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German Pages 266 Year 2016
Madeleine Sauer Widerspenstige Alltagspraxen
Queer Studies | Band 13
Madeleine Sauer (Dr. phil.) promovierte an der Universität Wien, lehrt an der Freien Universität Berlin zu queer-feministischen Theorien und arbeitet als freie Wissenschaftlerin zu Protesten gegen Flüchtlingsunterkünfte und zu Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender Studies und Queertheorie, Demokratietheorien, Kapitalismuskritiken sowie soziale Bewegungen.
Madeleine Sauer
Widerspenstige Alltagspraxen Eine queer-feministische Suchbewegung wider den Kapitalozentrismus
Diese Veröffentlichung ist eine überarbeitete Version der Disseration »Widerspenstige Alltagspraxen als Leerstelle kapitalismuskritischer und demokratietheoretischer Perspektiven: Eine queer-feministische Suchbewegung«, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Rahmen des Promotionskollegs »Demokratie und Kapitalismus« gefördert und an der Universität Wien eingereicht wurde. Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand. Erstgutachten: Univ.-Prof. Dr. Birgit Sauer Zweitgutachen: em. Univ.-Prof. Dr. Eva Kreisky
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
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Einleitung
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Ausgangspunkt: Widerspenstige Alltagspraxen
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2.1 Kurzvorstellung der Praxisbeispiele | 24 2.1.1 Das Mietshäuser Syndikat: Selbstorganisiert wohnen, solidarisch wirtschaften 2.1.2 Die NewYorck im Bethanien: Raum emanzipatorischer Projekte | 32 2.1.3 Der Schwarze Kanal: Ein Queerer Bauwagenplatz | 37 2.2 Inhaltliche Klammer: Raum- & Stadtpolitiken 3
Suchbewegung 1: Queer-feministische Kapitalismuskritiken
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3.1 Wissen über Kapitalismus dekonstruieren | 60 3.1.1 Wider den Kapitalozentrismus | 60 3.1.2 Wider das Menschenbild des homo oeconomicus | 66 3.2 Hegemonietheorie queer-feministisch wenden
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3.3 Handlungsstrategien für widerspenstige Alltagspraxen | 77 3.3.1 Kollektive Desidentifikation mit kapitalistischem Denken | 78 3.3.2 Kollektives Verlernen von Privilegien | 83 3.3.3 Politisierung der prinzipiellen Unentscheidbarkeit
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3.4 Zwischenfazit & Fragen an die Praxis | 101 4
Suchbewegung 2: Demokratietheoretische Erweiterung | 105 4.1 Demokratietheoretische Hinweise aus der Suchbewegung 1 | 111 4.1.1 Demokratietheoretische Hinweise der queer-feministischen Kapitalismuskritiken | 112 4.1.2 ‚Das Private ist politisch!‘: Was heißt das für den Demokratiebegriff? | 117 4.2 Leerstellen: Warum Demokratie neu denken? | 122 4.2.1 Juridischer Demokratiebegriff | 123 4.2.2 Normalisierungstendenzen feministischer Demokratietheorien | 125 4.3 Anknüpfungspunkte: Wie lässt sich Demokratie neu konzipieren? | 131 4.3.1 Sieben Thesen feministischer Demokratietheorien | 132 4.3.2 Präsentistische Demokratie | 140 4.3.3 Anarchistische Theorie als Demokratietheorie | 143 4.4 Zwischenfazit: Demokratie queer-feministisch & herrschaftskritisch denken? | 151
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Widerspenstige Alltagspraxen: Die Praxisbeispiele | 155 5.1 Herrschaftskritische Methodologie? | 155 5.1.1 Das Gruppendiskussionsverfahren | 156 5.1.2 Konzeption der Gruppendiskussionen | 160 5.2 Rekonstruktion der Gruppendiskussionen | 164 5.2.1 Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats | 164 5.2.2 Gruppendiskussion der NewYorck im Bethanien | 186 5.2.3 Gruppendiskussion des Schwarzen Kanals | 201
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Zusammenführung: Von der Praxis lernen? | 213 6.1 Theorie als Analysewerkzeug | 215 6.2 Grenzen der Theorieperspektiven | 221
6.3 Lerneffekte für die Theoriebildung | 229 6.3.1 Einsichten für die kapitalismuskritische Perspektive | 229 6.3.2 Ergänzungen der demokratietheoretischen Perspektive | 230 6.3.3 Erweiterungen zum Begriff widerspenstige Alltagspraxen | 235 6.4 Zur Handlungsfähigkeit widerspenstiger Alltagspraxen | 237 7
Schlussbetrachtung | 241
Literaturverzeichnis | 247
1 Einleitung
Ausgangspunkt der vorliegenden queer-feministischen Suchbewegung ist das Phänomen, dass sich vielfältige emanzipatorische Alltagspraxen finden lassen, die über kollektives Alltagshandeln im Hier und Jetzt versuchen, gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend zu verändern. Die Praxen, die ich mit dem Schlagwort widerspenstige Alltagspraxen bezeichne, finden sich in der linksradikal-subkulturellen Szene Berlins wieder und stellen dort – und in anderen Orten Deutschlands – Räume und Begegnungsorte zur Verfügung, in denen von gesellschaftlichen Alternativentwürfe geträumt und mit ihnen experimentiert wird. Diese zeichnen sich durch eine grundlegend antikapitalistische Ausrichtung aus und sind darum bemüht, konsensorientierte, demokratische Umgangsweisen zu pflegen. Ich habe den Begriff widerspenstige Alltagspraxen gewählt, weil sich die Räume und Orte, in denen die genannten Suchbewegungen nach anderen Formen gesellschaftlichen Miteinanders stattfinden nicht fernab von den gesellschaftlichen Verhältnissen befinden. Konkret heißt das, dass die gegenwärtigen strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse diese Orte beeinflussen. Jene Verhältnisse mit ihren Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen prägen sowohl die Individuen, die sich in diesen Räumen engagieren, als auch die Rahmenbedingungen dieser Suchbewegungen. Die Räume und Orte widerspenstiger Alltagspraxen sind folglich keine Inseln der Glückseligkeit, die sich im kontextfreien Raum bewegen. Sie sind stattdessen tief in die aktuell herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen verstrickt. Widerspenstig sind diese Praxen insofern, weil sie Orte schaffen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse herausfordern und zu überwinden trachten. Hier wird alternatives Wissen generiert und es wird mit verschiedenen Lebensentwürfen experimentiert. Diese Aktivitäten wiederum haben Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Strukturen. Die Verstrickung zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Orten widerspenstiger
