verstanden, die sich als Akt vollzieht i.e. ereignet. 234 Anstelle der metaphysischen Präsenz, die nach Derrida gerade in Nicht-Präsenz umschlägt, setzt Mersch eine sehr wohl „physische“ Präsenz, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich als Körper oder Fleisch des Zeichens und der Kommunikation begriffen und ausgelegt. Diese materielle und (sich) zeigende Seite des Zeichens entbindet Mersch teilweise von deren Funktion als Signifikant und spricht ihr „ein[en] Überschuß, eine Unerschöpflichkeit [anderswo: Undarstellbarkeit (36), Unverfügbarkeit (406)]“ 235 zu. Das Zeichen ist in diesem Sinne mehr als seine Funktion als Verweisendes; es geht niemals auf in dem,
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Ebd., S. 134. Siehe Anm. 226 dieses Kapitels. Vgl. Mersch, S. 26 und 27. Ebd., S. 407. 68
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was es bezeichnet, sondern ihm ist ein beharrender Rückstand inhärent, der von seiner Präsenz zeugt oder vielmehr seine Präsenz ausmacht: „[Es] trägt sich ein doppelter Rückstand ein, der sich der Reduktion auf Bedeutung oder Struktur widersetzt: Präsenz und Präsentation, worin sich ihre [der Zeichen] Gegenwart zeigt. Sie [die Zeichen] teilen diese in Materialität und Praxen, freilich so, dass deren Präsenz als Präsentation geschieht. Erstere nennt das Ekstatische, das je besondere Sichzeigen, letztere die spezifische Weise des Vollzug (sic), dessen Performativität.“ 236
Von Belang ist in diesem Zusammenhang die räumlich-zeitliche Strukturierung und Wirkung des Ereignisses in seinem fundamentalen Verhältnis zu Präsenz. Mersch sieht eine zweifache Relation zwischen Präsenz und Ereignis: Einerseits ist das Erscheinen, das berühmte Dass der Präsenz, als Ereignis aufzufassen, insofern es als Akt der „Setzung [...] [dem Zeichen bzw. dem Symbolischen] einen Platz ein-räumt“ 237 ; andererseits geht Präsenz immer einher mit dem Ereignis ihrer Präsentation, das als „Vollzug[] ihrer ‚Gegenwärtigung‘“ 238 zu verstehen ist und sie als Zeitlichkeit bzw. sich zeitlich artikulierende erscheinen lässt. 239 Präsenz kommt dementsprechend eine Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu gemäß ihrer doppelten Ereignishaftigkeit. Diese sind allerdings nicht als Expansionen in Raum und Zeit zu verstehen, sondern unter der Prämisse einer augenblicklichen Manifestation 240 zu erfassen. Der Zeitmodus der merschschen Präsenz ist „das absolute Präsens: der Augenblick“ 241 , das sich als „Riß in der Zeit“ 242 bekundet. Präsenz identifiziert sich in diesem Kontext mit der absoluten und radikalen Gegenwärtigkeit und Anwesenheit, deren Wirken blitzartig manifest wird bzw. geschieht. 243
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Ebd., S. 164. Ebd., S. 134. Ebd., S. 181. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 195. Ebd., S. 134. Ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 134. Obwohl Mersch diesbezüglich auf Bohrers Verständnis vom absoluten Präsens verweist (siehe hierzu S. 49-51 im Text), korrespondieren seine Überlegungen meines Erachtens mit dem von Gaston Bachelard entwickelten Begriff der Präsenz als instant (siehe hierzu S. 34ff. im Text): Merschs Konzept vom präsenten Augenblick ist eher das des sich als Ganzheit manifestierenden, erfüllten und schöpferischen, aktiven instant, das Präsenz als die radikale, absolute – untilgbare, beharrende – Gegenwärtigkeit und Anwesenheit erscheinen lässt. Bezüglich des „Augenblicks der Fülle“ siehe auch: Ders.: „Paradoxien der Verkörperung“, 69
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Merschs hier mehrfach zitierte Studie favorisiert im Prinzip keinen konkreten Code oder kein spezielles Zeichensystem, das als adäquater Ausgangspunkt für seine theoretischen Überlegungen dienen würde. Obwohl er zu Beginn drei hinsichtlich seiner Theorie aussagekräftige Beispiele, nämlich den (organischen) Körper, das Bild (das Kunstwerk) und die Stimme als Medien oder zeichenproduzierende Topoi vorausschickt und diskutiert, hält er im Laufe seiner Untersuchung nicht an einer Differenzierung der Codes fest, sondern scheint eine allgemein (auf jedes Zeichensystem) anwendbare Theorie entwickeln zu wollen. In einem späteren Essay 244 allerdings konstatiert er eine immanente Differenz zwischen ästhetischen (gegliedert „nach Bild und Ton“) und diskursiven (gegliedert „nach Wort und Zahl“) Medien, 245 die er als eine „unüberwindliche“ Unterscheidung „zwischen Wahrnehmung und Erscheinen auf der einen Seite und Textur und Diskurs auf der anderen Seite“ 246 versteht. Hinsichtlich des „Gehalts an Präsenz“ der derart differenzierten Medien(produkte) behauptet er, dass erstere „es mit Präsenzen zu tun [haben]“, letztere eher „mit Schnitten, Einteilungen und Nicht-Präsenzen.“ 247 Hierdurch re-etabliert und regeneriert sich meines Erachtens das Schema „Präsenz versus Repräsentation“ und eröffnet sich erneut die Kluft zwischen den in Rede stehenden Begriffen, die sowohl Mersch als auch Derrida auf die eigene Art und Weise zu überwinden trachteten! Die theatrale Aufführung bildet das Feld par excellence der Überwindung dieser Kluft und der Aufhebung der Differenz, indem sie eine andere – das heißt nicht rivalisierende – Relation zwischen Präsenz und Repräsentation ermöglicht und vorschlägt. Die Aufführung ist das Feld der Konnexion und Diffusion von Repräsentationsprozessen und Präsenzepiphanien schlechthin. Das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen dem szenischen Da- und Sosein und dessen eventueller Zeichenhaftigkeit und die daraus resultierende Verunsicherung stellt eins der interessantesten – und damit ist gemeint, der spannungsreichsten und -evozierendsten – Spezifika der Aufführung dar. Darin ist unter dem Aspekt der Betrachtung der szenischen Erscheinung(en) als Simultaneität bzw. Interaktion und Wechselwirkung von Präsentation und Repräsentation das Verhältnis letzterer nicht mehr als
244
245 246 247
in: www.momo-berlin.de/Mersch_Verkoerperung.html, Zugriff am 17/8/2004, S. 11. Ders.: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: Krämer, Sybille (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 75-95. Ebd., S. 84. Ebd. Ebd. 70
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oppositiv, sondern meines Erachtens eher als komplementär 248 zu definieren. Fischer-Lichte hat mehrfach 249 auf diesen Sachverhalt hingewiesen, dass nämlich das Konzept von Präsenz und Repräsentation als antithetische Glieder nicht aufrechtzuerhalten ist. Dabei geht sie von den Begriffen der Performativität und des Ereignisses aus, „welche für Aufführungen konstitutiv sind und [...] den Begriff der Aufführung wesentlich (mit-)bestimmen“ 250 und die als „geeignete heuristische Instrumente“ 251 zu einer differenzierten Definition unter anderem des Verhältnisses zwischen Präsenz und Repräsentation anwendbar sind. Indem Fischer-Lichte die (theatrale) Aufführung prinzipiell als performativ und ereignishaft konzipiert, konstatiert sie als deren Ureigenschaft sozusagen, dass sie „ihre eigene Performativität und Ereignishaftigkeit“ 252 – und das heißt, ihre Präsenz 253 – repräsentiert. Die Autorin legt diesbezüglich bestimmte Aufführungsbeispiele zugrunde, die auf explizite Art und Weise „mit ihrer Materialität, Medialität und Semiotizität [...] [und] mit den Konzepten der Performativität und Ereignishaftigkeit [spielen]“ 254 und dadurch „geläufige[] Gegensätze [unter anderem auch zwischen Präsenz und Repräsentation, BdV] [...] hinterfragen und redefinieren“ 255 und grenzt somit das Forschungsfeld und die -erträge entsprechend ein. Nichtsdestotrotz und gemäß Fischer-Lichtes Argumentation ließe sich verallgemeinernd behaupten – ohne die Regeln der Semiotik zu verletzen –, dass die Aufführung überhaupt zunächst bzw. fortlaufend (ihre) Präsenz repräsentiert. Diese Behauptung lässt sich im Hinblick auf die chronotopischen – i.e. primären – Terme der Präsenz, nämlich das szenische hic et nunc, plausibilisieren und ferner präzisieren. Jede szenische Präsenz stellt zuerst ein Zeichen ihres szenischen Hier und Jetzt dar; jedes präsente Ob-
248 Das Verhältnis von Präsenz und Repräsentation hat allerdings in der Aufführung eine klare Richtung: Präsenz stellt die Bedingung der Möglichkeit der Repräsentation dar, indem sie eventuelle semiotische Prozesse einleitet und fortlaufend konditioniert. In diesem Sinne sind letztere „als prinzipiell offen und unabschließbar zu begreifen“ (Fischer-Lichte, Erika: „Performativität und Ereignis“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/ Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hg.), Performativität und Ereignis, Tübingen, Basel: Francke 2003, S. 28), da sie stets von der jeweiligen präsenten Situation abhängig sind (darauf komme ich noch zu sprechen). 249 Siehe ebd; außerdem: Dies.: Ästhetik des Performativen, S. 255-261. 250 Fischer-Lichte, „Performativität und Ereignis“, S. 17. 251 Ebd., S. 28. 252 Ebd., S. 31. 253 Siehe hierzu ebd., S. 27 und 31; darüber hinaus, das merschsche Verständnis von Präsenz, wie oben erläutert. 254 Ebd., S. 31. 255 Ebd., S. 32. 71
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jekt oder jede präsente Situation lässt vorerst die präsente Raum-Zeit sichtbar (wahrnehmbar) werden und fungiert in diesem Sinne als deren Repräsentant. Auch die präsente Raum-Zeit an sich – als erste Setzung und Bedingung der Möglichkeit der Aufführung – verweist zuallererst und darüber hinaus andauernd auf das szenische hic et nunc, und das heißt auf sich selbst. Betrachtet man nun Präsenz in ihrer triadischen Struktur (etwas hier jetzt) als Ganzheit, so lässt sich die oben gestellte Behauptung radikalisieren: Präsenz ist in der Regel nicht (anders) repräsentierbar – sonst wäre sie nicht präsent! – denn durch sich selbst. Die Betrachtung der szenischen Präsenz als Ganzheit triadischer Struktur lässt auch die Kombinierung und Fruchtbarmachung der derridaschen und merschschen Ansätze zu, und zwar hinsichtlich deren chronotopischen Gegebenheiten: Einerseits nämlich bildet das Hier und Jetzt eine ständige „Nebenwirkung“ – im Sinne eines stets vorhandenen Signifikats – jeglicher szenischen Erscheinung und könnte in diesem Sinne als repräsentierte Präsenz aufgefasst werden; andererseits allerdings – und indem es eine Nebenwirkung darstellt – ist es jeglicher Erscheinung eingebunden oder eingeschrieben; das heißt jede Erscheinung bringt es mit sich und lässt es erscheinen. In diesem Sinne würde ich eben diesen Gehalt an Raum und Zeit, der allem Erscheinenden inhärent ist, als das Beharrende und Untilgbare der Präsenz ansehen. Diese doppelte Eigenschaft von Präsenz – so wie sie die Arbeit konzipiert –, sowohl als Materialität als auch als Immaterialität zu fungieren, führt zurück zu den oben vorgestellten Präsenztheorien und zum konstatierten Spezifikum, dass Präsenz nicht anders als ein ständiges Oszillieren zwischen Sein und Nicht-Sein zu begreifen ist. 256
Gliederung der Arbeit Es fehlt noch zum Schluss ein detaillierter Navigationsplan der Schrift, der die konkreteren Fragen den verschiedenen Arbeits- oder Themenbereichen zuordnet und dadurch Arbeitsrichtungen und -konturen deutlicher macht:
256 Siehe hierzu: Präsenz/Aufführung: Bemerkungen und Fragen, insbes. S. 56. 72
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Die Präsenz der Aufführungen 257 Jede Aufführung wird zunächst im Hinblick auf ihre raumzeitlichen Gegebenheiten analysiert. Ich werde dadurch versuchen, die Parameter und die Faktoren aufzuspüren und herauszuarbeiten, die das szenische RaumZeit-Bild mitgestalten. Die Fragen, die mich durch die Aufführungsanalysen begleiten oder leiten und die mir zu einer Beschreibung und Deutung des jeweiligen Aufführungs-Chronotopos 258 verhelfen werden, lassen sich folgendermaßen formulieren: • Auf welche Art und Weise werden der Raum und die Zeit gestaltet? • Auf welche Art und Weise werden die raumzeitlichen Gegebenheiten instrumentalisiert? • Lässt sich eine bestimmte Fokussierung auf jeweils spezifische Aspekte des Chronotopos feststellen? Wenn ja, wie artikuliert sie sich genau und was trägt sie an Bedeutungen zur Inszenierung der RaumZeit bei? Anschließend wird bei jeder Aufführungsanalyse jeweils eine Komponente des Präsenz-Terminus fokussiert, durch die sich die Opposition Präsenz-Absenz kondensiert und für die gesamte Aufführung verbindlich und entscheidend artikuliert. In diesem Zusammenhang wird dann auch das betreffende Theaterstück Strauß’ miteinbezogen, allerdings nur und strikt unter dem Prisma der Annäherung ans hier angesprochene Oppositionspaar. In diesem zweiten Teil wird es also, anders gesagt, um den Vergleich bzw. die Art und Weise der Korrespondenz zwischen dem (zentralen) Medium der Präsenzartikulation einerseits und dessen Manifestation im geschriebenen Text andererseits gehen. In diesem Sinne werden mich folgende Fragen beschäftigen: • Inwiefern stellt die jeweils ausgewählte Komponente des PräsenzTerminus einen zentralen und entscheidenden Strukturparameter für die gesamte Aufführung dar? • Auf welche Art und Weise artikuliert sich Absenz bzw. Präsenz im Rahmen der Behandlung des jeweils ausgewählten Mediums? • Inwiefern lässt sich diese Dialektik von Präsenz und Absenz nachvollziehen? Wie lässt sich die Korrespondenz zwischen Präsenz und Absenz beschreiben und definieren? 257 Die vorliegende Arbeit hat sich auf die im Archiv der Schaubühne am Lehniner Platz sich befindenden Videoaufzeichnungen der zu analysierenden Aufführungen gestützt. Fragestellung und Argumentation haben selbstverständlich diesem Sachverhalt Rechnung getragen. 258 Die Arbeit verwendet im Kontext der Aufführungsanalysen den Begriff der Raum-Zeit als ein Synonym des Chronotopos und versteht darunter den Raum und die Zeit des szenischen Ereignisses in ihrer Korrelation. 73
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Abschließend werde ich mich detailliert mit der jeweils konkreten Manifestation von Präsenz befassen. Die Leitfrage, von der meine in diesem Kontext theoriebezogenen Überlegungen ausgehen werden, lautet diesmal: Welche(s) Konzept(e) von Präsenz ist/sind unter welchen Voraussetzungen, Beschränkungen oder Modifizierungen anwendbar? Die Präsenz der Aufführung (Epilog) 259 Die Arbeit wird mit dem Versuch abgeschlossen, die unterschiedlichen Präsenz-Konzepte in theaterwissenschaftlichem Kontext (allerdings vom konkreten Arbeitskontext ausgehend und auf diesen zurückkommend) zusammenzudenken und eventuell einen Rahmen zu formulieren, der in der Lage wäre, die Nuancen und Bedeutungen des in Rede stehenden Terminus mit einzubeziehen und in Verbindung zu bringen. Den Ausgangspunkt derartiger Überlegungen werden hierzu folgende Fragen bilden: • Inwiefern und unter welchen Bedingungen ließe sich das szenische Ereignis im Generellen als ein Realisierungsfeld der Dialektik zwischen Absenz und Präsenz konzipieren und beschreiben? • In welchem Sinne sind die diversen Präsenzkonzeptionen theaterwissenschaftlich zu kontextualisieren? • Welche Merkmale sind dem szenischen bzw. theatralen Präsenzbegriff zuzuschreiben?
259 (Hypo)Thesen, Ansätze und (erste) Überlegungen sollen den Abschnitten Präsenz/Aufführung: Bemerkungen und Fragen (S. 55ff.), Die ekstatische Präsenz (S. 61ff.) und Präsenz versus Repräsentation? (S. 64ff.) entnommen werden. 74
DIE FREMDENFÜHRERIN 1 Botho Strauß Regie: Luc Bondy Bühnenbild: Dieter Hacker, Karl-Ernst Herrmann Kostüme: Susanne Raschig Dramaturgie: Dieter Sturm Musik und Tonmontage: Hans Peter Kuhn, Christian Venghaus Regieassistenz: Mark Blezinger, Matthias Gehrt Bühnenbildassistenz: Vassilios Veneris Kostümassistenz: Miriam Eich Fremdenführerin: Corinna Kirchhoff Lehrer: Bruno Ganz Junger Mann: Stephan Maeder Lucia Lambertini, Ingeborg Mund-Heller, Junian Maun Uraufführung: Schaubühne am Lehniner Platz Premiere: 15. Februar 1986
Beschreibung und Analyse Das Bühnenbild Die Story spielt in drei unterschiedlichen Räumen („Stadion von Olympia“, „Martins Ferienbungalow“ und „Berghütte“), deren Darstellung allerdings von einem einheitlichen Bühnenbild ausgeht. Die Bühne hat die Form einer halben Ellipse (der die Form einer antiken Orchestra assoziieren lässt) bekommen, indem zum einen dem tatsächlichen Bühnenboden eine zweite kreisförmige Fläche und zum anderen ein weißer, leinwandartiger, ebenfalls gekrümmter Hintergrund, der diesen zweiten Boden umkreist, hinzugefügt worden sind. Zudem entsteht auch ein amphitheatralischer Eindruck, da der zusätzliche Boden in 1
Strauß, Botho: „Die Fremdenführerin“, in: Spectaculum 44, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1987, S. 267-295 – Videoaufzeichnung (Schaubühne am Lehniner Platz). 75
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einer ca. 30° Neigung nach oben endet. Die Bühnendecke ist ebenfalls in derselben Form gestaltet worden, sodass das Gesamtbild der Bühne die Form eines halben Zylinders annimmt. Die Oberfläche des Bühnenbodens erinnert an eine geologische Landkarte, indem sie sich aus braun/gelben und blauen unregelmäßigen Formen (so wie die Erde und das Meer dargestellt werden) zusammensetzt. Im vorderen rechten Bereich befinden sich dicht nebeneinander zwei braun-grüne Konstruktionen, die Felsen darstellen (sollen); mitten im hinteren Rand des Bodens befindet sich ein weiterer „Fels“ (der die Form eines Dreiecks hat). Die weite Tiefe des Raums, intensiviert durch die krumme Kontaktlinie des Bodens (die insofern als eine Art Horizontlinie betrachtet werden kann, als sie das Gefühl entstehen lässt, als erstrecke sich der Raum weit hinter der Bühnengrenze) und der weißen Leinwand, die die meist helle Beleuchtung reflektiert und noch gleißender erscheinen lässt, verursacht eine Verkleinerung der Gestalten (der Requisiten und vor allem der Schauspieler) und vermittelt den Eindruck einer grenzenlosen Leere.
Akt I Der Raum des Stadions (1) Das oben beschriebene Bühnenbild (mit vier weißen länglichen Platten ausgestattet, die nebeneinander, parallel zur Rampe, in Höhe der vorderen Felsen platziert worden sind) stellt das „Stadion von Olympia“ dar, in dem sich die Szenen 1 und 13 des I. Akts ereignen. Ein blaues Licht leuchtet aus der Kontaktlinie der Decke mit der Leinwand, und ein helles Licht verbreitet sich im Raum; am hinteren Rand des Bodens, links vom Felsen, erscheint eine junge Frau, Kristine, in einer roten, wadenkurzen Hose und einem bunten Hemd und bewegt sich rasch ganz nach vorne, gefolgt von einem älteren, erschöpft aussehenden Mann in grauem Anzug, Martin. Nach einer längeren Stille, während Martin die Bühne deutlich langsamer herab zu ihr durchquert und sich links neben Kristine positioniert, beginnt Kristine ihre Führung durch das Stadion. Dabei verfolgen die beiden zwei verschiedene Laufbahnen, die, ohne zeitlich oder räumlich zusammenzufallen, parallel verlaufen: Martin bewegt sich fast am hinteren Rande der Bühne, unterbricht oft seinen Gang, um eine Sehenswürdigkeit näher zu beobachten und gelangt zum Schluss an die weißen Platten rechts neben Kristine, die während ihres Vortrags einen kürzeren Bogen zurückgelegt hat. Dort endet Kristines Rede mit einer präzis ausgeführten Imitation des Laufstarts der Athleten, bei der ihr Gesäß dicht neben Martins Gesicht – er hat sich
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niedergekniet und beobachtet sie voller Aufmerksamkeit und Verblüffung – demonstrativ figuriert. Während der Führung und des ersten Teils des Dialogs entsteht ein Blickkontakt zwischen Martin und Kristine nur äußerst selten; jeder einzelne vollzieht seine eigenen Bewegungen, ohne den anderen tatsächlich wahrzunehmen. Sie nähern sich ab und zu an, doch dies scheint zufällig zu geschehen: Bald darauf entfernen sie sich wieder und setzen ihre eigene Tätigkeit fort. Die eigentliche Wahrnehmung des einen vom anderen, die auch einen direkten Blickkontakt impliziert, vollzieht sich im zweiten Teil des Dialogs (269), während dessen Kristine sich zunächst zurückhaltend Martin annähert. Das Ende des Dialogs vollzieht sich rund um die vorderen Felsen: Während Martin sich erschöpft vor die Felsen setzt, sich an sie lehnend und die Beine nach vorne streckend, klettert Kristine von der hinteren Seite auf die Felsen und legt sich auf sie hin. Die Bühne verdunkelt sich langsam, während Kristine sich leicht aufsetzt und zu Martin hinab schaut. Sowohl die szenische Gestaltung, die den Eindruck einer grenzenlosen Offenheit vermittelt, als auch die Raumbezeichnung (als „Stadion von Olympia“), die der Führung von Kristine zu entnehmen ist, und nicht zuletzt der Bewegungsablauf der Personen 2 (die Inanspruchnahme des gesamten Raums und die freie Entwicklung der eigenen Laufbahn) definieren diesen einführenden Raum als einen neutralen (er besitzt keine für die Personen verbindlichen Eigenschaften), offenen Treff- und Kontakttopos zweier Personen, die prinzipiell die gesamte Handlung 3 der Aufführung zu tragen haben werden. 4 Der Raum des Ferienbungalows Die Mehrzahl der Szenen des I. Akts (Szenen 2-12 und 14) spielen im oder rund um den „Ferienbungalow“ Martins. Dieser ist eine schlichte kastenartige Konstruktion, deren vier „Wände“ aus Glas sind (die vorde2
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Den Begriff der Person verwende ich in der Arbeit nicht in seiner Bedeutung als Charakterwesen, der mit einer Personen-Identität einhergeht; vielmehr wird er in den Aufführungsanalysen als Synonym des Agierenden eingesetzt, der einen Schauspieler meint, der sowohl auf der Bühne Handlungen und Aktionen vollzieht, als auch als Verkörperung einer Rolle zu verstehen ist. Die Arbeit verwendet den Begriff der Handlung insgesamt eher in seiner Bedeutung als Aktion, (Gesamtheit der) Aktivität, Tat und nicht im Sinne von Plot (begriffen als „das verstehbare Ganze, das die Abfolge der Ereignisse in einer Geschichte bestimmt“; „Eine Geschichte besteht in dem Maße aus Ereignissen, in dem der Plot die Ereignisse zu einer Geschichte macht.“ Ricœur Paul: „Erzählte Zeit (1980)“, in: Köveker u.a. (Hg), Chronologie, S. 158), Story und Geschichte (des Dramas oder der Aufführung). Es soll später noch einmal auf den Stadion-Raum eingegangen werden. 77
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re und hintere Seite sind gläserne Schiebetüren). An der linken „Wand“ befinden sich ein kleiner weißer Tisch, ein schwarzer Drehstuhl und die weiße Haustür. An der hinteren „Wand“ befinden sich eine ebenfalls gläserne Duschkabine (die Glasscheibe, welche die Duschkabine vom restlichen Zimmer trennt, ist mit weißen Jalousien versehen und dadurch oft nicht einsehbar) und ein weißer Stuhl aus Metall und Leder. Senkrecht zur rechten „Wand“ ist schließlich ein tiefes Bett gestellt, mit einem blauen Bettlaken bedeckt. Diese kastenförmige, schlichte, durchsichtige Konstruktion ist mitten (präziser: im rechten Bühnenbereich) in der öden Umgebung (des vorhandenen Bühnenraums der Szene 1) platziert und wird immer wieder nach hinten und nach vorne versetzt, je nachdem, ob die Handlung im Zimmer oder im (von Strauß so genannten) „Vorgarten“ bzw. rund um den Bungalow spielt. 5 Es wäre hier, hinsichtlich der permanenten Handlungsverschiebung von innen (Zimmer) nach außen (Vorgarten, Umgebung) und umgekehrt, von zwei Handlungsräumen zu sprechen, deren chronotopische Qualitäten hauptsächlich aus der Aktivität der Personen entstehen. 6 Die Gestaltung dieses zweiten Aufführungsraums, in dem sich Kristine und Martin kennen lernen, demonstriert, im Vergleich zum Begegnungsraum (dem Stadion), eine wesentliche Verengung und erlaubt zunächst von einer relativen Offenheit zu sprechen, im Sinne eines begrenzten, aber dennoch mit Ausgängen und Fluchtwegen versehenen Raums. Kristine und Martin im Kennenlernfeld Die 2. Szene des I. Akts stellt eine Art Mikrographie des gesamten Kennenlernprozesses dar, so wie er im übrigen Akt entwickelt und vollzogen wird, und soll deshalb hier näher betrachtet werden. Das Zimmer wird von einem sehr schwachen Licht beleuchtet, es ist Nacht; zusätzlich ist die Duschkabine von einem blauen Neon-Licht durchstrahlt. Martin schläft und Kristine sucht im Halbdunkeln nach dem Telefon; dabei weckt sie Martin auf, der seine Unterwäsche und seine Brille zu finden versucht, während Kristine sich am linken Rand des Bettes aufsetzt und telefoniert. Daraufhin beginnt ihr Dialog, dessen größter Teil auf dem Bett gesprochen wird. Kristine zeitigt eine große Beweglichkeit, während sie spricht: Sie gestikuliert ausdrucksvoll, beugt ihren 5
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Die verschiedenen Platzierungen des Bungalows sollen nicht als festgesetzte Positionierungen verstanden werden; er wird eher beliebig oder im Hinblick auf das zu resultierende Raumbild bewegt: Die Entfernung von der Rampe differenziert sich entsprechend der jeweiligen inszenatorischen Intention. Siehe hierzu weiter im Text. 78
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Oberkörper nach vorne, setzt sich auf ihre Knie, rutscht zu Martin etc. Bemerkenswert dabei sind die Energie und die Kraft, mit denen Kristine ihre Beweglichkeit äußert. Nur für einen Moment gelingt es Martin, sie einzufangen, um sie zu küssen, doch mit einer raffinierten, fast tänzerischen Bewegung entwischt sie seiner Umarmung, rutscht während des Kusses langsam aus dem Bett zu Boden, steht schnell auf und verabschiedet sich. Der Dialog setzt sich jedoch für eine Weile fort: Martin steht auf, beginnt, sich anzuziehen und wütend zu werden. Kristine verlässt das Haus erst nach der Aufforderung Martins („Geh!“, 270); es vergehen ein paar Sekunden – Martin läuft durch die hintere Fenstertür hinter ihr her und ruft: „Komm wieder!“ Unmittelbar darauf verdunkelt sich die Bühne vollkommen. Aus dieser ersten Bungalow-Szene sind einige interessante Bemerkungen festzuhalten, die von Belang für die folgenden Überlegungen sind. Als erstes wäre Kristines eigenartige Beweglichkeit zu vermerken, die sich schon in der 1. Szene abgezeichnet hat. Auch in allen weiteren Szenen wird ihre Leichtigkeit und Lebendigkeit hervorgehoben: Sowohl die Schnelligkeit, mit der sie sich bewegt, als auch die äußerst wenigen Augenblicke der Ruhe und vor allem ihr fast spielerisches – ja kindliches í Bewegungsverhalten gehören zu den grundsätzlichen Charakteristika Kristines und gestalten entsprechend die chronotopischen Züge ihrer Präsenz. Als zweites wäre bezüglich der Entwicklung der Begegnungen zwischen Martin und Kristine eine gewisse Ambivalenz in der Ausdrucksweise ihrer Absichten zu bemerken, die sich jenseits der Sprache expliziert und für den gesamten I. Akt charakteristisch ist. Ihre Begegnungen sind ein ständiges Zu- und Auseinandergehen des einen zum bzw. vom anderen: Kristine wacht in Martins Zimmer auf und greift sofort zum Telefon; sie rutscht zu ihm, sie küssen sich, sie entflieht seiner Umarmung und wendet sich zur Tür, um zu gehen; doch sie kehrt noch einmal zurück, dann geht sie endgültig. Sekunden später ruft sie Martin zurück, nachdem er sie mit Worten vertrieben hat. Das „freiwillige“ Einfangenlassen Kristines von Martin, der Kuss und das Entschwinden Kristines stellen eigentlich die Quintessenz des gesamten Bühnenspiels dar: Das Geschehen ließe sich nämlich schematisch als der Versuch Martins, Kristine einzufangen, und Kristines darauf folgende „Fluchtaktionen“ auffassen. Schließlich wären hier zwei inszenatorische Interventionen zu erwähnen, die ebenfalls in der gesamten Aufführung wahrnehmbar sind. Es handelt sich zum einen um die relativ langen und zum Teil völlig unerwarteten Pausen, die zwischen den Aussagen und den Handlungen oder
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den Bewegungen eingelegt werden (siehe beispielsweise die lange Pause vor dem „Geh!“ Martins am Ende der Szene) und zum anderen um eine oftmals wahrnehmbare ironische oder distanzierte Nuance im sprachlichen Ausdrucksmodus der Schauspieler (die letzten Worte Martins „Geh!“ und „Komm wieder!“ werden eher in einem undifferenzierten und neutralen Ton ausgesprochen, der nicht nur eine gewisse Unsicherheit zeugt, sondern darüber hinaus eine gleichgültige Einstellung Martins dem Inhalt der Phrasen gegenüber erahnen lässt). Es entsteht häufig der Eindruck, als sprächen die Personen nur um des Sprechens oder des Weitersprechens Willen, oder aber als fänden sie die „passenden Worte“ nicht. Ehe ich mich der Diskussion der chronotopischen Strukturen dieser Kennenlern-Szenen zuwende, ist es sinnvoll, auf eine repräsentative Szenensequenz des Akts einzugehen, damit auch die Relationsweise der Handlungssegmente deutlich gemacht werden kann. Die Beschreibung bezieht sich auf die Szenen 6-7 und 9-10 (274-277). Szene 6: Ein schwaches Licht beleuchtet zunächst das Zimmer: In der Duschkabine lässt sich für einige Sekunden eine nackte Männerfigur erkennen, bevor Kristine die Jalousien der Duschkabinen-Glasscheibe schließt. Daraufhin erhellt sich der Bühnenraum: Kristine geht mit mehreren Kleidungsstücken in den Armen durch die vordere Fenstertür zu den Felsen und breitet sie dort aus. Sie geht wieder rasch zur Kabine zurück, bleibt einen Moment neben ihr stehen und schaut hinein; dann greift sie zum Telefon, setzt sich aufs Bett und tätigt mehrere Telefonate; irgendwann geht sie mit dem Telefon in die Duschkabine hinein. Unterdessen nähert sich Martin dem Haus, steht vor der Haustür, sucht lange nach dem Hausschlüssel, findet ihn nicht und schlägt mit der Faust genervt gegen die Tür, die sich dadurch öffnet. Er tritt ein und ruft Kristine, die sich sofort mit einem Sprung und einem Schrei aufrecht auf dem Bett positioniert. Daraufhin beginnt ihr Dialog, der parallel zu einem erotischen Akt verläuft und häufig dementsprechend unterbrochen wird: Martin nimmt Kristine in seine Arme, legt sie sanft aufs Bett, zieht ihr die Unterwäsche aus, küsst ihre Beine und ihre Genitalien und spricht von seiner festen Überzeugung, dass dies der Anfang einer langen Liebesgeschichte sein werde. Sie küssen sich, Kristine zieht ihm seinen T-Shirt aus und verrät ihm nebenbei, dass Vassili – Kristines (anderer) Liebhaber, der äußerst selten sehr kurz und stumm auftritt, der aber das Diskussionsthema schlechthin darstellt – gerade ein Bad nimmt. Martin schaut sie zunächst sprachlos an, beginnt dann auf eine Weise zu sprechen, als fände er die adäquaten Worte nicht, geht in Tränen auf, greift sie mit Gewalt, wirft sie schreiend in die Duschkabine und verlässt das Haus. Er
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sieht die Kleidungsstücke, packt sie und schleudert sie voller Wut gegen Kristine, die sich ihm zur gleichen Zeit anzunähern versucht. Nach den letzten Worten Kristines verdunkelt sich der Raum schlagartig. Szene 7: Es ist Nacht – nur ein sehr schwaches Licht beleuchtet teilweise den Raum. Kristine liegt zusammengerollt vor dem Haus, Martin schläft in seinem Bett. Plötzlich setzt sich Kristine auf, schaut zum Haus hin, rutscht bis zur Fenstertür, setzt sich auf ihre Knie, klopft an die Fensterscheibe und fordert – mit relativ leiser Stimme allerdings – Martin auf, aufzustehen. Martin kehrt ihr den Rücken zu und schläft weiter. Der Raum verdunkelt sich vollkommen. Szene 9: Nacht – ein schwaches Licht beleuchtet Kristine, die auf der rechten, vorderen Ecke des Bungalowdachs hockt und liest. Nach einer Weile geht das Licht aus; einige Sekunden später geht das Licht wieder an: Kristine überquert jetzt das Dach nach links, steuert die linke hintere Kante an, kniet nieder, schaut nach unten und klopft leise gegen die hintere Glasscheibe. Das Licht geht aus. Szene 10: Das helle Licht verbreitet sich – das Haus ist relativ weit nach hinten transportiert worden. Martin steht hinter der vorderen Glasscheibe, stützt sich mit seinem Arm gegen sie und schaut mit erstarrtem Blick nach vorne; er scheint, Kristine, die vor dem Haus zwischen den Resten eines Picknicks (Tüten, Gläsern etc.) sitzt, nicht wahrzunehmen bzw. zu ignorieren. Sie sieht ihn, steht langsam auf mit einem Blatt Papier in der Hand, wendet sich ihm zu, schaut ihn an und hebt die Hand mit dem Blatt Papier zu ihm. Martin reagiert nicht darauf; Kristine kniet nieder zu ihren Sachen, nimmt ein Glas mit Honig, geht zum Haus, stellt sich vor Martin, bestreicht das Blatt Papier mit etwas Honig, klebt es an die Fensterscheibe – und zwar in der Höhe der nackten Brust Martins – und kehrt zu ihrem Platz zurück. Der Raum verdunkelt sich. Räumliche und zeitliche Qualitäten des Kennenlernfelds Der geteilte Bühnenraum korreliert deutlich mit den festgelegten Positionen und den determinierten Platzierungen der Personen im Raum. Daraus resultieren klar umrissene Räumlichkeiten, die mit den Präsenzen bzw. Präsenzartikulationen der Personen identifiziert werden können bzw. von diesen zuallererst produziert werden. Der gläserne Bungalow stellt Martins Raum dar. Dagegen residiert Kristine hauptsächlich im „Vorgarten“ des Hauses; dabei nimmt sie die gesamte Umgebung des Bungalows in Anspruch (sie kommt und geht durch den hinteren Bühnenbereich, sitzt auf dem Dach etc.). Auffallend
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bei dem Agieren der Personen ist das (überwiegend latente oder nicht explizite) Ziel der Überwindung oder Überschreitung der eigenen Grenzen. Martins Ziel ist die Expansion seiner Präsenz und zugleich die Eliminierung des von ihm unkontrollierbaren Raums. Dies soll durch die Anlockung Kristines innerhalb seiner Räumlichkeit und die Behauptung dieser als herrschende Instanz geschehen. Martin tritt aus seiner gläsernen Residenz, diesen Zweck verfolgend (wobei zu bemerken ist, dass dies äußerst selten vorkommt!). Kristine versucht in einer entgegengesetzten Richtung ihre Präsenz zu behaupten, und zwar indem sie das von Martin unerreichbare Außerhalb zu bewahren sucht. Die Distanz, die Kristine gegenüber Martin wahrt, und das ständige Auf-der-Flucht-Sein verschaffen ihr die Möglichkeit einer möglichst breiten, im wahrsten Sinne des Wortes flexiblen Existenz. Die permanenten Annäherungs- und Entfernungsbewegungen Kristines und Martins zueinander hin- und voneinander weg, die entsprechend der Verfolgung ihrer Ziele entstehen und die sich nicht nur auf unterschiedliche Weisen, sondern auch in unterschiedlichen Rhythmen vollziehen, führen zu ständigen Konfrontationen und Kollisionen (da sich keine der beiden Präsenzen durchzusetzen vermag), die sich in den leidenschaftlichen (zärtlichen oder gewaltsamen) Aktionen Martins und der ambivalenten Haltung Kristines – sie lässt sich einfangen, um flüchten zu können – artikulieren. Dadurch werden die jeweiligen Chronotopoi, die durch das personelle Dasein und Agieren strukturiert und definiert werden, als plastische Konstruktionen mit versetzbaren, elastischen Grenzen wahrnehmbar. Die zwei Handlungsräume agieren und interagieren selbst der Handlung der Personen entsprechend: Sie verschmelzen ineinander bzw. kollidieren miteinander und werden abermals wiederhergestellt. Als Zeichen für die ständig variierenden Dimensionen der Räumlichkeiten könnten auch das Versetzen des Bungalows und dessen absolute Transparenz, die eine Art Durchdringung der Umgebung ins Zimmer bewirkt, verstanden werden. In diesen Expansions- und Schrumpfungsprozessen der personellen Räumlichkeiten sind die personellen Zeitlichkeiten insofern relevant, als sie die (Inter-)Aktionen der Räumlichkeiten gestalten und rhythmisieren. Die Schnelligkeit und Beweglichkeit Kristines kontrastiert mit der Trägheit und den explosionsartigen Wutausbrüchen Martins; dabei werden spannungsreiche, innerszenische Momente produziert, die die spezifische Räumlichkeit der Räume erst generieren und gestalten. Die individuelle, auch jüngste Vergangenheit (im Sinne der dauernd vorhandenen Geschichtlichkeit 7 ) und das Aufeinandertreffen der gegenwärtigen Verhal7
Den Begriff der Geschichtlichkeit benutze ich immer in Bezug auf eine Person/einen Agierenden, und darunter verstehe ich die Eigenschaft der 82
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tensweisen im Kennenlernfeld, die als Artikulation der eigenen Zeitlichkeit zu verstehen sind, rhythmisieren die Bewegungen der Räumlichkeiten und machen sie auf spezifische Weise wahrnehmbar. Hier könnte insofern die Rede von einer Verräumlichung der Zeit sein, als sich die Zeitartikulation (auch) räumlich ereignet. Der Raum des Stadions (2) In Szene 13 wird die Handlung zum zweiten (und letzten) Mal ins Stadion versetzt, in den Raum der ersten Begegnung also. Ich möchte deswegen diesen situativen Raum abermals aufgreifen, weil ihm im Lichte der bisherigen Entwicklung eine erweiterte Deutung zugesprochen werden kann, die hier nicht unerwähnt bleiben soll. Nachdem Kristine mitten in einer Nacht aus dem Bett und dem Haus Martins verschwunden ist (Szene 12), sucht Martin sie im Stadion von Olympia, wo sie eine Führung für ein älteres Paar auf Englisch macht. Es beginnt eine wilde Diskussion, in der Martin Kristine zu überzeugen versucht, mit ihm nach Deutschland zurückzukehren. Die Bewegungsabläufe entsprechen der Ambivalenz der Unterredung: Martin versucht, Kristine an den Schultern zu packen, doch es gelingt ihr, mit einem raschen, großen Schritt nach hinten dem Zugriff zu entgehen; etwas später lässt sich Kristine von Martin, der sich an die Felsen angelehnt hat und seine Arme rund um ihre Taille gelegt hat, einfangen. Doch plötzlich stößt Martin sie zurück, entschließt sich, sie zu verlassen und entfernt sich hinter den Felsen in Richtung Hintergrund. Kristine wird offensiv und wütend und provoziert ihn; Martin erwidert und kommt bedrohlich zu ihr nach vorne zurück. Kristine kniet vor ihm nieder (eine Geste der Kapitulation?), Martin packt sie beim Hals und damit endet dieser turbulente Dialog. Für den subversiven Ton der Szene sorgt das Paar der Touristen, die für eine längere Weile auf der Bühne anwesend sind und nebenbei einige Informationen von Kristine erhalten: Sie sehen zunächst äußerst überrascht aus – der Herr fotografiert sogar die beiden! –, dann schreiten sie sich zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten und zum Schluss ziehen sie sich zum hinteren Felsen zurück, wo sie eine Verschnaufpause einlegen, ehe sie langsam abtreten. Das Ende der Szene ereignet sich an den vorderen weißen Platten: Der Raum verdunkelt sich, ein Spotlight richtet sich auf Martin und Kristine, die sehr dicht beieinander – sein rechter Arm durchkreuzt ihren linPerson/des Agierenden sowohl geschichtlich (Teil der Geschichte) zu sein, als auch und vielmehr eine (individuelle) Geschichte zu haben (oder zu sein); so wie der Begriff in der Arbeit eingesetzt wird, fokussiert er (interessanterweise) vielmehr das Präsens, im Sinne, dass Geschichtlichkeit eigentlich die sich hier und jetzt zeigende (individuelle) Geschichte meint. 83
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ken am Ellbogen – und mit dem Rücken zum Publikum die Position zu einem Laufstart einnehmen; sie heben gleichzeitig ihre Köpfe und richten ihren Blick in die Tiefe des Raums; die Bühne verdunkelt sich vollkommen. Die Positionierung der Personen als rivalisierende Kämpfer deutet explizit auf die Situation des II. Akts hin, in dem der Kampf ums Durchsetzen und Aushalten radikalisiert wird. 8 Zugleich lässt sich die Bezeichnung des „Stadions“ als Generierungs- oder Mobilisierungstopos der kämpferischen Mächte retrospektiv auch für die 1. Szene anwenden: Das, was bisher zu beobachten war, betraf die wiederholenden Kollisionen zwischen zwei unterschiedlichen Machtentwicklungen, die immer im Zuge sind, sich durchzusetzen, und immer daran scheitern. Zudem wird der Raum des Stadions als Begegnungstopos bestätigt, indem er in dem Moment als Handlungsraum wiederauftaucht, in dem ein erneuter Beziehungsbeginn unter neuen Bedingungen unternommen werden soll. Insofern fungiert das Stadion als Ausgangspunkt einer Situation, die sich einmal ereignet hat und noch einmal wiederholt werden soll: als Raum des Augenblicks des ersten Aufeinandertreffens zweier Präsenzen und der (Wieder-)Geburt der von ihm verursachten Reaktionen. Das Ende des Akts (Szene 14) ereignet sich in Martins Bungalow; das heißt, dass zum Schluss der 13. Szene noch nichts entschieden ist. Den ausschlaggebenden Impuls eines „Neuanfangs“ gibt ein Vorkommnis, das mit der Beziehung zwischen Martin und Kristine (und das bedeutet hier mit ihren eigenen Entscheidungen) im Grunde nichts zu tun hat und insofern durch das oben angesprochene Außerhalb initiiert wird: Vassili stirbt und die fassungslose, verwirrte Kristine unterwirft sich Martins Macht. Damit ist der Weg des „Neuanfangs“ unter den Bedingungen Martins weit offen und er führt zunächst zu einem dritten Handlungsraum… Der Chronotopos des I. Akts Die Beschreibung der Aufführung und die darauf folgenden Kommentare gehen vorrangig von den Räumen, in denen sich das Bühnenspiel ereignet, aus. Es ist meines Erachtens die Gestaltung und Funktionalität der Handlungsräume, die nicht nur interessante Schlüsse auf die chronotopischen Strukturen der Aufführungssegmente (und der Aufführung insgesamt) zulassen, sondern auch als Ausgangspunkte der jeweiligen Situation dienen und in diesem Sinne die Handlung initiieren und regulieren. Insofern stellen die Raumbilder dieser Aufführung nicht nur spannende Untersuchungsgegenstände dar, sondern liefern auch aufschlussreiche und entscheidende Impulse für die weiteren Überlegungen. 8
Siehe weiter im Text. 84
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Gewährleistete der offene Begegnungstopos die freie Entfaltung und uneingeschränkte Mobilität der Personen, so schreibt ihnen der Raum des Kennenlernens – schon durch seine Gestaltung – überwiegend stabile Positionen zu und diktiert zum Teil ihre Aktivität. Umgekehrt werden allerdings den Räumen erst durch die Tätigkeit der Personen Funktionen zugesprochen und Bedeutungen beigelegt. Im Rahmen der jeweiligen konkreten Situation (der Kontaktaufnahme und des Kennenlernprozesses) und im entsprechenden Raum sind die Personen immer mehr oder weniger frei, ihre Laufbahnen und Aktionen zu wählen und zu bestimmen. Die Handlungsräume des I. Akts erweisen sich – eben wegen dieser Entfaltungsfreiheit der individuellen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten í letzten Endes als heteronome Topoi, die von den einzelnen Präsenzen und deren Interaktionen kontrolliert und formiert werden. Die Wirkungspriorität der personellen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten zeichnet sich in Bezug nicht nur auf die räumlichen, sondern auch auf die zeitlichen Qualitäten des Aktverlaufs ab. Die jeweils eigene Bewegungstaktik und -rhythmik initiiert eine Reihe von Aktionen und Reaktionen (Zu- und Auseinandergehen, Anziehen und Abstoßen, Überlagern und Kollidieren), deren verharrende Wiederkehr und Neuaufnahme die Aktzeit als einen unendlichen, rhythmischen Wiederholungsprozess der Ergebnisse des Aufeinandertreffens von zwei antithetischen Kräften bzw. von zwei differenten Tempi erscheinen lässt. Die Inszenierung fragmentiert in starkem Maße die Handlungszeit und intensiviert dadurch deren leeren (weil unendlichen) Wiederholungscharakter, indem sie einerseits lange Pausen – Raumverdunkelungen und Musikeinsatz – zwischen den Szenen einlegt und andererseits die szeneneigenen Atmosphären erheblich gegeneinander abhebt. Dies wird vor allem (nicht nur!) durch den jeweils szenenspezifischen Lichteinsatz bewirkt: Das gleißende Licht der 1. Szene, vom blauen Neonlichtstreifen umringt, wird zum schwachen, gelblichen Licht, welches das Zimmer von hinten beleuchtet, und zum starken, blauen Neonlicht, das die Duschkabine von innen durchstrahlt, in der 2. Szene. Szene 4 wiederum ereignet sich gänzlich im Licht einer Taschenlampe, die Kristine in der Hand hält; in der (fast stillen) 7. Szene beleuchtet sich das Zimmer und ein Teil des „Vorgartens“ durch ein, im Vergleich zum Licht der 2. Szene beispielsweise, schwächeres Licht von rechts, und in der stillen 9. Szene wird nur ein Teil des Dachs (vom Zimmer ist nichts zu sehen) durch ein derart blasses Licht beleuchtet, das die Bewegungen Kristines eher erahnen als sehen lässt. Die ganz eigene Atmosphäre jeder einzelnen Szene weist auf eine gewisse Autonomie des jeweiligen situativen Segments und vor allem auf die Bruchstückhaftigkeit des gesamten Sachverhalts hin.
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Insofern setzt sich der I. Akt der Aufführung aus Fragmenten einer (Liebes-)Geschichte zusammen, die sich von ihrer Form her deutlich unterscheiden, inhaltlich jedoch alle auf einer Gemeinsamkeit beruhen, nämlich dem Versuch der Personen, sich durchzusetzen. Die Fragmente der Story werden in Räumen präsentiert, die eine allmähliche Einschränkung erfahren und dadurch kontrollierbarer werden. Gleichzeitig spielt das Extrasituative, das Außerhalb (und deswegen Unkontrollierbare) im gesamten Akt eine entscheidende Rolle und eröffnet am Ende einen Ausweg aus der sinnlosen (weil ergebnislosen) Wiederholung, der allerdings mit keiner Entscheidung (im Sinne einer Praxis) verbunden ist und insofern zu einem unvorhersehbaren Ziel führt.
