BlogLife: Zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs [1. Aufl.] 9783839430279

Why are secrets shared in the virtual space? What motivates talking about personal experiences online - and how media-co

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German Pages 212 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Abstract
Einleitung
1. Methodologische Anmerkungen und Fragestellungen
1.1 Grounded Theory
1.2 Fragestellungen und Datenerhebung
2. Identität – Gesellschaft – Medien
2.1 Identität im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen
2.2 Identität – ein lebenslanges Projekt
2.3 Identität und digitale Medien
2.4 Online-Welten als neue Erfahrungsräume
2.5 Ich bin viele – Das Spiel mit den Identitäten im Spiegel digitaler Medien
2.6 Zusammenfassung
3. Weblogs – Schreiben im Netz zwischen Selbstgespräch und öffentlichem Diskurs
3.1 Blogs – Von der Linksammlung zur multimedialen Plattform
3.2 Bloggen als Praktik: Zur Definition von Weblogs
3.3 Persönliche Online-Journale: Ausgewählte Charakteristika und Besonderheiten
3.4 Statistische Beschreibung der Weblognutzung
3.5 Herausforderung Öffentlichkeit: Entgrenzte Kommunikation in teilöffentlichen virtuellen Räumen
3.6 Bloggen unter dem Schutzmantel der Anonymität
3.7 Nutzungsmotive
3.8 Bloggen als kulturelles Kapital: medienpädagogische Implikationen der Weblognutzung
3.9 Zusammenfassung
4. BlogLife – Das Besondere erzählen. Empirische Ergebnisse
4.1 Kritische Lebensereignisse
4.2 Schlüsselkategorie Öffentlichkeit herstellen
4.3 Schlüsselkategorie Beziehungen gestalten
4.4 Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen
4.5 Zusammenfassung: Bloggen als Copingstrategie bei kritischen Lebensereignissen
5. Fazit und Ausblick
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Anhang
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BlogLife: Zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs [1. Aufl.]
 9783839430279

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Elisabeth Augustin BlogLife

Digitale Gesellschaft

Elisabeth Augustin (Dr. phil.), Medienwissenschaftlerin, arbeitet an der Universität Graz im Bereich Lehrentwicklung sowie als Lehrbeauftragte am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt.

Elisabeth Augustin

BlogLife Zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs

Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung der Kärntner Sparkasse.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: cienpiesnf – Fotolia.com Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3027-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3027-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abstract | 7 Einleitung | 9 1. Methodologische Anmerkungen und Fragestellungen | 19

1.1 Grounded Theory | 19 1.2 Fragestellungen und Datenerhebung | 23 2. Identität – Gesellschaft – Medien | 35

2.1 Identität im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen | 36 2.2 Identität – ein lebenslanges Projekt | 47 2.3 Identität und digitale Medien | 62 2.4 Online-Welten als neue Erfahrungsräume | 64 2.5 Ich bin viele – Das Spiel mit den Identitäten im Spiegel digitaler Medien | 67 2.6 Zusammenfassung | 73 3. Weblogs – Schreiben im Netz zwischen Selbstgespräch und öffentlichem Diskurs | 75

3.1 Blogs – Von der Linksammlung zur multimedialen Plattform | 75 3.2 Bloggen als Praktik: Zur Definition von Weblogs | 81 3.3 Persönliche Online-Journale: Ausgewählte Charakteristika und Besonderheiten | 90 3.4 Statistische Beschreibung der Weblognutzung | 93 3.5 Herausforderung Öffentlichkeit: Entgrenzte Kommunikation in teilöffentlichen virtuellen Räumen | 96 3.6 Bloggen unter dem Schutzmantel der Anonymität | 103 3.7 Nutzungsmotive | 105 3.8 Bloggen als kulturelles Kapital: medienpädagogische Implikationen der Weblognutzung | 117 3.9 Zusammenfassung | 122

4. BlogLife – Das Besondere erzählen. Empirische Ergebnisse | 125

4.1 Kritische Lebensereignisse | 127 4.2 Schlüsselkategorie Öffentlichkeit herstellen | 133 4.3 Schlüsselkategorie Beziehungen gestalten | 147 4.4 Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen | 158 4.5 Zusammenfassung: Bloggen als Copingstrategie bei kritischen Lebensereignissen | 176 5. Fazit und Ausblick | 183 Abbildungsverzeichnis | 187 Literatur | 189 Anhang | 207

Abstract Keywords: weblogs, identity, digital media, media competence, life events Today digital media such as mobile phones or social networking sites are one of the most popular means of communication. Because of everyday usage of digital media for personal communication as well as for professional purposes and political discourse we should have a closer look on how and why people actually use social media tools such as weblogs. Within this volume I will explore why people are blogging about personal topics in case of stressful life events. Furthermore I will investigate the connection between blogging and the process of identity construction. Closing I am going to analyze the significance of readers for bloggers. Weblogs surfaced first on the World Wide Web in the mid-1990s as dynamic websites which mainly provided links to other interesting websites. Since many companies such as blogger.com provide web space and a content management system for free, which is easy to use, not just experts are able to blog, but also people with average computer skills are able to post blog entries on the internet. One of the most outstanding characteristics of weblogs is the fact that they are hybrid in their form. Due to this nature weblogs are open for all kinds of content and different functions and it is up to the blogger how to use them. This means that weblogs hold dangers such as privacy concerns and the blending of personal and professional purposes but as well the opportunity to speak freely and discuss relevant topics with many different people. To answer the research questions mentioned above I carried out an empirical study and questioned eight female and nine male students with an average age of 25 from all over Austria during the years of 2009 to 2011 about their blogging practices during their exchange studies abroad. During the theoretical research I discovered with reference to Barbara Snell Dohrenwend and Bruce P. Dohrenwend (1974) strong evidence for defining

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the exchange study as a stressful life event. The empirical study shows that students abroad have to make strong efforts to adjust to new situations within the unknown everyday world of the chosen foreign country. To analyze and interpret the qualitative data I have made use of the encoding model of Andreas Böhm (2000) and structured the data along the following categories: causes, context and circumstances, actions, consequences. Furthermore I researched emotions which came along with the reported circumstances and actions. In addition to the focus interviews I asked the interview partners to draw an answer to the question: „For me my weblog is…“. These drawings, so called visualizations, provided new meanings in addition to the interview and therefore they are an integral part of the data analyses. During the analysis I discovered the following three main blogging functions relevant to the questioned sample: • • •

To appear in public. Cultivating one’s relationships. Writing during and coping with life events.

Blogging has proved itself as a coping strategy for stressful life events such as an exchange study. By writing for the public bloggers build competences through learning by doing, they also work on their identity, cultivate relationships and cope with new situations in a cognitive and an emotional manner.

Einleitung „Wahrheit ist nunmehr eine Art des Sprechens oder Schreibens, deren Gültigkeit auf eine umgrenzte Lebensform beschränkt ist.“ (GERGEN 2002: 54)

Stellen Sie sich vor, Sie sind ins Ausland übersiedelt und tausende Kilometer trennen Sie von Ihrem bisherigen Wohnsitz, von Ihrer Familie und Ihren Freunden. Ihr Alltag und Ihre Gewohnheiten ändern sich schlagartig und vormals automatisch ablaufende Handlungen wie das Einkaufen im Supermarkt oder das Busfahren in einer fremden Umgebung stellen sich als neue Herausforderungen dar. Welche Bedeutung haben in einer solchen Phase der Veränderung die Social-media-Angebote des World Wide Web wie beispielsweise Weblogs für Individuen? Inwiefern spielt Online-Kommunikation bei einem Umzug eine Rolle als Bewältigungsstrategie und welche Bedeutung hat sie für Identität und Beziehungen eines Menschen? Diese Fragen werden im Laufe der vorliegenden Arbeit theoretisch sowie anhand der empirischen Studie BlogLife aus medienwissenschaftlicher Perspektive beantwortet. Die Verbindung von Ergebnissen aus der Weblogforschung beziehungsweise Online-Forschung mit dem theoretischen Konzept der „kritischen Lebensereignisse“ (Dohrenwend/Dohrenwend 1974) stellt eine Lücke in der bisherigen Forschung dar, die in dieser Arbeit geschlossen wird. Unter einem kritischen Lebensereignis werden in der vorliegenden Arbeit solche Ereignisse im Lebenslauf eines Menschen aufgefasst, die zur Bewältigung herausfordern. Ein Todesfall in der Familie, der Schuleintritt eines Kindes oder ein Umzug können für Menschen Stress bedeuten und deshalb Copingstrategien erfordern. Mit dem Begriff der kritischen Lebensereignisse im Anschluss an die Psychologen Bruce P. Dohrenwend und

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Barbara Snell Dohrenwend (1974) lässt sich die Situation Auslandsaufenthalt als Herausforderung theoretisch fassen.1 Die der Arbeit zugrunde liegenden Forschungsfragen und das Forschungssetting, welches sich an der Grounded Theory orientiert, werden im Methodenteil in Kapitel eins näher ausgeführt. Der Fokus auf Studierende, die während ihres Auslandssemesters ein Weblog betrieben haben, fördert neue empirisch gestützte Erkenntnisse zutage, die gesellschaftlich wie auch politisch relevant sind. Auf sozialer Ebene zeigt sich, dass in der Gegenwartsgesellschaft entwickelter Industrienationen räumliche Mobilität immer mehr an Bedeutung zunimmt. Soziale Beziehungen bleiben davon nicht unberührt. Zunehmend spielt Online-Kommunikation eine Rolle in der Pflege zwischenmenschlicher Kontakte und bei Lernprozessen innerhalb transkulturaler Beziehungsgeflechte. Sozialpolitisch und ökonomisch ist es für Volkswirtschaften bedeutsam, dass sich von Migration betroffene Menschen schnell einleben und mit Veränderungen umzugehen wissen. Bloggen kann, wie aus der Studie BlogLife hervorgeht, als Copingstrategie einen Beitrag zur Bewältigung von Lebensereignissen leisten. Im beruflichen Bereich zeigt sich, dass immer mehr Jobprofile einen Umgang mit digitalen Medien verlangen. Die frühe Ausbildung einer umfassenden Medienkompetenz, die technologisches Fachwissen und kommunikative wie auch soziale und gestalterische Kompetenzen vereint, ist für zukünftige Arbeitssuchende von entscheidender Bedeutung im Wettbewerb am Arbeitsmarkt. Darüber hinaus soll aus medienpädagogischer Perspektive durch einen kompetenten Umgang mit digitalen Medien die Teilhabe an Gesellschaft und Politik gesichert werden, indem Nutzerinnen und Nutzer in die Lage versetzt werden, an gesellschaftspolitischen Diskursen im Netz zu partizipieren und ihre Meinung in einem demokratischen Prozess der Aushandlung von Positionen zu artikulieren und ihre Interessen zu vertreten. Noch vor 15 bis 20 Jahren wäre in der Forschung die Frage nach der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen gänzlich anders gestellt worden. Die zunehmende Mediatisierung erfordert es, Fragen nach Identität und Beziehungen, nach Kommunikation und Lebensereignissen heute auch aus medienwissenschaftlicher Perspektive zu stellen, werden digitale Medien schließlich immer stärker in den Alltag vieler Menschen integriert.

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Eine theoretische Definition der Begriffe kritische Lebensereignisse und Coping folgt in Kapitel vier.

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Mit dem offenen (Prozess-)Begriff der Mediatisierung beschreibt der Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Friedrich Krotz die zunehmende Bedeutung von Medien für den Alltag in sämtlichen Lebensbereichen wie der Arbeit, der Freizeit, den Beziehungen, dem Spiel, der Unterhaltung und der Politik wie folgt: „Die Medien spielen für Alltag und soziale Beziehungen der Menschen, für ihr Wissen, Denken und Bewerten, ihr Selbstbild und ihre Identität, für soziale Institutionen und Organisationen und insgesamt für Kultur und Gesellschaft eine zunehmend wichtigere Rolle.“ (Krotz 2007: 32)

Medien2 definiert Krotz als „technische Institutionen, über die bzw. mit denen Menschen kommunizieren“ (Krotz 2007: 37). Durch soziale und kulturelle Praktiken werden Medien zu auf Technik beruhenden gesellschaftlichen Institutionen. Die vorliegende Arbeit wendet sich einer dieser gesellschaftlichen Institutionen zu: Weblogs Weblogs entstanden im Laufe der 1990er Jahre als kommentierte Linklisten im World Wide Web, die auf verschiedene Internetseiten verwiesen. Heute nehmen Weblogs die Funktion von dynamischen Websites ein. Durch gratis Webhost-Anbieter wie Blogger.com oder WordPress.com und einfach zu bedienende Benutzeroberflächen ist es inzwischen nicht nur ExpertInnen, sondern auch einer breiten Bevölkerungsschicht mit durchschnittlichen Computerkenntnissen möglich, rasch und mit wenig Aufwand Inhalte in Form von Texten, Bildern, Videos und Links online zu verbreiten. Neben Firmenblogs und journalistischen Weblogs gibt es eine unüberschaubare Anzahl privat geführter persönlicher Weblogs, sogenannte Online-Journale. Weblogs zeichnen sich durch ihre Veränderbarkeit und ihre hybride Form aus, insofern sich berufliche wie auch persönliche Interessen in den Einträgen vermengen können und die Online-Kommunikation via Weblogs in einem Bereich zwischen öffentlicher und privater Kommunikation stattfindet. In der jeweiligen Nutzungspraktik entstehen durch individuelle Anpassung wie auch durch soziale Aushandlungsprozesse vielfältige Subgenres. Eines dieser Subgenres sind persönliche Online-Journale von

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Der Medienbegriff von Krotz (2007) ist geeignet, um im vorliegenden Band Weblogs als soziale und kulturelle Praktik zu fassen. Eine weiterführende Definitionsdiskussion erfolgt in Kapitel drei.

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Auslandsstudierenden, die im Folgenden im Zentrum des Forschungsinteresses stehen.3 Die anonym geführten Weblogs von Sabine (http://sabinein-eindhoven.blogspot.co.at/) und Mike (http://newzealandmike.wordpress .com/) sind Beispiele für Online-Journale von Auslandstudierenden und illustrieren den hybriden Charakter von Weblogs. Reiseberichte und Erfahrungen mit dem Studium im Ausland stehen im Weblog gleichwertig nebeneinander mit Erzählungen aus dem Alltag und Kommentaren zu Politik oder Wirtschaft.4 Kultur und Technik stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Technologien entstehen innerhalb bestimmter kultureller Kontexte und tragen gleichsam deren Handschrift. Sie verkörpern Ideen sowie Werte und eröffnen Handlungsmöglichkeiten, welche in der Umsetzung sowohl durch die eingesetzten Technologien geprägt wie auch kontingent, im Sinne von frei gestaltbar, sind. Neu entwickelte Technologien legen häufig eine bestimmte Art der Nutzung nahe, indem sie das Handeln von Menschen und Gruppen rahmen. Immer kleiner werdende Laptops, öffentlich zugängliche WLAN-Hotspots oder auch internetfähige Mobiltelefone verändern unsere Kultur und kulturelle Praktiken, wovon auch das Schreiben betroffen ist. Bereits Mitte der 1990er Jahre wies Jay D. Bolter darauf hin, wie jede Epoche ihre eigenen Lese- und Schreibpraktiken ausbildet. (vgl. Bolter 1997: 37f.) So entstanden durch das zuvor in Verbreitung begriffene World Wide Web Mitte der 1990er Jahre Weblogs. Das Medium Weblog brachte neue Formen computervermittelter Kommunikation hervor, veränderte individuelle Schreibpraktiken und wirkte auf Diskurse über Expertentum und Journalismus ein. Auf veränderte Schreibpraktiken verweist Dirk von Gehlen in seiner essayistischen Zeitdiagnose in der Süddeutschen Zeitung im Jahre 2009. Er schreibt: „Früher verschickte man als Beweis für den Aufenthalt in der Fremde eine Urlaubspostkarte, heute lädt man die digital fotografierten Reisebilder ins Netz.“ (Gehlen 2009)

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Eine umfassende Begriffsdefinition und einen Überblick über die historische Entwicklung von Weblogs bietet Kapitel drei.

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Aus forschungsethischen Gründen wurden die Weblogs von Sabine und Mike für die vorliegende Arbeit nicht systematisch untersucht, noch wurden mit ihnen Interviews geführt. Die Weblogs sind im Internet frei zugänglich und für jede/jeden auffindbar. Die VerfasserInnen bloggen unter ihren Vornamen, sind im Weblog jedoch visuell repräsentiert, weshalb Anonymität nicht zur Gänze gegeben ist.

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Neue Formen der Kommunikation verdrängen althergebrachte jedoch nicht zur Gänze, denn sie treten im Verbund mit bisher genutzten Medien auf. Kommunikation erfährt online eine Ausweitung im Sinne einer Ergänzung im Hybridmedium Internet, worauf Friedrich Krotz wie folgt verweist: „Es ist ja gerade ein Kennzeichen des Internets und dessen Kommunikationsmöglichkeiten, dass dort die unterschiedlichsten Arten von Kommunikation stattfinden – deswegen wird es ja als Hybrid-, oder Metamedium (Höflich 1994, 1995, 1997) oder als ein umfassender elektronisch mediatisierter Kommunikationsraum (Krotz 1995) bezeichnet.“ (Krotz 2007: 35)

Computervermittelte Kommunikation erfährt nach Krotz eine Entgrenzung in Bezug auf ihre zeitliche, räumliche und soziale/situative Dimension. (vgl. Krotz 2007: 96) Diese drei Dimensionen sind im Hinblick auf Weblogs wie folgt relevant: Zeitlich asynchron ermöglichen Weblogs Kommunikation unabhängig von Zeitzonen und Lebensrhythmen. Elektronische Geräte wie Laptops und Mobiltelefone entbinden uns räumlicher Grenzen und eröffnen uns die Möglichkeit, rasch mit Menschen, unabhängig vom jeweiligen Standort, global zu kommunizieren. Auf sozialer beziehungsweise situativer Ebene ist eine Ausweitung von Situationen, Kontexten und Motiven zu bemerken, in denen medienvermittelt kommuniziert wird. Soziale Beziehungen werden gegenwärtig in entwickelten Industrienationen, die durch Globalisierung, gesteigerte Mobilität und Enttraditionalisierung geprägt sind, zunehmend mithilfe von Medien aufrechterhalten, was in der vorliegenden Studie deutlich zutage tritt. Bereits in den 1990er Jahren hat Sherry Turkle (1998) den Computer und Internetanwendungen (zB. Chats und Online-Rollenspiele) als neues Ausdrucksmittel und identitätsrelevante Praktik beschrieben. Anonym oder unter Angabe persönlicher Daten können sich Menschen online darstellen, können zeigen, wie sie selbst sind oder sein wollen, können verschiedene Rollen experimentell und spielerisch ausprobieren und sich durch die eigene Medienproduktion als Objekt gespiegelt erleben. Seit diesen frühen Studien von Turkle ist eine Ausweitung und Dynamisierung der Online-Kommunikation zu verzeichnen. Laut Statistik Austria waren im Jahr 2012 80 Prozent der Befragten online.5 In-

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Befragt wurden 5.100 Personen aus 3.500 Haushalten im Alter von 16 bis 74 Jahren im zweiten Quartal im Jahr 2012.

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nerhalb dieser Gruppe der „Onliner“ nutzten 75 Prozent das Internet nahezu täglich. (vgl. Statistik Austria 2013: 10). Bei Mehrpersonenhaushalten (vier Haushaltsmitglieder) und Haushalten mit Kindern stieg die Zahl der Haushalte mit Internetanschluss auf 96 beziehungsweise 97 Prozent an. Websites oder Weblogs erstellten laut Statistik Austria im Jahre 2012 zehn Prozent der InternetnutzerInnen. Innerhalb der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen zeigt sich mit 18 Prozent eine deutlich höhere Weblognutzung als bei der Grundgesamtheit der „Onliner“. (vgl. Statistik Austria 2013: 19) Eine große Relevanz von nutzergenerierten Inhalten im Netz bei der heranwachsenden Generation kann aus der Statistik abgeleitet werden. Empirische Studien, die sich mit Weblogs auseinandersetzen, beschäftigen sich häufig mit journalistischen/demokratiepolitischen und organisationalen Fragen, etwa: Inwieweit ermöglichen Weblogs Gegenöffentlichkeiten? Welchen Qualitätskriterien soll BürgerInnen-Journalismus folgen? Wie können Weblogs sinnvoll für Marketing, die interne Kommunikation und die KundInnenkommunikation genutzt werden? Im Kontext von Internetzensur und Revolution zeigt sich die Bedeutung von Weblogs für Demokratisierungsprozesse, da sie als Werkzeug zur freien Meinungsäußerung dienen können, worauf unter anderem der freiberufliche Software-Entwickler, Autor und KommunikationsDesigner Alvar Freude verweist: „Blogs sind in vielen undemokratischen Staaten eine der wenigen Möglichkeiten, Informationen, Wissen und Meinungen abseits der offiziellen Staatspropaganda auszutauschen.“ (Freude 2011: 71) Klaus Schönberger kritisiert diese Schwerpunktsetzung auf Journalismus und Demokratie als eine perspektivische Verengung des Forschungsinteresses. Es fehlen, so der Autor, sowohl historische Perspektiven sowie auch Genderdimensionen in den Analysen. (vgl. Schönberger 2008: 1) Gestützt wird die Kritik von Schönberger am Forschungsstand zu Weblogs von der Tatsache, dass ein Großteil der Weblogs sich tagebuchartig mit persönlichen Erlebnissen der Verfasserin/des Verfassers auseinandersetzt, wobei die adressierte Zielgruppe häufig ein kleines Publikum von Freunden und Verwandten ist, worauf Nardi ua. mit Bezug auf deren empirische Studie wie folgt hinweisen: „[…] the vast majority of blogs are written by ordinary people for much smaller audiences.“ (Nardi ua. 2004: 41) Mit massenmedialen Produkten wie Tageszeitungen sollten diese privat geführten Weblogs deshalb nicht verglichen werden, eine Differenzierung des Forschungsgegenstandes ist notwendig, denn schließlich werden rund zwei Drittel der im Internet zugänglichen Weblogs als persönliche Online-

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Journale jenseits journalistischer Intentionen geführt, wie Studien von Klaus Schönberger (2008) und Jan Schmidt (2006) verdeutlichen. Dass persönliche Weblogs innerhalb der Blogosphäre überrepräsentiert sind, werde, wie eine Studie von Herring u.a. (2005) verdeutlicht, in der Forschung häufig vernachlässigt. Die Autorinnen halten kritisch fest: „Notably, blog authors, journalists and scholars alike exaggerate the extent to which blogs are interlinked, interactive, and oriented towards external events, and underestimate the importance of blogs as individualistic, intimate forms of self-expression.“ (Herring/Scheidt/Wright/Bonus 2005: 142)

Um den Tagebuchcharakter zu betonen, werden privat geführte Weblogs mit Fokus auf persönliche Erlebnisse häufig als Online-Journale bezeichnet. Für Jan Schmidt handelt es sich bei dieser Form von privat geführten Weblogs um die Sammlung von persönlichen Eindrücken und Erlebnissen ohne Anspruch auf öffentliche Relevanz. Er definiert private Weblogs mit persönlichem Fokus wie folgt als Online-Journal: „Dieser Typ soll im Folgenden als ‚Online-Journal‘ bezeichnet werden;“ (Schmidt 2006: 69). Für die VerfasserInnen persönlicher Online-Journale sind Weblogs durch die Integration in den Tagesablauf und durch die Relevanz für Beziehungen und Identitätsarbeit von Bedeutung, weshalb Online-Journale in der Forschung nicht vernachlässigt werden dürfen. Im Weblog reflektieren NutzerInnen ihre Erlebnisse wie auch Selbstentwürfe, pflegen Beziehungen und bilden aufbauend auf ihren Erfahrungen Wissen und Kompetenzen aus. Studien zur Weblognutzung müssen deshalb aus der Perspektive der NutzerInnen nach den individuellen Praktiken des Bloggens und nach den Nutzungsmotiven im Kontext sozialen Handelns fragen. Erkenntnisinteresse Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, welche Motive es für das Betreiben eines privat geführten Weblogs bei kritischen Lebensereignissen gibt.6 Die Frage nach Blogpraktiken und Nutzungmotiven wird im Rahmen der allgemeineren Frage nach der Bedeutung des Bloggens für die Identitätsarbeit beantwortet. Im Sinne der Grounded Theory nach Anselm Strauss

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Für eine detaillierte Beschreibung der Forschungfragen siehe Kapitel eins.

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und Juliet Corbin (1996) zielt die Untersuchung auf eine in der Empirie verankerte Theoriebildung ab, welche die Nutzungsmotive von Weblogs im Zuge eines Studierendenaustausches erklärt. In einem weiteren Schritt werden die Ergebnisse nutzbar gemacht, um den Umgang von Menschen mit Social-media-Tools, insbesondere bei kritischen Lebensereignissen, zu erklären. Empirische Basis zur Beantwortung der Forschungsfragen sind 17 qualitative Leitfadeninterviews mit Studierenden aus Österreich. Die durchschnittlich 25-jährigen Studierenden absolvierten im Rahmen ihres Studiums ein Auslandssemester und führten währenddessen ein Weblog. Ergänzend zu den halbstandardisierten Interviews wurde die Methode der Visualisierung eingesetzt, bei welcher die Befragten eine Antwort auf die Impulsfrage „Mein Weblog ist für mich [...]“ zeichneten. Das Sample ist teils durch direkte Anfrage über das Weblog und teils selbstrekrutierend im Zuge einer E-Mail-Aussendung an Austauschstudierende entstanden. Von einem speziellen Interesse der Befragten an Weblogs kann aufgrund des selbstrekrutierenden Settings ausgegangen werden. Die Weblogs der InterviewpartnerInnen fließen nicht in die Untersuchung mit ein. Einerseits geschieht dies, um die Anonymität der BloggerInnen zu gewährleisten, andererseits hat sich die Datensammlung durch Interviews für die Beantwortung der Forschungsfragen als zielführend erwiesen. Kommunikative Praktiken und Nutzungsmotive traten in der anschließenden Analyse der Interviews deutlich hervor. Auch konnte im Interview thematisiert werden, was im Weblog ausgespart worden ist und wie sich Beziehungen und Kommunikationsformen sowie Routinen während des Schreibens im Zuge des Auslandsaufenthalts verändert haben. Praktiken des Bloggens und Nutzungsmotive von Weblogs stehen im Zentrum dieser Arbeit. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass Bloggen keine isolierte Praktik ist, sondern Bloggen im Verbund einer vielfältigen Mediennutzung stattfindet. Bloggen findet im Kontext einer umfassenden Mediatisierung, Globalisierung und einer „Privatisierung der Öffentlichkeit“ (Klaus 2001: 15) statt. So zeigt Elisabeth Klaus den Trend zur medialen Sichtbarmachung des vormals Privaten am Beispiel von Fernsehformaten wie den Daily Talks auf und diagnostiziert das verstärkte Eindringen des Privaten in den öffentlichen Raum. Klaus kommt zu dem Schluss: „Die Thematisierung des Privaten, Intimen, Tabuisierten in den Medien hat Konjunktur.“ (Klaus 2001: 15) Der vorliegende Band bietet zunächst einen Überblick über die Forschungsmethoden und Fragestellungen (Kapitel eins). Im Anschluss wird der Zusammenhang von

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Identität und digitalen Medien (Kapitel zwei) diskutiert sowie ein Überblick über den Forschungsstand der Weblogforschung (Kapitel drei) geboten, wobei der Fokus auf persönlichen Online-Journalen und für die empirische Studie BlogLife zentralen Aspekten liegt. Im empirischen Teil der Publikation (Kapitel vier) setze ich mich theoretisch mit kritischen Lebensereignissen auseinander und stelle die Forschungsergebnisse der durchgeführten Untersuchung BlogLife vor. Ein geschlechtersensibler Sprachgebrauch wird durch geschlechtsneutrale Formulierungen wie zum Beispiel ‚Studierende‘, durch Beidnennung und die Verwendung des Binnen-I umgesetzt.

1. Methodologische Anmerkungen und Fragestellungen Im folgenden Kapitel werden das methodische Vorgehen sowie grundlegende erkenntnistheoretische Annahmen dieser Arbeit erörtert. Die Wissenschaftlichkeit einer qualitativen Forschung ist abhängig von der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, weshalb an dieser Stelle der Beschreibung der Methode, der Fragestellungen sowie der Datenauswertung ein besonderes Augenmerk geschenkt wird.

1.1 G ROUNDED T HEORY Die Grounded Theory als ein Forschungsstil zielt ab auf eine schrittweise aus dem Datenmaterial heraus begründete Theoriegenese. Diese gegenstandsverankerte Theoriebildung geht zurück auf die Autoren Anselm Strauss und Barney Glaser, welche die Grounded Theory Anfang der 1960er Jahre begründeten. Eine einheitliche Forschungsrichtung gibt es innerhalb der Grounded Theory nicht und eine eigene Richtung nach Barney Glaser hat sich herauskristallisiert. Der methodische Ansatz nach Strauss und Corbin wird wie folgt definiert: „Eine ‚Grounded‘ Theory ist eine gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchte Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt.“ (Strauss/Corbin 1996: 7f.)

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Ein Forschungsdesign nach der Grounded Theory fordert zunächst einen offenen Zugang zum Forschungsgegenstand. Diese Offenheit soll gewährleisten, dass die Forscherin/der Forscher nicht nur bereits Bekanntes (wieder)entdeckt, sondern dass das Spezifische des untersuchten Gegenstandes und Neues beschrieben werden können. Ausgangspunkt für die vorliegende Forschungsarbeit ist das persönliche Interesse der Forscherin an Weblogs. In einer sehr offenen ersten Forschungsphase verschaffte ich mir einen weiten Überblick über die bereits bearbeiteten Themengebiete im Hinblick auf Weblogs. Es zeigte sich, dass persönliche Online-Tagebücher einen Großteil der Weblogs innerhalb der Blogosphäre ausmachen, in der Forschung jedoch das Hauptaugenmerk gelegt wird auf gesellschaftspolitische Implikationen und die Rolle von Weblogs für die Unternehmenskommunikation. Im weiteren Forschungsprozess bin ich immer wieder auf Weblogs gestoßen, in denen sich Studierende über die Erfahrung eines Auslandsaufenthalts im Zuge des Studiums austauschen. Primär fiel auf, dass diese Blogs insbesondere zu Beginn stark frequentiert werden, die Einträge in vielen Fällen jedoch, je weiter das Austauschsemester fortgeschritten ist, immer weniger werden und häufig sogar völlig verebben. Diese Beobachtung legte die Vermutung nahe, dass sich Bedeutung und Funktionen der Weblogs im Laufe des Auslandsaufenthalts für die Studierenden verändern. An dieser Stelle der Forschung kristallisierten sich erste Vorannahmen heraus. Eine dieser Annahmen ist, dass das Weblog insbesondere in Anfangssituationen eine Bedeutung besitzt und dann von Nutzen ist, wenn alte Routinen wegfallen und neue noch nicht zur Gänze ausgebildet sind. Strömt viel Neues auf die Studierenden ein, so bedarf es eines Mehr an Reflexion und Orientierung. Ein Weblog kann, so die erste Annahme, unterstützend wirken. Im Unterschied zu quantitativen Methoden stehen zu Beginn einer Forschung entlang der Prinzipien der Grounded Theory keine zu beweisenden oder zu falsifizierenden Hypothesen und Theorien. Strauss und Corbin führen den Forschungsprozess wie folgt aus: „Am Anfang steht nicht eine Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen.“ (Strauss/Corbin 1996: 8)

Diese Ausrichtung der Grounded Theory mit der starken Betonung des strukturierenden Moments des empirischen Materials vernachlässigt meines

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Erachtens nach, dass ein Herangehen an einen Forschungsgegenstand ohne Vorannahmen und theoretische Kenntnisse nicht wahrscheinlich ist. So spiegeln bereits die Auswahl und Themenstellung spezifische Interessen und Vorannahmen wider. Auch kann eine frühe theoretische Beschäftigung den Blick für Phänomene in der Empirie schärfen und zu einer sinnvollen Eingrenzung des Feldes beitragen. Zwar weisen Strauss und Corbin an verschiedenen Stellen immer wieder auf das Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie hin, jedoch ist die theoretische Auseinandersetzung bei der Datenauswertung unterrepräsentiert und geht in der Betonung der Bedeutung des empirischen Materials unter. An dieser Stelle möchte ich deshalb darauf hinweisen, dass das Literaturstudium und die theoretische Beschäftigung mit Weblogs von Anfang an stark in den Forschungsprozess eingebunden waren und sich diese Vorgehensweise als zielführend herausstellte. Es zeigte sich, dass insbesondere beim selektiven Kodieren eine Berücksichtigung der Theorie hilfreich ist, um die eigenen Ergebnisse im Kontext bereits publizierter Studien zu betrachten. Die Kritik am Verhältnis von Theorie und Empirie in der Konzeption der Grounded Theory referiert der Soziologe Siegfried Lamnek (2005) wie folgt: „Die naiv-empiristische Tabula-rasa-Vorstellung, wonach zu Beginn einer Untersuchung begrifflich-theoretische Konzepte quasi aus dem Datenmaterial emergieren, wird kritisiert, da es keine Wahrnehmung gibt, die nicht von Erwartungen durchsetzt ist […].“ (Lamnek 2005: 115)

Ziel einer Forschungsarbeit im Sinne der Grounded Theory ist die Formulierung einer stimmigen, allgemeingültigen, verständlichen und kontrollierbaren Theorie. An diesen vier Gütekriterien habe sich eine gegenstandsverankerte Theorie zu messen. (vgl. Strauss/Corbin 1996: 8) Eine gute Theorie vermag Handlungen und Prozesse zu konzeptualisieren, sprich zu beschreiben und zu interpretieren, sowie relevante Beziehungen zwischen den Konzepten aufzuzeigen. (vgl. Strauss/Corbin 1996: 23) Im Sinne der Grounded Theory ist angestrebt, nicht lediglich zusammenzufassen und abzubilden, sondern zu kontextualisieren und zu erklären. Christina Schachtner weist auf die Relevanz einer Interpretation innerhalb verstehender Forschungsansätze wie folgt hin:

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„Wissenschaftliche Interpretation ist gefordert, den tieferen Sinn eines Ausdrucks zu identifizieren, durch den soziale Phänomene sinnvoll werden. Sie muss folglich Interpretationsangebote machen, die wesentlich nicht mit dem Explicandum übereinstimmen, aber zum besseren Verständnis sozialer Phänomene beitragen.“ (Schachtner 2005: 131)

Idealerweise wird der Forschungsgegenstand durch die enge Verwebung von empirischen Ergebnissen und theoretischen Erkenntnissen erschlossen. So können einerseits bestehende Theorien auf einen neuen Gegenstand angewendet werden, andererseits bleibt genügend Freiraum und Offenheit bestehen zur Entwicklung neuer Theorien aus dem empirischen Material heraus. Erkenntnistheoretisch ist die Grounded Theory am amerikanischen Pragmatismus und der Chicagoer Schule angelehnt. ‚Realität‘ wie auch Theorien befinden sich demnach in einem ständigen Herstellungsprozess. Theorien entstehen erkenntnistheoretisch in diesem Sinne immer aus einer bestimmten sozial geprägten Perspektive heraus. (vgl. Strübing 2004: 38) Universalität der Theorien, so betont der Soziologe Jörg Strübing, ist aufgrund der erkenntnistheoretischen Prämissen ausgeschlossen: „Weil Theorien nicht Entdeckungen (in) einer als immer schon gegeben zu denkenden Realität, sondern beobachtergebundene Rekonstruktionen repräsentieren, bleiben auch sie der Prozessualität und Perspektivität der empirischen Welt unterworfen [...]“ (Strübing 2004: 39)

Aufgrund des Fokus der nach Strauss und Corbin beschriebenen Grounded Theory auf die Generierung einer Theorie aus empirischen Daten heraus, wird deren Zugang häufig als verkürzt und unreflektiert induktiv kritisiert. Das Vorwissen aus Erfahrungen der Forschenden und aus dem Studium von Fachliteratur sowie kreative Prozesse bei der Ausarbeitung der Theorien werden erkenntnistheoretisch und methodologisch zu wenig beachtet. Pointiert formuliert Strübing die Kritik an der Vernachlässigung kreativer Theoriebildung innerhalb der Grounded Theory, wie aus folgendem Zitat hervorgeht: „Die Notwendigkeit der aktiven Kreation neuer Bedeutungen und Zusammenhänge in Auseinandersetzung mit empirischen Daten wird erst gar nicht thematisiert, eine Rehabilitation von Kreativität im Forschen findet nicht statt.“ (Strübing 2004: 55)

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Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung müssen als Sinnkonstruktionen und perspektivisch verstanden werden. „Forschungsergebnisse sind [...] Konstruktionen von Konstruktionen, welche jeweils aktiv erzeugt werden.“ (Roth-Ebner 2008: 57), schreibt die Medienwissenschaftlerin Caroline Roth-Ebner.

1.2 F RAGESTELLUNGEN UND D ATENERHEBUNG 1.2.1 Forschungsfragen Der vorliegende Band zielt auf die Erforschung der Bedeutung des Phänomens Bloggen für die Identitätskonstruktion von BloggerInnen. Herausgearbeitet wird insbesondere, welche Motive es für das Führen eines persönlichen Weblogs bei kritischen Lebensereignissen gibt. Folgende drei Fragestellungen leiten das Erkenntnisinteresse im Forschungsprozess: • • •

Welche Motive gibt es für das Führen eines Weblogs bei kritischen Lebensereignissen? Welche Bedeutung hat das Führen eines Weblogs im Rahmen der Identitätsarbeit? Welche Rolle haben die LeserInnen für die BloggerInnen?

Die Forschungsfragen dienen insbesondere dazu, den Blick der Forscherin im Datenmaterial auf relevante Aspekte zu lenken und Ergebnisse im Hinblick auf die anfänglich gestellten Fragen abschließend bündeln zu können. Da das empirische Feld der Weblogforschung durch eine große Diversität charakterisiert ist, ist eine solche Einschränkung besonders wichtig, um prägnante und stimmige Ergebnisse zu erhalten. Stellen sich im Prozess der Forschung allerdings andere Facetten als bedeutsam heraus, so werden diese an geeigneter Stelle thematisiert. Schließlich sollen die aufgeworfenen Fragestellungen den Blick auf Phänomene schärfen und nicht verstellen. 1.2.2 Datenerhebung: Qualitative Leitfaden-Interviews Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde eine eigenständige empirische Studie durchgeführt. Darüber hinaus nimmt die vorliegende Publikati-

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on auf theoretische Konzepte und andere empirische Studien Bezug. Theoretisch beziehe ich mich vor allem auf kultur- und medienwissenschaftliche Publikationen zu den Themen Identität, Medien und Identität, digitale Medien und Postmoderne. Medienpädagogische und (sozial-)psychologische Ansätze vervollständigen den theoretischen Rahmen und bieten Erklärungen an für die Frage nach der Mediennutzung bei kritischen Lebensereignissen. In den Jahren 2009 bis 2011 führte ich 17 qualitative Leitfadeninterviews. Danach konnte eine Sättigung des Materials bemerkt werden. Die frühe Sättigung ist auf den thematisch sehr fokussierten Frageleitfaden und die relativ homogene Zielgruppe zurückzuführen. Die InterviewpartnerInnen aus Österreich (Graz, Klagenfurt, Linz und Wien) sind Studierende verschiedener Studienrichtungen, die im Rahmen ihres Studiums einen Auslandsaufenthalt (ein oder zwei Semester) absolviert und im Zuge dessen ein Weblog geführt hatten. Interviewt wurden acht Frauen und neun Männer. Neun der 17 InterviewpartnerInnen lebten zum Zeitpunkt der Befragung in Klagenfurt/Kärnten, fünf in Graz, zwei in Wien und ein Teilnehmer in Linz. Das Durchschnittsalter der interviewten Studierenden betrug 25 Jahre (statistischer Mittelwert). Der Median ergab einen Wert von 24 Jahren. Bei der Interpretation der Interviews sind alle Namen anonymisiert worden. Zwar sind die Weblogs im Internet prinzipiell frei zugänglich, jedoch wurden diese nicht mit der Intention verfasst, für in die Tiefe gehende wissenschaftliche Analysen offen zu stehen. Mit dem Umgang der Wissenschaft mit im Internet zugänglichen Daten, Texten, Bildern und Profilen muss sich nicht nur die Weblogforschung beschäftigen, die gesamte Onlineforschung steht vor neuen forschungsethischen Fragen. ForscherInnen sind gefordert, einen angemessenen Weg im Umgang mit frei zugänglichen Daten zu gewinnen. Meinen InterviewpartnerInnen stand es frei, mir den Link zu ihren Weblogs zu geben. Um die Anonymität meiner InterviewpartnerInnen zu wahren, werden die Links zu den Weblogs in dieser Arbeit nicht aufgeführt. Die Interviews fanden in Universitätsräumlichkeiten in Klagenfurt, Graz und Wien oder auch in den Wohnungen der Interviewten in Graz und Linz statt und dauerten zwischen 30 und 60 Minuten. Alle Gespräche wurden von mir persönlich geführt, auf Tonband aufgezeichnet und im Anschluss daran von zwei fachkundigen Personen transkribiert. Aufgrund des Umfangs sind die Interviewtranskriptionen nicht beigefügt. Zentrale Passagen aus den Interviews, die der Argumentation dienen, werden an den entsprechenden Stellen als Belege angeführt. Das Sample in der vorlie-

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genden Studie ist selbstrekrutierend. Ich erhielt durch die Büros für Internationale Beziehungen (BIB) der Universitäten Klagenfurt, Graz und der Technischen Universität Graz die Möglichkeit, mich per E-Mail an Austauschstudierende zu wenden. Mit allen Personen, die sich daraufhin gemeldet hatten und den Kriterien entsprachen, führte ich im Anschluss die Interviews. Einzelne Interviewtermine kamen durch eine Kontaktaufnahme von mir über die geführten Weblogs zustande. Die selbstrekrutierende Interviewanbahnung stellte sich im Forschungsprozess als Vorteil heraus. Es zeigte sich, dass jene Personen, die sich auf die E-Mail-Anfrage hin gemeldet hatten, sich stark für das Thema Weblogs interessierten und somit auskunftsbereit und aufgeschlossen waren. Ein Gesprächsbedarf über die Themen Auslandssemester sowie über die Nutzung digitaler Medien ist festzustellen. Für qualitative Interviews spricht, dass nur durch intensive Gespräche die subjektiven Bedeutungszuschreibungen und Nutzungsmotive herausgearbeitet werden können. Der Vorteil qualitativer Interviews liegt darin, dass diese kommunikative Prozesse und Beziehungsgeflechte über die Weblognutzung hinaus sichtbar machen können. So trat die Relevanz der Anschlusskommunikation über andere Medien wie das Mobiltelefon bzw. Smartphone, Chatprogramme wie Skype oder Kommunikation faceto-face erst in den Interviews zutage. Phänomene wie die Wirkung von Kommentaren und Feedback auf Blogeinträge sind über Interviews gut zu erfragen. Zudem wurde deutlich, dass Bloggen stets nur ein Element im kommunikativen Verbund einer vielfältigen Mediennutzung darstellt. Eine ausschließliche Analyse von Weblogs hätte sehr wahrscheinlich den Blick für diese spannenden Aspekte nicht freigeben können. Bei den von mir geführten problemzentrierten (fokussierten) Interviews handelt es sich um eine offene, halbstrukturierte Befragung, die Philipp Mayring wie folgt beschreibt: „Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurückkommt.“ (Mayring 2002: 67)

Die Transkriptionsregeln Bei der Transkription der Interviews werden die Namen der InterviewpartnerInnen anonymisiert. Um eine weitgehende Anonymität zu gewährleis-

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ten, ist es notwendig, die in den Interviews erwähnten Weblogs nur in abgekürzter Form wiederzugeben. Generell wird die mündliche Umgangssprache in eine verständliche Schriftform übertragen. Sich wiederholende Füllwörter werden gestrichen. Auslassungen im Text sind mit dem Zeichen […] markiert. Unverständliche Passagen sowie Handlungen und Anmerkungen werden in Klammern notiert. Kürzere Pausen werden nicht weiter berücksichtigt. Längere gedankliche Pausen werden vermerkt. Der Interviewleitfaden Sollen subjektive Sinnzusammenhänge erschlossen werden, eignet sich das themenzentrierte Leitfadeninterview als Befragungsinstrument. Diese qualitative Interviewform hat durch den thematischen Fokus den Vorteil, dass die Daten sehr dicht und von großer Relevanz im Hinblick auf die Themenstellung sind. Gleichzeitig ist dieses Erhebungsverfahren offen genug, um als Gespräch realisiert zu werden und die für die Interviewten relevanten Themen und Bedeutungskonstruktionen im Kontext des Forschungsgegenstandes zu Tage zu fördern. Der Leitfaden wurde von mir während der Interviews als Gedächtnisstütze verwendet. Keineswegs handelte es sich um eine starre Gesprächsvorgabe. Der detaillierte Frageleitfaden ist der vorliegenden Arbeit angehängt und umfasst neben einer offenen Einstiegsfrage die folgenden vier thematischen Schwerpunkte: • • • •

Life events/Das Auslandssemester Schreiben Publikum und Feedback Nutzungsmotive

Abschließend wurde den InterviewteilnehmerInnen Raum für eigene weiterführende Anmerkungen beziehungsweise für Hinweise auf Desiderata eingeräumt und es wurden soziodemografische Daten notiert. Die InterviewteilnehmerInnen wurden zu Beginn auf die Aufnahme des Gesprächs und die anonymisierte Verwendung ihrer Daten aufmerksam gemacht. Visualisierungen Im Laufe des Interviews wurden die InterviewpartnerInnen gebeten, Visualisierungen anzufertigen. Die spontanen Zeichnungen auf die Frage „Mein Weblog ist für mich [...]“ boten den Interviewten im Laufe des Gesprächs

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einen weiteren spielerischeren Zugang zu dem Thema. Die angefertigten Zeichnungen, auch Visualisierungen genannt, konnten auf sprachlicher Ebene dem Interview Impulse geben. Aus den Zeichnungen ging eine oftmals sehr dichte und metaphorische Sprache mit besonderen emotionalen Qualitäten hervor. Eine Zeichnung beinhaltet ein komplexes Bedeutungsgemenge, worauf Roth-Ebner wie folgt verweist: „In einer einzigen Zeichnung können mehr Informationen stecken als auf Seiten von Papier, denn Zeichnungen verbergen ein komplexes Gefüge aus Symbolen, Bedeutungen, Gedanken, Gefühlen, Werten, biographischen Informationen, Wünschen, Träumen und Fantasien.“ (Roth-Ebner 2008: 67)

In der vorliegenden Arbeit dienen die Visualisierungen der Datengewinnung. Im Zuge des Auswertungsprozesses wurde jeder Visualisierung eine Schlüsselkategorie zugeordnet. Die Zeichnungen der InterviewpartnerInnen erhöhen die Anschaulichkeit und können vielschichtige Bedeutungsmuster durch die anschließende sprachliche Erläuterung auf den Punkt bringen. Darüber hinaus stellt die Zeichnung einen Erzählstimulus für die kommunikative Reflexion dar, was sich im Gespräch positiv auf den Interviewverlauf auswirkt. Zur umfassenden Interpretation der Zeichnung ist das anschließende Gespräch darüber wichtig, da in Bildern auch imaginierte Anteile enthalten sein können. (vgl. Neuß 1998: 20f.) Neben der Klärung von Missverständnissen kann das generierte sprachliche Material wiederum in die Datenauswertung nach dem unten skizzierten Kodierverfahren einfließen. Eine offene Eingangsfrage dient bei der Verbalisierung als Erzählimpuls, wie Neuß im Folgenden ausführt: „So wird die Eingangsphase in dieser Untersuchung zunächst durch das sachliche Thema ‚Was ist auf dem Bild zu sehen‘ bestimmt. In dieser offenen Erzählphase wird dem Interviewten die Gelegenheit gegeben, das visualisierte Fernseherlebnis (den Erzählstimulus) frei zu verbalisieren.“ (Neuß 1999: 98)

Eine Übertragung der Bedeutungen eines Bildes in sprachlichen Ausdruck ist problematisch und die Verbalisierung aufgrund der Verdichtung der Bedeutungen im Bild nicht zur Gänze möglich. Eine Zeichnung drücke vielmehr das Unausdrückliche aus, so Neuß: „Bilder sind gerade deshalb nur begrenzt mit sprachlichen Mitteln zu beschreiben und zu analysieren, weil

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ihr Potential in dem Ausdruck des Unausdrückbaren liegt.“ (Neuß 1998: 19) Zeichnungen bieten zunächst einen Reflexionsraum, der ohne die Zwänge des Erzählens (wie zum Beispiel Begründungszusammenhänge, Plausibilität und zeitliche Abfolgen) auskommt. Neuß erklärt den Zeichenprozess folgendermaßen: „Dabei erfährt das Erlebte eine symbolische Verdichtung und Akzentuierung innerhalb der Zeichnung.“ (Neuß 1998: 20) Methodisch hat es sich bewährt, die ProbandInnen anfangs kurz alleine zu lassen, bis diese sich auf das Zeichnen eingelassen haben und in einen konzentrierten Zustand gelangen konnten. Danach störte sie meine Anwesenheit nicht mehr und die Zeichnenden signalisierten mir mit einem Blick und dem Niederlegen des Stiftes, wenn für sie die Zeichnung fertig war. Über methodische Erfahrungen mit Visualisierungen und deren Möglichkeiten berichtet Caroline Roth-Ebner: „Dadurch [durch die Zeichnungen] kamen die subjektiven Bedeutungssysteme der Jugendlichen stärker zum Vorschein. Zudem konnte das im Interview Gesagte auf Übereinstimmungen und Widersprüche hin überprüft werden.“ (Roth-Ebner 2008: 59)

Zeichnungen sind sehr komplex und enthalten Elemente, die in Zusammenhang mit dem Umgang mit Medien und der Biografie allgemein stehen, worauf Neuß im folgenden Zitat verweist: „So können in medienbezogenen Zeichnungen Elemente des Medientexts, situative Momente der Medienrezeption und biographische Aspekte repräsentiert sein.“ (Neuß 1998: 22) Bilder transportieren, so Christina Schachtner, in einer sehr unmittelbaren Art und Weise Gefühle und besitzen starke sinnliche Qualitäten. Die Medienwissenschaftlerin Schachtner schreibt: „Die Stärke von Bildern besteht in der Artikulation von Szenen in ihrem sinnlichen Ausdruck; diese werden insofern zur Erkenntnisquelle des Nicht- oder SchwerSagbaren. Was sie uns vor Augen führen, ist geeignet, die verbalen Mitteilungen in den Interviews und Netzdiskussionen zu vervollständigen, zu differenzieren und zu korrigieren.“ (Schachtner 2005: 138)

Das Interpretationsschema für die Auswertung der Visualisierungen umfasst beschreibende, interpretierende und kontextualisierende Aspekte:

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• • • • • •

Beschreibung der Bildelemente Interpretation der Bildelemente Übereinstimmungen/Widersprüche mit dem Interview Inhaltsanalyse der kommunikativen Reflexion im Interview Kontextualisierung und Interpretation Fazit (Hauptbotschaft, Zuweisung einer Schlüsselkategorie)

Im Hinblick auf die Auswertung der Visualisierungen ist anzumerken, dass es sich um keine psychologische oder psychoanalytische Auslegung handelt. Die Interpretation ist beschreibend und aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive deutend. 1.2.3 Datenauswertung Die Datenauswertung im Zuge der Anwendung der Grounded Theory ist im Wesentlichen ein Interpretationsprozess. Es soll aufgezeigt werden, wie Phänomene miteinander in Beziehung stehen. Zunächst werden die Daten kodiert, im Anschluss daran konzeptualisiert und kategorisiert. Dieses Vorgehen der Entwicklung von Kategorien aus dem Material heraus unterscheidet sich von anderen interpretativen Verfahren, die mit bereits existierenden Kategorien an das Datenmaterial herantreten. Strübing schreibt über das induktive Vorgehen: „In dem Fall kann Kodieren nicht aus dem Subsumieren qualitativer Daten unter existierende Konzepte bestehen, eben weil diese theoretischen Begriffe noch gar nicht vorliegen. Da die grounded theory auf den letzteren Fall zielt, versteht sie Kodieren als den Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material.“ (Strübing 2004: 19)

Kodieren im Sinne der Grounded Theory meint den Prozess der Datenanalyse. Die AutorInnen Strauss und Corbin unterscheiden drei Typen des Kodierens, die im Folgenden dargestellt und näher erläutert werden: „Analyse in der Grounded Theory besteht aus sehr sorgfältigem Kodieren der Daten, welches hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch eine mikroskopische Untersuchung der Daten geschieht. Es gibt drei Haupttypen des Kodierens: Das a)

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offene Kodieren, b) axiale Kodieren und c) selektive Kodieren.“ (Strauss/Corbin 1996: 40)

Die Grenzen zwischen den einzelnen Kodierverfahren können in der Praxis verschwimmen und ineinanderfließen. Offenes Kodieren Das offene Kodieren beschreiben Strauss und Corbin wie folgt: „Während des offenen Kodierens werden die Daten in einzelne Teile aufgebrochen, gründlich untersucht, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin verglichen, und es werden Fragen über die Phänomene gestellt, wie sie sich in den Daten widerspiegeln.“ (Strauss/Corbin 1996: 44)

Beim offenen Kodieren beginnt die Forscherin/der Forscher mit einer Kodierung Zeile-für-Zeile oder mit dem Kodieren einzelner Sätze und Abschnitte. Auch ein ganzes Dokument kann kodiert werden, wobei eine Orientierung anhand der Frage „Was spielt sich hier ab?“ sinnvoll ist. Eine Reihe von Fragen kann den Forschungsprozess günstig auf zentrale Phänomene und deren Ausprägungen lenken. Folgenden Aspekten wird in dieser Phase besonderes Augenmerk geschenkt:7 • • • • • • •

Was ist beobachtbar? (Benennung von Phänomenen) Welche Personen sind in welchen Rollen beteiligt? Welche Begründungen werden gegeben? Welche Absichten werden verfolgt? Welche Strategien sind erkennbar? Welche Gemeinsamkeiten sind erkennbar? Welche Unterschiede zeigen sich?