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Alltagspraxen folgt daher nicht einer Einbahnstraße, sondern ist auf vielfältige Art und Weise verwoben. Klare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge lassen sich nicht herstellen. Diesen widerspenstigen Alltagspraxen gegenüber stehen wissenschaftliche Theorie-Diskussionen über die Beschaffenheit kapitalistischer Strukturen, die oft nicht erklären können, warum Menschen versuchen, gesellschaftliche Verhältnisse zu überwinden. Sie produzieren ein Wissen über Kapitalismus, das die widerspenstigen Alltagspraxen nicht ernst nimmt. Darüber hinaus werden kaum Deutungsmuster über die Funktionsweisen kapitalistischer Verhältnisse angeboten, die den Suchbewegungen in den Alltagspraxen Handlungsoptionen eröffnen.1 Die theoretische Annahme, kapitalistische Strukturen seien grundsätzlich krisenanfällig und gingen in der Regel gestärkt aus den jeweiligen Krisen hervor, stellt die Frage nach der Motivation der Aktivist_innen2 in antikapitalistisch ausgerichteten Projekten vor große Herausforderungen. Eine gängige Erklärung für den Verlauf kapitalistischer Krisenzyklen liegt in den enormen Anpassungsleistungen, die kapitalistische Systeme vollbringen können. Wenn es demnach dem bestehenden Herrschaftsgefüge immer gelingt, kapitalismuskritisches Engagement in eine systemkompatible Form zu bringen und dadurch zu absorbieren, bleibt unklar, warum Menschen versuchen sollten, diesen wirkmächtigen Strukturen Alternativen entgegen zu setzen. Ebenso unbefriedigend bleibt die Frage nach der Bedeutung von Alltagspraxen zur Veränderung der gegenwärtigen Strukturen. Zu marginal erscheint das Handeln Weniger gegenüber den Dynamiken kapitalistischer Reproduktion.
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Exemplarisch sei hier auf die Regulationstheorie verwiesen. Bekannte Vertreter sind Joachim Hirsch (z.B. 1995; 2005) und Bob Jessop (z.B. 1990).
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Die Schreibweise mit dem sogenannten gender gap ist ein Versuch, alle Geschlechter im Sprachbild sichtbar zu machen. Damit greife ich sowohl die feministische Kritik an der androzentristischen Sichtweise der deutschen Sprache auf, die die maskuline Form als Neutrum setzt, als auch das queere Insistieren darauf, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt. Diese Vielheit der Geschlechter soll im Unterstrich eine Sichtbarkeit erlangen, der die männliche von der weiblichen Form trennt und sie verbindet gleichermaßen. Grammatikalisch habe ich die entsprechenden Wörter durchgängig als weiblich behandelt, um einen Gegenpol zur vorherrschenden männlich geprägten Sprache zu bilden und gleichzeitig den Lesefluss möglichst wenig mit Stolpersteinen zu stören.
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Auch der Blick in die Konzeption aktueller Demokratietheorien ist wenig vielversprechend: Wie beispielsweise Hubertus Buchstein und Dirk Jörke (2003) bemängeln, sind aktuelle Demokratietheorien mit Rationalisierungstendenzen konfrontiert. Demnach stehen der Output demokratischer Verfahren und die Qualität politischer Entscheidungen im Fokus der Betrachtungen, Demokratie wird mit Parlamentarismus gleichgesetzt. Das Verständnis von Demokratie als Selbstzweck im Sinne einer egalitären Partizipation der Mitglieder einer Gemeinschaft an ihrer Selbstorganisation tritt dabei in den Hintergrund. Der Gedanke, dass Demokratie auch die Möglichkeit impliziert, Führung und Regierung obsolet werden zu lassen und damit die Differenzierung zwischen Regierenden und Regierten aufzulösen, gerät meist in Vergessenheit (vgl. z.B. Burnicki, 2003; Demirović, 1997). Die Ebene der Alltagsorganisation kommt in einer solchen demokratietheoretischen Engführung nicht vor. Das bedeutet, widerspenstige Alltagspraxen können mit dem vorherrschenden Verständnis von Demokratie und Demokratietheorie nicht erfasst werden. Forschungsvorhaben Das Forschungsvorhaben widmet sich daher einem vielschichtigen Projekt: Ich werde mich auf die Spurensuche machen und danach fragen, wo ich Ansatzpunkte in den wissenschaftlichen Theoriedebatten finde, die das beschriebene Dilemma – das Vorhandensein widerspenstiger Alltagspraxen, die in gängigen kapitalismuskritischen und demokratietheoretischen Diskursen nicht erklärt werden können – auflösen. Ausgangspunkt meiner theoretischen Suchbewegungen werden dabei aktuelle queer-feministische Kapitalismuskritiken sein, weil ich davon ausgehe, dass eine herrschaftskritisch geprägte feministische Perspektive in der Lage ist, das Problem der Unsichtbarkeit widerspenstiger Alltagspraxen in den Theoriedebatten zu beheben. Schwerpunktmäßig werde ich mich mit Arbeiten beschäftigen, die hegemonietheoretische Perspektiven in solidarischer Geste kritisieren, sie um eine queer-feministische Perspektive erweitern und/oder danach fragen, wie das Denken in Hegemonien emanzipatorisch überwunden werden kann. Die Festlegung auf hegemonietheoretisch geleitete Kapitalismuskritiken bietet sich an, weil Antonio Gramsci (2012) aus marxistischer Perspektive den Blick auf die systemstabilisierende Wirkung von Alltagsverstand und Alltagshandeln lenkte. Damit fällt widerspenstigen Alltagspraxen eine bestimmte Bedeutung zu, sie sind für die (Re-)Produktion von Hegemonie notwendig bzw. können zu einer Veränderung hegemonialer Verhältnisse beitragen. Zudem ebneten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991) mit