Akt II Der Raum Ein gewaltiger, grau-schwarzer „Berg“ besetzt jetzt fast die gesamte Bühne: Rechts am Fuß des Bergs liegt das Gesicht zur Decke gerichtet ein riesiger Menschenkopf aus dem selben Material und in den selben Farben wie der Berg (der Kopf einer Statue?), und an seiner linken Seite ist ein zusätzlicher „Berghang“ hinzugefügt, offensichtlich um die Größe der Konstruktion zu unterstreichen und die Absenz anderer Umgebung (jenseits von Bergen) explizit zu machen. In die Mitte des Bergs ist eine Höhle gegraben, die zu einem engen, kargen Zimmer gestaltet ist: Seine Ausstattung besteht bloß aus einem Fenster im Hintergrund und zwei schmalen Ein- und Ausgängen an der rechten und linken Wand. Der Hintergrund ragt rechts neben dem Fenster etwas heraus und bildet an der linken Seite (direkt neben dem Fenster also) einen Vorsprung, eine Art Sitzfläche. Als einziges Möbelstück befindet sich im Zimmer ein alter, schmaler, hölzerner Stuhl. Ein sehr schmaler Pfad, auf dem Kristine und Martin das Haus (und den II. Akt) betreten, beginnt an der rechten, vorderen Ecke des Zimmers und umringt den rechten Berghang bis zur hinteren Bergseite. Während die Höhle, in der alle neun Szenen dieses Akts spielen, und zum Teil auch der rechte Berghang meist durch ein sehr helles Licht beleuchtet werden, ist die restliche Bühne ständig unterbelichtet, sodass die dunkle, fast unsichtbare Umgebung einen eher bedrohlichen Eindruck vermittelt. Diese doppelte Bühnenbeleuchtung lässt darüber hinaus den tatsächlichen Raum des Geschehens – das Zimmer – noch enger wirken und die Akteure wie magere, zierliche Gestalten aussehen.
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Das Beziehungsfeld Dieses primitive, absolut isolierte Höhlenhaus, das die vollendete Verengung darstellt oder sogar hervorbringt, und von einer relativen (insofern, als die Ahnung eines „Draußen“, von dem man allerdings zum größten Teil nur zu hören bekommt, existiert) Geschlossenheit zu sprechen erlaubt, fungiert als der eigentliche Raum des Verhältnisses von Martin und Kristine. Die Isolation der Personen koinzidiert mit der ihrer Umgebung: Hier kommt niemand her und – vor allem – von hier geht niemand weg; hier sind die beiden ständig miteinander konfrontiert und müssen ihre im I. Akt in vollem Maße offenbarten Präsenzen einem radikal geänderten Raum und einer radikal geänderten Zeit anpassen. Die 1. Szene ist eine Einführung und ein Sich-Vertraut-Machen der Personen (und der Zuschauer) mit der neuen Raum-Zeit: Martin führt Kristine an der Hand durch den Pfad ins Haus, stellt es ihr vor und kümmert sich um das elementare Überleben (geht durch die rechte Tür Wasser suchend hinaus, nimmt das schmutzige Fenster heraus etc.); währenddessen geht Kristine wie eine Schlafwandlerin durch den Raum und schaut ihn aufmerksam und neugierig an. Sie gelangt an die linke Wand, lehnt sich an sie an und lädt Martin zu sich; er nähert sich ihr langsam an, während das helle Licht ausgeht, die übrige Bühne sich vollkommen verdunkelt, einzig das Zimmer von einem extrem weißen, gleißenden Licht für einige Sekunden durchstrahlt wird – was übrigens die Akteure als dunkle, schattige Gestalten erscheinen lässt –, ehe es sich abrupt verdunkelt. Parallel zu diesem Lichtspiel ertönen Schreie, schrille Musiktöne und verworrene Dialogfetzen mit Echo-Effekt im Raum, die auch ein Teil der zwischenszenischen Pause in Anspruch nehmen. Dieser erste Szenenabschluss (in Verbindung mit dem Raumild) kündigt die Differenzierung der Atmosphäre dieses Akts an. Er vermittelt zu Beginn den Eindruck des Betretens einer anderen Raum-Zeit, der im Laufe des Akts bestätigt und gefestigt wird: Die Licht- und Tonräume versehen den an sich schon düsteren Ort mit einer zusätzlichen verfremdenden Dimension und vervielfachen entsprechend die Deutungsmöglichkeiten dieses Chronotopos. Schon in Szene 2 wird das „angepasste“ Verhalten der Personen im neuen Raum weitgehend zutage gefördert: Das gleißende Licht verbreitet sich allmählich im Zimmer – Martin und Kristine liegen vor der linken Tür auf dem Boden; Kristine auf dem Rücken, die Beine etwas auseinander nach vorne, den rechten Arm nach rechts gestreckt; Martin links neben ihr stützt sich auf seinen rechten Ellbogen und ist zu ihr gerichtet. Der größte Teil des Dialogs wird in dieser Position ausgetragen und von minimalen Bewegungen begleitet: Martin setzt sich etwas auf und legt sich wieder hin oder streichelt langsam ihren Oberkörper; Kristine greift
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zu ihrer Tasche, die hinter ihrem Kopf liegt, ohne sich aufzusetzen, sucht kurz nach einer Schlafmaske und zieht sie vor ihre Augen. Nur am Ende der Unterredung tritt eine gewisse Hektik ein: Kristine „hört“ Rufe, setzt sich mit einer abrupten Bewegung auf, schaut sich um und horcht voller Aufmerksamkeit und Furcht, während Martin, ohne sich aufzuregen, seine Worte in der selben gelassenen Position weiterführt. Kristine steht plötzlich auf, rennt zum Fenster, springt auf die Fensterlehne und schaut hinaus, nach der Ursache der „Rufe“ suchend. Nun steht auch Martin auf, formiert in der Mitte des Zimmers seine Beine zu einer verbeugungsähnlichen Bewegung, öffnet seine Arme zur Seite, schaut kurz aufmerksam nach links, dreht sich zum Fenster, geht zu Kristine und stellt langsam und sanft seine rechte Hand auf ihre Schulter. Kristine springt mit einem Schrei des Erschreckens zur Seite der Fensteröffnung, bleibt dort eine Weile sitzen und schaut Martin aus einer gewissen Distanz zu, als wüsste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Dann bewegt sie sich doch zu ihm, umarmt ihn und drückt ihr rechtes Bein fest um seinen Körper. Ein extrem schnelles Flackern des fluoreszierenden Lichts setzt ein: Die erstarrte Umarmung Martins und Kristines ist noch eine Weile zu beobachten. Mit dem Beginn von Szene 3 kehrt wieder Ruhe ein: Nach einer langen, stillen Einleitung, während der ein sehr schwaches, graues Licht durchs Fenster und durch die linke Tür ins Zimmer diffundiert, wird es wieder hell: Martin und Kristine sitzen träge bzw. erschöpft in den beiden vorderen Ecken des Hauses (jeweils links und rechts) auf dem Boden. Das tableau vivant dauert eine Weile an, ehe der Dialog, dessen größter Teil eben dieses Bild begleitet, beginnt. Es ist wiederum das Ende der Szene, das zu einer Eskalation der Beweglichkeit führt: Während ihres kurzen Monologs (287) findet sich Kristine mit einem tänzerischen Sprung am Anfang des Pfads ein, lehnt sich dort kurz an der Grenzlinie zwischen Berg und Höhle an – Martin legt sich in der Bodenmitte auf den Rücken. Ein paar Sekunden später springt sie aufrecht auf seine Oberschenkel und tritt mit großem Druck auf sie. Die Beleuchtung ändert sich: Die Personen sehen jetzt wie dunkle Gestalten aus; Kristine springt links von Martin und stößt mit ihrem Fuß seinen Körper nach rechts; Martin rollt bis zur rechten vorderen Ecke, das Zimmer verdunkelt sich. Die Situation bezüglich der dominanten Präsenz in der gemeinsamen Raum-Zeit kehrt sich in Szene 4 um: Martin scheint diesmal die Oberhand zu übernehmen. Er schreit Kristine an, geht bedrohlich auf sie zu, packt sie am Nacken, wirft sie vom Stuhl auf den Boden, zieht sie durch den Raum, drückt ihr Gesicht auf den Boden etc. Kristine dagegen reagiert kaum: Sie folgt ihm gehorsam, hält sich an seinem Bein fest oder klettert auf seinen Rücken und umklammert seinen Körper mit ihren Armen und Beinen. Die Deeskalation geschieht hier zum Schluss der Sze-
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ne: Martin setzt sich, Kristine auf seinem Rücken tragend, auf den Stuhl, den er zur vorderen rechten Ecke der Höhle transportiert hat. Sie bzw. ihre schattigen Gestalten (das grelle Licht beleuchtet nämlich wieder das Zimmer) sprechen flüsternd ihre letzten Worten, schauen sich im Zimmer um und horchen sehr aufmerksam. In Szene 5 kehren sich die Rollen der Personen wieder um. Kristine scheint regeneriert voller neuer Kraft und Energie, Martin dagegen völlig erschöpft: Er kann sich nicht mehr auf seinen Beinen halten, kann kaum noch sprechen. Doch das Ende der Szene bedeutet abermals die Subversion der zu etablierenden Situation: Kristine ist im Zuge, das Haus durch die rechte Tür zu verlassen; Martin hat zugestimmt: Sie sollen jetzt gehen. Doch plötzlich wird Kristine am Arm gewaltsam hinaus gerissen, Martin geht langsam zur vorderen rechten Hausecke; daraufhin erscheint Kristine und eine „Pan-Figur“ im Fenster, stürzen aufeinander und schlagen einander heftig (mit einem Fächer und einer Pritsche jeweils). Kristine schlägt letztendlich ihren Rivalen in die Flucht, schaut beängstigt ins Zimmer hinein, die Beleuchtung wird schlagartig gleißend, Kristine ruft außer Atem nach Hilfe und fragt nach der Identität ihres Rivalen („Wer war das?“, 290). Das Zimmer verdunkelt sich vollkommen; nach einer langen stillen Pause ertönt die souveräne Stimme Martins mit Echo-Effekt: „Ich“ (290). Die nächste Szene beginnt, als wäre nichts geschehen... In diesem geschlossenen Sperrort der perfekten Isolation, 9 wo der Zeitfluss nicht wahrnehmbar ist und wo Göttergestalten die Menschen verfolgen, sie bedrohen oder ihnen Angst einjagen, müssen Martin und Kristine ihre (Ko)Existenz entfalten und entsprechend neu definieren und gestalten. Das produktive „Aufeinanderprallen“ zweier Präsenzen – die tatsächliche Konfrontation also –, das im I. Akt zumindest Schritte (ganz gleich ob vorwärts oder rückwärts) hervorbrachte und das hier durch die radikal eingeschränkte Bewegungsfreiheit unterbunden wird, verkommt zu einem ziel- und ergebnislosen Überlagern bzw. Entfernen der übrig gebliebenen Machtreste, die an ihr früheres, souveränes Sosein nur momentan und flüchtig zu erinnern vermögen, bevor sie wieder verblassen. Das laute Schreien Martins oder seine gewaltsame Aktionen und Kristines Versuche, das Haus zu verlassen, die sich allerdings in einem zwecklosen Hin und Her quer durch den Raum erschöpfen (Szene 6), stellen Augenblicke der Praxisversuche, der Machtoffenbarung dar. Doch kurz danach ist wieder alles vorbei: Martin kriecht kraftlos auf dem Boden (Szene 5) 9
Vgl. die schöne Formulierung Gaston Bachelards (Poetik des Raumes, Frankfurt/Main: Fischer 1987, S. 55): Die Hütte – als was sich das Berghaus verstehen lässt – „[ist] konzentrierte Einsamkeit“. 89
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– Kristine wird ohnmächtig und stürzt sich in seine Armen (Szene 6). Die permanente Steigerung und Schwächung des Pulses im Prozess der Präsenzartikulationen degradiert die Tätigkeiten der Personen zu bloß spasmodischen Aushaltensexperimenten: Die personellen Räumlichkeiten/ Zeitlichkeiten, die früher als autonome Mächte hervorgetreten sind und entsprechend wirkungsvoll gehandelt haben, schrumpfen hier entweder bis zur Unkenntlichkeit oder aber explodieren in ihren Versuchen, sich zu entwickeln, was sie wiederum entstellt und verformt. Der II. Akt stellt sich als eine beliebige (fern von kausalen oder zeitlichen Kriterien strukturierte) Aufeinanderfolge von Momentaufnahmen des Verhältnisses zweier Präsenzen dar, die im engsten Raum ein früheres Sosein zu erinnern versuchen. Diese Experimente der Koexistenz verlaufen in Form von (sich zum Teil allmählich artikulierenden, zum Teil explosionsartigen) Spannungen und Entspannungen, von Augenblicken der Intensität und der Ruhe, von Kondensations- und Vakuumsraumzeiten, die sich rhythmisch bzw. periodisch (zum größten Teil zu Beginn und zum Schluss der jeweiligen Szene) realisieren. In diesem Prozess spielt das Licht oder der jeweilige Lichteinsatz eine erhebliche Rolle. Es wird der Eindruck vermittelt, als diktiere das Licht (seine Präsenz und Absenz, seine Transformationen etc.) die InterAktionen der Personen oder als mobilisiere und unterbräche die Beleuchtung die Geschehnisse. Der Anfang und das Ende jeder Szene lassen sich als jedes Mal unterschiedliche tableaux vivants betrachten, denen das Licht Leben einströmt bzw. die es erst entstehen lässt. Die Epiphanie des Metaphysischen – der Chronotopos des II. Akts Im selben Kontext wie die spezifische Lichtverwendung sollten ebenfalls sowohl die Toneffekte, die alle Szenen (bis auf die letzte, Szene 9) abschließen, sei es in Form von schriller Musik, von penetranten Schreien oder von einem Parolen- oder Stimmenwirbel, als auch das Mythos-Zitat – die Erscheinung der Pan-Figur (Szene 5) bzw. der akustische Hinweis auf seine Präsenz (Szene 8) – angesehen werden. Ein derartiger Einsatz des Lichts und der Töne, erweitert durch den konkreten Bezug auf den Mythos, versieht die umgebende Raum-Zeit mit einer magischen oder märchenhaften, ja metaphysischen Dimension, die zuallererst dem Chronotopos seine Funktion als Rahmen (einer Beziehungs- oder Koexistenzgeschichte, einer Situation) entzieht. Zieht man darüber hinaus in Erwägung, dass durch diese metaphysische Nuance die situativen Handlungssegmente insgesamt abgeschlossen oder eingeleitet werden, dass sie also zum zentralen Motiv des Geschehens auf der Bühne erhoben wird, so lässt sich feststellen, dass ihre Dominanz die gesamte gemeinsame Raum-Zeit in Anspruch nimmt und zum gestalteri-
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schen Prinzip schlechthin avanciert. Beleuchtung, seltsame Klänge und Götterepiphanien fungieren insofern (auch) als Zeichen des Chronotopos dieses Akts und dienen der Deixis einer raumzeitlichen Umgebung, die personenfern, -extern und -fremd, also eigentlich unkontrollierbar ist, und in diesem Sinne eine Art transzendente Instanz darstellt. Diese eigenartige, realitätsferne Raumzeitlichkeit nimmt sozusagen Raum und Zeit auf und identifiziert sich insofern mit dem Beziehungsfeld und der -temporalität: Ihr Raum ist die Enge des Zimmers und ihre Zeit ist die Suspension des Zeitflusses oder eine ganz eigenartige Zeit, welche Willkür und Wiederholung bzw. Stillstandseindruck kombiniert. Dieser eingeschränkte und endlose Chronotopos, in dem sich der II. Akt abwickelt, manifestiert unter diesen Aspekten eine gewisse Autonomie und zunächst eine Entbindung seiner Strukturgesetze von den partiellen (personellen) Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten, deren Träger ihm vielmehr ausgeliefert sind und die hier umgekehrt von ihm manipuliert und ge- oder verformt werden. In diesem Sinne wird in diesem Akt aus dem Kampf zwischen den Personen eine ungerechte Konfrontation derer mit einem unsichtbaren und unerreichbaren Widerpart (der sich so artikulierenden Raum-Zeit), der jenseits der Kontrollzone der Personen residiert; diese Raum-Zeit stellt sich als gemeinsamer Topos der Koexistenz dar, nimmt aber dabei durchaus feindliche Formen an. Das willkürliche Diktat lautet: Durchhalten in der engsten Isolation und der endlosen Zeit. Das Resultat ist absurde Aktivität, spasmodische und völlig wirkungslose Reaktionen: ein ständiger Kreislauf bis zur endgültigen Erschöpfung und Vernichtung. Das Ende des Spiels ist eine (provisorische?) Unterbrechung dieses praxis- und endlosen Kreislaufs: Martin sitzt völlig erschöpft in der rechten vorderen Ecke des Hauses, Kristine steht dicht neben ihm am Anfang des Pfads, ihre Tasche in der Hand, im Zuge zu gehen. Sie hält seine linke Hand, beugt sich kurz liebevoll auf den tatenlosen Mann und verlässt dann langsam die Bühne. Das Zimmer verdunkelt sich sehr langsam, während Martin, der sich inzwischen zum Fenster bewegt und auf die Fensterlehne gesetzt hat, aus Ovids Metamorphosen vorliest. Kristine hat behauptet, sie hätte einen neuen Mann kennen gelernt (die abermalige erlösende Intervention des „Außerhalb“), Martin ist fest davon überzeugt, dass sie wiederkommen wird. Die Zeichen weisen jedenfalls auf eine Zerstörung der etablierten Situation und der Gemeinsamkeit hin: Die Schreie sind nicht mehr zu hören, die Lichtspiele haben aufgehört und die mögliche Rückkehr Kristines ist hier nicht mehr zu bestätigen, wenn auch nicht auszuschließen.
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Die Fremdenführerin: Der abschließende Blick Nun zu einigen zusammenfassenden Bemerkungen bezüglich des hier vermittelten Chronotopos-Bilds, die den weiteren Überlegungen sowohl über die Relation von Drama und Aufführung als auch über die Aufführungspräsenz als solche zugrunde gelegt werden sollen. Die zwei Aufführungsakte korrespondieren mit zwei antithetischen raumzeitlichen Konzeptionen, die sowohl auf zwei antithetische Konstitutionsmodi des Chronotopos als auch auf zwei differente Raum-ZeitBilder verweisen. Der Chronotopos des I. Akts, als Gesamtheit betrachtet, ist als eine heteronome und multizentrale Raum-Zeit aufzufassen. Multizentral bedeutet hier, dass sich letztere nicht als Entität, als klar definierter und stabiler Rahmen, nach dem sich Akteure und Aktionen zu orientieren hätten, präsentiert, sondern durch die disperse Aktion eher diverse Zentren und jeweils unterschiedliche Fokussierungspunkte aufzuweisen scheint. Diese sind kaum fixierbar, da sie mit der Aktivität der Personen zusammenhängen, die sich, wie in der Analyse gezeigt wurde, in permanenter Rastlosigkeit und Bewegungsinteraktion artikuliert. Diese Labilität des (Handlungs-)Raums, die durch die spezifische szenographische Intervention 10 noch unterstrichen wird, erlaubt insofern von einer Heteronomie des Chronotopos zu sprechen, als er durch die Aktion und Interaktion der personellen Raum-Zeiten 11 kontrolliert und gestaltet wird bzw. seine Bedeutungen erlangt. Sehr wohl existiert hier ein Rahmen-Chronotopos, der sich als Gegebenheit der Handlung darbietet. Nur: Er fungiert als ein manipulierbares und modellierbares Konstrukt, das erst durch die Schaffung der personellen Raum-Zeiten Form und Inhalt erhält. Es ist das raumzeitliche Da- und Sosein der Personen, das die Handlungsräume des I. Akts jeweils als Begegnungs- oder Ausgangstopos und als Topos des Kennenlernens bzw. des Machtspiels definiert. Diese Benennungen rauben dem Chronotopos seine Souveränität und Autonomie und verweisen auf die Notwendigkeit der Aktion und Interaktion seiner
10 Siehe hierzu den spärlich ausgestatteten, merkmallosen und frei zu gestaltenden „Stadion-Raum“ und die Unmöglichkeit der Fixierung von Positionen und Räumlichkeiten im „Bungalow-Raum“. 11 Umgekehrt ist auch von einer Labilität der personellen Raum-Zeiten zu sprechen und zwar insofern, als sich diese einerseits in einem instabilen Rahmen und andererseits mittels diffuser Spielregeln, welche die individuelle Haltung und das Verhältnis zwischen den Personen ambivalent gestalten, zu artikulieren haben (siehe auch weiter im Text). 92
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Segmente (Personen-, Aktions-Chronotopoi) als Bedingung seiner Behauptung, wenn nicht seiner Existenz. Die Labilität des Rahmens – der zu manipulierende Raum und die Ataxie und Anarchie der Zeit – korreliert mit der Unsicherheit hinsichtlich der zwischen den Personen herrschenden und sich stets im Wandel befindenden Machtverhältnisse. Da im Spiel niemals endgültig – nicht einmal provisorisch! – entschieden wird, wer als Sieger und Herrscher und wer als Verlierer und Untertan hervorgeht, verbleiben Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten und der gesamte Aktchronotopos zum Schluss des I. Akts amorph und undefiniert. Die abrupte und brutale Unterbrechung des Spiels lässt Räume und Zeiten in der Schwebe, ohne dass sie ausgedient (ein Spielende herbeigeführt) oder auf eine Fortsetzung – welcher Art auch immer – hingedeutet hätten. Im II. Aufführungsakt begegnet man einer anderen Situation: Die Personen besitzen nicht einmal mehr einen provisorischen eigenen Raum, sondern haben sich in einem Raumstreifen sozusagen zu vertragen. Darin verkommen ihre Machtkämpfe zu spasmodischen und sporadischen Spielereien, die keine Kollisionen mehr entstehen lassen, sondern höchstens momenthafte Artikulationsversuche, die an dem Mit- oder Gegenspieler völlig vorbei zu gehen scheinen. Die Personen verfügen weder über den Raum noch über die Zeit, um die eigenen Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten entfalten zu können. Der Handlungsrahmen ist ein sehr konkreter geworden: Anstelle der Offenheit, Transparenz und Plastizität der Topoi tritt hier der solide, düstere und unbewegliche Berg. Die in seine Mitte gemeißelte Hütte in Form eines länglichen Streifens macht ihre Grenzen auch optisch unmissverständlich – durch die grelle Beleuchtung, welche sie vom Berghintergrund und der düsteren Umgebung deutlich abgrenzt – und ähnelt so einer Schattenspielbühne. Die Personen sind nicht nur diesem freiheitsberaubenden, unheimlichen, auch von Göttern in Anspruch genommenen Raum ausgeliefert, sondern auch der Zeit, die einen willkürlichen Rhythmus auferlegt und ihren Fluss bzw. jegliches Existenzzeichen vorenthält. Der bis zum äußersten verengte und zugleich unendliche Chronotopos ist hier zu einer autonomen Instanz geworden, welche umgekehrt Personen und Aktionen zu kontrollieren, manipulieren und (ver-)formen sucht. Das Ende auch dieses Akts ist ein Ende mit Fragezeichen. Die Autorität und Willkürlichkeit, mit denen sich Raum und Zeit präsentieren, wo keiner erfährt, ob dieser Raum überhaupt einen Ausweg bereithält oder ob die Zeit nicht längst stillsteht, verbieten (der Aufführung insgesamt) Lösungen und Antworten.
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Meinen Untersuchungsgegenstand stellt hier nun primär der Raum dar, so wie er szenisch und textuell in Erscheinung tritt. Regisseur und Autor vermitteln eine jeweils besondere Raumvorstellung, welche Aufführung und Drama entsprechend semantisiert; diese Raumvorstellung allerdings, die hier wie dort zum Tor zum Spiel stilisiert wird, ist der entscheidende Faktor, durch den Aufführung und Drama als völlig unterschiedliche Konstruktionen erscheinen, und zwar wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung, die jeweils unterschiedliche Gestaltungs- und Ausstattungsmöglichkeiten der Räume ergibt.
Absente und präsente Räume Die These, die ich hier auszuführen und zu belegen versuche, lautet wie folgt: Während der Text mit Räumen operiert, die sich auf Entfernung und Entfremdung beziehen und diese bis zum Äußersten treiben, präsentiert die Aufführung Räume, die umgekehrt Entfernung und Entfremdung zu eliminieren suchen und eine Tendenz zur äußersten Annäherung verfolgen und in diesem Sinne eine Art der Enträumlichung anstreben. Absenz manifestiert sich hier insofern als Entfremdung als sie auf eine Gegenwart hinzuweisen vermag, die von anderen Raum-Zeiten besetzt wird; Präsenz dagegen als (Versuch der) Behauptung und Bewahrung der Gegenwart als solcher. Der Stadion-Raum Strauß 12 lässt die Handlung in Griechenland spielen und eröffnet sein Spiel im Stadion von Olympia. Die Begegnung von Kristine und Martin findet an diesem symbolträchtigen, ja zum Mythos gewordenen Ort statt und wird entsprechend zwangsläufig kontextualisiert. In die Gegenwart der Begegnung fließen Vergangenheit und Vergangenheitsinstrumentalisierung ein; der Treffpunkt ist a priori und „für die Ewigkeit“ signiert durch seine frühere Funktionalität bzw. durch seine Geschichte und Mythologie. Der Raum der Begegnung hat eine gewaltige Vergangenheit vorzuweisen, die Gegenwart und Zukunft stets als nichtig erscheinen lässt.
12 Es ist interessant, dass Strauß (auch im Vergleich zu den anderen Stücken) keine detaillierte, sondern eher eine lakonische Beschreibung (die sich sogar nur in einer Benennung erschöpfen kann) seiner Räume liefert. Dadurch sind die Räume des Dramas – zumindest so wie sie im Nebentext beschrieben werden – meines Erachtens vorwiegend hinsichtlich ihrer „Bezeichnungsfunktion“ (siehe hierzu: Fischer-Lichte, Erika: Bedeutung. Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München: C.H. Beck 1979, S. 31), ihrer Relation zum „realen Objekt“ zu erfassen. 94
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In einem solchen Rahmen werden auch die Figuren zwangsläufig anders beleuchtet. Hiermit ist keineswegs gemeint, dass sie als Verkörperungen mythischer oder antiker Gestalten und Phantasmen fungieren. Allerdings und indem sie ihr Spiel in einem antiken Wettkampfort beginnen, werden sie mehr oder minder zu Trägern von Symbolbezügen, die deren Da- und Sosein zusätzlich semantisieren und in diesem Sinne zum Teil ihre „Wirklichkeit“ – sie sind nicht mehr und nicht weniger als zwei sich begegnende Personen – tilgen. Die Gegenwart der Personen, das Hier und Jetzt ihrer Begegnung, unterzieht sich insofern einer unausweichlichen Reduktion, als es sich in einer Umgebung zu etablieren sucht, die ihr Vorhandensein ausschließlich ihrer gewaltigen Vergangenheit zu verdanken hat. Raum und Räumlichkeiten sind hier dazu da, um Vergangenes, Entferntes, ja Absentes zu bezeugen. Der Regisseur benutzt dieses Material, um zu einem anderen Raum(konzept) zu gelangen: Der Aufführungsraum der Szenen 1 und 13 des I. Akts ist in erster Linie nicht das Stadion von Olympia, sondern der Begegnungsraum eines Mannes und einer Frau und der Ausgangstopos ihrer gemeinsamen Geschichte. Exponiert wird hier eher der präsente Status des Raums und nur sekundär sein symbolischer Gehalt oder seine Bezüge auf und Assoziationen an Vergangenes. Diese Hervorhebung der Raumpräsenz wird durch die spezifische Inszenierung des Raums, i.e. seine (szenographische) Gestaltung, und der partiellen Räumlichkeiten erzielt. Der Raum wird primär in seiner Offenheit und Unbeschränktheit gezeigt und meidet gängige oder andere Symbole, die ihn eventuell auf eine antike Stätte verweisen ließen. Das heißt, dass dieser Raum keine apriorische Identität aufweist, sondern vielmehr seine Formierbarkeit demonstriert. Gestaltet und charakterisiert wird er nicht durch seine Setzung, sondern a posteriori, durch die Abwicklung und Inszenierung der personellen Räumlichkeiten und deren Interaktion. 13 Es ist der konkrete Bewegungsablauf und die Behauptung der eigenen Räumlichkeit jedes Agierenden, die imstande oder vielmehr zuständig sind, dem Handlungsraum Attribute und Eigenschaften zuzuschreiben: Das Im-Kreis-Laufen Martins in Szene 1 beispielsweise, der den Raum Kristines umkreist und umschließt, ohne sie jedoch letztendlich einfangen zu können, oder das oft gewaltsame, ständige Zu- und Auseinandergehen in Szene 13 und die Startposition, welche die beiden zum Schluss der Szene einnehmen, bewahren und unterstreichen einerseits die 13 Die Räume der Aufführung werden überhaupt – zumindest partiell – a posteriori charakterisiert: Es hat den Anschein, als ob jeder Raum erst durch die Setzung und Gestaltung des nächsten voll und ganz zu deuten ist (siehe hierzu die Analyse). 95
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Offenheit des Raums, in dem nichts sicher oder entschieden zu sein scheint, schreiben ihm andererseits die Eigenschaften des Begegnungsraums (eines Mannes und einer Frau) und des Ausgangstopos (der gemeinsamen Geschichte) zu. Dieser Raum demonstriert seine Präsenz, insofern er hier und jetzt und nirgends sonst eine Gestalt und Bedeutungen zu erhalten vermag. Der Bungalow-Raum Das Stück spielt im Spätfrühling, während der Ferien eines deutschen Lehrers in einem klassischen Urlaubsland: Eine andere Symbolik, ein Alltagsmythos kommt hier zum Tragen. Der Raum beherbergt eine Ausnahmesituation: Eine Liebesgeschichte, die fern von der Regelmäßigkeit und dem Alltag in einem fremden Land und während einer Unterbrechung der Routine stattfindet. Der Raum demonstriert hier seine Andersheit und büßt einen Teil seiner Gegenwart ein, indem er als U-Topos 14 und zwar in zweifachem Sinne fungiert: Einerseits im Sinne eines fremden, betont nur vorübergehend zu eigen zu machenden und nur provisorisch vorhandenen Orts, und andererseits im Sinne des Orts einer Utopie, als welche sich die Liebesgeschichte dar- und herausstellt. Abwesend in diesem Raum ist auch eine gemeinsame Räumlichkeit des Paares oder der Liebesaffäre. Ich sehe es als eine Intention des Stücks an, diesen Zwischenraum unbesetzt zu bewahren und die Figuren in ihrer Kommunikationsunfähigkeit oder ihrem Scheitern herauszustellen. Es geht hier eher um einen Parallellauf oder Alleingang, der sich zum einen durch die Raumverteilung, die den Personen einen je eigenen, nicht verhandelbaren Raum zuschreibt, 15 und zum anderen durch die Art und Weise, wie Strauß die Geschichte entwickeln lässt, manifest wird: Der Kontakt zwischen den Personen wird weitgehend vermieden – direkte oder indirekte Anweisungen, die einen Kontakt suggerieren, sind äußerst spärlich 16 – und die Affäre scheint sich hier hauptsächlich auf verbaler Ebene zu entfalten, wobei die Redetexte, auch wenn sie in dialogischer Form strukturiert sind, eher monologische Eigenschaften aufweisen. 17 Jeglicher gemeinsamer Topos wird entsprechend für utopisch bzw. absent erklärt. Die Aufführung scheint umgekehrt diesen gemeinsamen Topos zu fokussieren und zu exponieren. Sie schafft ein Feld des Kennenlernens – 14 Dieser ist als Unterbrechung und Störung (des [Lebens-]Kontinuums) bzw. als ein anderer Raum aufzufassen. 15 Der Bungalow als Martins, der Vorgarten als Kristines Raum. 16 Während die Inszenierung im Vergleich zum Stück mehrere Kontaktmomente zwischen den Personen vorsieht. 17 Nicht selten scheinen die Personen am Sprechpartner vorbei zu sprechen bzw. zu agieren. 96
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also der Interaktion –, indem sie die Grenzen und Proportionen der vorgeschriebenen Positionen der Personen als fließend und differenzierbar gestaltet. Die Alleingänge sind hier in kollisionsartiges Zu- und heftiges Auseinandergehen transformiert, welche die Unsicherheit der Position der Personen (im Raum, in der Affäre, im Spiel...) bewahren und unterstreichen, zugleich aber einen ständig zu transformierenden KennenlernTopos erzeugen, sichtbar oder präsent machen. Letzteres geschieht einerseits durch das bewegliche Dekor, das den Raum stets (trans-)formiert, und andererseits durch den Auf- und Ausbau der personellen Räumlichkeiten, welche die Positionen der Personen und damit den gesamten Handlungsraum permanent hinterfragen. Diese permanente, wahrnehmbare Schaffung und Zerstörung des gemeinsamen Raums avanciert hier zum zentralen Aufführungsmotiv. Der gläserne Bungalow-Raum mit den labilen Grenzen definiert sich durch seine Inszenierung als Topos des Kennenlernens und der Auseinandersetzung (oder des Kampfes) zweier Präsenzen. Dieser Raum hat sich im Vergleich zum Begegnungs-Raum einer wesentlichen Verengung unterzogen, die nicht zuletzt durch die Heftigkeit der Kollisionen der partiellen Präsenzen wahrnehmbar wird. Es ist aber wiederum diese Verengung, die umso mehr die Präsenz einer gemeinsamen Räumlichkeit unterstreicht, die aus diesem zweiten Aufführungsraum eben einen Auseinandersetzungs- und Interaktionstopos macht. Das Berghaus Martin und Kristine setzen nun ihr Leben „in einem kargen Berghaus“ (283) fort, wo es keine Elektrizität, kein fließendes Wasser und kein Telefon gibt (283), wo kein Mensch erscheint (286) und wo es ewig Mittag zu sein scheint (285). Das Haus demonstriert von Beginn an, dass es zivilisationsfern und entsprechend menschenfremd ist. Dieser Eindruck verstärkt sich und wird sogar ins Extreme getrieben einerseits durch das Abschlussmotiv jeder Szene, wenn „Pan-Rufe“ und ein „verwirbeltes Echo“ von Stimmen ertönen sollen (283), und andererseits durch die Pan-Epiphanie [bzw. die Erscheinung einer Pan-Gestalt (290) und das Ertönen seines Klopfens (294)]. Das Berghaus zeichnet sich dadurch aus, dass es einerseits einen Rahmen archaischer und entsprechend fremder Umstände schafft und andererseits das Gefühl der Fremdheit dadurch intensiviert, dass es sich sogar als realitätsfern präsentiert. Dieser Raum, indem er derart instrumentalisiert und funktionalisiert wird, deklariert eher seine A-Chronie und A-Topie und ist insofern als absent aufzufassen, als sein Gegenwartsstatus durch die Invasion anderer Raum-Zeiten ständig in Frage gestellt und untergraben wird.
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Kristines und Martins Gegenwärtigkeit wird im Drama ebenfalls hinterfragt, indem die beiden ständig mit dieser A-Topie konfrontiert werden. Der Raum, dem zunächst die Funktion zuzuschreiben wäre, das Paar auch physisch näher zu bringen, bewirkt in seiner Grenzenlosigkeit und Beliebigkeit eher das Gegenteil: Seine Unkontrollierbarkeit betont umso mehr die Unmöglichkeit der Herstellung eines gemeinsamen Raums, in dem Kommunikation zustande käme. Das Aneinander-Vorbeireden und -Agieren der Partner scheint hier entfesselt zu sein, und jeder Versuch, mit dem Anderen Kontakt aufzunehmen, geschieht derart spasmodisch und sporadisch, dass er a priori zum Scheitern verurteilt ist. Dazu kommt, dass auch die Positionierung der Personen in diesem Akt dazu beiträgt, jeglichen Kontakt radikal zu vermeiden 18 und eher das Ausmaß und die Möglichkeiten der Distanzierung exponieren zu lassen – ganz im Kontrast zur Enge des Raums, der das Paar anscheinend zusammenbringen sollte. Die Herstellung eines gemeinsamen Raums, der in diesem einzigen Spielfeld zunächst für möglich zu halten wäre, wird explizit und permanent unterminiert, und die Beziehung, die zustande kommen sollte, folgt den Regeln und Gegebenheiten ihrer Umgebung: Sie stellt sich nicht mehr nur als utopisch, sondern vielmehr als atopisch – ort- und raumlos – dar. Bondy macht hieraus ein Beziehungsfeld, das seine Präsenz insofern demonstriert, als es die Rolle eines Gegners oder Feindes übernimmt, der die Personen zur Reaktion und zum Widerstand zwingt. Die gefährlich zugenommene Verengung und Geschlossenheit sowie die spezifische Gestaltung dieses dritten Raums (die explizite Fokussierung auf die Personen-Aktion durch den Kontrast Licht/Spielfläche – Finsternis/Umgebung) betonen meines Erachtens vielmehr seine Eigenschaft als Topos einer inzwischen zwanghaft gewordenen und bis ins Extreme eingeengten Beziehung und belassen dessen Dasein als Hütte archaischer Zustände eher unterbelichtet. Von Belang scheint hier zu sein, dass dieser Raum explizit und primär als der Topos (das Hier) einer Beziehungsartikulation und weniger als Plattform der Epiphanie und Aktion anderer, die Gegenwart manipulierender und verstellender Chronotopoi herausgestellt wird. Die Inszenierung behält sehr wohl den Aspekt des menschenfremden Raums, der quasi als autonome Instanz oder als Spielleiter der Aktion fungiert, bei, indem sie die vom Text vorgeschriebene Artifizialität oder Irrealität des Chronotopos durch die Licht- und Stimmspiele zum Szenenschluss und die Erscheinung der Pan-Puppe am Fenster funktionalisiert. Doch die totale Entgrenzung des Raums und seine Umfunktionalisierung zum Ort metaphysischer Epiphanien werden (zumindest teilwei18 Siehe hierzu die Anweisungen des Texts, S. 283-295, auch im Vergleich zum I. Akt. 98
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se) dadurch unterbunden, dass dezidiert und explizit die Beziehung und damit die Entstehung und Transformationen des gemeinsamen Raums fokussiert werden. Dies geschieht einerseits durch die Szenographie, welche die Grenzen des Raums demonstrativ setzt – und hier als Aufhebung der Distanz und strenge Konkretisierung des Handlungsraums zu lesen wäre – und andererseits durch die Inszenierung der Aktion und Interaktion der Personen, die hier fast in Rastlosigkeit geraten und sich in engem körperlichen Kontakt zueinander befinden. Diese Aktivität lässt ständig gemeinsamen Raum entstehen, verschwinden, wieder entstehen etc. Die Präsentmachung des Beziehungsraums fungiert als Widerpart der menschenfremden Umgebung, in der sich das Paar und sein Verhältnis zu behaupten haben, und darüber hinaus als Widerstand und Einschränkung dieses schwindenden und fragwürdigen Präsens. Die durch die Szenographie gesetzten Grenzen dieses Raums und seine innere Gestaltung durch die Aktivität der Personen bewahren seinen Gegenwartsstatus und verhindern sein endgültiges Verschwinden im raumzeitlichen Sog. Die Aufführung endet ebenfalls mit dem Scheitern der Beziehung und entsprechend der Schaffung eines soliden, gemeinsamen Topos; doch vieles deutet darauf hin, dass dies kein endgültiges, sondern ein vorübergehendes Scheitern unter all den anderen sein könnte. Strauß’ und Bondys Räume Strauß’ Räume, in ihrer soliden Gestalt und demonstrativen Symbolik, stellen den Ausgangspunkt oder die Ursache der Liebesgeschichte dar, von der das Stück handelt. Die Personen werden gewissermaßen in die Räume geworfen oder in sie losgelassen und haben dort ihr Leben und ihr Verhältnis zueinander auszuleben. Die Räume fungieren entsprechend als vorgeschriebene und zugleich vorzuschreibende, strenge Indikatoren des Aktions- und Interaktionsverlaufs, den die Personen durchzumachen haben. Diese ihre Funktion als Voraussetzung und Vorschrift des Geschehens rührt zunächst von deren unmissverständlicher und präziser Benennung (und Beschreibung) her. Die Räume des Texts sind insofern entfremdete Räume, als sie deren Abweichung von der Gegenwart demonstrieren. Es sind Räume, die an andere (ferne, vergangene, ewige etc.) Raum-Zeiten erinnern bzw. auf andere Raum-Zeiten angewiesen sind, um ihr Da- und Sosein zu behaupten und zu fundieren. Es sind zudem mit (alten und neuen) Mythen durchzogene Räume, sofern sie Mythen evozieren, zur Festigung ihrer Existenz benötigen oder als Orte mythischer Epiphanien fungieren. 19 Sie 19 Die Funktion des Mythos-Zitats im straußschen Werk ist ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven behandelt worden; erwähnenswert scheinen mir hierzu die Arbeiten von Berka, Sigrid: Mythos – Theorie und Alle99
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sind in diesem Sinne defizitäre Räume, deren Präsenz sich (zumindest teilweise) als lückenhaft präsentiert bzw. Verlust und Mangel ständig manifest macht. Die Gegenwart der Personen ist in diesen Räumen stets gefährdet durch ausgesprochene und unausgesprochene „Beinamen“ 20 , mit denen sie versehen werden (könnten). Hinzu kommt die permanente Vorführung der Unmöglichkeit einer Beziehung und somit die Unmöglichkeit, sich den Raum zu eigen zu machen und daraus einen gemeinsamen Raum herzustellen. Die Absenz des Raums manifestiert sich so in doppelter Weise: Nicht nur in seiner Funktion als Rahmen und Wegweiser der Aktion präsentiert sich der Raum stets als defizitär, sondern auch als Kreation und Produkt der Interaktion verbleibt er ständig abwesend. Bondys Räume andererseits besitzen die Ambivalenz, die Labilität und die Unschärfe, die nötig sind, um den Personen einen gewissen Grad an Freiheit zu gewährleisten, diese Räume selbst zu gestalten, ja zu produzieren. Genau durch diese Freiheit wird es vermieden, dass sie endgültig die Rolle des Spieldirigenten und dafür eher die Funktion eines Widerparts übernehmen. Bondys Räume benötigen die Personen-Präsenz bzw. die Entfaltung der personellen Räumlichkeiten, um sich zu gestalten und diese oder jene Funktion und Bedeutung zu erhalten. Die Räume
gorie bei Botho Strauß, Wien: Passagen 1991, die unter anderem dem straußschen mythischen Zitat eine allegorische Funktionalität zuschreibt, und von Damm, Steffen: Die Archäologie der Zeit...., der die These aufstellt, dass der Autor den Mythos einsetzt, um der modernen Definition der szenischen Gegenwart, die „als jener Erfahrungsraum [präsentiert wird], in dem sich in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht vor allem das Abwesende Geltung verschafft“ (S. 189), entgegenzuwirken bzw. „die neuzeitliche Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ durch „die neuerliche Ankopplung an den ‚Regelkreis‘ des Mythos“ (S. 190) zu annullieren. Das mythische Zitat wird flächendeckend als das Mittel der Manifestation der „anderen Zeit“ (Berka, S. 165) betrachtet, welche sich in der Gegenwart offenbart und letztere folglich als eine zu kompensierende bzw. supplementierende Gegenwart erscheinen lässt. In dieser mangelhaften Gegenwart geht allerdings der Mythos nicht auf, sondern manifestiert stets seine Alterität bzw. verbleibt immer das Andere der Gegenwart, indem er per definitionem als ort- und zeitlos, fern von räumlichen Koordinaten und zeitlichen Dimensionen, existiert. Andererseits müsste eine an den „Regelkreis des Mythos“ angekoppelte (oder anzukoppelnde) Gegenwart automatisch ihren Status als Gegenwart aufgeben. Das mythische Zitat lässt so oder so Gegenwart als defizitär erscheinen (siehe auch im Text). 20 Siehe hier beispielsweise: Martin als Pan, Kristine als Syrinx (unter anderem 295) etc. Zu diesem Punkt siehe auch: Michaelis, Rolf: „Die Liebe? Kein Spiel. Luc Bondy inszeniert an der Berliner Schaubühne Die Fremdenführerin“, in: Die Zeit, 21.02.1986. 100
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„entstehen“ hier regelrecht „zur Präsenz“ 21 , indem ihr Hier und Jetzt sich stets durch das Hier und Jetzt der Personen zu generieren vermag. Die Räume der Aufführung, in ihrer existentiellen Abhängigkeit vom Hier und Jetzt der Personen, die sie nicht nur okkupieren, sondern vielmehr produzieren, lassen sich meines Erachtens als Sphären im Sinne einer Lektüre der entsprechenden Theorie Sloterdijks bezeichnen: Nämlich „als Orte der inter-animalischen Resonanz [...], in denen die Art und Weise, wie Lebe-Wesen beisammen sind, selbst zu einer plastischen Macht wird.“ 22 Das Hier und Jetzt der Personen ist hier die „plastische Macht“, die erst für die Produktion und Gestaltung ihrer Räume zuständig ist. In diesem Kontext ließe sich auch die szenographische Gestaltung der Räume von „der Art und Weise, wie Lebe-Wesen beisammen sind“ her deuten und interpretieren: Die allmähliche Verengung des Raums ist nämlich unter diesem Gesichtspunkt als das Produkt der Macht der Personen zu betrachten, der Entfernung gegenzusteuern und die möglichst große – wenn auch qualvolle – Annäherung zu erzielen.
Die Möglichkeit der Liebe: Die augenblickliche Präsenz Aus den vorangegangenen Überlegungen lässt sich nun die Aufführungsthematik – abstrahierend und zusammenfassend formuliert – als die Erzählung der Geschichte einer Liebesbeziehung beschreiben, die als ein ständiges Zu- und Auseinandergehen der Liebhaber inszeniert wird. Es ist die Inszenierung des Verhaltens oder der Bewegungen der Personen zu- und auseinander, welche die Räume und Zeiten der Aufführung generiert und sie als Räume und Zeiten der Liebesbeziehung erscheinen lässt. Bondy inszeniert die Liebesbeziehung als permanente Generierung und Transformation gemeinsamer Raum-Zeit, sodass sich die Beziehung letzten Endes erst durch den andauernden Prozess der Generierung, Zerstörung, Regenerierung etc. der gemeinsamen Raum-Zeit artikuliert bzw. präsent und wahrnehmbar wird. Die Liebesbeziehung, welche die Aufführung präsentiert, lässt sich insofern als das Produkt, die präsente Konsequenz von Raum und Zeit auffassen. Die Identifizierung zwischen Präsentmachung der Liebesbeziehung und Präsentmachung – durch spezifische Inszenierung – der gemeinsamen Raum-Zeit ist insofern von Belang, als sie die Erzählung der Liebesgeschichte sozusagen „entdiskursiviert“ und quasi haptisch präsent 21 Nancy: „Entstehung zur Präsenz“. 22 Sloterdijk, Peter: „Anthropogonischer Exodus“, in: Fecht, Tom/Kamper, Dietmar (Hg.), Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum, Wien, New York: Springer 2000, S. 304. 101
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macht. Die Liebesbeziehung „entsteht“ hier „zur Präsenz“ 23 durch die Inszenierung von Raum und Zeit. 24 Zu welcher Art von Präsenz entsteht nun die Liebesbeziehung? Die Begriffe Geschichte und Erzählung, die ich in Bezug auf die Aufführungsthematik benutzt habe, erfahren in Wirklichkeit hier eine interessante Definitionsverschiebung, eine inhaltliche Destabilisierung, und zwar durch die spezifische Präsentmachung der Liebesbeziehung. Diese nämlich bietet sich in einer Reihe von Momenten dar, von Momenten der Schaffung gemeinsamer Raum-Zeit, die daraufhin zerstört wird, um wieder geschaffen zu werden etc. In diesem Prozess spielt das Kausalitätsprinzip, das wohl in der Geschichts- und Erzählungsdefinition wesentlich ist, eine untergeordnete, eher belanglose Rolle, weil die Schemata Ursache – Wirkung oder früher/anderswo – jetzt/hier – später/anderswo durch die Momenthaftigkeit der Beziehungsherstellung und -existenz entmachtet oder instabil erscheinen. Die eben genannten Schemata sind in der Aufführung sehr wohl zu ermitteln, bloß der Verlauf oder die Entwicklung bzw. eben die Geschichte der Liebesbeziehung werden durch sie nicht plausibel, erklärbar oder bedeutungsvoll. Geschichte und Erzählung charakterisieren sich in diesem Zusammenhang dementsprechend nicht durch Kohärenz, Kohäsion und Dauer, sondern werden vielmehr aufgefasst als Ansammlung und beliebige Aufstellung von Momenten ohne erforderliche raumzeitliche oder andere Einordnung. 25 Die Momenthaftigkeit der Beziehungsherstellung und -existenz wird durch die Labilität oder die Inexistenz von jeglichem festgeschriebenen 23 Nancy: „Entstehung zur Präsenz“. 24 Ich habe oben den Raum als das zentrale und transparente Vehikel zur Präsenzpräsentierung definiert und entsprechend analysiert. Da hier die Rede vom Präsenzkonzept insgesamt sein wird, wird nun auch die Zeitdimension mitberücksichtigt werden. Dabei ist festzuhalten, dass hier die Zeit immer die Zeit des jeweiligen Raums ist, dass sie als eine Dimension des Raums angesehen wird, dass sie quasi mit dem Raum kollaboriert, um einen bestimmten Präsenzeindruck zu vermitteln. Präsenz entsteht hier durch das harmonische Zusammenspiel von Raum und Zeit. 25 Vgl. hierzu auch Ricœurs („Erzählte Zeit (1980)“, in: Köveker, Dietmar u.a., Chronologie) Deutung des Geschichtenerzählens als „Kritik des Zeitbegriffs“ (S. 157): „[S]chon die Zeit der einfachsten Geschichte [entzieht sich] dem gewöhnlichen Begriff der Zeit […], der als Abfolge von Augenblicken, die einer dem anderen auf einer abstrakten Linie folgen, die in eine einzige Richtung läuft, gedacht wird.“ (S. 162). Die Geschichten, welche die hier zu analysierenden Aufführungen erzählen, lassen sich in der Tat als eine Kritik des gängigen Verständnisses von den den Begrifflichkeiten Geschichte und Erzählung immanenten Termini wie Kausalität, Kohärenz, lineares Zeitmodell u.v.m. auffassen. Diese Kritik artikuliert sich in den Aufführungen (und in den Dramen) durch die spezifische Behandlung, Inszenierung und Präsentation von Zeit (und Raum). 102
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raumzeitlichen Rahmen zuallererst produziert und stets intensiv in den Vordergrund gerückt. 26 Die spezifische Gestaltung und Inszenierung personeller, gemeinsamer und Umgebungs-Raum-Zeit unterminiert stets deren Autonomie, Stabilität und Etablierung und untersagt ihnen eine Rahmen-Funktion. Vielmehr stellt die Aufführung die Unbeständigkeit, die Unsicherheit und das Provisorische von Räumen und Zeiten heraus, die derart gestaltet keine Dauer, geschweige denn Permanenz, sondern nur ein augenblickliches Dasein beanspruchen können. Die gemeinsame Raum-Zeit, wie übrigens auch alle anderen (partiellen) Raum-Zeit-Arten, verbleibt in diesem Kontext stets provisorisch und nur begrenzt gültig und lässt entsprechend die Beziehung nur momentan bestehen. Indem die Liebesbeziehung als eine Reihe von stets sich wiederholenden und stets scheiternden Versuchen, gemeinsame Raum-Zeit zu schaffen, und unabhängig von zwingenden raumzeitlichen Rahmen und Fortschritts- oder Kausalitätsdiktaten inszeniert wird, ist sie nicht anders wahrnehmbar denn in ihrer Gegenwärtigkeit, in der momentanen Gegenwart der Gemeinsamkeit. Das einzig Belangvolle ist das Hier und Jetzt jedes einzelnen Versuchs. In diesem Sinne scheint die präsentierte Geschichte sich hier von Gegenwart zu Gegenwart zu bewegen, indem sie sich in der Tat in einem bzw. mehreren – als Variationen des einen anzusehenden – momentanen Hier und Jetzt zeitigt. Der Eindruck der Simultaneität der diversen Versuchsmomente wird wiederum durch den Verzicht auf einen Rahmen, der diese zusammenzuhalten und zu kontextualisieren hätte, vermieden; 27 vielmehr ist hier von einer Beliebigkeit von Räumen und Zeiten zu sprechen, die den Eindruck vermitteln soll, dass die Geschichte ewig bzw. nur einen einzigen Augenblick dauern könnte. Die Aufführung interessiert sich insofern weniger für die konventionelle Geschichtserzählung des Verlaufs einer Liebesbeziehung, als vielmehr für die momentane(n) Präsenz(möglichkeiten) einer Gemeinsamkeit. Unter diesen Aspekten präsentiert sie eine nach eigenen Regeln funktionierende Geschichte, an der das Entscheidende nicht die Dauer und die Kontinuität, sondern eher das Momentum ihrer Präsenz ist. Es ist eine Geschichte, die sich als Gang von Präsenz zu Präsenz darbietet; und ihre Präsenz wird nur im/für den Moment manifest.