Das zu untersuchende Datenmaterial wird in dieser Phase nicht nur strukturiert und zusammengefasst, sondern unterliegt bereits beim offenen Kodieren ganz wesentlich einer Ausweitung durch den begleitenden Interpretati-

7

Die angeführten Fragestellungen sind eine eigene Zusammenführung und Ausweitung von Fragen, die bei Strübing (2004) und Böhm (2000) angeführt werden.

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onsprozess, worauf Böhm verweist: „Das offene Codieren ist ein expandierendes Verfahren in dem Sinn, dass zu einem kleinen Stück Originaltext beträchtliche Mengen Interpretationstext hinzugefügt werden können.“ (Böhm 2000: 478) Axiales Kodieren Das sogenannte axiale Kodieren ist definiert als eine „Reihe von Verfahren, mit denen durch das Erstellen von Verbindungen zwischen Kategorien die Daten nach dem offenen Kodieren auf neue Art zusammengesetzt werden“ (Strauss/Corbin 1996: 75). Bereits vorhandene Konzepte werden in diesem Schritt verfeinert und ausdifferenziert. Das axiale Kodieren kann, wie das offene Kodieren, auf kurze Textpassagen, Textabschnitte oder ganze Texte angewendet werden. (vgl. Böhm 2000: 479) Benannt werden beim axialen Kodieren nach den Ausführungen von Strauss und Corbin • • • • • •

Ursachen, Phänomene, Kontexte, Intervenierende/strukturelle Bedingungen, Handlungen/Interaktionen (Bewältigungsstrategien) und Konsequenzen (Ergebnisse, Resultate). (vgl. Strauss/Corbin 1996: 75)

Eine Kategorie wird beim axialen Kodieren durch einen Satz von Beziehungen mit Subkategorien ausdifferenziert. Dies ermöglicht eine systematische Analyse der Daten und bringt komplexe Prozesse ans Licht. Dieses Konzept, um das herum die Analyse aufgebaut wird, ist eine theoretische Fassung eines Phänomens. Einzelne empirische Vorkommnisse werden herausgefiltert und abstrahiert. (vgl. Strübing 2004: 27f.) Das im Folgenden dargestellte Kodierparadigma nach Böhm (2000: 479) wird für die Auswertung im empirischen Teil angewendet. Das Analyseschema von Böhm orientiert sich an den Ausführungen von Strauss und Corbin. Es wurde von mir um die Dimension Gefühle erweitert. Die Analyse der mit einer Kategorie in Beziehung stehenden Affekte erwies sich als sehr fruchtbar und er-

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gänzt die Analyse der kognitiven Einstellungen sinnvoll um eine emotionale Dimension.8 Abbildung 1: Axiales Kodieren nach Böhm (2000)

Ursächliche Bedingungen

Konsequenzen

Kontext Phänomen/ Kategorie

Handlungs-

Gefühle

strategien

Eigene erweiterte Darstellung

Beim axialen Kodieren wird ein Phänomen in die Tiefe gehend analysiert, wozu sich das oben abgebildete Schema eignet, da es Anregungen für die Interpretation von bestehenden Beziehungen und Verbindungen bietet. Ursachen sowie die mit dem Phänomen in Beziehung stehenden Handlungen und Gefühle können in ihren vielfältigen Zusammenhängen betrachtet werden. Unmittelbare Konsequenzen sowie Auswirkungen im Sinne von Zukunftsvisionen können interpretativ erschlossen werden. Insbesondere die Begriffe Kontext und intervenierende Bedingungen sind erklärungsbedürftig. Bei Böhm, im Gegensatz zu Strauss/Corbin, werden beide Dimensionen zusammengedacht. Er führt aus: „Zu Kontextbedingungen zählen vor allem Zeit, Ort und Dauer. Zu intervenierenden Bedingungen werden das soziale, politische und kulturelle Umfeld und die individuelle Biographie gezählt.“ (Böhm 2000: 480)

8

Für den Hinweis, beim axialen Kodieren auch die Dimension Gefühle einzubeziehen, danke ich Christina Schachtner. Im FWF-/VW-Projekt Subjektkonstruktionen und digitale Kultur unter Leitung von Christina Schachtner wurde ebenfalls mit dem um Gefühle erweiterten Paradigma gearbeitet.

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Selektives Kodieren Im dritten Schritt des Kodierverfahrens wird eine Kernkategorie ausgewählt und systematisch mit anderen Kategorien in Beziehung gesetzt. Das selektive Kodieren ist der „[...] Prozeß des Auswählens der Kernkategorie, des systematischen In-BeziehungSetzens der Kernkategorie mit anderen Kategorien, der Validierung dieser Beziehungen und des Auffüllens von Kategorien, die einer weiteren Verfeinerung und Entwicklung bedürfen.“ (Strauss/Corbin 1996: 94).

An diesem Punkt in der Forschung wird eine Kategorie auf die Schlüsselkategorie hin befragt. Ein Netz relevanter Beziehungen zwischen Kategorien entsteht. Nach Strübing lautet die erkenntnisleitende Frage wie folgt: „Die analytische Frage dieses Arbeitsschritts lautet also: Steht die Kategorie X in einem Verhältnis zur angenommenen Schlüsselkategorie A und, wenn ja, in was für einem Verhältnis?“ (Strübing 2004: 21) Eine Kern- beziehungsweise Schlüsselkategorie zeichnet sich durch ihre vielfältigen Relationen zu anderen Kategorien aus. Sie besitzt im Begriffsnetz eine zentrale Position. (vgl. Böhm 2000: 482) Das selektive Kodieren bedeutet einen weiteren Abstraktionsschritt und eine Zusammenführung beziehungsweise Fokussierung des Datenmaterials. In diesem Arbeitsschritt wähle ich eine über einzelne Kategorien hinausreichende Schlüsselkategorie aus, führe Quervergleiche zwischen den Interviews durch und binde zusätzlich Theorien ein, um eine interpretatorische Tiefe zu erreichen. Wurden soeben die drei Stufen der Datenanalyse nach der Grounded Theory beschrieben, so werden an dieser Stelle die Begriffe Konzeptualisierung und Kategorisierung näher erläutert. Sowohl Konzeptualisierungen als auch Kategorisierungen kommen im Laufe der Analyse zur Anwendung und ermöglichen eine Beschreibung von Beziehungsgeflechten zwischen Phänomenen auf einem stetig zunehmenden Abstraktionsniveau. Die Beschreibung erfolgt anhand von Eigenschaftsdimensionen, welche den Kategorien innewohnen. Konzeptualisierung Im Zuge des Kodierverfahrens, sprich der Datenanalyse, werden die Daten konzeptualisiert. Das Verfahren der Konzeptualisierung meint die Benennung einzelner Phänomene, sprich einzelner Ereignisse oder Ideen. Strauss und Corbin erläutern den Begriff folgendermaßen:

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„Mit Aufbrechen und Konzeptualisieren meinen wir das Herausgreifen einer Beobachtung, eines Satzes, eines Abschnitts und das Vergeben von Namen für jeden einzelnen darin enthaltenen Vorfall, jede Idee oder jedes Ereignis – für etwas, das für ein Phänomen steht oder es repräsentiert.“ (Strauss/Corbin 1996: 45)

Kategorienbildung Kategorisierung meint jenen „Prozeß des Gruppierens der Konzepte, die zu demselben Phänomen“ (Strauss/Corbin 1996: 47) gehören. Der Forschungsprozess der Grounded Theory lässt sich demnach als ein Prozess fortschreitender Abstraktion, vom Phänomen über Konzepte hin zu Kategorien, beschreiben. Das ‚Füllen‘ der Kategorien erfolgt über die Beschreibung von Eigenschaften und Dimensionen der jeweiligen Kategorie. Die Eigenschaften einer Kategorie werden in ihren dimensionalen Ausprägen erfasst und durch Beschreibung der • • • •

Häufigkeit (oft – nie), des Ausmaßes (viel – wenig), der Intensität (hoch – niedrig) und der Dauer (lang – kurz) bestimmt. (vgl. Strauss/Corbin 1996: 50f.)

Der Interpretationsvorgang in der vorliegenden Arbeit bezieht sich insbesondere auf die Ebenen des Individuums (Aspekte der Identität und Kompetenzen, Nutzungsmotive von Weblogs), der Gruppen (Interaktionen und Beziehungsdimensionen) sowie der nationalen und internationalen Ebenen (kulturelle Implikationen, nationale und globale Kontexte). Diese Fokussierung bedeutet nicht, dass beispielsweise Aspekte von Unternehmen wie Blog-Hosts oder Institutionen (Universitäten, Organisationsteams von Auslandsaufenthalten) keine Rolle in Bezug auf die untersuchten Phänomene spielen. Allerdings stehen diese Fragen nicht im Zentrum des Forschungsinteresses und werden deshalb nicht systematisch einbezogen.

2. Identität – Gesellschaft – Medien Wenn in der vorliegenden Arbeit die Frage nach der Bedeutung des Führens eines Weblogs für die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen sowie für die Identitätsarbeit gestellt wird, muss zunächst geklärt werden, wie im Kontext von Gesellschaft und digitalen Medien Identität zu fassen ist. Wie lässt sich Identität begrifflich bestimmen und wie bildet sich ein Gefühl der eigenen Identität heraus? Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Prozesse spielen im Hinblick auf die Ausbildung von Identität eine Rolle? Ein weiterer Abschnitt in diesem Kapitel befasst sich mit dem Verhältnis von digitalen Medien und Identität. Durch den technologischen Fortschritt ist es unumgänglich geworden, digitale Medien in die wissenschaftliche Identitätsdiskussion miteinzubeziehen und die Mediennutzung von Individuen mit Blick auf Aspekte der Identitätskonstruktion zu diskutieren, denn täglich nutzen Kinder, Jugendliche wie auch Erwachsene zunehmend neue Angebote digitaler Medien zur Kommunikation, zur Information und um mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben. Welche Medien zur Kommunikation genutzt werden, ist durchaus bedeutsam, da diese Medien keine neutralen Übermittler von Botschaften sind, sondern Einfluss nehmen auf die stattfindenden Kommunikationsprozesse. Bevor im Anschluss geklärt werden kann, was unter Identität zu verstehen ist, müssen zunächst die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die sich vollziehenden Veränderungsprozesse beschrieben werden, die in der Gegenwartsgesellschaft auf das Individuum einwirken.

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2.1 I DENTITÄT

IM K ONTEXT GESELLSCHAFTLICHER V ERÄNDERUNGEN „Man nehme, was man will: Gott, Natur, Wahrheit, Wissenschaft, Technologie, Moral, Liebe, Ehe – die Moderne verwandelt alles in ‚riskante Freiheiten‘.“ (BECK/BECK-GERNSHEIM 1994: 11)

2.1.1 Das Lebensweltkonzept Die Lebenswelt von Individuen in westlichen, entwickelten Industrienationen ist heute durch einen fortschreitenden Modernisierungsprozess gekennzeichnet. Bevor im Folgenden auf die einzelnen Modernisierungsprozesse eingegangen wird, wird zunächst der Begriff Lebenswelt erläutert. Das Konzept der alltäglichen Lebenswelt geht davon aus, dass Menschen in ihrem Alltag ganz selbstverständlich in den gegebenen Wirklichkeiten leben. Diese Lebenswelt umfasst sowohl Deutungsschemata als auch handlungsleitende Werte und Normen. Nach Schütz und Luckmann (1975) ist die alltägliche Lebenswelt jener Wirklichkeitsbereich, „den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet“ (Schütz/Luckmann 1975: 23). Nach den Autoren Schütz und Luckmann wird der Realitätsgehalt der Lebenswelt durch die Individuen nicht hinterfragt und als selbstverständlich erfahren. Menschen werden in die alltägliche Lebenswelt hineingeboren und nehmen diese als gegeben an. Allerdings sind sie dieser Lebenswelt nicht starr ausgeliefert in einer deterministischen Sichtweise. Schütz und Luckmann betonen in ihrem Ansatz Möglichkeiten zur Veränderung der Lebenswelt. Durch die leibliche Präsenz wirkt der Mensch auf die Lebenswelt ein und kann diese verändern. (vgl. Schütz/Luckmann 1975: 23) Ein Wissensvorrat an früheren Erfahrungen dient dem Menschen in der Lebenswelt als Bezugsrahmen zur Weltauslegung von Natur und Kultur. Schütz und Luckmann führen aus: „Die alltägliche Wirklichkeit der Lebenswelt schließt also nicht nur die von mir erfahrene ‚Natur‘, sondern auch die Sozial- bzw. Kulturwelt, in der ich mich befinde, ein.“ (Schütz/Luckmann 1975: 25)

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2.1.2 Leben in der globalisierten posttraditionalen Gesellschaft Wodurch ist der Modernisierungsprozess in entwickelten Industrienationen gekennzeichnet? Unter dem Begriff posttraditionale Gesellschaft fasst Anthony Giddens zwei grundlegende gesellschaftliche Veränderungsprozesse zusammen. Es sind nach Giddens vor allem die Globalisierung und die Problematisierung von Traditionen (Enttraditionalisierung), die als Phänomene den Alltag heute prägen. Ein Kennzeichen von Globalisierung nach Giddens ist, dass „lokale Handlungen, wo auch immer auf der Welt, von Ereignissen und Institutionen an weitentfernten Orten beeinflußt und manchmal sogar determiniert sind“ (Giddens 1996: 115). Es entsteht ein globaler Erfahrungsraum, der sich nicht nur auf wirtschaftliche Vorgänge, sondern auch auf Identitätsbildungsprozesse auswirkt. Das Lokale bleibt nicht ausschließlicher Raum für die Herausbildung von Identität, weltweite Einflüsse nehmen zu, worauf Christina Schachtner wie folgt verweist: „Das Lokale ist nicht länger der Ort für Identitätsbildung; vielmehr setzt sich das Lokale, durchzogen von weltweiten Einflüssen und Mobilitätsströmen, neu zusammen [...].“ (Schachtner 2010: 63) Das Erleben von Differenzen und Andersartigkeit im Zuge von Migration birgt wichtige Entwicklungschancen, es kann aber auch verunsichern. Christina Schachtner erläutert: „In einer Welt des Neben- und Ineinanders kultureller Strömungen blicken Menschen in einen Spiegel mit vielen Gesichtern, vergleichbar einem Kaleidoskop, das in verschiedenen Farben schillert und das natürlich verstören kann.“ (Schachtner 2010: 71)

Im weitesten Sinne meint Globalisierung die Zunahme von Verbindungen über große Entfernungen hinweg. Diese Verbindungen können sowohl ökonomischer wie auch sozialer und kultureller Natur sein. So sind beispielsweise soziale Beziehungen zunehmend aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgehoben. Dieser Trend zur ‚Entbettung‘ erfährt durch digitale Medien eine Dynamisierung. Hannerz analysiert in „Transnational Connections“ (1996) die vielseitigen Wechselwirkungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen und bestimmt Globalisierung, wie Anthony Giddens, in einem sehr weiten Sinne. Er schreibt: „In the most general sense, globalization is a matter of increasing long-distance interconnected-

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ness, at least across national boundaries, preferably between continents as well.“ (Hannerz 1996: 17) Die Auswirkungen der Globalisierung sind verschiedengestaltig, es handelt sich um keinen einheitlichen Prozess der Homogenisierung. In einem Spannungsverhältnis zwischen dem Globalen und dem Lokalen kommt es einerseits zu kulturellen Homogenisierungen, denken wir dabei nur an international ausgerichtete Esskulturen oder den globalen Konsum von Fernsehangeboten, andererseits ist eine (Rück-) Besinnung auf Lokales beziehungsweise auf Traditionen zu bemerken. (vgl. Hall 1999: 429) Globalisierung bleibt bei Definitionsversuchen zwangsläufig ein diffuser Begriff, da er durch eine Vielzahl politischer, ökonomischer und kultureller Phänomene und Prozesse gekennzeichnet ist. Eine zentrale Rolle im Globalisierungsprozess spielt die Wirtschaft: „Die Ökonomie ist zugleich Medium und Motor eines weltweiten Austausches geworden.“ (Badura/Rieth/Scholtes 2005: 13). Durch die ökonomische Globalisierung nehmen Interdependenzen im Welthandel stetig zu und Handlungen eines Individuums am lokalen Markt können weltweite Auswirkungen haben. (vgl. Giddens 1996: 115) Die weltweite Verwobenheit wird nicht nur im Bereich der Wirtschaft deutlich, sondern darüber hinaus im Hinblick auf den Kulturbegriff augenscheinlich. Persönliche Beziehungen und Handlungen, selbst Identitätskonstruktionen, sind global geprägt: „Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Separiertheit, sondern sie durchdringen einander, sie sind weithin durch Mischungen gekennzeichnet.“ (Welsch 2001: 263) Exemplarisch zeigen Autoren wie Welsch und Hannerz auf, dass eine Nationalkultur als eine in sich geschlossene Sphäre auch in früheren Zeiten stets nur als Ideal existierte und dieses Bild die Realität nicht angemessen beschreiben konnte. Hannerz hält fest: „That image of a cultural mosaic, where each culture have been a territorial entity with clear, sharp, enduring edges, never really corresponded with realities.“ (Hannerz 1996: 18) Anstelle eines kulturellen Nebeneinanders haben wir es in der heutigen durch Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft mit komplexen Austauschprozessen und Vernetzungen zu tun. Diese kulturelle Pluralität beschreiben einführend die Autoren Badura, Rieth und Scholtes in dem folgenden Zitat: „Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist dabei [bei grenzüberschreitenden Prozessen und Interdependenzen] kulturelle Pluralität nicht nur im Sinne eines Plurals nebeneinander existierender und in sich homogener Kulturen zu verstehen, sondern zu-

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nehmend als Verschränkung eigener und fremder Traditions- und Sinnzusammenhänge bzw. normativer Grammatiken (Systeme der Bedeutungszuweisung) zu begreifen.“ (Badura/Rieth/Scholtes 2005: 13)

2.1.3 Kulturelle Globalisierung, Migration und Mediennutzung Ermöglicht wird eine wie oben beschriebene kulturelle Globalisierung insbesondere durch den verstärkten Einsatz von weltweit vernetzten Informations- und Kommunikationstechnologien und Medienprodukten wie zum Beispiel Büchern, Filmen und TV-Serien, die nahezu in allen Ländern zugänglich sind und Werte sowie Vorbilder und Traditionen über das lokale Sozialgefüge hinaus verbreiten. Nicht nur globaler Medienkonsum regt kulturelle Verschränkungen an. Insbesondere partizipative Medien wie das World Wide Web mit seinen Foren und Netzwerken ermöglichen Diskussionen und das Austauschen von Meinungen und Moralvorstellungen über nationale Grenzen und räumliche Distanzen hinweg. Neue Informationsund Kommunikationstechnologien sind durch die weltweite Vernetzung und Beschleunigung der Kommunikation ein Motor und Verhaltensschauplatz transkulturaler Prozesse. (vgl. Schachtner 2009: 4) Digitale Medien erweitern nicht nur unsere räumlichen Erfahrungsbereiche, sondern binden durch Speichervorgänge auch Zeit, indem sie Ideen und Kultur Dauer verleihen, worauf Ulf Hannerz wie folgt verweist: „Media technologies do not only allow us to reach out through space. They also bind time by allowing us to record things, and thus preserve even more kinds of ideas and cultural forms, in great detail, from that past which is continuously evolving as today becomes tomorrow’s yesterday.“ (Hannerz 1996: 24)

Transkulturale Prozesse lassen sich treffend als ‚Flows‘ charakterisieren. Sehr allgemein und weit bestimmt Hannerz ‚Flows‘ als Dinge, die nicht an ihrem Platz bleiben. Er schreibt: „Rather, the term has become transdisciplinary, a way of referring to things not staying in their places, to mobility and expansion of many kinds, to globalization along many dimensions.“ (Hannerz 1997: 4) Mit dem Begriff ‚flows‘ beschreibt Christina Schachtner (2009) in Anlehnung an Hannerz (1997) und Appadurai (2000) jene Ströme, die die Gegenwartsgesellschaften durchkreuzen. Zu beobach-

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ten sind Kapitalströme, Migrantinnen- und Migrantenströme, Rohstoffströme, Warenströme, Informationsströme, Bilderströme und Kommunikationsströme. (vgl. Schachtner 2009: 5) Diese Ströme unterscheiden sich in ihrer Ausprägung von denen früherer Gesellschaften. Schachtner fasst die Veränderungen wie folgt zusammen: „Verändert haben sich die Gleichzeitigkeit, die Intensität, die Beschleunigung und die globale Wahrnehmbarkeit dieser Ströme.“ (Schachtner 2009: 5) Appadurai spricht im Zusammenhang globaler Ströme von fünf unterschiedlichen Dimensionen, die er ‚scapes‘ (Landschaften) nennt. Die von ihm beschriebenen fünf Dimensionen globaler kultureller Ströme sind: ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, financescapes, and ideoscapes. (vgl. Appadurai 2000: 33). Durch solche Ströme und Wechselwirkungen zwischen Kulturen werden vertraute Vorstellungsräume entgrenzt und eigene Vorstellungen von der Welt relativiert, wie Badura, Rieth und Scholtes ausführen: „Die eigenen Weisen sind nur noch mögliche, aber nicht notwendige, und das Vertrauen in die Validität der eigenen Sicht kann hierdurch erschüttert werden.“ (Badura/Rieth/Scholtes 2005: 12). Das Leben in transkulturalen Situationen ist in dieser durch die eben erwähnten globalen Ströme gekennzeichneten Gegenwartsgesellschaft immer häufiger und selbstverständlicher geworden. Jedoch, so merkt Christina Schachtner an, ist für die damit einhergehenden Verunsicherungen kaum jemand hinreichend gerüstet. (vgl. Schachtner 2010: 61) Wanderungsstatistiken legen solche MigrantInnen-Ströme offen und verdeutlichen das Phänomen der wachsenden Mobilität und Migration. Sowohl Zu- als auch Wegzüge haben innerhalb der letzten zehn Jahre zugenommen. So stiegen internationale Wegzüge aus Österreich von 74.363 im Jahre 2001 auf 94.604 im Jahre 2011. Auch bei den internationalen Zuzügen ist im selben Zeitraum laut Statistik Austria ein Anstieg von 111.219 auf 130.208 zu verzeichnen. Schauen wir genauer auf die Zahlen für das Jahr 2011, so ist eine Wanderungsbewegung insbesondere bei den 20- bis 29-Jährigen9 zu beobachten. Sind es 90.649 (Zuzüge)/91.213 (Wegzüge) 20- bis 24-Jährige und noch 82.742 (Zuzüge)/83.767 (Wegzüge) 25- bis 29Jährige, die in der Wanderungsstatistik aufgeführt sind, so sinkt die Zahl bei den 30- bis 34-Jährigen auf 56.889 (Zuzüge)/57.686 (Wegzüge) und bei den 35- bis 39-Jährigen weiter auf 41.168 (Zuzüge)/41.653 (Wegzüge).

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Die alterspezifischen Zahlen beziehen sich ausschließlich auf österreichische Staatsangehörige und umfassen die Binnen- und Außenwanderung.

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(vgl. Statistik Austria 2012 und Statistik Austria 2012a) Migration stellt Individuen vor zahlreiche Herausforderungen. Die Bewältigung des Alltags oder die Orientierung innerhalb neuer Werthierarchien, die, so Helga Bilden (2009), an Selbstverständlichkeit verlieren, fordern das Individuum zur Adaption oder Entwicklung neuer Handlungsstrategien heraus. Die Autorin führt aus: „Transnationale Migration führt zu doppelten Zugehörigkeiten vieler Menschen; sie müssen sich zwischen unterschiedlichen kulturellen Orientierungen bewegen und ihre eigene Form dafür finden. Lebensmuster und Wertehierarchien verlieren ihre Selbstverständlichkeit, eine Vielzahl von Alternativen bieten sich dem/der Einzelnen [...].“ (Bilden 2009: 5f.)

2.1.4 Die Qual der individualisierten Wahl Neben der Globalisierung geht Anthony Giddens vor allem auf Auflösungsprozesse in Bezug auf Traditionen als Kennzeichen posttraditionaler Gesellschaften ein. Der gesellschaftliche Enttraditionalisierungsprozess ist geprägt durch die Auflösung von allgemeingültigen Traditionen und Werten. Anerkannte Institutionen und Autoritäten wie Familie, Schule, Staat und Kirche haben im Zuge der Modernisierung an Stellenwert und Legitimation eingebüßt und wurden zunehmend hinterfragt. Fehlen feststehende Traditionen (Moral- und Wertvorgaben), dann besteht für das Individuum die Notwendigkeit zur Wahl, Giddens formuliert pointiert: „In posttraditionalen Kontexten haben wir keine andere Wahl, als zu wählen, wer wir sein und wie wir handeln wollen.“ (Giddens 1996: 142). Dies führt zu Verunsicherungen wie auch zu einer Individualisierung von Chancen und Risiken. Über Individualisierungsprozesse schreiben Beck und Beck-Gernsheim: „Individualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen – zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechterrollen, Familie, Nachbarschaft usw.; oder auch […] [den] Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leitbilder.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 11f.)

Das gute Gelingen und das Scheitern von Lebensentwürfen und Biografien liegen nunmehr in der Verantwortung einer jeden Einzelnen/eines jeden

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Einzelnen. Jürgen Wittpoth spricht sich für eine empirische Überprüfung des Individualisierungstheorems aus und kritisiert Becks Annahmen, indem er auf systematische Benachteiligungen am Arbeitsmarkt aufgrund eines geringen sozialen und kulturellen Kapitals oder aufgrund regionaler Besonderheiten verweist und ein Spannungsverhältnis aufzeigt. Wittpoth schreibt: „Schließlich überzeugt auch BECKs Annahme, Biographien seien ‚entscheidungsoffener‘ geworden, in der vorgetragenen Form nicht. Die Bedeutung von Wahlmöglichkeiten wird in dem Maße relativert, in dem es ‚gar keine Wahl gibt bei den Wahlen‘.“ (Wittpoth 1994: 26)

Deutlich wird die Individualisierung beim Rückgang von staatlichen Vorsorge- und Sozialleistungen im Gesundheitssystem oder am Arbeitsmarkt, wo ein Anstieg von Selbständigen zu verzeichnen ist, welche die finanzielle Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg alleine zu tragen haben. Zahlen der Statistik Austria belegen, dass die Zahl der Erwerbstätigen 2010 (2. Quartal) im Vergleich zum Vorjahresquartal aufgrund einer Zunahme von Selbständigen und Mithelfenden gleich geblieben ist: „Die unveränderte Zahl der Erwerbstätigen im Vergleich zum 2. Quartal 2009 resultierte aus einer Zunahme bei den Selbständigen und Mithelfenden (+14.100 bzw. +1.500) und einem Rückgang bei den Unselbständigen (-14.900).“ (Statistik Austria Arbeitsmarktstatistik 2010: 6).

Für das Jahr 2012 weisen die Zahlen der Statistik Austria eine Trendumkehr auf. Schlussfolgerungen aufgrund der Statistiken können deshalb nur vorsichtig und vorläufig gezogen werden. Im Vergleichsquartal des Jahres 2012 zeigt sich ein starker Anstieg bei den Unselbständigen bei gleichzeitigem Rückgang bei den Selbständigen. „Die gestiegene Zahl der Erwerbstätigen im Vergleich zum 2. Quartal 2011 (+49.800) resultierte aus einer beachtlichen Zunahme bei den Unselbständigen (+72.600) und einer niedrigeren Anzahl an Selbständigen und Mithelfenden (-22.800).“ (Statistik Austria Arbeitsmarktstatistik 2012b: 6)

Nicht nur finanzielle und gesundheitspolitische Risiken sind in der Gegenwartsgesellschaft zunehmend individualisiert. Aufgrund der zurückgehen-

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den Relevanz gesellschaftlicher Institutionen muss das Individuum auch in den Bereichen Anerkennung und Zugehörigkeit, als Elemente der Identitätsarbeit, seine Anstrengungen erhöhen. (vgl. Hugger 2010: 77f.) Gemeint ist, dass Gemeinschaften flüchtiger und loser verknüpft sind. Der Einzelne/die Einzelne muss sich bewusst für eine Gemeinschaft entscheiden und aktiv an der Zugehörigkeit arbeiten, um Teil der Gemeinschaft zu bleiben. Dieses lose Knüpfen, Auflösen und wieder neu Knüpfen von Gemeinschaften ist insbesondere bei Online-Netzwerken und virtuellen Gemeinschaften beobachtbar. Auch Giddens greift die Kritik an Individualisierungstendenzen auf, denn nicht immer steht es dem Individuum offen zu wählen. Unbewusste Gefühle und Routinehandlungen schränken, folgen wir Giddens Ausführungen, die Wahlfreiheiten ein. (vgl. Giddens 1996: 142f.) Hingewiesen werden muss an dieser Stelle darüber hinaus auf ökonomische Zwänge, welche die Wahlmöglichkeiten von Individuen beschneiden und auf die Giddens in seinem Beitrag nicht eingeht. 2.1.5 Pluralisierte Lebenswelten Mit den gesellschaftlichen Auflösungstendenzen geht eine Pluralisierung von Lebenswelten einher. Die Pluralisierung von Lebenswelten meint eine Ausdifferenzierung von Lebensmöglichkeiten und einen Rückgang der Bedeutung von Normalbiografien. Durch Prozesse der Enttraditionalisierung werden normative Vorgaben, wie Menschen das eigene Leben gestalten sollen geringer und vorgegebene Lebenswege aufgrund von Klassen- oder Geschlechtszugehörigkeit werden seltener, was aber nicht bedeutet, dass es nicht nach wie vor normativ erwünschtes Verhalten in unserer Gesellschaft gibt oder ungleich verteilte Chancen im Bildungsbereich oder am Arbeitsmarkt aufgrund der Herkunft. Die Pluralisierung wird deutlich im Kulturkonzept von Wolfgang Welsch, wenn er von einer vertikalen und horizontalen Ausdifferenzierung von Lebensformen innerhalb einer Gesellschaft spricht. Er schreibt über die Pluralisierung: „Denn erstens finden sich innerhalb moderner Gesellschaften so viele unterschiedliche Lebensformen, daß Homogenität nur noch ein ideologisches Dekret, faktisch hingegen nicht mehr erreichbar ist. Moderne Gesellschaften sind zum einen vertikal differenziert: die Lebensformen in einer Arbeitersiedlung, einem Villenviertel und der Alternativszene weisen kaum noch einen gemeinsamen kulturellen Nenner auf.

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Hinzu kommen horizontale Differenzierungen: Unterschiede von weiblicher und männlicher, heterosexueller, lesbischer oder schwuler Orientierung können drastische Abweichungen in den kulturellen Mustern und Lebensweisheiten nach sich ziehen.“ (Welsch 2001: 258)

Neben der Chance auf freie Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten, die ein enttraditionalisiertes Leben bedeutet, geht mit der Freiheit auf der anderen Seite eine Verunsicherung des Individuums einher durch den „Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbindlichen Sinn-Daches“ (Hitzler/Honer 1994: 307). Die AutorInnen Hitzler und Honer sehen eine existenzielle Verunsicherung im individualisierten Leben. Sie führen aus: „Ein individualisiertes Leben ist ein ‚zur Freiheit verurteiltes‘ Leben[…].“ (Hitzler/Honer 1994: 307) In der heutigen Gesellschaft lebende Individuen müssen sich stärker als vorangegangene Generationen für einen Lebensweg entscheiden. Welcher Religion möchte ich angehören? Möchte ich überhaupt einen Glauben bewusst ausleben? Möchte ich eine Familie gründen? Für welchen beruflichen Karriereweg entscheide ich mich? Es gibt kaum noch allgemeingültige, normative Vorgaben, wie Individuen in einer Gesellschaft zu leben haben. Oftmals unvereinbare Lebensauffassungen existieren innerhalb einer Gesellschaft nebeneinander und stellen das Individuum vor – oftmals zeitlich begrenzte – Entscheidungen: „Das Individuum muß sich typischerweise zwischen konkurrierenden Sinnsystemen entscheiden – ohne sich damit zwangsläufig längerfristig zu binden.“ (Hitzler/Honer 1994: 309) Die Möglichkeit zu wählen und zu entscheiden, ist eine zutiefst ambivalente Freiheit, worauf Bauman wie folgt verweist: „Je freier die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit – sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst;“ (Bauman 1993: 17) Diese Entscheidungsfreiheit bringt einen erhöhten Bedarf an Wissensmanagement mit sich. Krotz erläutert: „Freigesetzte Individuen haben für ihren Alltag beispielsweise einen erhöhten Informationsbedarf, nicht nur, weil die traditionellen Verhältnisse, die man mit nebenbei gesammelten, etwa traditionellem Vorwissen bewältigen konnte, seltener werden, sondern auch, weil man heute weniger solches überlieferte Vorwissen akkumulieren kann und obendrein dessen Gültigkeit auf dem Rückgang ist.“ (Krotz 2007: 28)

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Mit Vorgriff auf im späteren Verlauf vorgestellte Identitätstheorien soll an dieser Stelle kurz angemerkt werden, dass Menschen verschiedene und durchaus auch gegensätzliche Rollen einnehmen können: „Der Mensch ist in verschiedenen Kontexten zu Hause, in denen sich vielfältige Aspekte seines Selbst manifestieren. Eine gewisse Flexibilität ist für die Bewältigung des Alltags somit schon Voraussetzung.“ (Bahl 1997: 33f.) Bahl verweist hier auf eine wichtige Kompetenz, über die Individuen heute verfügen müssen, nämlich mit einer gewissen Flexibilität zwischen den verschiedenen Rollen und Kontexten wechseln zu können. Wissensmanagement und die Kompetenz zu flexiblem rollenadäquatem Handeln sind in der gegenwärtigen Lebenswelt für Individuen von zentraler Bedeutung zur Bewältigung des Alltags. Sind Prozesse wie Enttraditionalisierung und Individualisierung rein gegenwärtige Phänomene? Historisch betrachtet basieren Subjektivitätskonzepte auf einem dreistufigen Modell mit den Phasen Vormoderne/traditionelle Lebensweise, Moderne und Post-/Nachmoderne. Der Mensch der Vormoderne ist demzufolge fest in lokal geprägte Bezüge (Dorfleben, Familie, Religionsgemeinschaft) eingebettet gewesen und hat über nur geringe Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich seiner Lebensführung verfügt. Mit Ausgang des Mittelalters und Beginn der Aufklärung wurde das Individuum aufgewertet und der Mensch als soziales Wesen rückte in den Mittelpunkt. (vgl. Bahl 1997: 20) Seit den 1950er Jahren sind die Prinzipien der Modernisierung in radikaler Weise zum Tragen gekommen und durch gesellschaftlichen Wandel geprägte, individualisierte Existenzformen haben sich ausgebildet. Mit Verweise auf Beck und Giddens beschreibt Bahl postmoderne Gesellschaften als durch ständigen Wandel gekennzeichnet. Sie fasst zusammen: „Die posttraditionale, moderne Gesellschaft zeichne sich im Gegensatz zur vormodernen […] in erster Linie durch kontinuierlichen, raschen Wandel aus, so daß auch das Subjekt ständigen Neudefinitionen unterworfen werde.“ (Bahl 1997: 23) Die Postmoderne lässt sich mit Zygmunt Bauman als eine Radikalisierung der Moderne auffassen. Er schreibt: „Die Postmoderne ist der Punkt, wo das moderne Freisetzen aller gebundenen Identität zum Abschluß kommt[…].“ (Bauman 1993: 17) Kritisch angemerkt werden muss, dass eine solche Dreiteilung in Vormoderne – Moderne – Postmoderne oft vorschnell Differenzen betont und Kontinuitäten/Gemeinsamkeiten übergeht und von einer linearen Entwicklung ausgeht. So verfügten auch Menschen in der Vormo-

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derne über gewisse, wenn auch eingeschränkter als heute, Wahl- und Entscheidungsfreiheiten und in postmodernen/posttraditionalen Gesellschaften unterliegen Individuen Zwängen und Einschränkungen durch soziale Normen oder ökonomische Bedingungen. Stuart Hall kritisiert die gängigen Darstellungsweisen von Identitätskonzepten als undifferenzierte Vereinheitlichung: „Die Vorstellung, Identitäten seien völlig einheitlich und kohärent gewesen und würden heute gänzlich zerstreut, ist eine äußerst vereinfachte Weise, die Geschichte des modernen Subjekts zu erzählen;“ (Hall 1999: 401) Was diese Konzepte der historischen Phaseneinteilung allerdings aufzeigen, sind gewisse Tendenzen, die für einen Großteil der Menschen innerhalb einer Gesellschaft zum Tragen kommen und alltagsrelevant sind. Am Ende der Ausführungen über gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Hinblick auf Identitätskonstruktionen in der Gegenwartsgesellschaft möchte ich zurückkommen auf die eingangs im Sinne von Schütz und Luckmann beschriebene Lebenswelt. Diskurse über die (Post-)Moderne beziehungsweise über posttraditionale Gesellschaften und die Definition der Lebenswelt nach Schütz und Luckmann stellen Aspekte des selbstverantwortlichen Handelns und der individuellen Wahl ins Zentrum. Schütz und Luckmann weisen darauf hin, dass die Lebenswelt „vornehmlich der Bereich der Praxis, des Handelns [ist]. Die Probleme des Handelns und der Wahl müssen also einen zentralen Platz in der Analyse der Lebenswelt einnehmen.“ (Schütz/Luckmann 1975: 36). Die alltägliche Lebenswelt ist ständig Veränderungen unterworfen, welche die Individuen vor die Herausforderung stellen, Erfahrungen kontinuierlich neu auszulegen und sich der lebensweltlichen Wirklichkeit aktiv zuzuwenden, wie dies Schütz und Luckmann im Folgenden ausführen: „Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich sozusagen zur Neuauslegung meiner Erfahrung auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitskette. Der Kern meiner Erfahrung, den ich auf Grund meines Wissensvorrats ‚bis auf weiteres‘10 als selbstverständlich an mir vorbei passieren ließ, ist mir problematisch geworden, und ich muß mich ihm nun zuwenden.“ (Schütz/Luckmann 1975: 29)

10 Die Formulierung ‚bis auf weiteres‘ geht auf den Philosophen Edmund Husserl zurück, auf den sich die Autoren Schütz und Luckmann beziehen.

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2.2 I DENTITÄT –

EIN LEBENSLANGES

P ROJEKT

„Who are you? said the Caterpillar. […] Alice replied, rather shyly‚ I hardly know, sir, just at present – at least I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.“ (CARROLL 1993: 49)

„Wer bist du?“, vordergründig eine einfache Frage. Doch bereits die oben zitierte Passage aus dem Buch „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll macht deutlich, dass vor dem Hintergrund ständigen Wandels die Frage nach der einen Identität zu kurz greift. In diesem Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie sich Identität ausbildet und wie sich Subjekte als ein Ich erleben können, wobei insbesondere sogenannte postmoderne Identitätstheorien als Erklärungsmodelle im Mittelpunkt stehen. Diese Identitätskonzepte entstanden vor dem Hintergrund der Abgrenzung oder der Weiterentwicklung von traditionellen Ansätzen, die deshalb ebenfalls knapp, hier am Beispiel des Modells von Erikson, beschrieben werden. Im Hinblick auf die Forschungsgegenstände Weblogs und kritische Lebensereignisse zeigt sich, dass vor allem Identität als prozesshafte Identitätsarbeit nach Heiner Keupp und Identitätstheorien wie jene von Gergen und Gergen (1988) oder Wolfgang Kraus (2000), welche narrative Aspekte in den Vordergrund stellen, geeignet sind, um den Begriff Identität für diese Arbeit zu fassen. 2.2.1 Identität nach Erik H. Erikson Wie stellt sich das Phänomen Identität bei Erik H. Erikson dar? In „Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“ (1966) beschäftigt sich Erikson mit medizinischen, psychologischen und sozialen Aspekten der gesunden Persönlichkeit und Identitätsentwicklung. Erikson entwirft ein Stufenmodell der Entwicklung an dessen ‚Ende‘ die gefestigte einheitliche und dauerhafte Identität, also das Gefühl einer inneren Einheit, sich voll ausgebildet hat. Nach der krisenhaften Phase der Pubertät ist nach Erikson im ‚Normalfall‘ Identität als ein Gefühl der Einheitlichkeit und Kontinuität im Individuum integriert. Er führt aus:

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„Dieses Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten.“ (Erikson 1966: 51)

Wie problematisch eine solche lineare Charakterisierung ist, wird deutlich, wenn Erikson selbst sein Stufenmodell einschränken und revidieren muss, wie dies im folgenden Zitat anschaulich wird: „Jede [Persönlichkeit] beginnt emporzusteigen, tritt in ihre kritische Phase und erfährt ihre bleibende Lösung […] gegen Ende der genannten Stadien. Jedoch heißt das nicht, daß sie dort wirklich beginnen und enden.“ (Erikson 1966: 13) Was wir aus dem Konzept von Erikson mitnehmen können, ist die zentrale Stellung von Krisen (vgl. Erikson 1966: 14 und Erikson 1966: 22) für die Identität und die Bedeutung für Individuen, sich als einheitlich (kohärent) und kontinuierlich zu erfahren. Keupp und Höfer (1997) verdeutlichen, dass das Modell von Erikson im Zuge von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen seine Stimmigkeit verloren hat. Gleichzeitig stützen sie meine Annahme, dass einzelne Aspekte der Theorie nach wie vor von Bedeutung sind. Sie schreiben: „Sie [die Überlegungen unter dem Motto ‚Abschied von Erikson‘] nahmen ihren Ausgangspunkt von realgesellschaftlichen Wandlungsprozessen, für die das Eriksonsche Identitätskonzept mit seiner Bedeutung von Kontinuität, Kohärenz und Identität als eines in der Adoleszenz zu akkumulierenden Besitzstandes persönlicher Sicherheiten und Klarheiten zunehmend seine Paßform verlor, wenngleich wir auf einige fundamentale Einsichten von Erikson wohl nach wie vor angewiesen sein werden.“ (Keupp/Höfer 1997: 14f.)

Mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ist im Speziellen ein Rückgang der Bedeutung von vorgefertigten „biographischen Entwurfsschablonen und Schnittmustern“ (Keupp/Höfer 1997: 16) für die Lebensführung gemeint, also das Ende der sogenannten Normalbiografie. Was bereits in der Identitätstheorie von Erikson angelegt ist, ist die Auffassung von Identität als Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Individuum ist auf Anerkennung durch andere angewiesen und orientiert sich an den „Standards derjenigen Umwelt, die für diesen Menschen bedeutsam ist“ (Erikson 1966: 9). Keupp u.a. (2002) nehmen diesen Aspekt auf, stellen

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jedoch die Sinnbildungsleistung des Individuums in den Mittelpunkt und beschreiben Identität als einen subjektiven Konstruktionsprozess, bei dem – und in diesem Punkt führen sie Erikson fort – eine Anpassung von innerer und äußerer Welt, eine Verhandlung von eigenen und kulturell nahegelegten Positionen angestrebt wird. (vgl. Keupp/Ahbe/Gmür 2002: 7) 2.2.2 Identität als subjektiver Konstruktionsprozess nach Heiner Keupp Die Anpassungsleistung von innerer und äußerer Welt im Sinne einer Verknüpfung von Erfahrungssplittern bezeichnen Keupp u.a. (2002) als Identitätsarbeit und prägen dafür die Patchwork-Metapher. Sie halten fest: „Schon eigene Alltagserfahrungen stützten die Vermutung, daß von den einzelnen Personen eine hohe Eigenleistung bei diesem Prozeß der konstruktiven Selbstverortung zu erbringen ist. Sie müssen Erfahrungsfragmente in einen für sie sinnhaften Zusammenhang bringen. Diese individuelle Verknüpfungsarbeit nennen wir ‚Identitätsarbeit‘, und wir haben ihre Typik mit der Metapher vom ‚Patchwork‘ auszudrücken versucht.“ (Keupp/Ahbe/Gmür 2002: 9f.)

Identitätsarbeit bedeutet einen täglichen Prozess des Neuinterpretierens und Herstellens von Sinn. Identität stellt eine kreative, schöpferische Leistung des Individuums dar: „In ihren Identitätsmustern fertigen Menschen aus den Erfahrungsmaterialien ihres Alltags patchworkartige Gebilde und diese sind Resultat der schöpferischen Möglichkeiten der Subjekte.“ (Keupp 2005: 4) Postmoderne Identitätstheorien gehen nicht mehr von einem stabilen Identitätskern aus, sondern von einem Individuum, das einem ständigen Wandel unterworfen ist und wie bei einem Patchwork aus unterschiedlichen, teils auch widersprüchlichen, Identitätsaspekten eine vorläufige Identität konstruiert. Mit dem Begriff „alltägliche Identitätsarbeit“ (Keupp/ Ahbe/Gmür 2002: 30) stellen die Autoren die Konstruktionsleistung des Individuums in den Mittelpunkt ihres Identitätskonzepts. Im Prozess des Sinnbastelns bilden Individuen ein Identitätsgefühl aus, indem Teilidentitäten aufeinander bezogen und biografische Erfahrungen bewertet und geordnet werden. Hitzer (1994) beschreibt den Prozess der Identitätskonstruktion als Bewältigungsaufgabe wie folgt: „Sinnbasteleien im hier gemeinten Verstande bezeichnen mithin all jene kleinen, alltäglichen Unternehmungen

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des individualisierten Menschen, unter, zwischen und am Rande der großen gesellschaftlichen Weltdeutungsprozeduren […] sein eigenes Leben zu bewältigen.“ (Hitzler 1994: 310) Identität als Passungs- und Verknüpfungsarbeit findet auf einer inneren und einer äußeren Dimension statt. Nach innen gerichtet braucht es für eine gelingende Identitätsarbeit Kohärenz, Selbstanerkennung, ein Gefühl der Authentizität und der Sinnhaftigkeit. Äußere Dimensionen sind die Erfahrung von Handlungsfähigkeit, Integration und Anerkennung. (vgl. Keupp 2005: 9f.) Im Vorgriff auf die Ausführungen über kritische Lebensereignisse kann festgehalten werden, dass Veränderungen im Bereich der äußeren Dimension der Identitätsarbeit eine Herausforderung an das Individuum darstellen. Fehlen im Kontext eines Auslandsaufenthaltes die Erfahrungen von Handlungsfähigkeit (Routinehandlungen greifen nicht mehr), Integration (das soziale Umfeld ändert sich schlagartig) und Anerkennung (kulturelle Unterschiede können zu Verunsicherungen führen), muss das Individuum verstärkt Identitätsarbeit leisten, indem Handlungsweisen adaptiert und neue kulturelle Aspekte verhandelt und in das bestehende Identitätskonzept eingebaut werden. Identität ist, so kann deutlich gezeigt werden, nichts Starres oder etwas, das ein Mensch besitzt, sondern etwas, das im Tun mit Mitmenschen und in der Auseinandersetzung mit der Umwelt immer wieder neu ausgehandelt und konstruiert wird. Identität ist, so kann dieses Unterkapitel zusammengefasst werden, ein Prozess des Tuns und der Bedeutungskonstruktion sowie ein individuelles Gefühl. Ein Identitätsgefühl entsteht nach Keupp u.a. (2002) aus der Selbstthematisierung und aus der Auseinandersetzung mit Teil-Identitäten heraus. Die Autoren beschreiben die Ausbildung des Identitätsgefühls als eine „Verdichtung sämtlicher biographischer Erfahrungen“ (Keupp/Ahbe/ Gmür 2002: 225). 2.2.3 Teil-Identitäten erleben und managen Der Begriff Teil-Identitäten verdeutlicht, dass Individuen nicht über eine einzige, einheitliche Identität verfügen. Vielmehr zeigen wir in unterschiedlichen Kontexten und Situationen jeweils andere Aspekte unserer Identitätsentwürfe. Im Alltag verfügen Menschen über verschiedene Rollen und wechseln meist ganz selbstverständlich diese Rollen je nach Kontext. So werden wir beispielsweise im beruflichen Alltag mit KollegInnen und Vorgesetzten anders kommunizieren, als wir dies mit unserem Partner/unserer

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Partnerin oder im Freundeskreis privat tun. Auch unser Kleidungsstil oder Gestik und Sprechweisen (Stilhöhen, Stimme) können sich grundlegend je nach aktualisierter Rolle unterscheiden. Mit diesen verschiedenen Rollen und der damit einhergehenden inneren Vielfalt zu jonglieren, ist eine wichtige Kompetenz, damit sich Individuen in der durch Pluralität geprägten Gegenwartsgesellschaft zurechtfinden können. Helga Bilden sieht Identität vor dem Hintergrund von innerer und äußerer Pluralität als ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. (vgl. Bilden 1997: 227) Individuen müssen die (teils auch widersprüchlichen) Teil-Selbste zueinander in Beziehung setzen und in einem ständigen Prozess des Wandels ein gewisses Maß an Kohärenzgefühl entwickeln, ohne jedoch die Teil-Selbste in einer rigiden Hierarchie erstarren zu lassen. (vgl. Bilden 2009: 14) Nicht nur offline, auch online bei der Nutzung digitaler Medien spielen unterschiedliche Identitätsaspekte eine Rolle. Danah Boyd hat im Jahre 2002 in ihrer Masterarbeit ausgeführt, dass Individuen online häufig über weniger Kontextwissen verfügen, um eine angemessene Selbstdarstellung zu realisieren. Die Trennung verschiedener Rollen kann aufgrund des geringeren Kontextwissens online schwieriger sein als offline und erfordert ein hohes Maß an Bewusstsein für die eigenen Identitätsfacetten sowie für deren adäquate Darstellung. (vgl. Boyd 2002: 11ff.) Teil-Selbste oder Teil-Identitäten sind online tendenziell schwieriger zu organisieren. Die Begriffe Teil-Selbste (Bilden), faceted identity (Boyd) wie auch Teil-Identitäten (Keupp u.a.) verweisen unisono auf unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte und Rollen und sind sich inhaltlich nahe. Im Verlauf der weiteren Arbeit wird jedoch einheitlich der Begriff (Teil-)Identitäten verwendet, da dieser Begriff stärker am Konzept von Identitätsarbeit im Sinne von Heiner Keupp angebunden ist. 2.2.4 Authentizität, Anerkennung und (Selbst-)Objektivierung im Kontext von Identitätsarbeit Die Erfahrungsmodi Kohärenz, Authentizität und Anerkennung liefern wichtige Hinweise für eine gelingende Identitätsarbeit. (vgl. Keupp/Ahbe/ Gmür 2002: 266f.) Neue Ansätze legen Kohärenz im Gegensatz zu Erikson neu aus. Kohärenz wird nicht mehr zwingend als eine innere Einheit und geschlossene Erzählung aufgefasst, wie aus dem folgenden Zitat von Keupp, Ahbe und Gmür hervorgeht:

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„Kohärenz kann für Subjekte auch eine offene Struktur haben, in der – zumindest in der Wahrnehmung anderer – Kontingenz, Diffusion […] und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Fragmente sein dürfen.“ (Keupp/Ahbe/Gmür 2002: 245)

Authentizität meint das Gefühl des Subjekts, durch den Prozess der Identitätsarbeit etwas Stimmiges und Gelungenes geschaffen zu haben. (vgl. Keupp/Ahbe/Gmür 2002: 263) Identitätskonstruktionen sind in Bezug auf Authentizität wesentlich von Selbstdarstellungen und, wie oben bereits angeführt, von Anerkennung abhängig – zwei Bereiche, die eng miteinander verwoben sind. Die Autoren Keupp, Ahbe und Gmür sehen unter Bezugnahme auf den Philosophen und Politikwissenschaftler Charles Taylor Anerkennung als zentralen Aspekt im Prozess der Identitätsarbeit. Sie fassen zusammen: „Wir haben im Mittelpunkt unserer Analyse vor allem das Ziel der Anerkennung gestellt, weil dieses sowohl in Primärbeziehungen, in Rechtsverhältnissen wie auch in Wertegemeinschaften eine herausragende Rolle einnimmt.“ (Keupp/Ahbe/Gmür 2002: 267)

Anerkennung beziehungsweise die Nicht-Anerkennung durch andere prägt die Identität mit, da das Verlangen nach Anerkennung ein menschliches Grundbedürfnis darstellt. (vgl. Taylor 1993: 13ff.) Identität ist nichts, das Individuen auf sich alleine gestellt hervorbringen können, es braucht vielmehr andere Menschen zur Ausbildung von Identität. Identitätsarbeit ist ein dialogischer Prozess, wie Taylor im Folgenden darstellt: „Meine eigene Identität hängt wesentlich von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen ab.“ (Taylor 1993: 24) In „Die Fesseln der Liebe“ (1991) untersucht Jessica Benjamin das Zusammenwirken von Liebe und Herrschaft. Sie entwickelt eine Theorie, in deren Zentrum die Beziehungen zwischen Subjekten zur Entwicklung des Individuums stehen. Erst durch gegenseitige Anerkennung erlangen Gefühle und Handlungen der Individuen Sinnhaftigkeit, was sie wie folgt ausführt: „Denn Anerkennung ist jene Reaktion der anderen, die die Gefühle, Intentionen und Aktionen des Selbst überhaupt erst sinnvoll macht.“ (Benjamin 1991: 16) Anerkennung versichert Individuen deren Existenz. Diese bestätigende Reaktion kann nach Benjamin durch andere Individuen erfolgen, aber auch reflexiv sein, indem wir uns in unbe-

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lebten Dingen erkennen. (vgl. Benjamin 1991: 24) Die reflexive (An-) Erkennung des Selbst spielt insbesondere bei der Beschäftigung mit digitalen Medien eine Rolle, erklärt sie doch die Lust am spielerischen Umgang der ComputernutzerInnen mit Profilen bei Sozialen Netzwerken. Neben dem Austausch mit anderen (Anerkennung im Dialog und durch die Reaktion der anderen) scheint gerade die Spiegelung von Identitätsentwürfen als Versicherung der eigene Existenz einen großen Teil des Reizes der Selbstdarstellung online auszumachen (reflexive Anerkennung). Anerkennungsprozesse haben einen stark normativen Charakter. Durch Anerkennung beziehungsweise Missachtung werden innerhalb der Sphären Wirtschaft, Recht und Familie Praktiken, Meinungen und Identitätsentwürfe sozial ausgehandelt. Axel Honneth spricht von einem „Kampf um Anerkennung“ und beschreibt die Regulierungsfunktion von Anerkennung wie folgt: „Daher vollzieht sich der Kampf um Anerkennung gewöhnlich in Form von Auseinandersetzungen um die Interpretation und Durchsetzung eines historisch noch uneingelösten Anerkennungsversprechens; nicht beliebige Ansprüche werden geltend gemacht, nicht irgendwelche Forderungen nach Anerkennung erhoben, sondern nur solche, die im Lichte gemeinsam geteilter Überzeugungen und Normen als intersubjektiv begründungsfähig gelten können.“ (Honneth 2013: 34)

Honneth führt aus, dass aufgrund der erodierten offiziellen Anerkennungsphären wie der Wirtschaft Individuen immer häufiger soziale Anerkennung mit nicht-normierten Mitteln erkämpfen müssen. (vgl. Honneth 2013: 36) Ein Ausdruck für das kompensatorische Streben nach Anerkennung heute wie es Axel Honneth beschreibt, so möchte ich hinzufügen, kann in der zunehmenden Selbstdarstellung in Online-Netzwerken und in der Online-Kommunikation in Diskussionsforen im Internet gesehen werden. Den dialogischen Charakter von Identität betont George Herbert Mead in seinen Ausführungen aus Sicht der Sozialpsychologie. Nach Mead ist es die Sprache, die es Individuen ermöglicht, Identität auszudrücken. Durch die Übernahme von Rollen und einen bewussten Perspektivenwechsel kann ein Individuum sich selbst als Objekt erfahren. Er erläutert: „Insofern man die Rolle eines anderen übernehmen kann, kann man gegebenenfalls aus dieser Perspektive auf sich selbst zurückblicken (oder auf sich selbst reagieren) und so für sich selbst Objekt werden.“ (Mead 1968: 26f.) Dialogizität und Selbstobjektivierung als Charakteristika des Identitätsbildungsprozes-

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ses laufen bei Mead im Begriff des ‚verallgemeinerten Anderen‘ zusammen. Er schreibt: „Gerade die Universalität und das unpersönliche Wesen des Denkens und der Vernunft ist [...] das Ergebnis der Tatsache, daß das jeweilige Individuum die Haltung anderer sich selbst gegenüber übernimmt und daß es schließlich alle diese Haltungen zu einer einzigen Haltung oder einer einzigen Position kristallisiert, die als die des verallgemeinerten Anderen bezeichnet werden kann.“ (Mead 1968: 130)

Das Phänomen, dass Menschen sich selbst als Objekt beziehungsweise aus der Perspektive eines verallgemeinerten Anderen heraus wahrnehmen können, haben auch Birgit Richard, Jan Grünwald und andere in einer jüngeren Studie am Beispiel einer Analyse von Bildpraktiken Jugendlicher auf Social Networking Sites (wie Flickr.com oder YouTube.com) empirisch herausgearbeitet. Sie fassen zusammen: „Die Flickr-Bilder zeigen Inszenierungen, die geleitet von Bild-Vorgaben und visuellen Konventionen ein Me, das heißt meine visuellen Identität(en) aus der Sicht der anderen, mein soziales Selbst, herstellen. Es ist das Ich aus dem Blickwinkel des generalisierten Anderen; meine Vorstellung davon, wie mich andere sehen, wird visualisiert.“ (Richard u.a. 2010: 145)

Was Mead abstrakt formuliert, hat Goffman in seinem interaktionistischen Ansatz an konkreten Beispielen dargelegt. Personen (Darsteller) orientieren sich bei der Selbstdarstellung an eingeübten Rollenmustern wie auch am Feedback anderer. In seiner Theatermetaphorik bezeichnet Goffman die anderen als das Publikum. Analysiert Goffman meist Interaktionen, bei denen das Publikum unmittelbar physisch anwesend ist, so gibt er allerdings auch Hinweise auf die Relevanz eines nichtanwesenden, nur vorgestellten Publikums, was insbesondere im Kontext von Virtualität mitberücksichtigt werden sollte: „Wenn ein Darsteller das, was er privat tut, nach seinen moralischen Maßstäben ausrichtet, kann er diese Maßstäbe mit einer bestimmten Gruppe von Menschen in Verbindung bringen, und sich so ein nichtanwesendes Publikum seiner Tätigkeit schaffen. […] Der Einzelne kann sein eigenes Publikum sein, oder er kann sich einbilden, es sei ein Publikum anwesend.“ (Goffman 2004: 76f.)