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ihrer Veröffentlichung „Hegemonietheorie und radikale Theorie. Zur Dekonstruktion des Marxismus“ den Dialog zwischen (Post-)Marxist_innen und Feminist_innen. Mit dieser Schwerpunktsetzung interessiere ich mich für kapitalismuskritische Theoriedebatten, die anschlussfähig sind an eine queer-feministische Perspektive. Im Laufe meiner Arbeit zu queer-feministischen Kapitalismuskritiken habe ich festgestellt, dass die analysierten Werke Bezüge zu Demokratie herstellen, ohne diese explizit zu theoretisieren. Aus diesem Grund werde ich bei meiner zweiten theoretischen Suchbewegung nicht nur danach fragen, wo ich theoretische Ansätze in den modernen Demokratietheorien finde, die die alltäglichen demokratischen Praxen in den Fokus der Betrachtungen rücken und somit Demokratie (auch) als Lebensform und Alltagspraxis konzipieren können. Ich möchte mit meinen demokratietheoretischen Überlegungen zudem die queer-feministischen Kapitalismuskritiken um eine demokratietheoretische Komponente erweitern. Mit dieser Herangehensweise verknüpfe ich nicht nur die theoretischen Überlegungen zu Demokratie und Kapitalismus jeweils mit dem Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen sondern auch die beiden Theorie-Disziplinen – Kapitalismuskritiken und Demokratietheorien — untereinander. Folgende Forschungsfragen leiten die jeweiligen Suchbewegungen an: 1. Wo finden sich Ansätze in der Theorieproduktion, die widerspenstige Alltagspraxen erfassen können und welche Handlungsoptionen bieten sie diesen an? 2. Was kann die Theorieproduktion von den untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen lernen? Theoretische Grundannahmen Das Forschungsvorhaben selbst ist ebenso wie der Forschungsprozess von queer-feministischen Grundannahmen geprägt. Diese Annahmen möchte ich den weiteren Ausführungen voranstellen: Eine feministische Perspektive begreift das herrschende Geschlechterverhältnis, das heißt, die Annahme, es gäbe genau zwei Geschlechter (Männer & Frauen), die sich gegenseitig begehren und in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, als ein grundlegendes Herrschaftsverhältnis, das Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse hat. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Herrschaftsverhältnisses ist ein biologistischer Begründungszusammenhang. Meist wird dieser vermeintlich natürliche Biologismus mit der Fähigkeit, gebären zu können, in Verbindung gebracht. Darauf basiere im Wesentlichen die unterschiedliche Rollenzuschreibung und die gesellschaftliche Positionie-
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rung, die mit der Unterscheidung zwischen männlich und weiblich einhergeht. Feminist_innen greifen diese vermeintliche Natürlichkeit an und insistieren darauf, dass dieses Herrschaftsverhältnis überwunden werden muss.3 Eine queer-feministische Perspektive macht darauf aufmerksam, dass nicht nur die hierarchische Anordnung zwischen männlich und weiblich, sondern auch die Annahme des gegenseitigen Begehrens ein wirkmächtiger Herrschaftsmechanismus ist. Damit zementiert das Geschlechterverhältnis nicht nur eine biologistisch begründete Dichotomie zwischen den Geschlechtern, sondern auch das damit einhergehende heteronormative Weltbild. Heteronormativität kritisiert dabei, dass heterosexuelles Begehren als gesellschaftliche Norm in die Organisation menschlichen Zusammenlebens eingreift und damit andere Existenzweisen gewaltvoll marginalisiert (vgl. z.B. Wagenknecht, 2007). In meiner Lesart hört eine queer-feministische Perspektive jedoch nicht dabei auf, Geschlecht und Sexualität als Herrschaftsverhältnisse zu entlarven. Aufgrund ihres grundsätzlich herrschaftskritischen Anspruches setzt sie sich zum Ziel, andere Herrschaftsverhältnisse ebenso zu bekämpfen. Damit verbunden ist die Annahme, dass Wissen nie frei von gesellschaftlichen Verhältnissen ist und es damit keine objektiven Wahrheiten gibt, die es zu finden gilt. Wenn Wissen folglich von gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso geprägt ist, wie Identitäten und Subjektbildungsprozesse immer auch Ergebnis jener Verhältnisse sind, dann lässt sich Wissen immer nur als situiertes Wissen begreifen (vgl. z.B. Hill-Collins, 1993; Rodríguesz, 2011).4 Damit verbunden ist die Aufforderung, beispielsweise als Wissenschaftler_in, die eigene gesellschaftliche Positionierung mit zu bedenken und offen zu legen.5 Um es am Beispiel meiner Person zu verdeutlichen: Die Annahme, Herrschaftsverhältnisse seien bis in die Subjektbildungsprozesse hinein wirkmächtig, hat zur Folge, dass meine persönliche Identität
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Je nach feministischer Lesart fallen die damit verbundenen politischen Forderungen unterschiedlich aus. So plädiert beispielsweise die Strömung des Gleichheitsfeminismus im Wesentlichen für die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen, da die universalistischen Prinzipien der Gesellschaft für alle Geschlechter gleichermaßen gelten sollen. Der Differenzfeminismus demgegenüber betont die Unterschiedlichkeit der Geschlechter und fordert eine gesellschaftliche Aufwertung des Weiblichen, um zu einer „Gleichheit durch Anerkennung von Differenzen“ (Kerner, 2007, S. 9) zu kommen.
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Der Begriff des situierten Wissens wurde von Donna Haraway (1995) geprägt.
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Zum Begriff der Positionalität vgl. z.B. (Engel et al., 2005).