26 Siehe hierzu beispielsweise den Eindruck der Grenzenlosigkeit des „Stadion-Raums“ und die Unmöglichkeit der Positionsfixierung im „BungalowRaum“. Sogar der bis ins Äußerste eingeengte „Berghaus-Raum“ wirkt unter anderem durch den spezifischen Einsatz des Lichts und damit die explizite Fokussierung auf die Personenaktivität eher entgrenzt und entsprechend eigentlich von der Personenaktivität existentiell abhängig. 27 Vgl. hierzu die Situation in Die Zeit und das Zimmer (S. 107ff.). 103
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Präsenz – die gemeinsame Gegenwärtigkeit, welche die Liebesbeziehung präsent macht – nimmt hier die Form des bachelardschen instant 28 an, indem sie als plötzliche und isolierte (ohne Bezug auf Vergangenheit und Zukunft und unabhängig vom Kausalitätsdiktat) Integrität (jeder Moment beinhaltet entsprechend das Ganze der Beziehung; sein Telos ist in ihm selbst und er auf kein Außerhalb angewiesen; der nächste Moment ist nicht die Fortsetzung oder die Vollendung des vorigen, sondern bloß ein anderer...) hervortritt. Diese Instantaneität der Präsenz wird noch absoluter durch die Labilität oder Belanglosigkeit der Rahmen und in diesem Sinne durch die explizite Trennung von einer Ordnung oder einem Zusammenhang. Gemeinsamkeit – die Liebesbeziehung – präsentiert sich hier in ihrer gegenwärtigen Realisierung als der fruchtbare und produktive Moment (im Sinne einer steten Schaffung oder Herstellung), der jedes Mal die gesamte Beziehung(sgeschichte) beinhaltet. Die variierende Inszenierung der Beziehungsmomente gewährleistet den innovativen Gestus dieser Geschichte, ohne jedoch – und hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den bachelardschen Ausführungen – auf einen Fortschritt zu zielen. Vielmehr ist hier von einer habitude ohne progrès zu sprechen, wo „la volonté de commencer à se répéter soi-même“ 29 die Beziehung als eine zwanghafte Wiederholung erscheinen lässt, aber umso mehr die Momenthaftigkeit ihrer Präsenz unterstreicht: Die Liebesgeschichte, welche die Aufführung präsentiert, ist nur für den Moment sicher und existent, der allerdings in seiner Gegenwärtigkeit in der Lage ist, der Beziehung eine vollendete Präsenz zu verleihen. Im Lichte dieser Überlegungen verdeutlicht sich meines Erachtens der Unterschied zwischen Text und Aufführung, der nun folgendermaßen zu formulieren wäre: Beide handeln von der Unmöglichkeit der Liebesbeziehung; während aber der Text sie auf der Absenz der Kommunikation basieren lässt und die Notwendigkeit des dauernden Scheiterns in den Vordergrund rückt, zeigt sie die Aufführung durch die Momenthaftigkeit der Beziehungsexistenz: Der Grund des Scheiterns der Beziehung ist hier ihre Präsenz ohne Dauer. Die Inszenierung bzw. die Aufführung präsentiert also die Liebesgeschichte als eine Reihe von Momenten der Gemeinsamkeit, der Herstellung von gemeinsamer Raum-Zeit, welche die Liebesbeziehung zuallererst wahrnehmbar macht und dementsprechend eigentlich erst ermög-
28 Siehe: Präsenz als instant, S. 34ff.; zu allen bachelardschen Begrifflichkeiten, die hier kursiv angemerkt werden, siehe ebd. 29 Ebd., S. 35. 104
DIE FREMDENFÜHRERIN
licht, die sich nur auf ihre Gegenwärtigkeit stützen können. 30 Die gemeinsamen Raum-Zeiten lassen sich in der Tat als sphärische 31 Momente auffassen, indem sie als „Amme[n] des Werdens“ 32 fungieren: Nicht nur sind sie selbst Produkte der „inter-animalischen Resonanz“ 33 , sondern auch die Bedingung der Möglichkeit („die plastische Macht“ 34 ) der Präsenz der Liebesbeziehung und damit der Aufführungsgeschichte überhaupt. Dass diese sphärischen instants nicht als „Zwischenzonen“35 inszeniert sind, sondern vehement auf ihr Hier und Jetzt abschottend beharren, ist zugleich ihre Existenzchance und die Ursache ihrer Endlichkeit: Sie – und das heißt auch die Liebesbeziehung – sind/ist für den Moment präsent, aber eben nur für den Moment.
30 Insofern lässt sich die Geschichte, welche die Aufführung erzählt, eher retrospektiv – im Sinne Bachelards (siehe hierzu S. 36-37 und Anm. 121 des Prologs) – erfassen und zwar als die Verkettung selektierter Momente der Gemeinsamkeit, die sich auf verschiedene Weisen bzw. immer wieder aufs Neue (die Aufführung legt den bachelardschen „désir de progrès“ (S. 36) eher als einen „Wunsch auf Regress“ oder einen Willen zum Aushalten oder -harren aus) manifestiert hat. 31 Siehe hierzu Sloterdijk, S. 304. 32 Ebd., S. 303. 33 Ebd., S. 304. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd., S. 304. 105
DIE ZEIT
UND DAS
ZIMMER 1
Botho Strauß Regie: Luc Bondy Bühne: Richard Peduzzi Kostüme: Susanne Raschig, Dorothée Uhrmacher Dramaturgie: Dieter Sturm Klangeinrichtung: Hans Peter Kuhn Regieassistenz: Mark Blezinger Bühnenbildassistenz: Bernard Giraud, Anna Eiermann Kostümassistenz: Christel Trimborn Julius: Peter Simonischek Olaf: Udo Samel Marie Steuber: Libgart Schwarz Der Mann ohne Uhr: Michael König Die Ungeduldige: Tina Engel Frank Arnold: Gerd Wameling Die Schlaffrau: Sabine Wegner Der Mann im Wintermantel: Werner Rehm Der völlig Unbekannte: Ernst Stötzner Der Mann am Fenster: Uwe Hacker Stimme: Jutta Lampe Uraufführung: Schaubühne am Lehniner Platz Premiere: 8. Februar 1989
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Strauß, Botho: „Die Zeit und das Zimmer“, in: Ders.: Theaterstücke II, München, Wien: Hanser 1991, S. 320-357 – Videoaufzeichnung (Schaubühne am Lehniner Platz). 107
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Beschreibung und Analyse Akt I: Das Zimmer Raumgestaltung Der I. Akt der Aufführung spielt in einem karg möblierten, fast leeren „Zimmer“, das insgesamt mit drei Ein- bzw. Ausgängen und drei großen Fenstern ausgestattet ist. Im Hintergrund des Bühnenraums befinden sich (von links nach rechts) ein kleiner, hölzerner, altmodischer KommodeSchrank – an die Wand gestellt –, die drei Fenster, eine hohe braune, hölzerne Säule korinthischer Art und eine zweiflügelige hölzerne Tür, die zur Wohnung, in der das Zimmer liegt, führt (und in diesem Sinne von nun an als Wohnungstür bezeichnet werden wird). An der linken Wand sind, von links nach rechts, ein eingebauter Schrank mit weißer Fassade, eine kleine in eine Nische eingebaute Treppe und eine kleinere Tür mit ebenfalls weißer Fassade vorhanden. Die Möblierung des Zimmers besteht bloß aus zwei dunkelblauen Sesseln und einem schmalen, runden, hölzernen Tisch, die sich im hinteren Bereich der Bühne zwischen dem linken und dem mittleren Fenster befinden. Die Sessel sind derart platziert, dass ihre Lehnen eine ziemlich genau rechtwinklige Ecke bilden (die eine zu den Fenstern, die andere zum Zimmer gerichtet). Die Bühne ist darüber hinaus an der Rampe und an ihrer rechten wandfreien Seite durch eine kleine Mauer begrenzt; parallel dazu verläuft am Rande der Decke eine Konstruktion, die entsprechend den Bühnenraum von oben umschließt. An der vorderen rechten Ecke der Bühne ist eine weitere Säule hinzugefügt, sodass das Gesamtbild des Proszeniums an einen geschlossenen Kasten – an eine buchstäbliche Einrahmung – erinnert, von dem zwei große Flächen an der vorderen und rechten Wand herausgenommen worden sind, um dem Blick den Eingang ins Innere (des Zimmers) zu ermöglichen. Der Handlungstopos des I. Akts lässt sich zunächst als ein privater Raum (Zimmer) bezeichnen, der einerseits seine Geschlossenheit szenisch demonstriert (durch die untere und obere Verriegelung des Bühnenraums und die vordere Säule), zugleich aber mit genügend Passagen von und zu der Außenwelt oder zu weiteren Räumen außerhalb des Zimmers (Fenster und Türen) versehen ist. Die Zimmergesellschaft Zwei Männer – der große Julius und der kleine Olaf, zum Verwechseln ähnlich gekleidet und sich oft auf exakt dieselbe Weise bewegend –, von denen man nie erfährt, in welcher Beziehung sie zueinander stehen, ver-
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weilen in diesem Zimmer. Allmählich betreten den Raum weitere Personen, von denen einige nach einer Weile wieder abtreten und andere bis zum Aktschluss im Zimmer bzw. im Spielfeld (das auch die weiteren Zimmer der Wohnung, auf welche die weiße Tür und die Treppe an der linken Wand hindeuten, beinhaltet) bleiben. So findet sich zunächst die ätherische Marie Steuber ein, das „Mädchen von der Straße“, über das gerade Julius, während er aus dem Fenster blickte, gesprochen hat (3212); dann trifft der hektische Ansgar ein, der „Mann ohne Uhr“, der am Vorabend dort seine Uhr vergessen haben soll (323); es folgt die dynamisch wirkende, „Ungeduldige“ Sabine, die Ansgar wieder sehen möchte (323). Es erscheinen noch der eher nervöse Frank Arnold, der Marie vom Flughafen abholen sollte, sie aber um fünf Minuten verpasst hat (324), der schockierte „Mann im Wintermantel“, der die zierliche Dinah, die „Schlaffrau“, ins Zimmer trägt (327), und der brutale „Völlig Unbekannte“ (329): Die drei Männer verlassen in relativ kurzer Zeit wieder das Zimmer. Der I. Akt endet mit einem tableau vivant: In verschiedenen Orten des Raums stehen Julius (im hinteren, mittleren Bühnenbereich), Olaf (im vorderen, linken Bühnenbereich), Ansgar (vorne rechts), Dinah (auf dem Schränkchen sitzend) und Sabine (fast zwischen Julius und Ansgar); die ersten vier blicken diagonal zur rechten vorderen Ecke, Sabine dagegen richtet ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung, nämlich zur linken vorderen Ecke. Kurz davor ist Marie in die hintere Säule verschwunden. Die ständigen Auf- und Abtritte der Personen entziehen dem Zimmer seinen privaten Status: Der Lebensraum wird zum Begegnungsort. Das Zimmer fungiert als Versammlungsraum verschiedener, heterogener Biographien- und Existenzen-Fragmente, die in einen Expositions- und Konfrontationsprozess eingeleitet werden. Die Situation Die szenische Situation ist simpel: Neun Personen befinden oder finden sich eine nach der anderen im Zimmer ein; weder die Gründe noch der Zweck ihres Erscheinens dort sind klar zu benennen. So fühlt sich beispielsweise Marie von Julius, der sie durch das Fenster auf der Straße beobachtet, angesprochen und tritt ein; wenig später erzählt sie von einem Feuer in einem Hotel, und schon steht an der Wohnungstür der „Mann im Wintermantel“ und trägt die „Schlaffrau“ ins Zimmer hinein, die er eben noch aus dem Feuer gerettet haben soll, und in der Julius eine alte Geliebte wieder erkennt (326-7, 328). Der „Mann ohne Uhr“ ist gekommen, um in der Wohnung nach seiner Uhr zu suchen; kurz darauf erscheint die „Ungeduldige“, die glaubte, ihm dort wieder zu begegnen; wenig später wird aber auch die gemeinsame Vergangenheit Maries und
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WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
des Mannes ans Licht gebracht (331). Frank Arnold sucht Marie ausgerechnet in diesem Zimmer, der „Völlig Unbekannte“, von dem die „Ungeduldige“ etwas zu ahnen scheint (329), kommt gezielt, um der „Schlaffrau“ zu begegnen; er trägt sie auf seine Schulter aus der Wohnung hinaus (330), doch wenig später taucht sie wieder durch die Treppe im Zimmer auf (331-2). Der Bühnenraum wird von dieser heterogenen Menschengruppe belebt und durch ihr Dasein und Aktivität als ein Ausstellungs- und Äußerungsraum definiert. Im Prozess dieser Äußerungsakte entstehen Duos oder Trios (Marie und Ansgar, Julius und Olaf, Dinah, Julius und Olaf etc.), deren Mitglieder miteinander zu kommunizieren versuchen; während dieser Versuche und durch die räumliche Situierung und das Bewegungsverhalten der Personen wird das gemeinsame Handlungsfeld in mehrere situative Handlungsräume zerlegt. Ein repräsentatives Beispiel der Art und Weise, wie sich diese Räume des kommunikativen Versuchs herauskristallisieren und gestalten, offeriert folgendes Sequenzkontinuum: Marie beendet ihren vierten, deliriumsartigen Monolog (330-1), während welchem sie teilweise auf den Rücken von Julius, Olaf und Ansgar – aus dem rechten Fenster hinauslehnend – gestanden hat, und legt sich vor dem rechten Fenster auf den Boden hin; dabei wird sie vom Blick der eng zusammengerückten Gruppe am Fenster (Julius, Olaf, Sabine und Ansgar), die sich zu ihr gedreht hat, verfolgt. Schon bevor Marie ihre letzten Worte gesprochen hat, löst sich Ansgar von der Gruppe ab und wendet sich zur Wohnungstür, lehnt sich an sie an und leitet sofort die nächste, inhaltlich völlig differente Situation ein. Marie nähert sich ihm und steigt in einen Dialog ein, der an der Wohnungstür stattfindet, während dessen Marie und Ansgar sich dicht zueinander (und zudem minimal) bewegen und in engem – ja erotischem – Kontakt bleiben. Diese situative Sequenz endet mit dem Abgang der beiden durch die Treppe links: Marie (ver-)führt den ihr nachfolgenden Ansgar, indem sie als erste die Bühne im vorderen Bereich durchquert und oft zu ihm zurück blickt, als Signal ihr zu folgen. Ungefähr in der Mitte des Zimmers nehmen sie sich bei der Hand und laufen in die Nische hinein. Bevor sie verschwunden sind, beginnt Julius, der sich inzwischen vor das mittlere Fenster gestellt hat, mit einem selbstkritischen Monolog (331), aus dem Fenster hinausschauend, während die „Schlaffrau“ (Dinah) wieder geräuschlos durch die Treppennische im Zimmer auftaucht und sich auf den Sessel zum Zimmer setzt. Im darauf folgenden Dialog zwischen Julius und Dinah über Vergangenheit und Gegenwart ihrer Beziehung wird der ganze Raum durch Bewegungen beschrieben: Der Dialog beginnt „im Bereich der Sessel“, setzt sich vorne rechts fort (wo auch Olaf ein kurzes, stummes Mitwirken leistet), kehrt „in den
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DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Sesselbereich“ zurück und endet mit der Umarmung Dinahs von Julius, der sie in die Arme nimmt und einen Walzer tanzt (ohne dass sie den Boden berührt). Tanzend durchlaufen sie den gesamten Bühnenraum und gelangen am Ende an bzw. auf der Treppe, wo sie gewaltsam von Sabine unterbrochen werden (sie stellt sich dezidiert und offensiv zwischen die beiden) und wo die nächste, zu der vorangegangenen Situation irrelevante Sequenz anfängt, nämlich ein Annäherungsversuch zwischen Sabine und Dinah, während dessen Julius durch die Treppe abgeht, die zwei Frauen sich nebeneinander zur Mitte des Zimmers bewegen und sich zum Schluss mit dem Rücken zum Publikum vor den sitzenden Olaf (Dinah links, Sabine rechts) stellen. Der vorangegangenen Beschreibung sind zwei Beobachtungen zu entnehmen, die für den gesamten I. Akt charakteristisch sind und die auf eine gemeinsame Feststellung hinauslaufen: a) Die Handlung expandiert im gesamten Bühnenraum: Die diskontinuierlichen Situationssegmente, aus denen sich der I. Akt zusammenstellt, ereignen sich in allen möglichen Raumebenen: am Fenster, in den Sesseln und um sie herum, an der Wohnungstür, an der Treppe, im vorderen, leeren Bereich der Bühne etc. Dadurch erfolgt eine Raumdivision in autonome Handlungsräume, auf die das Geschehen verteilt wird; entsprechend wird jedes Mal der Inszenierungsfokus auf die verschiedenen situativen Handlungsräume, die so plötzlich entstehen wie sie sich wieder auflösen, versetzt, ohne einen Ausgangspunkt oder eine zentrale Achse unter dem Personal oder im Raum zu markieren. Diese Handlungsräume sind nicht statisch – gewissermaßen als deutlich abgrenzbare, eine konkrete Räumlichkeit innehabende, starre Punkte im Raum –, sondern dynamisch – als stets zu konstituierende, aufeinander treffende, ineinander eindringende chorographische Räume – aufzufassen. Die Dynamik der situativen Handlungsräume wird vor allem dadurch bewirkt, dass b) das gesamte Personal sich in fast permanenter Bewegung im Raum befindet: Die Personen scheinen zu pausenloser Rastlosigkeit verdammt zu sein, die sich verschiedenartig äußert: Sie setzen sich, stehen auf, legen sich auf den Boden, auf die Treppe, auf die Mauer, umarmen sich, greifen sich gegenseitig an, durchlaufen die Bühne in alle Richtungen, spazierend, hinkend, tanzend... Diese präzise und dennoch willkürlich strukturiert wirkende Raumbeschreibung durch Bewegung entzieht einerseits den Personen die Möglichkeit einer fixierbaren Positionierung und strukturiert andererseits die partiellen situativen Räumlichkeiten als ereignishafte Prozeduren.
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WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Sowohl die raumumfassende Handlungsexpansion als auch die große Mobilität des Personals offenbaren meines Erachtens den Willen zur Überwindung eines horroris vacui, der allerdings durch die suspendierten Äußerungsversuche und den bruchstückhaften Kommunikationsaufbau immer präsent bleibt. Der Handlungsraum präsentiert sich letzten Endes als eine Ansammlung parataktischer, partieller Räume, deren nur vorübergehendes und zudem bezugloses Vorhandensein die Inhomogenität des Handlungsraums unterstreicht und hervorhebt. Dieser fungiert somit als bloßer Versammlungsraum, der wegen seines durch die spezifische Genese der partiellen Räumlichkeiten vermittelten diffusen, instabilen, zerfallenen Bilds nie zu einem einheits- und zusammenhangsstiftenden Kommunitäts-Topos avanciert. Die Zeit Die Handlungszeit manifestiert sich analog zum Handlungsraum als eine inhomogene Ansammlung diverser Zeiten, die weder Kohärenz noch Konsequenz aufweist. Im Vergleich zum Raum unterzieht sie sich allerdings einer Radikalisierung, da sie nicht als einrahmendes Element zu konzipieren ist: Es gibt sozusagen keine einrahmende „Zimmer-Zeit“. Diese Tatsache macht die Verfolgung und Skizzierung der temporalen Kontinuität der Handlungen unmöglich. Die Zeit dieses I. Akts stellt sich in diesem Sinne als eine beliebige Schaffung und Koexistenz separater Zeiterscheinungen am selben Ort dar. Anhand der Beschreibung zwei situativer Sequenzkontinua soll nun eine Präsentation derartiger Zeit-Bilder und darüber hinaus ihrer Relation erfolgen. Dem Inhalt des gesprochenen Texts ist hier insofern eine besondere Position zuzusprechen, als das Zeitliche darin eine grundlegende Immanenz darstellt und zu entsprechenden temporalen Qualitäten der jeweiligen Situation einen wesentlichen Beitrag leistet. a) Die erste Begegnung von Sabine und Ansgar/Intervention von Julius und Olaf (323-4): Die Begegnung zwischen der „Ungeduldigen“ und dem „Mann ohne Uhr“ vereint die Ahnung eines Kennenlernens während eines Fests am vorigen Abend, die zufällige gegenwärtige Anwesenheit beider Personen im Zimmer und den erneuten Annäherungsversuch, dessen latente, intendierte Erotisierung ständig unterminiert wird sowohl durch die eigenen Bewegungen 2 als auch durch externe Interventionen 3 . 2
Am Anfang des Dialogs befinden sich Sabine an der Wohnungstür und Ansgar in der Treppennische; sehr langsam und ständig ihren Gang unterbrechend, begegnen sich in der Mitte des Zimmers und gehen einander vorbei. Sie kehren um, kommen wieder aufeinander zu und entfernen sich abermals, bis diese Situation nach einem erneuten Annäherungsversuch 112
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Während diese Begegnungs-Zeit ausläuft, vollzieht sich der nahtlose Übergang zur nächsten Situation, nämlich zur Handlungsübernahme durch Julius und Olaf, der Julius um die Schulter fasst und ihn zum rechten vorderen Bühnenbereich führt, während der vom ersteren behauptet wird, dass in der Wohnung niemals ein Fest stattgefunden hätte. Das eben Geschehene wird somit radikal untergraben und dadurch jegliche oder die eben hergestellte Zeitordnung suspendiert. b) Der Monolog Julius’ (nach dem Abgang des „Mannes im Wintermantel“)/Der Annäherungsversuch der „Ungeduldigen“ an Olaf (328): Julius zeigt dem „Mann im Wintermantel“ den Weg hinaus und schließt hinter ihm die Wohnungstür. Er dreht sich sofort um, lehnt sich an die Tür an und beginnt dort mit einem Ton zu sprechen, der eine gewisse Leichtigkeit und Lebendigkeit, ja einen Frohsinn offenbart (im Gegensatz zu seiner bisherigen und späteren Ausdrucksweise, die eher einen ernsten und tiefsinnigen Eindruck vermittelt). Während seines Monologs, der aus Erinnerungen und Gegenwartsgedanken nach dem Wiedersehen der alten Geliebten besteht, spaziert er nach links, zieht seinen Sakko aus, breitet ihn unter dem rechten Fenster aus, setzt sich auf ihn hin, zieht seinen linken Schuh aus, steht wieder auf und schüttelt Sand aus dem Schuh aus. Parallel dazu durchqueren Sabine und Ansgar die Bühne lachend, laufend, springend und tanzend bis hin zur Treppe, auf deren Stufen sie ihre Übergewänder ausbreiten und sich nebeneinander hinlegen – als legten sie sich zum Sonnen. Diese situative Sequenz endet mit dem Gang Sabines und Ansgars zur Wohnungstür zurück: Er setzt sich auf die Mauer neben der Tür und streckt seine Beine nach vorne, während sie neben ihm stehen bleibt. In Bezug auf dieses Handlungssegment wäre von einer Wiederkehr in die Vergangenheit oder umgekehrt von einer Vergegenwärtigung bzw. einem Eindringen des Gewesenen in die Gegenwart zu sprechen: Julius versetzt sich in seine Jugend zurück bzw. gewinnt kurz die Leichtigkeit der Jugend wieder; Sabine und Ansgar andererseits untermalen Julius’ Erinnerungen und intensivieren den Eindruck der „Reise in Raum und Zeit“, indem sie diese Leichtigkeit verkörpern und darstellen. Eine kurze Sprechpause, während der Olaf – ohne jeden Grund hinkend! – die Bühne nach rechts durchquert, deutet schon die nächste Situation an: Plötzlich verdunkelt sich das Zimmer; Sabine geht offensiv und absolut sicher
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ganz abrupt durch den Abgang Sabines zum linken Fenster und die Wiederaufnahme der Suche nach der Uhr von Ansgar unterbrochen wird. Marie beobachtet und verfolgt für eine kurze Weile neugierig Sabine; Julius und Olaf stellen sich am Ende des Dialogs dicht um das Paar – als eine Art Einkreisung. 113
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auf Olaf zu, stellt sich frontal vor ihn, sieht ihm in die Augen und spricht fest überzeugt ihre Worte; doch sie ist nicht zufrieden: Sie sucht den richtigen Ton, um den Annäherungsversuch vollziehen zu können. Olaf nimmt die Rolle, die ihm Sabine zuspricht, an, geht zur Mitte des Zimmers zurück und wiederholt seinen Gang. Sabine läuft diesmal aus ihrer Ausgangsposition (der Wohnungstür) zu ihm, umarmt ihn von hinten, drückt ihren Körper fest auf den seinen und wiederholt leidenschaftlich ihre Rede; Maries erste Worte – sie schaut aus dem linken Fenster hinaus – verwickeln sich im Spiel zwischen Sabine und Olaf; daraufhin gibt Sabine auf: Sie stößt Olaf zur Seite und kündigt einen späteren Versuch an (der allerdings nie stattfindet). Marie setzt ihre Worte fort... Aus der Interaktion der in der jeweiligen Personen-Konstellation involvierten Teilnehmer entstehen derart situative Handlungssegmente, deren fragmentartige – im Sinne einer komplexen Involvierung von Gegenwärtigem, Vergangenem und gegebenenfalls einer Ahnung von Künftigem – temporale Struktur entweder unmittelbar bzw. nach einer Weile aufgehoben wird oder aber ohne jegliche Wirkung (im Sinne eines Vorantreibens des Spiels) als eine fahle Spur im Verlauf des Akts verbleibt. Das Gesamtbild der Zeit dieses Akts präsentiert sich als eine Collage von solchen partiellen Zeitbildern, deren szenische Zusammensetzung vor allem durch zwei inszenatorische Verfahren reguliert wird: a) Durch eine azentrierende Montagetechnik: Die einzelnen Zeitbilder werden nahtlos in einem „ruhigen“, gleichmäßigen Tempo miteinander montiert, ohne dass eins oder mehrere davon herausragen würde(n). Gewiss hängen die interne Zeit-Bild-Rhythmik und das eigene -Tempo der jeweiligen Handlungssequenz von der (rhythmischen/zeitlichen) Äußerung der Teilnehmer der jeweiligen Konstellation ab und divergieren entsprechend von Situation zu Situation. Dies lässt sich bestens am zweiten Beispiel erkennen, wo sich zunächst die Bewegungsspezifik und die Ausdrucksweise von Julius, Ansgar und Sabine vorwiegend in einem schnellen, lebhaften Tempo und einem von Leichtigkeit diktierten Rhythmus artikulieren, der insofern den Zeitfluss sichtbar macht, als er den Eindruck vermittelt, dass etwas geschieht. Dieser Situation folgt eine atmosphärisch völlig differente Sequenz, deren Temporalität durch das Repetitionsprinzip reguliert wird und dadurch eine Handlungszäsur einzulegen scheint. Dennoch beeinflussen diese minimalen, im Rahmen der konkreten Situation begrenzt wirkenden Divergenzen kaum bzw. lediglich momentan – nur während der jeweiligen Situationsdauer – das gesamte Zeit-Bild. Dazu kommt die totale Subversion des Kausalitätsprinzips und somit die Inkohärenz des Ablaufs von Zeit und Geschehen: Nichts von dem, was passiert, kann als Vorkommnis – das heißt hier als eine deutli-
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che Ursache und eine klare Wirkung innehabende Praxis – in der Zeitbilder-Reihenfolge positioniert werden. Die Collage stellt sich in diesem Akt dauernd als eine beliebige und zufallsbedingte Summe von Zeiten und Zeitlichkeiten dar. Die Vermeidung jeglicher Akzentuierung wird vorrangig durch drei inszenatorische Montagetechniken erzielt, nämlich 1) durch die Verflechtung von aufeinander folgenden Situationen: Alle situativen Sequenzen werden vorbereitet oder schon eingeleitet, sei es durchs Sprechen (siehe am zweiten Beispiel den kurzen Monolog Maries, der vor dem Abschluss der Sabine-Olaf-Sequenz beginnt), oder aber durch den Positionswechsel der Person/Personen, die in den Mittelpunkt des Geschehens geraten soll/sollen (siehe am ersten Beispiel den Bewegungsablauf Julius’ und Olafs), bevor die vorangegangene Handlungspartie beendet worden ist, 2) (seltener) durch die Überlagerung von zwei völlig unterschiedlichen Situationen (siehe beispielsweise den oben beschriebenen Tanz Julius’ und Dinahs, während dessen Sabine eine autonome Handlung vollzieht) und 3) durch die Sprechpausen (und Bewegungsberuhigungen), die völlig unerwartet und ohne offensichtlichen Grund eingesetzt werden. Alle drei Techniken tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, die jeweils einzigartige situative Temporalität zu neutralisieren und den einzelnen Handlungspartien eine mögliche besondere Stellung im Zeitverlauf abzusprechen. b) Durch die (fast) unaufhörliche Mobilität des Personals: Die chorographischen Bewegungen, die von der simplen Gestik bis hin zum Tanz reichen, stellen einen allen Situationen immanenten Temporalitätsfaktor dar und avancieren somit zum primären Faktor der szenischen Zeitgestaltung. Die Dominanz dieser Mobilität im Spiel sollte allerdings keineswegs als eine wirkungsvolle, zielgerichtete, praxisbezogene Aktivität verstanden werden: Es geschieht nichts auf der Bühne; nichts wird erreicht. Es bleibt bloß dieses sinnlose Hin und Her, dem der Zwang, die Zeit zu besiegen, inne ist. Durch die oben skizzierte azentrische Montageanwendung und die „sinnlose“ Mobilität des Personals soll nun meines Erachtens eine Tendenz – als zweifelhafter Wunsch des Personals verstanden? – zum Aufhalten des Zeitflusses erzielt werden. Die gemeinsam erlebte Zeit bleibt durch die Absenz der Praxis (als „sinnvolle“, nachvollziehbare Handlung verstanden) ungerichtet und somit „unsichtbar“. Der Handlungsablauf wird der Beliebigkeit oder dem Zufall überlassen und sogar bis hin zur absoluten Simultaneität seiner Segmente getrieben. Damit ist der Dualismus Ursache-Wirkung bis zur Auflösung entmachtet. Wenn es aber keinen Anfang
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(keinen Grund) und kein Ende (kein Ergebnis, keine Wirkung) – keine Praxis also – gibt, kann die Zeit prinzipiell nicht wahrgenommen werden und scheint still zu stehen. Die Zeit erscheint so als ein formloser, leerer Topos, dem seine einzelnen Elemente (das heißt die situativen Zeiterscheinungen) aufgrund ihres flüchtigen, momentanen Vorhandenseins kaum eine Kohärenz und Kontinuität – überhaupt eine Existenz (als Zeit) – zuzusprechen vermögen. Raum- und Zeitgestalt Im ersten Akt der Aufführung lässt sich eine thematische Priorität des inszenierten, präsenten Raums verzeichnen. Im Gegensatz zum darauffolgenden Akt, der das Zeitliche als primären Handlungs- und Strukturierungsinitiator hervorhebt – und somit als eine Chronik 4 aufgefasst werden kann – ist hier eher von einer chorographischen Inszenierung im Sinne eines Spiels vorrangig um den Raum, mit und in ihm zu sprechen. Der Raum stellt Ursache und Zweck der Situation und der Aktion dar: Jede Person betritt das Zimmer und trifft dort auf den Anderen, mit dem sie eine kommunikative Praxis durchzuführen versucht; durch diese sich szenisch in verschiedenen Formen präsentierende Aktivität wiederum wird der Versuch unternommen, den Begegnungsraum in einen einheitsstiftenden Kommunitäts-Topos zu verwandeln. Die Raumüberwältigung avanciert zum primären Ziel der Anwesenheit der Personen im Zimmer; als Unterstreichung dieses Aspekts ließe sich auch die Positionierung des Personals oder einzelner Personen als Beobachter der Geschehnisse deuten, von denen sie nicht unmittelbar betroffen sind: durch die penetrante Präsenz Maries (zwischen dem „Mann ohne Uhr“ und der „Ungeduldigen“, 323), Julius’ (zwischen dem „Mann ohne Uhr“ und der „Ungeduldigen“, 325), Olafs (zwischen Julius und der „Schlaffrau“, 352) soll die eventuelle Geschlossenheit der jeweiligen Situation aufgehoben, die Grenzen der partiellen Räume gesprengt, die Distanz überwunden und die Nähe gesucht werden. Die Zeit spielt im Rahmen dieses Versuchs eine annullierende Rolle und führt jeglichen Praxisversuch zum Misserfolg, indem sie als Koexistenz von Biographien- oder Existenzen-Fragmente einerseits nur bedingt oder nur für jede einzelne Person zu gelten scheint und keinen vereinigenden Status beanspruchen kann und als organisatorisches Prinzip der 4
Die Begriffe Chronik und Geschichte unterscheiden sich insofern voneinander, als Geschichte die wie auch immer gearteten Zusammenhänge und Korrelationen der Ereignisse, aus denen sie sich zusammensetzt, mitreflektieren lässt; Chronik lässt vielmehr die Zusammenhänge in den Hintergrund rücken und deutet auf eine Fokussierung der Ereignisse als solche hin. Unsere Beispiele machen allerdings auch diese Unterscheidung fließend (siehe auch weiter im Text). 116
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Gegenwart andererseits eine derartige Diskontinuität und Fragmenthaftigkeit aufweist, die jeglichen zusammenhangsstiftenden Prozess verhindert. Ist demnach dem Zimmer, als Voraussetzung der Möglichkeit eines Zusammentreffens, eine Tendenz zur Enträumlichung im Sinne eines Näherkommens der Personen und zur Strukturierung der Handlungen zuzuschreiben, so ist der Präsens-Zeit die Tendenz zur Fragmentierung und Erhaltung bzw. Generierung von Distanz zuzurechnen. Die Manifestation und Durchsetzung dieser Funktionen realisieren sich durch eine Art von Instrumentalisierung des Personals durch Raum und Zeit. Der spezifische Äußerungsmodus definiert die Personen als Träger von Raum und Zeit und lässt eine begrenzte Mitbestimmung des gemeinsamen Raum- und Zeit-Bilds des Akts zu: Mitbestimmung, insofern sie augenblicklich räumliche und zeitliche Assoziationen herstellen; jedenfalls begrenzt, da sie sich der Spezifik des Chronotopos, das heißt der Zufälligkeits- und Willkürlichkeitsbasis seiner Struktur, nicht entbinden können. Wirkungsvolle Praxis, die die raumzeitlichen Gegebenheiten zu Gunsten des Personals transformieren würde, bleibt endgültig aus. Die rivalisierende Konfrontation vollzieht sich letztendlich zwischen einem Raum, der durch die konkrete Rahmung (zumindest) eine Balance besitzt, und einer fraktalen, alle Rahmen sprengenden und destabilisierenden Zeit-Struktur, 5 ohne dass die Personen eine Chance auf wirkungsvoller Intervention und Kontrollübernahme von Raum und Zeit hätten.
Akt II: Die Zeit Aktskizzierung Der II. Akt der Aufführung gliedert sich in acht Szenen, die entweder nahtlos aufeinanderfolgen oder aber durch abrupte Lichtveränderung und gegebenenfalls durch die Einsetzung von Musik klar voneinander getrennt werden. Jede einzelne Szene stellt eine eigene Situation dar und verfügt entsprechend über eigene raumzeitliche Koordinaten: So spielt beispielsweise Szene 1 in der Wohnung Frank Arnolds, nachdem er Marie vom Flughafen abgeholt hat und Szene 8 in einem Bürokorridor während der Mittagspause. Es werden so eine Reihe von Situationen dar- und hergestellt, die bezüglich ihrer raumzeitlichen Struktur zwei korrelative Achsen auf5
Ich suggeriere hier in der Tat, dass die Zeit dieses I. Akts durch die derartige Inszenierung der partiellen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten und vor allem die spezifische Gestaltung des handlungseinrahmenden (und -definierenden) Raums eine gewisse Verselbstständigung, im Sinne einer Unkontrollierbarkeit und Unformierbarkeit, erlangt. 117
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weisen: Zum einen eine äußere, handlungseinrahmende, nämlich das Zimmer des I. Akts, das die Kulisse aller Situationen bildet, und zum anderen eine innere, handlungstragende, nämlich die Präsenz Marie Steubers, die jede Situation (mit Ausnahme der Szene 7) prägt. Der jeweilige Handlungsraum wird durch kleinere oder größere Interventionen im vorhandenen Bühnenbild gestaltet, wie durch die Umstellung der Sessel, das Hinzufügen von Stühlen, das Bedecken der Fenster und der Möbel oder das Hinzufügen von Pflanzen. Dazu werden (häufig) spezifische Klangund Lichträume geschaffen, die charakteristisch sind für die Situation, die sie jeweils einrahmen. Die Handlung jeder Szene wird hauptsächlich von zwei Personen getragen (Szenen 1, 2, 6 und 7); dazu gehören ebenfalls Szene 4, die als eine Art Boxkampf (siehe weiter unten) inszeniert ist, während dessen Pausen Marie von zwei Frauen und Ansgar von zwei Männern betreut, beraten und vorbereitet werden, Szene 8, bei der auch weitere Personen erscheinen, die Handlung sich jedoch auf Marie und den Graphiker konzentriert, und Szene 3, in der sich Marie mit der Säule, die eine menschliche Stimme besitzt, unterhält. Einzig Szene 5 läuft zwischen drei Männern ab (Marie erscheint nur kurz zum Schluss der Szene). Konkreter: In Szene 1 (die sich schon im vorigen Akt eingeleitet wird) finden sich die zerstreute, charmante Marie und der verführerische bzw. verblüffte Frank Arnold in dessen Wohnung ein, nachdem er sie vom Flughafen abgeholt hat; während Szene 2 ereignet sich ein lebhafter bis heftiger Meinungsaustausch zwischen Marie und ihrem Mann Rudolf über die Ursachen der Verhaltensweise Medeas. Szene 3 besteht aus einer Diskussion zwischen der sprechenden Säule und Marie. In Szene 4 spielt sich eine subversive Konfrontation zwischen der verführerischen und eindringlichen Marie und dem attackierten, fassungslosen bzw. Widerstand leistenden oder attackierenden Ansgar in Form einer BoxkampfParodie ab. In Szene 5 warten drei Männer, um von Marie (hier eine Chefin) empfangen zu werden, und unterhalten sich über eine TV-Sendung. Szene 6 ereignet sich zwischen den verlegen wirkenden Marie und Olaf in der Wohnung Maries, kurz vor ihrer Abreise und der Übernahme der Wohnung durch Olaf. Szene 7 ist die einzige, bei der Marie nicht anwesend ist; im Zimmer befinden sich Julius und Olaf und führen ein Gespräch, das sich vorrangig auf ein Telefonat von Ansgar konzentriert. Bei Szene 8 schließlich befinden sich die Personen in einem Bürokorridor, am Arbeitsplatz Maries, wo sich die schüchterne Marie und der unsichere Graphiker treffen und ein früheres Kennenlernen zu erinnern versuchen. Dieser II. Akt lässt sich zunächst als eine Darstellung von Abschnitten der Biographie Marie Steubers betrachten; der Akt verfügt über eine Chronik-Struktur, die allerdings nach durchaus eigentümlichen, besonderen Regeln aufgebaut ist.
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Die Situationen: Die partiellen Raum-Zeiten Wie schon bemerkt worden ist, bildet das Bühnenbild des I. Akts den permanenten Rahmen des gesamten II. Akts. Als „das Zimmer des I. Akts“ allerdings kommt es lediglich in der vorletzten Szene vor, wo eine direkte Referenz an das Vorangegangene vorgenommen wird, indem die Sessel wieder wie im I. Akt platziert werden (das heißt der eine zum Fenster, der andere zum Zimmer) und Julius und Olaf auftreten. Darüber hinaus ist der Regenklang zu hören, was dann vorkommt, wenn Olaf im Sessel zum Fenster sitzt. 6 Sonst ist bei jeder Szene ein durchaus eigener räumlicher Rahmen wahrzunehmen; „das Zimmer“ transformiert sich fortwährend sowohl durch Umstellungen oder das Hinzufügen von Requisiten, als auch und hauptsächlich durch die spezifische situative Räumlichkeit, die sich wiederum durch drei inszenatorische Faktoren konstituiert: a) durch die Personenkonstellationen und -interaktionen, b) durch deren räumlichen Äußerung und c) durch die eigentümliche Zeitlichkeit, die hier nicht vom jeweiligen Raumbild abhängt, sondern umgekehrt erst das Raumbild gestaltet und ihm jeweils Qualitäten und Bedeutungen zuschreibt. Ein aufschlussreiches Beispiel für die Entstehung und Entfaltung der einzelnen Raum-Zeiten, sowie deren Verhältnis zueinander bieten die Szenen 2, 3, 4, die hier detailliert beschrieben werden sollen: Szene 2: Das Zimmer – wie im I. Akt; lediglich der schwarze Mantel Maries hängt an der linken Wand, links neben der Tür. Bevor die Personen die Bühne betreten, sprechen sie aus den Kulissen schreiend die ersten Worte ihres Dialogs. Plötzlich reißt Rudolf die weiße Tür weit auf und dringt, von Marie gefolgt, ins Zimmer ein. Es fängt so eine heftige Auseinandersetzung zwischen Marie und Rudolf an, bei der es hauptsächlich um Medeas Handlungen bzw. um Maries Besessenheit von der Tragödie geht. Die Inszenierung des sowohl sprachlich als auch körperlich (durch Schreien, ausdrucksintensive Gesten etc.) artikulierten Streits, die durchaus ironische und spielerische Nuancierungen zulässt, nimmt das gesamte Handlungsfeld in Anspruch: Durch rhythmische Annäherungen und Entfernungen des einen zum und vom anderen erstreckt sich die Aktivität in einem vorwiegend schnellen Tempo von der Wohnungstür zur Treppe oder zur linken Wand, von der hinteren Säule zu den Sesseln, vom vorderen, mittleren Bereich der Mauer zum mittleren Fenster etc. Mal sprechen Marie und Rudolf voller Wut, mal versuchen sie eine ruhigere Diskussion aufzubauen; plötzlich beginnt Marie zu weinen, und genauso plötzlich wird sie wieder wütend und fängt an zu brüllen, und dann beruhigt sie sich wieder etc. Das Zimmer fungiert in diesem Zusammen6
Siehe I. Akt, S. 322 und 330. 119
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hang als spannungsreicher Konfrontationstopos, im Rahmen dessen ein Ringen um eine Verständigung zwischen den Polen des gewaltigen Wutausbruchs und der Selbstbeherrschung vollzogen wird. Als ausdrücklicher Kontrast zu Szene 2 sollte der Dialog Maries mit der Säule in Szene 3 angesehen werden: Von einem expliziten Übergang zu einer anderen Szene kann hier kaum die Rede sein: Marie bleibt auf der Bühne und wendet sich zum rechten Fenster, während Rudolf langsam, sich auf ein Buch, das er in den Händen hält, konzentrierend, die Bühne im hinteren Bereich durchquert und durch die weiße Tür verschwindet. Marie beginnt ihre Worte zu sprechen, aus dem Fenster hinausschauend, während sich das Zimmer verdunkelt. Durch die langsame und betonende Artikulation der Äußerungen und durch die träge Bewegungsausführung, zur Immobilität tendierend, wird eine eher ernste, statische Impression intendiert. Der Handlungsraum reduziert sich auf das Minimale: Er besteht nun aus einer imaginären Linie zwischen Marie und der Säule, die die Bewegung der Person bestimmt (Marie bewegt sich ausschließlich auf dieser imaginären, horizontalen Linie, welche die Säule mit der linken Wand verbindet und die im hinteren Bereich der Bühne verläuft). Der Raum als Zimmer, als Einrahmung scheint sich in dieser Szene aufgelöst zu haben; es existieren bloß die Person und das sprechende Ding, das seine Eigenschaft als Element des Raums hier nur zum Teil bewahren kann. Die Ordnung – und damit Raum und Zeit – ist aufgehoben worden; vielmehr soll hier ein magischer Eindruck vermittelt werden, der eine Zäsur in der Lebens-Episodik setzt und jenseits von raumzeitlichen Grenzen aufzufassen ist. Es wäre in diesem Sinne eher von der Vermittlung der Impression einer Achronie und Atopie zu sprechen, von einem Augenblick 0 in der Existenz-Chronik. Am Ende der Szene befindet sich Marie an der linken Wand, die sie mit ihrem Gesicht, Körper und ihren Händen – sie hat ihre Arme nach oben gehoben – berührt; sie dreht sich langsam um, gähnt (war das Ganze ein Traum?), öffnet ihre Augen und blickt sich kurz um. Szene 4: Laute Rockmusik ertönt plötzlich, die Beleuchtung wird blau, die Wohnungstür und die weiße Tür werden aufgerissen und ins Zimmer dringen zwei Frauen (Sabine und Dinah aus dem ersten Akt) und drei Männer (Ansgar, Julius und ein unbekannter Mann, der „der Helfer“ benannt werden wird) ein. Während Julius und der Helfer das Zimmer neu arrangieren (sie stellen die Sessel diagonal nebeneinander in die Mitte der Bühne und den Tisch vor sie und bedecken die Fenster mit den Stoffrollos), helfen Sabine und Dinah Marie, sich umzuziehen. Sobald alles vorbereitet ist, nehmen Marie und Ansgar ihre Plätze ein (sie setzen sich in die Sessel), das Zimmer erhellt sich, die Musik wird eingesetzt, und es beginnt eine zunächst gelassene Diskussion, die sich aber im Laufe der Zeit in eine kämpferische Auseinandersetzung verwandelt. Wie schon erwähnt ist diese Szene als eine Boxkampf-Parodie, in der die 120
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Wörter an die Stelle der Schläge treten, und der Handlungsraum als eine Arena inszeniert worden. Die Handlung vollzieht sich in drei Raumorten (die allerdings eine diagonale, den Raum durchquerende, imaginäre Linie bilden), nämlich in der Mitte des Zimmers, wo der „Kampf“ hauptsächlich stattfindet, und an den Grenzen des Zimmers, von wo aus Sabine und Dinah einerseits und Julius und der Helfer andererseits die Partie beobachten und wo sie entsprechend Marie und Ansgar während der von der Inszenierung gesetzten Pausen, die durch Lichtveränderung (Verdunkelung) und Musikeinsatz angekündigt oder begleitet werden, betreuen. Die Gestik der Szene beinhaltet Verführungsstrategien (die Weise zum Beispiel, wie sich Marie mit beiden Beinen zur Seite auf dem Sessel zusammenrollt und ihren Oberkörper auf Ansgar ausrichtet), erotische Berührungen (Ansgar streichelt Maries Körper, setzt seine Hand zwischen ihre Oberschenkel bzw. auf ihre Genitalien) und weitet sich bis hin zur satirisch-spielerischen Imitation eines wahren Kampfs aus (Marie und Ansgar greifen sich gegenseitig an, fallen wuchtig auf den Boden und Ähnliches. Zum Schluss wirft Marie mit einem Karategriff Ansgar auf den Boden, stellt ihren Fuß auf seinen Unterleib und stößt einen ekstatischen Siegesschrei aus). Die Handlungs- bzw. Kampfpausen unterbrechen abrupt die im Laufe der Szene zunehmend schwindende Rhythmik, in Momenten allerdings, in denen durch den Stimmton oder durch eine steigernde Mobilität ein gewisser Höhepunkt (im Sinne einer rhythmischen Abstufung) signalisiert wird. Die hier vorgenommene Beschreibung des exemplarischen Szenenkontinuums 2-3-4 soll zum einen die Differenzen der Entstehung und Entfaltung der diversen Raum-Zeit-Gestalten, die sich ausschließlich auf die situative Sequenz, aus der jede einzelne hervorgeht, beziehen, und zum anderen die Relation der Raum-Zeit-Bilder zueinander bzw. ihre Funktion und Position im Aktverlauf verdeutlichen. Es wären in diesem Zusammenhang folgende zwei Beobachtungen festzuhalten: a) Die Geschlossenheit der Raum-Zeit-Bilder: Jede einzelne Raum-ZeitGestalt existiert völlig autonom und lediglich während der konkreten, auf die jeweilige Situation bezogenen Zeitspanne, und b) die Bedeutung der Zeitlichkeit als primärer Differenzierungsfaktor der jeweiligen Situation: Nicht das szenografische Eingreifen, sondern die Spezifik der jeweiligen Temporalität – so wie sie sich aus dem Da- und Sosein, der Interaktion und Handlung der Personen herauskristallisiert – schreibt den Topoi prinzipiell Eigenschaften zu.