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Feedback wird – so macht das oben angeführte Zitat von Goffman deutlich – von DarstellerInnen antizipiert und formt Selbstdarstellungen, Handlungen und Praktiken mit. Ein imaginiertes Publikum spielt im Hinblick auf Identitätsarbeit eine Rolle. Keupp/Ahbe/Gmür u.a. (2002) gehen davon aus, dass ein Großteil des Verhandlungsprozesses von Identität vor einem imaginären Publikum stattfindet. (vgl. Keupp/Ahbe/Gmür u.a. 2002: 105) Individuen orientieren sich an anderen, an einem Publikum, das auch imaginiert sein kann und antizipieren mögliches Feedback, um mit ihrem Verhalten Anerkennung zu erhalten. Ermöglicht wird dies, da Individuen, wie bereits mit Mead ausgeführt wurde, zu sich selbst in Distanz treten und sich als Objekt wahrnehmen können. 2.2.5 Bloggen als Technologie des Selbst Wie wird ein menschliches Wesen durch konkrete Handlungen zu einem Subjekt? Michel Foucault beschreibt spezielle Selbsttechniken, die Menschen einsetzen, um sich selbst zu verstehen und die es „dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen […]“ (Foucault 1993: 26). Als Beispiele führt Foucault die christliche Tradition der Beichte oder das Schreiben von Tagebüchern als Selbsttechnologien an. (vgl. Foucault 1993: 37ff.) Schreiben als konstruierende Tätigkeit, so führt Christina Schachtner aus, geht über die Analyse des Vorhandenen hinaus. (vgl. Schachtner 2009a: 512) Die Medienwissenschaftlerin greift die Theorie von Foucault auf und wendet die Erkenntnis auf das Schreiben im Cyberspace an. Schachtner postuliert: „Das Schreiben im Cyberspace weist Merkmale auf, die dafür sprechen, dass die Sorge um sich selbst neu auflebt und sich mit der Maxime der Selbsterkenntnis verbindet.“ (Schachtner 2009a: 512) Auf Weblogs angewendet kann ersten empirischen Ergebnissen zufolge davon ausgegangen werden, dass die VerfasserInnen sich im Medium gespiegelt sehen. Ein Weblog bietet den NutzerInnen die Möglichkeit symbolischer Identifikation, wie dies Jodi Dean im Folgenden verdeutlicht: „It [the weblog] provides the subject with an ego ideal, a point of symbolic identification.“ (Dean 2010: 54) Das Weblog selbst ist nach Dean ein Medium zur Herstellung von Identität, sie schreibt: „Blogs mark and mediate these identities, whatever they might be.“ (Dean 2010: 57) Das geschieht, so wird

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noch zu zeigen sein, insbesondere durch das Schreiben, wobei Bloggen eine besondere Art des Schreibens darstellt durch die gleichzeitig nach innen (reflexives Selbstgespräch) wie nach außen (öffentliche Selbstdarstellung und Dialog) gerichtete Kommunikation. 2.2.6 Identitätsarbeit durch Erzählen Menschen wollen die Welt, in der sie leben, verstehen, worauf James Pennebaker und Janel D. Seagal (1999) wie folgt verweisen: „Within the psychological literatur, there is a broadly accepted belief that humans […] seek to understand the worlds around them.“ (Pennebaker/Seagal 1999: 1250) Ist ein Ereignis erst in eine logische Ordnung gebracht, können sich Individuen bei wiederholtem Auftreten besser darauf einstellen. Bei außergewöhnlichen Ereignissen, so führen Pennebaker und Seagal im Folgenden aus, hilft das Herstellen einer narrativen Struktur: „By definition, then, we will be far more motivated to learn about events that have unwanted or, on the contrary, very desired consequences than about common or predictable events that don’t affect us.“ (Pennebaker/Seagal 1999: 1250) Unabhängig von der graduellen Unterscheidung in außergewöhnliche oder erwünschte/unerwünschte und alltäglichere Ereignisse, können Narrationen als Technologien des Selbst im Sinne von Foucault aufgefasst werden. Täglich stehen Individuen vor der Aufgabe, Ereignisse zu analysieren und in einen Sinnzusammenhang zu bringen. (vgl. Pennebaker/Seagal 1999: 1250) Die unterschiedlichen Ereignisse eines Tages, einer Woche, eines Lebens sowie disparate Rollen und (Teil-)Identitäten müssen von den Subjekten ständig in einen inneren Zusammenhang gebracht werden, damit diese sich als kohärente und kontinuierliche Subjekte erleben können. Nach Wolfgang Kraus werden Kohärenz (der innere Zusammenhang) sowie Kontinuität (Einheitserleben über die Zeit) über Selbst-Narrationen hergestellt. (vgl. Kraus 2000: 159) Und beide Aspekte, Kohärenz wie auch Kontinuität, wurden in diesem Kapitel bereits als identitätsrelevant benannt und beschrieben. Kraus führt aus: „Erzählend organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einen geschlossenen Verweisungszusammenhang.“ (Kraus 2000: 159f.) Die Strukturen, in denen erzählt wird, sind keineswegs beliebig, sondern sozial determiniert. (vgl. Kraus 2000: 160) So müssen Narrationen beispielsweise, je nach kulturellem Kontext, plausibel aufgebaut und geschildert werden. Denn nur dann, wenn andere Personen

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die Erzählung unterstützen und validieren, kann Identität glaubwürdig intersubjektiv hergestellt werden. (vgl. Kraus 2000: 181) Berücksichtigen wir diese sozialen Bedingungen von Narrationen, so verwundert es nicht, dass Wolfgang Kraus zu dem Ergebnis kommt, dass Alltagsnarrationen vor allem als Normalitätsbeschwörungen vorherrschen. Die so entstehenden narrativen Identitäten werden durch wiederholtes Erzählen in einem ständigen Prozess der Anpassung immer weiter fortgeschrieben, geglättet und, je nach Publikum im Sinne von Goffman, umgeschrieben. (vgl. Kraus 2000: 237) Narrationen stabilisieren nicht nur Identitätsprojekte und ermöglichen einem Individuum, in einen gesellschaftlichen Erzählraum einzutreten, sie helfen des Weiteren dabei, Komplexität zu reduzieren. Pennebaker und Seagal (1999) erläutern die Funktion des Erzählens wie folgt: „Once a complex event is put into a story format, it is simplified. The mind doesn’t need to work as hard to bring structure and meaning to it.“ (Pennebaker/Seagal 1999: 1250) Die Inhalte des World Wide Web speisen sich nicht nur aus Bildern und Videos, sondern sind in großem Ausmaß von Texten getragen. Weblogs bestehen zu einem erheblichen Teil aus Texten beziehungsweise Erzählungen. Röll beschreibt die Bedeutung von Weblogs für die narrative Identitätsarbeit folgendermaßen: „Weblogs sind der Ausdruck einer Selbstrepräsentation und zugleich einer fortlaufenden Selbstnarration. […] Durch die Präsentation des eigenen Selbst gegenüber anderen aktualisieren sich Mechanismen des Identitätsmanagements.“ (Röll 2008: 93)

Narrationen sind grundlegend ein anthropologisches Phänomen. Sie begegnen uns in unserem täglichen Leben und sind, wie Nicole Mahne (2006) festhält, nicht nur im Bereich der Literatur relevant: „Das Narrative wird nicht nur im künstlerischen Schaffensprozess fiktionaler Literatur umgesetzt, sondern beschreibt ein höchst komplexes und vielfältiges Alltagsphänomen.“ (Mahne 2006: 11) Erzählungen sind grundlegende Ausdrucksformen unseres Lebensalltags und ein Konstruktionsprinzip von Bedeutung. Mahne beschreibt das Erzählen als ein Verfahren der Weltaneignung und Identitätsbildung. (vgl. Mahne 2006: 10) Das Erzählen beinhaltet eine anthropologische Dimension, Mahne schreibt: „Das Bedürfnis, die Zeitgebundenheit der menschlichen Existenz in ein sinnvolles Erklärungsmodell zu überführen, wird als Grundfunktion des Narrativen bezeichnet.“ (Mahne

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2006: 9f.) Über Narrationen wird Welt erfahr- und mitteilbar. Wolfgang Kraus spricht in Bezug auf Identitätskonstruktionen von der „Gestaltung einer Selbsterzählung“ (Kraus 2009: 3). Der Begriff Selbst-Erzählung verweist auf die narrativen Strukturen, derer es bedarf, um Identität herzustellen und mitzuteilen. Narrative Identität ist ein Ansatz, um die subjektive Konstruktion von Identitätsprojekten zu erklären. Die entstehenden ‚Selbstgeschichten‘ sind kein stabiles Konstrukt, sondern in ständigem Wandel begriffen, wie Kraus im Folgenden darlegt: „Insofern ist die Selbstgeschichte in der Tat ein ‚work in progress‘, dessen Teile sich immer wieder verändern, je nachdem wie die Zuhörerschaft darauf reagiert und je nachdem, wie wir aktuelles Erleben integrieren müssen.“ (Kraus 2009: 5)

Kraus führt weiter aus, dass Selbsterzählungen auf soziale Interaktionen, zum Beispiel auf die Bestätigung eines vermittelten Selbstbildes durch andere, angewiesen sind. Diese Rückmeldungen werden, so Kraus, bereits bei der Konstruktion der Selbst-Narration mitberücksichtigt, beispielsweise in Form der Berücksichtigung von anerkannten Normen. (vgl. Kraus 2009: 5) Besonders für narrative Identitätsarbeit in Weblogs ist interessant, dass Kraus davon ausgeht, dass diese Aushandlung der Identität auch mit einem imaginären Publikum, wie dies bereits anhand der Ausführungen von Goffman dargestellt worden ist, erfolgen könne: „Möglicherweise ist der größte Teil des Verhandlungsprozesses antizipatorisch und findet vor einem imaginären Publikum statt, was wiederum die reale menschliche Interaktion entlastet.“ (Kraus 2009: 5) Für die Identitätsarbeit mit online geführten Journalen kann abgeleitet werden: Prinzipiell öffentlich einsehbare OnlineTagebücher werden einerseits für ein reales (bekanntes) Publikum geschrieben und andererseits für ein imaginäres Publikum, das im Akt der Selbstreflexion und -darstellung als ‚Aushandlungspartner‘ fungiert und bei der Konstruktion von Selbst-Narrationen mitgedacht wird. In Übereinstimmung mit neueren Theorien, die sich mit Identität beschäftigen, sieht Kraus die Selbsterzählung eines Menschen nicht als stabile, unveränderliche Einheit mit Kontinuität, sondern vielmehr als Prozess. Er postuliert: „Vielmehr geht es um die Analyse von Erzählversuchen, Umerzählungen und Neuerzählungen dieses Subjektes, um seine identitätsstrategischen Bewegungen.“ (Kraus 2009: 6) Im World Wide Web begegnen uns Narrationen, mit deren Erzählen Identitätsarbeit geleistet wird. Röll benennt die Rolle von Online-

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Kommunikation für die Identitätsarbeit wie folgt: „Durch themenbezogene Interaktion und authentische Selbstrepräsentation im Internet kann die Konstruktion von Identitätsaspekten erweitert werden.“ (Röll 2008: 93) An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass nicht nur authentische Selbstrepräsentationen identitätsrelevant sind. Aspekte der Fiktion und Imagination sind in Bezug auf Identitätsarbeit ebenso bedeutsam. Narrationen ermöglichen das Bilden und ‚Lesen‘ von Sinnzusammenhängen. In narrativer Form stellen NutzerInnen persönliche Erzählungen in Weblogs online. Diese Narrationen, so kann abgeleitet werden, können als kreativer Ausdruck von TeilIdentitäten und somit als Identitätsarbeit betrachtet werden. Im expressiven Selbstausdruck findet Selbstreflexion, die Auslotung und Veränderung von Identität wie auch die Stabilisierung von Selbstaspekten statt. Erfahrungen zu erzählen bringt, so Helga Bilden (2009), das Heterogene zusammen. Die Autorin verweist auf die Praktik des Tagebuchschreibens und auf Weblogs, indem sie wie folgt ausführt: „Auch narrativ kann das Heterogene zusammengebracht werden, indem man sich und anderen seine Erfahrungen erzählt, ohne unbedingt einen Sinn des Lebens zu unterstellen (z.B. auch mittels Tagebuch, heute vielleicht in bestimmten Weblogs).“ (Bilden 2009: 23)

Durch Narrationen, durch das Erzählen unserer (Lebens-)Geschichte(n) können wir Sinn generieren und uns für andere verständlich machen. Erzählungen erfüllen in der Kommunikation mit anderen eine zentrale Rolle, denn egal ob wir hoffen, träumen, glauben, zweifeln, erinnern, hassen oder lieben, immer nutzen wir dabei die Form der Erzählung, wie Gergen und Gergen (1988) betonen: „In a significant sense, then we live by stories – both in the telling and the doing of self.“ (Gergen/Gergen 1988: 18) Über einen zeitlichen Verlauf hinweg bilden Erzählungen über relevante Ereignisse („self-relevant events“ nach Gergen und Gergen 1988) SelbstNarrationen. Ziel sei primär die kohärente Verbindung von Lebensereignissen. Unzählige kleine aufeinander abgestimmte Geschichten werden von Individuen zur Lebensgeschichte verwoben und werden zur gegenwärtigen Identität. Identität ist somit ein Prozess des Erzählens. (vgl. Gergen/Gergen 1988: 19) Narrationen ermöglichen uns den Zugang zu kulturellem Wissen und bieten eine Möglichkeit, eigene Wünsche und Ziele („intentions“) auszudrücken sowie mit anderen in Beziehung zu treten. (vgl. Erstad/Wertsch

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2008: 28) Erzählt werden darf und kann allerdings nicht alles. Narrationen als soziale Vereinbarungen unterliegen Regeln, nach denen zwischen einer richtigen, angemessenen und einer unangemessen Selbst-Erzählung unterschieden wird: „Narrative forms of explication are a frequent means of generating what we take to be true or accurate accounts of self.“ (Gergen/ Gergen 1988: 20) Narrationen werden in einem sozialen Raum kreiert. Wir erzählen uns anderen und Selbst-Erzählungen als öffentliche Darstellungen wirken auf das Subjekt zurück, sind Gegenstand von sozialen Bewertungen: „Thus, as narratives are realized in the public arena, they become subject to social evaluation and resultant molding.“ (Gergen/Gergen 1988: 38) Analysieren wir Narrationen im Hinblick auf die Veränderungen des Individuums und seiner Umgebung auf einer Zeitachse, so können drei grundlegende Erzählweisen festgestellt werden: • • •

die stabile Erzählung, die progressive Erzählung und die regressive Erzählung. (vgl. Gergen/Gergen 1988: 24)

Erste empirische Ergebnisse der Studie BlogLife legen die Annahme nahe, dass Studierende Narrationen über das Auslandssemester primär progressiv aufbauen. Nach einer Phase der Destabilisierung (regressive Erzählung des Kulturschocks und der mangelnden Orientierungsmöglichkeiten in der neuen Umgebung) folgt die Erzählung einer positiven Entwicklung und eines Wachstums/einer Kompetenzentwicklung (progressive Narration). Der Blogger Christoph (23) aus Wien berichtet im Interview von anfänglichen Schwierigkeiten im Ausland und wie er diese gemeistert hat und – schlussendlich – eigentlich alles gar nicht so schlimm und schwierig gewesen wäre: „Also wie ich dann auch die Anfangsschwierigkeiten, bis das dann alles klappt […] ich glaube es war eh (Pause) ganz der Anfang, wie ich angekommen bin […] In der Bibliothek dort die Schwierigkeiten […].“ (Christoph)

Hier ist ein deutlicher Bruch in der Erzählung zu bemerken. Zur eigenen Selbstversicherung werden die Erlebnisse umgestaltet und in eine progressive Erzählung transformiert, wie in der nächsten Interviewpassage deutlich wird:

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„Ja, weil es sehr gut funktioniert hat und ich mir eigentlich gedacht habe, dass es schon schwieriger ist. […] Man hat am Anfang dann noch das Sprachproblem, aber das hat sich dann auch relativ schnell alles ergeben und es war auch so, wie ich dort angekommen bin, habe ich mich sofort irgendwie zuhause gefühlt. Von dem her war das eigentlich schon ganz gut.“ (Christoph)

Allerdings sind nicht alle Narrationen auf vergangene Ereignisse bezogen. Erzählt werden können im Sinne einer Identitätsstrategie auch Identitätsprojekte. Identitätsprojekte sind auf die Zukunft bezogen und enthalten „Zukunftsvorstellungen als komplexe Selbstentwürfe“ (Kraus 2000: 164). Dass Narrationen nicht beliebig sind, konnte bereits mit Blick auf deren sozialen Charakter dargestellt werden. Gergen und Gergen zeigen darüber hinaus, dass Narrationen idealtypisch fünf Konstruktionsprinzipien folgen: A) Erzählungen verfügen über einen Endpunkt, auf den sie zusteuern und der einen besonderen Wert hat. B) Auswahl relevanter Ereignisse im Hinblick auf das Ziel, den Endpunkt. C) Zeitliche Abfolge der Ereignisse, lineare Erzählweise; D) Kausale Verbindungen der Ereignisse; E) Setzung von Grenzzeichen zur Markierung von Anfang und Ende der Narration. (vgl. Gergen/Gergen 1988: 20ff.) Die narrativen Ausprägungen von Identität unterliegen jeweils historischen Bedingungen und ändern sich in dem Maße, wie sich Medien technologisch und in ihrer Verbreitung wandeln und weiterentwickeln. Theoretische Ansätze, die sich mit narrativer Identitätskonstruktion beschäftigen, müssen demnach auf soziale und technologische Veränderungen reagieren. Jos de Mul führt aus: „Die Entwicklung der Hypermedien wie das World Wide Web machen eine Ausdehnung der Vorstellung der Narrativität und implizit der narrativen Identität notwendig.“ (Mul 2008: 325) Medien haben sich heute vervielfältigt, nicht mehr nur das Buch muss berücksichtigt werden. Narrationen sind heute multimedial und interaktiv. (vgl. Mul 2008: 326) Wie können nun Erzählungen empirisch untersucht werden? Wolfgang Kraus führt drei Schritte auf, um Narrationen systematisch erfassen zu können: • • •

Stilanalyse (Formen, Stilmittel, Gliederung; Wie wird erzählt?) Inhaltsanalyse der Identitätsprojekte (Worüber wird erzählt?) Narrationsanalyse (Welche Typen von Geschichten werden erzählt?) (vgl. Kraus 2000: 193ff.)

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Die vorliegende Studie erweitert diese drei oben angeführten Forschungszugänge nach Kraus, indem die Frage gestellt wird, warum erzählt wird. Dieser neuen Dimension wurde in der Studie BlogLife nachgegangen. In der Kombination textueller und motivationaler Analysen liegt der Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis der Praktik Bloggen. In dem bereits an anderer Stelle zitierten Essay von Dirk von Gehlen (2009) verweist der Autor auf die strukturierende und ordnende Funktion öffentlicher Erzählungen und gibt damit eine Antwort auf die Frage, „was Menschen heute beim Bloggen, Posten und Hochladen im Internet suchen: eine erzählerische Ordnung der Dinge im Selbstgespräch der Zeit. Mittels des OnlinePublizierens können sie sich einschreiben in den Faden der Erzählung, ihren eigenen Lebensfaden einweben in die Aufreihung all dessen, was in Raum und Zeit und vor allem öffentlich geschieht.“ (von Gehlen 2009).

2.3 I DENTITÄT

UND DIGITALE

M EDIEN

In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, wie Menschen sich durch Technologien des Selbst erkennen und formen. Erzählungen dienen als zentrale Medien zur Identitätskonstruktion. Entstehen im Zuge der historischen Entwicklung neuartige Medien, bauen Individuen diese technischen Artefakte in unterschiedlichem Ausmaß in ihren Alltag ein. Viele dieser Medien werden zu einem selbstverständlichen Teil der Lebenswelt und sind mit täglichen Routinen eng verwoben. Medien wie beispielsweise das Fernsehen oder Radio strukturieren dabei den Alltag durch Programmfixpunkte, schaffen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt durch die Schaffung eines gemeinsamen Bezugsrahmes und geteilter Inhalte. Mediale Produkte liefern RezipientInnen gleichzeitig Angebote für mögliche Identitätskonzepte in Form von Vorbildern und Werthaltungen. Mit und durch Medien können Individuen Identitätsarbeit leisten. Über unsere Mediennutzung drücken wir einen gewissen Lebensstil und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aus. Durch den Gebrauch und Konsum bestimmter Medien zeigen wir anderen, wer wir sind und wie wir sind beziehungsweise wie wir sein und wahrgenommen werden wollen. Über mediale Produkte können wir an unserer Selbstdarstellung arbeiten, Anerkennung erhalten und somit Identitätsarbeit leisten. Technische Artefakte als Kom-

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munikationsmedien werden zur Bedingung von Subjektkonstitution, denn „Identität muss, um sozial wirksam werden zu können, immer veräußert werden.“ (Misoch 2004: 13). Christina Schachtner hat dies am Beispiel des Computers wie folgt dargelegt: „Die Welt der technischen Artefakte ist Produkt menschlicher Entäußerung und wird als solche zur Bedingung der Konstitution von Subjektivität [...].“ (Schachtner 2003: 158) Mit Bezug auf den Philosophen und Psychologen Wilhelm Dilthey beschreibt Jos de Mul Identität als medial vermittelt: „Nur durch das kontinuierliche SichAusdrücken in verschiedenen Medien, wie z.B. Sprache, Gestik, Artefakte, Einrichtungen u.s.w., artikuliert sich das Selbst und gibt sich eindeutig zu verstehen.“ (de Mul 2008: 321) 2.3.1 Nutzungsstatistiken digitaler Medien Gegenwärtig sehen wir eine starke Zunahme der Nutzung digitaler Medien. In Österreich verfügten im Jahre 2010 insgesamt 72,9 Prozent der Haushalte über einen Internetanschluss. Im Jahre 2002 waren es im Vergleich dazu lediglich 33,5 Prozent. (vgl. Statistik Austria 2010a) Die ARD/ZDFOnlinestudie aus dem Jahre 2009 zeigt deutlich, dass das Medium Internet immer weiter in den Alltag der NutzerInnen integriert wird: „Dies manifestiert sich nicht nur in der steigenden zeitlichen Zuwendung, sondern auch in der täglichen Reichweite des Mediums.“ (ARD/ZDF-Onlinestudie 2009: 335) Chats, soziale Netzwerke, Weblogs und vieles mehr werden beruflich wie privat intensiv von einer breiten Bevölkerungsschicht genutzt und sind – in entwickelten Industrienationen wie Österreich – ein selbstverständlicher Teil der Lebenswelt geworden, weshalb auch angenommen werden kann, dass digitale Medien und die vielfältigen Anwendungen des Internets identitätsrelevant sind. Nicht jede Nutzungsweise wirkt sich auf die Identität aus. Ist der Internetgebrauch jedoch im Hinblick auf die Identitätsarbeit von Bedeutung, spricht Döring von einer identitätskritischen Form der Nutzung. (vgl. Döring 2003: 326) Im weiteren Verlauf der Arbeit wird, entgegen der Ausführungen von Döring, der Begriff ‚identitätsrelevant‘ verwendet, da dieser unmissverständlicher ist. Populäre Begriffe wie social media oder soziale Netzwerke verdeutlichen, dass konkrete Menschen mit konkreten sozialen Bedürfnissen hinter den im World Wide Web verbreiteten Inhalten stehen. Edward Barrett verdeutlicht bereits im Jahre 1992 mit dem

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Begriff „Sociomedia“, dass Computer- bzw. Internetanwendungen soziale Zwecke erfüllen. Er führt aus: „Sociomedia suggestes that computer media exists for ‚social‘ purposes: as means to objectify, exchange and collaborate, invoke, comment upon, modify and remember thoughts and ideas (including ‚information‘).“ (Barrett 1992: 1)

2.4 O NLINE -W ELTEN

ALS NEUE

E RFAHRUNGSRÄUME

Digitale Medien, worunter auch Weblogs gefasst werden, können als ein „zeichengestützter Zusatzraum“ (Faßler/Hentschläger/Wiener 2003: 21) von Individuen beschrieben werden. Die oftmals kritische Einschätzung von virtuellen Räumen als Realitätssurrogate greift deshalb zu kurz, weil NutzerInnen auch im Cyberspace reale Erfahrungen machen – erleben beispielsweise Freude oder Ärger –, wie Faßler betont: „Wir haben es also nicht mit Realitätsimitaten zu tun, die unter der Hand zu Realitätsersätzen mutieren. […] Kein Medium funktioniert als Realitätsersatz. Allerdings erzeugen Menschen mit Medien zeichengestützte Zusatzräume. Es sind die Zusatzräume, die die Selbstorganisation der Beobachtung erst ermöglichen.“ (Faßler/ Hentschläger/Wiener 2003: 21)

Nicola Döring sieht in der Onlinekommunikation weniger einen Ersatz, als vielmehr eine Ergänzung und Bereicherung der Kommunikation. Sie führt aus: „Intensive Onlinekommunikation ist in der Regel kein Ersatz, sondern eine Ergänzung und oft auch Bereicherung herkömmlicher Kommunikations- und Ausdrucksformen.“ (Döring 2005: 39) Döring plädiert für ein Stufenmodell und spricht von einem je unterschiedlichen Realitätsgehalt des Virtuellen je nach Anwendung. Wie Barrett oder Faßler betont Döring den sozialen Erfahrungsraum, den ‚Online-Welten‘ darstellen: „Zunächst einmal machen natürlich die Nutzerinnen und Nutzer des Systems ‚reale‘ soziale Erfahrungen (z.B. freuen sie sich, einander zu treffen oder ärgern sich, wenn es bei der Konstruktion des virtuellen Hauses Probleme gibt).“ (Döring 2003: 46)

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In diese virtuellen, multimedialen Räume hinein projizieren NutzerInnen Träume und Fantasien. An die virtuelle Repräsentation wird häufig die Hoffnung geknüpft, die körperliche Endlichkeit zu überwinden und sich ein unsterbliches Monument zu kreieren. Julia Schäfer sieht im Trend zu virtuellen Friedhöfen einen Beleg für dieses Hineintragen der Wunschvorstellung eines ewigen Lebens in den Cyberspace. (vgl. Schäfer 2002: 138f.) Das ‚interaktive Vermächtnis‘ verspricht über die Erstellung einer virtuellen Gedächtnisseite nichts weniger als das ewige Leben: „Leben Sie ewig in der virtuellen Realität des Internet!“, lautet der Slogan auf der Website.11 Im Kontext von postmodernen Lebenswelten hat Zygmund Bauman die Sehnsucht nach Ewigkeit und Unsterblichkeit als ein Merkmal des postmodernen Menschen herausgearbeitet. Für Bauman sind das Streben nach „Überleben“ (Bauman 1994: 14), im Sinne der Vermeidung und des Hinauszögern des Todes, und das Verlangen nach „Unsterblichkeit“ (Bauman 1994: 15), sprich das Weiterleben in geschaffenen Werken und den Erinnerungen anderer Menschen, zentrale Elemente der gegenwärtigen Kultur. 2.4.1 Der virtuelle Kampf gegen das Vergessen Zeitungsartikel, Bücher und Webprojekte dokumentieren nicht nur Versuche, im Cyberspace ewiges Leben zu erreichen, sondern verdeutlichen auch den Wunsch, durch Technik natürliche Leistungsgrenzen des Gedächtnisses zu umgehen und dem Vergessen den Kampf anzusagen. Technische Geräte wie der Computer werden im Sinne von McLuhan als Organerweiterung erlebt, wie Sherry Turkle (2008) ausführt: „[…] our devices have become more closely coupled to our sense of our bodies and increasingly feel like extensions of our mind.“ (Turkle 2008: 132) Die Metapher der Organerweiterung umfasst bereits in den Ausführungen von McLuhan sowohl psychische als auch physische Aspekte. McLuhan führt aus: „All media are extension of some human faculty – psychic or physical.“ (McLuhan 1967: 26) Danah Boyd hat McLuhans Ansatz aufgenommen und auf Weblogs angewandt, wie aus folgender Passage hervorgeht: „Blogs are precisely this; they allow people to extend themselves into a networked digital environment that is often thought to be disembodying.“ (Boyd 2006: 10) Gordon Bell und Jim Gemmel beschreiben in „Total Recall“ (Bell 2009) den

11 URL: http://www.ewigesleben.de [14.11.2011].

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eigenen Wunsch nach einem digitalen Gedächtnis, einem e-memory, in dem das ganze Leben in Bildern, Texten, Audiodateien, Dokumenten, Geodaten, Gesundheitsdaten und vielem mehr aufbewahrt wird: „But soon you will be able to record your entire life digitally.“ (Bell 2009: 3) Das Projekt ‚MyLifeBits‘12 von Bell wird vorangetrieben durch den Wunsch, in der Virtualität ein überdauerndes Monument des Selbst zu schaffen: „With such a body of information it will be possible to generate a virtual you even after you are dead.“ (Bell 2009: 6) Die Computerexperten Bell und Gemmel sind nicht die ersten, die mit Hilfe jeweils verfügbarer Film- und Computertechnologien anstreben, das ganze Leben lückenlos zu dokumentieren. „Bereits 1945 entwarf der Atomwissenschaftler Vannervar Bush ein Konzept, bei dem mit Hilfe einer Stirnkamera und eines Analogcomputers das Leben des Benutzers auf Mikrofilm archiviert werden sollte.“ (Köhl/Hufler 2009) Einerseits kann ein digitales Gedächtnis helfen, Gedanken zu einem spezifischen Zeitpunkt zu archivieren und später selbstreflexiv zu erinnern und durchzuarbeiten, andererseits müssen Risiken wie Datenmissbrauch, Schutz der eigenen Privatsphäre sowie jener von anderen Personen und Selbstzensur als kritische Momente beachtet werden. Darüber hinaus kann es für die persönliche Entwicklung auch sinnvoll sein, zu vergessen, wie dies beispielsweise Mayer-Schönberger in „Delete“ (2010) nachzeichnet. Der Autor geht von der Feststellung aus, dass im digitalen Zeitalter zu viel erinnert und dass das Vergessen durch digitale Medien erschwert werde, da beispielsweise automatisch sämtliche E-Mails oder sehr viele Fotografien dauerhaft gespeichert sind. „Wenn Zugänglichkeit und Dauerhaftigkeit sich verbinden, können Menschen ihrer Vergangenheit nicht mehr entfliehen.“ (Mayer-Schönberger 2010: 125) Das Vergessen, so die Position von Mayer-Schönberger, spiele allerdings für die persönliche Weiterentwicklung und das Entscheidungsvermögen eine wichtige Rolle: „Es [das Vergessen] ermöglicht uns, in der Gegenwart zu leben, indem wir vergangene Ereignisse berücksichtigen, ohne uns aber von ihnen lähmen zu lassen.“ (Mayer-Schönberger 2010: 22) Aspekte des Erinnerns werden in Kapitel vier mit Blick auf die empirischen Daten der Studie BlogLife näher diskutiert.

12 Mehr Informationen zu ‚MyLifeBits‘ auf der Microsoft Research Website unter der URL: http://research.microsoft.com/en-us/projects/mylifebits/ [28.4.2011].

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2.5 I CH BIN VIELE – D AS S PIEL MIT DEN I DENTITÄTEN IM S PIEGEL DIGITALER M EDIEN „Auf dem Gebiet der Fiktion finden wir jene Mehrzahl von Leben, deren wir bedürfen.“ (Freud 1991: 134) In einer Rede aus dem Jahre 1915 positioniert Sigmund Freud das Theater, die Literatur, generell den Bereich der Fiktion, als Surrogat für eine angenommene „Verarmung des Lebens“ (Freud 1991: 134) durch ein starkes Sicherheitsbedürfnis und damit einhergehend durch die Vermeidung von lebensbedrohlichen Risiken. Gegenwärtig haben die digitalen Medien einen Teil dieser Aufgabe übernommen. Ich sehe hier eine Verbindung zur Mediennutzung als Kompensation von erlebten Mängeln, wie dies beispielsweise Sherry Turkle schon 1995 in „Life on the Screen“ dargelegt hat. Turkle beschreibt in dem 1998 auf Deutsch erschienen Band anhand von Fallbeispielen positive Auswirkungen durch (meist anonyme) Identitätsexperimente im Netz. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Beobachtung, dass sich im Erleben der NutzerInnen „die Grenzen zwischen dem Realen und dem Virtuellen, dem Belebten und Unbelebten, dem einheitlichen und multiplen Selbst […] zunehmend verwischen“ (Turkle 1998: 10). Am Beispiel von Chatrooms und MUDs13 zeigt Turkle auf, dass SpielerInnen online neue ‚Selbste‘ entwerfen und zu Schöpfern/Schöperinnen ihrer Identität werden. (vgl. Turkle 1998: 13) Der spielerische Umgang mit Facetten der eigenen Identität nimmt nach Turkle bei der Identitätsarbeit eine zentrale Rolle ein. Im Schutz der Anonymität können neue Identitäten erprobt werden. (vgl. Turkle 1998: 14) Sherry Turkle hat bereits in einer frühen Phase der Internetnutzung gezeigt, dass UserInnen Aspekte ihres Selbst oder (fiktionale) Wunschidentitäten online ausleben können. Digitale Medien eignen sich durch die einfache Handhabung und die Möglichkeit zur Anonymität zur Hervorbringung autobiografischer sowie auch fiktionaler Produkte (Texte, Bilder, Videos). Das kommunikative Erleben unterschiedlicher Rollen und Identitäten wirkt auf die Wahrnehmung der Identität offline zurück, wie Krotz (2007) erläutert: „Medien wirken sich damit [gemeint sind Identitätsexperimente und Rollenversuche] auch auf Identität aus [...], wenn sie zur Täuschung genutzt werden, weil

13 MUDs sind textbasierte Online-Spielewelten für mehrere SpielerInnen.

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auch in fremden Rollen gemachte Erfahrungen zur eigenen Identität beitragen.“ (Krotz 2007: 103)

Soziale Kontexte und Sphären offline (Beruf, Familie, Freunde, Vereine etc.) führen zu unterschiedlichen sozialen Rollen, die Menschen einnehmen und managen müssen. Offline sind die unterschiedlichen Rollen meist durch eine räumliche Trennung der Sphären organisiert. Online können diese Sphären ineinander fließen und ein sehr spielerischer Umgang mit verschiedenen Rollen entsteht. Turkle bringt diesen spielerischen Charakter auf den Punkt: „In MUDs kann der eine viele sein, und die vielen können einer sein.“ (Turkle 1998: 22) Identitätsexperimente online können, das zeigt nicht nur die Studie von Turkle, in einem direkten Zusammenhang mit psychologischen und sozialen Herausforderungen offline gesehen werden. Gefühle von Machtlosigkeit und Einsamkeit oder fehlende soziale Anerkennung sind Kontexte, die beim Spiel mit Identitäten online als Erklärungsmuster in Betracht gezogen werden müssen, wie Sabina Misoch erklärt: „Signifikante Korrelationen zeigten sich hingegen zwischen dem experimentellen Status und häufigen Gefühlen der Einsamkeit, mangelnder sozialer Anerkennung/Integration, fehlenden Gefühlen der Macht und des (sozialen) Einflusses sowie tendenziellen Anpassungsschwierigkeiten an wechselnde Umweltsituationen (Inflexibilität).“ (Misoch 2004: 204)

Wir sehen hier ein Beispiel für die Abhängigkeit der Internetnutzung von verschiedenen Variablen. Inwieweit die Internetnutzung positive oder negative Auswirkungen hat, hängt maßgeblich von der ‚Offline-Disposition‘ eines Menschen ab, was Röll wie folgt betont: „Deutlich wird, dass Persönlichkeitsvariablen beeinflussen, ob es gelingt, das Internet als Erweiterungsraum oder als Rückzugsraum (Isolation) zu nutzen.“ (Röll 2008a: 128) Turkle sieht Identität in einem neuen, einem technologisch geprägten, Zeitalter angekommen, in dem uns technische Artefakte als ein Gegenüber dienen können: „We no longer demand that as a person we have another person as an interlocutor.“ (Turkle 2008: 132) Turkle spricht in diesem Zusammenhang von „relational artifacts“ (Turkle 2008: 134). Im Zusammenhang mit Identität und Mediennutzung wird häufig die Spiegelmetapher zitiert. „Wir erblicken im Computer unser Spiegelbild.“ (Turkle 1998: 43)

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Wie in einem Spiegel können wir über Chatprotokolle, Profile bei Communities, Fotografien oder auf sozialen Netzwerkseiten uns selbst so sehen, wie andere uns wahrnehmen können. Die Online-Repräsentation des Selbst kann wie vor einem Spiegel so lange zurechtgezupft werden, bis das Ergebnis zufriedenstellend ist und dem aktuellen Selbstbild oder einem Ideal davon entspricht. Indem der Computer Selbstrepräsentationen und Ideen materialisiert (vgl. Turkle 1998: 44), fördert er eine Selbstwahrnehmung als Objekt. Die Studie BlogLife gibt empirische Hinweise darauf, wie OnlineSelbstrepräsentationen von Subjekten wahrgenommen werden. So beschreibt eine Bloggerin, wie sie sich selbst über ihre Weblogeinträge aus der Vogelperspektive wahrnimmt. Für die 21-jährige Bloggerin eröffnen sich durch das Führen ihres Weblogs Möglichkeiten der Selbstkritik und Selbstreflexion. Sie profitiert durch das Schreiben und wiederholte Lesen ihrer Einträge, da das wiederholte Durcharbeiten der Posts zu mehr Selbstaufmerksamkeit führt. (Interview 3, Tanja) Der Prozess der Materialisierung durch Mediennutzung kann uns bestätigen, wer wir sind und dass wir sind. Sherry Turkle schreibt über die Faszination an der medial vermittelten Selbstbeobachtung: „Those who are attached to BlackBerry technology speak about the fascination of watching their lives ‚scroll by‘, of watching their lives as though watching a movie.“ (Turkle 2008: 129) Der 32-jährige Blogger Clark eröffnet dem Online-Medium Macleans.ca im Chat, dass er sich über sein Weblog aus einer gewissen Distanz heraus beobachten könne. Er schreibt: „‚Your Weblog becomes an exterior part of you‘, says Clark, ‚so you can have some distance from your feelings, even though you’re putting them out for everyone to read.‘“ (Snider 2003, o.S.) Charles Cooley schreibt über die Identifizierung mit Objekten: „Now it is curious, though natural, that in precisely the same way we call any inanimate object I with which we are identifying our will and purpose.“ (Cooley 1967: 183) Medial vermittelt finden Subjekte Bestätigung für ihre bloße Existenz wie auch für konkrete Selbstentwürfe. Turkle zeigt dies am Beispiel der Nutzung von (inzwischen häufig auch internetfähigen) Mobiltelefonen. Sie entwirft ein verbundenes Selbst (im Original: „tethered self“), das zu jeder Zeit und an jedem Ort mit dem sozialen Netzwerk verbunden ist: „At the moment of having a thought or feeling, one can have it validated. Or, one may need to have it validated. And further down a continuum of dependency, as a thought or feeling is being formed, it may need validation to become established.“ (Turkle 2008: 128) Was Roland Barthes in „Die helle

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Kammer“ (1986) über Fotografie festgestellt hat, kann auf Weblogs übertragen werden. Im Sinne von Barthes verfügen Fotografien über ein „Bestätigungsvermögen“ (Barthes 1986: 99) der Existenz. Die Fotografie beglaubigt, „dass das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist.“ (Barthes 1986: 92). Das Bild zeigt, dass ein Erlebnis stattgefunden hat – das Weblog versichert mir meine Existenz und dasjenige, was ich erlebt habe. Mit Rückgriff auf Klaus Leferink können digitale Medien als „Identitätszeichen“ beschrieben werden, die es Subjekten ermöglichen, „mit sich selbst in ein Verhältnis zu treten“ (Leferink 2008: 62). Mit der Spiegelmetapher nähert sich Leferink dem Identitätsbegriff an und bestimmt Identität als einen „Prozess und Praxis eines Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens“ (Leferink 2008: 63). Digitale Medien als konkreter Spiegel fungieren, folgen wir den Ausführungen von Leferink, als Interaktionspartner: „Nicht der Andere ist wie ein Spiegel, sondern der Spiegel ist wie ein Anderer.“ (Leferink 2008: 73) Sehen sich Individuen selbst gespiegelt, können sie Selbst- und Fremdbild miteinander in Beziehung setzen: „Der Spiegel ermöglicht dem Subjekt eine Ahnung davon, wie es als Gesehenes in der Welt ist, und führt auf diese Weise eine neue Verhältnisbestimmung in die Identität ein, nämlich die Chance, das, was andere an Sichtweisen, Haltungen, Bewertungen mir gegenüber entwickeln, im Verhältnis zu mir zu erleben.“ (Leferink 2008: 75)

Im Hinblick auf Weblogs ist zu bemerken, dass BloggerInnen sich mit ihren Blogs identifizieren und das Weblog als digitale Repräsentation ihrer Identität wahrnehmen. In ihrer ethnographischen Studie mit zahlreichen Interviews analysiert Danah Boyd, wie BloggerInnen auf ihre Weblogs referieren und kommt zu dem Ergebnis, dass BloggerInnen Weblogs als ihre Online-Identität erleben. Sie fasst zusammen: „Bloggers also speak about their blogs being their online identity, their digital representation. They refer to how the blog gives them a locatable voice and identity in the digital world.“ (Boyd 2006: 15)

Im Zuge ihrer Studie über Online-Tagebücher und Weblogs beschreibt Serfaty (2004) den Computerbildschirm als einen identitätsrelevanten Spiegel: „[...] so that the screen is transformed into a mirror onto which diary-

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writers project the signifiers of their identity in an ongoing process of selfdestruction and reconstruction.“ (Serfaty 2004: 14) Der Computerbildschirm eröffnet einen Raum, der zur Identitätskonstruktion genutzt werden kann. Prinzipiell offen für Bedeutungen und Zuschreibungen nimmt der virtuelle Raum den Platz eines generalisierten Anderen ein. Serfaty führt aus, dass dieser Vorgang nicht auf Wechselseitigkeit angewiesen ist: „It does not demand reciprocity, but only functions as a mirror of the self.“ (Serfaty 2004: 14) Diese Auffassung stellt eine verkürzte Sichtweise dar, schließlich ist der virtuelle Raum per se ein potenziell sozialer. Und auch Serfaty selbst begrenzt die Gültigkeit ihrer Aussage, indem sie den Leser/die Leserin von Weblogs als ‚sozialen Spiegel‘ einführt: „The readers of online diaries all become mirrors for diary writers, reflecting and commenting on their every thought, and hence providing a social venue in which the private self can be deployed and reconnect with the social self.“ (Serfaty 2004: 14)

Weblogs, und übertragen auch andere Social-software-Anwendungen, fungieren durch die Selbstdarstellung als Spiegel und gleichsam nimmt das Publikum, die anonymen oder bekannten ZuseherInnen, die tatsächlichen oder die vermuteten LeserInnen die soziale Funktion eines Spiegels ein. 2.5.1 Selbstdarstellung und Online-Identität Nicola Döring differenziert begrifflich die Online-Selbstdarstellung von der Online-Identität, auch virtuelle Identität genannt. Unter OnlineSelbstdarstellung fasst Döring die anwendungsspezifische Repräsentation eines Menschen im Netz, welche im Unterschied zur Online-Identität weder dauerhaft noch von subjektiver Relevanz ist. (vgl. Döring 2003: 341) Dem gegenübergestellt meint Online-Identität „eine dienst- oder anwendungsspezifische, mehrfach in konsistenter und für andere Menschen wieder erkennbarer Weise verwendete, subjektiv relevante Repräsentation einer Person im Netz“ (Döring 2003: 341). Online-Identitäten können in verschiedenem Grad mit Personen offline in Verbindung gebracht werden. Neben sogenannten ‚Fake-Identitäten‘, kann zwischen Identifizierbarkeit sowie Anonymität und Pseudoanonymität unterschieden werden. Pseudoanonymität liegt nach Döring vor, wenn Beiträge und Transaktionen auf eine Online-Repräsentation, jedoch nicht auf eine Person außerhalb des Netzes zu-

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rückzuführen sind. (vgl. Döring 2003: 344) In diesem Abschnitt wurde dargelegt, dass Online-Kommunikation identitätsrelevant sein kann. Die AutorInnen Fink und Kammerl (2001) trennen deshalb identitätsrelevante netzbasierte Kommunikation von einer Online-Identität („Virtual-LifeIdentity“). Für die vorliegende Arbeit ist Ersteres von Bedeutung, da deutlich wird, dass netzbasierte Kommunikation identitätsrelevante Funktionen erfüllen kann. (vgl. Fink/Kammerl 2001: 11) Als Potenziale der VirtualLife-Identity für das Subjekt nennen die AutorInnen folgende Aspekte: • • • • • • •

Identitätskrisenbewältigung Identitätsexperimente, Rollenspiele, Selbstentwürfe, spielerische Interaktionen Selbsterfahrung, Selbstreflexion Selbstwertherstellung, Selbstwerterhöhung Herstellung von Einzigartigkeit Flucht, Rückzug, Ausweichen vor Integrationsschwierigkeiten Kompensation erlebten Kontrollverlusts (vgl. Fink/Kammerl 2001: 14)

In welcher Art und Weise Online-Kommunikation und die Selbstdarstellung online zur Bewältigung von Lebensereignissen, zur Selbstreflexion und zur Erhöhung des Selbstwerts beitragen, wird noch genauer zu untersuchen sein und im empirischen Teil mit einfließen, wenn wir detaillierter die Weblognutzung von Studierenden im Ausland analysieren. Kurz vorweggenommen werden kann jedoch, dass das Weblog für die BetreiberInnen eine digitale Heimat darstellen kann und als ein persönlicher Raum wahrgenommen wird. Danah Boyd zieht Goffmans Bühnenmetapher heran und beschreibt Weblogs als das digitale Gesicht einer Person: „In a Goffman (1959) sense, the blog is one’s digital face, showing the traces of past expressions, revealing both what the blogger brings to the front stage and what aspects of the backstage slip through.“ (Boyd 2006: 15) Identitätsrelevant ist Bloggen, da die Selbstdarstellung und die Identitätsarbeit in einem öffentlichen beziehungsweise teilöffentlichen Raum stattfinden. Bezugnehmend auf die Ergebnisse von Charles A. Kiesler ist davon auszugehen, dass das Niveau der Verbindlichkeit mit der Ausdrücklichkeit („explicitness“) einer Kognition (zum Beispiel eines Glaubensgrundsatzes) oder eines Verhaltens steigt. Ist demnach eine Handlung öffentlich, so steigt der Verbindlichkeitsgrad. (vgl. Kiesler 1971: 33)

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2.6 Z USAMMENFASSUNG In diesem Abschnitt setzte ich mich mit Identitätskonzepten auseinander und ging unter dem Schlagwort der Postmoderne auf Aspekte des gesellschaftlichen Wandels ein. Des Weiteren beschäftigte ich mich mit dem Verhältnis von Identität und (digitalen) Medien. Im Zuge eines umfassenden Modernisierungsprozesses, der, wie dies Anthony Giddens vor Augen hält, durch Globalisierung und Enttraditionalisierung charakterisiert ist, ist das gegenwärtige Individuum immer stärker gefordert, sich aktiv mit sich selbst und mit seiner Lebenswelt auseinanderzusetzen. Migration und Mobilität verdichten auf globaler Ebene soziale Beziehungsnetze und führen zu einem stärkeren Kontakt zwischen Menschen verschiedenster kultureller Herkunft. Diese kulturellen Unterschiede können als Bereicherung erlebt werden und gleichzeitig erfordert es das Auseinandersetzen mit Differenzen. Leben in industrialisierten westlichen Ländern geht mit einer Individualisierung von Chancen und Risiken der Biografieführung einher. Diese Verantwortung erhöht den individuellen Bedarf an Information und Wissen, an Entscheidungs- und Reflexionskompetenz. Identität meint keinen stabilen, inneren Kern. Vielmehr muss Identität als Prozess beschrieben werden und kann aufgrund dessen auch im Erwachsenenalter nicht als abgeschlossen aufgefasst werden. Identität ist vielmehr das, was Individuen durch ihre täglichen Praktiken tun. Dieses Herstellen von Identität als aktive Sinnkonstruktion findet in einem Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft statt, ist demnach immer auch ein sozialer Prozess. Ebenfalls verabschieden müssen wir uns von der Vorstellung einer einheitlichen Identität. Mit dem Konzept der Teil-Selbste nach Helga Bilden konnte gezeigt werden, dass Individuen über vielfältige Identitätsfacetten verfügen, die diese managen und je nach Kontext und Rolle aktualisieren müssen. Im Hinblick auf Identität habe ich mich vertiefend mit dem Aspekt der Anerkennung auseinandergesetzt. Das Verlangen nach Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis. (vgl. Taylor 1993: 13ff.) Anerkennung (respektive die Nicht-Anerkennung) geschieht in dialogischen Beziehungen, ist sinnstiftend und kann Menschen in ihrem Tun und Handeln bestärken oder, bei der Verweigerung von Anerkennung für TeilIdentitäten, auch in den eigenen Identitätskonstruktionen verunsichern. Schreiben, so zeigen die Ansätze von Michel Foucault und Theorien der narrativen Identität, stiftet Sinn und dient der Subjektwerdung. Das Schrei-

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ben von Tagebüchern ist eine Selbsttechnologie oder ein Praktik der Sorge um sich selbst im Sinne von Foucault. (vgl. Foucault 1993: 37ff.) Erzählend eignen sich Menschen die Welt an. Ereignisse werden durch Erzählungen in eine narrative Struktur gebracht, verstehbar und mit anderen teilbar. Über Selbst-Narrationen stellen Subjekte einen inneren Zusammenhang her, um sich als kontinuierliche und kohärente Individuen zu erleben. (vgl. Kraus 2000: 159) Durch das Teilen der Erzählungen mit anderen werden Erlebnisse intersubjektiv beglaubigt. Feedback ist für das Erzählen unabdingbar. Erzählungen sind Dialoge der Aushandlung, die auch vor einem imaginären Publikum stattfinden können. Dies trifft insbesondere auf Erzählungen im virtuellen Raum zu. In Weblogs finden sich unzählige Erzählungen mit denen, als bewusste Reflexion oder als spontane Alltagserzählung, Identitätsarbeit geleistet wird. Das World Wide Web als Hypermedium ist allerdings nicht als rein sprachliches Medium zu denken, narrative Konzepte müssen gegenwärtig ausgeweitet und in ihrer Multimedialität (Text, Bild, Video) beschrieben werden. Identität braucht Medien, um sich darin ausdrücken und entäußern zu können. Technische Artefakte sind bei der Identitätskonstruktion von Bedeutung. Digitale Medien wie Chats, soziale Netzwerke und Weblogs werden zunehmend privat und beruflich intensiv und identitätsrelevant genutzt. Online-Kommunikation erweitert und ergänzt bisherige Formen des Miteinander-in-Beziehung-Tretens. Neben der Nutzung digitaler Medien als Informationstools und Kommunikationskanäle eröffnen sie eine Plattform für Träume und Utopien. Deutlich zeichnet sich der Wunsch nach Beständigkeit, nach einem ewigen digitalen Leben ab. Der Computer soll die natürliche Gedächtnisleistung ausweiten und räumliche wie zeitliche Begrenzungen aufheben und dem Menschen Dauer verleihen. Der virtuelle Raum vermag für Identitätskonstruktionen vieles zu leisten. Er ermöglicht einen spielerischen Umgang mit Identitätsfacetten im Schutz der Anonymität. Dieses kommunikative Erleben wirkt auf die Identität des Individuums zurück, Kompetenzen können trainiert werden. Mit Rückgriff auf die Spiegelmetapher kann pointiert aufgezeigt werden, wie an den Online-Repräsentationen des Selbst gearbeitet wird, wodurch die Selbstwahrnehmung fördert wird. Medial gespiegelt nehmen sich die NutzerInnen als Objekte wahr. Digitale Medien besitzen, in Weiterführung von Roland Barthes, ein „Bestätigungsvermögen“ (Barthes 1986: 99), indem sie uns vor Augen führen, dass etwas tatsächlich ist, dass ich tatsächlich existiere.