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unter anderem davon geprägt ist, dass ich in rassistischen Verhältnissen groß geworden bin und ich mich darin in einer privilegierten Position befinde. Im Bezug auf die Geschlechterverhältnisse werde ich der Kategorie ‚Frau‘ zugeordnet. Da meine sozialen und leiblichen Eltern zwar nicht alle dem (klassischen) Bildungsbürgertum zugehörig sind, (Schul-)Bildung jedoch als ein hohes Gut schätzten, wurde meine akademische Ausbildung finanziell und ideell unterstützt. Diese unvollständige Aufzählung verweist auch darauf, dass die vorliegende Arbeit von meinem persönlichen biographischen Background ebenso geprägt ist wie von meiner Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeit. Dieses hier festgehaltene und produzierte Wissen ist daher Ergebnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und von meinen Erfahrungen sowie meiner politischen Positionierung geprägt. Dieses Wissen wiederum kann Handlungsoptionen öffnen und/oder schließen. Heike Kämpf kommt zu dem Schluss, dass Butlers „Begründung politischer Handlungsfähigkeit zur Einsicht [führe], dass scheinbar marginale widerständige Praktiken und geringfügige Verschiebungen radikale politische Veränderungen einleiten können“ (Kämpf, 2004, S. 61) – eine These, die meine Arbeit unterstützen möchte. In meiner Lesart beziehe ich mich auf queer-feministische Ansätze, die eine materialistische Perspektive vertreten. Unter einer materialistischfeministischen Perspektive versteht Hennessy (1993) das (Wechsel-)Verhältnis zwischen Sprache, Subjektkonstruktion und ungleicher Verteilung von Ressourcen. Die Methode der Dekonstruktion spielt darin eine wichtige Rolle, da mit ihr aufgezeigt werden kann, dass das als real Erfahrene konstruiert ist. Gemeinsam ist materialistischen Feminist_innen die Kritik an der Annahme der universellen Gültigkeit liberal-humanistischen Wissens. Eine wesentliche Grundannahme liegt darin, dass Wissen politisch organisiert, folglich ein Ergebnis von Machtkämpfen ist. Deshalb verorten Feminist_innen ihre Kritik an (westlicher) Wissensproduktion in einem emanzipatorischen Projekt mit erheblichem Einfluss auf Wissensproduktionen, Sinnstiftungen und Konstruktionen von Wirklichkeit. „By insisting that in any historical moment modes of intelligibility are closely tied to economic and political practices, materialist feminists can develop these powerful oppositional and transformative features of theoretical discourse in the service of feminism’s commitment to the end of exploitation and oppression.“ (Hennessy, 1993, S. 8) Wissen ist damit immer historisch bedingt. Die Grenzen menschlichen Verstehens sind demnach abhängig von unseren jeweiligen materiellen Verhält-
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nissen und unseren Aktivitäten darin: „what we do affects what we can know“ (Hennessy, 1993, S. 37). Gleichzeitig bedingt unser Wissen immer auch unsere Handlungsfähigkeit: „what we know also shapes what we do“ (Hennessy, 1993, S. 37). Hintergrundfolie meiner Vorgehensweise ist damit auch ein Verständnis von Theorie(produktion), das über die Auseinandersetzung mit (hegemonialem) Wissen und der Suche nach alternativen Denkweisen dazu beitragen kann, gesellschaftliche Veränderungen vorstellbar zu machen: „Kritische Wissenschaft ist, das macht sie vielen so verdächtig, herrschaftskritisch und nonkonformistisch. Sie ist [...] dem gesellschaftlichen Projekt von Mündigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung verpflichtet [...] Und sie erforscht [...] nicht nur die Produktivität und Destruktivität der herrschenden Lebensweisen, sondern auch die Möglichkeiten ihres grundlegenden Umbaus.“ (Brand, 2010, 38) Akademische Wissensproduktion begreife ich daher als ein Werkzeug. Sie steht im Idealfall in einem gegenseitigen Lernverhältnis mit konkreten Handlungspraxen und verfolgt mindestens zwei Ziele: Auf der einen Seite versucht kritische Wissenschaft in den Prozess der Wissensproduktion einzugreifen und bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse innerhalb der akademischen Welt aufzubrechen. Gleichzeitig kann sie – auf der anderen Seite – als Reflexionsinstanz für widerspenstige Alltagspraxen dienen und Erfahrungen aus Projekten an eine interessierte Öffentlichkeit weitergeben. Zum Forschungsprozess Das Forschungsvorhaben ist – ähnlich wie das Ergebnis auch – von Suchprozessen gezeichnet. Diese verliefen nicht immer geradlinig oder gar in einer logischen Reihenfolge. Ein zentraler Ausgangspunkt war der empfundene Widerspruch zwischen akademischer Theorieproduktion und aktivistischer Praxis in Bewegungskontexten, die vom Begehren nach Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens inspiriert und getragen werden, die möglichst frei von Herrschaftsverhältnissen sind. Um das Ideal der Herrschaftslosigkeit in den Bereich des Vorstellbaren zu holen, braucht es aus aktivistischer Perspektive sowohl eine Analyse bestehender Herrschaftsstrukturen als auch die Phantasie, das schier Unmögliche in konkreten Praxen zu leben. Damit verbunden sind zweifelsfrei immer auch Prozesse des Scheiterns, die Konfrontation mit Widersprüchen zwischen politischem Anspruch und gelebter Praxis aber immer auch, – und das ist mir besonders wichtig – der vielleicht kindlich anmutende Glaube an die Kraft des Experimentierens mit ande-