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Die Eigenschaften des Raum-Zeit-Gesamtbilds des Akts, die im folgenden ausführlicher untersucht werden sollen, stehen in engem Zusammenhang mit der Beziehung dieser autonomen Zeiteinheiten zueinander und konkreter mit jenen Elementen, die die partiellen Zeitgestalten zu einer Gesamtheit konstituieren. Das Raum-Zeit-Bild Wie schon bemerkt stellt dieser II. Akt eine Reihe von Situationen her, die sich auf zwei gemeinsame Strukturelemente stützen: ein räumliches, nämlich das einrahmende „Zimmer des I. Akts“ und ein zeitbezogenes, nämlich die durchgehende Präsenz Marie Steubers. Beide Elemente stehen einerseits mit dem Vorangegangenen in Zusammenhang, indem sie sich zunächst als eine bestimmte oder bekannte Identität tragende Zeichen präsentieren, nehmen andererseits eine den vorher gewonnenen Bedeutungen gegenüber subversive Rolle an, indem sie allmählich deren Differenz manifestieren und vor allem deren Wandelbarkeit hervorheben. Der zu transformierende Raum (des I. Akts) verliert im Laufe der Zeit jeglichen Verweis auf sein vergangenes Sosein, indem er im Rahmen jeder Situationssequenz auf eine Weise gestaltet wird, die ihm jedes Mal völlig neue Eigenschaften zuschreibt (er wird sich ständig von neuen Personen zu eigen gemacht und entsprechend auf verschiedene Weisen verwendet). In diesem Sinne erscheint auch das Zimmer Julius’ und Olafs in Szene 7 nicht mehr als das Zimmer des I. Akts, sondern als ein anderer Raum, dessen frühere Charakteristika im jetzigen Situationskontinuum subvertiert oder aufgehoben worden sind. Im Allgemeinen wäre hier festzuhalten, dass die Relation zwischen dem I. und dem II. Akt keinesfalls und zu keinem Zeitpunkt kausal aufzufassen ist. Die Raumgestalt des II. Akts präsentiert sich insofern keineswegs einheitlich, sondern setzt sich aus diversen Räumen zusammen, die als solche in keiner Beziehung zueinander stehen. Andererseits erweist sich der Zeit-Faktor als eine grundlegende Komponente der Akt-Struktur im Sinne der Immanenz einer einheitsstiftenden Funktionalität (und zudem einer die Geschlossenheit der partiellen Situationsraumzeiten sprengenden Kraft). Dem Zeitlichen, das in der und durch die Präsenz Maries enthüllt und gestaltet wird, kommt insofern eine signifikante Position zu, als es zur Antriebskraft des Verlaufs der Geschehnisse avanciert und entsprechend als zentrale thematische Dimension des Akts angesehen werden kann. Die präsente Zeitlichkeit Maries, in Form einer sich entfaltenden (quasi mobilen) Biographie, stellt die eigentliche Ursache der Entstehung von Situations-Räumen und Situations-Zeiten dar. Die Präsentmachung dieser Biographie initiiert erst die Geschehnisse: Nicht nur existieren die
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Personen, weil Marie ihnen begegnet ist; nicht nur entstehen die Räume, weil Marie sie durchquert; ihr Da- und Sosein rhythmisiert darüber hinaus jede einzelne Situation und koordiniert die Elemente, die die Zeitlichkeit jeder Sequenz konstituieren. Gewiss erscheint Marie jedes Mal mit einer anderen (Körper-)Sprache, mit einer anderen Charakteristik – sodass die Konstituierung einer Personen-Ganzheit, eines einheitlichen Individuums-Bilds gefährdet, wenn nicht gänzlich unmöglich ist –, die das jeweilige Raum- und Zeit-Bild entsprechend beeinflussen und differenzieren; 7 dennoch sind immer das selbe leibliche Material (der Akteurin) und der erkennbare Bewegungscode präsent, die die zeitliche Kohärenz gewährleisten. Mit zeitlicher Kohärenz ist keine zeitliche Folge von zusammenhängenden Situationen gemeint; es handelt sich eher um eine körperliche Zeitlichkeit, deren Artikulation die Akt-Rhythmik reguliert: Die Weise, wie die Akteurin Libgart Schwarz sich als Marie Frank Arnold (Szene 1), Olaf (Szene 6) oder dem Graphiker (Szene 8) annähert – ihren Oberkörper leicht nach vorne beugend, sich langsam und vorsichtig bewegend bzw. verlegen wirkend – stellt eine Konstante ihres Kommunikationsmodus dar, die, wie etliche andere, im Aktverlauf ständig identifizierbar ist. Der Akt stellt sich so als ein bruchstückhaftes Kontinuum von RaumZeit-Bildern dar, denen eine körperliche Erkennbarkeit zugrunde liegt: als eine außer-ordentliche, nach eigenen Regeln existierende Chronik einer Präsenz. Der „Zeitpfeil“ erfährt in dieser Chronik ein radikales Entschwinden: Die Chronik-Episoden werden derart zusammengestellt, dass unter Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem kaum zu unterscheiden ist. Jedes Fragment kann einem beliebigen anderen zeitlich vorausgehen oder folgen; von einer Zeitrichtung im Sinne einer temporalen Konsequenz kann keine Rede sein. Die Biographie-Fragmente werden beliebig in einem Zeitbild miteinander montiert, das paradoxerweise eine Aufeinanderfolge von Situationen, und in diesem Sinne eine Prozedur und eine Bewegung impliziert, ohne allerdings einen konventionellen Zeitfluss zu berücksichtigen bzw. wahrnehmbar zu machen. Das Gesamtzeitbild wird somit zu einer Montage von aufeinanderfolgenden Gegenwarten (insofern als das jeweilige situative Zeit-Fragment seine Eigenschaft als Vergangenes oder Künftiges bezüglich der restlichen Zeit-Fragmenten verliert und in diesem Sinne lediglich seine gegenwärtige Dimension als einzig gültige oder sichere temporale Qualität behält) und charakterisiert sich dementsprechend durch Simultaneität bzw. parallele Existenz von Raum-Zeiten. Unter diesem Aspekt des gleichzeitigen Vorhandenseins von Zeit- und Raum-Segmenten kann 7
Vgl. hierzu beispielsweise die Szenen 2 und 3 (siehe weiter oben). 123
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dem einheitlichen Bühnenbild, nämlich „dem Zimmer des I. Akts“, eine temporale Deixis zugeschrieben werden: Es ließe sich nämlich als Verräumlichung der simultanen Präsenz aller Chronik-Episoden deuten.
Die Zeit und das Zimmer: Der abschließende Blick In diesem die Analyse abschließenden Abschnitt möchte ich nun einen komparativen Blick auf die chronotopischen Qualitäten der zwei Aufführungsakte werfen, um das Verhältnis zwischen den raumzeitlichen Gegebenheiten der beiden Aufführungsteile zu beleuchten und hervorzuheben. Der I. Akt besitzt durch die kastenartige Bühnengestaltung einen äußerst expliziten und konkreten (räumlichen) Rahmen, der, von der restlichen Szenographie unterstützt, dem verriegelten Raum (das heißt dem gesamten Spielfeld) klare Charakteristika zuschreibt: Es handelt sich um einen geschlossenen, internen Raum, der auf ein Wohnungszimmer verweist. Der gesamte Akt verläuft zudem ohne szenographischen Wechsel in diesem von Anfang an wahrzunehmenden Raum. Dementsprechend ist hier festzuhalten, dass der Handlungsraum des I. Akts sich zunächst vollkommen mit dem Inneren des durch das Bühnenbild geschaffenen, kastenförmigen Rahmens identifiziert. Diese deutlich demonstrierte Geschlossenheit des Handlungsraums konfrontiert sich im Laufe des Geschehens mit der eher dissipativen Strukturierung der segmentalen Raum-Zeiten. Die Personen betreten das Zimmer in ihrer eigenen, individuellen Räumlichkeit und Zeitlichkeit; im Aktverlauf verwickeln sie sich nach und nach in Äußerungs- und Kommunikationsakten und generieren dadurch (weitere) partielle Interaktions-Räumlichkeiten und -Zeitlichkeiten. Der gesamte I. Akt lässt sich als ein anhaltender, kontinuierlicher Kommunikationsprozess zwischen diversen Personen, die sich am selben Ort aufhalten, auffassen. Diese Tatsache hat zur Folge, dass die personellen Raum-Zeiten sich eben nur während ihres Kommunizierens, ihrer Konfrontation mit (einer) anderen Raum-Zeit(en) realisieren. 8 Dementsprechend kommt den Chronotopoi der Interaktion im Vergleich zu den einzelnen, personellen Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten, die als solche eigentlich nicht existieren, 9 eine dominante Relevanz zu. 8 9
Die Äußerungen der Personen werden immer durch einen Kommunikationspartner oder Zuhörer veranlasst. Siehe hierzu beispielsweise S. 113-114 des vorliegenden Texts: Während seines Monologs – und strikt solange er andauert – verwandelt sich Julius in eine völlig andere Person im Vergleich zu seiner restlichen Präsentation. Trotz der wahrzunehmenden körperlichen Erkennbarkeit kann von einem einheitlichen Individuums-Bild, das entsprechend eine eigene, kohärente 124
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Dabei lassen sich die Interaktionssequenzen, wie schon gezeigt wurde, 10 nicht oder nur äußerst schwer im Raum positionieren; es handelt sich eher um dynamische, ständig zu entwickelnde Räumlichkeiten, die weniger als Interaktionsorte, sondern eher als „Versammlungen beliebiger Raumpunkte“, 11 die labile und flüchtige, segmentale Handlungsräumlichkeiten zu konstituieren vermögen, zu verstehen sind. Die Unmöglichkeit der räumlichen Situierung der Handlungssequenzen stellt nicht die einzige Ursache für die Entkräftung der Räumlichkeitsidentität der Handlungen dar: Die Personen agieren innerhalb eines demonstrativ geschlossenen Raums, den sie zu überwältigen haben, um eine Annäherung aneinander erzielen zu können. Die Division des sichtbar begrenzten Raums in unzählige, autonome Handlungsräume, die zunächst den Eindruck einer Grenzüberschreitung und eines Expansionswillens vermitteln mag, hat umgekehrt das Ziel, sich den (unendlich scheinenden) Raum zu eigen zu machen und letztendlich zu reduzieren, um ihn zu beherrschen. Es ist dementsprechend eher eine Tendenz zur Aufhebung des Raums, zur Enträumlichung 12 zu erkennen. Da aber die Handlungen dermaßen fragmentarisch, flüchtig, indifferent und wirkungslos verbleiben, sind die Personen kaum bzw. nur momentan in der Lage, den Raum „erfolgreich“ zu konfrontieren und ihn zu ihren Nutzen zu transformieren. Nicht nur erweist sich die Verortung der Handlungssequenzen als kaum möglich, sondern auch die Räumlichkeitsidentitäten der partiellen Handlungsräume haben eine derart begrenzte Existenz und Gültigkeit, dass sie nicht in der Lage sind, die Räumlichkeit des gesamten Handlungsraums zu definieren. „Das Zimmer“ verbleibt zum Schluss ein formloser Raum, dessen äußere Stabilität (durch die Einrahmung expliziert) ständig mit einer inneren Labilität und Unstrukturiertheit zu kämpfen hat.
und erkennbare Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu etablieren in der Lage wäre, kaum die Rede sein (siehe auch weiter im Text, bezüglich der Person Marie Steubers). 10 Siehe weiter oben, insbes. S. 111-112. 11 Vgl. hier die Definition des „Ortes“ von Michel de Certeau (Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 218): „Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten.“ Allerdings sehe ich einen gewissen Widerspruch in der Formulierung, diese „momentane Konstellation“ könnte „einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität“ (ebd.) enthalten; deswegen würde ich eher oder in unserem Kontext die „festen Punkte“ (ohne eine determinierte Größe oder Weite allerdings) als „Orte“ und die „momentane Konstellation“ schon als Produktion der Raum- oder Räumlichkeitsartikulation verstehen (vgl. ebd., ff.). 12 Siehe S. 117. 125
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In diesem Rahmen spielt Zeit die Rolle des Destabilisierungsfaktors par excellence, im Sinne des Urhebers der Handlungsfragmentierung und der Generierung von Distanz zwischen den Handlungsträgern und -sequenzen. Eine definierbare „Zeit des Zimmers“ im Sinne einer konkreten Dauer, im Rahmen derer sich die Handlungen kausalitätsgemäß einordnen ließen, existiert nicht. Die Gründe und Anlässe sowohl der Versammlung der Personen im Zimmer als auch der weiteren Handlungen sind völlig unüberschaubar oder nicht logisch konzipierbar. Die Personen betreten das Zimmer und führen Handlungen durch, ohne dass eine plausible oder gar erkennbare Ursache sie dazu motiviert hätte. Es entstehen somit Handlungssequenzen, die weder eine interne Logik verfolgen noch zu einer Beziehung miteinander gebracht werden können. Vielmehr handelt es sich um Handlungsmomente, die wohl eine Zeit des Handlungsraums zu konstituieren vermögen, sich jedoch in keine zeitliche Kontinuität situieren lassen. Die Zeit des Handlungsraums ließe sich nun als eine Resultante der partiellen (personellen, situativen) Zeitlichkeiten verstehen, allerdings als eine unmöglich zu skizzierende und zu definierende Resultante – und dies einerseits wegen der Eigenart besagter partieller Zeitlichkeiten und andererseits wegen der Willkür, mit der sie sich entfalten –, die entsprechend nicht als homogene Linie, sondern eher durch ihre Verzweigungen sichtbar wird. Dem temporalen Element ist jedoch in diesem I. Akt eine besondere Relevanz zuzuschreiben, indem es dem Raum gegenüber eine gegensätzliche Rolle annimmt: Die Personen überschreiten den geschlossenen Topos durch die Freiheit, die ihnen ihre eigene Zeitlichkeit gewährleistet. In dem begrenzten Raum, in welchem sie sich zu entfalten und zu handeln haben, können sie sich nur als Zeitlichkeiten und als Zeitlichkeitserzeuger behaupten. Der Handlungsraum lässt sich nicht ändern, die Zeit aber lässt sich wohl beeinflussen, weil sie eben, von Anfang und Ende befreit und unabhängig von jeglicher Gerichtetheit, den Personen eine grenzenlose Offenheit und eine immense Plastizität offeriert. Die fragmentartigen, fraktal strukturierten Präsenz- und Handlungsmomente verschaffen unter diesen Aspekten dem Raum eine zeitliche Dynamik, die unendliche Zeiterscheinungen in sich birgt und dadurch die gesetzten Grenzen zu transzendieren in der Lage ist. 13
13 Und es ist diese Unendlichkeit an entsprechend nicht situierbaren und einzuordnenden Zeiterscheinungen, die den Eindruck der Gleichzeitigkeit von Handlungen, Situationen und Personen vermittelt und darüber hinaus zur oben angesprochenen „Verselbstständigung“ der Akt-Zeit beiträgt. 126
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Zusammenfassend ist zu behaupten, dass der I. Aufführungsakt sich chronotopisch als eine Prozedur der Balanceerhaltung zwischen einem geschlossenen, explizit begrenzten Raum, den die Personen zu beherrschen – und in einem Sinne zu entmachten oder zu schrumpfen – suchen, und unzähligen, separaten, fraktal strukturierten Zeiterscheinungen, die eine entgegengesetzte Funktion haben, nämlich das Sprengen, das Transzendieren aller Grenzen, zu konzipieren ist. Der II. Akt der Aufführung präsentiert ein anderes, antithetisches Raumzeit-Bild: Das Verschwinden Marie Steubers in die Zimmer-Säule bringt einerseits die Raum-Zeit zur absoluten Erstarrung, was sich deutlich im tableau vivant manifestiert, und signalisiert andererseits die Überschreitung der chronotopischen Gegebenheiten, nicht etwa durch eine erfolgreiche Handlung, sondern durch ein plötzliches, außerordentliches, ja zauberhaftes Vorkommnis, das imstande sein soll, der sinnlosen Handlung ein Ende zu bereiten. Der Raum absorbiert Marie Steuber und spuckt sie sozusagen in andere Räume, andere Zeiten und unter anderen Menschen aus. Der II. Aufführungsakt lässt sich als die Chronik einer Präsenz, als das Umherstreifen einer Person in Raum-Zeiten auffassen, die als einzige gemeinsame Eigenschaft das Dasein dieser Person besitzen. Obwohl die szenographische Intervention des I. Akts, nämlich die Einrahmung der Bühne, auch im II. Akt erhalten bleibt, ist eine Referentialität zwischen den Handlungsräumen der beiden Akte gänzlich auszuschließen. Hier handelt es sich um mehrere individuell gestaltete Räume, die jeweils völlig eigene Handlungen einrahmen. Ebenso verhält es sich mit der Aktzeit, die sich als eine Montage von autonomen Handlungsmomenten präsentiert, die an sich in keinem zeitlichen Zusammenhang miteinander stehen und als bloße Gegenwartserscheinungen wahrzunehmen sind. Jeder für eine bestimmte Handlungssequenz (Szene) geschaffene Raum ist von einer ganz konkreten Dauer, die nämlich mit der Zeitspanne, welche für die Durchführung der Handlungen dieser Szene nötig ist, zusammenfällt. Intern, das heißt im Rahmen jeder Szene, haben Raumund Zeitgestaltung eine besondere Rolle inne, indem sie die Spezifik der jeweiligen Situation zuallererst konstituieren. Allerdings nehmen sie im Gesamtbild der Akt-Raum-Zeit als solcher eine eher entkräftete Position an, indem sie ihrer Geschlossenheit, Begrenztheit und vor allem Heteronomie unterworfen sind. Die Existenz der Räume, Zeiten und Situationen lässt sich insofern als heteronom begreifen, als sie ausschließlich von der Präsenz Marie Steubers abhängt. Durch ihre kontinuierliche Mobilität ist sie in der La-
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ge, Räume und Zeiten zu betreten und ihnen zu entgehen bzw. sie zu schaffen und zu zerstören; sie verschafft ihr die Fähigkeit zur Überschreitung jeglicher chronotopischer Grenzen und gestaltet ihre Präsenz als eine nicht zu situierende Ereignishaftigkeit, welche ihr die Möglichkeit der Schaffung einer eigenen, stabilen Räumlichkeit, die sie im Raum zu positionieren hätte, entzieht 14 und ihr Dasein vielmehr mit einer Zeitlichkeit identifizieren lässt, derer kein Charakter-Bild, sondern eine körperliche Erkennbarkeit zugrunde liegt. Maries Präsenz ist durchaus eine rhythmisierende, temporale Instanz, die den gesamten Handlungsverlauf diktiert und reguliert; sie stellt die einzige Konstante dar, nach welcher sich die Räume und die Zeiten des Akts orientieren. Unter diesen Aspekten lässt sich dieser II. Akt der Aufführung umgekehrt als die Artikulation und Präsentation einer Zeitlichkeit, die sich in verschiedenen Räumen vollzieht, verstehen.
Marie Steuber versus Libgart Schwarz Ich habe die präsente Marie Steuber insofern als die zentrale, regulierende Instanz des II. Aufführungsakts definiert, als sich dieser als die (eigenartige) Chronik einer Präsenz präsentiert; eine prononcierte Stellung ist ihr allerdings ebenfalls im I. Akt der Aufführung zuzusprechen, insofern als ihr Erscheinen die Geschehnisse im Handlungsraum zu initiieren scheint bzw. ihr Verschwinden der Handlung ein abruptes Ende setzt. Marie Steubers Da- und Sosein durchzieht die gesamte Aufführung als eine Art innerer, andauernder Rhythmus, der die Ereignisse dirigiert oder quasi reglementiert. Die zentrale Rolle der dramatis personae Marie Steuber lässt sich ohne weiteres auch im Stück Strauß’ feststellen. Im geschriebenen Ausgangstext wird ihr eine gleichfalls bedeutende Funktionalität zugesprochen, allerdings eine derartige, die sich von dieser in der Aufführung stark differenziert, wenn nicht widersetzt. Im Felde der Gegenüberstellung von Marie Steuber als dramatis persona und Libgart Schwarz als ihre Verkörperung, also der textuellen und der szenischen Gestalt der besagten zentralen Figur, realisiert sich hier das dialektische Spiel zwischen Absenz und Präsenz, das sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Während der Dramentext eher den Spuren einer räumlich und zeitlich nicht situierbaren Präsenz, welche die gegenwärtige Absenz umso deutlicher markiert, nachzugehen scheint, baut die Aufführung auf die Artikulation einer expliziten Präsenz, die den Ton ihrer (der Aufführung) gesamten Strukturierung angibt. 14 Die eigene Räumlichkeit identifiziert sich hier vielmehr mit der Vielfalt der Räume, die sie durchquert bzw. die sie schafft. 128
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Nun will ich denjenigen Techniken und Strategien nachspüren, die Text und Aufführung zur Verdeutlichung der jeweils dominanten Tendenz (der Akzentuierung von Absenz oder Präsenz) entwickeln und verwenden. Der Fokus lenkt sich hier hauptsächlich 15 auf das absente bzw. präsente Sein, nämlich Marie Steuber im Drama und auf der Bühne, und dessen konkrete Präsentation hier (und) jetzt. Ich behaupte hier, dass die jeweils spezifische Auseinandersetzung (des Texts und der Aufführung) mit der Absenz bzw. Präsenz Maries nicht nur Konsequenzen für die Deutung und Bedeutungsbeilegung von Text und Aufführung insgesamt hat, sondern darüber hinaus auch als ein selbstreflexiver Gestus seitens des Texts und der Aufführung (über die eigenen Mittel und Möglichkeiten) angesehen oder interpretiert werden kann. Der erste Punkt, den ich fokussieren möchte und der von Relevanz zu sein scheint, bezieht sich auf die Rolle des Kontexts und der Umgebung, in welchem/welcher sich Maries „Präsenz“ entfaltet. Dies werde ich im I. Dramen- und Aufführungsakt untersuchen, wo das Spielfeld insgesamt von neun Personen genutzt und gestaltet wird. Zunächst zum Drama: Marie Steuber ließe sich im I. Dramenakt leicht aus dem personellen, räumlichen und zeitlichen Zusammenhang herausnehmen; sie könnte sozusagen als eine autonome oder externe Existenz angesehen werden. Diese Dekontextualisierung hängt natürlich mit der Spezifik des Dramas an sich zusammen, dessen Form die Hervorhebung jeweils eines Äußerungsakts erlaubt. Andererseits aber wird sie durch die ganz konkrete Rollengestaltung angeregt: Die dramatis persona Marie Steuber geht eher selten auf Dialoge ein oder scheint meistens niemand bestimmten anzusprechen; sie wird öfters neben einem Fenster – und zwar aus diesem Fenster hinausblickend – positioniert; 16 sie führt kurzum ihre ganz eigenen Handlungen aus unabhängig von den restlichen Ereignissen. Diese ihre dramatische Daseinkonstitution – die selbstverständlich auch durch den Inhalt ihrer Aussagen, die eben den Eindruck einer Distanzierung und Nicht-Zugehörigkeit untermauern, zustande kommt 17 – provoziert nicht nur, sondern privilegiert die Betrachtung der dramatis personae Marie Steuber als exzentrischer Instanz im Geschehen.
15 Ohne allerdings den generellen raumzeitlichen Kontext, der hier eine wichtige Rolle zu spielen scheint (siehe weiter im Text), aus dem Blick zu verlieren. 16 Siehe hierzu unter anderem S. 322, 326, 328, 330. 17 Siehe hierzu zum Beispiel ihre Monologe S. 322, 326, 329; Marie spricht fast immer über Geschehnisse, die an anderen Orten, zu anderen Zeiten und unter anderen Menschen stattgefunden haben. 129
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Die Aufführung platziert Marie/Schwarz dagegen immer in einen räumlichen, zeitlichen, personellen und situativen Kontext. Dies hat wiederum mit der Spezifik der Aufführung zu tun, die immer die Wahrnehmung einer Umgebung fordert. Andererseits – und dies ist diesbezüglich die bedeutende Intervention dieser Inszenierung – nimmt hier die Rolle des restlichen Personals oft die Charakteristika einer chorischen Formation an. Nicht nur befinden sich die meisten Agierenden permanent auf der Bühne, sondern sie initiieren, kommentieren oder verfolgen durch ihre Blicke, Bewegungen und Aktionen die Taten Maries auch. Die Präsenz(artikulation) letzterer, ihre persönliche Räumlichkeit/Zeitlichkeit konstituiert sich immer und in großem Maße im Rahmen ihrer Interaktion mit den restlichen Präsenzen. Wie tragen nun diese Kontextabwesenheit (im Drama) bzw. -anwesenheit (in der Aufführung) zur Artikulation und Veranschaulichung der dialektischen Gegenüberstellung zwischen absenter und präsenter Marie bei? Es stellt meines Erachtens eine Intention des Texts dar, Marie Steuber als absent – als Dasein ohne präsente Räumlichkeit und Zeitlichkeit – zu präsentieren. Sowohl ihre Situierung in die umgebende Raum-Zeit, 18 durch die sie ja periphere chronotopische Charakteristika erlangt, als auch das Absprechen räumlicher und zeitlicher Qualitäten, die als konstitutive Eigenschaften ihres Daseins zu fungieren hätten, durch den spärlich oder fragmentarisch wahrzunehmenden Kontext, belässt sie – als raumzeitliches Dasein hier und jetzt – undefiniert bzw. undefinierbar. Es wird vielmehr der Eindruck vermittelt, als handele es sich bei der dramatis personae Marie Steuber um eine autonome (fern von jeglichem Einfluss), unbegrenzte (räumlich undefiniert) und unendliche (außerhalb der Zeit) Existenz. In diesem Sinne wäre ihr Dasein als a-topisch und achronisch, also als nicht zu bestimmende und zu verortende Präsenz, zu betrachten, welche die Geschehnisse – auf welche Art auch immer – transzendiert. Die Aufführung verfolgt ein entgegengesetztes Ziel: Sie betrachtet Marie Steuber als eine ganz konkrete Präsenz, stellt sie in einen Kontext, der durchaus bestimmte Gestalten annimmt, und inszeniert ihr raumzeitliches Dasein in permanenter Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit dem/den Anderen. Die Tatsache, dass Marie exakt wahrnehmbare, in einen klar umrissenen Zusammenhang eingefügte Bewegungen und Ak18 Die beharrliche Platzierung Maries neben dem Fenster – den Blick nach außen gerichtet –, ohne dass ein explizites Bewegungsinventar vorgeschrieben wäre, und darüber hinaus die Bezugnahme ihrer Worte auf vergangene und künftige Ereignisse deuten offenbar auf eine Aufhebung des hic et nunc zu Gunsten des Zutritts anderer Raum-Zeiten hin. 130
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tionen durchzuführen hat und zwar in ihrer eigenen und einzigartigen Körperlichkeit, bezeugt eine Räumlichkeit/Zeitlichkeit, welche Geschehnisse und Situationen beeinflusst und zugleich von ihnen beeinflusst wird. In diesem Sinne hat ihr raumzeitliches Dasein durchweg konkrete Folgen für die Sichtbarmachung bzw. die Produktion und Gestaltung des hic et nunc: Die Modalität der Artikulation ihrer Präsenz macht die Raum -Zeit als präsente wahrnehmbar. Nun zu den Details der Konstitutionsweise des raumzeitlichen Daseins (der Präsenz) Maries, dessen Annäherung diese Opposition von Absenz und Präsenz aufklären und mit zusätzlichen Merkmalen versehen wird. Diesmal lege ich den II. Akt des Stücks und der Aufführung zugrunde, der einige interessante Bemerkungen erlaubt. Der dramatische Text offeriert in Bezug zunächst auf die handlungseinrahmende Raum-Zeit eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten. Obwohl im II. Akt des Stücks als räumlicher Handlungsrahmen das aus dem I. Akt bekannte Zimmer angegeben wird (Szenen 1, 2, 3, 7, 8), wird öfter auf dieses kein expliziter Bezug genommen (Szenen 4, 5, 6). Darüber hinaus und wichtiger noch ist die Gestaltung der jeweils unterschiedlichsten innerszenischen Situationen, die den Chronotopos jeder einzelnen Szene eine autonome, in ein raumzeitliches Kontinuum nicht zu situierende Existenz zusprechen. 19 Hierzu sei ein kurzer Verweis auf den I. Akt erlaubt: Obwohl dessen Handlung sich ja in eben diesem einen Zimmer entfaltet und eine eigentlich konkrete Zeitspanne in Anspruch nimmt, ist er auf eine derartige Weise strukturiert, die den Einzug unzähliger partieller Chronotopoi gestattet, wenn nicht sogar erforderlich macht. 20 Diese raumzeitliche Polymorphie, die sich entweder durch die parataktische Darbietung nicht (unbedingt) zusammenhängender, autonomer Raum-Zeiten (II. Akt), oder aber durch eine mosaikartige Verbildlichung der Chronotopoi (I. Akt) äußert, markiert eine Absenz im Sinne der Suspension des Hier und Jetzt zu Gunsten einer raumzeitlichen Entfesselung und Grenzenlosigkeit: Das Stück intendiert das Verwischen 19 Ein „Extremfall“ solcher Autonomie und chronotopischer Dislokation bildet Szene 3, nämlich die Szene des Dialogs zwischen Marie und der Säule, die eben wegen ihres spezifischen Inhalts raumzeitlich auf eine differente Ebene im Vergleich zu den restlichen Szenen bzw. außerhalb des Geschehens zu positionieren wäre. 20 Als ein Beispiel dafür wäre folgende Handlungssequenz auf S. 328 zu nennen: Anlässlich des Erscheinens der „Schlaffrau“ im Zimmer erinnert sich Julius an ein früheres Verhältnis zwischen ihm und Dinah. Während seines Monologs wird der Leser zu anderen Räumen („Strohhaus gleich hinter den Dünen. Den ganzen Tag in den Betten...“) und anderen Zeiten („Schöner Ausflug damals [...] Junges Mädchen...“) geführt. Siehe auch hierzu die oben angesprochenen Monologe Maries. 131
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und Verschwinden raumzeitlicher Grenzen und setzt auf ein diffuses Raum-Zeit-Bild, in das sich diverse Räume und Zeiten beliebig einfügen ließen, ohne ein stabiles Hier und Jetzt vorauszusetzen oder zu präsentieren; vielmehr noch privilegiert es die Aufhebung oder Verbergung des Hier und Jetzt, um die Unzulänglichkeit der Wahrnehmung zu unterstreichen, die sich den unzähligen und unendlichen Möglichkeiten an zusammenhangloser und grundloser raumzeitlicher Gestalten verdankt. Ebenso verhält es sich mit der Räumlichkeit/Zeitlichkeit Marie Steubers: Sie ist ebenfalls durch Absenz gekennzeichnet, die sich hier prinzipiell in der Unmöglichkeit der Sicherung einer stabilen und kohärenten Identität zeigt. Marie verwickelt sich in derart unterschiedliche Situationen und nimmt entsprechend derart divergierende Gestalten an, die den Eindruck vermitteln (könnten), dass es sich um mehr als eine Person handelt. 21 Marie verfehlt die Festigung einer zweifellosen Präsenz-Identität, einer eigenen Räumlichkeit/Zeitlichkeit, welche als kohärenz- und einheitsstiftend (für die Räume und die Zeiten, in denen sie sich aufhält) zu fungieren hätte. Es scheint hier vielmehr die umgebende Raum-Zeit zu sein, welche die Person in einer jedes Mal anderen Situation positioniert, zu einem jeweils unterschiedlichen Verhalten oder zu einer unterschiedlichen Äußerungsweise zwingt und entsprechend ihre Präsenzartikulation manipuliert bzw. sie regelrecht als eine Artikulation von Absenz erscheinen lässt. 22 Die Fokussierung der Infragestellung oder der Unmöglichkeit von Stabilität und der dazu beitragenden Metamorphosen, denen sich Räume, Zeiten und Personen unterziehen, lässt sich als zentrale Intention des Stücks betrachten, welche durch die Hinterfragung der Identitäten von Räumen, Zeiten und Personen die Bedingungen der Möglichkeit (ihrer/von) Wahrnehmung überhaupt reflektiert. Eine kapitale Differenz zwischen Drama und Aufführung, die in dieser Hinsicht als maßgebend anzusehen ist, stellt die inhärente Eigenschaft letzterer dar, jegliche Transformationsprozedur wahrnehmbar und nachvollziehbar zu machen. Während das Stück den Anfang- und Endzustand bzw. Fragmente des Um- oder Verwandlungsverfahrens eines
21 Es ist uns selbstverständlich bewusst, dass wir bei jeder Szene dieselbe Person vor uns haben, weil einfach der Nebentext es so vorschreibt. Ich behaupte lediglich, dass jede Szene eine autonome, geschlossene Entität darstellt, deren Beziehung zu den restlichen Szenen nicht unbedingt nachvollziehbar ist; jene Autonomie und Geschlossenheit eben schlägt sich auch in den jeweiligen Handlungsträgern nieder, sodass deren Da- und Sosein quasi totgeboren erscheint. 22 Der II. Akt des Stücks könnte in der Tat insofern als eine Chronik einer Nicht-Präsenz bzw. Absenz gelesen werden, als das Stück hier prononciert die radikale Infragestellung des Da- und Soseins Maries, deren Individualität, Identität, Präsenz ständig untergrabend, in den Vordergrund rückt. 132
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Bilds, einer Situation, einer Person zu vermitteln in der Lage ist, kommt die Aufführung nicht umhin, eben den gesamten Übergangsprozess zu präsentieren. Den Grund dieser Veranschaulichung der Transformationsverfahren stellt hier die conditio sine qua non der Aufführung dar, nämlich das Vorhandensein einer soliden Gegenwart, eines dominanten und unausweichlichen Hier und Jetzt, das die (vollständige) Suspension von chronotopischen Grenzen unmöglich macht und das Raum-Hier und Zeit-Jetzt als real erlebte Gegebenheiten wahrnehmbar macht. Das hier angesprochene solide Präsens nimmt in der Aufführung hauptsächlich die Form von zwei einheitsstiftenden Feldern oder Rahmen an, welche die verschiedenen Raum-Zeiten miteinander verknüpfen. Es präsentiert sich erstens als eine szenografische Bühnen- und Handlungseinrahmung, die sich – wie weiter oben gezeigt wurde – mit dem hic et nunc identifiziert und es permanent herausstellt und demonstriert. Das zweite Verbindungselement der Aufführung stellt die leibliche Präsenz Libgart Schwarz’ dar, die Marie Steuber verkörpert. Indem der konkrete Körper Schwarz’, der durch seine spezifische Physis und Gestalt, seine Haltung, seine Bewegungen, seine Klänge, ja seine ganz einzigartige, eingeschriebene Geschichtlichkeit charakterisiert ist, 23 für die Darstellung Marie Steubers eingesetzt wird, bekommt letztere eine durchaus nachvollziehbare Räumlichkeit und Zeitlichkeit, deren Manipulation, Modifikation und Transformation im Geschehen konkret und transparent sind. Die bühnenpräsente Marie Steuber ist in diesem Sinne nicht vielgestaltig; ihre einzige Gestalt transformiert sich dem Zeit- und Handlungsverlauf entsprechend, ohne dass das zugrunde liegende, kohärenzstiftende leibliche Schema jemals in den Hintergrund rückte bzw. sich verdrängen ließe. Die Funktionalität des Körpers als präsenzkonstitutives oder vielmehr präsenzproduktives Element überschreitet hier insofern den Beitrag der spezifisch gestalteten raumzeitlichen Umgebung, als sich die KörperPräsenz-Artikulation mit einer permanenten Bewegung – sowohl als Mobilität als auch als Transformation verstanden – identifiziert und in diesem Sinne das Prozessuale und Ereignishafte in sich trägt. Im Gegensatz zur chronotopischen Denotation der Bühnengestaltung, welche die Raum -Zeit als einen bis zum Stillstand 24 getriebenen Behälter erscheinen lässt 23 Hier wäre ebenfalls die charakteristische Manier – ihr Stimmton, ihre Sprech- und Bewegungsweise, ihr Lachen etc. – der Akteurin Libgart Schwarz zu erwähnen, welche die Rolle mit zusätzlichen, durch die gesamte Aufführung präsenten Eigenschaften ausstattet. Vor dem Hintergrund dieser Spielmanier treten die Metamorphosen der Person als solche umso deutlicher zutage. 24 Indem der Umgebungschronotopos vorerst seinen Status als Präsens herausstellt, negiert er Raum- und Zeitfluss. 133
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
und eher ihre statische Dimension – im Sinne einer äußeren Konstante – demonstriert und hervorbringt, fungiert die Körper-Präsenz – als Artikulation von Räumlichkeit und Zeitlichkeit (im) Hier und Jetzt gedeutet – als Trieb und Faktor der dynamischen, werdenden Raum- und Zeitstiftung 25 , nämlich eines kontinuierlich regenerierenden Produktionsverfahrens. Nun will ich im nächsten Kapitel den Beitrag des körperlichen Daund Soseins zu diesem Präsenz-Schaffen näher untersuchen, um zum spezifischen Präsenz-Terminus, mit dem die Aufführung operiert, zu gelangen.
Präsenz als Körper-Feld Das Verhältnis zwischen dem Stück und der Aufführung beruht auf der – je einzigartigen, eigenen und zugleich expliziten – Thematisierung der fundamentalen Differenz, die der Beziehung von Drama und Theater überhaupt inhärent ist und die sich im dialektischen Motiv von KörperAbsenz einerseits und Körper-Präsenz andererseits ausdrückt. Während das Stück die invariante Erkennbarkeit der Körper-Existenz negiert und vielmehr die aus der Körper-Inexistenz resultierende Labilität und Unsicherheit demonstriert, herausstellt und instrumentalisiert, fokussiert die Aufführung die Evidenz des körperlichen Da- und Soseins: Die Verkörperung der dramatis personae durch einen bühnenpräsenten Akteur ist hier nicht mehr als „Transformation“ dramatischer in Aufführungselemente zu konzipieren, sondern bedeutet vielmehr eine Subversion, ein grundlegendes Ersetzen eines Elements (der absenten Marie des Dramas) durch sein Entgegensetztes (die präsente Marie der Aufführung), was im Grunde die beiden in Beziehung zu bringenden Elemente eher voneinander entfernt und ihre je eigene Beschaffenheit und Signifikanz bewahrt und unberührbar lässt. 26 Die Frage nach dem bei der Aufführung zugrunde gelegten PräsenzBegriff, sowie nach der Art und Weise seiner Materialisierung führt mich zu einem Präsenz-Konzept, das zunächst einmal Präsens, hic et nunc, als die hier einzig gültige und sichere bzw. real vorhandene Raum25 Vgl. hierzu: Präsenz als Feld, insbes. S. 26-28. 26 Diese grundlegende Differenz fungiert meines Erachtens insofern als Konditionierung der textuellen und Aufführungsintention, als sie den straußschen Text und seine Inszenierung als völlig unterschiedliche Konstruktionen erscheinen lässt: Sie bildet das Feld der Artikulation des oben angesprochenen selbstreflexiven Gestus, im Sinne, dass Text und Aufführung jeweils die Körper-Absenz bzw. -Präsenz nicht einfach als solche hinnehmen oder akzeptieren, sondern sie funktionell einsetzen und herausstellen (siehe auch weiter im Text). 134
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
und Zeitdimension etabliert. Die Aufführung übernimmt die temporale und räumliche Unstrukturiertheit des Stücks und hebt diese hervor – und keineswegs auf! – durch ihre Neutralisierung quasi, indem sie nämlich die jeweilige Handlungssequenz prononciert und ausschließlich als gegenwärtig behandelt. Während der Dramentext mit der Beliebigkeit der chronotopischen Optionen operiert, die das Hier und Jetzt verschwinden lässt, konzentriert sich die Aufführung eben auf dieses Hier und Jetzt als den einzig soliden Ausgangspunkt bzw. die einzig solide Strukturachse. Was für eine Präsenz produziert und präsentiert nun die – oben ausführlich dargestellte – spezifische Inszenierung und Konstitutionsweise des hic et nunc? Es könnte hier von einer ausgedehnten, quasi omnipräsenten 27 Präsenz die Rede sein, in deren Rahmen Räume, Zeiten, Personen und Handlungen miteinander konfrontiert werden. Präsenz identifiziert sich in diesem Kontext nicht mit dem „(Grenz)punkt“ 28 , dem Augenblick oder Moment und der Örtlichkeit einer Situation, einer Person, eines Ereignisses, der vom nächsten unumkehrbar ersetzt wird, mit einer dem linearen Zeitmodell entsprechenden Präsenzvorstellung also. 29 Vielmehr wäre hier der Begriff des „Präsenzfelds“ 30 angemessen, „die Dehnung der Gegenwart zu einem Feld“ 31 , welches sich durch „die Metapher des Zeitmosaiks oder Netzwerks“ 32 verbildlicht. Die autonomen, chaotisch strukturierten chronotopischen Sequenzen des Stücks werden von der Aufführung in einem Präsenzfeld konzentriert und dadurch – wenigstens! – als hier und jetzt existierende anerkannt. Dabei wird ihre Hierarchisierung völlig überflüssig, denn in dieser Situation entfällt jegliche raumzeitliche Ordnung und folglich die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer raumzeitlichen Situierung. Vielmehr wäre hier von einer „Art Präsens mit Ausdehnung“ zu sprechen, „das nahtlos durch den wieder neuesten Stand ersetzt wird. Dabei substituiert sich eine Vergegenwärtigung durch eine andere, ohne daß die Idee des Präsens als Gegenwart aller relevanten Gegebenheiten aufgegeben würde.“ 33 27 Der Begriff der omnipräsenten Präsenz wird weiter unten wieder aufgegriffen. 28 Großklaus: Medien-Zeit..., S. 40. 29 Vgl. Ebd. 30 Siehe ausführlich: Präsenz als Feld, S. 23ff. 31 Großklaus: Medien-Zeit..., S. 40; siehe hier auch seinen Begriff der „FeldVerdichtung“. 32 Ebd. 33 Knorr Cetina, Karin: „Temporalität versus Sozialität. Sein und Zeit in der Physik als Institution“, in: Hess-Lüttich, Ernest W.B./Schlieben-Lange, Brigitte (Hg.), Signs and Time/Zeit und Zeichen, Tübingen: Gunter Narr 1998, S. 66. Siehe diesbezüglich den Inszenierungsmodus der einzelnen Handlungssequenzen des I. Akts, wo ein nahtloser Übergang von der einen zur anderen konstatiert wurde. 135
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Als extremer Ausdruck der oben angesprochenen Absenz von raumzeitlicher Hierarchisierung bzw. des nahtlosen Übergangs von Situation zu Situation im Rahmen des Präsenzfelds wäre in unserem Zusammenhang die parallele oder synchrone Koexistenz der Chronotopoi zu lesen, die bis zur absoluten Simultaneität getrieben wird. Während der detaillierten Analyse wurde öfters auf die Impression von raumzeitlicher Simultaneität, welche die Aufführung vermittelt, hingewiesen und zwar vor allem im Hinblick auf die spezifischen szenographischen Gegebenheiten bzw. davon ausgehend: Die demonstrative Geschlossenheit und Beharrlichkeit des umgebenden Raums und der Eindruck der Suspension des Zeit-Flusses im Inneren dessen entlarvt das Präsenzfeld als einen Topos der Ansammlung undifferenzierter chronotopischer Epiphanien, die eben wegen der Indifferenz bei ihrer Strukturierung als simultan wahrgenommen werden (können). Beide Akte könnten dementsprechend als „Gleichzeitigkeits-Plateaus“ 34 bezeichnet werden, in denen „Gegenwart als komplexes Netzwerk vieler Gegenwartspunkte oder -stränge“ 35 erscheint. Zum Schluss des vorangegangenen Abschnitts habe ich den Körper Maries der umgebenden Raum-Zeit gegenübergestellt und zwar im Rahmen einer dialektischen Rivalität zwischen Statik und Dynamik. In diesem Schema fungiert der Körper als Repräsentant und seine Mobilität und Transformation als Medium der werdenden Raum-Zeit, die in diesem Sinne als „ständig vollzogenes Faktum“ 36 zu konzipieren ist. Maries Präsenzartikulation – als Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Körpers verstanden – deutet insofern auf eine Überschreitung der Statik des Chronotopos hin, als sie (die Präsenzartikulation) im durativen Präsens den Eindruck oder die Illusion von Raum- und Zeitbewegung wiedereinführt. Maries Körper generiert Raum und Zeit, indem er sich präsentiert, indem er räumlich und zeitlich ist; 37 der Leib in seinem Hier und Jetzt, in seinem Da- und Sosein besitzt die Fähigkeit, Raum- und Zeit-Bewegung – im 34 Siehe: Präsenz als Feld, insbes. S.30-32. 35 Ebd., S. 31; derart ließe sich übrigens auch die Aufführung als Ganzes verstehen: Nämlich als ein Gegenwarts-Plateau, das sich als ein komplexes Netzwerk der (präsenten) Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten präsentiert, welche die (Körper-)Präsenz Maries schafft (siehe auch weiter im Text). 36 Siehe hierzu Good, S. 65. 37 Die Einverleibung Maries in die umgebende Raum-Zeit (ihr Verschwinden in die Säule am Ende des I. Akts) entzieht letzterer die Möglichkeit, sich als Raum-Zeit zu behaupten: Sobald Marie verschwindet, werden Raum und Zeit quasi eingestellt; sie erstarren zum Stillstand, ja letzten Endes verschwinden sie ebenfalls. Im gesamten II. Akt andererseits entstehen Räume und Zeiten und zwar in der je spezifischen und konkreten Gestalt, weil Maries Körper sich in ihnen auf je spezifische und konkrete Weise verhält. 136
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Sinne von ständiger Raum-Zeit-Generierung – wahrnehmbar (präsent) zu machen. Maries Präsenz scheint zunächst ein Paradoxon in sich zu vereinen: Zum einen identifiziert sie sich mit der körperlichen, dauerhaft erkennbaren Identität, von der während der Analyse mehrmals die Rede war, zum anderen aber stellt sie oder ihre Entfaltung Ursache und Motor der Veränderung dar. Das Paradoxon hebt sich auf, sobald einerseits der Leib „als ein System von Äquivalenzen [...], das uns durch alle Bewegungen hindurch als ein Identisches bewußt bleibt“ 38 verstanden wird und insofern seinem Da- und Sosein im hic et nunc eine gewisse Stabilität zuschreibt (denn nur auf diese Weise kann er sich als präsent behaupten), andererseits aber seine Darbietung bzw. Präsentation im Hier und Jetzt, die Präsenzartikulation also, als ein Ereignis angesehen wird, die nicht den Körper selbst, sondern vielmehr Raum und Zeit affiziert, verändert und letzten Endes produziert. 39 Maries Körperlichkeit als explizit erkennbare Konstante in Raum und Zeit fungiert als Träger oder identifiziert sich mit der oben angesprochenen werdenden Präsenz, mit einem Hier und Jetzt, das sich ständig ereignet, während die umgebende Raum-Zeit als die seiende Präsenz betrachtet werden kann. Diese beiden, scheinbar antithetischen Optionen von Präsenz sind eigentlich nicht auseinander zu denken; ihre andauernde Auseinandersetzung schafft vielmehr die Spannung der Aufführung selbst. 40 Wie verhalten sich nun diese gleichzeitig wahrnehmbaren PräsenzOptionen zueinander? Maries körperliches Da- und Sosein scheint als form- und zusammenhangstiftend für die umgebende Raum-Zeit zu fungieren: Als explizite Präsenz (im) hic et nunc garantiert der Körper den präsenten Status der umgebenden Räume und Zeiten, und in seiner ereignishaften Präsentation schreibt er letzteren Eigenschaften und Bedeutungen zu, welche die Undifferenziertheit der – oben angesprochenen – Behälter-Funktion aufheben. Die spezifische Weise, auf die Maries Körperlichkeit räumlich und zeitlich ist, erklärt einerseits Gegenwart für die einzig gültige Raum- und Zeitdimension, leitet aber andererseits Raum- und Zeit-Bewegung und -Veränderung ein, welche die eigentliche Weise von Raum- und Zeiterfahrung darstellt.