3. Weblogs – Schreiben im Netz zwischen Selbstgespräch und öffentlichem Diskurs „Every

aspect

of

the

ordinary

and

everyday matters to someone – for like a second: Blogs say that whatever happens to me matters – in and of itself.“ (DEAN 2010: 74)

Nachdem in Kapitel zwei zentrale Fragen der Identitätsbildung und des Zusammenspiels von Identität und digitalen Medien beantwortet wurden, wendet sich dieses Kapitel dem Forschungsgegenstand Weblogs zu. In Auseinandersetzung mit dem Stand der aktuellen Forschung zu Weblogs werden Definitionsansätze diskutiert und empirische Ergebnisse wie auch Charakteristika der Weblogs und der Blogosphäre beschrieben. Weitere Unterkapitel befassen sich mit Weblogtypen, Nutzungmotiven sowie der medienpädagogischen Bedeutung von Weblogs.

3.1 B LOGS – V ON

DER L INKSAMMLUNG ZUR MULTIMEDIALEN P LATTFORM

Anfänglich wurden Weblogs eingerichtet, um im World Wide Web eine bessere Informationssuche und Übersicht über Links und Websites zu gewährleisten. In der Informationsfülle des Internets nahmen Weblogs eine Filterfunktion ein: „Blogging responds to the problem of finding what one wants by offering something like a relationship, a connection.“ (Dean 2010: 44) Von Anfang an standen bei der Informationsbereitstellung über Web-

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logs die BloggerInnen als Personen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Über Vertrauen in die Bloggerin beziehungsweise den Blogger wird Vertrauen in die publizierten Inhalte aufgebaut, wie dies Jodi Dean im folgenden Zitat ausführt: „It focuses on the person providing the link, offering the searcher the opportunity to know this person and so determine whether she can be trusted.“ (Dean 2010: 43) Weblogs entstanden in der Mitte der 1990er Jahre und waren zu weiten Teilen ausschließlich einer technologischen Avantgarde zugänglich. Die wirtschaftliche Nutzung von Weblogs lief zu Beginn nur sehr langsam an: „Eigentlich tauchten Blogs […] schon um 1996-97 auf, also während der zweiten euphorischen Phase [der Internetnutzung]; sie blieben damals allerdings unbeachtet, da ihnen die E-Commerce-Komponente fehlte.“ (Lovink 2008: 11)

In dieser ersten Phase wurden Weblogs primär als Linksammlungen verwendet und dienten der Navigation durch die Vielzahl eben erst entstandener Websites. Der Neologismus Weblog geht auf Jørn Barger zurück, der den Begriff 1997 in die Diskussion einführte. Der Soziologe Jan Schmidt erläutert die Wortneubildung wie folgt: „Jørn Barger prägte im Jahr 1997 den Begriff als Kombination von ‚Web‘ und ‚Logbuch‘ […].“ (Schmidt 2006: 13) Der Blogger der ersten Stunde Jørn Barger definierte das Weblog als „Web page where a Web logger ‚logs‘ all the other Web pages she finds interesting“ (Blood 2004: 54). Einen Meilenstein in der Geschichte der Weblogs markiert die Entwicklung des Webtools Blogger (www.blogger.com) im Jahre 1999. Es handelt sich bei Blogger um ein Gratisangebot zur einfachen Veröffentlichung von Weblogs im World Wide Web. Danah Boyd verweist im folgenden Zitat auf die Relevanz des kommerziellen Angebots: „Blogger, an early blogging tool, was unveiled by Pyra Labs in 1999 (…) Its popularity helped spread the term across the web and to solidify the look and feel of blogs.“ (Boyd 2006: 3)

Durch die einfache Handhabung der Technologie stieg die Anzahl der Weblogs beträchtlich an. Auch der Inhalt änderte sich in dieser Phase der Webloggeschichte. Waren Weblogs zunächst primär spezialisierte Linklisten, so erfuhr die Blogosphäre durch den Hosting-Anbieter Blogger.com

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eine Erweiterung um eine alltagsweltliche Dimension, worauf die Bloggerin und Autorin Rebecca Blood wie folgt verweist: „[…] Blogger was so simple that many of them began posting linkless entries about whatever came to mind. Walking to work. Last night’s party. Lunch.“ (Blood 2004: 54)

Für die weitere Ausbreitung von Weblogs relevant ist ein historisches Ereignis: die Terroranschläge auf das World Trade Center im Jahre 2001. In der Folge kam es zu einer starken Verbreitung von Weblogs im USamerikanischen Raum. (vgl. Tremayne 2007: xii) Die Popularität und zunehmende Bekanntheit von Weblogs in den darauffolgenden Jahren zeigt die Aufnahme des Begriffs ‚blog‘ in zunächst englisch- und später auch deutschsprachige Wörterbücher. Bereits im Jahre 2003 nahm das Oxford English Dictionary den Begriff ‚blog‘, als Verb wie auch als Substantiv, in sein Textkorpus auf. (vgl. Boyd 2006: 4) In den deutschsprachigen Duden fand der Begriff Weblog erstmals im Jahre 2006 Eingang. (vgl. Duden online 2011) Anfänglich herrschte bei Privatpersonen große Euphorie über die Nutzungsmöglichkeiten von Weblogs vor. Viele Weblogs wurden gestartet, um das neue Medium auszuprobieren, sind dann aber, nachdem der Aspekt der Neuheit seine Attraktivität eingebüßt hatte, nicht weitergeführt worden. (vgl. Dean 2010: 33) Im Gegensatz zur privaten Nutzung stieg die Zahl der Firmenblogs weiter an. Die sogenannten corporate blogs boomten, so die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean, jedoch weiter. (vgl. Dean 2010: 34) Auch im Bereich des Journalismus werden Weblogs weiterhin diskutiert und besitzen dort große Relevanz. Besonders aufmerksam verfolgt wurde von der Presse, dass BloggerInnen im Jahre 2004 während der USamerikanischen Präsidentschaftswahlen für die Democratic National Convention Presseausweise erhielten. (vgl. Patalong 2004: 1f.) 3.1.1 BloggerInnen unter Exhibitionismusverdacht: Die Kritik nach der Euphorie Nach dieser eben beschriebenen ersten euphorischen Phase im Hinblick auf die Weblognutzung sind zunehmend kritische Stimmen laut geworden. Insbesondere das vermeintliche Ende der Privatheit wird von vielen NetzkritikerInnen als problematisch erachtet. Das Urteil, es komme zu einer „Kulti-

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vierung von Narzissmus und Exhibitionismus“ (Döring 2001: 88) und Bloggen sei ein „Symptom von Einsamkeit und Realitätsflucht“ (Döring 2001: 88) ist häufig, wie Nicola Döring kritische Positionen zusammenfasst. Auch die AutorInnen der Studie „Blog Function Revisited: A Content Analysis of MySpace Blogs“ (2009) sehen im Bloggen einen exhibitionistischen Akt und führen wie folgt aus: „The very name ‚MySpace‘ suggests an element of egotism, and the act of posting one’s innermost thoughts for the world to see could almost be considered an act of exhibitionism.“ (Fullwood/Sheehan/Nicholls 2009: 688)

Die zitierten kritischen Positionen im Hinblick auf die Weblognutzung sind tendenziell verallgemeinernde Werturteile und ziehen meines Erachtens nach die Perspektive der NutzerInnen und deren Motive zu bloggen zu wenig in Betracht. BlogkritikerInnen vernachlässigen häufig den Umstand, dass der Prozess der Identitätskonstruktion per se auf ein ‚Publikum‘ und Öffentlichkeit angewiesen ist, wie bereits dargestellt wurde. Und Identitätsarbeit, so wird noch zu zeigen sein, ist mitunter ein zentrales Nutzungsmotiv von BloggerInnen. Weblogs haben sich seit deren Anfängen von Linksammlungen hin zu multimedialen Plattformen für Privatpersonen und Firmen weiterentwickelt. Nicola Döring konstatiert einen vollzogenen Medienwechsel. Weblogs sind nach Döring die „logische Fortführung und Modifikation des traditionellen Tagebuchschreibens“ (Döring 2001: 89). Die Verwendung des Begriffes Tagebuch für Weblogs halte ich im Hinblick auf Weblogs allerdings für wenig geglückt, handelt es sich doch um ein Medium mit ganz eigenen Charakteristika. Und auch die NutzerInnen selbst, so wird im empirischen Teil noch zu zeigen sein, betrachten Weblogs weniger als Tagebuch, sondern vielmehr als öffentliches Kommunikationsforum. Weblogs sind mehr als Tagebücher und dieses ‚Mehr‘ soll im weiteren Verlauf theoretisch und empirisch umrissen werden. Auch der Medienwissenschaftler Geert Lovink verweist auf die Neuheit des Mediums Weblog und führt aus: „Allerdings handelt es sich um eine vollkommen neue Tagebuchkultur, die weder öffentlich, noch privat ist, sondern in einem Zwischenbereich spielt.“ (Lovink 2007: 2)

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In metaphorischer Weise werden Weblogs im wissenschaftlichen und alltäglichen Sprachgebrauch oftmals als Tagebücher beschrieben. Metaphern betonen die Gemeinsamkeiten von Konzepten und können neue Phänomene in einfacher Weise beschreiben, wenn dafür noch keine neuen Begriffe beziehungsweise Konzepte vorhanden sind. Boyd führt wie folgt aus, dass die Beschreibung von Weblogs als Tagebücher jedoch zentrale Unterschiede vernachlässige und die Praktik Bloggen durch den Rückgriff auf alte Konzepte nicht hinreichend beschrieben werden könne: „Yet, the differences are what separate the concepts. To evaluate a new concept in the terms of the old one obfuscates ways in which the practices differ in the minds of practitioniers.“ (Boyd 2006: 6)

Aus kulturkritischer Perspektive setzt sich Geert Lovink mit Weblogs auseinander. Er schlägt eine „allgemeine Theorie des Bloggens vor, welche die Analyse von User-Kulturen mit einer Kulturkritik zeitgenössischer Netzanwendungen verbindet“ (Lovink 2008: 34). Ist eine kritische Theorie für Weblogs prinzipiell zu begrüßen, so muss an Lovinks Ausführungen dennoch kritisch angemerkt werden, dass Lovink in seinem Band „Zero Comments“ aus dem Jahre 2008 tendenziell verallgemeinert und seine Theorie nicht ausreichend empirisch belegt ist. Nur unzureichend setzt Lovink seine kritische Theorie mit empirischen Ergebnissen zu Praktiken des Bloggens in Verbindung, was zu einer einseitigen Beurteilung der Blogpraktiken führt. In Abgrenzung zu den Ausführungen von Lovink, der die mangelnde Reichweite der Weblogs kritisch hinterfragt, müssen meiner Meinung nach Erfolgskriterien in Bezug auf Weblogs neu verhandelt werden. Die Perspektive der NutzerInnen muss empirisch erforscht und stärker in die Argumentation einbezogen werden. Denn Reichweitenstärke ist aus Perspektive der BloggerInnen nicht gleichzusetzen mit Erfolg. Andere Faktoren spielen eine Rolle bei der subjektiven Bewertung des Erfolgs. Clay Shirky kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem Aufmerksamkeit und Feedback starker Bindungen (Freunde, Familie) für BloggerInnen bedeutender seien, als Rückmeldungen eines anonymen Publikums. Er schreibt: „In a world where most bloggers get below average traffic, audience size can’t be the only metric for success. LifeJournal had this figured out years ago, by assuming

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that people would be writing for their friends, rather than some impersonal audience.“ (Shirky 2003: 7)

Feedback wird, so das Ergebnis der empirischen Studie BlogLife, nicht nur online, sondern häufig auch offline gegeben. Anschlusskommunikation face-to-face oder über andere Kommunikationskanäle wie E-Mail oder Chat sind besonders relevant, wenn es um Rückmeldungen zu Weblogs und Anschlusskommunikation über die geposteten Inhalte geht. Auch Nardi et al. (2004) haben erhoben, dass Feedback über den Blog oftmals außerhalb des Blogs geben wird, wie aus folgendem Zitat hervorgeht: „In our sample, bloggers often received feedback about their blog through channels outside the blog such as face to face communication or instant messaging.“ (Nardi/Schiano/Gumbrecht 2004: 228)

Laut einer selbstrekrutierenden quantitativen Studie (Datenerhebung aus dem Jahre 2004) aus Japan motivieren neben einem erfolgreichen Informationsmanagement vor allem positive Rückmeldungen zur Person und zu publizierten Inhalten die BloggerInnen zum Betreiben des Weblogs. Die ForscherInnen fassen die Ergebnisse der Studie wie folgt zusammen: „One commonality was that positive feedback from readers had a positive effect on all kinds of satisfaction. This suggests that positive feedback from readers, for example sympathy, support, or encouragement, worked as a strong emotional social support on the behavior of publishing a personal blog and motivated a person to continue to be an author.“ (Miura/Yamashita 2007: 15)

Nicht vergessen werden sollte unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse, dass Weblogs nicht isoliert als kommunikative Praktik existieren, sondern im Verbund mit anderen Medien genutzt werden, worauf auch Jodi Dean in folgendem Zitat verweist: „They [Weblogs] coexist and interlink with other media (print, video, telephony, etc.).“ (Dean 2010: 45). Zum Beispiel können neue Blogeinträge direkt in das soziale Netzwerk ‚Facebook‘ eingespeist werden und eine automatische Verlinkung entsteht. Dean merkt an, dass Weblogs durch neue Technologien nicht abgelöst werden, sondern dass ein inklusives Geflecht der Mediennutzung entsteht, sie führt aus:

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„Social network sites and Twitter don’t replace blogs; they traverse, extend, and include them.“ (Dean 2010: 36)

3.2 B LOGGEN ALS P RAKTIK : Z UR D EFINITION VON W EBLOGS Weblogs werden häufig rein technisch beschrieben und über ihre funktionalen Anwendungen definiert. Diese Funktionsweisen und die daran geknüpften Erwartungshaltungen zu standardisieren, liegt insbesondere im Interesse der anbietenden IT-Unternehmen, welche die Wahrnehmung der Bloggingmöglichkeiten maßgeblich mitprägen. (vgl. Dean 2010: 43f.) Zunächst sind Weblogs schlichtweg Publikationswerkzeuge. Die Beschreibung von Weblogs als „Schreibwerkzeug“ (Reichmayr 2002: 87) macht deutlich, dass Blogs in ihrer Verwendungsweise und inhaltlichen Dimension strukturell offen sind und vielseitig eingesetzt werden können, was eine Reduktion auf persönliche Tagebücher, Wissenstools, Marketinginstrumente oder journalistische Medien als obsolet erscheinen lässt. Wie können wir nun Weblogs in ihrer Vielfalt fassen und über solch allgemeine und oft metaphorische Begriffe hinweg wissenschaftlich hinreichend definieren? Danah Boyd kritisiert, dass Weblogs häufig, auch in wissenschaftlichen Studien, uneinheitlich und meist ausschließlich über inhaltliche und strukturale Elemente definiert werden. Sie führt aus: „Consistently, researchers rely on the same type of structural definitions as put forward by the technological and dictionary definitions.“ (Boyd 2006: 5)

Bereits im Jahre 2002 merkte die Mitbegründerin der Pyra Labs Meg Hourihan in einem publizierten Fachartikel an, dass Weblogs häufig aus einer passiven Haltung und aus reiner Beobachtung heraus sehr einseitig je nach Textkorpus bestimmt werden. Vielmehr sei, so die Bloggerin, auch die Blogerfahrung, also das Eintauchen in den Gegenstandsbereich, wichtig. (vgl. Hourihan 2002, o.S.)

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3.2.1 Weblogs als Kommunikationsmedien Unter Rückgriff auf Danah Boyd definiert Jodi Dean Weblogs als ein Medium im kommunikationswissenschaftlichen Sinne, indem sie wie folgt schreibt: „Blogging is a medium for and practice of communication.“ (Dean 2010: 46) Wissenschaftliche Studien dürften sich demnach nicht lediglich auf eine Inhaltsanalyse von Weblogs beschränken, sondern sollten Bloggen als Praktik im Blick haben, worauf auch Danah Boyd wie folgt verweist: „A study of blogs must draw from the practice of blogging, not simply analyze the output.“ (Boyd 2006: 2). In dieser Auffassung sind Weblogs weniger als ein Genre über inhaltliche Merkmale zu bestimmen, als vielmehr als ein Zusammenspiel kommunikativer Praktiken und Technologien. (vgl. Dean 2010: 45f.) Bloggen als kommunikative Praktik Der Begriff der Praktik umfasst sowohl besondere, als auch allgemeine Charakteristika. Weblogs müssen als kontingente Äußerungen betrachtet werden, die gleichzeitig an überindividuellen Nutzungsweisen orientiert sind, worauf Jan Schmidt in seinem Band „Weblogs“ (2006) wie folgt verweist: „Dabei ist der Begriff der Praktik leitend, der die situative Aneignung und überindividuelle Verfestigung von Gebrauchsweisen verbindet.“ (Schmidt 2006: 10) In der Terminologie von Boyd sind Weblogs gleichsam ein Medium wie auch das Produkt eines Ausdrucks. Boyd „argues that blogs must be conceptualized as both a medium and a bi-product of expression“ (Boyd 2006: 2). Nach Jodie Dean sind Weblogs jedoch nicht über narrative Strukturen zu fassen, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: „It’s not told as a story but presented in moments as an image, reaction, feeling, or event.“ (Dean 2010: 47) Eigene empirische Befunde legen allerdings entgegen der Position von Jodie Dean nahe, dass BloggerInnen in ihren Einträgen narrative Strategien verfolgen. Wenn auch in kleineren Sequenzen, so erzählen BloggerInnen doch Geschichten, die sie bewusst von ihren Erlebnissen ausgehend formen. Sie entwickeln in den einzelnen Episoden einen roten Faden und kreieren kleine Erzählungen mit Anfang und Ende. Sich selbst nehmen sie dabei häufig als ProtagonistInnen ihrer eigenen Narrationen wahr, wie aus den Interviews der Studie BlogLife hervorgeht. Im Zuge der Identitätsarbeit entstehen narrative Selbstentwürfe. Für weitere Details zu den empirischen Ergebnissen siehe Kapitel vier.

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Subgenres: Inhaltliche Vielfalt als Herausforderung für die Begriffsbestimmung Für eine Begriffsbestimmung von Weblogs unabhängig vom jeweiligen Thema, also entgegen der Sichtweise von Blogs als Genre, spricht sich die Autorin und Bloggerin Hourihan aus. Sie schreibt: „When we talk about weblogs, we’re talking about a way of organizing information, independent of its topic.“ (Hourihan 2002, o.S.) In der Tat ist die Gesamtheit der Weblogs zu vielfältig, um inhaltlich von einem Genre sprechen zu können. Betrachten wir allerdings Ausschnitte näher, so zeigt sich, dass sich Praktiken herausgebildet haben, die als Subgenre beschrieben werden können. Ausgehend von der vorliegenden empirischen Forschung ist zu sehen, dass es eine ganze Reihe von Weblogs gibt, die ausschließlich während eines Studienaufenthalts im Ausland geführt worden sind. Der konkrete Anlass (die Abreise beziehungsweise die bevorstehende Abreise) bestimmt in diesen Fällen die inhaltliche Ausrichtung der Weblogs. Nach der Rückkehr aus dem Ausland werden diese Weblogs von den Studierenden nur selten weitergeführt. Auch Bruns und Jacobs sprechen sich dafür aus, nicht verallgemeinernd von Weblogs zu sprechen, sondern die spezifischen Subgenres, Praktiken und Kontexte in der Forschung zu berücksichtigen. Die AutorInnen argumentieren die notwendige Kontextualisierung folgendermaßen: „In future it is likely that we will come to speak primarily not of blogging per se, but of diary blogging, corporate blogging, community blogging, research blogging, and many other specific subgenres that are variations on the overall blogging theme. […] it makes as little sense to discuss the uses of blogs as it does to discuss, say, the uses of television unless we specify clearly what genres and contexts of use we aim to address.“ (Bruns/Jacobs 2006: 3)

Um mit der inhaltlichen Vielfalt von Weblogs definitorisch umgehen zu können, haben die Autoren Ansgar Zerfaß und Dietrich Boelter (2005) eine ‚Blogger-Typologie‘ nach strukturalen Kriterien aufgestellt, die auch für die in dieser Arbeit vorgestellte empirische Studie aufschlussreich ist. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftler unterscheiden vier Typen der Weblognutzung: Beobachter/Kommentatoren, Themenanwälte/Vernetzer, Botschafter/Moderatoren und Autoren/Erzähler. Die einzelnen Typen beschreiben die Wissenschaftler wie nachfolgend dargestellt:

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Beobachter/Kommentatoren verfolgen Diskussionen in der Blogosphäre weitgehend passiv. Die Teilhabe an der jeweiligen Diskussion steht für Beobachter/Kommentatoren im Zentrum der Nutzung. Themenanwälte/Vernetzer stellen auch selbst Beiträge online und treiben die Diskussion durch Sachbeiträge und Verlinkungen voran. Themenanwälte sind primär auf Inhalte fokussiert, wobei neben der Wissensgenerierung auch die Gemeinschaftsbildung für sie bedeutsam ist. Botschafter/Moderatoren sind in der Typologie von Zerfaß und Boelter die sogenannten A-List-Blogger. Diese beteiligen sich sehr aktiv an der Diskussion in der Blogosphäre und nehmen eine publizistische Funktion ein. Autoren/Erzähler nutzen Weblogs primär, um Konversation zu betreiben. Sie wenden sich an eine Gruppe von FreundInnen oder FachkollegInnen. (vgl. Zerfaß/Boelter 2005: 50f.)

Das Sample der empirischen Studie BlogLife, die in Kapitel vier vorgestellt wird, besteht in der Systematik von Zerfaß und Boelter aus Autoren/Erzählern. Die interviewten BloggerInnen verfassen Beiträge überwiegend für Freunde und Verwandte und erzählen von persönlichen Erlebnissen. Häufig lässt sich darüber hinaus der Wunsch identifizieren, Wissen über das Gastland weiterzugeben und andere Studierende durch das Weblog bei der Vorbereitung eines eigenen Auslandssemesters zu unterstützen. Die befragten BloggerInnen sind demnach nicht nur Erzähler, sondern auch Themenanwälte/Vernetzer. Erzähler nehmen in der Blogosphäre statistisch betrachtet einen hohen Stellenwert ein, worauf Lenhart und Fox mit Bezug auf eine eigene empirische Studie wie folgt verweisen: „The largest percentage of bloggers in our sample (37 %) said that ‚my life and personal experiences‘ was the main topic [of their blog].“ (Lenhart/Fox 2006: 9) Innerhalb der Gruppe der Erzähler sind es insbesondere Frauen und jüngere BloggerInnen, die durch persönliche Erlebnisse zum Bloggen angeregt werden. (vgl. Lenhart/Fox 2006: 9) Die Ausrichtung auf einen persönlichen Fokus dominiert auch laut einer Studie von Zizi Papacharissi einen Großteil der Weblogs. Die Kommunikationswissenschaftlerin kommt bei einer Inhaltsanalyse von 260 Blogs zu dem Ergebnis, dass 76,3 Prozent der Web-

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logs ein Tagebuchformat14 aufweisen. (vgl. Papacharissi 2007: 31) Wie kommt es nun beim Bloggen konkret zur Ausbildung von Subgenres? Es wurde bereits ausgeführt, wie sich durch Erwartungshaltungen Blogpraktiken festigen und Subgenres herausbilden. Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, inwiefern Weblogs Ausdruck einer authentischen, autobiografischen Erzählung sind. Konzepte und Ansätze der Literaturwissenschaft bieten für die Beantwortung dieser Fragen spannende Impulse. An dieser Stelle geht es der Verfasserin um ein Ausloten von Ansätzen und Perspektiven für die Weblogforschung über die Grenzen der Fachdisziplinen hinaus. Autobiografisches Schreiben: der Lektürevertrag Weblog Ein erster Blick in die Empirie legt nahe, Weblogs (insbesondere solche des Subgenres Online-Tagebuch und solche von Erzählern/Autoren nach Zerfaß und Boelter) als Form autobiografischen Schreibens zu bestimmen. Jill Walker Rettberg beschreibt Weblogs über deren narrative Form als eine Variante der Autobiografie. Sie postuliert: „Blogging is an episodic style of writing that leads to particular kinds of narrative structure. […] Most blogging is to some extent self-representational, and as such a form of life-writing or autobiography.“ (Walker 2008: 111)

Erkenntnisse der Literaturwissenschaft können auf die ‚Gattung Weblog‘ umgemünzt werden und helfen, das Phänomen Weblog als Text zu beschreiben. In diesem Abschnitt wird der Versuch unternommen, die Positionen von Philippe Lejeune zur Gattung Autobiografie im Hinblick auf Weblogs nutzbar zu machen. Nach Lejeune ist die Autobiografie weniger formal gekennzeichnet, als vielmehr durch einen „Lektürevertrag“ (Lejeune 1994: 8). Es handelt sich bei der Autobiografie somit um ein jeweils historisches und soziales Übereinkommen zwischen AutorIn und LeserIn. Der „Gesellschaftsvertrag“ (Lejeune 1994: 24) Autobiografie sieht vor, dass eine tatsächlich existierende Person für die veröffentlichten Text auszumachen und verantwortlich ist. (vgl. Lejeune 1994: 23f.) Die Autobiografie, bestimmt über das Kriterium Namensidentität, definiert Lejeune wie folgt:

14 Auf die Problematik der Charakterisierung von Weblogs als Tagebuch wurde bereits eingegangen.

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„Die Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors schildert) setzt voraus, daß zwischen dem Autor […][,] dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung Namensidentität besteht. Das ist ein sehr einfaches Kriterium, das gleichzeitig mit der Autobiographie auch alle anderen Gattungen der intimen Literatur (Tagebuch, Selbstporträt, Essay) definiert.“ (Lejeune 1994: 25)

Online-Tagebücher können in Anlehnung an Lejeune als autobiografische, intime Literatur beschrieben werden. Es besteht ein Lektürevertrag, ein Pakt, in dem AutorIn und LeserIn übereinkommen, dass es sich um einen autobiografischen Text handelt, für welchen eine real existierende Person verantwortlich ist. Dieser ‚Weblog-Pakt‘ eröffnet einen dialogisch ausgehandelten „Erwartungshorizont“ (Jauß 1975: 130), der, so meine Neuinterpretation der Jauß’schen Rezeptionsästhetik, die Textproduktion als Schreibpraktik formt sowie die Lesehaltung der RezipientInnen steuert. Auf empirischer Basis zeigt sich dieser Erwartungshorizont exemplarisch darin, dass BloggerInnen ihre LeserInnen durch lustige und gut geschriebene Beiträge unterhalten wollen und mit Kritik zurückhaltend sind, um nicht durch einen negativen Ton LeserInnen zu verlieren. Die BloggerInnen, so geht aus den geführten Interviews im Rahmen der Studie BlogLife hervor, überlegen, was sie selbst als LeserInnen von Weblogs gerne lesen und übertragen diese Leseerwartung auf ihren Schreibstil und das Konzept ihres eigenen Weblogs. Im Zuge der für die vorliegende Arbeit durchgeführten empirischen Forschung hat sich herausgestellt, dass die AutorInnen von Weblogs häufig zu ermitteln sind. Die Zuordnung zu einer tatsächlich existierenden Person ist über Fotos und Namensnennung meistens möglich. Aber auch wenn das Weblog unter einem Pseudonym veröffentlicht wird, ändert dies nichts am Erwartungshorizont der LeserInnen, handelt es sich bei der Verwendung eines Pseudonyms zwar um eine Strategie zum Schutz der Privatsphäre, aber keineswegs um eine Fake-Identität, da das Pseudonym „eine Differenzierung, eine Verdoppelung des Namens [darstellt], die keinen Wechsel der Identität bedingt“ (Lejeune 1994: 25). Dieses einfache Modell der Übereinkunft im Lektürevertrag zwischen AutorIn und LeserIn stößt jedoch dort an seine Grenzen, wo dieser Vertrag gebrochen wird, wo LeserInnen beispielsweise die Authentizität eines Textes anzweifeln oder Texte den Intentionen der AutorInnen zuwiderlaufend quer lesen und subversiv interpretieren. Anhand empirischer Daten arbeitet Jan Schmidt die Annahme einer authentischen Kommunikation als ein zentrales Leitbild des

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Gebrauchs von Weblogs heraus. Geteilte Routinen lassen sich nach Jan Schmidt in drei Leitbildern bündeln: An erster Stelle nennt er die Annahme einer authentischen Kommunikation als Erwartungshaltung der LeserInnen von Weblogs. Die weiteren Leitbilder beziehen sich auf den Dialogcharakter und die dezentrale Form des Austausches mittels Weblogs, der Aspekte öffentlicher und interpersonaler Kommunikation vereine. (vgl. Schmidt 2006: 9) Durch die Ausrichtung der Weblogs im untersuchten Sample auf eine zum größten Teil bekannte Teilöffentlichkeit ist davon auszugehen, dass sich ein gemeinsamer autobiografischer Erwartungshorizont der VerfasserInnen und der LeserInnen herausgebildet hat und die untersuchten Weblogs als autobiografische Texte zu kategorisieren sind. Autobiografie ist aber nicht gleich Autobiografie: Sie nimmt unterschiedliche Ausdrucksformen an. Je nach Medium entwickeln sich unterschiedliche Erzählstrategien, worauf Nicole Mahne im Folgenden verweist: „Die Abweichungen resultieren aus den medienspezifischen ästhetischen Darstellungsmöglichkeiten und -begrenzungen.“ (Mahne 2006: 9) Demnach ist es notwendig, bei der Analyse einer Erzählung, sowohl die allgemeinen Voraussetzungen wie auch die medienspezifischen Auswirkungen mitzudenken. Ein zentraler Unterschied zwischen dem Führen eines Weblogs und dem Abfassen einer Autobiografie bezieht sich auf die zeitliche Konstellation. So werden Blogeinträge meist in zeitlicher Nähe zu einem Ereignis verfasst, während eine Autobiografie idealtypisch bilanzierend auf das Leben Rückschau hält. Wie sich Blogpraktiken konkret ausbilden, darüber kann auch das Konzept der Computerrahmen Aufschluss geben. Regeln und Erwartungen beeinflussen sowohl die Rezeption wie auch die Produktion von Weblogs, worauf Jan Schmidt im folgenden Zitat verweist: „Computerrahmen beinhalten Regeln und Erwartungen, die spezifische Situationen der computervermittelten Kommunikation rahmen.“ (Schmidt 2006: 33) Computerrahmen beinhalten, so geht aus dem folgenden Zitat von Joachim R. Höflich hervor, Adäquanzregeln sowie prozedurale Regeln: „Ein Computerrahmen umfasst jedoch nicht nur den Verlauf der medialen Kommunikation bestimmenden prozeduralen Regeln, sondern auch ein Kalkül, in das eingeht, zu welchem Zwecke das jeweilige Medium verwendet werden kann, um auf sozial adäquate Weise intendierte Kommunikationsabsichten realisieren zu können.“ (Höflich 2003: 64)

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Prozedurale Regeln des Bloggens beziehen sich sowohl auf die Rezeption von Weblogs, die Publikation von Einträgen und Kommentaren wie auch auf die Vernetzungsmöglichkeiten. (vgl. Schmidt 2006: 47) Die Möglichkeiten der Software sind als weiterer Faktor ausschlaggebend dafür, welche Blogpraktiken sich herausbilden. Das Handeln ist beim Bloggen gerahmt und strukturiert durch Regeln, Netzwerke und die verwendete Software. (vgl. Schmidt 2006: 42ff.) Durch diese Regeln, Vernetzungsmöglichkeiten und den Softwarecode bilden sich „communties of blogging practices“ (Schmidt 2007: 9) aus, die über einen gemeinsamen, sozial ausgehandelten Erwartungsrahmen verfügen, der Blogpraktiken formt und stabilisiert, gleichzeitig jedoch variabel und offen ist. Die Orientierung an anderen BloggerInnen ist ein zentrales Merkmal von Weblogs, die LeserInnen werden im Prozess des Verfassens mitgedacht. Weblogs sind primär als soziales Medium, als „social software“ (Walker 2008: 57), zu beschreiben, wie dies Jill Walker Rettberg nahelegt: „Blogs are a social genre. Bloggers don’t simply write to their ‚Dear Diary‘, they write into the world with a clear expectation of having readers.“ (Walker 2008: 57) Insbesondere das bereits bekannte Offline-Netzwerk einer Person ist Hauptadressat der meisten BloggerInnen, wie Quian und Scott in einer Studie herausgefunden haben: „Nearly 90% of the respondents identified people they know offline as their main audience.“ (Qian/Scott 2007: 13) Neue technologische Entwicklungen erfordern erst das Hervorbringen geteilter Rahmen und Regeln. Zwar legt bereits das Medium eine gewisse Art der Nutzung nahe, Erwartungen sind jedoch noch offen und werden sozial ausgehandelt. Pluralisierte Lebenswelten, gesteigerte räumliche Mobilität oder auch das Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien stellen Individuen vor die Herausforderung, neue Regeln auszuhandeln und zu erlernen, um medienadäquat handeln zu können, worauf der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Höflich wie folgt verweist: „Die Pluralisierung des sozialen Lebens bringt es mit sich, dass das gesellschaftliche wie auch das individuelle Situationsrepertoire ständig ausdifferenziert und erweitert wird. Neue Situationen wiederum bedeuten, dass man sich, um mit diesen umgehen zu können, neue Regeln aneignen muss. Das gilt auch für den Fall, wenn sich mit dem Gebrauch von Kommunikationstechnologien neue Situationen ergeben [...].“ (Höflich 2003: 61)

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Gebrauchsregeln sowie stabile Erwartungen an kommunikative Situationen vereinfachen kommunikative Abläufe und helfen, sozial abgesichert agieren zu können, was aus folgendem Zitat von Höflich hervorgeht: „Die einen Medienrahmen bestimmenden Grenzen und Möglichkeiten der Kommunikation sind allerdings nicht nur in einem technischen, sondern auch in einem sozialen Sinne zu verstehen; ein Medienrahmen umreißt Sinnvorgaben wie auch medienspezifisch limitierte Handlungs- bzw. Kommunikationsmöglichkeiten.“ (Höflich 2003: 39)

Die in der vorliegenden Studie BlogLife untersuchten Weblogs beschäftigen sich stark mit kulturellen Unterschieden, weshalb ein Seitenblick auf Charakteristika und Funktionen sogenannter Autoethnografien spannende Einblicke ins Bloggen eröffnet. Autoethnografien verbinden subjektive Standpunkte der Ethnografie mit einer Thematisierung des eigenen kulturellen Kontexts, was Christian Moser wie folgt ausführt: „Eine Autoethnographie im weiteren Sinne liegt vor, wo der Versuch unternommen wird, diese Nähe zwischen Ethnographie und Autobiographie bewusst herzustellen und für die Zwecke der Selbst- und Fremderkenntnis zu instrumentalisieren.“ (Moser 2006: 110)

In der Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur, so Christian Moser weiter, kann durch die bewusste Distanzierung ein objektiver Blick auf das eigene Selbst und die eigene Kultur gewonnen werden. Der Literaturwissenschaftler Moser schreibt: „Die Erfahrung des Fremden eröffnete die Möglichkeit, die Innensicht des in überlieferten Denkmustern Befangenen ein Stück weit auf die Außenperspektive hin zu überschreiten und so ein objektiveres Bild der eigenen Kultur wie auch des eigenen Selbst zu gewinnen.“ (Moser 2006: 112)

Eigenes und Fremdes sind, so zeigen die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife, beim Bloggen in einem Dialog miteinander und die Individuen entwickeln autoethnografisch durch die Reflexion von Erfahrungen ein immer komplexeres Selbstverständnis.

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3.3 P ERSÖNLICHE O NLINE -J OURNALE : AUSGEWÄHLTE C HARAKTERISTIKA UND B ESONDERHEITEN Im Abschnitt Ausgewählte Charakteristika und Besonderheiten werden zentrale Themen der Weblogforschung gesichtet und aufgenommen. Bedeutende Merkmale werden systematisch zusammengestellt und beschrieben, wobei der Fokus entsprechend der zentralen Forschungsfragen auf der privaten Nutzung liegt. Statistische Belege ergänzen die Beschreibung und bieten einen ersten Einblick in die Nutzungweisen, bevor nochmals detaillierter auf Studien zu den Nutzungsmotiven in der Weblogforschung eingegangen wird. Das Hybridwesen Weblog Weblogs zeichnen sich durch ihre hybride Form aus, was insbesondere für die Forschung eine Herausforderung darstellt. Schließlich sind Weblogs immer in Veränderung begriffen, sie sind Medien zur privaten wie zur öffentlichen Kommunikation und vereinen oftmals persönliche und berufliche Interessen. Weblogs stellen durch diesen hybriden Charakter BloggerInnen vor die Herausforderung, mit unterschiedlichen Rollen und Anforderungen innerhalb eines Mediums umgehen zu müssen. Das Ineinanderfließen verschiedener Funktionen beschreiben die AutorInnen Herring et al. wie folgt: „[...] rather, individual blogs incorporate the functions of multiple genres. A number of blogs in our sample combine two or more purposes; we coded these as ‚mixed‘. Even blog types coded for primarily one purpose tend to incorporate elements of the other types; a pure filter or k-log [k-log steht für Knowledge-Blog] is rare. Many blogs are thus a hybrid of public and private, personal and professional.“ (Herring/Scheidt/Wright/Bonus 2005: 160)

Blogs vereinen in ihrer Kommunikationsform demnach Themen öffentlichen Interesses und Themen persönlicher Relevanz, die auch privater Natur sein können. Durch die vielfach einfließenden Reflexionen sowie die Beschreibungen von Stimmungslagen und Gefühlswelten weisen Blogs auch intrapersonale Kommunikationsaspekte auf. Intrapersonale Kommunikation findet idealtypisch nur mit sich selbst statt. Menschen denken, analysieren und reflektieren in Selbstgesprächen oder beispielsweise auch schriftlich

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beim Verfassen von Briefen, Notizen oder Tagebüchern, wodurch unter anderem Selbstaufmerksamkeit („self-awareness“) gefördert und Stress reduziert werden kann. (vgl. Devito 2003: 15) Die Bedeutung intrapersonaler Anteile bei der Kommunikation im Netz hebt der Soziologe und Medienpädagoge Franz Josef Röll folgendermaßen hervor: „Die Selbstdarstellungen im Web 2.0 haben den Charakter eines fortlaufenden Textes, den der Autor zum Teil für sich, zum Teil in Auseinandersetzung mit seinen Lesern fortschreibt. Vor allem geht es um eine Konversation mit sich selbst, mehr als um eine Konversation mit anderen.“ (Röll 2008a: 132)

Mit Blick auf computervermittelte Kommunikation allgemein lässt sich feststellen, dass durch zunehmende Medienkonvergenz immer mehr Anwendungen zusammenfließen und es häufig zu einer Verschmelzung von Massen- und Individualkommunikation kommt, worauf Köhler bereits im Jahre 2003 verwiesen hat. Er schreibt: „Die Ursache für solcherart fließende Übergänge zwischen einzelnen Kategorien mediierter Kommunikation ist letztlich in der Verschmelzung verschiedener Kommunikationskanäle im Rahmen einzelner Nutzungsformen zu suchen. Dabei beginnen sich die Grenzen zwischen Massenmedien und Medien der Individualkommunikation tendenziell aufzulösen.“ (Köhler 2003: 18)

Es ist gerade diese Verschränkung interpersonaler (Beziehungspflege, Selbstdarstellung und Identitätsarbeit), intrapersonaler (Selbstreflexion, Coping) sowie massenmedialer (Teilhabe öffentlicher Diskurs, Kompetenzentwicklung) Aspekte kommunikativen Handelns, die Weblogs als hybrides Medium auszeichnen. Dieser Vielfalt wollen ForscherInnen oftmals durch eine metaphorische Beschreibung gerecht werden. So zum Beispiel Nardi et al. (2004), wenn von Weblogs als Radiosendung gesprochen wird, um die thematische Pluralität einzufangen. (vgl. Nardi/Schiano/Gumbrecht 2004: 222) Ziehen wir die strukturelle Vielfalt und prinzipielle Offenheit für Veränderung von Weblogs in Betracht, so greifen solche vergleichenden Beschreibungen zu kurz. Wie bereits argumentiert, sind Weblogs als Medium besser fassbar und sind als Praktik jeweils das, was die NutzerInnen mit ihnen machen. Ansätze zur Systematisierung und strukturalen Beschreibung können allerdings auch Tendenzen aufzeigen sowie wichtige

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strukturelle Aspekte verdeutlichen, weshalb an dieser Stelle auf solch systematisierende Ansätze in der Forschung Bezug genommen wird. Nach strukturalen Aspekten bestimmt Viviane Serfaty (2004) Tagebücher online. Weblogs kennzeichnen sich nach Serfaty durch folgende vier Charakteristika: • • • •

Akkumulation (multimedialer Inhalte wie Fotos, Audiofiles, Videos, Verlinkungen), Ergebnisoffenheit (in Bezug auf die zeitliche Erstreckung), Selbstreflexivität und Koproduktion (Interaktivität, Öffentlichkeit). (vgl. Serfaty 2004: 24)

Diese vier von Serfaty angeführten Charakteristika sind, so zeigt sie selbst jedoch anhand von Gegenbeispielen, mögliche Aspekte, jedoch keine notwendigen Voraussetzungen, um von einem Weblog sprechen zu können. So kann ein Weblog auch nur aus Text bestehen oder zeitlich begrenzt sein. Eine solcherart rein strukturale Bestimmung unter Vernachlässigung medien- und kommunikationswissenschaftlicher Ansätze greift zu kurz. Stilistisch kennzeichnen sich Weblogs, so Anneke Wolf, durch simulierte Mündlichkeit und Dialogizität. Sie schreibt in Bezug auf formale Weblogaspekte wie folgt: „In Bezug auf die formalen Aspekte lässt sich zusammenfassend festhalten, dass durch die Simulation von Mündlichkeit dem Gegenüber eine persönliche, eher private Gesprächsebene suggeriert werden soll, gleichzeitig aber durch die Darstellung von Dialogizität das Dokument als öffentlich ausgewiesen wird.“ (Wolf 2002: 9)

Anstelle des Begriffes Mündlichkeit trifft meiner Ansicht nach der Terminus der verwendeten Stilhöhe die Beschreibung der Sprache in Weblogs besser. Was als Mündlichkeit beschrieben wird, ist nichts anderes als eine niedrige Stilhöhe, die einem alltäglichen Gespräch ähnelt. Wie die Untersuchung BlogLife jedoch zeigt, verwenden die BloggerInnen viel Zeit auf die stilistische Ausformulierung ihrer Beiträge. Sprache und Stil sind ihnen im Angesicht der Öffentlichkeit wichtig. Insgesamt bedarf es mehr verlässlicher sprachwissenschaftlicher Analysen von Weblogs jenseits von vorschnellen Verallgemeinerungen. Herring et al. (2005) erhoben folgende all-

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gemeine Kriterien aus einem Sample von 203 zufällig ausgewählten Weblogs: • • • • • •

Einzelautoren Persönlicher Inhalt Archiv Badges (Symbole, Plaketten) Name auf der ersten Seite Verwendung von Blogger-Software

Die AutorInnen führen des Weiteren als Charakteristika an: • • • •

Regelmäßige Aktualisierung Wenig Werbung Wenig Links in den Einträgen Wenig Kommentare (vgl. Herring/Scheidt/Wright/Bonus 2005: 158)

Aufschlussreich und an die Studie BlogLife anschlussfähig sind die Ergebnisse der Studie von Herring et al. (2005) dahingehend, dass der Studie zufolge Weblogs einzelnen Individuen als UrheberInnen zugeordnet werden können, die von persönlichen Erlebnissen berichten, wobei die interaktiven Möglichkeiten der Weblogs nicht ausgeschöpft werden.

3.4 S TATISTISCHE B ESCHREIBUNG DER W EBLOGNUTZUNG Eine statistische Beschreibung der Weblognutzung ist generell ein sehr schwieriges Unterfangen. Nur unzureichend lässt sich die Gesamtheit der Weblogs messen, Nutzungszahlen schwanken stark. Die Ergebnisse divergieren je nach Studie und Erhebungsmethode. Die Werte können demnach immer nur vorläufige Tendenzen abbilden. Laut dem Online-Statistikdienst statista.com gab es im Jahre 2011 weltweit 173 Millionen registrierte Weblogs. (vgl. Statista 2013) Die Studie ‚Pew Internet & American Life Project‘ zeigt, dass überproportional viele Jugendliche Weblogs nutzen. Demnach führen 19 Prozent der das Internet nutzenden Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren ein eigenes Weblog. Unter den 15- bis 17-jährigen

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Mädchen steigt die Zahl der Nutzerinnen sogar auf 25 Prozent. Im Gegensatz zu den bloggenden Mädchen nutzen nur 15 Prozent der gleichaltrigen Jungen die Möglichkeit, mittels Weblogs zu publizieren. (vgl. Lenhart/Madden 2005: 4) Die starke Nutzung durch Jugendliche kann auf die generelle Internetaffinität dieser Altersgruppe und auf die für diese Altersstufe zu bewältigenden Identitätsaufgaben zurückgeführt werden. Sehen wir mit Erik Erikson die Phase der Pubertät und des Heranwachsens als krisenhaft an, so resultiert daraus ein erhöhter Reflexions- und Artikulationsbedarf zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben. Durch die Möglichkeiten des schriftlichen Ausdrucks im Weblog wie auch durch die dadurch entstehende Vernetzung und Kommunikation können diese Aufgaben positiv beeinflusst werden. Gleichzeitig, so konnte bereits mit Verweis auf die Studien von Sherry Turkle über den Zusammenhang zwischen Identität und Mediennutzung gezeigt werden, ermöglichen digitale Medien Identitätsexperimente. Der spielerische Umgang mit Identitätsfacetten ist gerade für Jugendliche bedeutsam, können sie doch dadurch Rollen und Selbstentwürfe ausprobieren sowie durch den interaktiven Charakter der Weblogs sich im Dialog mit anderen mit dem eigenen Selbst- und Fremdbild auseinandersetzen. Allerdings zeigen meine eigenen Forschungsergebnisse, dass ein Fokus auf lediglich diese Altersgruppe eine unzureichende Einengung der Ergebnisse darstellt, da die Weblognutzung generell in Zusammenhang mit zu bewältigenden Lebensaufgaben beziehungsweise Lebensereignissen betrachtet werden muss. Auch macht die theoretische Auseinandersetzung mit Identitätstheorien deutlich, dass Identitätsarbeit ein lebenslanger Prozess und somit eine unabschließbare Herausforderung darstellt. Geschlechterspezifische Blogpraktiken Weitere Studien legen nahe, dass der typische Blogger jung und männlich ist. Die selbstrekrutierende Umfrage ‚Wie ich blogge?!‘ (N = 3.558) aus dem Jahre 2005 zeigt eine mehrheitliche Weblognutzung in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen (41,8 Prozent). Mit 24,3 Prozent bloggen zum Erhebungszeitpunkt die 30- bis 39-Jährigen mehr als vergleichsweise Teenager unter zwanzig Jahren (17,7 Prozent). Mit Ausnahme der unter 20Jährigen, in welcher Altersklasse die Mädchen mit 66,1 Prozent dominieren, ist der durchschnittliche Blogger männlich. Mit 54,4 Prozent männlichen Nutzern ist das Geschlechterverhältnis jedoch relativ ausgeglichen. (vgl. Schmidt 2006) Im Gegensatz zur Studie von Schmidt (2006) legt eine

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Metastudie von Schönberger jedoch nahe, dass Bloggen geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist. Demnach dominieren junge Frauen/Teenagerinnen das Medienformat, was insbesondere mit der Tagebuch-struktur in Zusammenhang stehe. Bei Filter-Blogs und journalistisch orientierten Angeboten sind im Gegensatz dazu männliche Erwachsene überrepräsentiert. (vgl. Schönberger 2008: 3) Eine inhaltsanalytische Untersuchung aus dem Jahre 2006 von 464 per Zufall ausgewählten deutschen Weblogs nimmt die Ergebnisse der Studie von Schönberger vorweg. Die Ausdrucksformen der deutschen Blogosphäre weisen eine signifikante Geschlechterspezifik auf. Insbesondere weibliche Jugendliche nutzen Weblogs. „Weibliche Teenager stellen 39 Prozent des Samples“ (Hesse 2008: 5), so Franka Hesse. Innerhalb der Gruppe der Jugendlichen (13 bis 17 Jahre) fällt auf, dass 84,4 Prozent der BloggerInnen weiblich sind. Bei den Erwachsenen nähern sich die Nutzungswerte zwischen Frauen und Männern einander wieder an und die Nutzungsstatistik ist ungefähr ausgeglichen, wie dies auch bereits die Auswertung von Schmidt (2006) darstellt. Das Sample von Hesse zeigt, dass im Vergleich zu den jugendlichen Nutzerinnen nur mehr 52,8 Prozent der erwachsenen BloggerInnen (über 18 Jahre) weiblich sind. (Hesse 2008: 5) Inhaltlich weisen Weblogs eine männlich dominierte Sphäre der Öffentlichkeit aus. Laut der Studie von Hesse bloggen sechzig Prozent der Männer, jedoch nur 36 Prozent der Frauen zu politischen Themen. Sowohl unter den jugendlichen wie auch unter den erwachsenen BloggerInnen finden sich bei Männern tendenziell mehr politische Bezüge. (vgl. Hesse 2008: 7) Tendenz zu persönlichen Online-Journalen Insgesamt zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Nutzung von Weblogs als persönliches Online-Journal. Herring et al. (2005) erhoben Daten für USamerikanische Blogs, wonach mehr als zwei Drittel der Weblogs persönlichen Inhalts sind. Die AutorInnen fassen die Ergebnisse wie folgt zusammen: „[...] the blogs in our sample are overwhelmingly of the personal type (70.4 percent), in which authors report on their lives and inner thoughts and feelings.“ (Herring/Scheidt/Wright/Bonus 2005: 151)

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Höherer Bildungsstand als Faktor für eine aktive Weblognutzung Wie häufig Weblogs (als VerfasserIn und/oder LeserIn) genutzt werden, steht laut Amanda Lenhart und Mary Madden (2005) in engem Zusammenhang mit vorhandenen Ressourcen wie Bildung und Kompetenzen, einem fördernden sozialen Umfeld und dem Zugang zu Technik. Sie schreiben über Viel-BloggerInnen: „They [Viel-BloggerInnen] have more technological tools such as cell phones and PDAs and are more likely to use them to go online. Not only do they live in technologically rich households, but they are more likely to have their own computer at home and to be able to use it in a private space.“ (Lenhart/Madden 2005: ii)

BloggerInnen nutzen sehr aktiv auch andere digitale Medien zur Kommunikation und Informationsbeschaffung wie Instant Messaging, Mobiltelefone oder FileSharing und sind Ergebnissen einer amerikanischen Studie zufolge typischerweise SchülerInnen, Studierende oder in wissensbasierten qualifizierten Berufen tätig. (vgl. Lenhart/Fox 2006: 22f.)