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ren Gesellschaftsentwürfen und die damit verbundenen Wirkmächtigkeiten. Keine Herrschaftsstrukturen sind diesem Verständnis nach so festgefahren, dass es unmöglich ist, diese herauszufordern. Ein langer Atem, viel Phantasie und Experimentierfreude sind dafür genauso vonnöten wie eine hohe Frust- und Leidenstoleranz. Emanzipatorische Kämpfe sind in diesem Verständnis immer in die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse verstrickt, treiben jedoch in „produktive[r] Unruhe“ (Wissen et al., 2003, S. 51) eine emanzipatorische Radikalisierung voran. „Würde diese Ambivalenz nicht bestehen, hieße das, die Wahrheit kommender Entwicklungen zu verkünden“ (Bensaïd und Brand, 2004, S. 68). An akademische Wissensproduktion gerichtet ist daher die aktivistische Erwartungshaltung, nicht nur bestehende Herrschaftsstrukturen zu erklären, sondern auch Perspektiven zu entwickeln, die mögliche Wege der Veränderung der bestehenden Verhältnisse andeuten. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Was hilft die beste Kapitalismuskritik, wenn sie nicht in der Lage ist, Menschen mit dem Wunsch nach der Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse Handlungsperspektiven an die Hand zu geben? Wenn es ihr folglich nicht gelingt, eine ermächtigende Lesart zu bieten? Im Idealfall trägt das theoriegeleitete Verständnis, was Kapitalismus ist und wie er funktioniert, dazu bei, kapitalistische Verhältnisse herauszufordern. Wenn die Theorie demgegenüber ein Wissen über Kapitalismus produziert, das ein Ausbrechen aus diesem Herrschaftsverhältnis undenkbar macht, dann stützt sie eher die herrschenden Verhältnisse, als das sie Menschen beflügelt, nach Alternativen zu suchen. In letzterem Falle fehlt der Theorieproduktion ihre emanzipatorische Kraft. Sie wird damit zum potentiellen Stolperstein für das Bemühen um gesellschaftliche Veränderungen. Zu Beginn meines Forschungs-Suchprozesses stand daher (aus aktivistischer Perspektive) die Enttäuschung über Theoretisierungen von Kapitalismus in einer kapitalismuskritischen Intention, die kaum Ansätze bieten, wie Kapitalismus zu überwinden sei. Ich stellte mir daher die Frage, warum überhaupt Menschen versuchen sollten, kapitalistische Strukturen zu überwinden. Den Theorien folgend wären die Erklärungen für jedwedes antikapitalistische Engagement entweder in Naivität oder in Altruismus zu suchen – die Menschen verstünden demnach das kapitalistische System nicht oder sie würden etwas versuchen, wohl wissend keine Chancen zu haben. Hinzu kam die Erfahrung, dass das Ringen um gesellschaftliche Veränderungen mit der Suche nach einer Demokratisierung des jeweiligen Lebensumfeldes verbunden ist. Die in diesen Praxen gelebten Formen von Demokratie sind jedoch nur sehr schwer mit dem demokratietheoretischen Wissen und den Modellen von Demokratie in Einklang zu bringen. Auf den ersten Blick
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handelt es sich hierbei um zwei sehr unterschiedliche Welten, die nicht viel gemeinsam haben. Ich stellte mir daher die Frage, wie Demokratie zu theoretisieren sei, so dass sie in der Lage ist, Demokratie nicht nur als Staatsund Regierungsform – und damit als ein Herrschaftsverhältnis – zu konzipieren, sondern auch als Lebensform und Alltagspraxis zu begreifen, die Herrschaftsverhältnisse infrage stellen und überwinden möchte. Ein weiterer Fragestrang lief entlang des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Demokratie. Wie lässt sich Kapitalismuskritik und Demokratietheorie so verknüpfen, dass daraus emanzipatorische Kraft erwächst? Damit verbunden war auf der praxisbezogenen Seite die Suche nach Alltagspraxen, die Kapitalismuskritik und gelebte Demokratie derart verbinden, dass sich daraus Erkenntnisse für die Theorieproduktion gewinnen lassen. Mit diesen Fragen verbunden war das grundlegende Interesse an der Motivation von Menschen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern: Was bewegt Menschen dazu, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in ihrem Alltag zu kritisieren und dort mit Formen des Miteinander Lebens und Arbeitens zu experimentieren, die über die herrschenden Verhältnisse hinausweisen? Welche Wünsche, Träume und Ideale stehen dahinter? Welches Wissen trägt dazu bei, mit dem sprichwörtlich richtigen Leben im Falschen zu experimentieren? Für weite Teile meiner Suchprozesse habe ich als verbindende Klammer für die hier angerissenen Fragen den Begriff der Utopie benutzt. Die Frage nach utopischen Momenten in den Theorieproduktionen und nach den konkreten Utopien in den gelebten Praxisbeispielen stand daher zunächst im Zentrum meiner Suche. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass die Arbeit an Klarheit gewinnt, wenn ich mich von der Metafrage nach den Utopien emanzipatorischer Veränderungen verabschiede. Da die Klammer ‚Utopie‘ lange Zeit ein notwendiges und hilfreiches Werkzeug war, möchte ich an dieser Stelle – auch aus Transparenzgründen – den verwendeten Utopiebegriff vorstellen: Die Bezugnahme auf den Begriff der Utopie war mit dem politischen Anspruch der Arbeit verbunden, Motivationskraft zum Handeln zu entfalten. Sie diente dem Ziel, über die Kritik bestehender Gesellschaftsentwicklungen ebenso wie über die kritische Analyse wissenschaftlicher Themenbearbeitung hinaus zu gehen und damit einen Beitrag zu leisten, der Mut machen soll, demokratische Utopien zu denken. Die aus dem Griechischen entlehnte Bezeichnung outópos, der Nicht-Ort, stellt sich in dieser Leseart dem herrschenden Zeitgeist entgegen, in kapitalistischen Strukturen und liberal-demokratischen Gesellschaftsorganisationen das Ende der Geschichte (Fukuyama, 1992), zumindest aber das Beste aller möglichen Ordnungsprinzipien menschlichen Zusammenlebens zu lesen:
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„Wer aber heute vom Ende des ‚utopischen Zeitalters‘ spricht, möchte [...] jeden Versuch, über den Status quo der westlich industriell-kapitalistischen und demokratischen Gesellschaften hinauszugehen, tabuisieren“ (Fetscher, 2006, S. 216). Mit der Imagination von einem Raum des Nicht-Ortes griff ich auch die Bemühungen der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf, die in der herrschenden Akzeptanz der vermeintlichen Sachzwanglogik, die in aktuellen Globalisierungsphänomenen eingeschrieben sei, eine Hemmschwelle für die Auseinandersetzung mit experimentellem, utopischem Denken sehen. „Schon die gedankliche Transzendierung bestehender Zustände wird als widersinniger Angriff auf die Logik der historischen Entwicklung gedeutet, der zwangsläufig zu Gewalt und Terror ausufere“ (Beerhorst et al., 2003, S. 7). Damit werden aber auch all jene Bemühungen diskreditiert und unsichtbar gemacht, die sich theoretisch und praktisch mit gesellschaftlichen Alternativentwürfen auseinandersetzen. Der während der Forschungsprozesse benutzte Utopiebegriff lässt sich in die Tradition herrschaftsfreier Utopievorstellungen stellen, die – der Analyse von Richard Saage (Saage, 1997, S. 9ff.) folgend – mit der Entwicklung des intentionalen Utopiebegriffs bei Gustav Landauer Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Geburtsstunde hatte. Ab der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts greifen vor allem die sogenannten Neuen sozialen Bewegungen dieses Utopieverständnis auf und bewirken eine Weiterentwicklung und Modifizierung libertärer Utopievorstellung(en). Hier haben mich vor allem feministische Utopieentwürfe inspiriert: Barbara Holland-Cunz zum Beispiel sieht in der Verknüpfung von feministischer Utopieproduktion und feministischer Auseinandersetzung mit Demokratietheorien in der Wissenschaft produktive Ansatzpunkte, da Utopien in der Lage seien, das Ideal von Demokratie wach und lebendig zu halten (vgl. Holland-Cunz, 2006, S. 342). In ihren Augen findet sich die selbstkritische Reflexion feministischer Utopien in den feministischen Debatten um Demokratietheorien nicht wider, was zu einem Verlust weitreichender demokratischer Forderungen führt(e). Die akademische Auseinandersetzung mit Demokratie geht deshalb oftmals mit einer Abkehr vom herrschaftskritischen, basisdemokratisch orientierten Demokratieverständnis der zweiten Frauenbewegung einher. Dieses Manko gilt es zu überwinden, denn „die Zukunft der Demokratie hängt damit auch von der Zukunft des utopischen Denkens ab, eines skeptischen utopischen Denkens zumal, das sich [...] ausführlich mit den eigenen Grenzen befasst. Wer wäre in einem geschlechtergerech-
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ten, friedlichen, freundschaftlichen, wissenshungrigen und ökologisch nachhaltigen Utopia nicht bereit, ‚furchtbar viel Zeit in Versammlungen (zu) verbringen‘?“ (Holland-Cunz, 2006, S. 342). Konkret wollte ich den Utopiebegriff in einem poststrukturalistischen Verständnis verwenden und damit meine feministische Perspektive für die Verwobenheit diverser Macht- und Unterdrückungsverhältnisse öffnen. Ein wesentliches Merkmal war der prozesshafte Charakter von Utopien, der mit dem Abschied von der einen großen Erzählung eines utopischen Entwurfs einer geschlossenen Idealgesellschaft beziehungsweise einer alternativen Gegenwelt aus einem Guss einher geht. Stattdessen will er Veränderungsimpulse hervorrufen: „Das Utopische [...] schlägt sich in der Gesellschaft pluralisiert in nebeneinanderlaufenden, ohne zentralisierte Planung verbundenen Projekten nieder: in Landkommunen, in speziellen Widerstandsorganisationen gegen Atomkraftwerke, im Regionalismus aber auch im ‚Design alternativer Lebensformen‘ etc.“ (Saage, 1997, S. 103). In dieser Lesart wird politische Utopie als eine Veränderungsstrategie der kleinen Schritte verstanden, die sich durch beständige Reflexivität und das Bewusstsein über die Grenzen utopischer Entwürfe auszeichnet. Eine der Grenzen liegt in der Annahme begründet, die menschliche Wahrnehmungsund Vorstellungswelt sei durch persönliche Erfahrungen, Sozialisation und gesellschaftliche Strukturen – seien sie nun ideologischer oder sozio-ökonomischer Natur – geprägt. In diesem Sinne diente der Utopiebegriff in zweifacher Weise meinen Suchbewegungen. Er sollte erstens auf der analytischen Ebene einen Denk-Raum schaffen, der der Kritik des gegenwärtigen Verständnis‘ von Demokratie und Kapitalismus mögliche Alternativen entgegensetzt und damit zweitens positive Visionen wünschenswerten Zusammenlebens entwickeln. Das Werkzeug ‚Utopiebegriff‘ diente mir daher als Hilfsmittel, um aus dem Spagat zwischen akademischer und aktivistischer Perspektive, das heißt zwischen Theorieproduktion und Alltagspraxen eine Brücke zu schlagen, die beide Sphären in einem wechselseitigen Prozess begreift. Mit diesem Anspruch verbunden war eine weitere Herausforderung: Die vorliegende Arbeit sollte sowohl den Kriterien einer wissenschaftlichen Arbeit entsprechen als auch eine Sprache verwenden, die für möglichst alle Menschen zugänglich ist, die sich für die Thematik interessieren. Ich habe mich daher bemüht,
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sehr abstrakte Gedankengänge möglichst anschaulich zu beschreiben und wissenschaftliche Fachbegriffe in einfachen Worten zu erklären. Manchmal hielt ich es für notwendig, die Erläuterungen etwas hinten an zu stellen und sie erst an späterer Stelle anzubringen. An einigen Stellen ist es mir sicher nicht gelungen, meinem Anspruch gerecht zu werden, zu sehr bin ich in der ausschließenden ‚Wissenschaftssprache‘ verhaftet. Aufbau der vorliegenden Arbeit Den hier bereits skizzierten theoretischen Suchbewegungen voranstellen möchte ich die Vorstellung der Praxisbeispiele in Kapitel 2 (Ausgangspunkt: Widerspenstige Alltagspraxen). Ziel des Kapitels ist es, möglichst konkret zu veranschaulichen, was ich unter widerspenstigen Alltagspraxen verstehe: Welche Ziele verfolgen die Praxisbeispiele und was ist ihre jeweilige Geschichte? Darüber hinaus will ich die inhaltliche Klammer der gewählten Beispiele – das Mietshäuser Syndikat, die NewYorck im Bethanien sowie den Schwarzen Kanal – aufzeigen und kontextualisieren. Aus meiner Perspektive lassen sich diese in die Auseinandersetzung um Stadtund Raumpolitiken einbetten und stellen damit ein antikapitalistisches Moment dar. Zur deskriptiv gehaltenen Vorstellung der Projekte ziehe ich im Wesentlichen Selbstbeschreibungen heran (Homepages der Projekte, Informationsbroschüren, Flyer, Pressemitteilungen, Zeitungsartikel). Das Kapitel ist damit der Auftakt der Arbeit und stellt die Hintergrundfolie für die Bearbeitung der Forschungsfragen dar. Die Kapitel 3 und 4 dienen der Annäherung an die erste Forschungsfrage: „Wo finden sich Ansätze in der Theorieproduktion, die widerspenstige Alltagspraxen erfassen können und welche Handlungsoptionen bieten sie den Praxen an?