38 Good, S. 85. 39 Vgl. hierzu die Überlegungen Merleau-Pontys zur Konstitution des Präsenzfelds, das immer ein Arrangement (wenn nicht sogar eine Produktion) von Raum und Zeit impliziert, in: Präsenz als Feld, insbes. S. 24-29. 40 Siehe hierzu ausführlicher: Epilog, S. 189ff. 137
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Im Sinne der hier angeführten Überlegungen und sich wiederum auf den Gegensatz zwischen Körper-Absenz (im geschriebenen Ausgangstext) und Körper-Präsenz (in der Aufführung) beziehend, wären zwei Beobachtungen zu machen, die den Bedeutungs- und Funktionalitätsstatus des Körpers hier und dort betreffen. Als erstes wäre zu konstatieren, dass im Drama die Unmöglichkeit einer Gegenwartssituierung, welche als Handlungsrahmen zu fungieren hätte, die Personidentität affiziert und dementsprechend zur Deutung der Person-Absenz (die auch als Index für und Reflexion über eine KörperAbsenz zu lesen wäre 41 ) als Folge (und darüber hinaus als Beweis) der Gegenwartsabsenz führt: Der Person Marie werden durch die Räume und Zeiten, in denen sie zu agieren hat, ständig neue, zum Teil grundlegend unterschiedliche Charakteristika zugesprochen, die keine Identität hervorzubringen vermögen, sondern vielmehr auch die Ahnung von Individualität zu zerstören suchen. Die Aufführung geht umgekehrt explizit von der zusammenhangstiftend für die Raum-Zeit operierenden KörperKonstante aus und definiert entsprechend die Person-Präsenz (die hier nur mit einer Körper-Präsenz zu identifizieren ist und entsprechend wenigstens – eine Körper-Identität gewährleisten kann) als Ursache und Beweis der raumzeitlichen Gegenwart: Die prononciert herausgestellte körperliche Erkennbarkeit Schwarz’, die „bloß“ als Index ihrer Präsenz, und nicht etwa einer kohärenten Geschichte oder einer Biographie fungieren kann, bewahrt Raum und Zeit der Aufführung vor Zerfall und Zersplitterung, indem sie (zumindest) die Anwesenheit und Gegenwärtigkeit des oder dieses Körpers, diese körperliche Gegenwart etabliert. Darüber hinaus und auf die Körper-Funktionalität an sich blickend hat die explizite Betonung der Person-(Körper-)Absenz im Drama zur Folge, dass der Körper in seiner Rolle als raumzeitlicher Index eher eine zentrifugale Funktion übernimmt: Indem Maries Präsenzkonstitution erfolglos verbleibt, wird den Räumen und Zeiten die Möglichkeit eines Referenzpunkts abgesprochen, was die Beliebigkeit, ja eine Art Entfesselung der Raum-Zeiten privilegiert. Die Körper-(Person-)Präsenz in der Aufführung andererseits verhält sich insofern zentripetal den Raum-Zeiten gegenüber, als erstere als eine Art Angelpunkt oder Schnittfläche, in der sich Räume und Zeiten begegnen, zu konzipieren ist.
41 Die Einverleibung Maries in die Säule bzw. in den Raum am Ende des I. Akts verstehe ich (auch) als einen (zum Teil selbstreflexiven) Kommentar über die Körper-Absenz: Marie ist in der Lage, sich in Raum zu verwandeln, nicht weil sie keine Person zu konstituieren vermag, sondern weil sie in Wirklichkeit kein Körper ist bzw. nicht über einen eigenen Körper verfügt. 138
DIE ZEIT UND DAS ZIMMER
Nachdem Maries Präsenz(artikulation) qua Körperlichkeit als der eigentliche Träger und Generator von raumzeitlicher Gegenwart definiert wurde, wäre es nicht unangemessen, diese Körperlichkeit – abstrahierend – als das eigentliche Präsenzfeld zu betrachten. Die absolute Identifikation von präsenter Raum-Zeit und Körperlichkeit ließe sich durch dem Begriff der Präsenz als Körper-Feld 42 erfassen und zwar im Sinne, dass ein Körper das Hier und Jetzt bzw. das oben angesprochene Präsenzfeld nicht bloß definiert und semantisiert, sondern vielmehr als solches produziert und präsentiert: Das szenische Ereignis bietet sich als Präsenzfeld dar, weil die Präsenz(artikulation) des Körpers es als solches erscheinen und deuten lässt. Die Aufführung scheint den Eindruck zu vermitteln, als ob der Leib Anfang und Ende aller chronotopischen Erscheinungen darstellte, die strikt als gegenwärtige und vielmehr als dem Leib gegenwärtige aufzufassen sind. Diese letzte Behauptung führt uns zum Kernpunkt der Theatralität, wo der Körper des Akteurs positioniert ist; in unserem Zusammenhang unterzieht sich diese Körper-Priorität insofern einer Radikalisierung, als der Leib als eine Art Attraktor – für Räume, Zeiten, Handlungen – bzw. als die einzige Ursache der Entstehung des Bühnenereignisses überhaupt zu begreifen ist. 43
42 In diesem Sinne habe ich von einer omnipräsenten Präsenz gesprochen: Das Präsenzfeld ist nicht nur ausgedehnte Gegenwart; indem es sich mit einer Körperlichkeit identifiziert, übernimmt es vielmehr die Eigenschaften und Verhaltensweisen dieses Körpers, der überall zugleich zu sein scheint. 43 In diesem Zusammenhang lassen sich nun auch die Gedanken MerleauPontys über die konstitutive Funktion des Körpers in der Raum- und Zeitbzw. Präsenz-Produktion lesen und deuten (Präsenz als Feld, S. 23ff.): Marie Steubers/Libgart Schwarz’ sich präsentierende Körper-Präsenz stellt die Bedingung der Möglichkeit der „Entstehung“ der Aufführung „zur (zum) Präsenz(feld)“ dar (vgl. Nancy: „Entstehung zur Präsenz“). 139
SCHLUSSCHOR 1 Botho Strauß Regie: Luc Bondy Bühne: Erich Wonder Kostüme: Susanne Raschig / Dorothée Uhrmacher Dramaturgie: Dieter Sturm Regieassistenz: Dietlind Antretter / Elmar Goerden Bühnenbildassistenz: Irmgard Berner / Katja Haß Kostümassistenz: Petra Wilke Akt I Chor: Joanne Gläsel, Joana Maria Gorvin, Imogen Kogge, Jutta Lampe, Dörte Lyssewski, Carola Regnier, Swetlana Schönfeld, Hans Diehl, Ulrich Haß, Uwe Kockisch, Christoph Marti, Rainer Philippi, Werner Rehm, Ernst Stötzner, Günter Zschäckel Fotograf: Otto Sander Die Frau: Corinna Kirchhoff Akt II Lorenz: Otto Sander Delia: Corinna Kirchhoff Die Frau in Schilfgrün: Christoph Marti Die Unbedachte: Dörte Lyssewski Der Bittere Mann: Ernst Stötzner Mann mit Zigarre: Werner Rehm Die Frau mit Hut: Elke Petri Der Versprochene: Hans Diehl Die Versprochene: Carola Regnier Der Gewandte Mann: Uwe Kockisch Der Rufer: Rainer Philippi Die Beleibte: Swetlana Schönfeld
1
Strauß, Botho: „Schlußchor“, in: Spectaculum 55, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 189-230 – Videoaufzeichnung (Schaubühne am Lehniner Platz). 141
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT Der Hässliche: Günter Zschäckel Freundin des Hässlichen: Birgit Apostel / Anna-Maria Gadebusch Henriette: Joanne Gläsel Der Hagere: Ulrich Haß Akt III Anita von Schastorf: Jutta Lampe Die Mutter: Joana Maria Gorvin Der Rufer: Rainer Philippi Der Leser: Hans Diehl Patrick: Ernst Stötzner Ursula: Imogen Kogge Der Wirt: Günter Zschäckel Solveig: Dörte Lyssewski Rudolf: Werner Rehm Der Blouson-Mann: Uwe Kockisch Die Blouson-Frau: Swetlana Schönfeld Schaubühne am Lehniner Platz Premiere: 4. Februar 1992
Beschreibung und Analyse Akt I Im stark gekürzten I. Aufführungsakt wird lediglich der vordere linke Bühnenteil verwendet. Dieses relativ eingeschränkte, enge Handlungsfeld wird vom restlichen Bühnenraum zum einen durch die Beleuchtung, zum anderen durch schwere, blaue Vorhänge isoliert, die auch dazu benutzt werden, um das Bühnenbild der weiteren Szenen zu verdecken, und die vom extrasituativen Raum kaum etwas erkennen lassen. Die Handlung des Akts wird von einem Fotografen und fünfzehn zu fotografierenden Männern und Frauen getragen. Die fünfzehn Personen sind auf drei Stufenreihen dicht nebeneinander positioniert; 2 der Fotograf hingegen besetzt mit seinen Instrumenten (zwei großen Scheinwerfern, einem Stativ, verschiedenen Kameras und einem Koffer) und seinen Aktionen den Vordergrund. Während sich der Fotograf in fast permanenter Aktivität befindet (die das Fotoschießen aus verschiedenen Perspektiven, 2
Die Formation sieht folgendermaßen aus:
F1 M2 M3 F4 M5 F6 F7 M8 M9 F10 M11 F12 F13 M14 M15
142
SCHLUSSCHOR
das Regeln der Kameraeinstellungen, das Studieren von eben gemachten Fotos, das Erteilen von Anweisungen etc. umfasst), müssen die Posierenden möglichst immobil ausharren. Zu Beginn vermeiden sie jegliche Bewegung, die zur Divergenz vom ursprünglichen Platz führen würde, doch dies ändert sich allmählich im Aktverlauf: Die Mobilität der Gruppe steigert sich zunehmend, ohne jedoch die Kontur der Aufstellung zu modifizieren oder gar aufzuheben. Die zunehmende Beweglichkeit der fünfzehn Posierenden bleibt absolut eingeschränkt im Rahmen des Arrangements bzw. in dem Bereich, der von Anfang an für das Posieren vorgesehen wurde. Die Aktivität der Posierenden, die auch eine Lockerung der erstarrten Haltung herbeiführt, beinhaltet Bewegungen, die sich im Gesicht (lächeln, weinen, Grimassen schneiden, schreien), im Oberkörper (Kopfund Torsodrehungen und -beugungen, Bewegungen zur Muskelentspannung) oder aber im gesamten Körper äußern, wobei auch einige Schritte erlaubt sind (Drehungen zu den verschiedenen Positionierungen des Fotografen, des Rückens zum Publikum, um die eigene Achse; lautes Lachen, Fluchtversuch einer Frau durch die Beine der Anderen hindurch und rapide Reaktion aller Anderen zur Fluchtverhinderung, die Annäherung zweier Personen, die auch ein kurzes Verlassen der Position erfordert). Wie schon erwähnt werden all diese Bewegungen in dem Rahmen, den das ursprüngliche, die Aufführung einleitende tableau vivant ein für alle Mal festgelegt hat, vollzogen. 3 Sogar die Vernichtung des Fotografen, mit der die Inszenierung den I. Akt abschließt, ereignet sich ohne Auflösung der Gruppenformation: Die Menge nähert sich ihm langsam und bedrohlich und drängt ihn in die linke Ecke; es gelingt ihm eine provisorische Flucht zu den Stufenreihen nach rechts, wo ihn die Gruppe verfolgt, umkreist und komplett verbirgt. Sie zieht sich dann wieder auf die Stufenreihen zurück, nachdem sie ihn zum Verschwinden gebracht hat. Der Akt endet mit dem einleitenden tableau vivant 4 : mit der Erstarrung der Körper und der Blicke. Die Bühne verdunkelt sich sehr langsam... Das eigentliche Diskussionsthema zwischen den fünfzehn Frauen und Männern während des anstrengenden und langwierigen Posierens ist –
3
4
Dieser Rahmen wird bloß ein Mal und zudem unbedeutend kurz von M14 destabilisiert, als er drei Schritte zum Fotografen wagt, sofort aber wieder seinen Platz in der Formation einnimmt. Mit einem kleinen Unterschied allerdings: Die alte Dame (F13), die während des Akts links außen auf einem Stuhl gesessen hat, steht jetzt gerade, jedenfalls aber an ihrer ursprünglichen Position. 143
WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
ziemlich generell formuliert – die Zeit. 5 Sie wird auf unterschiedliche Weisen reflektiert und angegangen. Vorrangig wird die Unterredung über die bzw. die Auseinandersetzung mit der Zeit von der gegenwärtigen Situation – der Begegnung der Personen zum Fotoschießen – angeregt und handelt dementsprechend von dem Zusammentreffen von Zeitdimensionen und Zeitlichkeiten auf die Fotografie: M8: Ich bin gespannt, wie Sie aussehen. Später. Auf dem Foto. In dem Moment. M3: Nach dem nächsten Klick ist alles wieder vorbei. F6: Ist schon passiert. F12: Das Ganze noch einmal. M11: Es passierte also? F4: Ja, es passierte eben. (189)
Entscheidend während des gesamten Prozesses scheint das Aufspüren des richtigen Augenblicks, in dem die Gruppe abgelichtet werden soll, zu sein: F7: Ich bin bereit – ich habe den Augenblick schon auf den Augen. M14: Ich möchte hier nicht die ganze Zeit umsonst gestanden haben, mit dieser anstrengenden Visage auf dem Gesicht, bloß weil sich jemand im entscheidenden Augenblick nicht beherrschen konnte. (190) M9: Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!
(192)
Darüber hinaus wird die Vergangenheit in Form von Erinnerungsabschnitten bzw. Geschichts-/Biographiefetzen immer wieder impliziert: Es wird entweder über Vergangenes gesprochen F13: Weißt du noch: dein erstes Foto hier im Westen, die Kaffeekanne in der Sekunde, wo sie kippte? F6: Im Westen? War das nicht viel früher? F13: Kurz nach dem Krieg war’s. Und der Krieg ist fünfzig Jahre her. (192)
oder aber ein biographisches Fragment wird erinnert und dargestellt. 6 Allerdings scheint der Bezug auf Vergangenes eher eine zeitfüllende Rolle anzunehmen, ohne eine ausschlaggebende – etwa aufklärerische oder 5
6
Hier sei ein Exkurs auf den Inhalt des gesprochenen Texts erlaubt, da er im Kontext der folgenden Überlegungen eine aufschlussreiche Position innehat. Siehe hier die Szene zwischen F1 und F10 (193), bei der die zwei Frauen ein vergangenes gemeinsames Erlebnis nachspielen bzw. sich „in die Vergangenheit versetzen“ und sie abermals erleben. 144
SCHLUSSCHOR
sinnstiftende – Wirkung auf das Gegenwärtige auszuüben. Vielmehr wird hier die Möglichkeit einer ewig dauernden Gegenwart thematisiert und diskutiert, die sich in einem richtigen Augenblick subsumieren und in die Zukunft projizieren lässt. Dieses sprachliche Spiel mit den Zeiten wird von der Inszenierung zusätzlich stark fragmentiert. Die Handlung des Akts präsentiert sich als ein Mosaik von sprachlichen und körperlichen Äußerungsabschnitten, die auf zweifache Weise miteinander montiert werden: Einerseits überschneiden sich (diverse) Handlungssegmente bzw. verlaufen simultan zueinander, und andererseits werden die Handlungsabschnitte abrupt unterbrochen und vom nächsten Segment ersetzt. Durch die gegenseitige Neutralisierung der Geschehnisse (im ersten Montagemodus) und die Unvollendbarkeit – im Sinne eines ergebnislosen Handlungsvollzugs – der unternommenen Praxis (im zweiten Montagemodus) wird der wirkungslose und bruchstückhafte Verbleib des Segments in der Reihenfolge (im Mosaik) erzielt und erreicht. Die Handlung des Akts wird durch die spezifische Gestaltung zweier Motive rhythmisiert. Diese sind einerseits der Transitionsmodus von einem Segment zum anderen und andererseits die Isolierung bestimmter Segmente. Die Tätigkeit des Fotografen stellt das szenische Instrument dar, durch das der Übergang von Segment zu Segment vollzogen wird: Seine Entscheidung, ein Foto zu schießen, seine Bewegung entlang des Handlungsfelds und nicht zuletzt seine Anweisungen initiieren das Agieren der Personen, bestimmen, wann eine Diskussion aufgenommen werden darf und wann sie aufhören muss, wann absolute Immobilität und Stille verlangt werden und wann eine gewisse Beweglichkeit erlaubt ist etc. Dabei fungiert vorwiegend die Betätigung des Blitzlichts als Schnittpunkt zweier aufeinanderfolgender Segmente: Sie leitet Handlungssequenzen ein oder schließt sie ab, unterbricht abrupt die Tätigkeit der Personen (beispielsweise S. 190: die weinende F4 hört nach dem Blitz schlagartig mit dem Weinen auf) oder signalisiert die Aufnahme eines Praxisversuchs (S. 191: nach einer Reihe von Fotos und entsprechender Immobilität tritt Entspannung und Beweglichkeit ein, während F10 die Gelegenheit nutzt, einen Fluchtversuch durch die Beine der Gruppe zu unternehmen). Der (eher selten sprechende) Fotograf fungiert insofern – vor allem mittels seines Blitzlichts – als Dirigent, Taktgeber und Gestalter des gesamten Aktverlaufs bzw. dessen temporaler Struktur. Das zweite inszenatorische Motiv, nämlich die Isolierung von Handlungssegmenten, wird durch den Einsatz von drei Mitteln realisiert, die entweder einzeln, meist aber miteinander kombiniert verwendet werden:
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a) Die Beleuchtung: Durch die Konzentration des Lichts auf die im betreffenden Segment Agierenden und die gleichzeitige Verdunkelung des restlichen Handlungsfelds wird die situative Sequenz vom Handlungsverlauf abgekoppelt und herausgebrochen; sie bildet für eine Weile eine dem Geschehen gegenüber fremde Einheit, die unter eigenen, unabhängigen chronotopischen Gegebenheiten zu existieren scheint. S. 192: Das Handlungsfeld verdunkelt sich langsam; ein Spotlight richtet sich auf die sitzende F13, während F6 ihre Position verlässt, sich der alten Frau (13) nähert, die rechte Hand sanft auf ihre rechte Schulter setzt und niederkniet. Nach dem kurzen Dialog zwischen den beiden Frauen, deren Blick und Stimme jetzt eine gewisse Melancholie und Tristesse evoziert – im Gegensatz zu deren übriger Präsenz, die keineswegs derartige Schlüsse erlaubt –, stellt sich die bisherige Ordnung wieder her, indem das Licht im Handlungsfeld zunimmt und allmählich seine gewohnte Stärke wieder erreicht. b) Die Musik: Der Einsatz von meist leiser, monoinstrumentaler Musik wird häufig zur Differenzierung des zu vermittelnden Eindrucks eines situativen Segments von der restlichen Atmosphäre des Akts verwendet: So auch beispielsweise in der hier oben beschriebenen Szene, die vom leisen Ertönen von Geigenmusik begleitet wird. c) freezed picture: Die starre Haltung der nicht an dem Geschehen unmittelbar beteiligten Agierenden, welche sie und ihre Tätigkeit entscheidend isoliert und herausragen lässt, wird in beiden erwähnten Sequenzen eingesetzt: In der zitierten Szene zwischen F13 und F6 haben die übrigen Frauen und Männer mit dem Satz: „Wir alle blicken jetzt auf uns zurück“ und der Abnahme des Lichts dem Fotografen und dem Publikum den Rücken zugewandt; sie stehen in dieser Position absolut still, bis die beiden Frauen den Dialog beendet haben und die Beleuchtung sich wieder „normalisiert“ hat. In diesem Zusammenhang sind ebenfalls die häufig verwendeten Pausen zu erwähnen, die sich eher als sprachliche Stille äußern und eine ähnliche Isolierungs- bzw. Fragmentierungsfunktion erfüllen. Ich möchte hierzu zwei Stellen zitieren: S. 191: Nach dem „Deutschland-Ruf“ von M8 setzt leise Geigenmusik ein und das Handlungsfeld verdunkelt sich sehr langsam, während die Frauen und Männer – außer M8, der absolut unbeweglich bleibt – sich im Zeitlupentempo umschauen, als suchten sie nach etwas. Dieser atmosphärisch differente Zeitraum dauert im Vergleich zu allen anderen Sprech- bzw. übrigen Pausen relativ lange, ehe das übliche Tempo und die Fortsetzung der Handlungen wieder aufgenommen werden.
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SCHLUSSCHOR
S. 195: Die Diskussion über den „Sommerball der Herzogin“ geht allmählich in einen eklatanten Lachakt über, der die klare Artikulation der Aussagen verhindert und allmählich das Verständnis und die Kommunikation unmöglich macht. Die Personen schütteln sich vor Lachen und versuchen, sich gegenseitig zu stützen, um nicht hinzufallen, bis der Fotograf die Bemerkung bezüglich des „Schönheitsfehlers“ macht: Das Gelächter hört schlagartig auf, die seriösen Blicke richten sich auf den Fotografen, und für einen Moment herrscht im Raum absolute Stille – ein krasser Gegensatz zur vorangegangenen Szene –, ehe es der betroffene M8 wagt, leise und zaghaft eine Frage zu stellen... Der I. Akt der Aufführung stellt sich als eine Passage-Situation dar: Fünfzehn Frauen und Männer, von denen man nie erfährt, in welcher Beziehung sie zueinander stehen oder warum sie sich ablichten lassen, begegnen sich an einem Ort, dessen Gestaltung ihm keine konkreten und präzisen Charakteristika zuschreibt, um „sich verewigen zu lassen“. Der einrahmende Raum des Akts ist die geschaffene Kulisse dieser Situation und seine Zeit (sowohl des Akts als auch des Raums) die unbestimmte Dauer des Situationsvollzugs. Die Inszenierung dekonkretisiert die einrahmenden chronotopischen Gegebenheiten, indem sie bezüglich des Raums einen kleinen, dezentralisierten Bühnenteil verwendet, dabei jedoch den Blick auf die restliche, schon für die übrige Aufführung fertig gestellte Bühne nicht verhindert und – in Bezug auf die Zeit – dem tableau vivant via Licht-fade-in zu Beginn und Licht-fade-out zum Schluss eine konkrete Dauer – im Sinne einer expliziten Setzung von Anfang und Ende – abspricht: Die Personen treten nicht auf und nicht ab; das tableau scheint jenseits der temporalen Grenzen des Akts zu existieren. Die Raum-Zeit ist insofern eine zufällige, flüchtige, provisorische Raum-Zeit einer Zusammenkunft, die keineswegs die Situation zu definieren vermag, sondern umgekehrt von der Situation geschaffen, geformt und definiert wird. Dementsprechend ist hier von einer Handlungs-Raum-Zeit zu sprechen, die aus der Interaktion mehrerer situativer Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten resultiert. Ausschließlich das Arrangement der Agierenden stellt hier den Raum der Handlung dar: ein tableau mit nicht überschreitbaren, festgesetzten, strengen und dennoch nicht wahrnehmbar vorhandenen Grenzen. Das heißt, dass die Personen es beliebig verwandeln oder auflösen könnten; doch die einmal gesetzten Regeln, welche der reibungslosen „Verewigung“ dienen sollen, werden mit eiserner Disziplin eingehalten, auch wenn es nicht mehr nötig ist (also wenn der Fotograf nicht mehr existiert). In diesem Sinne wird eine Räumlichkeit erzeugt,
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deren Struktur exklusiv von ihrer inneren Balance abhängt, ohne äußerlich unterstützt zu werden. Die Räumlichkeit des tableaus vereint in sich eine Vielzahl von chronotopischen Partikeln, die sich sowohl in der Präsenz des Einzelnen als auch in den situativen Segmenten, aus denen sich der Akt zusammensetzt, äußern und die in ständiger Interaktion zueinander stehen. Es öffnen sich so immer wieder Äußerungs- und Kommunikations-Raum-Zeiten, deren Existenz und Wirkung aber räumlich und zeitlich dermaßen eingeschränkt sind, dass sie bloß als Raum-Zeiten des Augenblicks fungieren, als chronotopische Fragmente von flüchtiger Offenbarung und provisorischer Existenz. Der Fragmentierungsprozess wird prinzipiell durch die Gestalt der Handlungszeit initiiert. Diese formiert sich – schematisch formuliert – im Rahmen der Interaktion von Segmenten der Starrheit und Segmenten der Bewegung, mit denen einerseits ein Eindruck der Zeitleere und andererseits ein Eindruck der Zeitfülle einhergehen. Diese spannungsvolle Relation und ständige Abwechslung zwischen Impressionen der Zeitpräsenz und Impressionen der Zeitabsenz, bei denen ohne Anfang und Ende die eine die andere beliebig ersetzt, präsentieren die Zeit des tableaus als eine Gesamtheit von unzähligen „Jetzts“, als ein Mosaik aus unendlichen Momenten, die den Chronotopos als eine absolut inhomogene, zufallsbedingte, ja labile Formation erscheinen lässt. Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Akts verhalten sich insofern gegensätzlich zueinander, als die erste aus einem – mehr oder weniger – stabilen, jedenfalls streng umrissenen Arrangement resultiert und die zweite in ihrer Bruchstückhaftigkeit das gesamte Bild stets zu transformieren scheint. Allenfalls ist es wiederum ein zeitlicher Aspekt, nämlich der Blick in die Zukunft, die Perspektive einer ewigen Existenz und deren längstmögliche Erhaltung, der die tableau-Zeit ins Unendliche expandieren und dadurch auch die Stabilität und Fortexistenz des Arrangements garantieren soll.
Akt II Der II. Akt der Aufführung weist thematisch kaum Elemente auf, die ihn mit dem vorangegangenen in Verbindung bringen würden. Es handelt sich um eine weitgehend autonome Situation, die wiederum in zwei Teile gegliedert ist. Im ersten Teil wird die Begegnung zwischen Delia und einem von ihr beauftragten Architekten namens Lorenz in ihrem Haus präsentiert; diese Begegnung beinhaltet die versehentliche Tat Lorenz’‚ Delia für einige Sekunden nackt im Bad zu erblicken, und die darauf folgende Diskussion der beiden sowohl über die Pläne Lorenz’ für das neue
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Haus Delias als auch über den eben geschehenen Vor- bzw. Unfall. Der zweite Teil, der sich im Rahmen meiner Arbeit als erheblich bedeutender erweist, 7 handelt von Lorenz’ Annäherungsversuchen an Delia während eines von ihr gegebenen Balls. 8 Die Bühne ist für diesen zweiten Aktteil zu einem Vestibül umgestaltet worden, dessen Zentrum ein großer Spiegel beherrscht, der in einen zylindrischen (dekorativen) Vorsprung eingebaut ist. Links davon befindet sich der geräumige Saal, in dem die Feier stattfindet, und der von diesem Vorraum durch große, grüne, halbdurchsichtige, durch hölzerne Balken quadratisch formierte Glasscheiben abgetrennt wird. Die gläserne Trennwand umringt den linken Bühnenbereich, der entsprechend die Form eines Halbkreises annimmt. Drei breite Stufen führen zu den etwas angehobenen zwei Flügeltüren zum Saal, die eine links diagonal (Tür 1), die andere direkt links neben dem Spiegelvorsprung (Tür 2) angelegt. Auf dessen rechter Seite bildet der Hintergrund eine Nische, in der sich zwei weitere Türen befinden, die eine in der Rückwand, ähnlich wie die beiden zuvor beschriebenen (Tür 3), führt wiederum zum Saal, und die andere, kleiner und schwarz, an der rechten Wand der Vertiefung, führt zum Waschraum. Weiter nach rechts sind vier schmale Stühle nebeneinander an einen rot gefärbten Wandteil platziert, neben dem schließlich, diagonal nach hinten gerichtet, die Garderobennische, voll mit Mänteln und Hüten, zu sehen ist. Außer den vier Stühlen ist noch ein lederner Sessel vorhanden, ganz links, die Lehne an die Trennwand positioniert. Durch dieses polymorphe, sich in verschiedenen Ebenen entfaltende Szenenbild wird ein entsprechend vielgliedriges Handlungsfeld für die Personen geschaffen, das an sich schon eine gewisse Handlungsspezifik vorschreibt oder zunächst ahnen lässt. Während des Akts treten im Vestibül insgesamt fünfzehn Personen auf und ab; sie betreten das Handlungsfeld aus den vielen Türen, halten sich hier kurz auf und verschwinden dann wieder, meist in den Festsaal. Auf dem Handlungsfeld befindet sich selten eine einzige Person und wenn überhaupt, dann für eine sehr kurze Weile; er bleibt allerdings kaum unbesetzt. Zudem wird in allen Bühnenebenen gespielt: vor der Garderobe, an den Stühlen, am und rund um den Sessel, im Halbkreis vor dem Saal, in der Toilettennische und hauptsächlich im Bereich vor dem Spiegel. Außerdem findet eine parallele, gewissermaßen sekundäre Handlung im Saal statt, die sowohl durch die grünen Scheiben und die ertönende Tanz7 8
Entsprechend wird der erste Teil hier nur gelegentlich, das heißt wenn es die Analyse des zweiten Teils erfordert, diskutiert. Hier könnte eine Anspielung auf den „Sommerball der Herzogin“ des I. Akts (195) vermutet werden. 149
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musik als auch durch Aussagen der Personen, die sich oft als eine Art Fortsetzung oder Kommentar der Ereignisse im Saal verstehen lassen, wahrnehmbar ist. Die Hauptaktion im Vestibül ist mit vielen Farce-Elementen ausgestattet, und viele der Agierenden sind mit grotesken Charakteristika versehen, die sie eher als Typen erscheinen lassen. 9 Die Inszenierung verwendet im Rahmen der Situationsentfaltung etliche Gags, in die hauptsächlich Lorenz verwickelt ist: Zu Beginn noch spricht er von seinem Charme und seinem „selbstsicheren Auftreten“ (203), nimmt dabei eine entsprechende Pose ein und knüpft gleichzeitig seinen Sakko ganz verkehrt. Er stolpert über die Stufen zu den Saaltüren (204), versucht eine Verbeugung und verliert die Balance (206) oder macht ein paar Schritte nach hinten und läuft dabei gegen den Spiegel (204). Später (209) möchte er eine Streichholzschachtel öffnen, um die Zigarette des „bitteren Mannes“ anzuzünden; doch sie gleitet ihm aus der Hand, die Streichhölzer springen aus der Schachtel heraus und zerstreuen sich auf den Boden. Während der Unterredung mit Henriette (211) setzt er sich versehentlich auf die lange gelbe Blume, die er dauernd mit sich schleppt und die er kurz auf die Stühle gelegt hat. Die einzige Begegnung mit Delia wird schließlich zu einem Desaster (213): Zunächst versucht er vergeblich, die Blume aus der Schutzfolie auszuwickeln und tritt, ohne es zu merken, auf das lange, weiße Kleid der Frau; um es zu befreien, zieht Delia es mit Kraft und einer gewissen Wut unter seinen Füßen hervor; Lorenz fällt brutal hin und zerstört dabei vollständig die Blume. Als er dann noch einige Worte an Delia richten möchte, gerät er in heftiges Stottern, ehe es ihm gelingt einen knappen Satz zu formulieren. Lorenz erscheint somit bezüglich sowohl seines Bewegungsverhaltens als auch seiner verbalen Ausdrucksweise als eine ungeschickte, komische und zugleich triste Figur, die deutlich gewisse Ähnlichkeiten zu der eines Clowns aufweist. Das groteske Element tritt nicht nur in Form von derben Bewegungsabläufen, sondern auch in der äußeren Erscheinung der Schauspieler hervor. Die übertriebene Betonung einer körperlichen Besonderheit 10 , die
9 Siehe weiter im Text. 10 Der „Hässliche“ leidet unter massiver, körperlicher Missbildung, die er betont übertrieben zur Schau stellt; der „Hagere“ andererseits leidet offenbar an Tuberkulose: Betont bleich bzw. weiß im Gesicht, mit grauen, fettenden, dünnen Haaren, läuft er mit einem blutbeschmierten Tuch herum und niest heftig; die „Beleibte“ kann sich aufgrund ihrer Korpulenz kaum noch setzen oder aufstehen und das Gehen fällt ihr ebenfalls schwer: Als sie aus dem Saal in den Armen des „gewandten Manns“ heraustransportiert wird 150
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hervorgehobene, ganz individuelle Sprech- und Ausdrucksweise 11 und nicht zuletzt die ebenfalls eigenartige und auffallende Bekleidung 12 avancieren zu Hauptmodi der Charakterisierung der Agierenden, die dementsprechend eher als Typen und weniger als Charaktere wahrzunehmen sind. Das farcenhafte und groteske Element der Aufführung beeinflusst entsprechend die Gestaltung der Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten des Akts. Es verleiht einerseits den personellen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten die unverwechselbare, erkennbare Individualität und verwendet und gestaltet andererseits den Chronotopos als eigentliches Feld seiner (des Grotesken) Äußerung und Artikulation. Ehe ich mich der Gestaltung des Aktchronotopos in seiner Gesamtheit zuwende, wäre es zunächst sinnvoll, die Struktur und Entwicklung einer repräsentativen Räumlichkeit/Zeitlichkeit und anhand der Beschreibung zweier charakteristischer Handlungssequenzen die Relation und Interaktion von mehreren partiellen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten zu untersuchen. Lorenz stellt ein ausschlaggebendes und aufschlussreiches Forschungsfeld dar, da seine Präsenz eine dominante Position – sowohl räumlich als auch zeitlich – einnimmt und somit ein breites Spektrum des Aktchronotopos (mit-)definiert. Der Aktaufbau geht grundsätzlich von Lorenz’ Präsenz aus: Im Vergleich zu all den anderen Personen, die nur gelegentlich den Gesellschaftsraum verlassen, hält er sich vorwiegend oder am meisten im Handlungsfeld auf und minimal im Saal oder in der Nähe Delias, wo er eigentlich sein sollte. Darüber hinaus agiert er hauptsächlich im Bereich vor dem Spiegel, das heißt, dass er auch räumlich im Zentrum positioniert wird. Seine Hauptbeschäftigung besteht darin, Worte, Gesten und Haltungen zu proben mit dem Ziel, die geeignete Formel zu finden, in der sich seine Gedanken „am angemessensten“ gegenüber Delia ausdrücken ließen. Nebenbei verwickelt er sich in Diskussionen, wann immer er von den übrigen Anwesenden angesprochen wird, 13 oder (212), schwitzt sie dermaßen, dass das Tuch, mit dem sie ihr Gesicht abtrocknet, regelrecht mit Wasser getränkt ist. 11 Siehe hierzu den gezierten Stil der „Frau in Schilfgrün“, das eher brüske bzw. snobistische Verhalten des „Mannes mit Zigarre“ oder die Aufdringlichkeit und die Ungeduld Henriettes. 12 Beispielweise die weiße, lange, blendende Toilette Delias oder das kurze, mit einem tiefen Seitenschlitz, enge, schwarze Paillettenkleid der „Unbedachten“. 13 Siehe hierzu die Szene mit „dem Rufer“ (206ff.), die mit einem Dialog zwischen ihm und Lorenz beginnt, eigentlich aber, nachdem sich Lorenz vom zentralen Topos der Aktion entfernt hat, lange andauert, indem „der 151
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gerät in Situationen, für deren Ablauf er nicht hauptsächlich verantwortlich ist. 14 Lorenz ist letzten Endes selten absent, sowohl von den Ereignissen als auch vom Ort der Ereignisse überhaupt. In Bezug auf sein szenisches Da- und Sosein lässt sich feststellen, dass es sich von Situation zu Situation (minimal) differenziert und generell in zwei Artikulationsmodi kategorisieren ließe: 15 Einerseits in einen eher extrovertierten Modus, der zutage tritt, wenn Lorenz allein und im Prinzip vor dem Spiegel spielt, und der sich in Form von Redegewandtheit, gerader Haltung und großem Selbstbewusstsein äußert (siehe hierzu beispielsweise die relativ langen Monologe auf den Seiten 204, 206 und 213), und andererseits einen introvertierten Modus, der dann eintritt, wenn er an einem Dialog partizipiert bzw. wenn er mit anderen Personen koexistieren muss; dieser drückt sich seinerseits in Stille oder kurzen sprachlichen Äußerungen, leicht oder stärker gebückter Haltung und einer gewissen Zerstreutheit aus. 16 Entsprechend folgt Lorenz’ Präsenzentfaltung dem Rhythmus der Abwechslung zwischen der extrovertierten Verhaltensweise, die räumlich den Bereich des Bühnenzentrums in Anspruch nimmt und zeitlich mit einem erhöhten Tempo – erzeugt durch seine (gewissermaßen) hektische Aktivität – einhergeht, und der introvertierten Verhaltensweise, deren Raum eher die Bühnen- oder Spielperipherie darstellt und deren Zeit sich in Form einer gewissen Verlangsamung oder Aktivitätsabsenz offenbart. Das, was insgesamt die (chronotopische) Präsenz Lorenz’ charakterisiert, ist ihre zyklische Strukturierung im Sinne der ständigen Rückkehr zum Ausgangspunkt (zu einem bestimmten und identifizierbaren Verhalten) und der Wiederaufnahme von Handlungen.
Rufer“ unter anderem sich immer wieder an Lorenz wendet; oder die Sequenz mit „der Beleibten“ (213ff.), in der Lorenz die Rolle des (unfreiwilligen) Zuhörers annimmt. 14 Hierzu beispielsweise S. 109: Lorenz sitzt im zweiten Stuhl von links und gerät plötzlich zwischen den „bitteren Mann“ und die „Unbedachte“, die links und rechts von ihm Platz nehmen und eigentlich eine private Angelegenheit besprechen; siehe auch den weiter oben beschriebenen Gag mit der Streichholzschachtel. 15 Wobei unbedingt betont werden muss, dass die Beobachtung ein allgemeines und schematisches Bild zu vermitteln versucht und keineswegs auf absolute Weise der Realität entspricht. 16 Hierzu siehe die Szene mit der „Beleibten“ (212), bei der Lorenz rechts vorne, mit zerstreutem Blick, ganz still steht, während ihn die Frau klar als Dialogpartner oder als Zuhörer betrachtet, und das Fiasko bei der Begegnung mit Delia (213) (weiter oben beschrieben). 152
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Lorenz ist der einzige, von dem ein einigermaßen – und im Vergleich zu allen anderen Agierenden – integrales Bild seiner „Person“ im Handlungsraum dargeboten wird. Die kurzzeitige, flüchtige Anwesenheit des restlichen Personals im (Vor-)Raum produziert ein stark fragmentiertes, pointillistisch strukturiertes Bild des Akts, das sich so als eine Zusammensetzung aus Präsenz-Fetzen darstellt, deren Leitlinie die Präsenzartikulation Lorenz’ zu sein scheint. Nicht nur ist er fast immer im Handlungsfeld anwesend, wenn auch häufig am Rande der Geschehnisse, sondern seine (bloße) Anwesenheit scheint sogar Situationen zu provozieren. 17 Lorenz’ Präsenzartikulation erscheint somit als eine Art Akteinrahmung; seine Auf- und Abtritte, seine zentrale und periphere Positionierung fungieren als Taktgeber der Strukturierung des Aktchronotopos. Dieser präsentiert sich seinerseits als eine Situationskette, als eine Aufeinanderfolge von qualitativ unterschiedlichen segmentalen Räumen und Zeiten, deren Montagemodus eine Art „Bilderfluss“ – im Sinne von nahtlos aufeinander folgenden Raum-Zeit-tableaus – produziert. Die nähere Betrachtung zweier Sequenzeneinheiten soll eine Impression des Aufbaus (eines Teils) dieser Situationskette offerieren und dann zu den Schlüssen bezüglich der raumzeitlichen Qualitäten des gesamten Akts führen. S. 207-209 (1. Sequenzeneinheit): Lorenz sitzt auf dem zweiten Stuhl von links, die „Frau in Schilfgrün“ verlässt gerade auf ihre nonchalante Gehweise das Vestibül in Richtung Saal, der „gewandte Mann“ tritt aus dem Waschraum, wo er sich zuvor mit der „Unbedachten“ eingeschlossen hatte, ordnet sein Haar und seine Kleidung und verschwindet eilig ebenfalls in den Saal; der „Rufer“ hat sich inzwischen – ohne die Unterredung mit Lorenz zu unterbrechen – zur Waschraumtür bewegt, versucht sie zu öffnen, stellt aber verblüfft fest, dass sie immer noch abgeschlossen ist, und wendet sich dann dem Spiegel zu. Einige Augenblicke später finden sich im Raum – aus dem Saal kommend – die „Beleibte“, der „Mann mit Zigarre“ und die „Versprochene“ ein und drängen sich alle vor dem Spiegel zusammen; das Resultat ist eine eher chaotische Situation, in der jeder einzelne den anderen zur Seite stößt, um vor den Spiegel treten zu können. Es entsteht somit eine kontinuierliche Bewegung 17 Siehe hier beispielsweise den Monolog der „Beleibten“ (212), der eventuell nie stattgefunden hätte, wäre Lorenz – trotz seiner offenkundigen Passivität oder Uninteressiertheit – nicht auf der Bühne präsent, oder den Dialog zwischen Lorenz und dem „Rufer“ und den ausführlichen Bericht des zweiten über seine Erfahrungen mit den Frauen (207ff.), die durch die bloße Anwesenheit Lorenz’ angeregt werden. 153
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auf engstem Raum – alle vier Agierenden versuchen, den Kontakt mit dem Spiegel in keinem Augenblick zu verlieren; der „Mann mit Zigarre“ transportiert sogar einen Stuhl an den betreffenden Ort, steigt für eine kurze Zeit auf ihn, um einen besseren Blick zu erhaschen und verursacht dadurch ein noch größeres Durcheinander, das eine quasi kreisläufige Form annimmt und minimale Platzverschiebungen zur Folge hat. Entsprechend kurz wie die Auftritte vor dem Spiegel und kontinuierlich wie die Bewegungen sind die Aussagen der Personen, die sich überschlagen. Inzwischen kommt auch die „Unbedachte“, leicht schwankend, aus dem Waschraum heraus und breitet sich erschöpft auf den Stühlen aus. Die Aufmerksamkeit der Gruppe richtet sich momentan auf den Versuch, den Waschraum zu betreten, wo ebenfalls ein Spiegel vorhanden sein soll; doch dieser befriedigt sie überhaupt nicht, und so finden sich alle wieder, inklusive der „Unbedachten“, im Spiegelbereich ein. Die Situation eskaliert, als die „Beleibte“ irgendwo rechts neben dem Spiegel ihre Kontaktlinse verliert: Sie und der „Mann mit Zigarre“, der ihr zu Hilfe kommt, knien nieder, um sie zu suchen; ausgerechnet in diesem Moment klingelt es an der Haustür, der „Rufer“ geht, sie zu öffnen und tritt dabei auf die Finger der „Beleibten“, die einen schrillen Schmerzensschrei ausstößt; es entsteht eine gewisse Aufregung, die „Unbedachte“ greift ihr unter die Arme, hilft ihr, sich auf den Stuhl zu setzen und kehrt dann wieder zum Spiegel zurück, wohin sich unterdessen auch Lorenz bewegt hat. Der „bittere Mann“ betritt das Vestibül durch die Haustür, bleibt vor der Garderobe stehen und signalisiert mit seiner Hand und einem sausenden Geräusch der „Unbedachten“, sich ihm anzunähern. Zunächst missversteht Lorenz das Signal, geht mit einem zufriedenen Lächeln (weil sich endlich jemand mit ihm beschäftigt?) auf den Mann zu, der ihn aber abweist und das Verfahren wiederholt, diesmal erfolgreich. Der Dialog zwischen dem „bitteren Mann“ und der „Unbedachten“ beginnt im Bereich der Garderobe, wo sich die Frau mit dem linken Arm angelehnt hat, und setzt sich bei den Stühlen fort, wo zunächst der Mann und dann die Frau, jeweils links und rechts von Lorenz Platz nehmen 18 ... S. 210-212 (2. Sequenzeneinheit): Nachdem der „Rufer“ durch die Tür 1 und Lorenz durch die Tür 2 in den Saal eingetreten sind, herrscht für einen Augenblick absolute Stille im Raum, ehe die „Frau in Schilfgrün“ das Vestibül betritt und sich langsam dem Spiegel nähert; gleichzeitig ertönt die Stimme Edith Piafs, welche die gesamte Szene der „Frau in Schilfgrün“ begleitet und in dem Moment aufhört, in dem Lorenz und Henriette den Raum betreten.