3.5 H ERAUSFORDERUNG Ö FFENTLICHKEIT : E NTGRENZTE K OMMUNIKATION IN TEILÖFFENTLICHEN VIRTUELLEN R ÄUMEN Weblogs erfüllen nicht nur die Funktion, persönliche Erlebnisse zu dokumentieren und private Kommunikation zu ermöglichen, sie eröffnen auch Möglichkeiten, Themen online zur Diskussion zu stellen und somit auf Diskurse einzuwirken und Öffentlichkeit herzustellen. Öffentlichkeit nach Elisabeth Klaus ist aufzufassen als „Verständigungsprozess der Gesellschaft über sich selbst“ (Klaus 2001: 20). Die Studie BlogLife verdeutlicht, dass sich BloggerInnen intensiv mit ihrer eigenen Lebenswelt und mit der Kultur und den Menschen des Gastlandes beschäftigen. Eigenes und Fremdes werden reflektiert, neu ausgehandelt und durch die Thematisierung im Weblog wird Öffentlichkeit hergestellt. Die Thesen von Elmine Wijnia verweisen auf die Relevanz von Weblogs zur Herstellung von Öffentlichkeit. Weblogs können, so die Kommunikationswissenschaftlerin, Plattformen sein, die ideale Äußerungsmöglichkeiten für die Herstellung von Öf-

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fentlichkeit bieten: „In conclusion, weblogs can indeed serve as a platform for ideal speech situations, and form a better platform for discourse than traditional media.“ (Wijnia 2011: 15) Der Zugang zu OnlineÖffentlichkeiten wird jedoch, so führt Christina Schachtner in ihrem Beitrag „Cultural Flows und virtuelle Öffentlichkeiten“ (2012) differenzierter aus, durch mangelnde ökonomische und technische Ressourcen sowie durch eine nicht hinreichend ausgebildete Medienkompetenz erschwert. (vgl. Schachtner 2012: 543) Die kommunikationswissenschaftliche Argumentation von Wijnia bedarf einer eingehenderen empirischen Überprüfung, denn gemessen an ihrem Öffentlichkeitsbegriff spielt die Reichweite der Äußerung eine Rolle. Was bedeutet die Berücksichtigung der Reichweite als Gütekriterium für Öffentlichkeit für Weblogs? Nur einige wenige Weblogs werden von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und auch in traditionellen Medien rezipiert. Ein Beispiel für ein sehr erfolgreiches Weblog ist das Watchblog bildblog.de15, das in Tagesmedien thematisiert wurde und den öffentlichen Diskurs beeinflusst hat. (vgl. Spiegel online 2007: o.S.) Im Unterschied zu reichweitenstarken Weblogs wie dem BILDblog erfährt ein Großteil der Weblogs nur von einer kleinen LeserInnen-Zahl Aufmerksamkeit. Einige wenige BloggerInnen, die sogenannten A-List-BloggerInnen, erhalten viel Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den A-List-BloggerInnen erreicht die Mehrzahl der Weblogs nur eine geringe Reichweite im persönlichen Umfeld der Bloggerin/des Bloggers. Diese Besonderheit der ungleich verteilten Aufmerksamkeit wird auch als „LongTail-Phänomen“ (Schmidt/Frees/Fisch 2009: 52) bezeichnet. Für Geert Lovink ist diese ungleiche Aufmerksamkeitsverteilung Grund zur Kultur/Blogkritik. Er spricht von einer „Grauzone der Öffentlichkeit“ (Lovink 2007: 3), da sich nur einige Spitzen-BloggerInnen von der Mehrzahl abheben und nur wenige Weblogs auch häufig frequentiert werden. Vielmehr werden, so die Argumentation Lovinks, die meisten Weblogs nur von einer Teil-Öffentlichkeit wie dem Freundeskreis gelesen, was deren Relevanz mindere. In Bezug auf gesellschaftspolitische Partizipationschancen bedeutet der ungleich verteilte Zugang zu Artikulationsmöglichkeiten in Weblogs, dass auch bisher marginalisierte Gruppen weniger Chancen auf Betei-

15 Das BILDblog ist online abrufbar unter der URL: http://www.bildblog.de/ [4.2.2013]. Seit 2004 setzt sich das BILDblog kritisch mit Medien wie „Bild“, „Bild am Sonntag“ und „Bild.de“ auseinander.

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ligung am politischen Diskurs haben. Dörte Hein stellt die Rolle des World Wide Web in Bezug auf die Beteiligung von AkteurInnen an der gesellschaftlichen Selbstverständigung wie folgt heraus: „Mit im Vergleich zur massenmedialen Sphäre geringeren Zugangsbarrieren haben auch Akteure, die nicht zu den traditionellen Institutionen zur Interpretation von Geschichte gehören, die Möglichkeit, diese Plattform zu nutzen.“ (Hein 2009: 82) Inwiefern Weblogs als Erinnerungsorte an einem kollektiven Gedächtnis beitragen, darüber gibt Hein, die sich in ihrer Studie mit Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigt, explizit keine Antwort. Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, die sich empirisch abgesichert mit dem Zusammenhang von Weblogs, Erinnerungskultur und kollektivem Gedächtnis beschäftigen.16 Beziehen wir die verstreuten Aufmerksamkeiten und zersplitterten Teil-Öffentlichkeiten im Netz in die Argumentation mit ein, so ist davon auszugehen, dass Weblogs nur selten jene Reichweite erreichen, um am kollektiven Gedächtnis beizutragen. Die mögliche Rolle der reichweitenstarken A-List-BloggerInnen ist freilich gesondert zu betrachten. Franka Hesse postuliert, dass anstelle der ‚Aktivierungsthese‘ vielmehr die ‚Verstärkerthese‘ zutreffend sei, wonach Weblogs die Handlungsoptionen bereits aktiver AkteurInnen unterstützen. (vgl. Hesse 2008: 3) Beteiligung und die Chancen auf Öffentlichkeit hängen, so kann aus den Ausführungen von Schmidt/Frees/Fisch (2009) sowie von Hesse (2008) geschlossen werden, maßgeblich von bereits vorhandenen Kompetenzen und bestehenden Ressourcen ab. Berücksichtigen wir die empirischen Ergebnisse zur geringen Reichweite und heterogenen Themensetzung von Weblogs, eignet sich das Konzept der Teilöffentlichkeiten, um den Beitrag von Weblogs an der Herstellung von Öffentlichkeit zu beschreiben, wie dies Röll im folgenden Zitat ausführt: „Weblogs dienen jedoch in der Regel nicht dazu, Homogenitäten herzustellen. Die Ausdifferenzierung von Teilöffentlichkeiten wird durch Weblogs eher gefördert. Weblogs verstärken somit den Strukturwandel der Öffentlichkeit.“ (Röll 2008: 87)

Teilöffentlichkeiten konstituieren sich „auf der Basis gemeinsamer sozialer Erfahrungen, sich überschneidender Handlungsräume oder geteilter Interes-

16 Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses siehe die Autoren Maurice Halbwachs oder Jan Assmann.

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sen, das heißt sie sind unter anderem schicht-, generationen-, geschlechtsund kulturspezifisch.“ (Klaus 2001: 21). Die Ergebnisse einer qualitativen Studie über 40 Weblogs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 13 bis 24 Jahren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zeigen, dass VerfasserInnen von Weblogs gleichermaßen für sich selbst wie auch für die Öffentlichkeit bloggen. (vgl. Reichmayr/Reichmayr 2005: 43) Onlinekommunikation allgemein, und übertragen auch Bloggen, kommt dem Bedürfnis nach, innerhalb einer Teilöffentlichkeit wahrgenommen zu werden, eine Spur zu hinterlassen und gesehen wie auch gehört zu werden. Röll spricht in Bezug auf Online-Kommunikation von einer ‚privaten Öffentlichkeit‘ und führt wie folgt aus: „Erkennbar ist das Bedürfnis, eine private Öffentlichkeit herzustellen. Es ist der Wunsch zu identifizieren, eine Datenspur zu hinterlassen, wahrgenommen zu werden.“ (Röll 2008a: 120)

Ausgehend von einer Studie zu Sozialen Netzwerkseiten arbeitet Danah Boyd Merkmale und Dynamiken vernetzter Öffentlichkeiten heraus. Das Konzept vernetzter Öffentlichkeiten kann auch Charakteristika der durch Weblogs hergestellten Öffentlichkeiten verdeutlichen. Im Sinne von Boyd sind vernetzte Öffentlichkeiten durch Technologien geschaffene vernetzte Räume und gleichzeitig eine Gemeinschaft von Personen, wie sie im folgenden Zitat ausführt: „[…] networked publics are publics that are restructured by networked technologies; they are simultaneously a space and a collection of people […].“ (Boyd 2010: 3) Vernetzte Öffentlichkeiten nach Danah Boyd sind gekennzeichnet durch die folgenden vier Merkmale: • • • •

Dauerhaftigkeit („persistence“) Verbreitbarkeit („replicability“) Sichtbarkeit/Skalierbarkeit („scalability“) Auffindbarkeit („searchability“) (vgl. Boyd 2010: 7)

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Drei Dynamiken wirken laut Boyd auf vernetzte Öffentlichkeiten besonders ein: • • •

Das Publikum ist nicht zur Gänze sichtbar („invisible audiences“). Getrennte Kontexte können nicht aufrecht erhalten werden („collapsed contexts“). Die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verschwimmen. (vgl. Boyd 2010: 10)

Durch die Kommunikation in Weblogs entsteht nicht eine Öffentlichkeit, sondern es entstehen verschiedene Öffentlichkeiten, was Christina Schachtner am Beispiel von Online-Diskussionsforen bereits gezeigt und für digitale Medien konstatiert hat. (vgl. Schachtner 2012: 557) Weblogs tragen zur Herstellung von Teil-Öffentlichkeiten bei, die durch die oben genannten Merkmale und Dynamiken vernetzter Öffentlichkeiten gekennzeichnet sind. Danah Boyds Konzeption vernetzter Öffentlichkeiten lässt sich gewinnbringend mit Begriffen der Gemeinschaftsbildung nach Putnam und Gross verbinden. Vernetzte Öffentlichkeiten, wie sie durch die Kommunikation in Weblogs entstehen, generieren sowohl brückenbindendes wie auch bindendes Sozialkapital im Sinne von Robert D. Putnam und Kristin A. Gross, das heißt, sie bringen einerseits völlig unterschiedliche Netzwerke und andererseits ähnliche Menschen gleichermaßen zusammen. (vgl. Putnam/Gross 2001: 28f.) Entgrenzte Kommunikation in teilöffentlichen Räumen In der sogenannten Blogosphäre, der Gesamtheit der Weblogs sowie BloggerInnen, entsteht eine neue Form der Öffentlichkeit. Aufgrund zunehmend einfacherer Möglichkeiten der Äußerung im virtuellen Raum für Individuen stellt sich die Frage nach der Trennung der beruflichen und privaten Sphäre beziehungsweise der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung neu. Häufig sind Weblogs ohne Zugangsbarrieren frei im World Wide Web zugänglich, wodurch gesellschaftliche Rollen nicht mehr durch räumliche Grenzen organisiert werden können, sie fließen ineinander. Der/die Arbeitgeber/in oder auch der/die Ehepartner/in können einfach und vielleicht auch unbemerkt zum Publikum wie auch zum Mitgestalter/zur Mitgestalterin eines Weblogs werden. Die nicht mehr so leicht zu trennenden Sphären der Privatheit und Öffentlichkeit können Aspekte der Selbstdarstellung, des Rol-

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lenmanagements und der Beziehungsarbeit für BloggerInnen erschweren. Anhand dieses Beispiels wird offenkundig, dass Weblogs auch die Dimensionen Privatheit/Öffentlichkeit neu verhandeln und Grenzen sich verschieben. Weblogs sind sowohl Medien zur privaten Kommunikation, als auch zur öffentlichen, was BloggerInnen vor die Herausforderung stellt, Facetten ihrer Identität angemessen zu präsentieren. Zielgruppen, an die sich BloggerInnen richten, sind nicht strikt trennbar. Farnham und Churchill (2011) haben die Nutzung von E-Mail und einem Sozialen Netzwerk (www.facebook.com) vergleichend analysiert und kommen zu dem Ergebnis, dass Identität und sozialer Kontext in einem engen Verhältnis stehen und Medienangebote notwendig machen, welche die Selbstdarstellung und den Informationsaustausch nach Facetten (Rollen) erleichtern. (vgl. Farnham/Churchill 2011: 10) Übertragen auf den Forschungsgegenstand Weblogs kann eben diese an sozialen Rollen und Teilidentitäten orientierte öffentliche Kommunikation als Herausforderung für BloggerInnen formuliert werden. Strategien zum Schutz der Privatsphäre beziehungsweise zur angemessen öffentlichen Kommunikation müssen ausgebildet werden, um erfolgreich und sozial adäquat zu bloggen. Thematisch zeigen sich bei Weblogs oftmals fließende Grenzen zwischen Tagebuchformen und Themenblogs, „weil sich unterhaltsame Alltagsepisoden mit Fachbeiträgen mischen“ (Döring 2005: 36). Diese thematische Verflechtung von Beiträgen persönlicher Relevanz und von solchen gesellschaftspolitischer oder wissenschaftlicher ist ein viel zitierter Kritikpunkt an Weblogs. Die thematische Entgrenzung birgt allerdings auch Demokratisierungschancen und kann eine Enttabuisierung von marginalisierten Themen bedeuten, was Röll im folgenden Zitat andeutet: „Bisher wurden in der Öffentlichkeit vor allem Themen diskutiert, die nur von Autoritäten ausgelegt wurden. In einer funktionierenden Öffentlichkeit kann alles Gegenstand des Räsonnements werden.“ (Röll 2008: 87)

Der emanzipatorische und demokratisierende Effekt liegt vor allem in den Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung. Unter dem Schutzmantel der Anonymität können negative Auswirkungen durch öffentlich geäußerte Meinungen abgewendet werden. Für Röll sind Weblogs durch die gegebenen Artikulationschancen Räume zur Ausbildung einer Gegenöffentlichkeit, er schreibt: „Der kritische Diskurs kann heute in den Weblogs stattfin-

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den. Es ist ein genuiner Ort zur Herstellung von Gegenöffentlichkeit.“ (Röll 2008: 87) Im Hinblick auf die tatsächliche gesellschaftspolitische Relevanz und die Umsetzung der Teilhabe an Öffentlichkeit sind Weblogs jedoch durch ungleich verteilte Aufmerksamkeiten Einschränkungen unterworfen. Allgemein wurde mit Hinweis auf den „long tail“ bereits auf diese Ungleichverteilung der Aufmerksamkeit hingewiesen. Mit Bezug auf empirische Studien und Statistiken gehe ich nochmals näher darauf ein. Die meisten Weblogs erhalten Aufmerksamkeit in einem persönlichen Umfeld. Lenhart und Fox (2006) berichten, dass BloggerInnen Feedback und Aufmerksamkeit erhalten von anderen BloggerInnen (60 %), der Familie (52 %), von ArbeitskollegInnen (35 %) und dem lokalen Umfeld (20 %). (vgl. Lenhart/Fox 2006: 18) Serfaty (2004) weist auf die Bedeutung des sozialen Faktors für BloggerInnen hin und betont den Wunsch der BloggerInnen, wiedererkannt zu werden und verbunden zu sein. Sie führt aus: „As we shall see [...], the urge to be recognized and connect with others is a crucial motivation for all diarists and webloggers.“ (Serfaty 2004: 36f.) Explizit fragen laut einer Analyse von Blogs auf der Internetplattform myspace.com vor allem jüngere BloggerInnen Feedback ab. Die AutorInnen der Studie fassen das Ergebnis wie folgt zusammen: „The 18 to 29 group was more likely than the others to request feedback about themselves.“ (Fullwood/ Sheehan/Nicholls 2009: 687) Die Studie von Fullwood u.a. (2009) lässt darauf schließen, dass es insbesondere der Gruppe der jungen Erwachsenen wichtig ist, wie sie von anderen wahrgenommen wird, weil diese sich stärker mit identitätsbezogenen Fragen auseinandersetzt. Allerdings bezieht die Studie keine Weblogs von Personen unter 18 Jahren in die Analyse ein, was bei der Interpretation berücksichtigt werden muss. Es ist anzunehmen, dass Fragen des Fremdbildes und der Identität gerade für Jugendliche von noch größerer Bedeutung sind. Eine Langzeitstudie von Herring u.a. (2007) zeigt, dass das Level der Verlinkung und Kommentare auf Weblogs niedrig bleibt. Vernetzung und Dialogizität können den AutorInnen zufolge nur mit Vorsicht zur Charakterisierung dienen, weshalb die Chancen für die Herstellung von Öffentlichkeit über Weblogs weiterhin kritisch hinterfragt und überprüft werden müssen. (vgl. Herring/Scheidt/Kouper/Wright 2007: 15) Durch ihre interaktiven Möglichkeiten sind Weblogs ein gutes Beispiel für neuartige entgrenzte Formen der Kommunikation im öffentlichen Raum. Einfache Kommunikationsmodelle, die klar nach Sendern und Empfängern differenzieren, greifen zu kurz. User generated content ist ein Begriff, der

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häufig in Zusammenhang mit dem populären Schlagwort Web 2.0 und dem in der Forschung verwendeten Terminus social media verwendet wird. Auch im Hinblick auf persönliche Weblogs können die Inhalte als user generated content beschrieben werden. Die Praktik des Bloggens stellt durch den Anteil an nutzergenerierten Inhalten institutionalisierte Formen der Wissensgenerierung und des Expertentums, besonders eindrücklich im Bereich des Journalismus, in Frage. Die ehemals klare Trennung in ProduzentInnen und RezipientInnen ist durch Kommentarfunktionen oder die Möglichkeit, eigene Post zu veröffentlichen aufgehoben. In der Forschung wurden für diese Neustrukturierung verschiedene Begriffe geprägt, einer ist der Begriff des „produsers“, den Bruns und Jacobs wie unten zitiert auf Weblogs angewendet haben: „In becoming active publishers, commentators, and discussants, then bloggers turn into what we can usefully describe as produsers – a hybrid of producer and user. All bloggers are both potential users (in the narrow sense of information recipient) as well as potential producers of content […].“ (Bruns/Jacobs 2006: 6)

3.6 B LOGGEN UNTER DEM S CHUTZMANTEL DER ANONYMITÄT Bei der Beschäftigung mit Weblogs muss auch der Aspekt der Anonymität berücksichtigt werden. BloggerInnen können selbst entscheiden, ob sie unter ihrem vollständigen Klarnamen, einem bekannten Nickname oder einem Pseudonym veröffentlichen wollen. Dementsprechend sind vielfältige Blog-Praktiken beobachtbar. Eine Verallgemeinerung sollte nicht vorgenommen werden. Anonymität spielt insbesondere im politischen Widerstand eine Rolle, wenn BloggerInnen aus Ländern mit autoritären Regimen ihre Privatsphäre und ihr Leben durch ein Pseudonym schützen. Wie sieht die statistische Verteilung aus? Können Tendenzen bei der Entscheidung für oder gegen eine anonyme Veröffentlichung ausgemacht werden? Eine Studie von Qian und Scott (2007) über Anonymität und Selbstoffenbarung in Weblogs zeigt, dass der größte Teil der NutzerInnen aus dem Sample (30 %) unter einem ‚teilweise realen Namen‘ bloggt. Weitere 27,1 Prozent führen das Weblog unter einem offenkundigen Pseudonym und 12,6 Prozent bloggen unter ihrem richtigen Namen. Aufschlussreich ist die Tatsache,

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dass 18,8 Prozent der Befragten mehr persönliche Angaben (wie zum Beispiel eine E-Mail-Adresse, Wohnort, Telefonnummer etc.) machen, als nur den vollständigen Namen anzugeben. Nur 5,3 Prozent der BloggerInnen aus der Umfrage posten unter einem nicht nachvollziehbaren Pseudonym („non-obvious pseudonym“). Und lediglich die geringe Anzahl von 6,3 Prozent gibt keine Informationen zur Identifizierung preis. Im Hinblick auf eine visuelle Anonymität geben 43,5 Prozent der TeilnehmerInnen an der Studie an, dass ihr Weblog aktuelle Fotos („revealing actual photos“) enthält, die einen Rückschluss auf sie selbst und ihr Leben zulassen. Ein Viertel (25,1 %) der Befragten gab an, keine Fotos in das Weblog eingebunden zu haben. (vgl. Qian/Scott 2007: 7) Bemerkenswert ist das Ergebnis der Studie, wonach die Mehrzahl der BloggerInnen angibt, für ein bekanntes Publikum zu schreiben. Qian und Scott führen aus: „Only 3.4% (n=7) of the respondents in the survey report that they write for an online audience who does not know him or her offline.“ (Qian/Scott 2007: 9) Angemerkt werden muss in Bezug auf diese Zahlen von Qian und Scott, dass es sich um die Angabe eines von den BloggerInnen ‚intendierten Publikums‘, nicht jedoch um die tatsächlichen LeserInnen handelt. BetreiberInnen eines Weblogs sind sich der Öffentlichkeit durchaus bewusst. Zwar wählen nur wenige die Option, anonym zu bloggen, in bemerkenswertem Ausmaß berichten die VerfasserInnen jedoch von Selbstzensur, um sich selbst und andere vor negativen Konsequenzen durch die Preisgabe persönlicher Gedanken und Meinungen zu schützen, wie aus der bereits zitierten Studie von Qian und Scott (2007) hervorgeht, sie schreiben: „Among the respondents who have concerns about potential negative consequences as a result of what they blog, 42.53% (n=37) choose to censor themselves.“ (Qian/Scott 2007: 11) Gebloggt wird der Studie von Qian und Scott zufolge tendenziell nicht anonym. Der Name, Fotografien oder weitere Angaben wie eine E-MailAdresse oder ein Wohnort lassen häufig Rückschlüsse auf die Identität der Bloggerin/des Bloggers zu. Zwei weitere Studien stützen das Ergebnis, wonach ein Großteil der BloggerInnen nicht anonymisiert bloggt. Der Studie ‚Wie ich blogge?!‘ zufolge führen 29,5 Prozent das Weblog anonym unter einem nicht nachvollziehbaren Pseudonym. (vgl. Schmidt 2006: 78) Auch eine Untersuchung US-amerikanischer Weblogs zeigt, dass 67,6 Prozent der BloggerInnen auf der ersten Seite einen Namen angeben, der Rückschluss auf die Identität erlaubt. (vgl. Herring et al. 2005: 150) Risiken durch die Selbstoffenbarung in Weblogs gehen laut einer Studie von Anne-

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ke Wolf (2002) weniger von einer unbekannten Öffentlichkeit, als vielmehr vom sozialen Nahbereich aus. Selbstzensur beschreibt auch sie als häufige Strategie zum Schutz vor negativen Konsequenzen zum Beispiel am Arbeitsplatz. Wolf kommt zu folgendem Ergebnis, das die Relevanz der Selbstzensur bestätigt: „So werden beispielsweise Erlebnisse aus dem Arbeitsalltag selten in den Tagebüchern thematisiert.“ (Wolf 2002: 7) In der Studie BlogLife zeigt sich Selbstzensur ebenfalls als eine bedeutende Strategie zum Schutz der eigenen Privatsphäre wie auch jener von im Blog erwähnten Personen. Die detaillierten Ergebnisse der Studie BlogLife werden in Kapitel vier vorgestellt.

3.7 N UTZUNGSMOTIVE In diesem Abschnitt wird detaillierter den Motiven, ein Weblog zu betreiben nachgegangen. Einige empirische Studien haben sich bereits mit der Frage, warum Menschen bloggen auseinandergesetzt. Welche Bedürfnisse des Menschen führen dazu, dass öffentlich beziehungsweise in einer Teilöffentlichkeit gebloggt wird? Haben wir erste Antworten auf die Frage nach den Gründen fürs Bloggen bereits im Zusammenhang mit Identitätsarbeit gefunden, so geht es nun um eine vertiefende Auseinandersetzung mit Nutzungsmotiven. Die zur Beantwortung der Frage herangezogenen Studien sind meist aus einer medienpädagogischen und/oder (sozial-)psychologischen Perspektive heraus abgefasst. Es spiegeln sich die multiperspektivischen Zugänge zum Forschungsgegenstand mit den jeweils unterschiedlichen Ansätzen und Methoden in den verschiedenen Studien wider. 3.7.1 Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement Die Gründe für die Nutzung von Social Media können allgemein gesprochen im „Identitäts- und Beziehungsmanagement“ sowie im „Informationsmanagement“ (Schmidt/Frees/Fisch 2009: 50) gesehen werden. Diese drei allgemeinen Funktionen der Online-Kommunikation können auch Aspekte der Nutzung von Weblogs erklären und werden im Folgenden einzeln näher betrachtet.

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Identität Bloggen fördert die Reflexion über sich selbst und über persönliche Erlebnisse wie auch den Austausch über gesellschaftliche Diskurse. Multimedial werden Weblogs genutzt, um Teil-Identitäten darzustellen und im Dialog mit anderen weiterzuentwickeln. In Kapitel zwei wurde ausgeführt, dass digitale Medien dazu anregen, sich selbst als Objekt wahrzunehmen und Bloggen als Technologie des Selbst im Sinne von Foucault (1993) beschrieben werden kann. Sylvia Ainetter, die Weblogs auf literaturwissenschaftliche Implikationen hin untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass Bloggen einer Selbstvergewisserung des Individuums dient. Sie postuliert: „Das Weblog erfüllt alle Funktionen des herkömmlichen Tagebuchs, doch durch den hohen Grad an Öffentlichkeit kommen zwei entscheidende hinzu: Selbstdarstellung und Existenzbeweis.“ (Ainetter 2006: 28)

Wie bereits in Kapitel zwei dargelegt worden ist, sind postmoderne Subjekte in einem ständigen Prozess gefordert, an ihrer Identität zu arbeiten. Insbesondere in Zeiten der Unsicherheit und des Wandels ist die Selbstvergewisserung mittels Mediennutzung von besonderer Bedeutung. Weblogs sind zur Identitätsarbeit besonders geeignet, da Bloggen massenmediale, interpersonale wie auch intrapersonale Aspekte von Kommunikation in sich vereint. Die Arbeit an der eigenen Identität durch das Bloggen ist, darauf verweisen empirische Studien, vor allem durch eine positive Selbstdarstellung und die Orientierung an einem authentischen Kommunikationsideal geprägt. Die Selbstdarstellung online orientiert sich überwiegend an einer „Positivselektion von Eigenschaften“ (Schmidt 2006: 71) und an dem Ziel einer authentischen Präsentation, was bereits an früherer Stelle ausgeführt worden ist. Aus der Studie von Sabina Misoch zur Nutzung von persönlichen Websites geht hervor, dass 92 Prozent der HomepagebetreiberInnen eigenen Angaben zufolge eine authentische Selbstdarstellung wählen. Lediglich fünf Prozent gaben an, verborgene Seiten auszuleben und nur drei Prozent der Befragten verwirklichen auf persönlichen Homepages einen spielerischen Umgang mit der Wahrheit. (vgl. Misoch 2004: 175ff.) Diese Haltung zeichnet sich auch im Hinblick auf Weblogs ab. BloggerInnen wünschen sich, in anderen Weblogs authentische Beiträge zu lesen. Dieser Wunsch bewirkt in Bezug auf die eigene Blogpraktik eine Ausbildung von Erwartungen, die zu einer authentischen Selbstdarstellung führen. Jan

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Schmidt erläutert die Ausbildung einer authentischen Kommunikation wie folgt: „In ihren Publikationsroutinen antizipieren die Autoren Erwartungen dieser Leser und richten sie als Erwartungserwartungen an sich selbst [...].“ (Schmidt 2006: 160) Erwartungserwartungen stabilisieren Bloggen als Praktik und lenken die Textproduktion sowie Vorstellungen davon, was als authentisch wahrgenommen wird. Authentizität erfährt online hierbei eine Neuauslegung, wie Schmidt weiter ausführt: „Authentizität meint das ehrliche, aber nicht notwendigerweise das vollständige Offenlegen von persönlichen Informationen, Ereignissen und Gedanken.“ (Schmidt 2006: 85) Wir müssen bei der Diskussion authentischer Online-Kommunikation die Möglichkeiten von Authentizität generell hinterfragen, zeigt sich doch, dass auch in alltäglichen Interaktionen Rollenmuster und Selbstdarstellungsprozesse die Kommunikation prägen. Friedrich Krotz schreibt über Selbstdarstellung und Authentizität online und offline wie folgt: „(Präsentierte) Identität darf im Übrigen nicht mit Authentizität oder ‚wie ich wirklich bin‘ verwechselt werden. Denn unabhängig davon, ob Kommunikation Face-toFace oder mediatisiert stattfindet – in dem bisher entfalteten Begriffssystem kann es keine absolute, keine ‚wahre‘ Identität und damit auch kein objektives Kriterium für Authentizität geben, weil dies immer ein Rückfall in eine essentialistische Sichtweise wäre.“ (Krotz 2007: 209)

Konstruktivistische Ansätze wie jener von Friedrich Krotz leisten einen wichtigen Beitrag für ein besseres Verständnis des Konstrukts Authentizität. Generell muss Wahrnehmen und Schreiben, im Speziellen auch das Abfassen von Blogeinträgen, als konstruktivistische Tätigkeit im Blick behalten werden, wie dies auch Ainetter nahelegt, wenn sie schreibt: „Dennoch muss man beachten, dass in Tagebüchern ein subjektiver Blick auf Geschehenes aufgezeichnet und somit eine neue Wirklichkeit konstruiert wird.“ (Ainetter 2006: 9) Der Reflexionsprozess während des Verfassens von Weblogeinträgen wie auch die Identifizierung mit dem fertigen ästhetischen Produkt tragen zur Identitätskonstruktion bei. Rebecca Blood, Autorin und Bloggerin, beschreibt in einem Essay autoethnografisch, wie ihr durch das eigene Weblog bewusster geworden sei, wo ihre eigenen Interessen liegen. Gleichzeitig wirken sich die Publizität und das sorgfältige Ausformulieren von Meinungen und Ideen beim Bloggen positiv auf ihren Selbstwert aus, wie sie im folgenden Zitat ausführt:

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„First, I discovered my own interests. I thought I knew what I was interested in, but after linking stories for a few months I could see that I was much more interested in science, archaeology, and issues of injustice than I had realized. More importantly, I began to value more highly my own point of view. In composing my link text every day I carefully considered my own opinions and ideas, and I began to feel that my perspective was unique and important.“ (Blood 2000: 5)

Die Prozesse, welche Rebecca Blood im obigen Zitat beschreibt, können als Lernen durch ästhetische Erfahrung konzeptualisiert werden. Fassen wir ästhetische Erziehung im Anschluss an Wolfgang Krieger als eine Auseinandersetzung mit alltäglichen Gegenständen und Anforderungen, als Experiment mit neuen Aufgaben und innovative Auseinandersetzung mit bereits Bekanntem, dann können wir auch Bloggen als eine ästhetische Erfahrung, als einen ästhetischen Bildungsprozess beschreiben. (vgl. Krieger 2004) Insbesondere Weblogs eignen sich durch die Verknüpfung intrapersonaler und interpersonaler Kommunikation zur Identitätsarbeit. So „fördern sowohl kommunikationsleitende Regeln und Erwartungen als auch die spezifische Kommunikationsarchitektur von Weblogs eine kontinuierliche Präsentation des eigenen Selbst sowie die Auseinandersetzung mit anderen über dieses Selbstbild“ (Schmidt 2006: 75).

Welche Werkzeuge und Elemente kommen bei der Identitätskonstruktion durch Bloggen zum Tragen? Jan Schmidt (2006) gibt einen Überblick über relevante Aspekte von Weblogs: • • • • •

Der Titel des Weblogs. Der gewählte Nickname. Die Themen und Inhalte aus der unmittelbaren Lebenswelt (Hobbies, Erlebnisse). Der Umgang mit Sprache. Das Design des Weblogs. (vgl. Schmidt 2006: 75ff.)

Weitere Instrumente der Identitätsarbeit sind • •

das Profil (Profilfoto, Selbstbeschreibung), die multimediale Darstellung (Fotos, Videos),

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• • • •

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Narrationen (ausgewählte Schlüssel-Erlebnisse), Verlinkungen zu Inhalten und Interessensgebieten, Verlinkungen zu Personen und die Darstellung sozialer Beziehungen. (vgl. Schmidt 2006: 75ff.)

Durch die Anregung von identitätsbezogenen Prozessen können Weblogs als Biografiegeneratoren betrachtet werden. Biografiegeneratoren können als Instanzen der Individualisierung aufgefasst werden. In ihnen kann die biografische Identität als eine Einheit mitgeteilt werden. Als Angebote zur Selbstreflexion und Selbstbeobachtung sind Weblogs dezitiert reflexive Räume, die eine spezielle Kulturtechnik der Selbstthematisierung hervorbringen. (vgl. Diemand 2009: 39ff.) Auf einer zeitlichen Achse können sich Schreibende in Weblogs mit der Gegenwart (auftretende Gefühle und Situationsbeschreibungen), mit der Zukunft (Zukunftsträume, Utopien, Identitätsprojekte) wie auch mit der Vergangenheit (Erlebtes) auseinandersetzen. In Bezug auf Vergangenes spielen insbesondere die Archive der Weblogs eine besondere Rolle. Bereits veröffentlichte Einträge werden gespeichert und sind in der Zukunft für die BloggerInnen sowie die LeserInnen zugänglich. Die eigene Entwicklung sowie Gedanken und Gefühle zu einem bestimmten Zeitpunkt können durch die Archivfunktion nachvollzogen werden und treten klarer vor Augen. Archive sind in Bezug auf Lernprozesse relevant und fördern die Übernahme von Verantwortung für die publizierten Beiträge, worauf Ola Erstad und James V. Wertsch (2008) wie folgt verweisen: „The existence of such archives forces to think more about what they write and accept responsibility for it.“ (Erstad/Wertsch 2008: 34) Beziehung Beziehungsmanagement erfolgt über Weblogs auf vielfältige Weise: Über Verlinkungen, über Kommentare, über die Nennung von Personen in Posts oder einfach über das bloße Nachverfolgen des Blogs, wodurch Anschlusskommunikation ermöglicht wird. BloggerInnen des Samples der Studie BlogLife berichten davon, dass ihre Blogeinträge Gesprächsanlässe bieten und Verbindungen offline stärken. Weblogs können gerade bei räumlicher Trennung die Kommunikationsfrequenz erhöhen und das Gefühl der Verbundenheit festigen. Eine Studie über das Medienhandeln von HauptschülerInnen, herausgegeben von Ulrike Wagner, bestätigt die Bedeutung virtueller Kommunikation für die Beziehungsarbeit zwischen den NutzerInnen.

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Die im Jahre 2008 veröffentlichten Ergebnisse über Chatkommunikation und die Nutzungsweise sozialer Netzwerke durch Jugendliche belegen, dass Kontakte in virtuellen Räumen sich größtenteils aus realweltlichen Zusammenhängen speisen und das Gefühl von Zugehörigkeit verstärken. (vgl. Wagner 2008: 220) Autoren wie Schmidt (2006) und Röll (2008) betonen im Gegensatz zur Studie von Wagner die Bedeutung von schwachen Bindungen fürs Bloggen. Folgen wir ihrer Argumentation, so sind nicht die starken Bindungen, sondern die schwachen von größerer Bedeutung. Röll führt exemplarisch wie folgt aus: „Es sind nicht die starken traditionalen Beziehungen, die die Kommunikationskultur im Netz prägen, sondern die schwachen Bindungen dienen zur Grundlage der Kanalisation von Aufmerksamkeit.“ (Röll 2008: 90f.)

Auch die Studie von Lenhart und Madden (2005) über die Medienproduktion von Teenagern belegt, dass Blogs von Jugendlichen vorrangig der Aufrechterhaltung und Erweiterung persönlicher Beziehungen dienen. Sie schreiben: „Teen bloggers blog for an audience of friends and peers and spend more time reading blogs in their friend network than outside of it.“ (Lenhart/Madden 2005: 8) Generell ist festzustellen, dass OnlineInteraktionen bestehende Beziehungen stärken und somit als Instrument der Beziehungspflege angesehen werden können, wie Röll (2008a) allgemein ausführt: „Online-Interaktionen stärken die bestehenden Beziehungen und fördern die Nähe zwischen den Beteiligten.“ (Röll 2008a: 124) Auch die Studie zum Gebrauch von Mobiltelefonen von Jane Vincent zeigt, dass Medien insbesondere im Kontext von Migration einen wichtigen Platz einnehmen, um Familienbande aufrechtzuerhalten und einen Raum der ‚abwesenden Anwesenheit‘ [„effect of being with the absent present“ (Vincent 2010: 158)] zu schaffen. Es dürfte vor allem das jeweilige ‚Blog-Genre‘ ausschlaggebend dafür sein, welche Beziehungsformen über das Weblog angesprochen und gepflegt werden. Charakteristisch ist die Vermischung und Gleichzeitigkeit von starken und schwachen Bindungen; eine strikte Dichotomisierung greift zu kurz. Die Bedeutung von Weblogs zum sozialen Austausch spiegelt sich ebenfalls in der Kommentarfunktion wider. So erlauben einer Studie von Lenhart und Fox (2006) zufolge 87 Prozent der BloggerInnen das Kommentieren von Einträgen auf den eigenen Weblogs.

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Und weitere 41 Prozent gaben an, eine Blogroll oder Freundesliste auf dem Weblog zu führen. (vgl. Lenhart/Fox 2006: iv) Information Über Weblogs wird auch Informationsmanagement betrieben. Informationen werden gesammelt und in Archiven gespeichert, Artikel kommentiert, Berichte und Inhalte oder auch Produkte werden in Blogeinträgen bewertet. Diese Beispiele zeigen, dass Bloggen über die reine Informationsbeschaffung und -verbreitung hinausgeht. Röll verweist auf die Rolle von Weblogs für das Wissensmanagement und auf Möglichkeiten des Einsatzes von Weblogs in der Bildungsarbeit. (vgl. Röll 2008: 86) Weblogs können zum Beispiel sinnvoll im Deutschunterricht eingesetzt werden, um die Ausdrucksfähigkeiten von SchülerInnen in einem praxisrelevanten Feld zu trainieren. Bedeutungsvoll ist der Hinweis auf die Nutzung von Weblogs zur Bildungsarbeit insbesondere, da zu erwarten ist, „dass in Zukunft ein Großteil des Wissensaustauschs über informelle und selbstorganisierte Kommunikation verläuft“ (Röll 2008: 92). Wie kann nun Information beziehungsweise Wissen definiert werden und inwiefern unterstützen Weblogs Lernprozesse? Weblogs bieten einen Raum zum Ordnen von Gedanken, zum Vergleichen und zur Reflexion. Durch die intensive Beschäftigung mit sich selbst und der Lebenswelt wird die Aneignung von Wissen gefördert. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann verweist auf die Relevanz der eingehenderen Auseinandersetzung mit Informationen zum Aufbau von Wissen, er schreibt: „Ohne Durcharbeitung und verstehende Aneignung bleiben die meisten Informationen schlechterdings äußerlich.“ (Liessmann 2006: 30) Durch die intensive Beschäftigung mit Themen und durch deren verstehende Aneigung während des Bloggens sind Weblogs mehr als reine Informationsspeicher. Sie sind Wissenstools. Als schriftsprachliches, soziales und insbesondere öffentliches Medium können Weblogs bei der Ausbildung und beim Training von gestalterischen und kommunikativen Kompetenzen eine wichtige Rolle einnehmen und a) Informationen speichern, b) Wissen bilden helfen sowie c) zu umfassenden Bildungsprozessen beitragen. Bildung in diesem Kontext meint, so Konrad Paul Liessmann in einem Interview mit Martin Kolozs, einen umfassenden „Bezug zu mir selbst und zur Welt“ (Kolozs 2011: 13f.). Bildung fasst Liessmann auf als ein Lebensprojekt, das nie abgeschlossen ist, als einen fortlaufenden Prozess permanenter Weiterentwicklung. (vgl. Kolozs 2011: 30) Gehen wir von dem konstrukti-

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vistisch und biografisch geprägten Wissensbegriff von Liessmann aus, so müssen wir insgesamt auch Lernprozesse aus konstruktivistischer Sicht als selbstgesteuerte Prozesse betrachten. Lernen ist ein individueller Prozess der Bedeutungskonstruktion in sozialen Kontexten unter Rückgriff auf Erfahrungen. Nach Horst Siebert ist Lernen ein Interpretationsprozess und eine Bedeutungszuschreibung auf kognitiver wie auch auf emotionaler Ebene. (vgl. Siebert 2003: 15ff.) Besonders intensiv sind Lernprozesse, die aus Perturbationen (Störungen) heraus entstehen. Vor allem der Wahrnehmung von Unterschieden kommt als Perturbation von Gewissheiten eine wichtige Rolle zu. Lernen als Perturbation ist das Wahrnehmen und Verarbeiten von als „relevant wahrgenommene[n] ‚Störungen‘ der Mensch-UmweltBeziehungen. Dazu gehören auch Differenzwahrnehmungen und Selbstbeobachtungen.“ (Arnold 2007: 76). Es ist anzunehmen, dass Perturbationen insbesondere im Zuge eines Auslandsaufenthalts verstärkt zum Tragen kommen. Vermehrt werden Differenzen wahrgenommen und so selbstgesteuerte Lernprozesse aus der Beobachtung der Umwelt und des Selbst heraus in Gang gesetzt. Lernen findet beim Bloggen auf verschiedenen Ebenen statt. Die Autorin Ann Bartlett-Bragg (2007) identifiziert beim Bloggen individuelle Lernprozesse auf drei Ebenen: Erstens auf der Ebene der Produktion durch publizierte Inhalte von persönlicher Relevanz für die BloggerInnen. Zweitens durch das individuelle Informationsmanagement, realisiert durch kategorisierte Archive und Suchfunktionen. Und drittens auf der Ebene des sozialen Kontexts, wenn BloggerInnen Kommentare und Feedback erhalten. (vgl. Bartlett-Bragg 2007: 219ff.) 3.7.2 Emotionen bearbeiten als intrinsische Motivation Die Dokumentation eigener Erlebnisse, das Auseinandersetzen mit Ereignissen und Gefühlen sowie die Kontakt- und Beziehungspflege sind zentrale Motive ein Weblog zu führen. Die emotionale Auseinandersetzung mit Erlebnissen ist, so zeigen zahlreiche Studien, von besonderer Bedeutung für die BloggerInnen. Verschiedene im Folgenden vorgestellte Studien beschäftigen sich im Besonderen mit intrinsischen Nutzungsmotiven der BloggerInnen sowie mit psychologischen Effekten des Bloggens. Nardi et al. (2004) bestimmen anhand von qualitativen Interviews fünf primäre Nutzungsmotive:

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1. Das eigene Leben dokumentieren (Dokumentationsfunktion). 2. Die eigene Meinung äußern (Kommentarfunktion). 3. Gedanken und Gefühle verarbeiten sowie Emotionen ausleben

(Katharsisfunktion). 4. Schreibend Ideen und Gedanken entwickeln (Kreativitätsfunktion). 5. Gemeinschaftsbildung unterstützen (Soziale Funktion).

Punkt eins und fünf müssen meiner Ansicht nach näher erläutert und ergänzt werden: Ad 1) Zur Dokumentationsfunktion ist anzumerken, dass Nardi et al. (2004) ausschließlich davon berichten, dass BloggerInnen Erlebnisse für andere dokumentieren. Ergebnisse meiner eigenen Studie können hier ein tieferes Verständnis fördern. Für BloggerInnen stellt das Weblog neben der Dokumentation für andere auch eine Möglichkeit der Ausweitung der eigenen Erinnerungsleistung dar (Erinnerungsfunktion). Im Zuge meiner Datenerhebung hat sich herauskristallisiert, dass für NutzerInnen die Dokumentation von besonderen Erlebnissen für sich selbst von ebenso großer Bedeutung ist wie die Darstellung für andere. Ad 5) In mehrfacher Weise sind Weblogs soziale Medien. Hier führe ich jene sozialen Aspekte aus, auf die Nardi et al. (2004) eingehen. BloggerInnen haben beim Schreiben und Veröffentlichen ein bestimmtes Publikum im Kopf, für das sie posten. Es ist diese Leserschaft, die BloggerInnen zum Weiterschreiben motiviert, was Nardi et al. wie folgt ausführen: „Having readers helped keep the writing along, as bloggers knew their readers expected new posts.“ (Nardi et al. 2004: 45) Wie die Studie BlogLife zeigt, sind es vor allem soziale Faktoren wie Anerkennung und Anschlusskommunikation, die von den BloggerInnen als positiv und fördernd erlebt werden und die Ergebnisse von Nardi et al. (2004) um diese dialogischen Aspekte ergänzen. Eine weitere Systematisierung von Nutzungsmotiven stammt von Nicola Döring. Sie nennt fünf zentrale Funktionen des Bloggens wie die „Archiv-, Ventil-, Reflexions-, Sozial- und Übungsfunktion“ (Döring 2001: 89). Des Weiteren führt Döring die Öffentlichkeits- und die Kreativfunktion als Nutzungsmotive an. (vgl. Döring 2005: 37) Die Umfrage ‚Wie ich blogge‘ (Schmidt 2006) aus dem Jahre 2005 (N=4309) ergab, dass für nahezu zwei Drittel der BloggerInnen das Schreiben selbst wichtig ist (62,7 %). Die Studie bestätigt ebenfalls die Relevanz der Dokumentationsfunktion. Eigene Ideen und Erlebnisse festzuhalten, ist für mehr als 60 Prozent (61,7 %) der BloggerInnen ein entscheidendes Nutzungsmotiv. ‚Um mir Gefühle von

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der Seele zu schreiben‘ ist mit 44,5 Prozent noch für knapp die Hälfte der BloggerInnen von Bedeutung. (vgl. Schmidt 2006: 43) Das zuletzt genannte Nutzungsmotiv (‚Gefühle verarbeiten‘) entspricht der Katharsisfunktion nach Nardi et al. (2004) beziehungsweise der Ventilfunktion nach Döring (2001). Die Katharsisfunktion, verstanden als das Ausleben von Gefühlen im Schreiben, ist ein immer wiederkehrendes Nutzungsmotiv. Katharsis ist nach Spitznagel einer der häufigsten Gründe für Selbstenthüllung17. Zentrale Merkmale von Selbstenthüllungen beschreibt Spitznagel wie folgt: „Kathartische SE [Selbstenthüllungen] sind charakterisiert durch Spontaneität der Äußerungen, einmalige und daher meist hoch intime Mitteilungen, die eher authentisch als strategisch und nicht reziprok sein werden.“ (Spitznagel 1986: 32)

Ist diese Selbstenthüllung oftmals Stein des Anstoßes beim Bloggen und wird kritisch hinterfragt, so muss doch in Betracht gezogen werden, dass Selbstenthüllung, neben der kathartischen Wirkung, für die Beziehungspflege unmittelbar notwendig ist, wie Spitznagel weiter ausführt: „Selbstenthüllung erzeugt Selbstenthüllung und ist notwendig für die Aufrechterhaltung interpersonaler Beziehungen.“ (Spitznagel 1986: 41) Kontaktpflege und sozialer Austausch sind Motive, die allerdings, verglichen mit der Dokumentationsfunktion und intrinsischen Motiven, weniger oft als Gründe für die Nutzung genannt werden. ‚Um mich mit anderen über eigene Ideen und Erlebnisse auszutauschen‘ ist noch für 49 Prozent ein relevantes Nutzungsmotiv, während das Teilen von Wissen (33,4 %) und der Kontakt zu Freunden und Bekannten (33,2 %) sowie das Knüpfen neuer Kontakte (27,2 %) von geringerer Bedeutung sind. Überraschend ist das Ergebnis der Umfrage ‚Wie ich blogge‘, wonach mit 70,8 Prozent das Motiv ‚Zum Spaß‘ am häufigsten genannt wird. (vgl. Schmidt 2006: 43) Was macht aber den ‚Spaßfaktor‘ beziehungsweise den Lustgewinn des Bloggens aus? Aus der nur sehr vagen Angabe ‚Spaß‘ schließe ich, dass sich hinter diesem Motiv teils unbewusste Gratifikationen verbergen. Hier zeigt sich deutlich die Notwendigkeit qualitativer Forschungssettings, die solchen Fragen vertiefend nachspüren können. Ziehen wir einen Vergleich zwischen den vorgestellten Studien, so ist festzustellen, dass intrinsische Faktoren vor extrinsischen dominieren. Die Motive für das Betreiben eines Weblogs sind dem-

17 Selbstenthüllung ist begrifflich zu unterscheiden von Selbstdarstellung.

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nach primär innengeleitet und weniger an sozialen Faktoren orientiert. Allerdings liegt das Besondere der Weblognutzung gerade in der Verflechtung beider Motivlagen. Die soziale Komponente des Bloggens ist nicht zu trennen von positiven psychologischen Effekten des Schreibens und Reflektierens sowie der Selbstenthüllung. Kritisch anzumerken ist, dass diese gegensätzlichen Nutzungsmotive BloggerInnen vor die Herausforderung stellen, eine Balance zu schaffen zwischen einerseits Selbstoffenbarung und andererseits dem Schutz der Privatsphäre. Durch die intrinsischen Antriebe konfligiert der Schutz der Privatsphäre mit dem Bedürfnis nach Selbstoffenbarung, wie Serfaty (2004) mit Blick auf das Schreiben von Tagebüchern wie folgt festhält: „Fear of transparency does battle with the desire for total self-disclosure, and diaristic writing is a means of resolution of this conflict.“ (Serfaty 2004: 90) Das Publizieren mittels Weblogs ist nicht nur riskant für die Privatsphäre, es birgt gleichermaßen Chancen zur Kompetenzentwicklung, worauf im Detail in Kapitel vier eingegangen wird. Das Führen eines Weblogs kann sich positiv auf das Selbstwertgefühl der BloggerInnen auswirken. Durch das Erfahren der Publizität können sich NutzerInnen als bedeutsam und wirksam erleben. Nicola Döring sieht vor allem für Menschen mit einer prekären Identität positives Entwicklungspotenzial durch das Bloggen. Sie führt aus: „Menschen, deren Identität prekär ist, etwa aufgrund ihrer sozialen Lage, ihrer Religion, ihrer sexuellen Vorlieben oder gesundheitlichen Verfassung, können ihren Selbstwert durch das Entwickeln einer eigenen Stimme im Blog stärken.“ (Döring 2005: 37)

Im Zuge einer Inhaltsanalyse zeigen die Autorinnen Ingrid F. und Margarete Reichmayr, dass Bloggen eine identitätsbildende reflexive Tätigkeit darstellt. Wie Döring machen die Autorinnen Reichmayr und Reichmayr eine therapeutische Funktion des Bloggens aus, wenn beispielsweise Jugendliche gesundheitliche, familiäre oder finanzielle Probleme posten und ausführlich Stimmungs- und Gefühlslagen beschreiben. (vgl. Reichmayr/Reichmayr 2005: 44) Des Weiteren bringt die Studie weitere Beispiele und Belege für die Kontakthalterfunktion von Weblogs, was bei Nicola Döring unter der Sozialfunktion subsummiert wird. Auch zeigen die Verfasserinnen des Forschungsberichtes auf, dass das Bloggen Gedanken strukturieren und ordnen hilft. (vgl. Reichmayr/Reichmayr 2005: 44ff.) Auf

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emotionaler Ebene kommt es, so Geert Lovink, beim Bloggen zu einer Verstärkung von Emotionen. Lovink führt aus: „Man kann […] sagen, dass die Affekte verstärkt werden, wie bei einem Megafon.“ (Lovink 2007: 4) Ein Erklärungsmodell für solch verstärkende Effekte durch die Veröffentlichung von Gefühlsäußerungen in Weblogs kann die Sozialpsychologie bereitstellen. Öffentliche Meinungen beziehungsweise Einstellungen (Kognitionen) sind für Individuen verbindlicher als private. Gleichzeitig streben Personen Kongruenz zwischen ihrem Verhalten und ihren Einstellungen an, was zu einer Anpassung von Verhalten und Einstellungen führt. Hormuth und Archer (1986) erklären den Zusammenhang zwischen öffentlichen Kognitionen und Verhalten wie folgt: „Eine Kognition, d.h. einen Gedanken oder eine Einstellung, anderen durch Selbstenthüllung mitzuteilen, macht diese Kognition öffentlich, so daß man sich öffentlich auf eine bestimmte Einstellung verpflichtet hat.“ (Hormuth/Archer 1986: 130)

Ein fiktives Beispiel kann die Theorie im Kontext des Bloggens gut veranschaulichen. Angenommen, eine Person stellt online, dass sie mit dem Rauchen aufhören wird. Da diese Äußerung öffentlich ist, wird die Einstellung dazu für die Person verbindlicher sein, als wenn diese nur für sich privat den Gedanken hegt, das Rauchen aufzugeben. Ein Scheitern des Vorhabens würde im Falle der öffentlichen Kognition größere Dissonanzen hervorrufen. Übertragen wir die Ergebnisse von Hormuth und Archer auf das Bloggen, so heißt das nichts weniger, als dass dem Bloggen durch die öffentliche Selbstenthüllung eine „verhaltensregelnde Funktion“ (Hormuth/ Archer 1986: 127) zukommt. Eine Studie zur Weblognutzung nach dem Hurrican Katrina im Jahre 2005 verdeutlicht, wie Menschen durch das Bloggen Emotionen zur Trauerbewältigung ausleben können oder Weblogs zur gegenseitigen Unterstützung nutzen, indem sie Durchhalteparolen posten. Insbesondere in den Kategorien „social support“ und „sharing life experience“ ist die psychologische Funktion stark ausgeprägt, wie dies Macias u.a. (2009) als Ergebnis ihrer Studie bekanntgeben. Sie schreiben: „The emotive or therapeutic functions were captured throughout categories, but particularly in providing social support and sharing life experience relevant to the hurricane.“ (Macias/Hilyard/Freimuth 2009: 26)

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Eine Metastudie von Pennebaker und Chung über expressives Schreiben bestätigt den positiven psychologischen Effekt von Selbstenthüllungen in Weblogs. Sie fassen wie folgt zusammen: „Several studies have shown that self-disclosure through blogging can increase perceived social support (Baker & Moore, 2008), subjective wellbeing (Ko & Kuo, in press), and success in weight loss (Chung & Pennebaker, 2009), primarily through receiving and sending comments on a blog or within a blog community.“ (Pennebaker/Chung o.J.: 10)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Weblogs ein „outlet for emotion and self-expression“ (Fullwood/Sheehan/Nicholls 2009: 685) darstellen und helfen, Gefühle beziehungsweise Erlebnisse zu verarbeiten.