“ Im Kapitel 3 (Suchbewegung 1: Queer-feministische Kapitalismuskritiken) werde ich erstens die Frage verfolgen, warum es aus einer queer-feministischen Perspektive notwendig ist, die Wissensproduktionen von den Funktionsweisen kapitalistischer Strukturen aufzubrechen. Ich werde daher queer-feministische Kritiken an Kapitalismuskritiken rekonstruieren. In einem zweiten Schritt widme ich mich den Handlungsstrategien, die in den von mir analysierten queer-feministischen Kapitalismuskritiken zu finden sind. Welche Perspektiven bieten die Theorieansätze, um widerspenstige Alltagspraxen denken, leben und experimentieren zu können? Und welche Fragen ergeben sich aus der theoretischen Auseinandersetzung an die Analyse der Praxisbeispiele? Das folgende Kapitel 4 (Suchbewegung 2: Demokratietheoretische Erweiterung) widmet sich einer demokratietheoretischen Erweiterung der queer-
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feministischen Kapitalismuskritiken. Die Suchbewegung in diesem Kapitel ist folglich eine doppelte: Ich frage erstens danach, wie sich die Hinweise aus den queer-feministischen Kapitalismuskritiken auf ein bestimmtes Verständnis von Demokratie demokratietheoretisch ergänzen lassen und begebe mich zweitens auf die Suche nach demokratietheoretischen Ansätzen, die in der Lage sind, widerspenstige Alltagspraxen zu erfassen und zu beschreiben. Aus diesen beiden demokratietheoretisch geleiteten Suchbewegungen entwickle ich dann der Demokratiebegriff der Dissertation. Diesen theoriegeleiteten Überlegungen folgt dann in Kapitel 5 (Widerspenstige Alltagspraxen: Die Praxisbeispiele) die Aufarbeitung des empirischen Datenmaterials der Praxisbeispiele. Zur Erhebung meiner Daten habe ich Gruppendiskussionen durchgeführt. Die Durchführung der Gruppendiskussionen wurde mit den Fragen nach dem Selbstverständnis sowie den Alltagspraxen der Projekte angekündigt: „Ich möchte mit der Gruppendiskussion gerne festhalten, was das Mietshäuser Syndikat [die NewYorck im Bethanien, der Schwarze Kanal] eigentlich ist, welche Ideen, politischen Vorstellungen, Träume und Visionen dahinter stehen und wie die alltäglichen Widersprüche zwischen Anspruch und Alltag etc. verhandelt werden. Ganz besonders interessiert es mich, warum [...] Menschen versuchen, gesellschaftliche Alternativentwürfe zu denken, zu leben und zu experimentieren.“ (Sauer, 2010). In Kapitel 5.1. erläutere ich daher, warum ich mich für die Methode der Gruppendiskussion entschieden habe und lege meinen Forschungsprozess offen. Im Kapitel 5.2. folgt dann die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen. Sie orientiert sich sowohl an den Leitfragen, die ich den Gruppendiskussionsteilnehmer_innen im Vorfeld zur Verfügung stellte als auch an den Schwerpunktsetzungen, die die Diskussionen prägten. Das Kapitel 6 (Zusammenführung: Von der Praxis lernen?) verfolgt das Ziel, Theorie und Empirie systematisch zusammen zu bringen und ist der Beantwortung der zweiten Forschungsfrage – „Was kann die Theorieproduktion von den untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen lernen?“ – gewidmet.
2 Ausgangspunkt: Widerspenstige Alltagspraxen
Das vorliegende Kapitel dient der Klärung des Begriffs ‚widerspenstige Alltagspraxen‘. Konkret geht es mir darum, zu verdeutlichen, welche Praxisbeispiele ich im Kopf habe, wenn ich von widerspenstigen Alltagspraxen spreche. Hierfür möchte ich meine Untersuchungsbeispiele vorstellen (Kapitel 2.1) und eine sehr knappe Einordnung in den Kontext von Raum- und Stadtpolitiken vornehmen (Kapitel 2.2). Vor dem Hintergrund der Kontextualisierung meiner Praxisbeispiele werde ich mich dann in den folgenden Kapiteln den theoretischen Suchbewegungen widmen. Widerspenstige Alltagspraxen zeichnen sich sehr allgemein gesprochen dadurch aus, dass sie auf Dauer angelegte, kollektive Formen des Miteinander Lebens und Arbeitens zum Ziel haben, die einen herrschaftskritischen und antikapitalistischen Konsens teilen und am Konsens orientierte demokratische Umgangsweisen und Entscheidungsverfahren befürworten. Ich interessiere mich mit dieser Definition für kollektive Formen von Alltagspraxen, deren vorrangiges Ziel nicht in öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten liegt, sondern die konkreten Nahverhältnisse von Menschen im Fokus der Aktivitäten haben. Die drei ausgewählten Beispiele – das bundesweit aktive ‚Mietshäuser Syndikat‘ und die in Berlin ansässigen Projekte, der ‚Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien‘ und der queere Bauwagenplatz ‚Schwarzer Kanal‘ – lassen sich als Beispiele für Raum- und Stadtpolitiken lesen. Damit schreibe ich den konkreten widerspenstigen Alltagspraxen ein Handlungsfeld zu, das Agieren in politischen Auseinandersetzungen um Räume. Diese von mir gesetzte Zuordnung stellt gleichsam die inhaltliche Klammer meiner Praxisbeispiele dar. Diese Klammer wird getragen von der These, dass die Auseinandersetzung um Orte und Räume ein notwendiger Bestandteil antikapitalistischer Praxen ist. Es sollen Freiräume geschaffen werden, um (Alltags-)Wissen zu generieren, das ein Ausbrechen aus hegemonialen
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Strukturen und Verhältnissen denk- und lebbar macht. Der Begriff ‚Freiraum‘ soll an dieser Stelle nicht suggerieren, es sei möglich, sich bestehenden Herrschaftsverhältnissen zu entziehen oder ein ‚Außerhalb‘ gesellschaftlicher Strukturen zu schaffen. Widerspenstige Alltagspraxen als Freiräume zu bezeichnen weist auf das Ziel dieser Praxen hin, gesellschaftliche Verhältnisse emanzipatorisch zu überwinden.