18 Siehe Anm. 14 dieses Kapitels. 154
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Während ihres stummen Spiels vor dem Spiegel äußert sich die „Frau in Schilfgrün“ in übertrieben dramatisierten Gesten und Bewegungen: Ihr gezierter Stil tritt jetzt betont zutage und wird zusätzlich von einer gewissen Trägheit oder Nonchalance unterstrichen. Sie klettert auf die schwarze Plattform am unteren Spiegelende, streicht mit ihrem roten Lippenstift den Spiegel von oben nach unten durch und kniet dabei nieder. Sie setzt sich dann mit dem Rücken an die linke, gekrümmte Glaswand des Vorsprungs, reißt einen länglichen Streifen aus ihrem Kleidfutter heraus, entleert zwischen ihren nach vorne gestreckten Beinen ihre kleine Tasche und beschmiert das grüne Stoffstück mit ihrem roten Nagellack. Daraufhin verbindet sie sich damit die Augen, reißt ihre Perlenkette von ihrem Hals und bemerkt schließlich Lorenz und Henriette, die das Vestibül betreten und sich rasch nach vorne rechts neben dem Spiegel bewegen. Die „Frau in Schilfgrün“ gibt ihr Spiel auf, rutscht langsam auf den Boden und geht ohne Eile in den Saal zurück. Der Dialog zwischen Lorenz und Henriette entwickelt sich vorrangig im Bereich der Stühle und in einer völlig differenten – im Vergleich zur vorigen Szene lauteren und lebendigeren – Atmosphäre. Unterbrochen wird er von dem kurzen Auftritt des „Hageren“. Seine Körperhaltung ist steif und seine Schritte klein und vorsichtig – als versuche er, sich nicht allzu viel zu bewegen. Er spricht leise und eher langsam und sieht sich schon nach seiner ersten Aussage mit der wütenden Henriette konfrontiert, die ihn völlig unhöflich und laut anschreit, er solle sich gefälligst aus der Diskussion zwischen ihr und Lorenz heraushalten. Der „Hagere“ entfernt sich langsam, bleibt kurz links neben dem Spiegel stehen, spricht seine letzten Worte aus, zeigt sein rotbeflecktes Tuch und ist im Zuge, zu niesen. Statt es zu tun, zieht er seine Wangen ein, glotzt und setzt seinen Gang zum Saal fort. Henriette und Lorenz beobachten ihn absolut still bzw. Lorenz folgt ihm für eine kurze Weile, bleibt aber vor dem Spiegel stehen, wo ihm daraufhin Henriette nachgeht. Der Dialog setzt sich dort fort – Lorenz mit dem Rücken, Henriette neben ihm mit dem Gesicht zum Spiegel; ein Versuch Henriettes, Lorenz zu küssen, wird von ihm abgewiesen; Henriette wird wieder lauter und wütender; bald darauf wird ihre erfolglose Unterredung mehr oder weniger abrupt durch die Transportierung der „Beleibten“ vom „gewandten Mann“ ins Vestibül abgebrochen. Dieser stützt den reglosen Körper der Frau auf den vorderen Teil seines Körpers, seine Arme um ihre Taille geschlungen; diese Positionierung der Frau verhindert völlig den Ausblick des Mannes, der sowohl dem enormen zu tragenden Gewicht als auch der fehlenden Sicht entsprechend hinkend und sehr aufmerksam die Stufen hinabsteigt und zur vorderen, linken Bühnenseite gelangt. Doch ehe er sie auf den Stuhl, den Henriette dort hingestellt hat, setzt, kommt die „Beleibte“ zu sich
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und bringt dabei sowohl den Träger als auch sich selbst zu Fall. Nach einem eher langwierigen und schmerzhaften Verfahren schaffen sie es, endlich aufzustehen. Die Frau setzt sich auf den Stuhl, Lorenz bringt den Sessel zu ihr und hilft ihr, ihre Beine auf ihn zu legen, während Henriette und der „gewandte Mann“ das Handlungsfeld durch die Tür 1 verlassen. Es folgt eine kurze, stille Pause, während der die „Beleibte“ ein Tuch aus ihrer Tasche holt, um sich den Schweiß aus dem Gesicht abzuwischen, und Lorenz sich diagonal rechts vor dem Spiegel bewegt und dort still bzw. in seine Gedanken vertieft stehen bleibt. Die Handlungssequenzen, aus denen sich dieser Akt zusammensetzt, werden auf drei verschiedene Weisen in Szene gesetzt, die sich aus der vorangegangenen Beschreibung ablesen lassen: a) Eine Sequenz wird nach ihrem Abschluss oder ihrer Unterbrechung durch eine andere ersetzt (siehe hierzu beispielsweise den Dialog zwischen Lorenz und Henriette‚ der das „Spiegelspiel“ der „Frau in Schilfgrün“ unterbricht und ersetzt – 2. Sequenzeneinheit), b) es verlaufen zwei Sequenzen parallel zueinander und zwar auf verschiedenen Raumebenen (siehe hierzu beispielsweise 1. Sequenzeneinheit: das Betreten des Vestibüls vom „bitteren Mann“ und den darauffolgenden Gag mit Lorenz während das restliche anwesende Personal um einen Platz vor dem Spiegel ringt) oder c) eine Sequenz unterbricht für eine Weile eine bereits stattfindende bzw. eine Sequenz „interveniert“ in den Verlauf einer anderen (siehe hierzu beispielsweise die Szene zwischen dem „bitteren Mann“ und der „Unbedachten“, kurz vor dem Abbruch der Szene der „kollektiven Spiegelsucht“ durch den „Hässlichen“ – 1. Sequenzeneinheit). Bei allen drei Arten des Szenenablaufs lässt sich jedenfalls ein gewisser Grad zeitlicher Identität bzw. simultaner Existenz in der Szenensukzession feststellen: Die nächste Sequenz wird schon (auf unterschiedliche Weise) eingeleitet, bevor die vorangegangene abgeschlossen ist. Die Montage der Sequenzen vermittelt dementsprechend den Eindruck eines nahtlosen, fließenden Handlungskontinuums, in dem die Übergänge zwischen den Teilen nicht mehr durch plötzliche cuts oder explizite Schnitte (siehe I. Akt), sondern eher durch „verborgene“ bzw. implizite Mittel geschehen. Drei Arten von solchen Montage-Methoden werden am häufigsten verwendet: a) Die jeweils spezifische Nutzung der Klangzeichen: Der Musikeinsatz (beispielsweise während des „Spiegelspiels“ der Frau in Schilfgrün – 2. Sequenzeneinheit), das Durchdringen von Stimmen, Gelächter und ande-
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ren Geräuschen vom Festsaal ins Vestibül 19 und sogar die Verwendung von Sprechpausen 20 bilden einen wesentlichen Aspekt der Inszenierung, die somit einen permanenten, die Aktion begleitenden Schallhintergrund schafft, dessen jeweilige Verwendung als Übergangssignal von einer Sequenz zur anderen wahrgenommen werden kann. b) Der Gebrauch verschiedener Raumebenen: Die Handlung wird auf der gesamten Bühne verteilt, und zwar auf eine Weise, als hätte jede Handlungssequenz einen ganz eigenen Platz im Feld des Geschehens inne. Die Fokussierung ist jedes Mal a priori von der Inszenierung gewählt und bestimmt worden; auch die eher seltenen parallel verlaufenden Szenen teilen sich sowohl den Raum als auch die Zeit der gemeinsamen Entfaltung nach strengen Regeln, ohne irgend eine Art von Verwirrung zu stiften. Somit fungieren die Raumteilung und deren Gebrauch und die Fokussierung auf die jeweilige Handlungsörtlichkeit als eine Strategie der Synthese eines Akts, der eher den Eindruck eines Puzzle-Bilds vermittelt, das seine Bestandsteile nicht nach einer räumlichen und zeitlichen Sukzession strukturiert, sondern vielmehr die Illusion einer „simultanen“ Existenz aller seiner Sequenzen suggeriert. 21 c) Die Differenzierung der Atmosphären: Dies bedeutet vor allem (nicht nur!) eine Differenzierung der zeitlichen Qualitäten zwischen den Sequenzen. Auf Szenen der Langsamkeit, der Stille oder der Akinesie folgen Szenen der Hektik, des Geplauders oder der Beweglichkeit; Szenen, die durch eine gewisse rhythmische Monotonie charakterisiert sind (beispielsweise die Monologe Lorenz’), werden durch Handlungssequenzen ersetzt, die eine polyrhythmische Struktur aufweisen, entsprechend dem auf der Bühne anwesenden Personal und dessen Aktion (siehe hierzu die 1. Sequenzeneinheit); Szenen von einer gewissen Leichtigkeit (beispielsweise die possenhaften oder grotesken Szenen) gehen in Sequenzen über, 19 Siehe hierzu, auf S. 206, das Aufhören der Geräusche im Saal, nachdem der Rufer „Deutschland!“ brüllt, und die Wiederaufnahme der Plaudereien und des Gelächters, begleitet von Tanzmusik, sobald die Unterredung zwischen Lorenz und dem „Rufer“ beginnt. 20 Beispielsweise auf S. 204: Lorenz beginnt seinen Monolog in Anwesenheit der „Unbedachten“, die eine längere Unterbrechung seiner Rede verursacht, indem sie mit trägem, langsamem Schritt zunächst auf ihn zugeht und sich dann zu den Saaltüren 1 und 2 bewegt. 21 Der Akt vermittelt öfters den Eindruck, als befänden sich alle Agierenden ewig und gleichzeitig auf der Bühne und als beleuchtete oder fokussierte die Inszenierung jedes Mal eine gewisse Handlung. Siehe auch weiter im Text. 157
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die einen eher seriösen oder ernsten Eindruck zu vermitteln wünschen (siehe hierzu die letzte Szene des Selbstmords Lorenz’). Diese ständige Umwandlung der Atmosphäre von Sequenz zu Sequenz stellt das inszenatorische Instrument zur Strukturierung und Rhythmisierung des im Übrigen stark fragmentierten Aktbilds schlechthin dar. Die spezifische, sozusagen diskrete Anwendung der hier aufgezählten Methoden zur Synthese der Bruchstücke (von Aktionen, Handlungen, Aussagen, Kommunikationsakten etc.) im Aktrahmen führt keineswegs zur Zusammenstellung und Präsentation einer kausalitätsbedingten Geschichte. Der Akt vermittelt vielmehr den Eindruck einer zeitlichen Indifferenz, einer achronischen (Ko)Existenz aller Agierenden und aller Aktionen im gemeinsamen Handlungsraum. Die Geschehnisse können in keine zeitliche Relation zueinander gebracht werden; es existiert kein Früher und kein Später. Es werden bloß Fetzen von Präsenzen (und Biographien) von minimaler Dauer durch die jeweilige Fokussierung der Inszenierung enthüllt und dann wieder zum Verschwinden gebracht. Die permanente Beweglichkeit des Personals und dessen provisorischer Aufenthalt im Handlungsfeld – der in diesem Sinne wie der Raum des I. Akts als ein Dazwischen, ein Übergangsraum zu verstehen ist – spricht darüber hinaus dem Akt die Möglichkeit der zeitlichen Bestimmtheit ab. Es existieren nur partielle Aktions- und Interaktionszeitlichkeiten, die eine unstrukturierte, ja sogar chaotische Aktzeit zusammenstellen. Zu dieser zeitlichen Indifferenz trägt ebenfalls der Taktgeber des Akts bei, nämlich die Art von Lorenz’ Präsenzartikulation. Diese verläuft in einem stabilen Rhythmus, der durch die Wiederkehr vor den Spiegel, die ständige Wiederholung der Handlungen, die Periodizität der Erscheinungsweisen geschaffen wird. Eben diese rhythmische Normalität neutralisiert jedes Mal die temporalen Differenzen zwischen den Sequenzen, die trotz ihrer auffälligen Existenz für die zeitliche Strukturierung des Akts ohne Wirkung bleiben. Die – im Vergleich zu allen anderen – dominierende Präsenz von Lorenz im Handlungsraum und ihre rhythmisierende Rolle hat eine weitere Konsequenz für die zeitliche Identität des Akts, die mit der oben angesprochenen zeitlichen Indifferenz einhergeht und schon angedeutet wurde. Durch die permanente Wiederholung seiner Handlungen und seines Verhaltensbilds verschiebt Lorenz permanent die „korrekte“ Begegnung mit Delia. Somit befindet er sich ständig im Augenblick vor dieser Begegnung, den er bis „ins Ewige“ ausdehnen möchte. Sein ständiges Hin und Her, seine ewigen Proben vor dem Spiegel, sein Sichaufhalten fern von Delia, seine Verwicklungen in irrelevante Situationen und sein Selbstmord zum Aktschluss stellen die Arten dar, durch die Lorenz die Expansion des Augenblicks erzielen will. In diesem Sinne agiert er im
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Rahmen eines ewig dauernden Jetzts, dessen Vergangenheit durch die permanente Wiederholung erlischt und dessen Zukunft niemals ankommt (die Begegnung hat nie stattgefunden) bzw. ankommen soll. Dem gesamten Akt scheint hierdurch die Zeitlichkeit einer ewig dauernden Gegenwart zugesprochen zu sein, manifest durch eine immer wiederkehrende Handlung, in die nur gelegentlich und kurz Handlungs- bzw. Daseinsfragmente intervenieren und die – eben durch die ultimative Verschiebung, nämlich den Selbstmord des Handelnden – niemals zu einem Schluss gebracht werden kann.
Akt III Der III. Akt der Aufführung setzt sich aus drei – mehr oder weniger – selbstständigen Teilen zusammen: Der erste Aktteil spielt in einem „Berliner Lokal in der Nacht des Mauerfalls“, der zweite „im Zoo“, vor dem Käfig eines Adlers, und der dritte bildet die Fortsetzung des I. Akts, den Luc Bondy nicht im Sinne von Strauß abgeschlossen hatte. 22 Diese drei Aktteile verbinden sich in verschiedenen Modi miteinander, die demnächst explizit gemacht werden sollen. „Im Lokal“ Der geräumige Saal eines Restaurants: Der Eingang – eine hohe Drehtür aus Holz und grünlichem Glas – befindet sich auf der linken Seite und der Tresen – aus Holz und relativ lang – ganz rechts. Der Raum dazwischen ist mit mehreren, in einer bestimmten Ordnung platzierten, viereckigen, kleineren Tischen und Stühlen besetzt. Die Hintergrundwand bilden drei hohe Fenster mit grünlichen Glasscheiben, welche die Aussicht zur „Straße“ erlauben. Senkrecht zum Hintergrund sind vier weitere größere, hölzerne Tische mit Sitzbänken aufgestellt. Das Lokal ist generell in dunkelroten und -grünen Tönen eingerichtet und durch ein schwaches Licht beleuchtet. Dieser dritte Handlungsraum stellt sich wiederum als ein Begegnungsraum dar, der, wie die beiden zuvor, die zufälligen, flüchtigen Begegnungen begünstigt. Zum Aktbeginn befinden sich im Restaurant der „Leser“ (am zweiten, größeren Tisch von links), Anita und ihre Mutter (am rechten, größeren Tisch, einander gegenüber sitzend), der rastlose Wirt und ein Trinkender, der mit dem Rücken zum Saal am Tresen sitzt. Es finden sich dann Patrick und Ursula, Solveig und Rudolf, der „Rufer“ und das „BlousonPaar“ nacheinander im Lokal ein. Die Handlung dieses Aktteils wird von diesen zwölf Personen getragen: Sie äußern sich, treffen sich, gehen auf22 Der I. Aufführungsakt endete mit der „Vernichtung“ des Fotografen. 159
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einander zu, kommunizieren und entfernen sich wieder voneinander; dabei bilden sie Aktions- und Interaktionstopoi, deren Dauer aber stets durch die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des einrahmenden Raums definiert und bedroht wird. Die Personen nutzen den Raum, um sowohl ihre persönlichen Präsenzen zu entfalten, als auch Kontakt mit den Anderen aufzunehmen. Das heißt, dass der Handlungsraum beides fördert: eigenständige Präsenzverwirklichungen und Begegnungen. Durch seine Gestaltung und die Art und Weise, wie er gefüllt und beschrieben wird, erlaubt er die Schaffung einer Vielzahl von Räumlichkeiten, die ihrer Nutzung entsprechend bestimmt und benannt werden. Der einrahmende Handlungsraum bekommt unter diesem Aspekt den Anschein eines unendlich ausdehnbaren Raums, der unzählige Teilräumlichkeiten in sich einschließt. Jede Person besitzt bzw. besetzt einen bestimmten Ort, der als eine Art Ausgangspunkt fungiert und der mit der von der Inszenierung für jede einzelne Person bestimmten Position zusammenfällt. Anita ist beispielsweise am rechten, größeren Tisch platziert, während Ursula am ersten kleineren Tisch rechts neben der Tür positioniert ist. Jede Person besitzt einen solchen Ort im Raum, von dem der Aufbau ihrer Räumlichkeit ausgeht. Die Elemente, welche die jeweilige Räumlichkeit komponieren, beziehen sich auf das individuelle Da- und Sosein jeder Person: Die große Beweglichkeit Anitas und ihre ausdrucksvolle Selbstdarstellung (sie streckt, hebt, benutzt betont ihre Arme, sie bewegt sich häufig durch den Raum, sie erhebt ihre Stimme und wird zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit etc.) erlauben ihr eine eher undefinierte, expandierte oder expandierende Räumlichkeit, die den gesamten Raum in Anspruch nimmt. Patrick hingegen verschafft sich eine eher begrenzte oder zu kontrollierende Räumlichkeit, indem er sich auf minimale sprachliche und körperliche Äußerungen beschränkt und die Rolle des Beobachters annimmt. Die Räumlichkeit jeder einzelnen Person differenziert sich von allen anderen auch, indem sie als Verwirklichung der Spezifik des jeweiligen Da- und Soseins fungiert: Anita beansprucht den gesamten Raum für sich und zwar auf eine sehr explizite und unauslöschliche Weise: Sie bewegt sich fast unaufhörlich durch den Saal oder scheint immer unruhig zu sein, sie spricht meistens sehr laut, sodass alle Anwesenden sie hören können (beispielsweise 222) oder sie kommentiert häufig die Äußerungen anderer, interveniert in deren Diskussionen (220, 221) und hinterlässt ihre (durchaus sichtbaren) Spuren im Raum, indem sie mit ihrem Lippenstift überall auf die Fenster des Restaurants die Worte: „Meine einzig Geliebte – verloren!“ schreibt (223ff.). So etabliert sie eine Räumlichkeit, die trotz ihres unbestimmten Umfangs eine markante innere Stabilität
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und Balance besitzt. Ursulas Verhalten hingegen wird ständig von einer gewissen Unsicherheit begleitet: Sie verlässt nur unwillig ihren Platz (218), sie bewegt sich eher selten und ohne auffallen zu wollen. Sie lässt sich eher führen (beispielsweise von der Mutter zu Anita und von Anita zu einem Tisch, 218ff.), als dass sie ihre Räumlichkeit selbst bestimmte. Patrick schließlich scheint seine Räumlichkeit – die einen beachtlichen Umfang durch seinen schweifenden Blick gewinnt – voll zu beherrschen: Er verlässt seinen Platz sehr gezielt (um beispielsweise mit Solveig zu diskutieren, 221), seine Bewegungen scheinen berechnet und entschlossen und sein Verhalten sicher und konstant zu sein. Das Entfaltungsverfahren dieser so individuellen Räumlichkeiten, deren Polymorphie und unaufhörliche Regeneration die Endlichkeit des umgebenden Handlungsraums aufzuheben und ihm eine fortwährend expandierende Existenz zuzusprechen scheinen, generiert ebenfalls Kommunikations- und Begegnungsräume, die eigenständige, räumliche Rahmen besitzen, in denen die einzelnen beteiligten Präsenzen konfrontiert werden. Dementsprechend definieren sich die Kommunikationsräume einerseits äußerlich durch ihre Verortung im umgebenden Handlungsraum und andererseits innerlich durch die einzelnen kommunizierenden, personellen Räumlichkeiten. Die Begegnungsräume werden an allen möglichen Raumebenen geschaffen: rund um den Tisch (unter anderem Ursula, Patrick und die Mutter, 217), an den größeren Tischen des Hintergrunds (unter anderem Patrick und Solveig, 221) oder am Tresen (unter anderem Patrick und der Wirt, 217). Es kommt aber ebenfalls vor, dass sie ohne einen bestimmten Rahmen existieren, und dies ist meistens der Fall, wenn Anita an dem Kommunikationsakt beteiligt ist. Wie schon bemerkt worden ist, umfasst ihre Räumlichkeit die Gesamtheit des Handlungsraums und so verhält sie sich auch beim Kommunizieren: Entweder ist sie „überall anwesend“ (durch intervenierende Kommentare, Unterbrechungen etc.), oder aber sie äußert sich bombastisch oder agiert auffällig auf die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zielend (siehe beispielsweise 222, als der Wirt Anita aus dem Lokal entfernen will, steigt sie auf die Sitzbank und appelliert an die Gäste, sie sollen entscheiden, ob sie bleiben darf oder nicht). Nur selten konfrontiert sie sich mit einer einzigen Person (siehe beispielsweise 219 mit Ursula, und 226-7 mit Patrick, der zum Schluss der einzige Übriggebliebene ist) und dies nur für kurze Zeit. Auf der anderen Seite bleibt Anita dennoch immer irgendwie „abwesend“, fremd den Geschehnissen des gemeinsamen Raums gegenüber. Ihre Äußerungen und Aktionen haben gar kein tatsächliches kommunikatives Ziel; sie will nicht verstehen oder verstanden werden. Ihre Kommunikationsversuche sind vielmehr flüchtig, bruchstückhaft und unvollständig; bei ihrer Unterredung
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mit Patrick wird sie sogar gewalttätig (schlägt ihn ins Gesicht, wirft Stühle auf ihn, 227), mit der Konsequenz, dass der Kommunikationsakt abrupt und erfolglos abgebrochen wird. Sogar bei der Begrüßung des „Blouson-Paars“ (224), an der das gesamte Personal beteiligt ist und die als Anlass für eine breitere Kommun(ikat)ion aller Anwesenden dient oder dienen könnte, 23 fehlt Anita (sie schreibt auf die Hintergrundsfenster ohne jegliches Interesse für die außerordentlichen Vorkommnisse). Damit bestätigt sich die frühere Beobachtung, dass, obwohl Anitas Räumlichkeit den gesamten Handlungsraum zu umfassen scheint, sie doch eher undefiniert und letzten Endes irreell, inexistent erscheint; eine Art Präsenz en passant, die sich überall offenbart, ohne aber irgend einen Einfluss auf die Handlung ausüben zu können: Anitas Spuren auf den Fenstern unterstreichen eher die gegenwärtige Abwesenheit als eine frühere Präsenz im Raum. Für die Inszenierung fungiert diese fast gespenstische Präsenz Anitas als eine Achse, die alle partiellen Segmente miteinander verbindet. Die undefinierte und unendliche Räumlichkeit Anitas bildet das einheitliche Substrat der fragmentartigen, suspendierten Offenbarungen aller anderen Präsenzartikulationen; sie stellt sogar oft den Anlass für die Anderen dar, sich zu äußern. Obwohl ihre Präsenzartikulation ebenfalls fragmentarisch bleibt und in diesem Sinne keine konstante Handlungsbasis bilden kann, scheint sie die Einzige zu sein, die ihre Äußerungen selbst bestimmt und sich von keiner externen Notwendigkeit (sei es eine andere Person oder eine Tatsache) beeinflussen lässt. Ein charakteristisches Bild der Inszenierung dieses Aktteils und der Art und Weise, wie die stark segmentale Handlung montiert wird, liefert folgende kurze Aktsequenz: S. 221: Rudolf und Solveig haben am Tisch des „Lesers“ (zweiter, größerer von links) Platz genommen, Rudolf und der „Leser“ unterhalten sich; Anita (von ihrem Platz aus, an einem der vorderen Tischen rechts, wo sie mit Ursula gesessen hatte) hört die Diskussion der beiden Männer und unterbricht sie mit einer Bemerkung. Alle Blicke richten sich auf sie; Rudolf geht zum Wirt, der rechts am Tresen Gläser trocknet, die Mutter wendet sich von ihrem Platz aus (rechter, größerer Tisch) an Anita; Patrick verlässt seinen Platz (linker, vorderer Tisch), transportiert einen Stuhl an den Tisch von Solveig und dem „Leser“, setzt sich dort hin, beugt sich leicht zu Solveig und unterhält sich leise mit ihr. Inzwischen kehrt auch Rudolf zu seinem Tisch zurück. Diesmal unterbricht und kommentiert Anita die Gespräche zwischen Patrick und Solveig; der
23 Siehe auch weiter im Text. 162
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Wirt interveniert, geht drohend auf sie zu, greift sie am Arm und versucht, sie aus dem Lokal zu entfernen... Der gesamte erste Aktteil setzt sich aus derartigen kurzen Äußerungsund Kommunikationsakten zusammen, die sich auf allen Ebenen des Handlungsfelds entwickeln und einen rapiden und ständigen Fokussierungswechsel beim Betrachter erforderlich machen. Auf der Bühne verlaufen immer mehrere Sequenzen parallel zueinander: Eine Unterredungs- bzw. Aktionsentfaltung wird ständig von einer „sekundären“ Aktion (die sich im Hintergrund ereignet oder bei der nichts Entscheidendes für die Entwicklung des Geschehens passiert oder aber die lediglich die nächste Sequenz vorbereitet) begleitet, sodass keine Lücke im Handlungsmosaik entsteht. Dennoch funktionalisiert die Inszenierung stark die überraschende Verlegung der („primären“) Handlung von einem Raumpunkt auf einen anderen, die entsprechend den Blick und die Aufmerksamkeit des Beobachters zu plötzlichen Translokationen zwingt. Die pausenlose Verschiebung der Handlung auf verschiedene Orte des Raums und die entsprechende abrupte Schaffung und Auflösung von partiellen Handlungsräumen vermitteln den Eindruck eines pointillistisch strukturierten Aktbilds (in der Art des II. Akts), dessen Kohäsion sich auf den Modus der Präsenzartikulation der „allgegenwärtigen“ Anita stützt. Die Aktzeit weist eine ähnliche Struktur auf: Auch sie präsentiert sich als eine pausen- und lückenlose, kontinuierliche Aufeinanderfolge von personellen/partiellen Zeitlichkeiten, die ständig miteinander konfrontiert werden. Diese durchaus unterschiedlichen Zeitlichkeiten (Anitas wechselhaftes Verhalten: von der absoluten Ruhe ins gewaltige Schreien, von einer gewissen Langsamkeit und Gelassenheit in Nervosität und Schnelligkeit; Patricks konstante Ruhe; die unauffälligen Verhaltensweisen Ursulas und der Mutter etc.) weisen zwei grundlegende gemeinsame Charakteristika auf, welche eine entsprechende Auswirkung auf die gesamte temporale Aktstruktur haben: a) Vorläufigkeit, Endlichkeit: Alle Äußerungen, Aktionen und Handlungen sind lediglich Fragmente von Geschichten, Biographien und Existenzen, die ohne sichtbaren Grund exponiert werden. Die Absenz einer kausalitätsbedingten Situationenkette und der abrupte und häufige Themenwechsel offenbart das Vergängliche und Provisorische jedes Geschehnisses: eine a priori bestimmte (kurze) Dauer, eine determinierte Endlichkeit der Zeit, welche die Personen zur Äußerung in Anspruch nehmen können; eine hoffnungslos begrenzte Zeitdauer, im Rahmen derer so viel
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wie möglich gesagt und getan werden muss. Diese Bestrebung führt zu einer b) ununterbrochenen Kontinuierlichkeit der Handlungssegmente, die mit einer untergründigen Eile bei dem Handlungsvollzug einhergeht, ja sogar diese verursacht. Das pausenlose Bühnengeschehnis vermittelt den Eindruck einer angsterfüllten Überzeugung, die Zeit gehe zu Ende oder sie genüge nicht, um alles zu äußern und zu tun. Beide Charakteristika, die zunächst die einzelnen personellen Zeitlichkeiten betreffen, üben eine zweifache Wirkung aus: einerseits auf die Zeitlichkeit der Kommunikationsmomente und andererseits auf die temporale Struktur des gesamten Akts. Wegen der Bruchstückhaftigkeit von Äußerungen und Aktionen bleibt der Kommunikationsakt immer suspendiert; eigentlich findet er nicht statt, weil er sich nie vollendet. Deswegen entfaltet er keine eigene autonome Zeitlichkeit. In Wahrheit handelt es sich bloß um Begegnungen personeller Zeitlichkeiten in einem bestimmten Zeitrahmen bzw. einer konkreten Dauer – und dies ist die einzige temporale Eigenschaft dieser Auseinandersetzungen –, deren Entfaltung und deren Ende keineswegs die Schaffung einer eigenständigen Kommunikations-Zeit erlaubt. Auf der anderen Seite scheint die Aktzeitlichkeit, indem die Handlungssequenzen in einem lückenlosen Bild angeordnet sind, von einem horror vacui beherrscht zu sein: Die Zeit läuft zu schnell, und die Personen scheinen gezwungen zu sein, eine zu große Menge von Handlungen auszuführen. Es darf kein Augenblick verpasst werden, sodass das zahlreiche Personal sich in einer relativ kurzen Dauer behaupten muss. Sowohl der Handlungsraum als auch die -zeit dieses Aktteils präsentieren sich insoweit als Treffpunkte konkreter Konturen (mit konkretem Rahmen und von konkreter Dauer) und chaotischer Ordnung (suspendiertes Kausalitätsprinzip). Die Restaurant-Szene entfaltet sich – ähnlich wie der II. Akt der Aufführung – rund um die Präsenzartikulation einer Person (Anitas), welche die gesamte Handlungs-Raum-Zeit in Anspruch nimmt, prägt und rhythmisiert. Ihr bruchstückhafter Äußerungsmodus reflektiert und identifiziert sich mit der, ja verursacht die Fragmentierung der restlichen Präsenzentfaltungen und Kommunikationsakte: Anita ist nicht in der Lage, Raum und Zeit zu homogenisieren und die Personen endlich in einem gemeinsamen temporalen und räumlichen Topos zu einigen; letztere verbleiben bloß als einzelne Präsenzfragmente, denen Anita zufällig und provisorisch während ihrer Räumlich- und Zeitlichkeitsentfaltung begegnet und die – wegen ihrer Präsenz in Anitas Topos – auch miteinander konfrontiert werden (müssen).
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Während die Personen dementsprechend als Präsenzen, als Handelnde nicht zu einem Integral avancieren können, so entsteht doch ein Anlass für sie, sich zu einer homogenen Gruppe – eine Art Zuschauer-Gruppe (als Nicht-Handelnde) – zu formieren. Dies geschieht, als das „Blouson-Paar“ aus der DDR das Lokal betritt (224). Das Zentrum der Aufmerksamkeit verlagert sich damit auf ein neues Interesse: Der „BlousonMann“ und die „Blouson-Frau“ nehmen am vorderen linken Tisch Platz, und rund um sie herum versammeln sich Rudolf, Solveig, Ursula, der „Leser“, Patrick, die Mutter und der Wirt. Sie beobachten und befragen die etwas verlegenen „Fremden“, trinken mit ihnen Sekt, eilen alle zusammen, ihnen Zigaretten anzubieten, und jeder will diese mit seinem Feuerzeug anzünden. Für einen Moment wird es dunkler im Raum und der Mann am Tresen (der Fotograf des I. Akts) verewigt mit seinem Fotoapparat das tableau vivant der erstarrten und starrenden Personen mit den angezündeten Feuerzeugen in der Hand. Die bis dahin nach Entfaltung trachtenden Präsenzen, die nur gelegentlich – das heißt ohne tatsächlichen oder manifesten Willen – und fragmentarisch als (inhomogene) Gesamtheit funktionierten, finden jetzt einen gemeinsamen Referenzpunkt (die allumfassende Freude an der Grenzeröffnung – eigentlich interessieren sie sich gar nicht für das DDRPaar: Sie ziehen es vor, sich durch die Radiosendungen zu informieren, und zum Schluss verlassen sie fasziniert das Lokal – und das DDR-Paar! –, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen) und kreieren sofort eine diesbezügliche gemeinsame Raum-Zeit, die jedem die Charakteristika des „Gruppen-Mitglieds“ bzw. des „Kommun(ikat)ions-Partners“ verleihen kann. Zurück im Lokal bleiben zum Schluss Patrick, der von Anfang an die Position des Zuschauers oder des Beobachters eingenommen hatte und sich darum auch bei der gemeinsamen Freude distanzieren kann, und Anita, die nie daran teilhatte: Während alle Anderen einen historischen Moment feierten, war sie mit ihren eigenen (historischen) 24 Obsessionen beschäftigt (das Beschmieren der Restaurantfenster mit dem Tagebuchfragment). „Im Zoo“ Die Atmosphäre des zweiten Aktteils unterscheidet sich komplett von der des ersten. Die Handlung entfaltet sich in einer völlig anderen Raum-Zeit (auch im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Akten), die zunächst durch die Transformation des Bühnenbilds signalisiert wird. Eingeleitet wird dieser zweite Teil mit dem Verlassen des Lokals von Patrick und die Erhöhung der Lautstärke der ertönenden Neunten Sym24 Siehe die zweifelhafte Vaterbiographie (222ff.). 165
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phonie Beethovens. Anita bleibt alleine auf der Bühne und nähert sich der Rampe, während im finsteren Hintergrund die Bühnenarbeiter das Bühnenbild ändern: Die schmalen Tische und die Stühle werden weggeräumt und die großen Tische und die Sitzbänke mit grauweißem Stoff bedeckt. Parallel und nahe zur Rampe wird ein Drahtzaun vom einen bis zum anderen Ende der Bühne gezogen und aufgestellt. Während dieser szenographischen Interventionen agiert Anita im vorderen Bühnenbereich, sich parallel zur Rampe bewegend. Ehe der zweite Aktteil beginnt, wird es für eine kurze Weile still und absolut dunkel. Das Handlungsfeld des zweiten Aktteils – ein eher schmaler Streifen hinter dem Zaun und die enge Zone zwischen diesem und der Rampe – wird durch ein blaues, „kaltes“ Licht beleuchtet. Hinter dem Drahtzaun und etwas nach rechts sitzt auf einem kleinen Baumstumpf ein als Adler verkleideter Akteur; ganz links vor der Voliere befindet sich ein schmaler hölzerner Hocker. Anita betritt die Bühne von links: Es herrscht absolute Stille, die im Vergleich zum zuvor produzierten Lärm (Anita schrie, die Bühnenarbeiter lärmten und die Musik ertönte sehr laut) noch intensiver scheint. Die Handlung dieser Aktsequenz wird von Anita getragen; der Vogel ist zunächst ein stiller Beobachter und dann ein stiller Mitwirkender (in der Rolle eines Kampfgegners oder Liebespartners) bei der Entfaltung ihrer Präsenz. Ihre Räumlichkeit hängt auf verschiedene Arten von der Position und den Bewegungen des Adlers ab: Sie tritt nie aus seinem Blickumfang heraus (einmal geht sie an ihn heran, einmal entfernt sie sich von ihm), sie wendet sich ihm direkt zu, sie verhält sich verführerisch ihm gegenüber, sie imitiert seine Bewegungen etc.; ihre Aufmerksamkeit und volle Konzentration beziehen sich ausschließlich auf den Adler. Und als er ihre Einladung akzeptiert, aus dem Käfig heraustritt und sich ihr nähert, kann sie ihm nicht mehr entweichen. Ihr Raum ist nunmehr der Raum, den ihr der Adler freilässt: direkt vor ihm, auf allen vieren, in seinen Schwingen, auf dem Boden liegend, in einer erstickenden Umarmung; nur die Tötung (Erwürgung) des Vogels kann sie dann zum Schluss befreien. Der Handlungsraum dieses Aktteils beschränkt sich auf eine imaginäre Linie, deren Enden Anita und der Adler darstellen. Diese Linie ist immer im Zuge, sich zu expandieren (wenn Anita sich vom Adler entfernt) bzw. bis zum Punkt zu schrumpfen (wenn Anita und der Adler körperlichen Kontakt miteinander aufnehmen). Der restliche Raum, der die beiden umringt, scheint beim aufzubauenden Verhältnis zwischen Mensch und Vogel keine bestimmende Rolle zu spielen. Dazu trägt auch das Bühnenbild wesentlich bei, das dem einrahmenden Raum eine konkrete Gestalt oder Toposhaftigkeit abspricht.
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In diesem Un-Topos des Kommunikationsversuchs zwischen Mensch und Vogel fehlen ebenso jegliche Zeit-Koordinaten. Die Zeit des Geschehens gestaltet sich als eine rhythmische Periodizität von Handlungen und Pausen, konkreter von Bilder- bzw. Handlungspartikeln und Momenten der Stille bzw. Cuts. Jedes Handlungsbild erscheint als abermalige Wiederaufnahme oder leicht divergierende Wiederholung eines und desselben Handlungsmotivs, nämlich des Kontakts zwischen Anita und dem Adler: Das Geschehen präsentiert sich als eine Aufeinanderfolge von Momentaufnahmen oder Versionen einer einzigen Praxis. Die Differenzierung zwischen den Elementen dieser Aufeinanderfolge ist keine zeitliche, das heißt es handelt sich nicht um ein progressives Verfahren, sondern eine qualitative: Jedes Handlungssegment differiert vom anderen durch das innere individuelle Tempo – und damit ist zum einen die Intensität von Bewegungen und Äußerungen und zum anderen die Geschwindigkeit ihrer Ausführungen gemeint. Insgesamt wird der Eindruck vermittelt, als würden die Handlungstempi ein Crescendo, eine progressive Geschwindigkeits- und Spannungsintensivierung verfolgen, die wohl im allerletzten Segment der engen Umarmung der beiden auf dem Boden und der Erwürgung des Vogels gipfelt. „Verewigungsraum“ Die Aufführung endet, indem sie an ihren Anfang zurückkehrt: Als Schlussszene dient der Teil des I. (Text-)Akts nach der „Vernichtung“ des Fotografen, der vom I. Aufführungsakt ausgeschlossen war (197-9). Dieser inszenatorische Eingriff bringt die drei Aufführungsteile in einen (eher lockeren) Zusammenhang miteinander und signalisiert den Abschluss eines Kreislaufs. Somit bekommt die Aufführung oder besser die Story, welche die Aufführung erzählt, einige Anhaltspunkte, welche die Konnexion der Teile erlauben würden: Alle Personen sind jetzt wieder auf der Bühne; die alte Frau – F13 und Anitas Mutter – nähert sich der im vorderen Bühnenbereich niedergeknieten Anita, die wie aus einem Traum aufzuwachen scheint, und führt sie zu ihrem Platz in der Gruppenformation, während die Bühnenarbeiter den Zaun wieder abräumen und das restliche Personal sich langsam zur ersten Formation (diesmal jedoch eher provisorisch, auf Stühlen statt auf Stufenreihen, in der Bühnenmitte) aufstellt. Anita ist F6, die Tochter von F13 des I. Akts, und die Frau, welche die Gruppe jetzt zu Fotografieren hat, ist Delia, die unter den Leuten Johannes, den Lorenz des II. Akts, erkennt und eine Diskussion über ein früheres Kennenlernen mit ihm führt... Es wäre hier sinnvoller, statt sich auf die konkrete Gestaltung des Chronotopos dieses Aktteils zu beschränken, 25 einige Gedanken im Zu25 Siehe dazu S. 142-148. 167
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sammenhang mit dieser inszenatorischen Intervention und in Bezug auf die Strukturierung der gesamten Aufführungs-Raum-Zeit zu formulieren. Die Wahl des Regisseurs, die Aufführung auf diese Weise zu strukturieren, eröffnet spannende Möglichkeiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Storyteilen und den Personen, die diese Story geschaffen haben. Sie verursacht ein zeitliches (und logisches) Durcheinander, das zu einer Reihe von hypothetischen Szenarien führt oder führen kann: Akt II und III könnten Momente der Vergangenheit der fünfzehn Personen des I. Akts sein, die eher nebenbei und fragmentartig zitiert und in diesem Sinne vergegenwärtigt oder erinnert werden (siehe hierzu den Verweis auf den „Sommerball der Herzogin“, 195, oder die Unterredung zwischen F6 und F13, 192). Die fünfzehn Personen könnten ewig posieren und sich an die Vergangenheit erinnern, die Vergangenheit oder Augenblicke davon imaginieren, nachspielen oder selbst kreieren (siehe beispielsweise die Begegnung Anitas mit dem Adler, den Selbstmord Lorenz’ bzw. Johannes’). Ebenso gut könnten Akt II und III Imaginationen einer möglichen Zukunft darstellen, welche die (ewige) Gegenwart des Verewigungsversuchs willkürlich unterbrechen. Es hat selbstverständlich keinen Sinn, sich für eine Version der Teilverbindungen (die keine logische sein kann!) zu entscheiden; dies ist weder meine Intention noch die des Regisseurs, wage ich zu behaupten. Die Wahl dieses Aufführungsendes schafft die Konditionen der Existenz eines temporalen Rahmens, in den sich die Aufführungsteile einordnen ließen. Darüber hinaus und vor allem offeriert sie Wege zu einer pluralistischen Betrachtung der Zeit als Korrelationsfaktor zwischen Ereignissen, Räumen und Personen und stellt insofern eher (neue) Fragen, als dass sie Antworten liefert.
Schlußchor: Der abschließende Blick Die Aufführung, die Bondy inszeniert, weist eine bemerkenswert durchdachte Struktur auf, die sich auf verschiedene Achsen stützt und eine komplizierte oder polymorphe Verbindung zwischen ihren Bestandselementen, Sequenzen und Segmenten ermöglicht, wenn nicht sogar herausfordert. Es lassen sich drei zentrale, die Aufführungsstruktur tragende Achsen erkennen, die als Interventionen der Inszenierung zu betrachten und nicht auf textuelle Hinweise zurückzuführen sind: 1) die Einrahmung der Aufführung durch die Stellung eines Teils des I. Akts an ihr Ende, 2) die Besetzung diverser Rollen durch den gleichen Schauspieler und 3) die interne Aufführungsgliederung, die einem deutlich umrissenen Muster zu folgen scheint.
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Zunächst zur dritten Achse, nämlich zur Aufführungsgliederung, die sich auf die Details und die Einzelteile des Spiels bezieht: Dieses fängt mit einer Gruppenszene an, die von den fünfzehn Posierenden und dem Fotografen getragen wird. Es folgt die relativ kurze (und vom Regisseur gekürzte) Szene zwischen Lorenz und Delia (zwischen Protagonisten und Antagonisten), die als eine Art Einführung zur langen „Ball-Szene“, die wiederum eine Gruppenszene ist, funktioniert. Daraufhin folgt die ebenfalls lange „Kneipen-Szene“, die ebenfalls eine Gruppenszene ist und die diesmal durch die relativ kurze Protagonist-Antagonist-Szene zwischen Anita und dem Adler abgeschlossen wird. Die Aufführung endet mit einer Gruppenszene, die als eine Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Anfangsszene zu verstehen ist. Der Schwerpunkt der Aufführung, wie von diesen Mustern abzulesen ist, liegt deutlich bei den Gruppenszenen, welche nicht nur die Aufführungsdauer größtenteils für sich beanspruchen, sondern auch das Spiel und dessen Einzelteile entscheidend semantisieren. Dieses nämlich ist unter diesen Aspekten wesentlich als ein ChorSpiel 26 zu bezeichnen, wobei hier sowohl ein Spiel (des jeweiligen „Protagonisten“ oder Einzelgängers – in Person des Fotografen, Lorenz’ oder Anitas –, der Situationen...) mit dem Chor, als auch ein Spiels des Chors (mit dem „Protagonisten“, den Situationen...) gemeint ist. Dieser Chor, den die Aufführung eigentlich an die Stelle des wahren Protagonisten rückt, ist ein einzigartiger Chor: Vielmehr als Kommentator und Unterbrecher des Spiels, ist er der Initiator, ja sogar der eigentliche Handlungsträger; vielmehr als mit gemeinsamen Eigenschaften versehene Gruppenmitglieder, sind die Choreuten Individuen bzw. Typen 27 , aber dennoch in eine Gemeinschaft integriert und vereint, allein schon dadurch, dass sie als die eigentlichen Handlungsträger (i.e. als Gemeinschaft der Handelnden) ausgezeichnet werden. Hinzu kommt auch ein formales Mittel, nämlich die ständige Konfrontation mit einem Einzelgänger – der meistens auch Teil der Gruppe ist –, wodurch die Gemeinschaft nicht nur definiert, sondern zuallererst gestiftet wird. Welche Rolle der Chor auch annehmen mag – des Protagonisten im I. Akt, wo eigentlich der Fotograf die Rolle des Unterbrechers und Kommentators innehat; des Spieltreibers und -gestalters im II. Akt oder des Weiterführers und Fortsetzers des Spiels im III. Akt, bevor er wieder am Schluss zum Protagonisten wird –, seine
26 Im Gegensatz zu Die Fremdenführerin, die insgesamt auf eine ProtagonistAntagonist-Struktur aufbaut; bei Die Zeit und das Zimmer ist das Spiel sowohl chorisch (I. Akt) als auch als dialektischer Austausch zwischen Protagonisten und Antagonisten (II. Akt) strukturiert. 27 Siehe hierzu vor allem die „Ball-Szene“ und ausführlich oben. 169
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Präsenz ist grundlegend und entscheidend für die gesamte Aufführungsgestaltung und -entwicklung. In der Tat erweisen sich die Raum-Zeiten der Aufführung zuallererst als chorische Raum-Zeiten und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits ermöglicht und provoziert ihre Gestaltung die Formierung des Chors (Spiel der Raum-Zeit mit dem Chor), und andererseits werden sie durch die spezifische Formation und Transformation des Chors gestaltet und semantisiert (Spiel des Chors mit der Raum-Zeit). Ehe ich zur detaillierten Erörterung dieses Punkts komme, möchte ich hier eine letzte Bemerkung formulieren, die sich auf diese doppelte Beschaffenheit der Raum-Zeit, zugleich als „Produzent“ und als „Produkt“ des Chors zu fungieren, bezieht und die im Folgenden erläutert werden soll: Die Umgebungs- und Raum-Zeit der Handlung der Aufführung befinden sich hier in einem Kreis des ständigen gegenseitigen Bedingens und Bedienens, was deren permanente Formation und Transformation zur Folge hat: Anders als in Die Zeit und das Zimmer, in dem Umgebungs- und Raum-Zeit der Handlung an und für sich existierten und sich in ständiger Konkurrenz befanden, und anders als in Die Fremdenführerin, in dem die UmgebungsRaum-Zeit zum Objekt der Manipulation der Raum-Zeit der Handlung wurde, scheinen sich hier die beiden Raum-Zeit-Formen in einem permanenten Austausch- und Durchdringungsprozess zu befinden, der sie auf unterschiedliche Weisen aufeinander bezieht und entsprechend verschiedenartig gestaltet. Akt I/Akt III: die Foto-Szene Der „Chor der Posierenden“ stellt den eigentlichen Protagonisten dieser Handlungssequenz(en) dar, dem der Fotograf bzw. die Fotografin als Taktgeber und Spieldirigent gegenübergestellt wird. Diese posierende Gruppe befindet sich in einem Zustand des Werdens zum „Chor-Körper“ 28 , indem seine Mitglieder beispielsweise die gleichen Handlungen vollziehen, aber zugleich ihre „Individualität“ bewahren und hervorheben, wenn gewisse Aktionen beispielsweise durch Licht- und Musikeinsatz aus dem Kontext herausgerissen werden. Dieser Schwellenzustand des Chors, der eine jederzeit gefährdete Balance zwischen Gruppe und Individuum, Körper und Körpern verursacht und aufrechterhält, spiegelt sich in der Raum-Zeit dieser Sequenz(en) wider, die ebenfalls ein Gleich28 Vgl. hierzu Haß, Ulrike: „Im Körper des Chores“, in: Transformationen..., S. 74: Der Gemeinschafts- bzw. Chor-Körper „[besteht] nicht aus vielen einzelnen [...], sondern [ihm] [liegt] ein gemeinsamer, unter der Haut mit den anderen geteilter Körper zugrunde [...]. Dem unter der Haut mit anderen geteilten Körper ist eigentümlich, daß er immer wieder von neuem geteilt werden muß.“ Siehe auch weiter im Text. 170
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gewicht auf der Kippe, das stets zu zerfallen droht, aufzuweisen vermag. 29 Die Spannung entsteht und wird getragen von der steten Konfrontation zwischen umgebender Raum-Zeit, die aus der strengen Gruppenformation in ihrem dauernden Bezug auf den Fotografen besteht, und Raum-Zeit der Handlung, welche in ihrer endlosen Fragmentierung und Segmentierung individualisierend und zerstreuend wirkt. Will man die brodelnde Kraft dieser geschlossenen Formation, die mit solcher Vehemenz ihre (räumlichen) Grenzen demonstriert und verwahrt, konkretisieren, so würde ich sie als Eigenschaft der Handlungszeitlichkeiten – der diversen Rhythmen, Tempi, Zeitlichkeiten – ansehen, die hier tatsächlich den einzigen Fluchtweg zur Grenzüberschreitung darstellen. Die Gefährdung der Identität des Chors, seines Fungierens als „Chor-Körper“, ist hier in der Tat auf die Absenz der Rhythmenresonanz zurückzuführen; was die Strenge der umgebenden Raum-Zeit und der Chor(e)ographie bewirken, droht ständig durch die anschwellende Entfesselung der Rhythmen zu zerfallen. 30 Der darauf folgende Akt, konkreter die „Ball-Szene“ kann in diesem Sinne als die hier angedeutete Explosion und Entfesselung der Rhythmen verstanden werden. Ehe ich zur Erläuterung dieser Situation übergehe, hier nur eine letzte Bemerkung bezüglich der letzten Aufführungsszene, die dem Zeitlichen eine analoge Funktion, nämlich eine Entgrenzungstendenz zuzuschreiben vermag: Die Aufführung endet mit einem Lichtfade-out und einer Klangkulisse, die wahl- und zusammenhanglos Wortfragmente der ersten Szene wiederholt. Der durch die Rückkehr zur strengen Geometrie der Ausgangssituation herbeigesehnte Stillstand, der Räume und Zeiten zu zügeln und zu kontrollieren hätte, stellt sich auch am Ende als unerreichbar heraus. Akt II: die Ball-Szene Die Situation dieser Szene hat sich insofern grundlegend verändert, als das Bühnenbild hier zum entscheidenden Faktor der Raum-Zeit-Gestaltung avanciert ist. Es bietet vorgefertigte Spieltopoi, die eine Parzellierung des Handlungsfelds verursachen und eine bestimmte Platzierung 29 Vgl. auch ebd., S. 75: „Der Chor kämpft nicht gegen das protagonistische Prinzip, sondern gegen seinen eigenen Zerfall.“ 30 Vgl. hierzu ebd., S. 78: „Der Chor-Körper führt sich nicht auf, sondern sucht einen bestimmten körperlichen Kontakt mit dem Rhythmus. Dieser Vorgang spielt sich unterhalb der Ebene der körperlichen Erscheinung ab und auch nicht in einem ganzen Körper. Entsprechend bietet sich der Chor dem Blick nicht als Bild dar wie ein ganzer Körper, sondern erscheint fragmentarisch und sedimentiert.“ 171
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des Personals vorahnen lassen. Der umgebenden Raum-Zeit wird entsprechend durch das Bühnenbild ein stets manifestes, souveränes Daund Sosein verliehen, das ferner noch in die Handlung eingreift, indem es eine bestimmte Spielaufteilung vorzuschreiben scheint. Die Gruppe der Agierenden dieser Szene lässt sich insofern als Chor bezeichnen, als ihre Mitglieder zu der Gemeinschaft der eingeladenen Gäste des Balls gehören. Lorenz, dem hier die Rolle des „Protagonisten“ oder Einzelgängers zuzuschreiben wäre, ist selbst Mitglied dieser Gruppe, und dies bedeutet einerseits, dass seine Aktivität im Kontext der Chortätigkeit betrachtet und gedeutet werden soll, und andererseits wiederum, dass auch hier der Chor, dem der „Protagonist“ ja angehört, als der eigentliche Handlungsträger agiert. Und es sind wieder die Mitglieder dieses Chors, welche die RaumZeit der Szene durch Aktion und Handlung entscheidend gestalten und mit Bedeutung belegen. Lorenz und seine Mitspieler, in ihrer körperlichen Äußerung, ihrer Bewegungscharakteristik, ihrer Typik und Rhythmik, ja ihrer spezifischen Präsenz produzieren erst die Raum-Zeit dieser Szene, indem sie sie als das erscheinen lassen, was sie ist, nämlich als Vor-Ort bzw. als Vor-Zeit eines anschwellenden Ereignisses (der Begegnung zwischen Lorenz und Delia). Es ist in der Tat die Tätigkeit des Chors, welche diese Raum-Zeit unendlich zu vervielfältigen scheint, indem sie unzählige partielle, unterschiedliche Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten generiert. Das Personal nutzt die raumzeitliche Vorlage (die umgebende Raum-Zeit), um daraus ein Raum-Zeit-Puzzle zu machen, das sich niemals zu vervollständigen vermag. Indem es diese scheinbar unzähligen und unendlichen RaumZeiten schafft, kreiert es einen immer größer werdenden Abstand zum „eigentlichen Ereignis“, das ja stets bevorsteht, sich jedoch stets hinauszögert und letzten Endes als solches nie eintritt. Die Raum-Zeit der Handlung, die sich hier vorwiegend als eine Polymorphie von Rhythmen äußert, kollaboriert gewissermaßen mit der offerierten raumzeitlichen Vorlage, um die Raum-Zeit der Szene in einer zentrifugalen Bewegung (und das heißt in sich ständig generierender Distanz zu Lorenz und zum dominierenden Spiegel) als ein nicht enden wollendes Puzzle von Räumen und Zeiten zu gestalten. Erst durch diesen Eindruck der End- und Grenzenlosigkeit wird diese Raum-Zeit zu dem durch das Bühnenbild suggerierten Schwellen-Topos, der allerdings derart gestaltet eigentlich kein Entkommen zu kennen scheint. Akt III: die Kneipen-Szene Die umgebende Raum-Zeit dieser Szene weist Ähnlichkeiten mit jener der Szene zuvor auf, aber auch gewisse markante Unterschiede: So han-
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delt es sich wieder um eine mehr oder weniger parzellierte, Handlungen und Positionen vorschreibende Raum-Zeit, die aber hier ganz auf ein Zentrum verzichtet. Auch die Spielfläche, welche in der vorigen Szene durch das imposante Bühnenbild eher eingeschränkt war, ist hier eine offenere und breitere und relativiert entsprechend die Abschottung der partiellen Handlungsräume. Diese Raum-Zeit scheint zwischen Offenheit und Geschlossenheit zu schwanken, indem sie die Grenzen der partiellen Topoi eher suggeriert als deutlich setzt, und darüber hinaus kein Zentrum favorisiert. Diese ihre Gestaltung gewährt dem Personal eine im Vergleich zu den vorangegangenen Szenen weiter gehende Freiheit, die Raum-Zeit der Szene auf entscheidende Weise zu formen und zu semantisieren. Die Agierenden der Szene können insofern als ein Chor bezeichnet werden, als sie sich im Augenblick eines historischen Ereignisses (nämlich des Falls der Berliner Mauer) zu gleicher Zeit am selben Ort befinden. Sie bilden sozusagen die Gemeinschaft der Zeugen eines Ereignisses, mit dem sie allerdings größtenteils sehr unterschiedlich umgehen und entsprechend wiederum eine individuelle Haltung bekunden und bewahren. Der Chor folgt hier in seinen raumzeitlichen Äußerungen der Unschärfe der umgebenden Raum-Zeit, indem er (sowohl in ihrer Dauer als auch in ihrer Wirkung eingeschränkte) Grenzüberschreitungen aller Art der mehr oder minder festgesetzten Platzierungen vornimmt und die Etablierung eines Zentrums seiner Aktivität, auch in Form einer zentralen Präsenz, nicht toleriert, ja sogar permanent verhindert. Anita, die aus diesem Chor herausragende Einzelgängerin, verbleibt hier eher am Rande der Aktivität, meistens als eine externe Beobachterin, deren Eingriffe und Initiativen kaum in der Lage sind, ihr eine zusammenhangstiftende Präsenz zu gewährleisten. So verbleibt die Raum-Zeit dieser Szene ein mit mehreren Zentren versehenes Mosaik von Räumen und Zeiten, das sich stets an der Schwelle einer niemals zu erreichenden Aufhebung der Fragmentierung und Homogenisierung – im Sinne eines kohärenten Gemeinschafts- oder Kommunionstopos – befindet. Unter den eben erörterten Aspekten ist die Raum-Zeit der Aufführung in ihrem zweifachen Bezug auf den Chor zu deuten und zu definieren, nämlich zugleich als ein Spiel der Raum-Zeit mit dem Chor, sofern sie ein jeweils bestimmtes Spielfeld eröffnet und dadurch erst das Spiel ermöglicht, und als ein Spiel des Chors mit der Raum-Zeit, sofern der Chor sie konkret gestaltet und dadurch erst semantisiert: Von der minimalen Intervention der umgebenden Raum-Zeit der Foto-Szene, die aber durch die Haltung und Handlung des Chors umso solider erscheint, wird zu der umgekehrten Situation der Ball-Szene übergegangen, wo das strenge,
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vorschreibende, segmentierende Diktat der umgebenden Raum-Zeit durch Aktion und Interaktion des Chors relativiert wird; 31 die relative Offen- und Freiheit, welche die umgebende Raum-Zeit der KneipenSzene bietet, die geradezu zu Grenzüberschreitungen einlädt, scheint dann umgekehrt Grenzen gesetzt zu bekommen und zwar diesmal durch die unüberwindbar fragmentierte und fragmentierende Aktivität des Chors. Durch das Zusammenspiel von umgebender Raum-Zeit und Raum-Zeit der Handlung verbleibt die Raum-Zeit der Aufführung, wie übrigens auch der Chor der Handelnden, stets an der Schwelle des Erlangens einer Identität – im Sinne einer wie auch immer gearteten, allerdings sinnvollen Verknüpfung ihrer Teile. 32 In diesem Zusammenhang ist die Schlussszene der Aufführung als der letzte und verzweifelte Versuch des Chors zu lesen, gemeinsame Raum-Zeit und damit eine Gemeinschaft zu stiften. Dieser Versuch beginnt (und endet) mit der äußeren Grenzziehung, welche Raum und Zeit der Gemeinschaft abgrenzen und damit sichern soll; diese äußere Rahmung, welche zugleich Stabilität (indem sie streng einzuhalten ist) und Labilität (indem sie auf den Willen des Chors angewiesen ist) bezeugt, verbleibt als das einzige und recht trügerische Zeugnis der Gemeinschaft, vor allem wenn man bedenkt, dass die „Katastrophe“ bzw. die Dekonstruktion der Gemeinschaft auf diese Weise angefangen hat. Die binäre Relation zwischen umgebender Raum-Zeit und (chorischer) Raum-Zeit der Handlung, welche Chor-Aktion und Raum-Zeit-Gestaltung als einander bedingende Notwendigkeiten erscheinen lässt, spezifiziert und konkretisiert die Inszenierung durch die Wahl, die Aufführung auf zwei Weisen einzurahmen: a) Der (Chor-)Körper: Aus den drei Chören des Stücks macht die Inszenierung einen einzigen Chor, dessen Mitglieder jeweils unterschiedliche Rollen annehmen bzw. verschiedene dramatis personae verkörpern. Es sind also immer die gleichen Akteure, die trotz ihrer jeweils versteckten oder bis zur Unkenntlichkeit verstellten Identität durch ihre spezifische 31 Indem Raum-Zeit und Handlung der Szene in ständigem Bezug auf ein Zentrum (Lorenz’ Präsenz) und damit auf einen gemeinsamen Topos inszeniert sind. 32 Unter diesem Aspekt lassen sich dann auch die Räume, welche das Bühnenbild abbilden soll, nämlich das angebliche Studio des Fotografen, das Vestibül und die Kneipe, als Schwellenräume verstehen: Nicht weil sie als solche als Passagen fungieren und nur vorübergehend gemeinschafts- und identitätsstiftend wirken können, sondern eher weil sie derart inszeniert, semantisiert und präsentiert werden. 174
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Körperlichkeit – und sei es nur durch eine minimale Äußerung in Form einer Geste, eines Lautes, eines Blicks – stets mehr oder weniger mühsam erkennbar sind. Die Aufführung präsentiert insoweit eine prozessuale Segmentierung eines Chor-Körpers, die sich vorerst räumlich und zeitlich niederschlägt: Die Segmentierung erfolgt, weil die derart gestalteten Räume und Zeiten zu dieser einladen; umgekehrt allerdings erscheinen die segmentierten Räume und Zeiten der Aufführung die unumgehbare Konsequenz der Unfähigkeit des Chors zu sein, der Fragmentierung entgegenzuarbeiten und zu einem Körper zu werden. Der (Chor-)Körper verbleibt insofern ein äußerst sonderbarer „Rahmen“, als die Inszenierung permanent seine Identität und damit seine Stabilität und RahmenFunktion in Frage stellt; in diesem Sinne würde ich anstatt von einem Rahmen, der eine äußere Umschließung suggeriert, eher von einem inneren Gerüst sprechen, das zugleich verbindet und fragmentiert und damit Identitäten (auch raumzeitliche) gleichzeitig her- und in Frage stellt. b) Die Zeit: Durch die Wiederkehr zur Ausgangssituation präsentiert die Inszenierung die Aufführung als einen zyklischen Gang, dessen Anfang und Ende nicht mehr auseinanderzuhalten sind und entsprechend diffus und fragwürdig erscheinen. Diese inszenatorische Wahl, die umgebende Zeit unmissverständlich als einen Rahmen-Zyklus zu gestalten, der peu à peu und nur a posteriori in seinem vollem Umfang und seiner Bedeutung wahrnehmbar wird, postuliert meines Erachtens die Zeit als den Horizont, von dem her die gesamte Aufführung verstanden und gedeutet werden kann. Denn die Zeit wird zu einer zugrunde liegenden Matrix erklärt, welche alle Segmente konturiert und miteinander – in welcher Art und Weise auch immer – verknüpft. Die Gestaltung der Aufführungszeit weist markante Analogien und Parallelen zur Inszenierung des (Chor-)Körpers auf, indem sie ebenfalls zwischen Souveränität, Stabilität und Identität einerseits und Fragmentierung und damit Labilität und Identitätsverlust andererseits oszilliert; letztere Eigenschaften verdankt sie den partiellen (personellen, situativen) Zeitlichkeiten und Rhythmen, welche, wie wir gesehen haben, die primäre Ursache jeglicher Dispersität und Disparität darstellen. Im Folgenden sollen zunächst die Gestaltungsstrategien der Zeit – als Deutungshorizont der Inszenierung, aber auch als zentrale Thematik des Stücks 33 verstanden – in Text und Aufführung verglichen und hinsichtlich der Möglichkeit einer Auslegung im Kontext der Absenz-PräsenzDialektik untersucht werden.