3.8 B LOGGEN ALS KULTURELLES K APITAL : M EDIENPÄDAGOGISCHE I MPLIKATIONEN DER W EBLOGNUTZUNG An die Nutzung von Weblogs sind häufig medienpädagogische Perspektiven geknüpft, wobei die Chancen der öffentlichen Ausdrucksmöglichkeiten hervorgehoben werden, wie exemplarisch aus dem unten angeführten Zitat von Nicola Döring hervorgeht: „Blogs lassen aus eher passiven Konsumenten von Internetinhalten aktive Publizisten werden, die in keiner Weise von Medienorganisationen abhängig sind.“ (Döring 2005: 36) Partizipation durch niedrige Zugangsschwellen und Demokratisierungsprozesse durch Dezentralisierung werden mit einem (relativ) uneingeschränkten Internetzugang und somit auch freien Weblogzugang assoziiert. Bruns und Jacobs (2006) postulieren: „In this environment, anyone with access to the network can participate; the barriers to entry are low, and there is no central authority to grant publishing rights or accreditation, nor to prevent bloggers from linking and responding to information or ideas found elsewhere on- or offline.“ (Bruns/Jacobs 2006: 5)

Inzwischen gibt es erste medienpädagogische Ansätze, Weblogs verstärkt in den Unterricht oder in Bildungsprozesse im Hochschulbereich einzube-

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ziehen. Anhand eines Pilotprojekts mit Studierenden zeigt Jean Burgess auf, wie Bloggen Kompetenzen ausbilden kann, die in technologischen und sozialen Umfeldern der heutigen Arbeitswelt von Bedeutung sind. (vgl. Burgess 2006: 106) Das begleitende Reflektieren der Kursinhalte im Weblog und die enge Verknüpfung von Kursinhalten und persönlichen Interessen sowie die Integration des Weblogs in tägliche Routinen beeinflusst Lerneffekte und Engagement der Studierenden positiv, so Burgess: „On reflection, it seems clear that students in both of these courses who integrated their blog into their everyday lifes (e.g., by posting short, reflective entries almost daily, or by integrating the theory with their personal interests) also engaged more effectively with, and went beyond, the course content.“ (Burgess 2006: 111)

Das Potenzial für formale Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Ausbildung liegt nach Erstad und Silseth in der Verblendung von formalen Lernprozessen mit informellen Aspekten des spielerischen Lernens und der persönlichen Beteiligung beim Bloggen, wie die AutorInnen im Folgenden ausführen: „When young people are given the opportunity to blend the informal ‚cultural codes‘ with more formal ones in their own learning processes, agency might be fostered in a new way, with implications for democratic participation.“ (Erstad/Silseth 2008: 214)

Die VerfasserInnen von Weblogs trainieren Medienkompetenzen und arbeiten reflektiert an einem ästhetischen Produkt, das als Referenz für Arbeitsstellen dienen kann. (vgl. Döring 2001: 90f.) Im schulischen wie auch im außerschulischen Kontext gibt es erste erfolgreiche Ansätze mittels Publizieren über Weblogs Lese- und Schreibkompetenzen zu heben. (vgl. Ketter 2008: 148) Spielerisch, kontextgebunden und lebensnah und somit auch nachhaltig formieren sich im Zuge des Bloggens informelle Lernprozesse. Im Zentrum medienpädagogischer Projekte stehen die „Förderung eines kompetenten Umgangs mit dem neuen Medium Web 2.0 sowie das Kennenlernen der Risiken“ (Ketter 2008: 156) wie zum Beispiel Mobbing, Persönlichkeitsrechte, Urheberrechte, Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre. Aber nicht nur das Schreiben selbst, sondern auch das Lesen von Weblogs kann durch sozialen Vergleich und Identifikation, ähnlich wie bei

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der Rezeption anderer medialer Produkte wie Filme oder TV-Serien, Reflexion befördern und eine Lebenshilfe darstellen, wie Döring im Folgenden betont: „Der Blick in ein anderes Leben beschert nicht nur voyouristisches Vergnügen, sondern auch die Chance zu Identifikation, sozialem Vergleich und Lebenshilfe.“ (Döring 2001: 92) Das Führen eines Weblogs kann die Medienkompetenz der Nutzerin/des Nutzers stärken. Erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten geben BloggerInnen häufig an andere Personen weiter, was Lenhart und Madden (2005) in einer Studie erhoben haben. Sie fassen wie folgt zusammen: „Blogging teens are more likely to have helped an adult do something online than nonblogging teens, this despite living in households with generally more techsavvy parents. More than nine in ten, or (94 %) of blogging teens report helping an adult do something online that they could not do themselves, while 79 % of other teens report rendering similar assistance to an adult.“ (Lenhart/Madden 2005: 5)

Insbesondere für Jugendliche kann sich das Erleben eigener Kompetenzen und Lehrfähigkeiten sowie das Erfahren von Wertschätzung positiv auf den Selbstwert auswirken, was in dieser oftmals als schwierig empfundenen Lebensphase ein positiver Implus zur proaktiven Herangehensweise an Aufgaben und Herausforderungen sein kann. Ein kompetenter Umgang mit Medien und beispielhaft mit Weblogs umfasst deren kreative Nutzung als Reflexionsraum und als Raum zur Identitätsarbeit. Medienkompetenz und Identitätskonstruktion müssen zusammen gedacht werden, wie dies Schachtner (2001) wie folgt betont: „Medienkompetenz zeigt sich einerseits [...] in der kreativen Nutzung der medialen Möglichkeiten für die Persönlichkeitsentwicklung. Medienkompetenz wird insofern zur Identitätskompetenz.“ (Schachtner 2001: 7)

Der mediale, expressiv-künstlerische Ausdruck ist für identitätsrelevante Konstruktionsprozesse von besonderer Bdeutung. Mit seinem Artcoaching-Ansatz, ausgehend von den Prämissen der Gestalttherapie, zeigt Olaf-Axel Burow, dass eine künstlerisch-kreative Mediennutzung kreative Potenziale freilegen, eigene Stärken fördern und routinisierte Wahrnehmungsmuster aufbrechen kann. Er führt aus:

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„Von besonderer Bedeutung für die Charakteristik von Gestalttherapie und Gestaltpädagogik ist die Entwicklung bzw. die Verwendung vielfältiger kreativer Medien, Methoden und Übungen, die den Einzelnen darin unterstützen sollen, über sich selbst bewußter zu werden, verschüttete kreative Potenziale und eigene Stärken (den ‚Self-Support‘) wiederzuentdecken, routinisierte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster aufzubrechen und den Prozeß der Gestaltbildung aktiv zu steuern.“ (Burow 2001: 3)

Eine umfassende medienpädagogische Position hat Dieter Baacke entwickelt. Medienkompetenz18 in Baackes weitem Verständnis reicht über technische Kompetenzen hinaus. Identitätsarbeit und soziale wie auch politische Beteiligungschancen sind für Baacke eng mit der Nutzung von Medien verbunden, wie aus dem folgenden Zitat von Dieter Baacke hervorgeht: „Medienpädagogik umfasst alle sozialpädagogischen, sozialpolitischen und sozialkulturellen Überlegungen und Maßnahmen sowie Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die ihre kulturellen Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten, ihre persönlichen Wachstums- und Entwicklungschancen sowie ihre sozialen und politischen Ausdrucks- und Partizipationsmöglichkeiten betreffen.“ (Baacke 1997: 5)

Die Förderung von Gestaltungskompetenzen, Kritik- und Ausdrucksfähigkeit sind im Sinne des Kompetenzbegriffs von Dieter Baacke neben der technischen Bedienung für medienpädagogische Maßnahmen bedeutsam. Das Reflektieren in einem Medium durch den Schreibprozess fördert die Entwicklung von Ideen und hilft, Gedanken zu formulieren. Bloggen hilft, eigene Positionen zu finden und Kognitionen auszudrücken, wie eine empirische Studie von Nardi u.a. (2004) belegt: „A number of informants said they used the blog to work through the writing process.“ (Nardi/Schiano/ Gumbrecht 2004: 227) In einer mediatisierten Lebenswelt stellt eine kompetente Mediennutzung nicht nur eine bedeutende berufliche, sondern auch eine ebenso wichtige Alltagsressource dar, was mit Bezug auf Krotz deutlich wird, der schreibt:

18 Ein differenzierter Kompetenzbegriff wird in Kapitel vier in Auseinandersetzung mit Erpenbeck und Sauter (2007) eingeführt. Medienkompetenz wird im Sinne von Erpenbeck und Sauter als eine Querschnittskompetenz diskutiert.

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„Medien sind gleichzeitig auch Alltagsressourcen und tragen zu sozialem und kulturellem Kapital bei und werden dafür wahrscheinlich auch wichtiger.“ (Krotz 2007: 44)

Die Beherrschung kultureller Ausdrucksweisen wie zum Beispiel des Bloggens sichert Partizipation an gesellschaftspolitischen Prozessen. Bloggen als kulturelles und soziales Kapital kann das symbolische Kapital einer Person vermehren und in Folge auch das ökonomische, denn symbolisches und ökonomisches Kapital stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander. (vgl. Bourdieu 2009: 389f.) Mit Bezug auf das französische Hochschulbildungssystem führen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in „Die Illusion der Chancengleichheit“ (1971) aus, wie unterschiedliche persönliche Ressourcen einer Person Chancenungleichheiten im Bildungssystem Frankreichs verstärken und tradieren, weshalb es besonders wichtig ist, Maßnahmen dagegen zu setzen. Bourdieu und Passeron merken kritisch an: „Muß daraus [aus unterschiedlichem kulturellem Kapital], nicht eine fundamentale Chancenungleichheit entstehen, da alle ein Spiel mitspielen müssen, das unter dem Vorwand der Allgemeinbildung eigentlich nur für Privilegierte bestimmt ist?“ (Bourdieu/Passeron 1971: 39)

Zusammenfassend betrachtet geht es um eine ausgewogene Technologienutzung. Das Aufwachsen in einer vernetzten Medienwelt kann, bedingt durch den ständigen Strom an neuen Informationen über Facebook, YouTube und Mobiltelefone, zu Überforderung, Stress, Zerstreuung und mangelnder Konzentration führen, was Richtel mit Blick auf das Schulwesen wie folgt deutlich macht: „[...] computers and cellphones, and the constant stream of stimuli they offer, pose a profound new challenge to focusing and learning“ (Richtel 2010). Matt Richtel interviewte SchülerInnen in den USA und zeigte Risiken für die schulischen Leistungen durch extensive Internet- und Computernutzung auf. Gleichzeitig führt Richtel vor Augen, wie Jugendliche spielerisch zu Technik-ExpertInnen werden und ihre Interessen energisch verfolgen. (vgl. Richtel 2010, o.S.) Neben Aspekten des Lernens und der ausgewogenen Freizeitgestaltung sind der Schutz der Privatsphäre und die Angemessenheit der Selbstdarstellung online häufig gestellte Fragen der Medienpädagogik. Der sinnvolle Einsatz von Weblogs ist mithin eine Frage der Medienkompetenz einer Person, denn prinzipiell bie-

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ten Weblogs bei ausreichend technischem Grundwissen gute Möglichkeiten der Informationskontrolle, was Wijnia in folgender Passage hervorhebt: „The author of web pages has absolute control over the information, and it is much the same for weblogs. If the correct software is used, control over comments and trackbacks is also possible, giving the author absolute control over the channel of communication.“ (Wijnia 2011: 10)

Social-Media-Anwendungen, worunter auch Weblogs gefasst werden können, vermitteln NutzerInnen Schlüsselkompetenzen für die selbstbestimmte und zielgerichtete Teilhabe in postmodernen Gesellschaften. Vor allem Selbstmanagement und ein flexibles Agieren in kommunikativ sich ständig wandelnden Situationen stellen eine zentrale Herausforderung an Subjekte dar, worauf Röll mit Blick auf die Lebenssituation von Jugendlichen heute verweist: „Selbstmanagement und Flexibilität wird zur Überlebenskompetenz in einer Gesellschaft, die vom flexiblen Kapitalismus geprägt ist. [...] Sie [Jugendliche] müssen einen Sozialcharakter entwickeln, der sie befähigt, den wechselnden Anforderungen gerecht zu werden. Genau diese Schlüsselkompetenz wird ihnen mit und durch das Web 2.0 vermittelt.“ (Röll 2008a: 123)

3.9 Z USAMMENFASSUNG Im Zentrum von Kapitel drei standen Ergebnisse der Weblogforschung. Besonders eingegangen wurde mit Blick auf die Forschungsfragen auf die Charakteristika und Nutzungsweisen persönlicher Online-Journale. Es konnte gezeigt werden, wie sich Weblogs seit Mitte der 1990er Jahre von Linksammlungen hin zu multimedialen Plattformen entwickelt haben, die ein vielfältiges Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement erlauben. Durch die Entwicklung von einfach zu handhabender HostingSoftware haben sich neue Praktiken des Bloggens herausgebildet. Im Hybridwesen Weblog treffen persönliche Erlebnisse, berufliche Interessen und kritische Kommentare zum gesellschaftspolitischen Tagesgeschehen in einer teilöffentlichen „Grauzone der Öffentlichkeit“ (Lovink 2007: 3) aufeinander und machen ein Grenzziehungsmanagement sowie eine medien-

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pädagogische Betrachtung und Reflexion notwendig. Weblogs, so konnte unter Rückgriff auf die Positionen von Danah Boyd und Jodi Dean gezeigt werden, sind auf Grund ihrer vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten am treffendsten als Kommunikationsmedien zu definieren. Bloggen ist als Praktik aufzufassen, die kontingente Äußerungen hervorbringt und gleichzeitig durch überindividuelle Nutzungsweisen, Regeln und Rahmen geprägt ist. Die Orientierung der BloggerInnen an sozial ausgehandelten Erwartungen zeigt sich besonders deutlich an der Herausbildung von Subgenres. Unter transdisziplinärer Perspektive konnte ausgeführt werden, wie autobiografische und autoethnografische Aspekte bei persönlichen Online-Tagebüchern zum Tragen kommen und in der Objektivierung durch das Bloggen Eigenes und Fremdes, Lebenswelt und unterschiedliche Kulturen reflektiert werden. Statistische Auswertungen der Blogosphäre legen nahe, dass vor allem die Gruppe der technik- und internetaffinen Jugendlichen am häufigsten Bloggen. Es zeigt sich, dass insbesondere der Bildungsstand und vorhandene Ressourcen wie Technikkompetenzen, Zugang zu Technik und ein förderndes soziales Umfeld zur verstärkten Nutzung von Weblogs führen. Geschlechterunterschiede zeigen sich dahingehend, dass vor allem junge männliche Blogger zu politisch besetzten Themen bloggen und Filter- oder Knowledgeblogs führen, während Teenagerinnen tendenziell eher persönliche Online-Journale betreiben. Ein besonderes Merkmal von Weblogs ist das Ineinanderfließen von Kommunikation auf intrapersonaler, interpersonaler sowie massenmedialer Ebene. Diese Pluralität der kommunikativen Ebenen ermöglicht ein breites Spektrum an Nutzungsmotiven, führt aber auch zu Herausforderungen wie der Organisation der Zielgruppen, die beim Bloggen nicht strikt in schwache und starke Bindungen oder in berufliche und private Kontakte getrennt werden können. Getrennte Kontexte und die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem können in vernetzten Öffentlichkeiten nicht eindeutig bestehen bleiben. (vgl. Boyd 2010: 10) Trotz dieser Risiken für den Schutz der Privatsphäre bloggt nur ein geringer Teil der NutzerInnen anonym oder unter einem nicht nachvollziehbaren Pseudonym. Der Wunsch nach Selbstoffenbarung und nach Herstellung einer persönlichen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit ist bei den BloggerInnen stärker. Zum Schutz der Privatsphäre ist häufig die Strategie der Selbstzensur zu beobachten. Welche Nutzungsmotive konnten in der Weblogforschung identifiziert werden? Bloggen im Sinne einer Technologie des Selbst ist Arbeit an der eigenen Identität. Die Reflexion über sich selbst, über persön-

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liche Erlebnisse und die Lebenswelt samt ihrer kulturellen Selbstverständlichkeiten fördert die Identitätsarbeit und Ausbildung von zum Beispiel technischen, sprachlichen Kompetenzen und Fähigkeiten wie Kritikfähigkeit. Das Erleben von Öffentlichkeit und der Meinungsaustausch wirken sich positiv auf den Selbstwert einer Person aus. Bloggen als ästhetische Erfahrung kann Bildungsprozesse befördern. Weblogs sind Biografiegeneratoren, da sie identitätsbezogene Prozesse anregen. (vgl. Diemand 2009: 39ff.) Neben der Identitätsarbeit eröffnen Weblogs Möglichkeiten zur Beziehungspflege und zum Informationsmanagement. Sie sind Wissenstools und tragen durch die im Schreiben und Publizieren vollzogene Durcharbeitung zu Bildungsprozessen bei. Erlebnisse zu verarbeiten und Emotionen auszuleben sind weitere relevante Nutzungsmotive. Die „Katharsisfunktion“ (Nardi et al. 2004) des Bloggens steht in Zusammenhang mit positiven Effekten der Selbstenthüllung (vgl. Spitznagel 1986) und verweist darüber hinaus auf die Bedeutung von Weblogs bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen, worauf in Kapitel vier näher eingegangen wird. Bloggen ist aufzufassen als ein kulturelles Kapital, das Chancen auf Kompetenz-entwicklung, gesellschaftliche Teilhabe und Demokratisierung eröffnet. Medienkompetenz muss zukünftig somit die medienadäquate Nutzung von Weblogs zur Identitätsarbeit, zum öffentlichen Ausdruck von Meinungen und Positionen und zur Gestaltung der gesellschaftlichen Teilhabe umfassen.

4. BlogLife – Das Besondere erzählen. Empirische Ergebnisse „Geschrieben wird in solchen Texten [...], nicht um der Kunst, sondern um des Lebens willen. Es geht nicht um Literatur als Kunst, sondern um Schreiben als Mittel, die Kunst des Lebens und Überlebens zu erlernen.“ (KOCH/KESSLER 1998B: 12)

In Kapitel vier BlogLife – Das Besondere erzählen werden die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife vorgestellt. Verweise auf die zuvor diskutierte Theorie dienen als Erklärungsmodell für die sich abzeichnenden Praktiken des Bloggens im untersuchten Sample. Anknüpfungen an andere Studien setzen die Ergebnisse in Bezug zu bereits durchgeführten Studien und helfen das Forschungsfeld weiter zu differenzieren. Die abschließend aufgestellten Thesen dienen der Entwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie, welche die Praktiken des Bloggens empirisch und theoretisch fundiert erläutert. Jedem Einzelinterview, wie auch jeder Visualisierung, wurde eine Schlüsselkategorie, die das Hauptmotiv bezeichnet, zugewiesen. Im Anschluss an diese Kategorisierung wurde ein Quervergleich zwischen den Interviews innerhalb einer Kategorie durchgeführt, um sich abzeichnende Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Die Trennung der einzelnen Kategorien ist als eine analytische Systematisierung anzusehen, zeigt sich doch, dass einzelne Themen innerhalb mehrerer Kategorien relevant und nicht ausschließlich einer einzigen Kategorie zuordenbar sind. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass Nutzungspraktiken, die beispielsweise der Kategorie Öffentlichkeit herstellen zugeordnet werden können, sich auch auf die Ge-

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staltung von Beziehungen auswirken oder in Kategorie drei Schreiben und Bewältigen von Bedeutung sind. Ebenso ist die Kategorie Beziehungen gestalten nicht isoliert zu betrachten, macht es schließlich einen Unterschied, ob Beziehungen öffentlich gelebt werden oder im privaten Raum. Des Weiteren ist der Beziehungsfokus auch in Kategorie drei Schreiben und Bewältigen relevant, da der Rückgriff auf das soziale Netzwerk bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen als unterstützend erlebt wird. Das Ineinanderfließen der drei eruierten Schlüsselkategorien ist mitunter durch die hybride Form von Weblogs bedingt, die in Kapitel drei bereits beschrieben worden ist. Zur differenzierten Analyse müssen die einzelnen Kategorien jedoch zunächst analytisch getrennt beschrieben werden. Die drei in der Analyse herausgearbeiteten und im Folgenden beschriebenen Schlüsselkategorien sind: 1. Öffentlichkeit herstellen 2. Beziehungen gestalten 3. Schreiben und Bewältigen

Die Zuordnung der Interviews und Visualsierungen (N = 34) zu den einzelnen Kategorien ergibt folgende prozentuale Häufigkeitsverteilung: • • •

Öffentlichkeit herstellen Beziehungen gestalten Schreiben und Bewältigen

23,5 Prozent 29,4 Prozent 47,1 Prozent

Innerhalb des Samples mit seinem Kontext Auslandssemester zeigt sich eine Tendenz zur Nutzung von Weblogs zum Schreiben und Bewältigen (47,1 %). Die Häufigkeitsverteilung der Interviews und Visualisierungen über die Kategorien hinweg zeigt eine geschlechtsspezifische Tendenz innerhalb der Kategorie Öffentlichkeit herstellen. Für die Kategorie Öffentlichkeit herstellen ergibt die Zuordnung (N = 8) 75 Prozent männliche Blogger gegenüber 25 Prozent weiblichen Bloggerinnen und somit den deutlichsten Unterschied innerhalb der Kategorien.

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Dieses Ergebnis stützt die in Kapitel drei vorgestellten Studien von Schönberger (2008) und Hesse (2008), wonach Filter-Blogs, journalistische Blogs und Weblogs mit politischen Bezügen tendenziell von Männern und persönliche Online-Journale von Frauen verfasst werden. Innerhalb der Kategorien Beziehungen gestalten und Schreiben und Bewältigen sind Geschlechterunterschiede zwar noch auffindbar, jedoch nicht mehr so deutlich wie innerhalb der Kategorie Öffentlichkeit herstellen. Die Aufteilung stellt sich wie folgt dar: Die Kategorie Beziehungen gestalten (N = 10) zeigt ein Verhältnis von 60 Prozent männlichen Bloggern zu 40 Prozent weiblichen Bloggerinnen. Innerhalb der Kategorie Schreiben und Bewältigen (N = 16) ist das Geschlechterverhältnis umgekehrt mit 37,5 Prozent männlichen und 62,5 Prozent weiblichen BloggerInnen. Die Strukturierung des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit folgt anhand der eben genannten drei Schlüsselkategorien. Zunächst wird in diesem Kapitel theoretisch auf das Konzept „kritische Lebensereignisse“ („stressful life events“) eingegangen, um darauf aufbauend die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife darzustellen.

4.1 K RITISCHE L EBENSEREIGNISSE Menschen sind während ihrer natürlichen Lebensphasen mehr oder weniger kritischen Situationen ausgesetzt. Der Schuleintritt eines Kindes, der Verlust einer Partnerin/eines Partners, Arbeitslosigkeit oder der Wechsel des Wohnortes können solch kritische Situationen hervorrufen. Diese Stimuli können Stress verursachende, kritische Auswirkungen auf Menschen haben. Nach den AutorInnen Barbara Snell Dohrenwend und Bruce P. Dohrenwend (1974) zählen zu kritischen Lebensereignissen vorhersehbare Situationen wie der Schuleintritt oder eine Heirat, aber auch unvorhergesehene Ereignisse wie der plötzliche Tod eines geliebten Menschen. Sie schreiben: „These stimuli or situations, which we call ‚life events‘, include experiences such as marriage, birth of a child, divorce, and death of a loved one.“ (Dohrenwend/Dohrenwend 1974: 1) Unvorhersehbare Ereignisse sind besonders herausfordernd, da keine Bewältigungsanstrengungen vorweggenommen werden können. Aus diesem Grund trifft Ralf Schwarzer die Unterscheidung zwischen normativen und nicht-normativen Ereignissen. Er schreibt: „Solche (nicht-normative) Ereignisse sind dadurch charakterisiert,

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daß keine antizipatorischen Bewältigungsversuche vorgenommen werden, denn man kann ja nicht ahnen, was einem eines Tages zustoßen wird.“ (Schwarzer 1994: 15) Von kritischen Lebensereignissen sprechen wir in der vorliegenden Arbeit, wenn die erfahrenen Erlebnisse zur Bewältigung herausfordern. Eine Bewältigung ist bei kritischen Lebensereignissen notwendig, um den als unangenehm empfundenen Stress zu reduzieren, der mit ungewohnten und neuen Situationen auftreten kann. Welche Situationen in welchem Ausmaß als Stress verursachend empfunden werden, ist individuell verschieden. So kann der Kontakt mit anderen Kulturen und Werten Stress verursachen, worauf der Psychologe Richard S. Lazarus wie folgt verweist: „The stress reactions appear to be the result of conditions that disrupt or endanger well-established personal and social values of the people exposed to them […].“ (Lazarus 1966: 4) Als Stress sind in Anlehnung an Richard S. Lazarus sowohl die Stimuli wie auch die Reaktionen darauf zu fassen. Er definiert Stress wie folgt: „It seems wise to use ‚stress‘ as a generic term for the whole area of problems that includes the stimuli producing stress reactions, the reactions themselves, and the various intervening processes.“ (Lazarus 1966: 27) In der Psychologie und Erwachsenenbildung werden nebeneinander verschiedene Begriffe wie Veränderung, Zäsur, Lebensereignis, Stress und Krise verwendet, die analytisch nicht immer präzise voneinander getrennt werden. In einem knappen Ratgeber von pro mente kärnten19 finden wir zum Krisenbegriff eine Definition, die jener der kritischen Lebensereignisse nach Dohrenwend und Dohrenwend ähnelt: „Krisen sind Teil unseres Lebens. Die Bewältigung von Herausforderungen wie zum Beispiel Schulbeginn, Heirat, Geburt eines Kindes, aber eben auch von schwerwiegenden Ereignissen wie beispielsweise Todesfall oder Trennung gehört zum Entwicklungsprozess und zur Reifung des Menschen.“ (Pro Mente Kärnten 2003: 5)

‚Krise‘ in dem oben genannten Sinne bezieht sich primär auf eine Reaktionsweise, auf das Ergebnis und weniger auf das Ereignis selbst. Eine Krise bezeichnet einen besonderen Verlauf eines Lebensereignisses. Kritische

19 Pro mente kärnten ist ein Verein, der psychisch Erkrankte und Ratsuchende in verschiedenen stationären und tagesstrukturierenden oder präventiv orientierten Einrichtungen unterstützt. Für weitere Informationen siehe: http://www.pro mente-kaernten.at/.

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Lebensereignisse können persönliche Krisen sein, sind dies aber nicht zwangsläufig. Das Konzept kritische Lebensereignisse kann als Überbegriff fungieren und bezieht den Krisenbegriff gleichsam ein, ohne dass der Krisenbegriff das Konzept kritische Lebensereignisse zur Gänze determiniert. 4.1.1 Der Studierendenaustausch als kritisches Lebensereignis Blicken wir auf die Situation von Auslandsstudierenden, so wird deutlich, dass Studierende während eines Studierendenaustauschs im Ausland sowohl mit normativen wie auch mit nicht-normativen Ereignissen konfrontiert sind. Das Lebensereignis ist einerseits selbst gewählt und vorhersehbar, andererseits treten vor Ort unvorhersehbare Ereignisse auf, auf die das Individuum unvorbereitet reagieren muss. Antizipatorische Bewältigungsversuche können teilweise unternommen werden. Einen Hinweis auf eine antizipatorische Bewältigungsstrategie liefert ein Blogeintrag von Christoph, der ein Auslandssemester in Nizza absolviert hat. In seinem ersten Eintrag informiert er über das soeben unterzeichnete Nominierungsblatt für das Erasmusstudium. Zwei Monate vor Beginn des eigentlichen Auslandssemesters berichtet Christoph in seinem Weblog über notwendige Anmeldungen, Bestätigungen und Flugdaten. Neben dem Teilen der Vorfreude (emotionale Bewältigung) nimmt das Weblog für den Blogger eine Orientierungsfunktion ein (problemorientierte Bewältigung). Auch der Blogger Tobi beginnt sein Weblog eine Woche vor dem Start seines Auslandssemesters in London mit einer Liste an Dingen, die noch zu erledigen sein werden. Die beiden genannten empirischen Beispiele von Christoph und Tobi liefern erste Hinweise darauf, dass das Führen eines Weblogs eine ordnende und unterstützende Funktion bei zu bewältigenden Herausforderungen hat.20 Zurückkommend auf die Beschreibung der Situation Auslandssemester muss ergänzt werden, dass es sich zwar um ein vorhersehbares Ereignis handelt, die Veränderung jedoch von den Studierenden als rapide erlebt wird, wie aus den geführten Interviews hervorgeht. Von einem Tag auf den anderen fallen die Studierenden aus dem Alltäglichen heraus.

20 Zum Schutz der Anonymität der beiden Blogger wird von einer Verlinkung zu den zitierten Weblogs abgesehen. Eine Sicherung der Daten wurde vorgenommen.

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Diese plötzliche Veränderung kann Stress hervorrufen und macht eine Bewältigung notwendig. In seinem Beitrag „Streß durch Wandel oder Wandel durch Streß“ (1994) beschäftigt sich Ralf Schwarzer mit den psychologischen und psychosomatischen Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Transformationsprozesse. Wandel, so kann generalisiert werden, verursacht Stress und wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen aus, so der Psychologe: „Wandel führt zwangsläufig zu Streß auf seiten der Betroffenen. Umgekehrt führt Streß zu Wandel, indem die Menschen entweder sich den Veränderungen anpassen oder selbst aktiv Veränderungen in ihrer Umwelt erzeugen, um Streß abzubauen und wieder ins Gleichgewicht zurückzufinden.“ (Schwarzer 1994: 14)

4.1.2 Copingstrategien Wie können wir nun unter Rückgriff auf psychologische Fachliteratur den Begriff Coping fassen? Was ist unter emotionaler und problemorientierter Bewältigung zu verstehen? Matthias Jerusalem erläutert den Begriff Bewältigung sowie dessen Herkunft in Anlehnung an Lazarus und Lanier wie folgt: „Der Begriff der Bewältigung umfaßt nach Lazarus und Lanier (1978) alle Anstrengungen einer Person, mit streßrelevanten Situationen fertigzuwerden. […] Das Verhalten kann zum einen auf eine positive Veränderung der Problemlage (problemorientierte bzw. instrumentelle Bewältigung), zum anderen auf eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit (emotionale Bewältigung) gerichtet sein (Jerusalem & Schwarzer, 1989; Lazarus & Folkman, 1984).“ (Jerusalem 1994: 127)

Klaus Dittmann fasst die zwei Ebenen einer effektiven Bewältigung von kritischen Lebensereignissen wie folgt zusammen: „Im Idealfall erfüllen effektive Bewältigungsformen sowohl problemlösende als auch emotionslindernde Funktionen.“ (Dittmann 1991: 120) Nach Lazarus können vier unterschiedliche Typen der Stressbewältigung beschrieben werden: 1. Ressourcenfördernde Handlungen, 2. Vermeidungsverhalten, 3. Angriff, 4. Nicht-Handeln/Ignorieren. (vgl. Lazarus 1966: 259) Ralf Schwarzer führt in Bezug auf Stressabbau aus, dass eine aktive gestalterische Bewältigung von mit dem Lebensereignis Konfrontierten positiver erlebt werde als ein Rück-

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zug oder eine Vermeidungshaltung. (vgl. Schwarzer 1994: 15) Im Zuge der durchgeführten Studie BlogLife ist es von besonderer Bedeutung, inwiefern Menschen, die im Laufe ihres Auslandsaufenthalts Stress ausgesetzt sind, Weblogs nutzen, um Ressourcen aufzubauen und die eigene Handlungskompetenz zu erweitern. 4.1.3 Kritische Lebensereignisse und Identitätsarbeit Vielfach finden sich in der Fachliteratur sowie in Beiträgen zur Erwachsenenbildung Hinweise auf den Zusammenhang von Krisen und Lernerfahrungen. Auf die Problematik des mehrdeutigen und uneinheitlich verwendeten Krisenbegriffes wurde bereits verwiesen. Dennoch soll auf Beiträge zu Krisen verwiesen werden, da wir uns dadurch dem Verhältnis von Wandel und Identitätsarbeit annähern können. Der Sozialpädagoge Sebastian Roth definiert in seiner Publikation „Krisen-Bildung“ (2007) Krisen als „Spannungszustände, in dessen Verlauf sich die Vergangenheit im ‚Hier und Jetzt‘ zukunftsgewandt entäußert“ (Roth 2007: 18). Lernen in und durch Krisen ist nach Roth stets ein Identitätslernen. Der Autor schreibt: „Das Lernen in Krisen findet sowohl affektiv (Selbsterfahrung) als auch kognitiv (Psychoeduktation) statt.“ (Roth 2007: 49) Lernen durch Wandel in Krisen zeigt sich als Reflexionsprozess, in welchem die Lernenden zurückblicken und Utopien entwickeln. Selbstreflexion als Auseinandersetzung mit Identitätsentwürfen schafft die Möglichkeit zur Neuorientierung im Sinne eines Aufbruchs. Die Psychologin Verena Kast verwendet den Begriff der Krise dann, wenn Veränderungen, sie spricht primär von Übergängen oder Zäsuren, einen problematischen Verlauf nehmen. Als Beispiele für solche Veränderungen führt sie den Tod eines Lebenspartners/einer Lebenspartnerin, den Verlust der Arbeit oder Lebensübergänge im Prozess des Reifungs- und Alterungsprozesses an. Kast führt aus: „Alle diese Lebensübergänge können sich in einer steten, fast unbemerkten Wandlung vollziehen, sie können als deutliche Zäsur erlebt werden, oder aber zu Krisen werden.“ (Kast 1998: 18) Kennzeichnend für Übergangsphasen im Sinne von Verena Kast ist, dass plötzlich hinterfragt werden muss, was davor gültig und verlässlich gewesen ist. (vgl. Kast 1998: 25) Identität wurde in der vorliegenden Arbeit im Anschluss an Keupp/Ahbe/Gmür (2002) und Keupp (2005) als ein Prozess der sinnvollen Verknüpfung von Erfahrungen definiert. Identitätsarbeit in diesem Sinne ist ein stetig fortlaufender Sinn-

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bildungsprozess. Im Zuge kritischer Lebensereignisse sind Individuen in ihrer Identitätskonstruktion besonders gefordert, da eine Neuinterpretation und Neuorientierung auf einen intensiven Reflexionsprozess und vermehrte Selbstthematisierungen innerhalb narrativer Strategien angewiesen sind. In diesem Abschnitt konnte gezeigt werden, dass die Begriffe Krise, Lebensereignis und Übergang gemeinsame Schnittmengen haben und nicht immer scharf voneinander getrennt werden können. Gemeinsam ist den vorgestellten Konzepten, dass das Individuum durch Veränderungen und Ereignisse vor Herausforderungen gestellt wird. Dies sowohl in den täglichen Handlungsroutinen wie auch in seinen Werthaltungen. Die Definition kritischer Lebensereignisse nach Dohrenwend und Dohrenwend und die Auffassung von Identität als lebenslangen Sinnbildungsprozess verdeutlichen, dass Subjekte im Laufe ihres Lebens immer wieder durch Ereignisse herausgefordert sind. Lebensereignisse können einen kritischen Verlauf nehmen, tun dies aber nicht zwangsläufig, was im verwandten Begriff der Krise stärker mitschwingt. Wie sehr Auslandsstudierende durch Veränderungen herausgefordert sind, zeigt sich bei einem ersten, noch unsystematischen Blick in die Erzählung der Studierenden. In den Weblogs nehmen Beschreibungen der Anfangssituationen und der alltäglichen Routinen einen hohen Stellenwert ein. Sich mit dem Notwendigsten zu versorgen, zu kochen, die Wäsche zu waschen oder sich mit dem Bussystem zurechtzufinden, sind Themen, die in den Weblogs häufig vorkommen. Insbesondere die Anfangssituationen stellen das Individuum vor besondere Herausforderungen. Das Mitteilen der Angst im Weblog kann zu einer emotionalen Entlastung führen und als Bewältigungsversuch aufgefasst werden. Die Psychologin Verena Kast stellt die Bedeutung der ‚geteilten Angst‘ heraus, sie schreibt: „Das Teilen der Angst ist eine wichtige Möglichkeit der Entängstigung.“ (Kast 1998: 39) Die Veränderungen, ausgelöst durch kritische Lebensereignisse, ermöglichen ein Lernen durch Störungen. Durch Perturbationen der Selbstverständlichkeiten des Alltags und der Identitätsentwürfe kommen Reflexionsprozesse in Gang. Michael Ziemons führt dazu aus: „Die Konstruktivistische Erwachsenenbildung verweist hier auf den Begriff der Perturbation und meint damit, dass etwas ‚perturbiert‘, also gestört wird. Dabei handelt es sich um die Konstruktion der Wirklichkeit, die jedes Subjekt hat.“ (Ziemons 2003: 17) Aufbauend auf den theoretischen Ausführungen zu kritischen Lebensereignissen werden im Folgenden die empirischen Ergebnisse zu den drei

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Schlüsselkategorien Öffentlichkeit herstellen, Beziehungen gestalten und Schreiben und Bewältigen der Studie BlogLife vorgestellt.

4.2 S CHLÜSSELKATEGORIE Ö FFENTLICHKEIT HERSTELLEN Im Folgenden setze ich mich vertiefend mit der Schlüsselkategorie Öffentlichkeit herstellen auseinander. Insbesondere der Wunsch nach Sichtbarkeit, das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit sowie die Möglichkeiten eines Kompetenzerwerbs durch das Bloggen werden anhand des empirischen Materials diskutiert. 4.2.1 Der Wunsch nach Sichtbarkeit In den geführten Interviews zeichnet sich deutlich der Wunsch der BloggerInnen ab, von anderen gesehen und gehört zu werden. Die befragten UserInnen wünschen sich von ihrem sozialen Umfeld und von Unbekannten im Netz als kompetent und interessant wahrgenommen zu werden. Über das Weblog können die BloggerInnen Öffentlichkeit herstellen. Das Weblog wird, so formuliert dies eine interviewte Bloggerin, zu einem öffentlich einsehbaren „Ausstellungsraum“ (Katharina). Indem sie einen Teil von sich nach außen tragen, können die BloggerInnen am öffentlichen Diskurs partizipieren und sich in diesem Raum positionieren. Der öffentliche Raum im Netz bietet durch seine interaktiven Möglichkeiten Chancen auf Feedback. Die befragten BloggerInnen erleben große Freude, wenn sie auf ihrem Weblog Rückmeldungen erhalten und sich Dialoge entspinnen. Öffentliche Kommentare auf Blogeinträge stärken das Selbstbewusstsein der BloggerInnen und animieren diese zum Weiterführen des Weblogs. Wie bedeutend das interaktive Feedback für Anerkennungsprozesse ist, zeigt die Reaktion einer 24-jährigen Bloggerin aus Klagenfurt auf Kommentare zu ihren Veröffentlichungen: „Das war eigentlich das Beste, der erste Kommentar war besser als mein erster Eintrag.“ (Katharina) Weitaus häufiger, so berichten die InterviewpartnerInnen im Gespräch, als über die Kommentarfunktion des Weblogs ist Feedback im persönlichen Gespräch oder über andere Kanäle wie Telefon oder E-Mail. Bloggen, so zeigt die Studie BlogLife, schafft einen gemeinsamen Bezugsrahmen für Gruppen und Gemeinschaf-

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ten und führt online wie auch offline zu Anschlusskommunikation. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, basierend auf qualitativen Interviews, Nardi et al. (2004) in ihrer Weblog-Studie, wonach Feedback auf WeblogEinträge häufig über andere Kanäle wie persönliche Gespräche oder Instant Messaging erfolge. Mögliches Feedback wird beim Veröffentlichen bereits antizipiert und, so konnte mit Bezug auf Goffman (2004) gezeigt werden, formt die Darstellungen online mit. Identitätsarbeit findet beim Bloggen als tatsächliche Interaktion statt sowie als Verhandlungsprozess vor einem imaginären Publikum. Unter Bezugnahme auf Charles Taylor (1993) und Jessica Benjamin (1991) konnte in Kapitel zwei bereits gezeigt werden, wie elementar die Anerkennung durch andere für die Entwicklung eines Menschen ist. Anerkennung wie auch die Nicht-Anerkennung durch andere formen Selbstdarstellungsprozesse und Identitätsentwürfe maßgeblich mit. Ohne die dialogischen Beziehungen zu anderen können Menschen keine Identitätsarbeit leisten, wie bereits mit Bezug auf die Ausführungen von Charles Taylor (1993) diskutiert worden ist. Die LeserInnen eines Weblogs bestätigen der Verfasserin/dem Verfasser durch die Reaktionen auf Identitätsentwürfe, dass diese existieren und kommunizieren, wie diese auf sie wirken. Wie Jessica Benjamin ausführt, bestätigen uns nicht nur andere Menschen, sondern auch unbelebte Dinge die eigene Existenz. (vgl. Benjamin 1991: 24) Diese Form der reflexiven Anerkennung tritt beim Bloggen deutlich zutage. Die Blogeinträge versichern der Bloggerin/dem Blogger, dass die geschilderten Erlebnisse tatsächlich stattgefunden haben und spiegeln die eigene Existenz wider. Das Erzählen, so Aida Bosch, schließt ein Erlebnis resümierend ab: „Ein Erlebnis ist nicht wirklich abgeschlossen, wenn es nicht ‚ausgedrückt‘ wird, d.h. anderen in verständlicher Weise in einer der verschiedenen kulturellen Sprachen (der Musik, der Symbole, der Mode, der Dichtung etc.) mitgeteilt wird. Ein Erlebnis das man anderen erzählt, wird dadurch erst wirklich.“ (Bosch 2011: 20)

In den Augen der BloggerInnen erfordert es Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen und vor anderen die eigene Meinung zu vertreten. Die interviewten BloggerInnen zeigen sich stolz, ein eigenes Werk und etwas Bleibendes geschaffen zu haben. Kognitiv wie auch emotional bedeutet der Schritt in die Öffentlichkeit Identitätsarbeit. Auf die Kompetenzentwicklung durch das Führen eines Weblogs und den Zusammenhang von Kompetenzentwick-

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lung und Identitätsarbeit gehe ich an anderer Stelle vertiefend ein. Die Erfahrung des Auslandsaufenthalts ist zu einem großen Teil für die befragten Studierenden jener Auslöser, der dazu geführt hat, den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen und ein Weblog zu führen. Ein Schritt, der von anfänglichen Ängsten vor der Öffentlichkeit selbst begleitet wird, wie im folgenden Abschnitt nachgezeichnet wird. 4.2.2 Das Besondere erzählen Die Anfangssituation des Auslandssemesters ist gekennzeichnet durch Umbrüche. Neben dem Wegfall von alltäglichen Routinen und Handlungsmustern, die ansonsten Stabilität und Orientierung bieten, erleben die Studierenden die räumliche Distanz zum sozialen Umfeld als emotional belastend. Die InterviewpartnerInnen berichten vielfach von Angst vor sozialer Isolation und dem Ungewissen sowie von Gefühlen der Langeweile in der ersten Zeit des Auslandsaufenthalts. Sprachliche Barrieren und mangelndes Orientierungswissen in einem anderen kulturellen Umfeld irritieren und verunsichern. Das Weblog wird in der Anfangszeit des Auslandsaufenthalts von den Studierenden verstärkt genutzt. Es dient als Mittel zur Überbrückung von Langeweile und in einer Phase der Orientierung als virtuelle Brücke nach Hause, um in Kontakt mit dem sozialen Umfeld zu bleiben, was den InterviewpartnerInnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Das Neue und das nicht Alltägliche des Anfangs und Umbruchs finden als das Besondere Eingang in die Erzählungen online. Durch die Veröffentlichung wird Feedback ermöglicht und dieses bestätigt wiederum, dass die im Weblog erzählten Erlebnisse etwas Besonderes sind, wovon die 22-jährige Bloggerin Simone aus Graz im Interview erzählt: „Ich habe halt gemerkt, durch die einzelnen Kommentare der anderen, dass das halt gut ankommt und dass es irgendwie etwas Besonderes ist, anscheinend, was ich da gerade mache.“ (Simone) Auch für den 25-jährigen Blogger Martin aus Kärnten stellen die im Weblog erzählten Erlebnisse etwas Besonderes dar, es sind die Highlights seines Auslandssemesters. Ein Element seiner während des Interviews angefertigten Visualisierung stellt eine Kette dar. Für Martin symbolisiert diese Kette, wie er im Weblog Ereignis an Ereignis reiht und zu einem Ganzen zusammenfügt.

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Abbildung 2: Das Besondere erzählen

Ausschnitt Visualisierung (Martin, 25 Jahre)

Im Interview verdeutlicht Martin, dass es die besonderen Erlebnisse sind, die Eingang in sein Weblog finden. Er sagt: „[...] die Highlights werden da nochmal präsentiert und eben verbunden.“ (Martin) Die eben zitierte Passage aus Martins Interview verweist auf die Herstellung von Bedeutungen durch das Erzählen. Auf die Funktion von Narrationen im Hinblick auf die Herstellung von Bedeutungen wird an späterer Stelle näher eingegangen. 4.2.3 Lernen durch Erfahrung – medienkompetentes Handeln in vernetzten Öffentlichkeiten Die Studie BlogLife zeigt deutlich, dass Einstellungen zu und Wissen über den Schutz der eigenen Privatsphäre sowie der Schutz der Persönlichkeitsrechte von anderen ein reflexiver Lernprozess ist. Der Grat zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wird im Tun durch die BloggerInnen immer wieder neu ausgelotet, wodurch Erfahrungswissen aufgebaut wird. Die InterviewpartnerInnen berichten von anfänglichen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Die zunehmende Kompetenz im Umgang mit dem Medium Weblog führt bei den Bloggenden im Laufe der Zeit zu einer differenzierteren Sichtweise auf den Themenkomplex Privatheit und zu unterschiedlichen Handlungsstrategien. Im Interview berichtet der Blogger Werner, dass er anfangs noch leichtfertig Freunde und Bekannte in Blogeinträgen genannt habe. Nicht alle im Weblog Genannten seien mit einer Erwähnung einverstanden gewesen und der

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46-jährige Klagenfurter hat deshalb nachträglich Einträge wieder gelöscht. Inzwischen anonymisiere er beim Erstellen der Posts die Namen der im Beitrag genannten Personen, um Persönlichkeitsrechte nicht zu verletzen. Auch die 24-jährige Bloggerin Katharina berichtet im Interview von ihr im Nachhinein als peinlich empfundenen Einträgen. Sie habe im Zuge einer Halloween-Party Fotos von sich auf ihrem Weblog gepostet und dabei nicht bedacht, dass auch einige ihrer ProfessorInnen über die Blogadresse verfügen. Wie mit Verweis auf Danah Boyd (2002) bereits ausgeführt worden ist, gestaltet sich das Managen von Identitätsfacetten (Teil-Identitäten) online oftmals als schwierig, da zuvor getrennte Bereiche (zum Beispiel Beruf und Freizeit) ‚zusammenbrechen‘, Danah Boyd spricht von „collapsed contexts“ (Boyd 2002). Wie in Anlehnung an Joachim R. Höflich (2003) dargestellt worden ist, müssen sich beim Gebrauch neuer Kommunikationstechnologien erst gültige Regeln zur adäquaten Mediennutzung herausbilden, ein verlässlicher und intersubjektiv abgesicherter Medienrahmen muss aufgebaut werden, was an den eben zitierten empirischen Beispielen der BloggerInnen Katharina und Werner deutlich zu sehen ist. BloggerInnen leisten online Identitätsarbeit, indem sie – auch widersprüchliche – TeilIdentitäten zueinander in Beziehung setzen. Ihre Einträge hat Katharina nachträglich nicht geändert, sondern beschlossen, zu ihrer Selbstdarstellung zu stehen und darüber zu lachen. Ein ständiges Ausloten und Abwägen von öffentlichen Selbstdarstellungen beim Bloggen ist unumgänglich. Die Bloggerin Katharina erzählt: „Wie gesagt, es ist kein Tagebuch, das ich jederzeit versperren kann und wo das eigentlich nicht für andere gedacht ist, es ist schon für andere gedacht und da ist natürlich schon immer die Frage, wie viel gebe ich von mir her. […] Einmal war es vielleicht zu viel, zum Schluss war es zu wenig, weil gar nichts, aber ich denke mir, ich steh’ dazu.“ (Katharina)

Ein Erklärungsmuster, wie öffentlich geteilte Einstellungen (Meinungen, Handlungen, erzählte Gefühle) auf die BloggerInnen zurückwirken, bietet Charles A. Kiesler (1971). Der US-amerikanische Psychologe Kiesler stellte eine Theorie auf, wonach die Verbindlichkeit einer Kognition mit deren Ausdrücklichkeit steigt. Eine öffentliche Handlung oder öffentlich geteilte Einstellung weist der Theorie von Kiesler zufolge einen höheren Grad an Verbindlichkeit aus. Auch die oben zitierte Bloggerin Katharina berichtet

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im Interview davon, dass für sie ihre Veröffentlichungen und geteilten Selbstdarstellungen verbindlich sind, wenn sie betont: „[…] ich steh’ dazu.“ (Katharina) Durch die Irritationen wurden, so zeigen die Beispiele der BloggerInnen Werner und Katharina, Reflexionsprozesse über den öffentlichen Charakter von Weblogs angestoßen und Lernprozesse zeichnen sich ab. Durch die Erzählungen der BloggerInnen über ihre eigenen Blogpraktiken kann nachvollzogen werden, wie sich bei den BloggerInnen Kompetenzen durch Erfahrung aufbauen. Die ersten Blogversuche sind noch eher zaghaft und aus den eigenen Fehlern wird für die Zukunft gelernt. Auf die Kompetenzentwicklung durch Bloggen gehe ich in Abschnitt Identitätsarbeit durch Kompetenzentwicklung vertiefend ein. Sich öffentlich zu präsentieren und dem Urteil sowie der Kritik von Bekannten und Unbekannten zu stellen, erfordert einen kompetenten Umgang mit dem Medium. Die BloggerInnen des Samples achten deshalb auf die Form der Einträge sowie auf die Inhalte. So wird unter anderem der Stil dem Medium Weblog angepasst. Bewusst werden Fragen gestellt und Dialoge initiiert, um die Zahl der LeserInnen sowie das Feedback zu erhöhen. Fotos werden in den meisten Fällen sehr sorgsam ausgewählt und arrangiert. Neben der Anonymisierung von Namen ist eine bewusste Selbstzensur die zentrale Strategie zum Schutz der Privatsphäre unter den befragten BloggerInnen. Es werden weder alle Erlebnisse, noch alle Bereiche des Lebens in den Blog aufgenommen. Intimes wie zum Beispiel Sexualität und Ängste sowie Berufliches werden, so berichten die BloggerInnen im Interview, häufig ausgespart. In der Gesellschaft vorherrschende Tabus werden augenscheinlich durch diese als Selbstzensur wirksamen Blogpraktiken reproduziert. In Kapitel drei wurde der Aspekt der Anonymität bereits diskutiert. Die Ergebnisse werden an dieser Stelle zur deutlicheren Gegenüberstellung mit der Studie BlogLife nochmals wiederholt. Nur wenige Weblogs werden den zitierten Studien zufolge anonym geführt. Laut Schmidt (2006) bloggen nur rund ein Drittel (29,5 %) anonym. Auch die Studie von Herring et al. (2005) zeigt einen geringen Anonymitätsgrad; 67,6 Prozent der Weblogs des untersuchten Samples enthalten einen Namen, welcher einen Rückschluss auf die Person erlaubt. Die AutorInnen Qian und Scott (2007) führen aus, dass lediglich 5,3 Prozent der BloggerInnen unter einem nicht nachvollziehbaren Pseudonym bloggen und nur 6,3 Prozent keine Hinweise zur Identifizierung bieten. Ganze 18,8 Prozent der BloggerInnen geben persönliche Daten wie EMail-Adresse, Telefonnummer oder Wohnort an und bei 43,5 Prozent ist

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eine visuelle Anonymität durch online gestellte Fotos nicht gegeben. Ein Blick in die Weblogs des im Rahmen der Studie BlogLife untersuchten Samples zeigt im Hinblick auf die Anonymisierungsgrade ein ähnliches Bild:21 Die Weblogs der befragten InterviewpartnerInnen werden meist nicht anonym geführt. Von 17 Weblogs ist lediglich eines durch ein Passwort geschützt. Rund ein Drittel (35,3 %) der Zielgruppe (6 von 17) hat ihren richtigen Nachnamen auf dem Weblog angegeben und ist dementsprechend identifizierbar. Geben zwar 64,7 Prozent der BlogbetreiberInnen (11 von 17) keinen Nachnamen an, so sind jedoch mit Vorname und Foto insgesamt 70,6 Prozent der BloggerInnen (12 von 17) auf ihrem Weblog repräsentiert und somit teilweise identifizierbar. Ganze 76,5 Prozent der BloggerInnen (13 von 17) sind visuell durch Fotos repräsentiert. Völlig anonym22 bloggen nur 17,7 Prozent der BloggerInnen (3 von 17). Alle drei anonym bloggenden InterviewpartnerInnen wurden vorab der Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen zugeordnet. Anonymisierung, so kann aus der Häufigkeitsverteilung geschlossen werden, spielt im vorliegenden Sample eine geringe Rolle. Bei Weblogs hingegen, die der Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen zugeordnet worden sind, ist der Anonymisierungsgrad bedeutsamer. Anonymisierungsmöglichkeiten von Weblogs sollten in medienpädagogischen Lernsettings thematisiert werden. Ein kompetenter Umgang mit personenbezogenen Daten ist in den „vernetzten Öffentlichkeiten“ (Boyd 2010)23 von mediatisierten Gesellschaften eine zentrale Kompetenz. Erzählt werden in den Weblogs der Studierenden vielfach die Sonnenstunden des Lebens. Das Besondere, das erlebt und geleistet wurde, wird ins Zentrum gestellt. Das Gelernte und die positiven Erfahrungen stehen im Vordergrund, Probleme und Schwierigkeiten werden häufig nicht thematisiert. Kritische Aspekte werden ausgespart, um einerseits Freunde und Familie nicht zu beunruhigen und andererseits, um sich selbst später beim Nachlesen primär die schönen Erlebnisse in Erinnerung zu ru-

21 Die Häufigkeitsverteilung erhebt keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität. Aufgrund der kleinen Stichprobe, die das qualitative Forschungssetting mit sich bringt, können und sollen lediglich Tendenzen aufgezeigt werden. 22 Kein Vor- und Nachname sowie keine visuelle Repräsentation oder ein Passwortschutz. 23 Zum Konzept „vernetzte Öffentlichkeiten“ („networked publics“) von Danah Boyd siehe Kapitel drei.