33 Hierzu siehe die Überlegungen weiter unten. 175
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Präsens und Präsensschwund Der Begriff der Zeit erhält im straußschen Stück eine Vielfalt von Gestalten und Übersetzungen, in jedem Fall allerdings stellt er eine der zentralen Thematiken des Stücks dar. Modi der Zeiterfahrung und des Umgangs mit Zeit, Zeitmanagement und -kontrolle sind einige der Formen der Zeitreflexion im Stück, welche sich im Verlauf durch verschiedene Artikulationen und Formulierungen äußern. Diese Zeitreflexion in ihren diversen Formen und Artikulationen ist in ein generelles Schema eingebettet, welches durch das grundlegende (Zeit-)Konzept des Dramas konditioniert wird: Der zugrunde liegende Terminus, mit dem das Stück operiert und durch den die gesamte Zeitreflexion filtriert wird, ist der Terminus der Geschichte. Im Grunde und offenbar sehr synoptisch formuliert handelt das Stück von Geschichten vor dem Hintergrund der Geschichte: Das historische und epochale Ereignis der deutschen Wiedervereinigung stellt die von der Theorie so genannte dramatische Zeit 34 aller drei Akte dar. 35 Dieses Ereignis – und in diesem Sinne Geschichte – stellt allerdings im Stück eher eine Art Hintergrund der Handlung dar und dementsprechend den Kontext bzw. teilweise den Anlass dafür, dass Geschichten und Geschichtlichkeiten aufleben. Es sind in Wirklichkeit Biographiefragmente, persönliche Geschichten oder Fetzen von persönlichen Geschichtlichkeiten, welche die Story des Stücks ausmachen und die nur gelegentlich oder nur indirekt auf den Kontext bezogen werden. Auf den ersten, spontanen Blick scheint die Relation zwischen Geschichtshintergrund und Geschichtlichkeitenvordergrund kaum mehr als eine nominelle zu sein, sofern es sich hier wie dort um Geschichte(n) handelt. Gabriele Brandstetter, in einem anderen Kontext argumentierend, 36 hat eine These bezüglich einer Definition der Relation zwischen Geschichte („history“) und Geschichten („stories“) aufgestellt, die auch in unserem Kontext weiterzuverfolgen wäre. Die Autorin konstatiert (in der 34 Siehe hierzu etwa: Pavis, Patrice: Dictionnaire du Théâtre, „Temps“, Paris: Armand Colin 1996, S. 349ff. 35 Nicht nur im III. Akt ist die dramatische Zeit unmissverständlich zu ermitteln, sondern auch in den beiden Akten zuvor und zwar durch die Anweisungen, die dem Haupttext zu entnehmen sind: siehe hierzu beispielsweise S. 192 (Akt I): F13: „Kurz nach dem Krieg war’s. Und der Krieg ist fünfzig Jahre her.“ Auch S. 215 (Akt II): „Aus dem Saal Gesellschaftsgeräusche und die Stimme eines Mannes: ‚Also mich reißt es jedes Mal vom Sessel, wenn ich höre, was euch dies neue Deutschland kosten soll!’“ 36 Brandstetter, Gabriele: „Geschichte(n) Erzählen im Performance/Theater der neunziger Jahre“, in: Transformationen..., S. 27-42. 176
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zeitgenössischen Kunst) ein „fragiles Verhältnis“ zwischen „story und history“ 37 , das dadurch entsteht, dass Geschichte nicht mehr als „geschlossenes Narrativ“ bzw. „totalisierendes System“ 38 (re)präsentierbar, sondern nur noch in „stories“, „Anekdoten“ 39 , „Narrationen [...], kleine[n], unvollständige[n], kontingente[n] Geschichten“, die durchaus Biographisches enthalten können, 40 situierbar ist. Die „stories“, als Anekdoten, als Geschichten und als Narrationen zugleich innerhalb und außerhalb der Geschichte (des Narrativs) verstanden, existieren, um einerseits die Ordnung der „history“ zu unterbrechen, 41 aber zugleich auch um letztere – auf spezifische Art und Weise – zuallererst wahrnehmbar zu machen. In den Überlegungen Brandstetters spielt die Anekdote in ihrer zweifachen Eigenschaft, sowohl als „history“ als auch als „story“ zu fungieren, insofern eine wichtige Rolle, als sie eine Bruchstelle, einen Einschnitt, eine Öffnung „in die teleologische und daher zeitlose Erzählung von Anfang, Mitte und Ende“ darstellt und dadurch „das ‚Zeitliche der Zeit‘ [...] in die ‚Geschichte‘ [...] (ein)trägt“ 42 , aber zugleich an diesem „rahmenden Kontext[] der historischen Abfolge“ 43 teilhat und meines Erachtens letzteren entsprechend konfiguriert und transformiert: „History“ ist nicht mehr dieselbe nach der Invasion und Intervention der „stories“; die „stories“ sind nicht mehr dieselben im Licht der „history“. Das Resultat, das auch in unserem Zusammenhang von Belang ist, ist eine Infragestellung und Instabilität des Status sowohl der Geschichte als auch der Geschichten, deren nicht mehr zu analysierende Verflechtung und Verschränkung sich letzten Endes auf die Ontologie der beiden auswirkt. Das Stück scheint die Begriffe der „history“ und „story“ im hier erläuterten Sinne zu instrumentalisieren und in eine bestimmte Beziehung zueinander zu bringen, welche mit den Termini der Diskrepanz, Distanz und Ironie zu umschreiben wäre. Der „grand récit“ 44 , der dem Stück größtenteils als Suggestion zugrunde gelegt ist, bezieht sich auf ein epochales Ereignis deutscher Geschichte, das insofern als exzeptionelles, das Ganze der Geschichte zu enthaltendes Momentum zu rezipieren ist. Andererseits bilden das eigentliche Thema des Stücks die einzelnen „stories“, die insofern als anekdotenhaft angelegt sind, als sie die „Realität“ hinter, vor oder in der Geschichte ans Licht bringen sollen. Nun ist diese 37 38 39 40 41 42 43 44
Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 30. Vgl. hierzu ebd., S. 34ff. Vgl. ebd., S. 31. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. 177
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„Realität“, die das Stück zeigt, die Realität des „kleinen Mannes“ bzw. der „kleinen Frau“, der/die nicht nur durch puren Zufall „dabei ist“ (224), sondern vielmehr diesen Zufall gar nicht zu überschreiten, und so eventuell seine/ihre „Realität“ als Teil der Geschichte zu konzipieren in der Lage ist. Die „stories“ stellen sich als aus jeglichem Zusammenhang herausgerissene Fragmente dar, die in ihrer Fragmentiertheit eine extreme Abschottung und Geschlossenheit aufweisen, welche eine Kontextualisierung (in Geschichte, Gegenwart, Kollektiv...) unmöglich machen. „History“ und „stories“ klaffen zwangsläufig auseinander, obwohl das Stück die Existenz der einen von den anderen – und umgekehrt – abhängig macht. Es entsteht eine Diskrepanz und eine Distanz, die „history“ und „stories“ als Glieder einer Relation entstellt und deformiert. Mehr noch: Durch diese Fokussierung von Diskrepanz und Distanz bewirkt das Stück eine Ironisierung der Möglichkeit des Aufeinander-bezogen-Seins zwischen Geschichte und Geschichten, indem es sie insgesamt als fragwürdig, wenn nicht als absurd und grotesk erscheinen lässt. 45 Das Angewiesensein der Geschichte auf die (anekdotenhaften) Geschichten ist im Stück ihre einzige Artikulationsmöglichkeit aber zugleich der Weg zu ihrer Entstellung, Verdunkelung, wenn nicht sogar zu ihrem Verschwinden. 46
45 Die Obsessionen Lorenz’ oder Anitas beispielsweise erscheinen vor dem Hintergrund des historischen Ereignisses aber auch in der je konkreten Situation, in der sie zu handeln haben – der Ball, die Begegnung in der Kneipe –, absolut unintegrierbar und rahmensprengend und entsprechend der Situation gegenüber sich ironisch verhaltend; andererseits scheint der historische Moment – der auch durch den „Deutschland-Ruf“ immer wieder vergegenwärtigt wird – lediglich in der Lage zu sein, eben diese deliriumsartigen Obsessionen hervorzurufen und aufleben zu lassen, was wiederum auf eine ironisierende Geste diesmal des Rahmens hinzuweisen vermag. 46 In diesem Sinne konstatiert meines Erachtens die Bemerkung Peter von Beckers: „Diese Adler-Phantasien, diese Beschwörungen einer deutschen Chimäre rühren an kein kollektives Unterbewusstsein – das alles bleibt ein Kunstkonstrukt, weil Botho Strauß keinen über- oder außertheatralischen, keinen wirklich zeitgeschichtlichen Hinter- und Untergrund geschaffen hat für dieses Schlussbild. So zeigt das Hochgewagte bloß eine private Exaltation, weil das Stück auch in den Bruchstücken zuvor über das Privat-Versponnene seiner Figuren nicht hinausreicht“ („Trilogie des Versehens“, in: Spektaculum 55, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 292) nicht etwa eine Schwäche oder ein Defizit des Stücks, sondern bestätigt eher seine hier angesprochene Intention, vielmehr die beständige Unmöglichkeit der Korrelation zwischen Geschichte und Geschichten in den Vordergrund zu rücken. 178
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Damit ist die erste Ebene der Absenz angesprochen, die ich prinzipielle/primäre oder einrahmende Absenz nennen möchte, auf der das Stück aufbaut. Die Distanz und Diskrepanz zwischen historischem Momentum (auch im Sinne des umgebenden Zeitrahmens verstanden) und einzelnen Biographie- oder Geschichtlichkeitsfragmenten (als partielle Zeitlichkeiten zu verstehen) erzeugen eine Situation, in der die Herstellung eines Zusammenhangs immer unmöglicher und absurder erscheint und entsprechend die zu korrelierenden Glieder ihren Status als solche eher durch Negation oder Absenz einer Relation zu definieren vermögen. Die Relation demonstriert sich stets als Kontradiktion und damit als Unmöglichkeit, welche Zeit(rahmen) und Zeitlichkeiten durch negative Korrelation letzten Endes als absent füreinander herausstellt. Die zweite Ebene der Absenz oder sekundäre Absenz bezieht sich konkreter auf die einzelnen Zeitlichkeiten und deren Relationen untereinander. Das Stück verwendet hier zwei Methoden, um zu einer Suspension der präsenten Zeit bzw. der Zeit als Präsens zu gelangen: a) Die spezifische Artikulation der Zeitlichkeit: Hier ist vor allem die oben angesprochene und sich deutlich manifestierende Bruchstückhaftigkeit und Abschottung der einzelnen Zeitlichkeiten gemeint. Das Stück ist geradezu darauf angelegt, jeglichen Kommunikationsversuch zu zerstören, als nichtig erscheinen zu lassen und vielmehr die Unmöglichkeit einer Resonanz (mit dem anderen, mit der jeweiligen, einrahmenden Situation) in den Vordergrund zu rücken. Nirgends im Stück lassen sich diese extrem abgeschotteten Biographiefetzen als präsent wahrnehmen oder etablieren, weder intern – in ihrer Beziehung zu den anderen –, noch extern – in ihrer Beziehung zur Situation: Die Foto-Szene stellt eine Orgie von individuellen Erinnerungen und Zukunftsvisionen dar und gipfelt im Verschwindenlassen des Fotografen, der einzig und allein das Jetzt (und Hier) der Situation zu sichern in der Lage wäre. Die Ball-Szene findet am Rande des Ereignisses statt, vor oder nach dem eigentlichen Hier und Jetzt (des Festes); entsprechend bilden hier die Zeitlichkeiten An- und Nachklänge des abwesenden Hier und Jetzt. Die Kneipen-Szene schließlich, in der gelegentlich (bzw. ironisch) von der Möglichkeit eines Erlebnisses des Hier und Jetzt noch gesprochen wird, 47 wird regelrecht überhäuft mit Erinnerungs- und Erzählfragmenten persönlicher Vergangenheit: Sogar das „Blouson-Paar“, das eben aus der DDR eintrifft und obwohl es aufgefordert wird, von dem, „was in ihnen wirklich hier und jetzt vorgeht“ (vgl. 225), zu berichten, sieht es als angemessen an, von dem zu 47 Vgl. beispielsweise S. 224: DER RUFER: Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich, Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind w i r dabei gewesen. [...] 179
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sprechen, was es war (225). Die Gegenwart (der Personen, der Situationen) verschwindet hier hinter Vergangenem und Künftigem (besonders im I. und III. Akt) oder stellt sich als ein Oszillieren zwischen „noch nicht“ und „nicht mehr“ dar (besonders im II. Akt). Das Jetzt als der kleinste Beweis einer Gegenwart-Präsenz wird gerade in seiner Absenz sichtbar, als Schnittpunkt anderer Zeiten, die den Ort ihrer Zusammenkunft verschwinden lassen. b) Die Unzeit des (Augen-)Blicks 48 : Die Zeit, die das Stück den einzelnen Zeitlichkeiten gewährt, ist deutlich der ins Äußerste geschrumpfte Augenblick. Biographiefetzen und Kommunikationsfragmente sind in ihrer Abschottung und Zusammenhanglosigkeit auf ein momentanes Dasein angewiesen, das insofern bis ins Äußerste geschrumpft ist, als es sich in einem unüberschaubaren Haufen unzähliger Existenzen (Zeitlichkeiten) zu platzieren und zu behaupten sucht. Die spezifische Strukturierung dieser Momente, die auf ein fast atem- weil fast pausenloses Aufund Hintereinander hindeutet, intendiert eher das Verwischen und Verschwinden der Gegenwärtigkeit und stattdessen die Auszeichnung der (präsenten) Zeit als Übergangs- und Schwellen-Jetzt, was Gegenwart stets als ein „Zwischen“ aber eben nicht mehr als Jetzt konzipieren lässt. Interessant und bedeutungsvoll erscheint in diesem Zusammenhang das Leitmotiv der Reflexion des Augen-Blicks in seiner doppelten Deutung sowohl als (erfüllter) Moment als auch als Akt des Sehens und seiner Instrumentalisierung als Ur-Sache jeglicher Situation. 49 Das Entscheidende dabei, das auch in unserem Kontext von Relevanz ist, ist das „Eintreffen“ des Augen-Blicks stets zu unpassender Zeit bzw. die nachträgliche, stets verspätete Perzeption und Rezeption des Augenblicks (durch das Personal). Der Augen-Blick wird von dieser Menschenschar niemals als Jetzt, in seiner Gegenwärtigkeit und Präsenz, sondern immer durch seine
48 Vgl. hierzu Strauß zit. nach Grieshop, Herbert: Rhetorik des Augenblicks. Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke und Botho Strauß, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 196: „Es handelt sich in allen drei Teilen vom Auge und vom Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht ‚sehen‘ kann.“ 49 Die Foto-Szene basiert auf der eifrigen Suche der Gruppe nach dem „richtigen Augenblick“, der später auf einer Fotografie sehenswert wäre; Lorenz’ und Delias eigentliches Gesprächsthema ist der Blick Lorenz’ auf die nackte Delia, der zum unpassenden Augenblick erfolgt ist; Lorenz probt den Blick vor dem Spiegel, der im Augenblick der Begegnung mit Delia am angemessensten wäre; und Anita verpasst endgültig den Augenblick einer fruchtbaren Begegnung mit dem Adler, weil sie den Liebesblick des Vogels nicht rechtzeitig erkannt oder missinterpretiert hat. 180
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schmerzhafte Absenz wahrgenommen, was sie in einer endlosen und immer wieder scheiternden Suche nach der verlorenen Zeit verwickelt und verstrickt. Damit ist aber auch die letzte Chance der Sicherung einer Präsenz – sei es durch die Wahrnehmung der Ereignishaftigkeit des JetztMoments, sei es durch den aktiven und erkennenden Blick des Anderen – endgültig verspielt und für nichtig erklärt. Das Stück scheint hier in der Tat insofern einen archäologischen Blick auf die Zeit 50 zu provozieren, als sich seine „Gegenwart“ als Schichtung vergangener (und eventuell auch künftiger) Zeiten darstellt. Diese konsequente Überlagerung und Verhüllung des Präsens macht sich als Absenz von Gegenwart manifest, welche durch Erinnerungen, Träume, Visionen, Geschichte(n) etc. kompensiert werden soll. 51 Letztere sind aber dann kaum als Vergegenwärtigungen und Präsenz(en) zu konzipieren, 52 sondern beharren vielmehr auf ihrer je eigenen (vergangenen oder künftigen) Zeitlichkeit, eher die Distanz und Diskrepanz diesmal 50 Vgl. Damm. 51 Vgl. hierzu meine Lektüre des Begriffs des „prägnanten Augenblicks“ Lessings, insbes. S. 53-54; das gesamte Theaterstück könnte als eine vergebliche, erfolglose Suche nach dem „prägnanten Augenblick“, der in der Lage wäre, die Fragmente und Momente der Existenzen bzw. Geschichten zu einer Geschichte zu vereinen, gelesen werden. 52 Vgl. hierzu Greiner, der das Stück als ein in drei Richtungen verlaufendes Spiel versteht (I. Akt: Gleichnis-Spiel, II. Akt: mythologisches Spiel, III. Akt: allegorisches Spiel), welches das „Unableitbare absoluter Gegenwart“ (S. 255) unterschiedlich bearbeitet und reflektiert; darin wird das Jetzt als „dem unstrukturierten Totalen mythischer Wirklichkeit aus[ge]setzt“ (S. 262) bzw. als die „an die mythische Dimension von Geschichte“ (S. 256) angebundene Emergenz angesehen; kurzum als der Topos des Auflebens – im Sinne des Erlangens einer neuen Gegenwärtigkeit – von Vergangenem. Präzisiert wird diese These von Damm, der diese Emergenz als „das scheinbar Neue“ (S. 88) bezeichnet, das „immer schon das sattsam Bekannte, das Dauerhafte und Beständige in modifizierter Gestalt sei“ (ebd.) (hierzu vgl. auch Grieshop, S. 231); anstatt wie Greiner von „absoluter Gegenwart“ zu sprechen, verweist Damm eher auf die straußsche Betonung des „Prinzip[s] der Gleichzeitigkeit, der dauerhaften Anwesenheit des Vergangenen“ (S. 89), das sich allerdings meines Erachtens nicht grundsätzlich von Greiners Konzept unterscheidet: Das Entscheidende ist nämlich bei beiden die konstatierte Absenz von Gegenwart, die nun mehr Supplemente, Versatzstücke, Ergänzungen nötig hat, um in ihrer Negation wahrgenommen zu werden. Und diese Supplemente „entstehen“ hier eben nicht „zur Präsenz“ (Nancy), weil das Stück nicht die Annäherung, sondern vielmehr die Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zu Supplementierendes und Supplement hervorzuheben sucht (siehe auch im Text). 181
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zwischen den Zeiten des Stücks und einer Gegenwart, die stets negativ zu deduzieren und als absent zu konstatieren ist, verdeutlichend und betonend. Diese doppelte Absenz des Stücks – als Ironisierung und Relativierung des Zusammenhangs zwischen Geschichte und Geschichten einerseits und als Unmöglichkeit des Augen-Blicks andererseits – übersetzt die Aufführung – so die These – in Präsenz und zwar zuallererst dadurch, dass sie die oben angesprochenen Rahmen, den Körper- und Zeitrahmen, setzt und funktionalisiert. Durch die Setzung der beiden Rahmen erzielt die Aufführung zunächst die Aufhebung der Differenz zwischen Hinter- und Vordergrund. Matrix und Partikeln – Körper-/Zeitrahmen und partielle Zeitlichkeiten 53 – verschmelzen hier miteinander und sind sozusagen aus dem gleichen Stoff, sofern der Zeit-Zyklus die Dauer darstellt, die ein Körper benötigt, um sich als Zeitlichkeit zu äußern; der Körper, der sich äußert, ist Teil des Körperrahmens und die Zeitlichkeit, sein Äußerungsmodus, Teil des Zeit-Zyklus. „Hinter-“ und „Vordergrund“, hier offensichtlich nicht mit denen im Text identifizierbar, werden in ein Verhältnis gesetzt, welche die beiden nicht mehr gegeneinander ausspielt, sondern vielmehr Verknüpfungen und Zusammenhänge favorisiert und herstellt. Zeit und Zeitlichkeiten bilden hier die einrahmenden Grenzen des Spiels und zugleich seinen Inhalt und rücken dadurch vielmehr ihre gegenseitige Abhängigkeit in den Vordergrund. Die explizite und konsequent eingesetzte Rahmenstrategie der Inszenierung dient auch als Instrument zur Übersetzung der textuellen thematischen Achse Geschichte/Geschichten in die Achse Zeit/Zeitlichkeiten, welche der Aufführung zugrunde gelegt ist. Darüber hinaus und indem die Inszenierung die existentielle Bezogenheit der Zeit auf die Zeitlichkeiten und umgekehrt deklariert, 54 verschiebt sie deutlich den Akzent und den Fokus von einer Absenz, i.e. die Unmöglichkeit einer Korrelation zwischen Geschichte und Geschichten, auf eine Präsenz, i.e. auf die Art und Weise des Verhältnisses zwischen Zeit und Zeitlichkeiten. Das 53 Der Begriff „Zeitlichkeit“ meint hier den Modus der Äußerung des/der Körper(s), im Sinne nicht nur der (körperlichen) Aneignung von Zeit, sondern auch der Manifestation von Körper-Identität und/oder -Alterität vorrangig durch den spezifischen Einsatz einer Modalität der Zeit, nämlich des Rhythmus. 54 Der Zeit-Zyklus realisiert oder materialisiert sich und wird wahrnehmbar durch die Äußerung der Zeitlichkeiten; umgekehrt realisieren sich die Zeitlichkeiten, indem sie sich den Zeit-Zyklus zu eigen machen bzw. indem sie sich als Transformationen des Zeit-Zyklus (in Zeitlichkeit) darbieten. 182
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Fragment, das die Inszenierung wie auch der Text stark instrumentalisiert, stellt sich hier entsprechend nicht als ein absolut isoliertes, quasi totgeborenes Bruchstück, sondern vielmehr als ein integrierbares und situierbares Teil eines Ganzen dar: Auf die Collage-Technik des Stücks antwortet die Inszenierung mit einer Montage-Strategie, die eher darauf angelegt ist, die möglichen Verknüpfungen und Zusammenhänge wahrnehmbar werden zu lassen. Das konsequenzenreichste Ergebnis dieser demonstrativen Verknüpfungsstrategie stellt die zweifache Unterstreichung von Gegenwärtigkeit dar, die mit der doppelten Eigenschaft der Zeit, zugleich sowohl als Rahmen als auch als Rahmeninhalt zu fungieren, korrespondiert. Auf der einen Seite glaubt zunächst der Zuschauer, Fragmente von Geschichten oder Biographien wahrzunehmen, die als Bruchstücke einer vermeintlichen Kontinuität präsentiert werden. Die starke Fragmentierung dieser Geschichten allerdings, zudem vom ständigen Zweifel an einer körperlichen Identität begleitet, der die Fragmente nicht eindeutig zuordnen lässt, erweist schnell jegliche Kontinuität zumindest als fraglich und drängt zu einer Perzeption der Fragmente ausschließlich in ihrer Gegenwärtigkeit, in ihrem Jetzt-Sein. Dieser Eindruck wird auf der anderen Seite verstärkt, wenn nicht sogar zwingend durch die abschließende Rückkehr zur Ausgangssituation, welche durch den zyklischen Begriff von Zeit(Entfaltung) die Zeit der Aufführung als währende Gegenwart herausstellt. So setzt die Aufführung auf eine zweifach etablierte Gegenwart oder Präsenz (von Zeit und Zeitlichkeiten), die den Kontext und damit bestimmte Richtungen vorschreibt, nach denen sich alle weiteren Verknüpfungen und Korrelationen orientieren. Durch diese dezidierte Insistenz auf der präsenten Zeit bzw. der Zeit oder Zeitlichkeit als Präsens scheint die Inszenierung indirekt auch eine Wirkung auf den Inhalt des gesprochenen Texts auszuüben, welche wiederum Gegenwärtigkeit noch radikaler erscheinen lässt: Die häufigen (verbalen) Erzählungen und Erinnerungsdarstellungen der Personen, die im Text die Distanz zur Gegenwart betonten oder wachsen ließen, sind hier als weitere Teile der präsentierten Geschichten anzusehen und damit lediglich in ihrer Gegenwärtigkeit wahrzunehmen. Weil die Inszenierung auf zeitliche Kontinuität und Dimensionierung verzichtet, sind diese Erzählungen nicht mehr eindeutig „in der Vergangenheit“ zu situieren, sondern scheinen bloß Alternativen zu den gezeigten Geschichtssegmenten darzustellen; um nur ein Beispiel zu nennen: Die Geschichte der „Beleibten“ (212) bezieht sich nicht mehr und nicht weniger auf ihre Vergangenheit als ihre (i.e. der gleichen Schauspielerin mit stark modifiziertem Aussehen) Anwesenheit in der Kneipe oder ihr Posieren für den Fotografen und ist entsprechend zeitlich nicht situierbar, sondern auf die gleiche
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Art und Weise wahrzunehmen, wie die beiden auf der Bühne gezeigten Sequenzen, nämlich bloß in ihrer Gegenwärtigkeit. Diese Geschichten präsentieren sich hier insofern als einzigartig, als sie gemäß diesen Ausführungen nicht in ihrer Horizontalität, als Neben- und Nacheinander von aufeinanderfolgenden Momenten, sondern eher in ihrer Vertikalität, quasi als Schichtung von Momenten, die lediglich ihren gegenwärtigen Status vorzuweisen in der Lage sind, zu begreifen sind. Ein abschließender und vergleichender Blick auf die Zeitdramaturgien von Stück und Aufführung lässt zusammenfassend feststellen, dass letztere den einrahmenden „historischen Moment“ 55 des Stücks in einen breiteren – und zugleich unendlich kleinen 56 – Zeitbogen transformiert, der sich als Jetzt-Zeit einzelner Präsenz-Chroniken darstellt. Diese suchen nicht mehr ihre Positionierung in die Zeit (wie etwa die Geschichten in die Geschichte im Stück), sondern nehmen vielmehr die Zeit auf und lassen sie als präsente Zeitlichkeit – und damit als Präsenz schlechthin – erscheinen.
Die Präsenz der Zeit: Zeit als Präsens und präsente Zeit Unter den oben diskutierten Aspekten ließe sich die Aufführungsthematik umschreiben als eine Fokussierung des Verhältnisses zwischen Zeit als Präsens, nämlich der Setzung und Etablierung der Zeit als Gegenwart, die keine Differenzierungen und Transfigurationen der Zeit zulässt, und präsenter Zeit, welche die Präsenz einer beweglichen, mannigfaltigen Zeit suggeriert. Es handelt sich bei der Aufführung, anders gesagt, um die Wahrnehmbarmachung der oder das Spiel mit den Möglichkeiten der Zeitlichkeit der Gegenwart. Diese paradoxe Formulierung verweist auf eine Suche nach den Formen und Arten der Verknüpfung zwischen Zeit-Starre (als Konnotation des Begriffs der Gegenwart) einerseits und Zeit-Fluss (durch den Begriff der Zeitlichkeit suggeriert) andererseits. Die Paradoxie verschärft sich hier insofern, als Starre und Fluss sich auf ein und dieselbe Sache beziehen, nämlich Zeit, die in der Aufführung zugleich Rahmen und Inhalt darstellt und stets zwischen den beiden Ei55 Sehr wohl stellt dieser „historischer Moment“ die „Gegenwart“ des Stücks dar; schon aber die Bezeichnung der „Gegenwart“ als Geschichte kommentiert ironisch die Unmöglichkeit einer Gegenwart als solche bzw. einer Präsenz des Präsens: Gegenwart – wie Geschichte – ist im Stück nur im Nachhinein als solche zu verstehen und deswegen nur und stets als ein früheres, vergangenes (Nicht-)Jetzt zu deuten. 56 Weil das zyklische Arrangement der Zeit auch auf eine Zeit ohne Dauer, eine auf den Moment zusammengezogene Zeit verweisen kann. 184
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genschaften – Starre und Fluss – oszilliert; die Artikulationsweisen der Zeit-Starre sind in diesem Sinne nicht eindeutig von diesen des ZeitFlusses zu unterscheiden und die beiden Zeit-Modalitäten nicht als strikt opponierende zu bezeichnen. Dies bedeutet allerdings, dass die derartige Inszenierung der Gegenwart sich als Problematisierung oder Infragestellung der Zeit-Präsenz präsentiert, indem sie sich weigert, Präsenz diese oder jene Eigenschaften fest zuzuschreiben und vielmehr eine Aufrechterhaltung der oben angesprochenen Ambivalenz anstrebt. Diese Zeit- bzw. Präsenzinszenierung stellt meines Erachtens ein Beispiel par excellence dafür dar, wie die im Prolog diskutierte „sich entziehende Präsenz“ 57 szenisch präsentierbar ist: Nämlich nicht als Absenz 58 , sondern als Infragestellung der Präsenz, als Nicht-Festlegen-Wollen auf eine Präsenz-Gestalt. Präsenz und Präsenzbegriff verbleiben hier in der Schwebe, verstrickt in einem Zweifel, der Präsenz selbst nicht gefährdet, sondern ihr vielmehr Spielraum und -potential zuschreibt. Die Inszenierung nutzt dieses Potential und hinterfragt die Präsenzkonstitution, indem sie das Beharrende (in) der Präsenz, 59 hier nämlich die Zeit, als ambi- oder polyvalent darstellt. Die Setzung des Zeitrahmens könnte in diesem Sinne als die ständige Mahnung des Beharrenden interpretiert werden, das sich allerdings in Form von Zeitlichkeiten äußert und entsprechend in sich Labilität, Bewegung und Vielgestaltigkeit trägt und präsentiert. Indem Zeit-Präsenz in der Aufführung zugleich Rahmen und Inhalt darstellt, ist sie in der Lage, sich nicht mehr als Präsenz, sondern als eine Vielzahl von Präsenzen zu präsentieren. Wie äußert sich nun diese Vielzahl von Präsenzen, und wie trägt sie zur Artikulation der oben angesprochenen Dialektik zwischen Zeit-Starre und Zeit-Fluss bei? Ich würde das Verfahren, dem die Inszenierung zu folgen scheint, als eine Zerbröckelung oder Zersetzung des Zeit- und Körperrahmens in unzählige (körperliche) Zeitlichkeiten beschreiben, das in der Lage ist, Identität zu bewahren (indem es Zeit- und Körperprä57 Siehe: Präsenz-Entzug, S. 44ff. 58 Alle dort erörterten Theorieansätze und Überlegungen suggerieren oder konstatieren eine gewisse, jedes Mal anders bezeichnete Absenz in der Präsenz; allerdings fällt bei allen auf, dass die Artikulation von Absenz die Präsenz von Präsenz-Elementen voraussetzt! Diese (Präsenz-)Elemente, die (auch) für die Artikulation von Absenz vorausgesetzt werden, sind Zeit als Jetzt und Raum als Hier, die stets als solche und in diesem Sinne als das Beharrende und darüber hinaus das Gewährleistende der Präsenz aufzufassen sind. Siehe hierzu auch Bohrer (Prolog, S. 50), der im Moment des Präsenzverlusts doch „die Temporalität des ‚Augenblicks‘“ „allein [m.U.]“ zu konstatieren nicht umhin kommt. 59 Siehe ebd. 185
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senz demonstrativ in den Vordergrund rückt), aber zugleich in Frage zu stellen (durch die Zeitzerstückelung und die Körperverstellung). Das heißt, dass die Manifestation der Zeit-Präsenz durch die ZeitlichkeitenPräsenz(en) schon in sich das Momentum oder den Verweis auf eine Differenz trägt, die Zeit und Präsenz von vorne herein spaltet. Die erste Differenzierung betrifft die Art und Weise der Setzung und der Manifestation der Präsenzen. Diese nämlich beanspruchen nicht lediglich eine gewisse Zeitspanne, die Teil des Zeit-Präsens wäre, sondern artikulieren sich vielmehr als Brüche und Risse der Zeit-Präsenz, 60 als vertikale Interferenzen, 61 die der Gegenwart eine Dimensionierung verleihen, die Zeit teilend, vervielfältigend, verzweigend etc. Eine Mikrographie dieser generellen Funktion der Zeitlichkeiten bietet der II. Akt, dessen Gegenwart (sowohl als szenisches Hier und Jetzt als auch im übertragenen Sinne als das Momentum der Begegnung zwischen Lorenz und Delia) sich in einem Prozess einer unendlich scheinenden Expansion befindet und zwar durch kontinuierliche Unterbrechungen durch situative und personelle Zeitlichkeiten. Die Paradoxie entsteht hier durch die Tatsache, dass diese Zeitlichkeiten als Gegenwart in der Gegenwart, als Präsenz(en) in der Präsenz zu rezipieren und schon dadurch imstande sind, Identität und Differenz in sich zu tragen: Indem sie nämlich als Teil(e) der Präsenz und zugleich als deren Aufhebung 62 fungieren. Die Inszenierung instrumentalisiert verschiedene Metamorphosen der Präsenz und lässt letztere in diversen Gestalten auftreten: So ist Präsenz aufzufassen als transitorische Flüchtigkeit 63 (hierzu wäre beispielsweise die Inszenierung bzw. Rhythmisierung der Zeitlichkeiten anzuführen, die aufeinanderprallen, oder sich teilweise überlagern, oder aber andernorts als Übergänge eingesetzt werden 64 ), als Verwischung oder Aufhebung der Grenze zwischen „Vergangenheit“ und „Zukunft“, 65 die vielmehr
60 Siehe hierzu im Prolog, S. 51ff. 61 Vgl. Text, S. 183-184. 62 In diesem Sinne ist wohl die im Prolog zitierte Bemerkung Gottfried Boehms, Präsenz sei „zugleich in und außerhalb der Zeit“ (S. 51-52) zu lesen; vgl. auch: Prolog, S. 55ff. 63 Vgl. unter anderem Prolog, S. 45. 64 Hierzu siehe ausführlich in der Analyse. 65 Deswegen in Anführungszeichen, weil hier Vergangenheit und Zukunft keine Zeitmodalitäten, sondern vielmehr Instrumente zur Orientierungshilfe des Rezipienten darstellen; sie betreffen also vielmehr die Spieldauer als die Aufführungs- oder szenische Zeit als solche (ich kann sagen, diese Sequenz wurde vor oder nach jener präsentiert; ich kann aber nicht sagen – obwohl ich glaube, ich könnte es tun, sofern ich eine Chronik (oder eine Geschichte) zu rezipieren meine –, diese Sequenz ist in Bezug auf jene in 186
SCHLUSSCHOR
hier als eine Entdimensionalisierung der Zeit zu bezeichnen wäre 66 (siehe hierzu beispielsweise die Chronik der Präsenz Otto Sanders, der im I. Akt den Fotografen, im II. Akt den Selbstmord begehenden Lorenz, im III. Akt einen Kneipengast, der gelegentlich auch Fotografiert, spielt und zum Schluss auch noch als „Johannes“ auftritt: Die Inszenierung scheint geradezu eine zeitliche Anordnung der Teile zu provozieren und zugleich zu zerstören), als unaufhörliches Schwinden 67 (siehe hierzu beispielsweise die Inszenierung der Zeitlichkeit Anitas im III. Akt), als Spur eines Früheren 68 (Anitas Kampf mit dem Adler endet in der Aufführung während der Zusammenkunft und Aufstellung der Gruppe zum erneuten Posieren – die Gegenwart der allerletzten Aufführungssequenz, die zugleich die Zeit der Aufführung als Präsens herausstellt und etabliert, absorbiert regelrecht das „eben noch“ der Aktivität eines Gruppenmitglieds – Anitas – und trägt es nun mehr als gegenwärtige Spur eines Früheren in sich) und eventuell als einiges mehr. Allen diesen Zeit-Inszenierungen und -Erfahrungen ist ein Moment „der Abweichung von Gegenwart“ 69 schon durch die Tatsache inhärent, dass sie die Zeit als Präsens, die Gegenwart, in der die Aufführung das Spiel einbettet, verschiedenartig unterbrechen und von ihr abheben. Die Zeit-Präsenz zeigt sich hier durch die verschiedensten Zeitlichkeits- oder Präsenz(en)-Manifestationen und schon dadurch als Differierendes. Dieses Differierende aber, als das sich Präsenz zeigt, ist meines Erachtens niemals mit ihrem Entgegensetzten, mit Absenz gleichzusetzen, da ja das Differierende Präsenz benötigt, um als solches zu erscheinen. Vielmehr würde ich von einer genuinen Transformierbarkeit der Präsenz sprechen, die sehr wohl die Möglichkeit diverser Manifestationen eröffnet, zugleich aber den Ausgangspunkt und Transformationsprozess nicht verschleiert, sondern stets mitpräsentiert. Das, was bei aller Transformation und den diversen Erscheinungsformen als das Beharrende 70 oder der unverfügbare Rest 71 manifest wird, ist nichts anderes als die präsente Zeit, die nie verschwindet oder aufgeht, sondern vielmehr die Transformatio-
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die Vergangenheit oder in die Zukunft zu positionieren). Diese ständige Interaktion und Kollision zwischen der Rezeption der Spieldauer und der Rezeption der szenischen Zeit trägt wiederum zur auffälligen Rezeption der Gegenwart als Gegenwart bei. Siehe auch weiter im Text. Vgl. hierzu Prolog, S. 46. Vgl. ebd., S. 46-47. Vgl. ebd., S. 48-49 und 51. Lehmann, zitiert im Prolog, S. 47. Siehe Anm. 58 dieses Kapitels. Vgl. Prolog, S. 68ff. 187
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nen und die diversen Formen der Erfahrung (der Zeit) zuallererst ermöglicht. Als eine solche Manifestation des Transformationsprozesses der Präsenz, der zugleich das in ihr Konstante und Beharrende als solches demonstriert, ließe sich nun die gesamte Aufführung auffassen: Zwischen Zeit-Starre (Zeit als Präsenz, als währendem Präsens) und Zeit-Fluss (präsenter Zeit bzw. Zeitlichkeiten als Präsenz-Transformationen) vermittelt oder verharrt die Präsenz der Zeit, die Emergenz der Zeit als Jetzt(-Sein), welche die Bedingung der Möglichkeit aller Erscheinungen – auch als Absenz von Erscheinung aufgefasst – darstellt.