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fen. Auch Wolf (2002) kommt zu dem Ergebnis, dass, um Risiken durch den sozialen Nahbereich zu minimieren, Selbstzensur eine häufige Strategie darstellt, wie bereits in Kapitel drei ausgeführt worden ist. Auf die Studie von Qian und Scott (2007) wurde ebenfalls bereits verwiesen, wonach 42,5 Prozent der BloggerInnen eigene Gedanken und Meinungen im Netz von sich aus zensurieren. In diesem restriktiven Umgang mit persönlichen Informationen spiegelt sich jenes Authentizitätsverständnis wider, welches Jan Schmidt (2006) nachgezeichnet hat. Authentizität, das wurde bereits in Kapitel drei mit Verweis auf Jan Schmidts Weblog-Studie dargelegt, fassen BloggerInnen als ehrliche, jedoch keineswegs als vollständige Offenlegung von persönlichen Informationen auf. (vgl. Schmidt 2006: 85) Das NichtThematisieren von Problemen ist nicht der einzige Umgang mit herausfordernden Erlebnissen. Inwieweit schwierige Erlebnisse mittels Humor transformiert oder selbstkritisch-reflexiv bearbeitet werden, wird im Unterkapitel Schreiben und Bewältigen gezeigt. 4.2.4 Identitätsarbeit durch Kompetenzentwicklung Bloggen fördert die Entwicklung von Kompetenzen. Das Medium Weblog besitzt einen Ermöglichungscharakter für Kompetenzlernen, da die Software Entscheidungssituationen eröffnet, welche eine kognitive wie auch emotionale Auseinandersetzung mit Erfahrungen erfordern. Die Herstellung von Öffentlichkeit im Weblog wirkt sich unterstützend auf den Ausbau von Grund- und Metakompetenzen aus. Bevor auf empirische Belege für das Kompetenzlernen mittels Weblogs eingegangen wird, ist zunächst der Kompetenzbegriff zu klären. Die Autoren John Erpenbeck und Werner Sauter bestimmen in ihrem Werk „Kompetenzentwicklung im Netz“ (2007) Kompetenzen als „Fähigkeiten zum selbstorganisierten, kreativen Handeln unter Unsicherheit“ (Erpenbeck/Sauter 2007: 2). Im Kern sind laut Erpenbeck und Sauter Kompetenzen auf verinnerlichte Normen und Werte aufgebaut. Kompetenzentwicklung und Werteentwicklung müssen demnach zusammengedacht werden. Emotionen und Motivationen stehen in direktem Zusammenhang mit Kompetenzentwicklung und verändern sich während der Auseinandersetzung mit Verunsicherungen, einem Motor der selbstgesteuerten Kompetenzentwicklung. Selbstorganisation wie auch die Reflexion eigener Denk- und Handlungsweisen sind für die Entwicklung von Kompetenzen wesentlich. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 2ff.) Kompe-

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tenzen zielen auf ein flexibles und situationsadäquates Agieren ab, besitzen also eine zentrale Handlungsdimension. Die Autoren Erpenbeck und Sauter (2007) unterscheiden Metakompetenzen und Grundkompetenzen. Zu den Metakompetenzen zählen sie Fähigkeiten wie Selbsterkenntnisvermögen, Selbstdistanz, Wertrelativismus, Empathie und Kontextidentifikationsfähigkeit. Unter den Bereich der Grundkompetenzen fassen Erpenbeck und Sauter die folgenden vier Kompetenzgruppen: 1. Personale Kompetenzen, 2. Aktivitätsbezogene Kompetenzen, 3. Fachlich-methodische Kompetenzen und 4. Sozial-kommunikative Kompetenzen.24 (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 67ff.) Kompetenzen sind stets an ein Subjekt gebunden und zielen auf situationsangemessenes Handeln ab. Die Lernenden bauen Kompetenzen auf, indem Sachwissen/Fachwissen in Erfahrungskontexten interpretiert und bewertet wird. Erst durch die Reflexion und die Vermittlung von Werten und Normen werden Kompetenzen aufgebaut. Kompetenzen umfassen stets Sach- und Wertewissen, sind aktivitätsbezogen und beinhalten eine sozial-kommunikative Dimension wie Kooperationsfähigkeit, Beziehungsmanagement oder Kommunikationsfähigkeit. Die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife verdeutlichen, dass sich beim Bloggen Kompetenzlernen als Identitätsarbeit vollzieht. Weblogs sind interaktive Medien. Durch das Feedback der LeserInnen auf Selbstdarstellungen kann die Bloggerin/der Blogger Selbst- und Fremdbild miteinander in Beziehung setzen und weiterentwickeln. Die BloggerInnen berichten im Interview davon, dass sie das Feedback meist als sehr positiv erleben. Wertschätzende Rückmeldungen wirken als Bestätigung der präsentierten Teil-Identitäten und festigen diese. Geäußerte Kritik innerhalb der Kommentare auf Blogeinträge sehen die interviewten BloggerInnen als Lernchance und als Möglichkeit, daran zu wachsen. Die Verunsicherung von Emotionen und Motivationen, wie sie anhand der Theorie von Erpenbeck und Sauter (2007) dargestellt worden ist, kommt bei erlebter Kritik zum Tragen und führt zur Kompetenzent-

24 Zu den Personalen Kompetenzen zählen zum Beispiel Eigenverantwortung und Normativ-ethische Einstellungen, zu den Aktivitätsbezogenen Kompetenzen zählen Mobilität und Ausführungsbereitschaft, zu den Fachlich-methodischen Kompetenzen Fachwissen oder auch Planungsverhalten und unter Sozialkommunikative Kompetenzen fassen Erpenbeck und Sauter beispielsweise Beziehungsmanagement und Kommunikationsfähigkeit. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 67ff.)

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wicklung. Durch den Aspekt der Öffentlichkeit sind sowohl die Selbstpräsentation als auch das darauf erhaltene Feedback von besonderer Relevanz für die BloggerInnen. Erinnern ist ein wichtiges Motiv, ein Weblog zu betreiben und steht in direktem Zusammenhang mit Identitätsarbeit. Die Veröffentlichung von Gedanken, Positionen und Erlebnissen dokumentiert die eigene Entwicklungsgeschichte. Frühere Beiträge und Meinungen können nachgelesen, wieder erinnert und mit gegenwärtigen Positionen abgeglichen werden, ein intensiver Reflexionsprozess findet statt. Für den 25jährigen Blogger Martin aus Kärnten ist sein Weblog eine Möglichkeit, sich an seine früheren Identitätsentwürfe zurückzuerinnern. In seiner Visualisierung (siehe Abbildung drei) zeichnet er auf die Frage „Mein Weblog ist für mich[…]“ Strichmännchen-Figuren, welche ihn zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Entwicklung repräsentieren. Im Interview erklärt Martin seine Zeichnung wie folgt: „Meine Strichmännchen-Figuren sollen so ein bisschen das sich Zurückerinnern darstellen, also der Blog ist eine Möglichkeit sich zurückzuerinnern, detaillierter.“ (Martin)

Abbildung 3: Identitätsentwürfe erinnern – Erlebnisse verknüpfen

Visualisierung (Martin, 25 Jahre)

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Identitätsarbeit bedeutet Erkennen durch Reflexion und erfordert eine Hinwendung zur Vergangenheit sowie die experimentelle Verknüpfung der Erfahrung in der Gegenwart und die Ausweitung in die imaginierte Zukunft. Nach John Dewey ist durch diese Verbindung der Zeitebenen, die als Reflexionsprozess aufgefasst werden kann, Lernen aus Erfahrung möglich. Er schreibt: „Durch Erfahrung lernen heißt das, was wir den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen. Bei dieser Sachlage aber wird das Erfahren zu einem Versuchen, zu einem Experiment mit der Welt zum Zwecke ihrer Erkennung.“ (Dewey 1994: 141)

Weblogs bieten die Chance, Erinnerungen multimedial festzuhalten. Bild wie auch Text können archiviert werden. Die Verschriftlichung von Gedanken und Gefühlen hält diese genauer fest, als wenn Menschen zur Dokumentation sich lediglich auf die eigene Gedächtnisleistung verlassen. Ein erneutes Durcharbeiten der zu einem bestimmten Zeitpunkt festgehaltenen Teil-Identitäten ist durch die Dokumentation im Weblog später möglich. Die durch das Nachlesen in Gang gesetzten Reflexionsprozesse fördern Identitätsarbeit. Die Autoren Erpenbeck und Sauter bestätigen die Bedeutung von Weblogs für Lernprozesse und Kompetenzerwerb. Sie stellen die Möglichkeiten der Reflexion durch das Bloggen in den Mittelpunkt ihrer Bewertung des Mediums und argumentieren wie folgt: Weblogs eignen sich dazu, eigene Erfahrungen aufzuarbeiten und anderen verständlich mitzuteilen. Die Archivfunktion, so die AutorInnen Erstad und Wertsch (2008), fördert beim Bloggen die Übernahme von Verantwortung für einmal publizierte Inhalte, was in Kapitel drei bereits ausgeführt worden ist. Beim Bloggen stehen Themen und Projekte im Vordergrund, gelernt wird daher oftmals kontextbezogen und implizit. Durch die persönliche Beteiligung im informellen Setting zeigt sich bei den BloggerInnen eine hohe Lernmotivation. Technische Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Medien und Softwareprogrammen erwerben die BloggerInnen durch Erfahrungslernen im Tun. Kompetenzen werden trainiert, indem BloggerInnen HostingAnbieter und Fakten recherchieren, Beiträge online stellen, diese ansprechend und übersichtlich gestalten sowie Fotos und Videos einbinden. Neben der Bedienung von Hard- und Software kommt das Bloggen insbesondere der Gestaltungskompetenz und der Ausdrucksfähigkeit zugute. Das

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Ringen der BloggerInnen um treffende Worte verweist auf ein bewusstes Sprachtraining. Da die Einträge öffentlich und auch für andere Personen geschrieben sind, legen die befragten BloggerInnen besonderen Wert auf korrekte Grammatik und Rechtschreibung. Mehrere BloggerInnen berichten darüber hinaus im Interview davon, ihr Weblog auf Englisch zu führen, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu trainieren. Die Autoren Erpenbeck und Sauter (2007) verweisen darauf, dass Weblogs als Lerntagebücher meist sorgfältiger formuliert werden, da im Kontext der Veröffentlichung die Anonymität aufgehoben ist. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 251) Dass Bloggen die Fähigkeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen fördert und somit zu einer verbesserten Kontrastbildung beiträgt, wird am Beispiel der kulturellen Unterschiede besonders deutlich. Durch das Erleben einer anderen Kultur reflektieren die Studierenden während des Auslandssemesters auch die eigene Landeskultur, in welcher sie aufgewachsen sind. Sie stellen Vergleiche zwischen den Kulturen an, prüfen Werte und bislang als selbstverständlich erachtete Routinen auf ihre persönliche Relevanz und kommen zu abschließenden Urteilen. Ein Großteil der interviewten BloggerInnen berichtet davon, dass sich das regelmäßige Verfassen der Blogeinträge positiv auf ihre Selbstdisziplin ausgewirkt hat. Die Struktur der Weblogs selbst (kurze tagebuchartige Einträge, interaktive Möglichkeiten und Öffentlichkeit) trage zu einem kontinuierlicheren Schreib- und Reflexionsprozess bei. Disziplin und Beharrlichkeit finden sich als Kompetenzen an der Schnittstelle von personalen, fachlichen und Handlungskompetenzen im „KompetenzAltlas“ von Erpenbeck und Heyes wieder. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 73) Identitätsarbeit, so konnte bereits mit John Dewey gezeigt werden, bezieht sich immer auch auf die Zukunft, wenn Utopien und Wünsche geäußert werden. Bei den interviewten BloggerInnen zeigen sich Zukunftsvisionen in Form von antizipierten Berufswünschen. Viele der im Rahmen von BlogLife befragten BloggerInnen haben einen besonderen Bezug zum Schreiben selbst. Journalistische wie auch literarische Zukunftsträume werden im Weblog vorweggenommen. Durch das Bloggen werden berufliche Wege vorbereitet und berufsrelevante Qualifikationen (Lehrfähigkeit, Sprachgewandtheit, Wissensorientierung, Beurteilungsvermögen) trainiert. Beim Bloggen wird Publizität eingeübt und trainiert. Mutig veröffentlichen die BloggerInnen eigene Positionen im Weblog und arbeiten an der Entwicklung der eigenen Meinung. Das Erfahren von Publizität wirkt sich positiv auf den Selbstwert der BloggerInnen aus. Für den 46-

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jährigen Blogger Werner kommt das Bloggen einem Leserbrief in einer Zeitung gleich. Der öffentliche Meinungsaustausch macht den Klagenfurter Blogger stolz: „Es ist insofern interessant, weil du als Privatperson auf einmal publizieren kannst. Das ist so, wie wenn du einen Leserbrief an die Zeitung schreibst und die drucken ihn dann tatsächlich ab. Das ist schon toll.“ (Werner)

Online zu sein bedeutet für den sich selbst als „Weltverbesserer“ bezeichnenden Blogger Werner, dass seine Meinung zu Politik und Gesellschaft weltweit Gehör finden kann. Er berichtet von seiner Vorstellung: „Ja, weil man, wie gesagt, als kleiner Einzelner so etwas jetzt weltweit publizieren kann.“ (Werner) Kompetenzen werden durch das Verfassen der Blogbeiträge nicht nur aktiv erworben, Kompetenzlernen kann durch das Weblog auch bei anderen initiiert werden. Ein wichtiges Motiv der befragten BloggerInnen für das Führen eines Weblogs während eines Auslandsaufenthalts ist die Möglichkeit, erworbenes Wissen zu teilen. Die BloggerInnen wollen, so geht aus den Interviews hervor, im Dickicht des World Wide Web nicht nur anonyme ‚Nehmer‘, sondern auch ‚Geber‘ sein. Der Blogger Matthias, 21 Jahre alt aus Graz, schlüpft von der Lerner-Rolle in die Rolle des Lehrers und zieht Selbstbewusstsein aus dem Umstand, dass er im Netz zum ‚Geber‘ wird, wie aus folgender Interviewpassage hervorgeht: „Da in der Zeit war ich […] der Geber […]. Wenn ich einmal eine gescheite Idee habe, dann blogge ich wieder.“ (Matthias) An der Weitergabe von Wissen über Blogeinträge zeigt sich ein Gegentrend zur Individualisierung und Entsolidarisierung zeitgenössischer Gesellschaften. Die befragten BloggerInnen zeigen im Teilen von Informationen und Erfahrungen Solidaridät und Mitsorge für Interessensgemeinschaften im Netz. In seinem Werk „Bowling alone“ aus dem Jahre 2000 hat Robert D. Putnam früh diesen Trend zu Interessensgemeinschaften im Netz aufgezeigt und seine Hoffnungen für die Stärkung sozialer Verbindung durch OnlineKommunikation formuliert. Putnam schreibt darin: „Social networks based on computer-mediated communication can be organized by shared interests rather than by shared space.“ (Putnam 2000: 172) Im Sinne von Jan Schmidt können Weblogs Räume des Informationsmanagements sein. Weblogs bieten einen Raum zum Ordnen von Gedanken, zum Vergleichen und zur Reflexion. So setzen sich beispielsweise die von mir interviewten

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BloggerInnen mit kulturellen Unterschieden auseinander und setzen ‚Neues‘ in Bezug zu ihren bisherigen Erfahrungen. Bloggen regt selbstgesteuerte Lernprozesse an, indem BloggerInnen Themen strukturieren, To-do-Listen führen, Positionen beziehen, Meinungen äußern und Vergleiche ziehen. Durch den Schreibprozess erfolgt eine verstehende Aneignung, Informationen werden durchgearbeitet und kontextualisiert. Für Konrad Paul Liessmann ist klar, ohne „Durcharbeitung und verstehende Aneignung bleiben die meisten Informationen […] äußerlich.“ (Liessmann 2006: 30). Durch die sorgsame und nachhaltige Beschäftigung mit Themen sind Weblogs mehr als reine Informationsspeicher. Sie sind Wissenstools. Im weiteren Sinne bezeichnet Wissen nicht nur Sachwissen, sondern auch die als Alltagswissen verfügbaren Handlungs- und Sachzusammenhänge eines Menschen. Dieser über Wissen als Sachinformation hinausgehende weite Wissensbegriff von Erpenbeck und Sauter (2007) schließt Regeln, Werte, Emotionen und Motivationen in die Wissensdefinition ein. Auf die soziale Eingebundenheit allen Wissens und sämtlicher Erfahrungen hat Kenneth J. Gergen in seinem Werk „Konstruierte Wirklichkeiten“ (2002) verwiesen. Im Sinne des Sozialen Konstruktionismus nach Gergen entstehen Realität und Bedeutung durch wiederholte Darstellungen (einer Gruppe) von Personen sowie durch aufeinander bezogene Interaktionen zwischen Menschen. (vgl. Gergen 2002: 60ff.) Weblogs als soziale Medien bieten einen Raum für (Selbst-)Darstellungen wie auch für computervermittelte Austauschprozesse, wodurch Wissen über sich selbst und die Welt konstruiert wird. Wissen im Sinne von Erpenbeck und Sauter ist identisch mit dem oben vorgestellten Kompetenzmanagement. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 12f.) Im Schreibprozess formen sich durch den initiierten Reflexionsprozess Gedanken und implizites Wissen kann bewusst gemacht werden. Nach Michael Polanyi wissen wir mehr, als wir zu sagen wissen. (vgl. Polanyi 1985: 14) Implizites Wissen kommt beim Bloggen in zweifacher Weise zum Tragen: Einerseits beinhaltet bereits die Fähigkeit, ein Weblog zu führen und online zu stellen implizites Wissen. Dieses praktische Wissen ist grundlegend notwendig dafür, dass während des Schreibens intellektuelles Wissen gebildet werden kann und praktische Fertigkeiten und Fähigkeiten weiter ausgebaut werden. Beim Bloggen wird Medienkompetenz, aufgefasst als eine Querschnittskompetenz, aufgebaut. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 253) Medienkompetenz ist eine Querschnittskompetenz, da sich in ihr

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personale Kompetenzen (z.B. Einsatzbereitschaft, Eigenverantwortung, Schöpferische Fähigkeit), sozial-kommunikative Kompetenzen (z.B. Kommunikationsfähigkeit, Dialogfähigkeit, Sprachgewandtheit), Handlungskompetenzen (z.B. Gestaltungswille, Initiative, Entscheidungsfähigkeit) und Fachkompetenzen (z.B. Computerkenntnisse)

sammeln.25

4.3 S CHLÜSSELKATEGORIE B EZIEHUNGEN GESTALTEN Das Motiv Beziehungspflege ist innerhalb des untersuchten Samples stark ausgeprägt. Gesteigerte Mobilität wirkt sich grundlegend auf soziale Beziehungen aus. Bei den befragten Studierenden zeigen sich Veränderungen auf der Beziehungsebene in zwei Richtungen: Einerseits fällt das vertraute soziale Umfeld von einem Tag auf den anderen weg. Die Studierenden hegen den Wunsch, die Verbindungen aus dem Ursprungsland während des Auslandssemesters aufrecht zu erhalten. Andererseits lernen sie während des Studienaufenthalts vor Ort neue Menschen aus verschiedensten Ländern kennen und wünschen sich Kontakt über diesen begrenzten Zeitraum hinausgehend. LeserInnen zu haben ist ein wichtiger Motor dafür, dass das Weblog aktualisiert und weitergeführt wird. Die Adresse des Weblogs wird aktiv persönlich oder per E-Mail und in Sozialen Netzwerken (SNS) wie zum Beispiel Facebook weitergegeben.26 Bei einigen BloggerInnen ist eine bewusste Selektion zu beobachten. Die Weitergabe der Weblogadresse und

25 Für weitere Kompetenzen siehe den „KompetenzAtlas“ von Erpenbeck und Heyse. (vgl. Erpenbeck/Sauter 2007: 73). 26 Wie bereits mit Verweis auf Jodi Dean (2010) ausgeführt worden ist, existieren Weblogs im Verbund und in Wechselwirkung mit anderen Medien. Intermediale Praktiken und Verlinkungen entstehen durch die Koexistenz verschiedener Medien. Die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife verdeutlichen, dass Weblogs im Verbund mit (Mobil-)Telefonen, E-Mail, Internettelefonie und Social Networking Sites genutzt werden.

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die Bekanntgabe des Pseudonyms sind Zeichen einer besonderen Wertschätzung sowie eines gegenseitigen Vertrauens und drücken aus, dass Beziehungen bestehen bleiben und intensiviert werden sollen. Für den Blogger Chris, 28 Jahre alt aus Klagenfurt, kommt die Weitergabe der Blogadresse einer Einladung nach Hause in die privaten vier Wände gleich, wie er im Interview erzählt: „[...] das ist halt so wie bei einer Adresse in der Innenstadt. Die kann theoretisch auch jeder rausfinden, aber wenn man eine Einladung schickt, dann heißt das halt, dass man jemanden dazu einlädt, das zu lesen und das ist ja auch eine Wertschätzung.“ (Chris)

Das Ergebnis der Studie BlogLife, wonach durch Bloggen primär starke Bindungen gepflegt werden sollen, stützt die Beobachtung von Clay Shirky, der konstatiert, dass für BloggerInnen vor allem die Aufmerksamkeit von Freunden und Familie wichtig seien, was bereits in Kapitel drei näher ausgeführt worden ist. Dass durch Online-Kommunikation primär bestehende Beziehungen gepflegt werden und sich das Zugehörigkeitsgefühl durch zusätzlichen Kontakt im virtuellen Raum verstärkt, bestätigen die bereits zitierten Studien von Wagner (2008), Lenhart und Madden (2005), Röll (2008a) und die Medienstudie im Kontext von Migration von Vincent (2010). Ein Großteil der BloggerInnen hat im Weblog ‚BesucherInnenzähler‘ implementiert und verfolgt die Anzahl der LeserInnen. Sie sind stolz darauf, dass ihr Weblog Interesse hervorruft und verfolgen die Zugriffsorte, um so StammleserInnen und unbekannte LeserInnen zu identifizieren. Geht die Zahl der Seitenaufrufe zurück, bemühen sie sich, rasch einen Eintrag online zu stellen, um wieder mehr Seitenzugriffe zu registrieren. Wie bereits in Kapitel eins gezeigt worden ist, sind Globalisierung und Mobilität heute keine individuellen Einzelphänomene mehr und charakterisieren wirtschaftliche und soziale Beziehungen maßgeblich. Forschungsergebnisse über den Zusammenhang von Mediennutzung und Beziehungspflege sind von großer Wichtigkeit, ist „Verbundenheit“ doch eine der „zentralen Botschaften der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien“ (Schachtner 2010a: 117). Welche Auswirkungen des Bloggens auf soziale Beziehungen zeigen sich nun im Detail?

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4.3.1 Bloggen im Spannungsverhältnis von Beziehungspflege und Intimitätsverlust Ein geplantes Auslandssemester während des Studiums geht bei den Studierenden mit gemischten Gefühlen einher. Sie berichten in den geführten Interviews einerseits von Neugier auf das Kommende und von der Freude, im Ausland neuartige Erfahrungen zu sammeln und neue Beziehungen zu knüpfen. Andererseits müssen die Studierenden dafür auch etwas zurücklassen: Sie vermissen Freunde und Familie, Trauer darüber mischt sich unter die Aufregung über den neuen Lebensabschnitt. Sie haben Angst, Aufgaben alleine nicht gewachsen zu sein, haben Furcht vor dem Ungewissen und fühlen sich oftmals einsam. Abbildung 4: Das Weblog als soziale Brücke

Visualisierung (Monika, 25 Jahre)

Für die 25-jährige Grazer Bloggerin Monika bedeutet Bloggen, dass eine Verbindung zwischen den Menschen in ihrer Heimat und ihr, unabhängig von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort, bestehen bleibt. In der oben dargestellten Visualisierung skizziert Monika, wie ihr Weblog selbst Ozeane überbrückt. Weltweite Beziehungsnetze entstehen, indem Inhalte im Weblog geteilt werden und Menschen über Kontinente hinweg einen gemeinsamen Kommunikationsort schaffen. Ein lebendiges Gefühl der Nähe und Unmittelbarkeit bildet sich heraus, worauf Monika im Interview wie folgt verweist: „Das war alles so lebendig, so, als wenn ich da wäre und meine

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Leute da anrufen würde, denen da was erzählen würde.“ (Monika) Durch das Weblog fühlen sich die BloggerInnen mit ihrem sozialen Umfeld verbunden. Sie können an mehreren Orten gleichzeitig sein. In ihrer Heimat durch die Verbundenheit mit Freunden und Verwandten sowie an ihrem neuen Lebensort durch das Schreiben und Reflektieren über eben diesen. Die 22-jährige Bloggerin Simone aus Graz visualisiert diese gefühlte räumliche Gleichzeitigkeit in ihrer Zeichnung durch zwei Flaggen. Abbildung 5: Weblogs – ein globales Kommunikationsmedium

Visualisierung (Simone, 22 Jahre)

Das Weblog wird genutzt, um aktiv Beziehungen zu pflegen. Freunde und Verwandte werden bewusst im Weblog genannt, da diese den BloggerInnen als LeserInnen des Blogs bekannt sind. Die Bloggerin Monika berichtet, dass sie zum Geburtstag eines Familienmitglieds eine Videobotschaft gepostet habe. Diese positive Beziehungsbotschaft wäre ohne das Weblog in dieser Form nicht möglich gewesen und es zeigt sich, dass durch das Bloggen bestehende Beziehungen über die räumlich Distanz hinweg gepflegt und, aus der Pespektive der BloggerInnen, gestärkt werden. Aber schon alleine der Umstand, dass Informationen geteilt werden, stärkt die Verbindungen. Freunde und Verwandte bleiben auf dem Laufenden und können an den Erfahrungen der Bloggerin/des Bloggers teilhaben. Diese gemeinsame Basis erleichtert anschließende Gespräche per Telefon oder E-Mail, da auf geteilte Informationen zurückgegriffen werden kann. Die befragten BloggerInnen der Studie BlogLife adressieren ihr Weblog primär an Perso-

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nen, zu welchen eine starke Bindungsintensität besteht. Mit Bezug auf die Ausführungen von Mark S. Granovetter in „The Strength of Weak Ties“ (1973) können diese Beziehungen als „strong ties“ charakterisiert werden. Aus Sicht der BloggerInnen intensivieren sich durch den Kontakt über das Weblog die aufrechten Beziehungen mit starken Bindungen. Diese subjektive Einschätzung der BloggerInnen wird an dieser Stelle mit Blick auf die Theorie des Soziologen Granovetter differenzierter diskutiert. In seiner strukturellen Analyse klassifiziert Mark S. Granovetter Beziehungen anhand der Bindungsintensität in starke und schwache Bindungen. Sind starke Bindungen auf der Mikroebene für das emotionale Wohlbefinden einer Person relevant, so fungieren schwache Bindungen als sozialer Kit zwischen gesellschaftlichen Gruppen und diese sind bei der Informationsverbreitung wichtig, da schwache Bindungen in der Gesellschaft eine Brückenfunktion übernehmen. Granovetter beschreibt die Relevanz schwacher Bindungen wie folgt: „What is important, rather, is that all bridges are weak ties.“ (Granovetter 1973: 1264) Er definiert die Stärke einer Bindung durch die Qualitäten Zeit, Emotion, Intimität und Reziprozität und führt aus: „The strenght of a tie is a [...] combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal services which characterize the tie.“ (Granovetter 1973: 1361) Im Folgenden wende ich das Konzept von Granovetter auf mein Forschungsfeld an, indem ich der Frage nachgehe, welche Attribute starke und schwache Bindungen beim Bloggen in vernetzten Öffentlichkeiten27 aufweisen. Im Vergleich zum zuvor gelebten Alltag verändert sich beim Bloggen im Kontext eines Auslandsaufenthalts die Pflege starker und schwacher Bindungen insbesondere in den Bereichen Zeit und Intimität. Die InterviewpartnerInnen berichten davon, dass sie für die Pflege einzelner starker Bindungen zu wenig Zeit haben und deshalb die ‚ressourcenschonende‘ Variante des Bloggens nutzen. Bloggen findet im Kontext des Auslandssemesters unter einem zweckrationalen Kosten-Nutzen-Kalkül statt. Die begrenzten Ressourcen Zeit und Geld beeinflussen die Medienwahl mit. Der 24-jährige Blogger Sebastian aus Graz erlebt Kommunikation mit dem Medium Weblog aufgrund der tendenziell weniger persönlichen Nachrichten als unpersönlich und defizitär. Für Sebastian, so geht aus dem Interview hervor, geht das Individuelle

27 Zum Konzept der „vernetzten Öffentlichkeiten“ nach Danah Boyd siehe Kapitel drei.

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und Persönliche verloren, er erklärt: „[...] weil es geht so viel Persönlichkeit verloren [...].“ (Sebastian) Der Blogger Sebastian zeigt einen sehr rationalen Zugang zu Blogs. Sein Weblog ist für ihn ein Werkzeug, um möglichst effizient viele seiner Freunde und Verwandten zu erreichen. Es dient den von ihm zuvor festgelegten Zwecken. Seinen zweckrationalen Zugang verdeutlicht Sebastian auf die Frage „Mein Weblog ist für mich […]“ in seiner Visualisierung, indem er ausschließlich einen Hammer auf das Papier bringt: Abbildung 6: Weblogs als Kommunikationswerkzeuge

Visualisierung (Sebastian, 24 Jahre)

Kommunikation und Beziehungspflege sollen einfach und effizient ohne große Mühen und Investitionen funktionieren. Mit einem Eintrag im Weblog wird auf die Forderung des sozialen Umfelds nach Information und Kommunikation reagiert. Die Blogeinträge stehen online zum anonymen und undifferenzierten Abruf bereit. Kommunikation wird zur Holschuld der LeserInnen. Ein veröffentlichter Beitrag richtet sich gleichzeitig an verschiedene Zielgruppen – BloggerInnen erreichen mit einer Nachricht zugleich starke wie auch schwache Bindungen. Aufgrund dieses Zusammenbrechens der vormals getrennten Kontexte („collapsed contexts“ nach Danah Boyd) im öffentlichen Medium Weblog nimmt die Intimität der Kommunikation mit Personen, zu denen starke Bindungen bestehen, ten-

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denziell ab, da die BloggerInnen eine Art der Selbstzensur praktizieren, um medienadäquat handeln zu können. Gegensätzlich verhält es sich bei anonym geführten Weblogs, die oftmals durch einen höheren Grad an Selbstoffenbarung gekennzeichnet sind. Hier ist eine große Intimität zwischen Personen mit schwachen Bindungen feststellbar.28 Es kann festgestellt werden, dass es beim Bloggen zu einer Verschiebung insbesondere bei der Dimension Intimität kommt. Die subjektive Einschätzung durch die BloggerInnen ist, so wurde zu Beginn des Abschnitts gezeigt, dieser kritischen Betrachtungsweise jedoch gegenläufig. Der Fokus der interviewten BloggerInnen auf starke Bindungen innerhalb der Schlüsselkategorie Beziehungen gestalten erklärt, warum das Weblog an Bedeutung verliert, sobald die BloggerInnen im Zielland wieder ein soziales Netz aufgebaut haben oder das soziale Umfeld zu Hause nach dem Auslandsaufenthalt wieder face-to-face erreicht werden kann. Ein weiterer Faktor für die Abnahme der Bedeutung des Weblogs im Verlauf des Auslandsaufenthalts ist die zunehmende Bewältigung des Lebensereignisses Auslandssemester. Bloggen wirkt sich nicht nur auf bereits bestehende Beziehungen aus. Neu kennengelernte Menschen werden in das Weblog aufgenommen, vorgestellt und die Verbindung bleibt auch nach dem Ende des Auslandssemesters durch das Weblog bestehen. Das Weblog erleichtert durch die Dokumentationsfunktion in den Blogarchiven das Erinnern dieser Menschen. Ein weltweites Beziehungsgeflecht entsteht, in welchem auch schwache Bindungen bestehen bleiben. Gerold, 25 Jahre alt aus Linz, stellt die länderübergreifende Verbindung zwischen Menschen durch die Internetnutzung ins Zentrum seiner Visualisierung.

28 Zum Zusammenhang von Anonymität und Selbstoffenbarung siehe Kapitel drei. Nach Spitznagel (1986) ist Katharsis ein zentrales Motiv für Selbstenhüllungen und Selbstenthüllungen sind notwendig für die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen. Der Selbstenthüllung in Weblogs bescheinigt eine Studie von Pennebaker und Chung (o.J.) einen positiven psychologischen Effekt, worauf bereits eingegangen wurde.

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Abbildung 7: Das Weblog als weltweites Beziehungsgeflecht

Visualisierung (Gerold, 25 Jahre)

Anhand des Interviews des Bloggers Gerold wird deutlich, dass durch dieses weltweite Beziehungsgeflecht interkulturelle Kompetenzen29 geschult werden. Gerold erzählt im Interview, dass er bei der Erstellung seiner Blogeinträge die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe seiner LeserInnen mitberücksichtigt. Das Medium Weblog ermöglicht durch die globale Kommunikationstechnologie das Erleben von Verbundenheit und stellt einen Übungsraum für den Umgang mit dem Fremden und mit Differenzen dar. Christina Schachtner sieht im Medium Internet die Möglichkeit zur Weltoffenheit umgesetzt, sie schreibt: „Das Netz-Medium ist eine kulturelle Schöpfung, die mehr als jedes Bewegungsmedium zuvor die Möglichkeit zur Weltoffenheit30 verkörpert. Es ist kein geschlossenes Netz wie ein Einkaufs- oder Fischernetz, es ist vielmehr ein Netz mit losen Enden, an die über kulturelle und geografische Grenzen hinweg angeknüpft werden kann.“ (Schachtner 2010a: 132)

29 Interkulturelle Kompetenz ist nach Erpenbeck und Sauter (2007) eine Querschnittskompetenz, da sich diese aus verschiedensten Kompetenzen zusammensetzt. 30 Zum Begriff der Weltoffenheit nach Christoph Wulf siehe Schachtner 2010a: 131f.

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4.3.2 Herausforderung Informationskontrolle Über das Weblog erreicht die Bloggerin/der Blogger mehrere Personen mit einem einzigen Eintrag. Da beim Bloggen nicht nach unterschiedlichen Zielgruppen differenziert wird, ist ein kompetenter Umgang mit Aspekten der Privatsphäre notwendig. Die Praktik Selbstzensur wurde bereits als Strategie der Informationskontrolle angeführt. Die BloggerInnen differenzieren beim Veröffentlichen nicht nach starken und schwachen Bindungen, was zu einem Kontrollverlust über personenbezogene Informationen führt. Zwar reflektieren BloggerInnen das Thema Privatsphäre und bemühen sich um einen vorsichtigen Umgang mit Öffentlichkeit, der praktische Umgang zeigt sich allerdings oftmals als schwierig. Während des Verfassens eines Eintrages haben die BloggerInnen bestimmte Personen, vermeintliche VielLeserInnen, als AdressatInnen im Hinterkopf. Jedoch können nicht alle LeserInnen antizipiert werden und einige der befragten BloggerInnen berichten von einem Gefühl der Überraschung darüber, wer Zugang zu den im Blog veröffentlichten Informationen hat. Über diese Schwierigkeiten bei der Differenzierung der LeserInnen und Irritationen, welche die Öffentlichkeit hervorruft, berichtet der 23-jährige Blogger Christoph aus Wien ausführlich in folgender Interviewpassage: „Ich hätte jetzt auch nicht damit gerechnet, dass mich jemand anschreibt und sagt: ‚Ich habe den Blog bei meinen Recherchen im Internet gefunden und möchte jetzt ein Interview machen!‘. Es gibt einfach in letzter Zeit mehrere Situationen, wo man sich dann denkt: ‚Oh! Der hat meinen Namen in Google eingegeben!‘. Bei mir ist es noch nie so gewesen, dass ich mir gedacht habe, das sollte der jetzt eigentlich nicht wissen. Aber es hat mich halt trotzdem verwundert, dass der das gewusst hat – auch wenn es nichts Schlimmes [...] war!“ (Christoph)

An diesem Beispiel ist deutlich zu sehen, wie bereits im Abschnitt über Öffentlichkeit herstellen herausgearbeitet worden ist, dass durch das Bloggen Reflexion in Gang gesetzt wird und Lernprozesse angestoßen werden. Ein Bewusstsein für Öffentlichkeit und für die Notwendigkeit des Schutzes der Privatsphäre entsteht.

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4.3.3 Beziehungspflege bei kritischen Lebensereignissen Fällt im Zuge des Auslandsaufenthalts anfänglich die Sicherheit gebende gewohnte Lebenswelt mit ihren vertrauten Routinen weg, kann das verunsichern. Auf das ansonsten vorhandende soziale Netzwerk können die Studierenden in der Ferne nicht wie gewohnt zurückgreifen und dieses bei Fragen und Problemen um Hilfe bitten. Die Angst, auf sich alleine gestellt zu sein, schildert die Interviewpartnerin Simone, 22 Jahre alt aus Graz, eindrücklich: „Es war alles neu und so. Am ersten Tag habe ich mir gedacht: ‚Um Gottes willen! Das pack’ ich nicht!‘. Komplett allein da und keine Ahnung, was auf mich zukommt.“ (Simone)

Bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen können stabile Beziehungen aus dem vertrauten Umfeld eine wichtige Rolle spielen. Da dies aufgrund der räumlichen Distanz während des Auslandssemesters nicht möglich ist, erfüllt das Weblog für die Befragten in dieser Anfangsphase eine wichtige Rolle im Copingprozess. Die erlebte Verbindung mit Freunden und Familie vermittelt Kontinuität in einer Zeit der Umbrüche. Der Umzug ins Ausland wird durch die Bloggerin/den Blogger weniger als ‚sozialer Schnitt‘ erlebt. Einsamkeit wird durch das Bloggen gemildert und die BloggerInnen erfahren Anteilnahme und Unterstützung durch vertraute Personen. Ein beruhigendes Gefühl stellt sich ein, wie dies der 28-jährige Blogger Chris aus Klagenfurt im Interview schildert: „Das ist ein beruhigendes Gefühl so ein bisschen. Das haben diese Blogs ja so an sich, [...] dass man hofft, dass es irgendwer lesen wird, oder dass irgendjemand auf einen schaut, aus der Ferne. [...] Das hilft vor Ort! Wenn es das auch nicht gäbe, dann ist man wirklich nur alleine [...].“ (Chris)

Auf der Ebene der Beziehungen ermöglichen Weblogs eine erlebte Verbindung mit geliebten Menschen. Medien sind, in den Worten von Brigitte Hipfl und Theo Hug, „cultural tools of connectivity“ (Hipfl/Hug 2006: 9). Das Weblog ist eine Brücke nach Hause und gibt – insbesondere bei kritischen Lebensereignissen wie Anfangssituationen während eines Auslandssemesters – die Sicherheit der Verbundenheit mit dem sozialen Netzwerk.

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Was Jane Vincent (2010) für Mobiltelefonie konstatiert hat, kann mit Blick auf die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife auf Weblogs übertragen werden: BloggerInnen und LeserInnen kreieren beim Bloggen im Sinne von Vincent einen gemeinsamen Raum der abwesenden Anwesenheit. Medien wie Weblogs ermöglichen durch ihre interaktiven Möglichkeiten die Ausbildung von Gemeinschaften. Insbesondere in posttraditionalen individualisierten Gesellschaften mit hoher räumlicher Mobilität sind OnlineCommunitys für die Einzelne/den Einzelnen bedeutsam, um Verbundenheit zu erleben. Über das Versprechen eines sicheren und warmen Platzes inmitten der Gemeinschaft bei alltäglichen Herausforderungen schreiben Hipfl und Hug: „In this respect, community is seen as the opposite of being all by yourself in your daily life struggle [...]. Community [...] promises us a safe, warm, and secure place, a place that is populated by people one can rely on.“ (Hipfl/Hug 2006: 11)

Abschließend kann festgehalten werden, dass Weblogs zur sozialen Inklusion beitragen und ein Symbol für soziales Kapital darstellen. Ergebnisse der Studie von Aida Bosch (2011) können hier auf das Forschungsfeld Weblogs übertragen werden. Die Soziologin Aida Bosch schreibt: „Kommunikationsmedien verbinden Menschen mit ihrer sozialen Umwelt und lassen Informationsströme fließen. […] Das Handy ist ein Symbol für soziales Kapital.“ (Bosch 2011: 366f.) Sozialkapital, so zeigen die AutorInnen Robert D. Putnam und Kristin A. Gross 2001, wirkt sich positiv auf das subjektive Wohlbefinden von Menschen aus. Insbesondere bei Lebensereignissen ist der Rückgriff auf Sozialkapital hilfreich. Putnam und Gross führen unter Verwendung des Krisenbegriffs wie folgt aus: „Die Grundidee des Sozialkapitals besteht darin, dass Familie, Freunde und Bekannte einer Person einen wichtigen Wert darstellen, auf den man in Krisensituationen zurückgreifen kan, den man um seiner selbst willen genießen und zum materiellen Vorteil nutzen kann.“ (Putnam/Gross 2001: 19)

Soziales Kapital ist nicht nur für Individuen relevant, es stellt ebenso eine wichtige Ressource für Gesellschaften dar, die auf Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit angewiesen sind. (vgl. Weidenfeld 2001: 11f.) Ein Großteil der für die Studie BlogLife interviewten BloggerInnen erlebt

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Bloggen als Intensivierung bestehender Beziehungen. Vereinzelt liefern die Interviews allerdings empirische Belege dafür, dass Bloggen einem zweckrationalen Kalkul folgt und eine Beziehungspflege face-to-face nicht ersetzen kann. Unter Rückgriff auf die Theorie von Mark S. Granovetter konnte gezeigt werden, dass die Intimität bei sozialen Beziehungen mit starker Bindungsintensität im Falle von nicht anonym geführten Weblogs abnimmt. Kommunikation zur Beziehungspflege wird beim Bloggen als Holschuld an die LeserInnen delegiert.

4.4 S CHLÜSSELKATEGORIE S CHREIBEN UND B EWÄLTIGEN Neben den Aspekten Öffentlichkeit herstellen und Beziehungen gestalten hat sich im Zuge der Interviewanalysen die Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen als zentrales Nutzungsmotiv von persönlichen OnlineTagebüchern herauskristallisiert. Schreiben steht in unmittelbarem Zusammenhang zur Bewältigung von kritischen Lebensereignissen. Zur Copingstrategie wird Schreiben durch seine Ventilfunktion (Abfuhr von Energie) und das Ermöglichen von Erzählen und Selbstoffenbarung. Darüber hinaus wird etwas Bleibendes geschaffen, wodurch Erinnern ermöglicht wird. Schreiben fördert Reflexionsprozesse, die in Zusammenhang mit Identitätsarbeit stehen. Die in der Analyse herausgearbeiteten Themen • • •

Erinnern, Reflektieren und Bewältigen

werden im Folgenden näher betrachtet und kontextualisiert, um Nutzungsmotive von BloggerInnen herauszuarbeiten. 4.4.1 Erinnern Im untersuchten Sample zeigt sich der Wunsch zu erinnern. Insbesondere in der Phase des Beginns des Auslandsaufenthalts erleben die Studierenden viel Neues. Vieles erscheint den InterviewpartnerInnen spannend und beängstigend zugleich. Sie erleben das Besondere, das Nicht-Alltägliche. Es

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können dies beängstigende Situationen des kulturellen Konflikts, der Unsicherheit in der Organisation des Alltags, aber auch das Kennenlernen von neuen Menschen sein. Dem Führen eines Weblogs kommt in diesen Anfangssituationen eine besondere Rolle zu. In den Blogeinträgen wollen die Studierenden das Neue festhalten. Durch den Schreibprozess ist eine Dokumentation der Erlebnisse wie auch der Gedanken darüber möglich. Die interviewten Studierenden erzählen vom Wunsch, Erlebnisse dauerhaft speichern zu können. Vergessen bewerten die Befragten als negativ. Bloggen ermöglicht durch die gespeicherten Einträge zu erinnern, wodurch etwas Bleibendes geschaffen wird. Bei der untersuchten Zielgruppe zeigen sich zwei gegensätzliche Tendenzen. Einerseits berichten die interviewten BloggerInnen davon, primär die positiven Erlebnisse und die damit einhergehenden Gefühle dokumentieren und erinnern zu wollen. Andererseits gibt es eine Gruppe von BloggerInnen, die ihr Weblog eigenen Angaben zufolge für selbstreflexive und mitunter auch selbstkritische Einträge verwendet.31 Der vorangehend zitierten Studie von Jan Schmidt (2006) zufolge ist für 61,7 Prozent der befragten BloggerInnen die Dokumentation eigener Ideen und Erlebnisse ein wichtiges Nutzungsmotiv für Weblogs. In Kapitel zwei wurde der Computer als Medium beschrieben, der – in Anlehnung an Marshall McLuhan – eine psychische wie auch physische Erweiterung des menschlichen Körpers und Geistes darstellt. Den Wunsch, etwas Bleibendes zu schaffen und dem Vergessen zu entrinnen, sieht Viktor MayerSchönberger kritisch, da durch die Dauerhaftigkeit gespeicherter Daten Weiterentwicklung und Entscheidungsprozesse in der Gegenwart erschwert werden können. (vgl. Mayer-Schönberger 2010: 22ff.) Die Untersuchung des Samples der Studie BlogLife zeigt jedoch ein anderes Bild. Die Weblogeinträge dienen den BloggerInnen als positive Quelle der Kraft und des Gefühlsmanagements und sind bei Einträgen zu kritischen Lebensereignissen Beispiele, wie mit Problemen, Konflikten und negativen Emotionen wie Unsicherheit oder Ärger umgegangen werden kann. Die BloggerInnen sehen sich selbst in ihren unterschiedlichen Identitätsentwürfen und schreiben an einer progressiven Entwicklungsgeschichte fort, eine narrative Praktik, die als Identitätsarbeit aufgefasst werden kann. Kommen wir zunächst zur ersten Gruppe von BloggerInnen, die vorwiegend positive Erlebnisse

31 Zum selbstreflexiven Umgang mit kritischen Lebensereignissen siehe das Kapitel 4.4.2.

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und Gefühle festhalten. Die befragten BloggerInnen erzählen das Besondere und halten die subjektiv empfunden Highlights fest, wie dies das Beispiel des 23-jährigen Bloggers Christoph verdeutlicht. Abbildung 8: Weblogs als Erinnerungsschatz

Visualisierung (Christoph, 23 Jahre)

Für den Blogger Christoph, 23 Jahre alt aus Wien, ist sein Weblog eine Schatztruhe mit positiven Erinnerungen. Gefühle und Erlebnisse mit geliebten Menschen sind für ihn im Weblog sicher verwahrt. Das Weblog bietet Christoph „einen sicheren Ort, wo die Information aufbewahrt wird und wo man eben das später dann auch wieder herausholen kann.“ (Christoph). Auch viele Jahre später, wenn das Gedächtnis Einzelheiten längst vergessen hat, soll Erinnern möglich sein. Bloggen ist für die 25-jährige Monika aus Graz das ideale Medium, um die Zeit auszutricksen. Sie sagt im Interview: „[…] aber ich hab dann ewig was davon […].“ (Monika) Gefühle sollen später wieder wachgerufen werden können und Freude soll sich beim Nachlesen einstellen. Zur Freude über die wieder hervorgerufenen positiven Erinnerungen beim Nachlesen stellt sich Stolz über das geschaffene Werk ein. Stolz entwickelt sich, so die Annahme, da im veröffentlichten Blogeintrag die Kompetenzen der Schreiberin/des Schreibers sichtbar werden. Wie das Beispiel der Bloggerin Monika illustriert, hegen viele der interviewten BloggerInnen den Wunsch, etwas Bleibendes zu schaffen. Mit großer Freude und Stolz sieht Monika dem Druck ihres als Album archivierten Weblogs entgegen: „Da freue ich mich schon. Gedruckt und gebunden.“ (Monika) Auch der 25-jährige Blogger Martin aus Kärnten drückt den Wunsch

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aus, mit dem Weblog etwas Bleibendes von sich selbst zu schaffen. In Bezug auf sein Weblog resümiert er im Interview: „[…] so ein eigenes Werk, das man da so geschaffen hat.“ (Martin) Das Positive in den Vordergrund zu rücken und zu erinnern kann bei kritischen Lebensereignissen zur Bewältigung beitragen. Es vermittelt Kontinuität und wird von den befragten BloggerInnen als eine ‚Kraftquelle‘ beschrieben. Durch die Dokumentation wird darüber hinaus ermöglicht, die eigene Entwicklung nachzuvollziehen. Die im Weblog geschilderten Erzählungen halten den BloggerInnen vor Augen, wie schwierige Situationen gelöst und durchgestanden worden sind. Inwiefern Probleme und Angst in den Weblogs thematisiert werden, wird in Kapitel 4.4.3 diskutiert, in welchem unter anderem Humor als Bewältigungsstrategie herausgearbeitet wird. 4.4.2 Reflektieren Schreiben dokumentiert nicht nur und ermöglicht Erinnern, es regt darüber hinaus Reflexionsprozesse an. Die Konfrontation der Studierenden im Auslandssemester mit einer anderen Kultur erfordert in verschiedenster Weise Reflexion. Eigene Werthaltungen und Alltagsroutinen werden durch Störungen der gewohnten Wahrnehmung herausgefordert, was zu einer Hinterfragung der eigenen Lebenswelt führt. Die Kultur des Ziellandes umfassend zu verstehen, ist für die Studierenden wichtig, um sich vor Ort neu orientieren zu können und sich im Alltag zurechtzufinden. Das Konzept ihrer Lebenswelt wird umgebaut und angepasst. Das Weblog-Format fördert Reflexion durch die stets gleichbleibende Struktur. Innerhalb der Blogosphäre haben sich Erwartungserwartungen herausgebildet, die den BloggerInnen beim Verfassen der Beiträge Orientierung bieten. Aus den geführten Interviews geht hervor, dass die kleinteilige Struktur von tagebuchähnlichen kürzeren und mittleren Einträgen die Hemmschwelle beim Publizieren senkt. Bloggen sehen die VerfasserInnen oftmals als Training für längere Texte, die sie in Zukunft schreiben wollen. Selbstobjektivierung und Perspektivenwechsel im Schreiben In den Interviews berichten die BloggerInnen davon, dass sie im Zuge des Schreibprozesses beim Verfassen der Einträge von der Protagonistin/vom Protagonisten ihrer/seiner eigenen Geschichte zusehends zur Betrachterin/zum Betrachter geworden sind. Durch die Narration findet ein Objekti-

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vierungsprozess statt. Für die 24-jährige Bloggerin Nanni aus Klagenfurt ist das Schreiben in ihrem anonym geführten Weblog eine Möglichkeit, sich selbst besser zu verstehen und von anderen differenzierter wahrgenommen zu werden. In ihren Augen bliebe viel ungesagt, wenn sie nicht bloggen würde. Schreiben ist für die Bloggerin Nanni ein Prozess der „Selbsttherapie“ (Nanni), in welchem sie sich über ihre Probleme Klarheit verschafft. Im Interview erzählt die 24-Jährige: „[…] und wenn man etwas in Worte fasst, dann lässt sich ein Problem schon viel eher greifen.“ (Nanni) Abbildung 9: Perspektivenaustausch und Selbstreflexion im Weblog

Visualisierung (Nanni, 24 Jahre)

Neben emotionaler Unterstützung erhält die Bloggerin Nanni für sie wichtiges Feedback in den Kommentaren zu ihren Einträgen. Das Feedback ist in Nannis Visualisierung durch Pfeile gekennzeichnet, die den gegenseitigen Austausch verdeutlichen. Die Perspektive der anderen verhilft ihr, so die Bloggerin im Interview, zu neuen Blickwinkeln und Betrachtungsweisen auf das geschilderte Problem. Ähnlich wie Nanni beschreibt die Bloggerin Tanja den Reflexionsprozess während des Bloggens. Die 21-jährige Studentin aus Klagenfurt verdeutlicht in ihrer Visualisierung, dass das Führen eines Weblogs ihr bei der Selbstreflexion hilft. Sie kann im Schreiben

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ihre Gedanken ordnen, Gefühle ausleben und aus sprichwörtlichen Fragezeichen werden Rufzeichen. Aus der Vogelperspektive heraus nimmt sich Tanja als Objekt war und distanziert sich im Schreiben von sich selbst. Über diese Objektivierung im Medium Weblog sagt Tanja im Interview: „Da verhilft einem der Blog, weil man liest das wie die Geschichte von einem anderen.“ (Tanja) Die 21-jährige Bloggerin kann durch die Erzählungen im Weblog ihre eigene Entwicklung nachverfolgen und bewusst ihre Identitätsentwürfe reflektieren. In die Mitte der Visualisierung hat Tanja ihren Laptop gezeichnet, der für sie Vermittler ihrer Positionen und somit ein Reflexionsmedium ist. Im unteren Bereich der Visualisierung hat Tanja zwei Vögel skizziert, ihr Symbol für einen Blick von oben auf sich selbst. Durch die Selbstobjektivierung während des Schreibens wie auch während des Nachlesens und Erinnerns kann sich Tanja immer wieder „neu verstehen“ (Tanja). Abbildung 10: Bloggen als Identitätsarbeit

Visualisierung (Tanja, 21 Jahre)

Das Beispiel der Bloggerin Tanja verdeutlicht, dass Bloggen Reflexionsprozesse fördert. Als Medium reizt das Weblog zu verstärktem Selbstausdruck. Teil-Identitäten werden online dargestellt, verhandelt und adaptiert. Während des Schreibens verändern sich Positionen sowie Identitätsentwürfe und Wissen wird generiert. Tanja beschreibt im Interview den fortlaufenden Selbstreflexionsprozess und erklärt ihre Visualisierung wie folgt:

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„Später ist das, ich habe da nur Fragezeichen gehabt im Kopf und am Laptop Rufzeichen.“ (Tanja) Die empirische Studie BlogLife verdeutlicht, dass Weblogs als hybrides Werkzeug einen Aufforderungscharakter besitzen und Lernanreize bieten. An die Ideen der Soziologin Sherry Turkle anschließend, skizziert Heidi Schelhowe Computer als evokatorische Objekte. In ihrem Buch „Technologie, Imagination und Lernen“ (2007) schreibt Schelhowe zum Aufforderungscharakter digitaler Medien wie folgt: „Digitale Medien besitzen das Potenzial, dass sie solche Explorationen und Neuentdeckungen durch ihren Aufforderungscharakter und durch die Interaktion mit ihnen evozieren.“ (Schelhowe 2007: 115) Bereits im Jahre 2001 verwies Karl H. Hörning in „Experten des Alltags“ auf die Rolle von digitalen Medien im Erkenntnisprozess. Er schreibt: „Die technischen Dinge haben einen ‚Aufforderungscharakter‘ […], sie werden zu einem ‚Agens‘, das unsere Projekte und Markierungen herausfordert oder unterläuft und uns so zu Kommunikation und Reflexion antreibt.“ (Hörning 2001: 14) Mit zahlreichen empirischen Belegen untermauert verweist Christina Schachtner in einem aktuellen Beitrag, „Digital media evoking. Interactive games in virtual space“ (2013), auf den evokativen Charakter von OnlineNetzwerken und Weblogs. Die Medienwissenschaftlerin führt aus: „Digital media are not voiceless; as discursive and presentational bearers of meaning, they evoke interaction games where online actors develop subjectivisation practices.“ (Schachtner 2013: 33) Subjektivierung findet sowohl über kommunikatives Handeln mit anderen, als auch im selbstreflexiven Dialog mit sich selbst statt. In der computervermittelten Kommunikation kann sich das Individuum gleichsam als Objekt erfahren und in der Interaktion sowie durch Selbstreflexion Identitätsarbeit leisten. Krotz führt dazu aus: „Erst darüber bildet sich das Ich als Teil von Kultur und Gesellschaft aus, das gleichzeitig sich selbst gegenübertreten und erleben kann [...].“ (Krotz 2007: 18) Schreiben fördert, so kann aus den zitierten Theorien und empirischen Studien geschlossen werden, Selbstklärungsprozesse. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Selbstreflexion im Schreibprozess durch folgende Praktiken stattfindet: • •

Schreiben macht Identitätsentwürfe sichtbar. Es wird ein Distanzierungsprozess angestoßen (Selbst-Objektivierung). Durch dialogische Anregungen von außen (Feedback) wird ein Perspektivenwechsel unterstützt.

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Die Dokumentation von Erlebnissen und Gefühlsbeschreibungen macht Identitätsentwürfe über die Zeit im Wandel nachvollziehbar.

Die Auseinandersetzung mit eigenen Positionen, Wünschen und Gefühlen kann als Identitätsarbeit beschrieben werden. Wissen über sich selbst wird beim Bloggen in Interaktion mit anderen aufgebaut, was eigene Identitätsentwürfe stärkt. Bloggen stellt sich als problemorientierte wie auch emotionale Copingstrategie bei kritischen Lebensereignissen, wie am Beispiel eines Auslandssemesters von Studierenden gezeigt worden ist, dar. Bedeutungen konstruieren Die durch den Schreibvorgang initiierten Reflexionsprozesse tragen zur Bedeutungskonstruktion bei. Im Abschnitt Öffentlichkeit herstellen wurde bereits ausgeführt, dass Bloggen eine Verknüpfungsleistung darstellt und durch die Publizität Wissen im Sinne eines Kompetenzerwerbs aufgebaut wird. An dieser Stelle gehe ich nochmals auf Sinnbildungsprozesse unter dem Fokus Reflektieren ein. Die AutorInnen Ruf und Weber führen, mit Perspektive auf Lernprozesse an Schulen und Universitäten, aus, dass „Erkenntnisprozess und Schreibprozess eng miteinander verbunden sind“ (Ruf/Weber 2006: 23). Schreiben bedeutet Lernen, denn „beim Schreiben [wird] Wissen nicht nur dargestellt und gespeichert, sondern auch generiert und erworben“ (Ruf/Weber 2006: 23). Ruf und Weber beschreiben den Lernprozess als einen schriftlichen Dialog, in welchem durch Perspektivenwechsel eigene Positionen erweitert werden können, indem fremde Sichtweisen kontrastierend einbezogen werden. (vgl. Ruf/Weber 2006: 21) Erfahrungen werden in einen Zusammenhang gestellt, bewertet und Orientierungswissen wird aufgebaut. Orientierung muss, so betont der Philosoph Oskar Negt, wesentliches Ziel kulturellen Lernens in einer von sozialen Umbrüchen geprägten Gegenwart sein. (vgl. Negt 1998: 22) Im Interview berichten die BloggerInnen davon, im Zuge des Auslandsaufenthalts über das Weblog To-do-Listen zu führen sowie Informationen über fremde Länder im Erzählen festzuhalten und zu teilen. Durch den Reflexionsprozess während des Schreibens werden die gesammelten Informationen kontextualisiert und Wissen wird aufgebaut. Der 25-jährige Blogger Stefan aus Graz erzählt im Interview, dass ihm das Bloggen zu einem besseren Verständnis des Gastlandes verholfen hat. Er berichtet wie folgt: „Im Nachhinein gesehen, hat mich das Schreiben dem Land näher gebracht

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[...].“ (Stefan) Durch die Reflexionsprozesse während des Schreibens ist für den Blogger ein intensives Eintauchen in die Kultur möglich gewesen. In seiner Visualisierung verdeutlicht der 25-Jährige, wie er mit dem Land geradezu verschmolzen ist, indem er sein Gesicht in die Flagge des Gastlandes zeichnet: Abbildung 11: Bloggen mit kosmopolitischem Blick

Visualisierung (Stefan, 25 Jahre)

Der Vergleich zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen als gegeben erlebter Lebenswelt und anderen kulturellen Gepflogenheiten, stellt eine intensive Auseinandersetzung mit eigenen Identitätsentwürfen dar. Leben in unserer globalisierten Gegenwartsgesellschaft ist für einen Großteil der Menschen de facto grenzüberschreitend. Globalisierung, so konnte in Kapitel zwei gezeigt werden, findet auf ökonomischer, kultureller wie auch sozialer Ebene statt. Soziale Beziehungen gehen durch Globalisierungsprozesse zunehmend über ortsgebundene Interaktionszusammenhänge hinaus, wie am Beispiel des Bloggers Stefan deutlich geworden ist, dessen Beziehungsgeflecht sich nicht nur auf seinen engeren räumlichen Umkreis bezieht, sondern – gefördert durch digitale Medien wie das Weblog – ein globales Kommunikationsnetz spannt. Ulrich Beck (2004) fordert aufgrund bestehender weltweiter politischer Öffentlichkeiten die Ausbildung neuer Wahrnehmungsmuster, für welche Beck den Begriff des kosmopolitischen

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Blicks geprägt hat. Kosmopolitisches und Nationales charakterisiert der Autor als ineinander verwoben. Die Anerkennung von Differenzen sowie kosmopolitische Empathie und ein praktizierter Perspektivenwechsel sind einige der Prinzipien des kosmopolitischen Blicks. (vgl. Beck 2004: 16) Identitätsentwürfe zeigen sich nach Beck als „Melange“ (Beck 2004: 16) beziehungsweise als transkulturale „Mischung“ (Welch 2001: 263), als Durchdringung national geprägter lokaler sowie kosmopolitischer Kulturen. Weblogs, so kann in Weiterführung der Ergebnisse einer Studie von Christina Schachtner32 formuliert werden, konstituieren transkulturale und transnationale Online-Öffentlichkeiten als vieldeutige Grenzzonen, in denen kulturelle Spielräume entstehen, innerhalb welcher Ansichten, Werte und Lebensstile neu kombiniert werden. (vgl. Schachtner 2012: 549) Digitale Medien, so die Autorin weiter, sind Motor transkulturaler Identitäten. Nach Christina Schachtner erweitern digitale Medien die Möglichkeiten für interkulturelle Begegnungen und für eine transkulturale Bildung, sie schreibt: „Im virtuellen Raum erweitern sich die Möglichkeiten interkultureller Begegnungen und Vielfalt, weil es ein offener Raum ist, der keine geografischen oder kulturellen Grenzen kennt, und damit auch die Möglichkeiten, Lebensformen und Identitäten aus verschiedenen kulturellen Fäden zu weben.“ (Schachtner 2012: 552f.)

Die Zunahme von Kommunikations- und MigrantInnenströmen („flows“ Hannerz 1997; Appadurai 2000; Schachtner 2009) in globalisierten Gesellschaften kann Menschen herausfordern und verunsichern. Ein Mehr an Reflexion ist von jeder Einzelnen/jedem Einzelnen notwendig, um mit den Herausforderungen der Globalisierung zurechtzukommen. Die Ambivalenz von Chancen und Risiken sowie die gemischten Gefühle, die mit Migration, Mobilität und Globalisierung einhergehen, beschreiben Brigitte Hipfl und Theo Hug wie folgt: „But their stories [stories of people located simultaneous in different cultural contexts] also demonstrate that there is an additional side to the one of multiplicity und

32 Zum

Forschungsprojekt

„Subjektkonstruktionen

und

digitale

Kultur“

(FWF/VW-Stiftung) siehe die Internetseiten www.skudi.net und www.skudi.org [15.7.2013].

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hybridity that is so often celebrated and praised on theoretical grounds. There is often pain and suffering involved in these inbetween and both/and positions, which at the same time also produce the sensibilities that can open up new possibilities of collective politics.“ (Hipfl/Hug 2006: 15)

Schreiben fördert auf kognitiver Ebene den Reflexionsprozess, da Gedanken durch die Bloggerin/den Blogger für LeserInnen nachvollziehbar dargestellt werden müssen. Es findet eine Strukturierung und Organisation von Wissen statt, die beim Bloggen dadurch verstärkt wird, dass Texte in narrativer Form veröffentlicht werden, wobei – anders als beim Sprechen – keine Unterbrechungen erfolgen. Die Psychologin Nicola Döring hebt in ihrem Beitrag „Blogs: jeder ein Publizist“ (2005) den strukturierenden Faktor von öffentlichem Schreiben hervor. Sie führt wie folgt aus: „Das Schreiben zwingt zu einer stärkeren Organisation der eigenen Ideen und erlaubt ein gründlicheres Nachdenken und sorgfältigeres Formulieren als das Sprechen, ohne Unterbrechungen des Gegenübers. Handelt es sich dann noch um öffentliches Schreiben wie im Blog, so steigen die Erwartungen an nachvollziehbare Argumentation und stimmige Erzählungen.“ (Döring 2005: 37)

Innerhalb pluraler Lebenswelten müssen sich Individuen der herausfordernden Aufgabe stellen, sich zu orientieren und zu positionieren. Für den 28 Jahre alten Blogger Chris aus Klagenfurt bedeutet Bloggen, sich in einer vieldeutigen Welt zu orientieren und seine eigene Weltsicht zu konstruieren, wie aus dem Interview und der Visualisierung hervorgehen.

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Abbildung 12: Sich im „Ozean der Bedeutungen“ orientieren

Visualisierung (Chris, 28 Jahre)

Im „Ozean der Bedeutungen“ (Chris) ist Bloggen eine Praktik der Sinngebung. Selbstausdruck, Kulturvergleiche und Meinungsaustausch mit anderen helfen, das eigene „Bedeutungsboot“ (Chris) zu steuern. Für den Blogger Chris sind die Orientierung und der Aufbau von Weltwissen existenzielle Aufgaben des Individuums, wie er im Interview verdeutlicht: „Wenn man es nicht schafft, sich irgendwie zu fassen, zu sammeln und mit seiner eigenen Bedeutungskutsche oder seinem eigenen Bedeutungsboot herumzutuckern, dann geht man unter.“ (Chris) Durch die Praktik des Schreibens kann in Weblogs nicht nur wirklichkeitsproduzierendes Wissen, sondern auch wirklichkeitstranszendierendes Wissen generiert werden. Christina Schachtner verwies auf die wirklichkeitstranszendierende Kraft von Online-Kommunikation mit Verweis auf empirische Ergebnisse der Studie „E-Network“ wie folgt: „Im wirklichkeitstranszendierenden Wissen dagegen dominiert die Tendenz zur Dekonstruktion und (Neu-) Konstruktion gesellschaftlicher Strukturen.“ (Schachtner 2009: 504) „Enttraditionalisierung“ (Giddens 1996) und „Individualisierung“ (Beck/ Beck-Gernsheim 1994) als Auflösung von starr vorgegebenen Wertund Moralvorstellungen, Normalbiografien sowie Institutionen wie Familie und Religion als Orientierungrahmen bringt Individuen mehr Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung sowie, und das zeigt sich deutlich auch in der Interviewpassage von Chris, das Risiko des Scheiterns. Schrei-

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ben initiiert Reflexionsprozesse, was zur Bedeutungskonstruktion beiträgt. Mit Wolfgang Kraus (2009) konnte bereits dargestellt werden, dass Identitätskonstruktion eine narrative Dimension aufweist. Erzählen stiftet Sinn und macht Erlebnisse intersubjektiv teilbar. Durch Erzählen stellen Individuen stimmige Zusammenhänge zwischen relevanten Lebensereignissen her und basteln an ihren Identitätskonstruktionen. Insbesondere bei kritischen Lebensereignissen wie einem Studierendenaustausch ist die Nutzung digitaler Medien ein Sicherheitsnetz, das die UserInnen auffängt. Ein Weblog kann, angelehnt an die Metaphern des Bloggers Chris, einen sicheren Hafen in unsicheren Gewässern darstellen. Susanne Ritter gelangt bei der Untersuchung der Internetnutzung von SchülerInnen während eines Auslandsaufenthalts zu dem Ergebnis, dass durch Online-Kommunikation sowohl eine „Absicherung der jeweiligen Lebenslage“, als auch eine „Bewältigung von Fremderfahrung“ (Ritter 2010: 126) erfolgt. Die Verknüpfungsleistung, die durch das Bloggen erfolgt, kann als Identitätsarbeit beschrieben werden. Durch öffentliches Erzählen verhandeln wir in Interaktion mit anderen, wer wir sind, wer wir sein möchten, welche Erlebnisse uns geprägt haben und wie wir denken und fühlen. BloggerInnen finden ihre Positionen in der Auseinandersetzung mit sich selbst unter Bezug auf ihre Lebenswelt. Bloggen leistet durch die mit dem Schreiben einhergehenden Reflexionsprozesse einen Beitrag zur Subjektivierung und kann im Sinne von Michel Foucault (1993) als „Technologie des Selbst“ aufgefasst werden, wie bereits ausgeführt worden ist. 4.4.3 Bewältigen Im Rahmen der Studie BlogLife berichteten die interviewten BloggerInnen von einem verstärkten Mitteilungsbedürfnis zu Beginn des Auslandsaufenthalts. Bei herausfordernden Erlebnissen und bei Konfrontation mit Neuem und Ungewohntem wollen sie ihre Emotionen teilen und hegen den Wunsch nach Selbstoffenbarung. Insbesondere die räumliche und damit eingehergehend die soziale Veränderung sowie die unsichere Anfangssituation führen dazu, dass das Weblog für die befragten Studierenden zunächst eine große Bedeutung hat. Im weiteren Verlauf des Auslandssemesters, so kann aus den Interviews geschlossen werden, nimmt die subjektiv empfundene Relevanz des Weblogs für die BloggerInnen wieder ab, wenn sie zu-

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nehmend sozial integriert sind und neues Orientierungswissen aufgebaut haben. Strukturierende Rituale Fallen alltägliche Routine durch eine Unterbrechung in der gewohnten Lebenswelt weg, so stellt das Weblog in Phasen des Übergangs ein strukturierendes Ritual dar, das den BloggerInnen ein Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit vermittelt. Die Bloggerin Monika, 25 Jahre alt aus Graz, berichtet davon, dass sie und ihr Partner während des Auslandssemesters stets mit einem Eintrag in ihr Weblog in den Tag gestartet sind. Egal, wo sie sich auf ihrer Reise gerade befanden, das Ritual war stets das Gleiche, wie sie im Interview erzählt: „Das war schon wie so ein richtiges Ritual, jeden Tag oder jeden zweiten Tag in der Früh, wenn wir ein Mietauto gehabt haben. Wir suchen uns einen McDonalds, damit wir einen Kaffee kriegen [...]. Setzt dich am Parkplatz hin, wir haben beide Laptops mitgehabt, Laptop auf, wir haben uns dann sogar mit einem Autoladekabel versorgt, damit wir Strom haben [beide lachen] und haben einfach in der Früh am Blog geschrieben und wenn es nur fünf Zeilen waren.“ (Monika)

Beim Erleben von Fremdheit empfinden die interviewten BloggerInnen das Ritual des Bloggens als unterstützend. Die stets gleichbleibende Struktur entlastet und vereinfacht den Tagesablauf. Die Situation ist definiert und muss nicht täglich aufs Neue gestaltet werden. Etwas Vertrautes ist für die BloggerInnen einfach über das World Wide Web erreichbar. Ventilfunktion Das Schreiben der Blogeinträge führt, so geht aus den Interviews deutlich hervor, zu einer psychischen Entlastung. Frust und Ärger bei negativen Erlebnissen oder Irritationen aufgrund kultureller Unterschiede schreiben sich die BloggerInnen in ihren Einträgen von der Seele. Eine Strategie im Umgang mit negativen Emotionen ist deren Verkehrung durch Humor. Neben dem ungefilterten Herauslassen der Gefühle in den Blogeinträgen zeigt sich, dass beängstigende Situationen im Akt des Erzählens in lustige Geschichten verwandelt werden. Die 23-jährige Bloggerin Julia aus Wien berichtet im Interview von einem beängstigenden Erlebnis während der Anreise mit dem Auto. In ihrer Visualisierung treten ebenfalls Gefühle der

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Unsicherheit und der Angst zutage: Streunende Hunde, Busse, die nicht nach Fahrplan kommen und andere kulturelle Gepflogenheiten, wie die aufreizende Kleidung der einheimischen jungen Frauen, irritieren Julia. Abbildung 13: Humorvolles Bloggen zur Bewältigung von Angst und Irritation

Visualisierung (Julia, 23 Jahre)

Für Julia ist Bloggen bei irritierenden Erlebnissen eine bewusste „Bewältigungsstrategie“ (Julia). Humor ist für sie der Schlüssel zur Verarbeitung. Im Interview erzählt die 23-Jährige: „Dann denkt man sich: ‚Und wenn ich jetzt heimgehe, ich brauche mich nicht ärgern, schreibe alles in den Blog! Es ist lustig!‘“ (Julia) Die Weblog-Studie von Zizi Papacharissi (2007), für die die Kommunikationswissenschaftlerin 260 Blogs inhaltsanalytisch untersucht hat, macht deutlich, dass Humor beim Verfassen von Weblogeinträgen einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Sie führt aus: „Most bloggers did employ humor in general (54.7%) and humorous blogs relied on sarcasm (42.7%), irony (32.5%), self-deprecation (39.2%), jokes (29.2%) [...].“ (Papacharissi 2007: 31) Für Viviane Serfaty, die US-amerikanische Online-Tagebücher untersucht hat, liegt eine Funktion des Humors in der Möglichkeit, schmerzvolle Emotionen ausleben zu können. (vgl. Serfaty 2004: 76) Beängstigendes wird durch Humor bearbeitet und verarbeitet, was bereits der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in „Literatur und Karneval“ (1990) zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargelegt hat. Im Lachen

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feiern wir den „Sieg über die Furcht“ (Bachtin 1990: 35) und das „Bedrohliche wird ins Komische verkehrt“ (Bachtin 1990: 36). Dass Witze als eine Form des Humors häufig versteckte oder verleugnete Wahrheiten enthalten, führte Sigmund Freud vor Augen. Freud schreibt pointiert: „Im Scherz darf man bekanntlich sogar die Wahrheit sagen.“ (Freud 1991: 141) Sich schreibend ‚abzureagieren‘ ermöglicht therapeutische Effekte durch die kathartische Wirkung des Schreibens. Weblogs helfen insbesondere introvertierten Menschen Emotionen auszuleben. Michael Snider (2003) zitiert in einem Artikel des Online-Mediums Macleans.ca den Blogger Dan Gudy, welcher sich dem Bloggen verschrieben hat, um sich Probleme von der Seele zu schreiben. Snider führt aus: „[...] the self-described introvert discovered that blogging opened a release valve. ‚I had to deal with some problems at the time and somehow needed to let it out.‘“ (Snider 2003, o.S.). Snider zeigt, wie Weblogs als therapeutisches Medium genutzt werden und resümiert über die Bloggerin Layne wie folgt: „It’s clear to see she uses her blog as an outlet, a place to dump her anxiety and frustration in a search for identity and understanding.“ (Snider 2003, o.S.) Die AutorInnen Helmut Koch und Nicola Keßler führen im Vorwort des zweiten Bandes zu „Schreiben und Lesen in psychischen Krisen“ (1998b) aus, dass Schreiben therapeutische Effekte hat. Im Folgenden zeigt sich, dass Schreiben nicht nur im psychotherapeutischen Kontext von Bedeutung ist, sondern ebenso bei kritischen Lebensereignissen eine alltagsrelevante Praktik zur Orientierung und Entlastung darstellt. Schreiben, so folgern die AutorInnen Koch und Keßler, besitzt eine expressiv-spontane und eine reflexive Kraft und trifft somit die Anforderungen an Bewältigungsstrategien, wie sie bereits dargelegt worden sind (problemorientierte und emotionale Bewältigung). (vgl. Koch/Keßler 1998a: 11) Bereits das in Redewendungen enthaltene Alltagswissen zeigt an, dass ein Zusammenhang zwischen Schreiben und Bewältigungsstrategien besteht. Die Redewendung ‚sich etwas von der Seele schreiben‘ verweist auf positive Effekte des Schreibens auf die mentale Gesundheit. Studien seit den 1940er Jahren verweisen darauf, dass das Aussprechen unangenehmer Gedanken Angst und Furcht verringert. (vgl. Spitznagel 1986: 32) Wissenschaftlich bestätigen klinische Studien die positive Wirkung des Schreibens über emotionale Erlebnisse. Pennebaker und Chung fassen zusammen:

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„Across multiple studies in laboratories around the world, writing or talking about emotional experiences relative to writing about superficial control topics has been found to be associated with significant drops in physician visits from before to after writing among relatively healthy samples.“ (Pennebaker/Chung o.J.: 6)

Im Kontext der Studie BlogLife lassen jene Ergebnisse der Untersuchung von Pennebaker und Chung besonders aufmerken, die belegen, dass Schreiben als Bewältigungsstrategie bei einer medizinisch unauffälligen Gruppe, im Gegensatz zur untersuchten Vergleichsgruppe psychiatrisch behandelter Menschen, die signifikantesten Resultate erzielt. Positive Auswirkungen des Schreibens zeigen medizinische Parameter des Immun- und Zentralnervensystems und niedrigere Blutdruckwerte noch Monate nach den Versuchen. (vgl. Pennebaker/Chung o.J.: 5f.) Emotionen in Sprache zu fassen, wirkt auf das Erleben der Emotionen zurück. Pennebaker und Chung zeigen, dass Emotionen und Erlebnisse im sprachlichen Ausdruck konstruiert werden. Sie führen aus: „Research has shown that verbally labeling an emotion may itself influence the emotional experience.“ (Pennebaker/Chung o.J.: 16) Durch die Transformation in Sprache werden Erlebnisse konzeptualisiert und strukturiert. Sie erhalten, so die AutorInnen weiter, durch den Ausdruck Kohärenz und Sinn: „Once an experience is translated into language, however, it can be processed in a conceptual manner. In language format, the individual can assign meaning, coherence, and structure.“ (Pennebaker/Chung o.J.: 17) Selbstoffenbarung und Anonymität InterviewpartnerInnen, deren Interviews der Schlüsselkategorie Schreiben und Bewältigen zugeordnet worden sind, berichten davon, dass die Anonymität des Weblogs ihnen die Selbstoffenbarung und das Äußern ihrer wahren Gefühle erleichtert. Offline spüren sie oft Scham und Hemmungen, sich offen zu äußern. Online können sie anonym ihren Gefühlen und Sehnsüchten freien Lauf lassen, wie dies exemplarisch die 24-jährige Bloggerin Nanni aus Klagenfurt im Interview bestätigt: „Probleme, die ich mit niemandem sonst teilen würde und dann doch mit jemandem teilen kann.“ (Nanni) Auch Tanja, 21 Jahre alt aus Klagenfurt, berichtet von den positiven Auswirkungen der Anonymität auf ihre Bereitschaft zur Selbstoffenbarung: „[...] in meinem Blog kann ich meinen Sehnsüchten freien Lauf lassen. [...] Meine Freunde würden das nicht verstehen, aber im Blog kann ich

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schließlich alles schreiben.“ (Tanja) Selbstoffenbarung („self-disclosure“) ist den AutorInnen Qian und Scott (2007) zufolge ein häufiges Phänomen in Weblogs. Der Nutzen entstehe für die BloggerInnen durch a) ein besseres Verständnis für die eigene Identität, b) Bestätigung der eigenen Grundsätze, c) soziale Interaktionen und d) die Möglichkeit zur Beeinflussung der Meinungen anderer. (vgl. Qian/Scott 2007: 4) Das Ausmaß der Selbstoffenbarung steht der Studie von Qian und Scott zufolge in Zusammenhang mit dem gewählten Grad an Anonymität. Sie schreiben: „[...] the more identification information given on one’s blog, the less self-disclosive people seem to be.“ (Qian/Scott 2007: 8) Emotionen teilen Feedback auf die mitgeteilten Emotionen zu bekommen, ist den interviewten BloggerInnen wichtig. Rückmeldungen bauen sie bei Schwierigkeiten auf und sie fühlen sich wahrgenommen und verstanden. Die Anteilnahme und Unterstützung der LeserInnen hilft den BloggerInnen bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen. Durch das Mitteilen von Gefühlen bleibt die Kommunikation mit dem sozialen Umfeld zu Hause aufrecht. Die Verbindung zum sozialen Umfeld zu spüren ist insbesondere bei kritischen Lebensereignissen relevant. Die 25-jährige Bloggerin Monika erzählt im Interview von mehrfachen Tornadowarnungen während ihres Auslandssemesters: „Wir haben auch zweimal dort eine Tornadowarnung gehabt. Wir haben free wifi auf der Uni gehabt. Das heißt, auch wenn wir dort im Bunker unten gesessen sind, haben wir das ganz geschwind auch in den Blog reingeschrieben. Wir sitzen dort unten, es geht uns gut und fertig.“ (Monika)

Das Beispiel der Bloggerin Monika zeigt ambivalente Auswirkungen des Bloggens. Einerseits wirkt Bloggen für sie bei kritischen Lebensereignissen wie einer Tornadowarnung entlastend. Auf der anderen Seite berichtet Monika davon, dass Bloggen durch die häufigen Aktualisierungen Stress verursacht hat. Schon nach zwei Tagen ohne neuen Blogeintrag habe sich Monikas Mutter Sorgen gemacht, weshalb Monika sich um eine laufende Aktualisierung bemühte. Mit Blick auf das gesamte Sample ist eine deutliche Tendenz zu positiven Auswirkungen festzuhalten und Bloggen stellt eine bewusst wie auch unbewusst genutzte Bewältigungsstrategie bei kritischen

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Lebensereignissen dar. Weitere Studien geben Aufschluss im Hinblick auf Bewältigungsprozesse während des Bloggens. In einer linguistischen Studie haben die Autoren Cohn, Mehl und Pennebaker (2004) gezeigt, wie USamerikanische BloggerInnen die Terroranschläge vom 11. September 2001 in Weblogs verarbeitet haben. 1.084 Online-Tagebücher wurden zwei Monate lang vor und nach den Anschlägen untersucht. Die Analyse zeigt, dass die BloggerInnen in der Zeit nach den Anschlägen mehr negative Gefühle artikulieren, kognitive und soziale Indikatoren steigen an. (vgl. Cohn/ Mehl/Pennebaker 2004: 687) Eine linguistische Studie von sogenannten Diätblogs33 zeigt, dass das Bloggen von negativen Emotionen in einem direkten Zusammenhang zur Erreichung eines gesetzten persönlichen Zieles steht: „These results seem to suggest that sharing negative emotions is a more successful strategy in blogging about weight loss than simply keeping a food intake diary.“ (Chung/Jones/Liu/Pennebaker 2008: 181) Die bereits mehrfach herangezogene Studie von Schmidt (2006) bestätigt die Relevanz der Ventil- beziehungsweise Katharsisfunktion. Mit 44,5 Prozent gab fast die Hälfte der BloggerInnen an, das Weblog zu nutzen, um sich Gefühle von der Seele zu schreiben. (vgl. Schmidt 2006: 43)

4.5 Z USAMMENFASSUNG : B LOGGEN ALS C OPINGSTRATEGIE KRITISCHEN L EBENSEREIGNISSEN

BEI

Im Rahmen der empirischen Studie BlogLife wurden 17 qualitative Leitfadeninterviews mit Studierenden aus Österreich durchgeführt, die während ihres Studierendenaustauschs im Ausland ein Weblog geführt hatten. Ergänzend wurde die Methode der Visualisierung eingesetzt, bei welcher die Studierenden eine Antwort auf die Frage „Mein Weblog ist für mich [...]“ zeichneten. Unter Rückgriff auf das Konzept der „Kritische Lebensereignisse“ nach Barbara Snell Dohrenwend und Bruce P. Dohrenwend (1974) konnte zunächst gezeigt werden, dass Menschen während ihrer natürlichen Lebensphasen immer wieder Situationen ausgesetzt sind, die Stress verursachen und Bewältigungsanstrengungen notwendig machen. Der Studie33 Die zitierte Studie analysierte 258 Blogs der Website http://www.dietdiaries.com/. Letzter Zugriff am 4.5.2011.

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rendenaustausch wurde mit Blick auf die empirischen Daten als teils vorhergesehenes und teils unvorhergesehenes kritisches Lebensereignis beschrieben, das die Studierenden zur emotionalen wie auch zur problemorientierten Bewältigung herausfordert. Während der ersten Phase des Umbruchs zeigt sich ein erhöhter Reflexionsbedarf unter den Studierenden, um das Neue zu verarbeiten und dieses mit der gewohnten Lebenswelt in Beziehung zu setzen. Das Neue als Störung der Wirklichkeitskonstruktion verursacht bei den befragten Studierenden oftmals Irritationen und Ängste. Bloggen, so zeigt die Studie BlogLife, ist in der Situation des Auslandssemesters eine emotionale und problemorientierte Copingstrategie. Ängste können darin (mit-)geteilt und Reflexionsprozesse im Rahmen der Identitätsarbeit angeregt werden. Die drei aus den Interviews und Visualisierungen hervorgehenden Schlüsselkategorien sind Öffentlichkeit herstellen, Beziehungen gestalten sowie Schreiben und Bewältigen. Folgende Grafik veranschaulicht die empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife und fasst die relevanten Inhalte als Überschriften zusammen: Abbildung 14: Bloggen bei kritischen Lebensereignissen

Schlüsselkategorien der Studie BlogLife (eigene Darstellung)

Die Analyse zeigt, dass die zunächst separat untersuchten Kategorien in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen und als Phänomene nicht isoliert auftreten. Vielmehr kennzeichnet sich die Weblognutzung bei kritischen Lebensereignissen durch die Verflechtung der drei oben genannten Kernkategorien. Der hybride Charakter von Weblogs ist als technischer

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Rahmen mitunter verantwortlich für die mehrdimensionale Funktionalität (sozialpolitische Funktion durch Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs; soziale Funktion durch die Beziehungspflege online; psychologische Funktion durch Bloggen als identitätsrelevante Praktik und Copingstrategie bei Lebensereignissen) des Bloggens. Bloggen kommt dem menschlichen Bedürfnis nach Anerkennung entgegen. Das Weblog als „Ausstellungsraum“ (Katharina) bietet Gelegenheiten zum dialogischen Austausch und somit zur Identitätsarbeit. Die interviewten BloggerInnen wollen im Netz als kompetent und interessant wahrgenommen werden. Bloggen schafft innerhalb von Gemeinschaften einen gemeinsamen Bezugsrahmen für Anschlusskommunikation sowohl online als auch offline. In den Einträgen versichern sich die BloggerInnen ihrer Existenz. Neben den Interaktionen mit anderen (dialogische Anerkennung) finden auch reflexive Anerkennungsprozesse im Sinne von Jessica Benjamin (1991) statt, bei welchen Menschen ihre Existenz in unbelebten Dingen spiegeln. Erzählt wird in den Weblogs, so berichten die BloggerInnen im Interview, primär das Besondere. Die Highlights und neue Aspekte, die in den Anfangssituationen vielfach erlebt werden, werden in den Erzählungen im Netz sinnvoll miteinander verknüpft und präsentiert, wodurch Identitätsarbeit geleistet wird. Aus dem Quervergleich innerhalb der Schlüsselkategorie Öffentlichkeit herstellen geht hervor, dass Bloggen Medienkompetenz fördert. Die BloggerInnen bauen Erfahrungswissen und Handlungsstrategien durch die Reflexion des Medienhandelns auf. Durch Perturbationen und Lernen aus Fehlern entwickeln die BloggerInnen einen kompetenten Umgang mit dem Medium Weblog und mit Fragen des Umgangs mit der eigenen Privatsphäre sowie mit personenbezogenen Daten anderer. Die Anonymisierung von Namen, ein sorgsamer Umgang mit Fotos sowie die Selbstzensur im Hinblick auf das Erzählen von Intimem (Sexualität, Berufliches, Ängste) zählen zu den von den BloggerInnen praktizierten Strategien für einen adäquaten Umgang mit Öffentlichkeit. Tendenziell spielt die Anonymisierung im untersuchten Sample jedoch nur eine geringe Rolle. Das Weblog eröffnet einen Raum zum Reflektieren, Erinnern und Imaginieren. Entwürfe von Teil-Identitäten werden im Weblog zu einem bestimmten Zeitpunkt festgehalten und dokumentiert. Durch das Verfassen von Selbsterzählungen wie auch durch das spätere Nachlesen, was Erinnern ermöglicht, wird durch die BloggerInnen Identitätsarbeit geleistet. Das Erleben der Öffentlichkeit und das Erfahren von Feedback in den Kommentaren wirkt sich positiv auf den Selbstwert

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der befragten BloggerInnen aus. Bloggen als identitätsrelevante Praktik findet an der Schnittstelle zwischen intrapersonaler und interpersonaler Kommunikation statt und ist stets beides: Eine nach innen gerichtete reflexive Kommunikation und ein (teil-)öffentlicher Dialog mit den – realen wie auch imaginierten – LeserInnen. Beide Aspekte dürfen in der Analyse und Bewertung von Weblogs nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Innerhalb der Schlüsselkategorie Beziehungen gestalten zeichnet sich ab, dass die befragten BloggerInnen während des Auslandssemesters das Weblog als eine Art „Brücke“ (Monika) zu ihrem sozialen Umfeld betrachten. Die Verbindung mit dem sozialen Netzwerk zu Hause über das Weblog wird von den Befragten beim Lebensereignis Auslandssemester als unterstützend erlebt. Die BloggerInnen erzählen von einem lebendigen Gefühl der Nähe und Unmittelbarkeit durch die Blogkommunikation sowie durch die Anschlusskommunikation, die durch die Blogeinträge ermöglicht wird. Aus den Interviews geht hervor, dass in den Einträgen gezielt bestehende Beziehungen mit starker Bindungsqualität, „strong ties“ nach Granovetter (1973), gepflegt, und aus der Perspektive der BloggerInnen, intensiviert werden. Durch die Mitteilungen und das Teilen von Erlebnissen wird Anschlusskommunikation über große räumliche Distanzen hinweg erleichtert. Bei kritischen Lebensereignissen vermittelt die erlebte Verbindung mit Freunden und Familie Kontinuität und Sicherheit. Weblogs sind auf der einen Seite eine Ressource, um soziales Kapital zu generieren. Auf der anderen Seite macht eine vertiefende Diskussion der empirischen Ergebnisse der Studie BlogLife deutlich, dass Bloggen vielfach einem rationalen KostenNutzen-Kalkül folgt und Beziehungen durch das Weblog „ressourcenschonend“ gepflegt werden sollen. Blicken wir auf die Dimensionen Zeit und Intimität, so zeigen sich Veränderungen in der Beziehungsqualität. Innerhalb von nicht anonym geführten Weblogs nehmen Intimität und Zeit in der Kommunikation mit Menschen, zu denen starke Bindungen bestehen, tendenziell ab. Bei anonym geführten Weblogs berichten die BloggerInnen im Gegensatz zu nicht anonym geführten Weblogs in der Tendenz von einem höheren Grad an Selbstoffenbarung, wodurch es zu einer stärkeren Intimität zwischen Menschen mit schwachen Bindungen kommt, als dies beispielsweise face-to-face der Fall wäre. Schreiben und Bewältigen ist die dritte Schlüsselkategorie, die im Rahmen der Studie BlogLife erhoben worden ist. Zur Copingstratgie wird Bloggen bei kritischen Lebensereignissen insbesondere durch das Schreiben selbst, das zur Abfuhr von Energie führt (Ven-

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tilfunktion). Der Schreibvorgang fördert darüber hinaus die Selbstreflexion und trägt zu einem Durcharbeiten von Informationen bei, wodurch Wissen entsteht und Kompetenzen aufgebaut werden. Zwei (zumal sehr gegensätzliche) Praktiken sind beim untersuchten Sample bedeutsam: Erinnern und Reflektieren. Während eine Gruppe von BloggerInnen primär die positiven Erlebnisse für sich festhalten möchte, um etwas Bleibendes zu schaffen, auf das sie mit Stolz blicken und das sie bei kritischen Lebensereignissen als Kraftquelle für sich nutzen können, zeigt eine weitere Gruppe von BloggerInnen einen selbstkritischen und reflexiven Umgang mit sich selbst beim Bloggen. Im Prozess des Schreibens findet eine Selbstobjektivierung statt und der Reflexionsprozess und Austausch mit anderen fördert einen Perspektivenwechsel. Bloggen wird durch das Ordnen von Gedanken und das Ausdrücken von Gefühlen zur „Selbsttherapie“ (Nanni) im Rahmen der Identitätsarbeit. Selbstreflexion wird beim Bloggen gefördert 1. durch die Selbst-Objektivierung während des Schreibens, 2. durch das Feedback von anderen und 3. durch die Möglichkeit, sich beim Nachlesen früherer Einträge zu erinnern und die damaligen Positionen mit den heutigen zu vergleichen. Die BloggerInnen berichten im Interview vielfach von einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Eigenem und Fremden, einer Reflexion kultureller und lebensweltlicher Gepflogenheiten. Bloggen ist eine Praktik der Sinngebung, die zur Orientierung im „Ozean der Bedeutungen“ (Chris) beiträgt. Mit Verweis auf Ulrich Beck (2004) konnte gezeigt werden, dass sich beim Bloggen ein „kosmopolitischer Blick“ herausbildet und interkulturelle Kompetenzen geschult werden. Unter Verweis auf Wolfgang Welsch (2001) ist in Bezug auf den Begriff ‚interkulturelle Kompetenzen‘ anzumerken, dass Kultursysteme nie als homogene und völlig voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden können, da stets von Prozessen wechselseitiger Durchdringung ausgegangen werden muss. Nach Welsch sind Gesellschaften aufgrund dieser Wechselwirkungen grundlegend transkultural. (vgl. Welsch 2001: 260f.) Sprechen wir von interkulturellen Kompetenzen, müssen wir gleichzeitig im Blick haben, dass diesen Ansätzen oftmals problematische Begriffe von Kultur(en) als abgrenzbare Bereiche zugrunde liegen. Dieser Aspekt kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur angerissen und nicht umfassender diskutiert werden. Bei kritischen Lebensereignissen, so geht aus den geführten Interviews hervor, bietet Bloggen eine verlässliche Struktur und dient als beruhigendes Ritual. Frust und Ärger schreiben sich die BloggerInnen in ihren Einträgen von der Seele, wobei

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aus den Interviews und Visualisierungen hervorgeht, dass Humor eine bedeutsame Strategie im Umgang mit Furcht und Unsicherheit darstellt. Bloggen hat eine expressiv-spontante Kraft, das Teilen von Emotionen trägt zu deren Bewältigung bei. BloggerInnen, die ein anonym geführtes Weblog betreiben, berichten von einem höheren Grad an Selbstoffenbarung. Bloggen, so das Resümee, ist eine ressourcenfördernde Handlungsstrategie bei kritischen Lebensereignissen und zeichnet sich durch die aktive gestalterische Bewältigung auf kognitiver wie emotionaler Ebene aus.

5. Fazit und Ausblick Identität, so konnte im Anschluss an Heiner Keupp im Verlauf der vorliegende Arbeit gezeigt werden, ist ein subjektiver Konstruktionsprozess der Sinnstiftung und eine lebenslange Herausforderung für Indiviuden. Digitale Medien wie das World Wide Web und Social-Media-Angebote, worunter auch Weblogs aufzufassen sind, spielen bei der Identitätsarbeit heute eine immer größere Rolle, indem sie online neue Erfahrungsräume für Kommunikation und Selbstdarstellung eröffnen. Weblogs sind eine multimediale Bühne für die Darstellung von Selbstentwürfen, welche im Prozess der „reflexiven Anerkennung“ wie auch der „dialogischen Anerkennung“ (Benjamin 1991) durch die Selbstthematisierungen und das Feedback von anderen entstehen. Mit Blick auf die Theorie von George Herbert Mead kann auch für die Selbstdarstellungen online gezeigt werden, dass es bei der Kommunikation online zu einem Prozess der Selbstobjektivierung kommt, wobei die NutzerInnen zu sich selbst die Position eines „verallgemeinerten Anderen“ (Mead 1968) einnehmen und somit Identitätsarbeit leisten. Erzählerisch weisen Individuen – auch in der Interaktion mit anderen NutzerInnen – Erlebnissen eine Bedeutung zu und bringen Erfahrungen in eine ‚sinnvolle‘ Ordnung. Das Verfassen von Weblogeinträgen kann, haben wir die narrative Konstruktion von Identitätsentwürfen im Blick, als eine „Technologie des Selbst“ im Sinne von Michel Foucault (1993) bezeichnet werden, der unter anderem das Schreiben von Tagebucheinträgen als eine Praktik der Selbstthematisierung benennt. Die vorliegende Arbeit nutzte anstelle des Ansatzes von Michel Foucault im Hinblick auf den Aspekt der Identitätskonstruktion die theoretischen Erkenntnisse von Heiner Keupp, da es sich dabei um eine weiter ausdifferenzierte Theorie handelt, an die vielfach angeschlossen werden konnte. Die Ausführungen von Michel Foucault zum Schreiben als eine Technologie des Selbst im Kontext von Subjektivierungspraktiken sind im Gegensatz zur Identitätstheorie von Keupp nicht

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umfassend ausgearbeitet und bleiben somit ein zwar viel zitiertes, aber wenig anschlussfähiges Schlagwort. Kommunikation in „vernetzten Öffentlichkeiten“ (Boyd 2010) wie dem World Wide Web birgt durch die Reichweite, die Dauerhaftigkeit und die zusammenfallenden Kontexte bei der Preisgabe von Informationen und der Darstellung von (Teil-)Identitäten zahlreiche Risiken (Beruf und Freizeit vermischen sich; öffentliche und private Themen gehen Hand in Hand). Auch aus der empirischen Studie BlogLife geht hervor, dass NutzerInnen den sicheren und angemessenen Umgang mit dem Medium Weblog erst lernen müssen. Im Interview berichteten die BloggerInnen davon, erst mit der Zeit mehr Wert auf den Schutz der Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten Dritter gelegt zu haben sowie im Laufe des Bloggens Selbstzensur im Hinblick auf Themen und hochgeladene Fotos entwickelt zu haben. Medienpädagogisch von Bedeutung ist das Ergebnis, wonach sich ein kompetenter Umgang mit dem Medium Weblog erst durch selbst gemachte Erfahrungen in einem Learning-by-doing-Prozess herausbildet. Medienpädagogische Einrichtungen wie auch Schulen müssen geschützte Räume zum Ausprobieren und Reflektieren des Mediengebrauchs anbieten. In Bezug auf Weblogs konnte in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass es einer Weblog-Definition bedarf, die über eine rein technische Beschreibung von Funktionen hinausgeht. Die Autorin entwickelte deshalb im Anschluss an Danah Boyd (2002, 2006, 2010) und Jodi Dean (2010) einen Begriff von Weblogs, der Blogs als Kommunikationsmedium und Praktik ins Auge fasst, um der prinzipiellen Offenheit von Weblogs für unterschiedliche Nutzungsmotive und Funktionen gerecht zu werden. Die Definition von Weblogs als Medium und Bloggen als Praktik, angesiedelt zwischen individueller kontingenter Nutzungsweise und intersubjektiv ausgehandelten Subgenres, wird dem hybriden Charakter von Weblogs gerecht. Aus der empirischen Studie BlogLife geht hervor, dass sich BloggerInnen durch das Führen eines Weblogs mobile persönliche Orte schaffen, die sie überallhin mitnehmen können. Das Weblog vermittelt durch die ständige Verfügbarkeit Sicherheit und Stabilität, was insbesondere bei kritischen Lebensereignissen wie einem Auslandssemester während des Studiums relevant ist, da durch das Bloggen ein Gefühl der Verbundenheit mit dem räumlich entfernt lebenden sozialen Umfeld entsteht. Auf die Bedeutung persönlicher Orte für die Identität verweist Tilmann Habermas. Jedoch sind die von Habermas beschriebenen persönlichen Orte körperzentriert und immobil wie beispielsweise die eige-

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ne Wohnung. (vgl. Habermas 1996: 127ff.) In Zeiten der Globalisierung und gesteigerter Mobilität können immobile Orte immer weniger Sicherheit bieten; mobile Orte, realisiert im World Wide Web, nehmen deshalb stetig an Bedeutung zu. Neben der Gestaltung von Beziehungen durch das Bloggen ist auch das Herstellen von Öffentlichkeit bei kritischen Lebensereignissen relevant, da Öffentlichkeit Möglichkeiten für Anerkennung (reflexiv wie auch dialogisch) bietet und durch das Bloggen in den vernetzten Öffentlichkeiten des World Wide Web Kompetenzen ausgebildet werden. Medienkompetenz als Querschnittskompetenz ist heute besonders wichtig, um am politischen Diskurs teilhaben und berufliche Chancen wahrnehmen zu können. Der im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellte Kompetenzbegriff nach Erpenbeck und Sauter (2007) macht deutlich, dass Kompetenzentwicklung immer auch Identitätsarbeit bedeutet, da Kompetenzen auf Werten und Normen aufbauen. Bei kritischen Lebensereignissen stellt Bloggen eine problemorientierte wie auch emotionale Copingstrategie dar. Das Weblog fungiert als Medium zum Ordnen von Gedanken, Entwickeln von Positionen und als Ventil für negative Gefühle (Katharsisfunktion). Schreiben und Bewältigen, die dritte Schlüsselkategorie, ist insofern bei kritischen Lebensereignissen von Bedeutung, da aus der Studie BlogLife hervorgeht, dass durch das Schreiben online Erinnern und Reflektieren unterstützt werden, da Gedanken dokumentiert und nachgelesen werden können. Selbstnarrationen ordnen Lebensereignisse und weisen ihnen subjektiven Sinn zu. Die Relevanz der Kategorie Schreiben und Bewältigen ist an der Häufigkeitsverteilung ablesbar: Gut die Hälfte (47,1 %) der Interviews und Visualisierungen (N = 34) weist den Fokus Schreiben und Bewältigen auf. Mit Blick auf die empirischen Ergebnisse der Untersuchung BlogLife stelle ich abschließend sechs Thesen auf, welche die Studie zusammenfassend resümieren und gleichzeitig als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen und Forschungsarbeiten dienen sollen. 1. Weblogs sind mobile persönliche Orte, die bei kritischen Lebensereig-

nissen Unterstützung und Verbundenheit ermöglichen. 2. Bloggen unterstützt die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen

sowohl auf emotionaler als auch auf problemorientierter Ebene. 3. Bei der Gestaltung von Beziehungen mittels nicht anonymer Weblogs nehmen die Dimensionen Intimität und Zeit bei starken Bindungen ab, bei schwachen Bindungen hingegen zu.

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4. Bloggen als identitätsrelevante Praktik unterstützt Reflexionsprozesse

im Zuge einer narrativen Identitätsarbeit. 5. Bloggen vollzieht sich gleichsam als Selbstgespräch (reflexive Anerkennung) wie auch als Dialog (dialogische Anerkennung). 6. Bloggen fördert durch Erfahrungslernen medienkompetentes Handeln in vernetzten Öffentlichkeiten. Bloggen fördert die Medienkompetenz, trägt als Technologie des Selbst zur Identitätsarbeit bei und ist eine Quelle für soziales Kapital, weshalb Weblogs stärker in formelle Lernkontexte einbezogen werden sollten. Ein früher Umgang mit dem digitalen Medium Weblog in der Schule kann berufliche Chancen erhöhen und dazu beitragen, dass Menschen Artikulationschancen im Netz wahrnehmen können, um an gesellschaftspolitischen Diskursen zu partizipieren. Zukünftige Studien zur Weblogforschung müssen den hybriden Charakter des Mediums Weblog im Auge behalten, um jenseits von einseitiger Kulturkritik die Weblognutzung angemessen verstehen und bewerten zu können. Die Untersuchung der Weblognutzung aus der Perspektive der NutzerInnen hat sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit als sinnvoll erwiesen, da das qualitative methodische Vorgehen einen differenzierten Blick auf Blogpraktiken und Nutzungsmotive erlaubt. Des Weiteren wäre eine umfassende statistische Beschreibung zur Ergänzung der qualitativ erhobenen Daten wünschenswert, um einerseits aktuelle, statistisch signifikante Nutzungszahlen zu erheben und andererseits, um weitere bedeutsame Nutzungskontexte, über den Kontext Auslandsaufenthalt hinausgehend, identifizieren zu können. In einem sich rasch wandelnden Forschungsgebiet wie dem Bereich der digitalen Medien muss darüber hinaus im Auge behalten werden, welche neuen Aspekte der Mediennutzung hinzukommen und wie neue Angebote die bestehende Nutzung von Weblogs verändern. „Lernen ist wie Schwimmen gegen den Strom: Stillstand bedeutet Rückschritt!“ (ERICH KÄSTNER)

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Axiales Kodieren nach Böhm (2000) | 32 Abbildung 2: Das Besondere erzählen | 136 Abbildung 3: Identitätsentwürfe erinnern – Erlebnisse verknüpfen | 142 Abbildung 4: Das Weblog als soziale Brücke | 149 Abbildung 5: Weblogs – ein globales Kommunikationsmedium | 150 Abbildung 6: Weblogs als Kommunikationswerkzeuge | 152 Abbildung 7: Das Weblog als weltweites Beziehungsgeflecht | 154 Abbildung 8: Weblogs als Erinnerungsschatz | 160 Abbildung 9: Perspektivenaustausch und Selbstreflexion im Weblog | 162 Abbildung 10: Bloggen als Identitätsarbeit | 163 Abbildung 11: Bloggen mit kosmopolitischem Blick | 166 Abbildung 12: Sich im „Ozean der Bedeutungen“ orientieren | 169 Abbildung 13: Humorvolles Bloggen zur Bewältigung von Angst und Irritation | 172 Abbildung 14: Bloggen bei kritischen Lebensereignissen | 177

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ANHANG

Interviewleitfaden Für meine Dissertation führe ich Interviews über Blogs durch. Ich würde dich gerne dazu befragen, wie du bloggst und wie das war, als du im Ausland warst. Einstiegsfrage Womit möchtest du anfangen? Life events Wie war das damals mit dem Auslandsaufenthalt? Wie kamst du dazu? Wie war das für dich, als du dein Auslandssemester begonnen hast? Wie war das dann mit dem Bloggen? Schreiben Wie lange führst du dein Weblog schon? Wie kamst du dazu? Was bedeutet es dir, zu bloggen? Wann schreibst du? (Motive, Rhythmen, fixe Zeiten, Anlässe) Wie lange arbeitest du ungefähr an einem Eintrag? Worüber hast du in deinem ersten Eintrag geschrieben? Wie war das für dich, als der Eintrag dann online war? Publikum und Feedback Kann jede Person deine Einträge lesen? Kennst du deine LeserInnen persönlich? Werden deine Einträge durch andere kommentiert? Wie wichtig ist das für dich? Nutzungsmotive Schreibst du auch ein herkömmliches Tagebuch? Wenn nein: Warum schreibst du kein Tagebuch? Wenn ja: Warum schreibst du ein Tagebuch? Wenn beides: Warum schreibst du ein Tagebuch und ein Weblog? Stelle dir einmal vor, es gäbe das WWW und somit Weblogs nicht mehr. Wie wäre das? Kannst du dir einen Ersatz vorstellen?

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Visualisierung Ich habe ein Blatt Papier mitgebracht und ein paar Farbstifte und bitte dich, eine Antwort zu zeichnen auf die Frage: „Mein Weblog ist für mich[…]“. Was hast du gemalt? Abschließende Frage Möchtest du noch etwas ergänzen, das dir in Bezug auf Weblogs wichtig ist? Soziodemografische Daten, Daten zum Auslandssemester Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnort, Ausbildung, Familienstand, Auslandsaufenthalt (Ort, Dauer, Zeitpunkt)

Digitale Gesellschaft Clemens Apprich Vernetzt – Zur Entstehung der Netzwerkgesellschaft August 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3045-9

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net 2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4

Geert Lovink Das halbwegs Soziale Eine Kritik der Vernetzungskultur (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2012, 240 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1957-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de