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EPILOG Absenz/Präsenz metaphysisch/postmetaphysisch Zwischen dramatischem Text und Theateraufführung – dies sollte in der vorliegenden Arbeit deutlich werden – lässt sich eine facettenreiche Relation ausmachen, die sich durch eine Dialektik zwischen Absenz und Präsenz auszeichnet. Bei allen dreien der gewählten Beispielen aus Botho Strauß’ Oeuvre und den exemplarischen Inszenierungen Luc Bondys wurde die zunächst paradox anmutende Transformation augenscheinlich, die sich zwischen der textuell artikulierten Absenz und deren Aufhebung im Vollzug der Aufführung artikuliert. 1 Was der Text zu verstellen, zu verschleiern und zu verschieben vermag, wird in der Aufführung Teil einer opaken Präsenz, welche die textuell artikulierte Absenz als solche nicht mehr präsent werden lässt. Diese Opazität der Präsenz hat sehr wohl etwas mit den spezifischen Eigenschaften und Bedingungen der Bühne und des szenischen Ereignisses zu tun, wie übrigens auch der Begriff der Absenz im textuellen Kontext. Hier sei wiederum auf Patrice Pavis 2 verwiesen, der den (dramatischen) Text eher als eine für das Präsentische stehende Absenz begreift, während er die Aufführung als eine Präsenz beschreibt, die eine Absenz repräsentiert. 3 Pavis – wie auch Lefebvre 4 – verwenden allerdings den 1
2 3
Die Paradoxie hebt sich allerdings auf, wenn berücksichtigt wird, dass Präsenz sich als eine Ereignishaftigkeit ex nihilo, als grundlose Ekstatik darstellt, also konsequenterweise von einer Abwesenheit ausgehen muss. (S. Prolog, S. 12). Siehe Anm. 31 des Prologs. Vgl. auch Lefebvre, Henri: La présence et l’absence. Contribution à la théorie des représentations, Casterman (Belgique) 1980, S. 233: „Au théâtre, le mouvement se construit autour d’une présence qu’il faut donner. Présence multiple (le texte, le décor, les éclairages, l’acteur, le spectateur, l’auteur). Tandis que le récit romanesque se construit autour d’une évocation par l’imaginaire, celle d’une absence.“ Was Lefebvre für die Prosa behauptet, lässt sich durchaus auch auf den dramatischen Text übertragen. 189
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Begriff der Präsenz – und auch den der Absenz – in ihrer doppelten Auslegung, nämlich einmal in ihrer metaphysischen Bedeutung und das andere Mal „postmetaphysisch“ 5 , das heißt eher auf die spezifische Materialität (des theatralen Ereignisses) bezogen: Die textuelle Präsenz ist eher im derridaschen Sinne zu verstehen, während die Aufführungspräsenz gemäß der Überlegungen Merschs zu deuten ist. 6 Diese Konfusion der Termini und ihrer Bedeutungen drängt zu einer Präzisierung des ersten Satzes des vorigen Absatzes: Meine These lautet, dass Präsenz und Absenz – wie sie gängig verstanden werden – sehr wohl etwas mit der Spezifik des jeweiligen Codes oder Mediums zu tun haben, aber nur zum Teil. Präsenz und Absenz, als Materialität oder als Referenz bzw. postmetaphysisch oder metaphysisch verstanden, lassen sich sowohl im Text (im Drama) als auch in der Aufführung konstatieren: Die dramatis personae sind sehr wohl in ihrer Präsenz wahrzunehmen, einerseits weil dem Leser eines Dramas bewusst ist, dass er eben einen zu inszenierenden Text und zu verkörpernde Personen vor Augen hat, und andererseits, weil der Autor, durch Anweisungen, welche die Gestik und die Proxemik betreffen, durch Sprachrhythmik etc., seinen Personen eine Wirklichkeit zuschreibt, die in der Tat als Präsenz zu konzipieren ist; zum anderen ließe sich der dramatische Text sowohl als eine Präsenz (gemeint ist hier die eigene Materialität der Zeichen, die in ihrer Syntax und Synergie Präsenz erzeugen) einer Absenz (des Signifikats, der Bedeutung, der Referenz...) als auch als doppelte Absenz verstehen, wenn man annimmt, dass der Sprachcode bzw. die geschriebenen Zeichen nur im Hinblick auf ihren Sinn – auf etwas Abwesendes – Sinn haben. Das Ganze lässt sich auch in Bezug auf die Aufführung plausibel machen, die ja zugleich Präsenz und Repräsentation 7 ist. Festzuhalten ist hier zusammenfassend, dass Präsenz und Absenz, so wie sie unter anderem von Pavis und Lefebvre definiert wurden, ohne Unterscheidung zwischen metaphysischem und postmetaphysischem Verständnis, sowohl für das Drama als auch für die Aufführung geltend gemacht werden können. Ehe ich mein Verständnis von Präsenz und Absenz noch einmal ausführlich darlege, sei hier noch abschließend angemerkt, dass Text (auch der dramatische, der allerdings vielfach vom prosaischen oder poetischen zu unterscheiden ist) und Aufführung aufgrund ihrer spezifischen Materialität und der jeweils eigenen Herausforderungen an die Wahrnehmung 4 5 6 7
Siehe vorige Anmerkung. Hierfür bin ich Markus Rautzenberg dankbar. Siehe auch: Präsenz versus Repräsentation? (S. 64ff.). Siehe S. 68ff. Erika Fischer-Lichte verweist permanent darauf. Ausführlich siehe Ästhetik des Performativen, S. 255-261; vgl. auch Prolog, S. 71-72. 190
EPILOG
(ein Text, den man liest, lenkt zwangsläufig unsere Wahrnehmung zuallererst oder vorwiegend auf sein Signifikatenensemble bzw. seine semantische Struktur, also eher auf seine Immaterialität, während die Aufführung vorerst die Wahrnehmung ihrer Materialiatät und Performanz erzwingt) eine je besondere Beziehung zur Absenz und Präsenz (ganz gleich, ob metaphysisch oder postmetaphysisch aufgefasst) unterhalten. Während der Text mit Wörtern und Diskursen operiert, die nicht oder kaum von deren Bedeutung zu trennen sind, verfügt die Aufführung über eine Fülle von Materialien, die in ihrer Diversifikation geradezu zuallererst ihr spezifisches Da- und Sosein präsentieren und wahrnehmbar machen. Insofern scheint die differenzierte Verbindung von Absenz und Präsenz zum (dramatischen) Text und zur Aufführung vielmehr eine von der jeweiligen Spezifik der Codes abhängige Frage der zeitlichen Abfolge des Wahrnehmungsprozesses – nämlich was wir als erstes oder als zweites etc. wahrnehmen – zu sein. 8
Präsenz vorerst als Hier (und) Jetzt Die Arbeit hat im Hinblick auf die Artikulationsweisen der Dialektik – bzw. der opponierenden Relation – zwischen textueller Absenz und Aufführungspräsenz die Begriffe des Raums und der Zeit zugrunde gelegt 8
Vgl. hierzu folgende interessante Bemerkung Fischer-Lichtes (Ästhetik des Performativen, S. 247) im Hinblick auf die Art und Weise der Wahrnehmung des „plötzliche[n] unbegründete[n] und unmotivierte[n] Erscheinen[s] eines Phänomens“: „Es wird wohl zunächst in seinem phänomenalen Sein wahrgenommen, dann jedoch, wenn sich die Aufmerksamkeit aus ihrer Fokussierung auf das Wahrgenommene löst, sozusagen abzuschweifen beginnt, als ein Signifikant, mit dem sich die unterschiedlichsten Assoziationen – Vorstellungen, Erinnerungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken – als seine Signifikate verbinden.“ Diese Bemerkung ist für jedes szenische Ereignis gültig: Dieses nämlich appelliert zuallererst an die Sinne und setzt eine vorerst sinnliche Wahrnehmung in Gange; dies hängt freilich mit den dem Theater zur Verfügung stehenden Codes und Medien, die in ihrer spezifischen Materialität zunächst die Sinne (und erst dann – wenn überhaupt – den Verstand) herausfordern. In unserem Kontext hieße das, dass im Theater der Gang der Wahrnehmung jedenfalls von der Präsenz (Da- und Soseins des Materials) ausgeht, ehe er dann (eventuell) zur Absenz (mögliche Bedeutungen des Materials) übergeht. Der dramatische Text wird in zweifachem Sinne umgekehrt wahrgenommen: Zum einen weil der linguistische Code zwangsläufig zunächst die Wahrnehmung auf die Absenz der Bedeutungen (des Materials) lenkt und zum anderen weil das Drama hinsichtlich einer absenten szenischen Realisierung wahrgenommen wird. 191
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(und nicht etwa die der Person und des Schauspielers). Zwei Begriffe nämlich, die sowohl im Rahmen der Dramen-, als auch der Aufführungsanalyse mehr oder weniger ausführlich behandelt und interpretiert werden. Allerdings ist hier zu konstatieren, dass die Zeitanalyse eher der Aufführung vorenthalten ist, während die Raumanalyse als primärer Gegenstand der Dramenanalyse fungiert. Die Arbeit hat gezeigt, dass diese Differenzierung nicht haltbar ist: Drama und Aufführung weisen gleichermaßen sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Struktur auf. Raum und Zeit stellen die Elemente par excellence dar, durch die sich die Dialektik zwischen textueller Absenz und Aufführungspräsenz, die hier oben angesprochene terminologische oder Definitionskonfusion umgehend, artikuliert. Zunächst zur Aufführung, die das zentrale Thema der Arbeit darstellt: Mit den Begriffen von „Raum“ und „Zeit“ meine ich im Arbeitskontext die chronotopischen Gegebenheiten der (Aufführungs-)Präsenz, die als Hier (und) Jetzt aufzufassen sind und die ich im Prolog – wie auch im gesamten Arbeitsverlauf – als jene Bestandsteile des Präsenzbegriffs herausgestellt habe, die zuallererst Präsenz zu Präsenz machen. Mein Thema war und ist hier nicht etwa eine umfassende und detaillierte Beschreibung und Interpretation des szenischen Raums und der szenischen Zeit, 9 welche in Aufführungen, die von einem Text ausgehen, bis zu einem gewissen Punkt als Transformationen der verschiedensten räumlichen und zeitlichen Anweisungen und Zeichen des Texts interpretiert werden könnten, sondern ganz konkret der Raum als Hier und die Zeit als Jetzt, nämlich so, wie sie im Präsenzbegriff impliziert sind. Dieses hic (et) nunc der Aufführungspräsenz war mein durch und durch konkreter Forschungsgegenstand. Ich habe im Prolog bemerkt, dass dieses hic (et) nunc der Aufführung mit einer textuellen Vorlage überhaupt nichts gemeinsam hat; es lässt sich an keine Vorlage rückkoppeln und ist vom Drama in keinster Weise ableitbar. 10 Somit fungiert dieses hic et nunc, das ich als das Primäre im Präsenzbegriff bezeichnet habe, als die Eigenschaft der Aufführung schlechthin, welche das Verhältnis zwischen dem Drama und seiner szenischen Transformation ins Schwanken bringt bzw. a priori als höchst problematisch erscheinen lässt und jedenfalls der Aufführung eine genuine Unabhängigkeit zuschreibt. Dies gilt für alle Aufführungen, mit oder ohne dramatische Vorlage, mit geringer oder größerer „Treue“ zum 9
Zur Definition des szenischen Raums und der szenischen Zeit siehe Pavis, Patrice: L’analyse des spectacles, S. 138-157, insbes. 140-147. Siehe auch weiter im Text. 10 Prolog, S. 14. 192
EPILOG
„Werk“: Die Relation zwischen Drama und Aufführung zeichnet sich stets durch das Moment der Störung aus, und dies bereits durch die Setzung des hic (et) nunc der Aufführung. Bei Aufführungen mit dramatischer Vorlage ist das dialektische Verhältnis zwischen Absenz und Präsenz bereits benannt worden: Wenn man annimmt, dass eine Aufführung einen Text szenisch übersetzt oder transformiert, dann stellt das hic (et) nunc als primäre Eigenschaft der Präsenz die Übersetzung einer Absenz dar.
Hier (und) Jetzt (in) der Aufführung Im Präsenzbegriff habe ich den Schwerpunkt von dem etwas, das auf der Bühne meist den Körper (des Schauspielers) bedeutet, auf die raumzeitlichen Gegebenheiten – das Hier (und) Jetzt – verschoben und sie als die genuinen und eigentümlichen Eigenschaften der Präsenz bzw. als die Bedingung(en) der Möglichkeit von Präsenz überhaupt bezeichnet. Was ist aber konkret unter Hier (und) Jetzt (in) der Aufführung zu verstehen, und was hat dieses Hier (und) Jetzt mit der Deskription oder Definition des Aufführungs-Chronotopos im Allgemeinen zu tun?11 Das Hier (und) Jetzt (die Präsenz) der Aufführung deutet zunächst auf ihre ganz individuelle Gegenwärtigkeit hin, ihre Ereignishaftigkeit hier und jetzt, welche mit einer – manchmal wehmütig konstatierten 12 – Flüchtigkeit und Vergänglichkeit einhergeht. Bezieht sich der Präsenzbegriff auf das gesamte Aufführungsphänomen, so dient er dazu, das Ephemere und das Vergängliche der Aufführung in den Vordergrund zu rücken. Sehr wohl kann die Gegenwärtigkeit der Aufführung zu einer besonderen Prägnanz gelangen, aber indem sie ontologisch auf Vergänglichkeit beruht – wenn nicht sogar beharrt –, ist sie von vorn herein durch die nicht zu umgehende, künftige Absenz gezeichnet. Es hat den Anschein, als ob der Präsenz der Aufführung, ja sogar des Theaters im hier erläuterten Sinne a priori ihre Absenz inhärent sei. 13 11 Zur zweiten Frage siehe nächsten Abschnitt. 12 Vgl. hierzu den vermeintlichen Moment von Todeserfahrung in der Präsenzerfahrung. Siehe S. 49. 13 Vgl. hierzu die Überlegungen Peggy Phelans zit. in: Schumacher, Eckhard: „Performativität und Performance“, in: Wirth, Uwe (Hg.), Performanz – Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, dass „Performance [...] erst durch ihr vermeintliches Verschwinden zu dem [wird], was sie [ist].“ (S. 393) In unserem Zusammenhang würde sich die Aufführungspräsenz erst dadurch definieren, dass sie zur Absenz verdammt ist; vgl. ebenfalls die Überlegungen Lehmanns und Koleschs, S. 48-49 (siehe hierzu weiter im Text). 193
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Die Arbeit hat aber das szenische Ereignis geradezu als den Widerstand gegen die Absenz verstanden und zu beschreiben versucht. Die Produktion und Präsentation des szenischen Hier und Jetzt bilden meines Erachtens die entscheidenden Aktionen von Inszenierung und Aufführung, welche eben als das Gegengewicht zur Absenz fungieren und den Akzent prononciert auf Präsenz setzen. Schon indem die Aufführung sich als Präsenz setzt, ein Hier (und) Jetzt markiert, arbeitet sie der Absenz entgegen, und sei es „nur“, weil sie dieses Hier (und) Jetzt hervorgebracht hat. Diese Hervorbringung von Präsenz bzw. von Hier (und) Jetzt geht beim szenischen Ereignis mit der Wahrnehmbarmachung von spezifischen Formen und Gestalten des räumlichen Hier und des zeitlichen Jetzt einher. Die Aufführungsanalysen haben gezeigt, wie die verschiedensten Präsenz-Konzepte sich jeweils anwenden lassen im Rahmen des Versuchs einer jeweils adäquaten Präsenzbeschreibung und -auslegung. Es wurde allerdings auch deutlich, dass terminologische Überschneidungen und definitorische Verschiebungen nicht auszuschließen, wenn nicht sogar willkommen sind. Ich habe stets jenes Konzept ausgewählt, welches das dominante – und nicht das Einzige wohl gemerkt – und für eine integrale Analyse das angemessenste zu sein schien. Entsprechend hat sich durch die hier analysierten Aufführungen eine Präsenzpolymorphie ergeben, die auf diverse Formierungs- und Artikulationsmöglichkeiten von Präsenz auf der Bühne hinzuweisen vermag. Diese Polymorphie offenbart ferner noch ein sozusagen Nicht-FestlegenWollen oder -Können des gesamten theatralen Ereignisses auf ein bestimmtes Präsenzkonzept und initiiert Freiräume in Bezug auf das Was und das Wie des Hier (und) Jetzt. Die hier konstatierte Präsenzpolymorphie hebt die oben angesprochene Auffassung der theatralen Präsenz als eine auf Abwesenheit angelegte teilweise auf, indem sie einerseits keine eindeutigen Konzeptionen von Präsenz mehr zulässt und andererseits die demonstrative Setzung des Da- und Soseins von Präsenz benötigt, ja voraussetzt. Die Demonstration des Da- und Soseins von Präsenz stellt die Bedingung der Möglichkeit einer Präsenzpolymorphie durch die jeweils unterschiedlichen Präsentationen des Raum-Hier und Zeit-Jetzt der Bühne dar. Die Aufführungsanalysen haben gezeigt, auf welche Art und Weise die Inszenierung/Aufführung durch die spezifische Gestaltung von Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten zu verschiedenen Präsenz-Produktionen und -Präsentationen gelangt: Von den momentanen Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten der Kommunikation zwischen Martin/Bruno Ganz und Kristine/ Corinna Kirchhoff (Die Fremdenführerin) gelangte man über die das gesamte Spiel rhythmisierende und konditionierende Räumlichkeit/Zeit-
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EPILOG
lichkeit Marie Steubers/Libgart Schwarz’, welche sich als ein „Präsenzfeld“ darstellte und artikulierte (Die Zeit und das Zimmer), zur Fragwürdigkeit des Präsens (der Präsenz) eines Chors und seiner Mitglieder (Schlußchor). Die Präsenz der jeweiligen Aufführung wurde unterschiedlich wahrnehmbar gemacht durch die jeweils unterschiedlichen Gestaltungen von präsenter Räumlichkeit/Zeitlichkeit bzw. des Raum-Hier und Zeit-Jetzt.
Präsenz und Chronotopos Das Verhältnis oder die Korrelation zwischen Raum-Hier und Zeit-Jetzt und dem Aufführungs-Chronotopos, so wie ihn die Aufführungsanalyse versteht und beschreibt, 14 scheint kompliziert zu sein. Aus den Aufführungsanalysen wurde deutlich, dass die Präsenz (das Hier [und] Jetzt) der Aufführung durch verschiedenste Medien und Elemente der Bühne produziert wird: durch den Raum und seine Transformationen, durch die Körper und deren Interaktion, durch die Sprach- und Bewegungsrhythmik, durch die Gegenstände, durch die einzelnen Situationen etc. Das Hier (und) Jetzt der Aufführung stellt sich aus den unterschiedlichsten Elementen zusammen, welche Räumlichkeit/Zeitlichkeit zu erzeugen vermögen, und zudem stellt es sich als eine stets zu produzierende, zu werdende Hervorbringung dar, die nicht anders denn nur dynamisch aufzufassen ist. Diese Räumlichkeiten/Zeitlichkeiten-Interaktion und -Synergie produziert also fortwährend das Hier (und) Jetzt der Aufführung. Umgekehrt allerdings stellt dieses Hier (und) Jetzt einen unumgehbaren raumzeitlichen Rahmen dar, der die Räume und Zeiten, die Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten jeder Aufführung in sich vereint oder miteinander verbindet. Paradox ist hier, dass das Hier (und) Jetzt der Aufführung sowohl als statisch, als eine Art einrahmendes Konstrukt, als auch als dynamisch, als stets zu produzierende Struktur anzusehen ist. Der Aufführungschronotopos, den die Aufführungsanalysen zu beschreiben versucht haben, entsteht zuallererst als der Topos der Realisierung und Artikulation dieser Spannung zwischen Statik und Dynamik, Sein und Werden. Die Bezeichnung des Aufführungschronotopos als Produktion der Interaktion zwischen Raum-Hier/Zeit-Jetzt und präsenten Räumlichkeiten/ Zeitlichkeiten bringt meines Erachtens alle gängigen Kategorien, durch die Raum und Zeit der Aufführung analysiert werden, zumindest ins Schwanken: Begriffe wie „dramatische“, „szenische“, „gestische“, „tex-
14 Siehe hierzu beispielsweise Pavis, Dictionnaire..., S. 118-123 und 349-352 bzw. ders.: L’analyse..., S. 138-147. 195
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tuelle“ Raum-Zeit etc., 15 die vielmehr den Aufführungschronotopos zerlegen und demontieren, um ihn dann eventuell erneut zu montieren, sind jedenfalls zu relativieren, wenn nicht sogar zu überdenken oder eingeschränkt einzusetzen. Seine Beschreibung verlangt eher einen von Beginn an synthetischen oder vielmehr integralen Blick, welcher den Chronotopos zugleich im Hinblick auf das Hier (und) Jetzt der Aufführung, aber auch von dort her deutet und auslegt. Die Arbeit hat weitestgehend auf solche Kategorien verzichtet, weil sie von der Überzeugung ausgegangen ist, dass der Aufführungschronotopos nicht nur eine Komposition, sondern auch immer eine Gestalt, als welche seine Präsenz zu verstehen ist, darstellt. 16 Die Betrachtung des Aufführungschronotopos als eine dynamische Präsenz sucht der Gefahr zu entgehen, den Räumen und Zeiten der Aufführung eine starre und unveränderliche Omnipräsenz zuzusprechen, wie es der Fall sein kann, wenn die Rede von Gegenwart ist. 17 Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, dass die Aufführungspräsenz als eine Präsentmachung von Räumen und Zeiten zu verstehen ist, die sehr wohl ihre Präsenz herausstellt, aber auch Bewegung und Transformation möglich, wenn nicht sogar für die Präsenzkonstitution erforderlich macht. In die15 Siehe vorige Anmerkung. 16 Insofern betrachte ich die hier vorgenommenen Beschreibungen des jeweiligen Aufführungschronotopos auch als einen Beitrag zur Infragestellung der gängigen Beschreibungs- und Analysemethodik. 17 Die Rede von Gegenwart oder Präsenz birgt die Gefahr der Identifizierung letzterer mit einem Raumbild oder -konzept, in dem Zeit (Linearität, Fluss), als unvereinbar mit einem starren Präsens, keine Rolle mehr spielt. Dimitris Tziovas [„Von der Zeit zum Raum“, in: To Vima, 16.11.2003 (auf Griechisch)], auf Foucault rekurrierend, fasst die zeitliche Dimension des „metamodernen Raums“ als gemeinsamen Topos heutiger Kultur, als „Kondensierung der Zeit zu einem ewigen Präsens“, als Verräumlichung von Zeit quasi, die allerdings eher eine Eliminierung von Zeit, eine Zeit-Starre suggeriert. Vgl. hierzu auch Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, S. 34: „Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“ Ähnliches ist bei Gumbrecht und teilweise bei Großklaus zu lesen (siehe: Prolog, S.9ff. bzw. Präsenz als Feld, S. 29ff.). Es ist wichtig, jedes Mal zu betonen, dass in der szenischen Präsenz die räumliche Dimension ohne die zeitliche undenkbar ist und zwar weil erstere stets als dynamische Präsenz (und keineswegs als „ewiges Präsens“) zu konzipieren ist (siehe auch weiter im Text). 196
EPILOG
sem Kontext erweist sich die Paradoxie im Verhältnis zwischen Präsenz von Raum und Zeit und präsenten Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten als keine mehr: Die Aufführung stellt sich nämlich meines Erachtens als eine präsent werdende Präsenz im Sinne einer entstehenden Gegenwärtigkeit und Anwesenheit dar. Zwischen Präsenz des szenischen Ereignisses – seines Hier (und) Jetzt – und den präsenten Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten – der Szenographie und deren Transformationen, der Raum-Zeit der Aktionen und Interaktionen der Schauspieler, der Raum-Zeit der Situationen etc. – kann dementsprechend bei einer Analyse des Chronotopos nicht unterschieden werden. Dies bedeutet unter anderem, dass auch unter den sich verschiedenartig konstituierenden Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten nicht zu differenzieren ist. Alle tragen zur Produktion und Gestaltung der Präsenz der Aufführung bei und sind demzufolge gleichermaßen zu berücksichtigen und in dieser ihrer Funktion zu beschreiben und zu deuten. In dieser Hinsicht wurde auch das Medium Körper des Schauspielers mitberücksichtigt und in die Analyse integriert: nämlich als Räumlichkeit/Zeitlichkeit, als die sich der Körper szenisch äußert. Unter Präsenz (teilweise auch unter „Aura“ 18 ) des Körpers hat die Arbeit die raumzeitliche Artikulation des Körpers, sein spezifisches Hier (und) Jetzt verstanden und dies wiederum in zweierlei Hinsicht: zugleich als Aufnahme und Gestaltung des Hier und Jetzt des szenischen Ereignisses und als Produktion und Präsentation dieses Hier und Jetzt. 19 Diese doppelte Aktion des Körpers ist wiederum in Wirklichkeit als eine einzige zu verstehen: Auf der Bühne ist es in der Tat unmöglich zu sagen, ob oder wann 18 Diesbezüglich – allerdings von der Materialität des Körpers her gedacht und gedeutet – siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen..., S. 160175. 19 Vgl. hierzu eine Bemerkung zum Tanz bei Gabriele Kleins („Mimesis, Medialität und Tanz – Zur Konstruktion leiblicher Wirklichkeiten in Mediengesellschaften“, in: Jeschke, Claudia/Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.), Bewegung im Blick – Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 8 2000), die sehr wohl für jegliches szenische Ereignis geltend gemacht werden könnte: „Im Tanz geht es um Prozesse der Aneignung und Gestaltung von Raum und Zeit und diese Aneignung ist nicht nur eine wie immer geartete Nachahmung und Darstellung der äußeren Wirklichkeit [...], sondern immer auch eine Neu-Konstruktion von Wirklichkeit, eine andere Wirklichkeit, die neben eine Anzahl von ästhetischen Stilmitteln vor allem durch die tanzenden Körper geschaffen wird.“ (S. 97) Der Körper auf der Bühne eignet sich das Hier und Jetzt des Ereignisses an und lässt es zugleich und immer wieder als neues Hier und Jetzt erscheinen (siehe auch weiter im Text). 197
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ein Körper Raum und Zeit aufnimmt und gestaltet und ob oder wann er sie vielmehr produziert. Diese Funktionalität des Körpers lässt sich ebenfalls im Kontext der Deutung der szenischen Präsenz als präsent werdende Präsenz begreifen und auslegen. Gerade der Körper des Schauspielers stellt das Medium par excellence der Artikulation der präsent werdenden Präsenz des szenischen Ereignisses dar, weil ein Körper auf der Bühne niemals als etwas Statisches betrachtet werden kann. Die Präsenz des Körpers, seine raumzeitliche Äußerung – auch wenn keine (deutlich wahrnehmbare) Gestik oder Bewegung impliziert ist – stellt die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass auf der Bühne Statik zu Dynamik und Sein zu Werden entstehen. Die Aufführungsanalysen haben deutlich gemacht, wie die Präsenz des Körpers, seine raumzeitliche Manifestation, zu unterschiedlichen Gestalten und Bedeutungen der Aufführungspräsenz beigetragen hat, und es ist in der Tat undenkbar, den Aufführungschronotopos ohne den entscheidenden Beitrag der Körperpräsenz zu beschreiben und zu deuten: In Die Fremdenführerin waren es die Interaktionen der Präsenzentfaltungen von Martin/Bruno Ganz und Kristine/Corinna Kirchhoff, welche regelrecht auf den Aufführungsraum (und die -zeit) einwirkten und ihm (ihr) nur eine momentane Präsenz gewährleisteten; in Die Zeit und das Zimmer war es die Präsenz Marie Steubers/Libgart Schwarz’, welche den Aufführungschronotopos als ein Präsenzfeld erscheinen ließ; und im Schlußchor war es der Chorkörper oder die Körper seiner Mitglieder, welche die Aufführungszeit als ein fragwürdiges Präsens herausstellten. Aus unseren Beispielen ist unmissverständlich hervorgegangen, dass Präsenz nicht gleich Präsenz ist und dass entsprechend die Suggestion einer starren, unbeweglichen Omnipräsenz 20 im Theater nicht aufkommen kann. Die Besonderheit der Aufführung und ihres protagonistischen Instruments – des Körpers – lässt sich meines Erachtens in diesem Zusammenhang als die Fähigkeit auffassen, Präsenz (Raum und Zeit; Hier und Jetzt) präsent machen zu können.
Raum und Zeit im Drama, als Absenz Mit der Definition des Körpers des Schauspielers als Instrument par excellence des Präsentwerdens der Präsenz ist nun indirekt das große Defizit des (dramatischen) Texts hinsichtlich einer Präsenzartikulation angesprochen: In ihm kommen die „Körper“ lediglich als unfinished designa20 Bzw. das „zeitlose Privileg der Gegenwart“ (Tholen, Georg Christoph: „Metaphorologie und Topologie. Zum hybriden Status von Zeit, Raum und Medialität“, in: file://F:\IfM%20-%20PublikationenTholen.htm, Zugriff am 31/7/2005, S. 1). 198
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tions bzw. incomplete symbolic indices 21 , also als Absenz von Körpern vor, die entsprechend nicht zur Präsenzkonstitution des Dramas beitragen können. Der dramatische Text hat demgemäß auf andere Elemente zurückzugreifen, um eine „Präsenz“ etablieren zu können. Auch der dramatische Text weist keine unkomplizierte raumzeitliche Struktur auf: Sein Raum setzt sich aus einem „realen“ – bzw. im Text fiktionalen – Raum, auf welchen die Anweisungen aus Neben- und Haupttext zu verweisen vermögen (in unseren Beispielen das Stadion von Olympia, eine Berliner Kneipe, der Zoo etc.), und einem Aktionsund Interaktionsraum zusammen, der aus der beschriebenen und konnotierten Aktivität der Personen 22 resultiert. 23 Entsprechend ist auch die Zeit des Dramas eine Komposition von „realer“ bzw. fiktionaler Zeit (ein Sommer, die Nacht des Falls der Berliner Mauer etc.) und der Zeitlichkeit – im Sinne von Tempo und Rhythmus – der Aktivität der Personen, die aus den Monologen und Dialogen und der beschriebenen und konnotierten Bewegung resultiert. Hinzu käme eine genrespezifische RaumZeit, die der Leser imaginierend konstituiert, wohl wissend, dass er einen zu inszenierenden Text liest: Das heißt, dass er sich nicht (nur) eine Berliner Kneipe am Abend des Falls der Mauer vorstellt, sondern (auch) eine Bühne, welcher Art oder Form auch immer, die diese Vorstellung repräsentiert, mitdenkt. 24 Dies alles bedeutet kurz gesagt eine Komplexität hinsichtlich einer Analyse oder Synthese des Raums und der Zeit des Dramas, die allerdings mit der Singularität des Codes, über den der Autor oder der Text verfügt, nämlich die Sprache bzw. die Schrift, kollidiert. Diese Singularität des Codes, der zudem auch den Code schlechthin darstellt, der vorerst und vor allem repräsentiert, zeitigt meines Erachtens im Drama eher die
21 Van Stapele, Peter: „Space in Dialogue - The relation between Indices and Space in Dramatic Text”, in: Hess-Lüttich, Ernst W.B./Müller, J.E./Van Zoest, A. (Hg.), Signs and Space/Raum und Zeichen, Tübingen: Gunter Narr 1998, S. 237. Der Absenz-Begriff schwingt offenbar in den Begriffen unfinished und incomplete mit. 22 Vgl. hierzu Anm. 2 des Kapitels Die Fremdenführerin: Auch im Drama ist die „Person“ nicht im Sinne eines identitätsinnehabenden Subjekts zu konzipieren. Siehe auch Die Zeit und das Zimmer, insbes. S. 128ff. 23 Vgl. Van Stapele, S. 239-242. 24 Hier wäre eventuell auch eine Raum-Zeit des Texts als Signifikantenensemble hinzuzufügen, was aber das Forschungsfeld enorm erweitern würde, da sich diese Raum-Zeit jedem Text attribuieren lässt und für den dramatischen Text von ohnehin komplexer raumzeitlicher Struktur, so wie er zumindest in unseren Beispielen vorkommt, von geringem Belang ist. 199
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Tendenz zur Ebnung oder Aufhebung der Komplexität hinsichtlich eines homogenisierenden – im Sinne eines mittels eines Schemas zu erläuternden – Bilds von Raum und Zeit, die sich gemäß der Behauptung artikuliert, dass im Drama, sofern es zuallererst ein Text ist, auch Raum und Zeit durch Bedeutungen und Referenzen bzw. eher ein Außerhalb des Texts zu konstituieren sind. Der Chronotopos des Dramas ist also insofern vorerst kein Konstrukt des Hier und Jetzt des Texts. In diesem Sinne ist auch eine spezifische Problematisierung des Raums und der Zeit im Drama stets zuallererst eine diskursive und dementsprechend dem Inhalt des Dramas zuzuschreiben. Bevor ich diesbezüglich zur Spezifik der straußschen Texte zu sprechen komme, ist noch das Verhältnis zwischen textueller Raum-Zeit und Absenz zu erläutern. Dieses hat wiederum mit der opponierenden Relation zwischen der Singularität des Codes und der Pluralität der Artikulationen und Bedeutungen zu tun und zwar in zweierlei Hinsicht: a) Ein raumzeitlicher Rahmen im Sinne eines Hier und Jetzt (des Texts) wird geradezu unmöglich gemacht: Das Hier und Jetzt der linguistischen Zeichen ist dazu angelegt, aus sich hinaus, zur Vielfalt und Pluralität von Bedeutungen, Referenzen, Assoziationen etc. zu führen. Das Hier und Jetzt des Texts ist durch und durch durchlässig und lädt zu seiner Aufhebung ein. Während das Hier und Jetzt des szenischen Ereignisses eine eher zentripetale Funktion erfüllt, indem es den Horizont bildet, von dem her Räume und Zeiten positioniert und gedeutet werden, verhält sich das Hier und Jetzt des dramatischen Texts eher zentrifugal, indem es verweist, auf ein Außerhalb von sich selbst hinweist. Insofern lässt sich das Hier und Jetzt des Texts nicht lediglich als ein auf Absenz angelegter Topos, sondern vielmehr als ein Nicht-Hier und Nicht-Jetzt, also als Absenz schlechthin konzipieren, sofern es auf seine Aufhebung hin arbeitet. b) Die Unverbindlichkeit eines Hier-Jetzt-Rahmens macht das Drama und den Text im Allgemeinen extrem aufnahmefähig für andere Räume und andere Zeiten. 25 Es lässt Transpositionen zu und Zeitlichkeit fließen. Der Leser bewegt sich frei durch Räume „anderswo“, vergangene, künftige, „andere“ Zeiten, ohne dass er sich dabei unbedingt eines Hier und Jetzt bewusst wäre. Eine Erinnerung oder ein Zukunftstraum ist in einem Text eher eine Transposition, ein Versetzen in die Vergangenheit oder Zukunft, und weniger eine Vergegenwärtigung. Das alles bedeutet für die Gegenwart zumindest eine Einschränkung: Im Rahmen des unbegrenzten und beliebigen Durchquerens von Räumen 25 Siehe hierzu auch die derridaschen Überlegungen erläutert im Prolog (insbes. S. 67-68). 200
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und Zeiten stellt Gegenwart nur eine Raum-Zeit unter anderen dar; sie ist nicht mehr das Zentrum, nach dem sich Räume und Zeiten zu orientieren hätten, sondern lediglich der Topos eines Schemas, durch das Räume und Zeiten als verortet (anderswo – hier – anderswo) oder dimensioniert (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) erscheinen. Diese Verortung und Dimensionierung von Räumen und Zeiten im (dramatischen) Text trägt dazu bei, dass das Präsens als eine Raum-Zeit unter anderen und nicht mehr als deren Bedingung verstanden wird. Diesen Ausführungen, aber auch der Gesamtheit der bisherigen Überlegungen entsprechend ist Absenz im Arbeitskontext als der Antipode von Präsenz zu begreifen: Nämlich nicht als ein absentes Etwas, sondern vielmehr als die Absenz von Raum als Hier und Zeit als Jetzt; als ein NichtHier und Nicht-Jetzt, das sich verschiedenartig artikuliert, aber stets als Absenz von Gegenwärtigkeit und Anwesenheit manifest wird.
Absenz in den Dramen Strauß’ Auf das besondere Interesse des Autors an den Erfahrungs- und Erlebnismodi von Raum und Zeit wurde in der Arbeit mehrfach hingewiesen. 26 Als zentrales Motiv dieses Interesses wäre eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gegenwart, in den verschiedensten Disziplinen und wissenschaftlichen Kontexten verstanden, nämlich als anthropologische, kulturelle oder psychologische Kategorie, als historische oder soziale Dimension, als physikalische Größe etc., zu konstatieren. 27 Der Gegenwartsdiskurs spielt im Werk Strauß’ eine sehr wichtige Rolle, indem er nicht nur implizit, sondern auch durch und durch explizit thematisiert wird. Es gehörte keineswegs zu den Forschungsgegenständen der Arbeit, sich mit dem Umfang dieses Diskurses 28 zu befassen. Vielmehr interes26 Ich verweise diesbezüglich besonders auf den Prolog (S. 15ff. bzw. 19ff.). 27 Vgl. hierzu nicht nur die schon mehrfach zitierten Studien über Botho Strauß (ganz besonders Damm, Daiber, Greiner, Riemer, Hagestedt) und sein literarisches Werk, für das die hier erörterten Dramen exemplarisch stehen, sondern auch Strauß’ eigene „pseudoliterarische“ bzw. theoretischphilosophische Texte (beispielsweise Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, 1987; Die Erde ein Kopf - Rede zum Büchner Preis, 1989; Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, 1992; Anschwellender Bockgesang, 1993), wo gerade Gegenwart in all den oben erwähnten Facetten (mit-)diskutiert wird. 28 Sowohl des allgemeinen raumzeitlichen als auch des konkreten Gegenwartsdiskurses. 201
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sierte sie sich für die konkreten Auswirkungen dieses Diskurses, in seiner konkreten Artikulation jedes Mal, auf die Konstitution und Gestaltung des Chronotopos des Dramas, so wie er sich in den drei ausgewählten Dramen und im Vergleich zum jeweiligen Aufführungschronotopos beschreiben und bestimmen ließ. So habe ich beispielsweise weder eine anthropologische oder soziologische Interpretation des mythischen Zitats oder des Bezugs auf die deutsche Geschichte angestrebt noch die philosophischen oder theoretischen Thesen und Überlegungen des Autors in den Dramen zu plausibilisieren versucht. Mein Interesse galt ausschließlich dem Stellenwert und der Funktion des mythischen Zitats oder des geschichtlichen Bezugs im Rahmen der Konstruktion und Konstitution des jeweiligen Chronotopos. Die Frage war demzufolge niemals, warum der Autor (der Text) auf dieses oder jenes raumzeitliche Indiz zurückgreift, sondern wie sich das eingesetzte Indiz auf die Konstitution des Chronotopos des Dramas auswirkt. Anstelle der Konstitution von Räumen und Räumlichkeiten, die durch die Tendenz zur Enträumlichung (momentane) Begegnungen im Hier zuließen, setzte so der Text in Die Fremdenführerin auf progressiv immer unheimlichere – menschenfeindliche und -fremde – Räume, die das Hier immer entfernter erscheinen ließen und entsprechend jegliche Begegnung als unmöglich erscheinen ließen; in Die Zeit und das Zimmer setzte der Text anstelle des körperlichen Präsenzfelds Marie Steubers/ Libgart Schwarz’ eine a-topische und a-chronische Figur, deren Identität ständig in Frage gestellt und die „Person“ gerade in ihrer „Nicht-Präsenz“ entlarvt wurde; anstelle letztlich eines stets manifesten Präsens (einer Gruppe und seiner Mitglieder), setzte in Schlußchor der Text die „Ungleichzeitigkeit“ 29 der Angehörigen einer Menschenschar, welche Gegenwart stets als Nicht-Hier und Nicht-Jetzt wahrzunehmen in der Lage waren. Der sich in verschiedenen Gestalten präsentierenden Präsenz der Aufführung entspricht im Text eine meines Erachtens markante Absenz, die nicht nur in ihrer Zeichenhaftigkeit oder symbolischen Dimension, sondern auch in ihrer intradramatischen Funktionalität zu konzipieren ist. Die Besonderheit des straußschen Interesses für den raumzeitlichen bzw. Gegenwartsdiskurs, so wie er sich in der Gestaltung des Chronotopos des Dramas als ein Arrangement von Absenz realisiert, würde ich nämlich darin sehen, dass seine Texte auch immer eine – nicht unbedingt intendierte – Problematisierung der oben angesprochenen genre- und codespezifischen Absenz darstellen. Die jeweils konkrete Konstitution des Chronotopos des Dramas lässt sich insofern nicht nur als eine Reflexion über das wie auch immer zu interpretierende abwesende Hier und Jetzt 29 Vgl. Damm, S. 9. 202
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(als Identitäts-, Sinn-, Wertverlust etc.) lesen, sondern auch zugleich als eine Problematisierung der Einschränkungen oder vielmehr Möglichkeiten der dramatischen Mittel (in unserem Zusammenhang der dramatischen Form „Raum und Zeit“) selbst, welche das genuine Nicht-Hier und Nicht-Jetzt des Materials dazu nutzen, um daraus einen Topos des Auflebens anderer Räume und anderer Zeiten zu machen. In diesem Sinne: Die straußschen Texte sprechen nicht nur über den verpassten Moment, die Unmöglichkeit des gemeinsamen Lebens-/Liebesraums etc., sondern reflektieren zugleich darüber mit dramatischen Mitteln (dem dramatischen Chronotopos), die Unzulänglichkeit oder das Potential dieser dramatischen Mittel (mit)präsentierend (und mitreflektierend). Insofern bedarf die im Prolog aufgestellte These, dass Strauß’ Texte eigentlich Diskurse über Raum und Zeit darstellen, einer nicht unbedeutenden Erweiterung, die nicht bloß dem Autor, sondern auch (oder vielmehr) den Stücken an sich zuzurechnen wäre: Die Chronotopoi der dramatischen Texte stellen dramatische Mittel dar, durch welche sich die Reflexion über Raum und Zeit artikuliert, ehe sie dann in verschiedene Richtungen interpretiert werden kann. Sofern diese Chronotopoi als Räume-Nicht Hier und Zeiten-Nicht Jetzt (als Raum-Zeiten der Absenz; als absente Raum-Zeiten) konstituiert und gestaltet werden, verhalten sie sich zugleich selbstreflexiv, indem sie immer das text- und genrespezifische Absenz-Momentum herausstellen, und dies ist meines Erachtens die Eigenschaft, die sie auszeichnet. 30 Ein kurzer Exkurs zu den in der Arbeit diskutierten Aufführungen Bondys ist hier nötig: Ihre Auszeichnung besteht nämlich entsprechend darin, dass sie nicht bloß Präsenz auf der Darstellungsebene und als Zeichen zur Erzeugung diverser Bedeutungen instrumentalisieren, sondern zugleich immer die genrespezifische Präsenz mitreflektieren. In diesem
30 Exemplarisch hierfür steht die 3. Szene des II. Akts in Die Zeit und das Zimmer (341-342) des Dialogs Maries mit der Säule, die in diesem Sinne gelesen werden könnte: Die (gemeinte) Stimme, das Sprechen des Dings repräsentiert bzw. stellt hier nicht nur Absenz dar, sondern performiert Absenz (ihr Da- und Sosein ist Absenz schlechthin); dem Raum, zu dem die Säule gehört, wird Text zugeteilt und diese Tatsache lässt Absenz vervielfältigen: Durchs Sprechen unterstreicht das Raum-Ding sein Nicht-Hier und Nicht-Jetzt; der Text, der vom Raum-Ding gesprochen wird, hinterfragt sich selbst, indem er sich von der letzten Bastion der „Präsenz“ (i.e. der Person) loslöst. Diese Szene insgesamt stellt nicht nur einen absenten Chronotopos dar, sondern stellt ihn vielmehr heraus, indem sie den einzigen zur Verfügung stehenden Code textueller (dramatischer) Artikulation für absent erklärt. 203
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Sinne ist die Begrifflichkeit der Präsenz in den Aufführungen immer auch eine thematische Dimension, sofern die Aufführung über die eigenen Mittel, die sie einsetzt, mitreflektiert. 31 So sind weder die Texte Strauß’ bloß Spiele mit Raum und Zeit noch deren von Bondy inszenierten Aufführungen nur Spiele in Raum und Zeit; 32 vielmehr sind sowohl Texte als auch Aufführungen Spiele durch Raum und Zeit, die zu unterschiedlichen Topoi zu führen vermögen.
Was bleibt? – Eine präsent werdende Präsenz Die der gesamten Arbeit zugrunde liegende These besagte und besagt, dass die Präsenz des szenischen (bzw. theatralen) Ereignisses die spezifische Produktion, Präsentation und Wahrnehmbarmachung von Raum (als Hier) und Zeit (als Jetzt) ist. Wenn Wahrnehmung darüber hinaus nur hier und jetzt möglich ist, dann ist das Theater in seiner vielbeschworenen Präsenz der Topos par excellence der Wahrnehmung von Präsenz, als was es sich gibt. Das Hier (und) Jetzt der Aufführung stellt die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung dar, die sich zuallererst als Wahrnehmung von Präsenz artikuliert bzw. kundtut. Nun erschöpft sich allerdings die Aufführungspräsenz keineswegs in einem bloßen, schweigsamen und uniformen Hier (und) Jetzt, das Unveränderlichkeit und Akinesie suggerieren würde, sondern präsentiert und artikuliert sich vielmehr als präsent werdende Raum-Zeit bzw. präsent werdende Präsenz, ein Attribut, das dem Hier und Jetzt eine genuine Affinität zur Veränderung und Transformation zuschreibt. Die Präsenz des szenischen (theatralen) Ereignisses ist als ein dynamisches, werdendes, stets zu produzierendes Hier (und) Jetzt aufzufassen, das sich stets zu neuen Gestalten zu modifizieren vermag, aber stets nicht anders denn als hier (und) jetzt erlebbar wird. Dies lässt die diversen Formen von Präsenz, die mit diversen Präsenzbegriffen korrespondieren, erklären: Es wurde gezeigt, wie die 31 So könnte zum Beispiel die Entscheidung des Regisseurs, im Schlußchor diverse Rollen mit dem gleichen Schauspieler zu besetzen und so die zeitliche Linearität zugunsten eines währenden Präsens aufzugeben, auch als ein Kommentar zum szenischen Hier und Jetzt gelesen werden: Der Regisseur scheint in der Tat, das „währende Präsens“ (hier in Gestalt des Schauspielers, der ausschließlich in seinem Hier/Jetzt wahrzunehmen ist) der Bühne aufzunehmen, mit ihm aber ein Spiel zu betreiben, das dazu führt, dass dieses Präsens sich gegenüber selbstreflexiv verhält, sich selbst hinterfragt (unter anderem durch die immer wieder verstörende „Identität“ des Schauspielers). 32 Siehe: Prolog, S. 15ff. 204
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Schaffung von (gemeinsamen) Räumlichkeiten den Raum als das Hier des gemeinsamen Moments (Die Fremdenführerin) oder wie eine körperliche Präsenzartikulation den Aufführungschronotopos als ein Präsenzfeld (Die Zeit und das Zimmer) erscheinen ließ; schließlich wie die unzähligen Zeitlichkeiten der Mitglieder einer Menschengruppe das gemeinsame Präsens immer wieder in Frage stellten (Schlußchor). Szenisches Hier (und) Jetzt scheint mehr als lediglich Hier (und) Jetzt zu sein und stellt sich vielmehr als alle möglichen Erlebnisformen von Präsenz dar, die mit dem Theater über ein einzigartiges Instrument verfügen, um sich in ihrer Vielfalt zu artikulieren. Darin würde ich die Einzigartigkeit oder wenn man so will die Magie des Theaters (der Bühne) sehen: Dass es nämlich als einzige Kunstform dazu fähig ist, eine in der Tat andere Erfahrung von Raum und Zeit zu ermöglichen, die sich dem gängigen Vokabular schon des „einfachen“ Sprechens über Raum-Zeit-Erfahrungen widersetzt: Anderswo und hier, früher – jetzt – später bzw. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft gewinnen auf der Bühne eine völlig eigene Bedeutung, die weniger mit ihrem zunächst einschränkend scheinenden Hier und Jetzt und vielmehr mit den ungewöhnlichen Erlebnismöglichkeiten, die dieses Hier und Jetzt bietet, zu tun hat. Präsenzerfahrung im Theater tritt als Subversion ein und zwar schon als Subversion ihrer selbst. Die hier konstatierte Präsenz-Polymorphie, durch welche die Subversion im Theater bzw. auf der Bühne in Gang gesetzt wird, schützt das Theater vor einer metaphysischen Interpretation seiner Präsenz, indem sie jeglichem Anspruch auf Totalität und Einheit widerspricht. Der katexochen durch seine szenische Artikulation zum Tragen kommende Präsenzbegriff, den die Arbeit zugrunde gelegt hat, suggeriert quasi eine haptische Präsenz, sofern sie als Raum-Hier und Zeit-Jetzt regelrecht zum Bühnenmaterial wird. Dieser „postmetaphysische“ Präsenzterminus, der im Theater eher als ein physischer zu begreifen wäre, ist tatsächlich in der Lage, in sich das Beharrende und das Ephemere zu vereinen: Das szenische Hier (und) Jetzt stellt zugleich das mehrfach in der Arbeit konstatierte, nicht wegzudenkende Insistente der Präsenz und das Flüchtige der präsenten Räume und Zeiten dar, durch welche es produziert und präsentiert wird. Das theatrale oder szenische Präsenzkonzept verbleibt stets mit einem Fragezeichen versehen, das keineswegs Grenzen und Einschränkungen setzt, sondern vielmehr stets die Möglichkeit zur Produktion und Generierung neuer Spielräume von Präsenz-Erfahrungen und -Erlebnissen offen hält.
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WIE ABSENZ ZUR PRÄSENZ ENTSTEHT
Ders.: „Die Zeit und das Zimmer“, in: ders.: Theaterstücke II, München, Wien 1991, S. 320-357 – Videoaufzeichnung (Schaubühne am Lehniner Platz) Ders.: „Schlußchor“, in: Spectaculum 55, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 189-230 – Videoaufzeichnung (Schaubühne am Lehniner Platz) Sucher, C. Bernd: „Luc Bondy: Ich inszeniere immer, wie ich empfinde“, in: ders.: Theaterzauberer 2 – Von Bondy bis Zadek, München: Piper 1990, S. 11-31 Tholen, Georg Christoph: „Metaphorologie und Topologie. Zum hybriden Status von Zeit, Raum und Medialität“, in: file://F:\IfM%20%20PublikationenTholen.htm, Zugriff am 31/7/2005 Ders.: „Risse im Gefüge der Zeit. Zur Dekonstruktion von Begriffsbildern“, in: Keller, Ursula (Hg.), Zeitsprünge, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 75-91 Ders./Scholl, Michael O.: „Einleitung: Temporale Zäsuren“, in: dies. (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: Wiley-VCH 1990, S. 1-15 Tziovas, Dimitris: „Von der Zeit zum Raum“, in: To Vima, 16.11.2003 (auf Griechisch) Virilio, Paul: „Der Augenblick der beschleunigten Zeit“, in: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.), Die sterbende Zeit – 20 Diagnosen, Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 249-258 Wellbery, David E.: „Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation“, in: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.), Was heißt „Darstellen“?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 175-204 Wendorff, Rudolf: „Zur Erfahrung und Erforschung von Zeit im 20. Jahrhundert“, in: Paflik, Hannelore (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim: Wiley-VCH 1987, S. 65-84
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Theater Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens Dezember 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-706-6
Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen
Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec Juni 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-909-1
November 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-634-2
Franziska Weber Dimensionen des Denkens Der raumzeitliche Kollaps des Gegenwärtigen. Geistesund naturwissenschaftliche Entwürfe – verifiziert an Martin Kusejs »Don Giovanni« November 2008, ca. 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-8376-1010-9
Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy September 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-891-9
Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater September 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-853-7
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de