2.1 Kurzvorstellung der Praxisbeispiele Alle drei Beispiele nehmen folglich Bezug zu stadtpolitischen Entwicklungen – Stichwort Gentrifizierung – und stellen Fragen zu Raumaneignung sowie zu selbstbestimmter Lebens- bzw. Wohnumfeldgestaltung. Da ich mich für diese Schwerpunktsetzung entschieden habe, findet sich in der Wahl meiner Beispiele nur ein Projekt mit explizit queer-feministischem Bezug. Ein Grund liegt sicher in der nach wie vor stark verbreitenden Blindheit gegenüber Geschlechterverhältnissen und Begehrensordnungen als wirkmächtige Herrschaftsstrukturen. Hinzu kommt, dass die Frage, wie Räume des Experimentierens geschaffen und in ihrer Existenz gesichert werden können, kein explizit queer-feministisches Themenfeld politischer Auseinandersetzungen ist. Auch wenn diese Orte durchaus durch unterschiedliche Formen der Zugangsmöglichkeiten, Grenzen und Gestaltungsmöglichkeiten geprägt sind, die nach wie vor eine Frage der Herkunft, sexuellen Orientierung, Geschlechtszuordnung usw. ist. Deshalb thematisiere ich in meiner Analyse ganz bewusst auch die herrschenden Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sowie den Umgang in den Projekten damit. Mit dem Mietshäuser Syndikat – das seinen Sitz und Ursprung in Freiburg hat und ein Regionalbüro in Berlin unterhält – und dem Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien1 beziehe ich mich auf zwei Beispiele, die besonders eindrücklich verdeutlichen, wie wichtig die Bereitstellung grundsätzlicher Infrastruktur in Form von Räumlichkeiten, Grundstücken etc.
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Zur leichteren Lesbarkeit verwende ich die Bezeichnungen ‚NewYorck‘, ‚Bethanien‘ und ‚Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien‘ synonym. Letztere wird kaum benutzt, stellt allerdings die exakte Begrifflichkeit dar, da diese, die im Südflügel beheimateten Projekte und Initiativen bezeichnet, die sich zum Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien zusammengeschlossen haben. Manchmal findet sich auch noch der Name ‚NewYorck59‘, der auf die Entstehungsgeschichte Bezug nimmt.
Ausgangspunkt | 25
ist, um befähigt zu sein, Alternativen überhaupt zu denken. Da im Bethanien auch die Regional AG Berlin/Brandenburg des Mietshäuser Syndikats zu finden ist und das Vorgängerprojekt der NewYorck – das Hausprojekt Yorck59 – versuchte, die Immobilie in der Yorckstraße 59 mit Hilfe des Syndikats zu erwerben und damit dauerhaft kapitalistischer Verwertung zu entziehen, findet sich eine weitere Gemeinsamkeit: Die Idee mittels aktueller gesellschaftlicher Rechtsformen und Regularien Prozesse anzustoßen, die die Gesellschaftsordnung infrage stellen beziehungsweise emanzipatorische Impulse aus den gegebenen und durchaus widersprüchlichen Ordnungsprinzipien herausarbeiten. Der queere Bauwagenplatz Schwarzer Kanal als drittes Beispiel versteht sich als ein Projekt, das nicht nur aus den Bewohner_innen des Platzes besteht, sondern die Nutzer_innen mit einbezieht. Der Schwarze Kanal war einige Jahre akut von einer Räumung bedroht. Es ist dem Engagement vieler Aktivist_innen u.a. aus der internationalen queer-feministischen Community zu verdanken, dass der Platz zwar dem stadtplanerischen Konzept ‚Media Spree‘ weichen musste, allerdings ein neues Gelände zur Nutzung zur Verfügung gestellt bekam. Neben dem Link zur Bürger_inneninitiative ‚Media Spree versenken!‘ – die sehr vehement das Recht der Bewohner_innen auf die Mitgestaltung von unten einfordert und die ihre Basis in der NewYorck hat – ist für mich vor allem die explizit queer-feministische und antikapitalistische Ausrichtung des Schwarzen Kanals von Interesse. Hier geht es vor allem um die Schaffung eines Raumes, der das Leben und Experimentieren jenseits normierter Geschlechter- und Begehrensordnungen sichtbar macht. Mit dem Schwarzen Kanal habe ich folglich ein Beispiel gewählt, dass queer-feministische Anliegen in den Hauptfokus der politischen Arbeit nimmt. 2.1.1 Das Mietshäuser Syndikat: Selbstorganisiert wohnen, solidarisch wirtschaften Das Mietshäuser Syndikat2 entstand in den 1990er Jahren im Rahmen der Freiburger Hausbesetzer_innenszene zur Legalisierung und zum Kauf um-
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Alle Informationen stammen – sofern nicht anders angegeben – von der Homepage des Mietshäuser Syndikats (Mietshäuser Syndikat, 2013a) sowie der fünften Ausgabe der Broschüre „Rücke vor zur Schlossallee. Das Mietshäuser Syndikat und seine Hausprojekte“ (Mietshäuser Syndikat, 2010a), die ebenfalls auf der Homepage als Download zur Verfügung steht.
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kämpfter Räume. Der Gründung des Mietshäuser Syndikat 1994 (Verein) bzw. 1995 (GmbH) voraus ging der 1989 gegründete Verein ‚Mietshäuser in Selbstorganisation‘. Als Ausgangsprojekte und Mitinitiator_innen der Synikatsidee zählen Aktivist_innen aus der Kommune ‚Gasthaus Krone‘ in Sulzburg (Gründung 1978) sowie aus der ‚Grether Fabrik‘ in Freiburg, deren Abriss erfolgreich verhindert wurde und damit ein Projekt in Selbstverwaltung gegründet werden konnte (vgl. Flieger, 2001, S. 6f.). Zentrale Grundidee des Syndikats ist es, sowohl Immobilien dauerhaft dem Immobilienmarkt und damit kapitalistischer Verwertung zu entziehen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Projekte unabhängig von ihren aktuellen Bewohner_innen fortbestehen können. Darüber hinaus soll ein Rahmen geschaffen werden, andere Projekte in ihrer Entstehung zu unterstützen. Bezahlbarer Wohnraum, Platz für politische Initiativen, Projekte und Gruppen, die aktiv sein können ohne regelmäßig existentielle Kämpfe der Selbsterhaltung führen zu müssen, Gemeineigentum3 an Grundstücken und Gebäuden und die Idee der autonomen Selbstverwaltung der einzelnen Projekte stehen im Mittelpunkt des Engagements. „Eigentlich dürfte es uns gar nicht geben. Denn wir verstoßen schon vom Ansatz her gegen die Marktgesetze: Profitstreben, Kapitalverwertung und persönlicher Eigentumserwerb gelten als unverzichtbare Grundlage aller Wirtschaftsunternehmungen. Aber uns gibt es – das Syndikat und die Projekte – und wir sind unter ihnen: Wir tummeln uns im Dickicht der Stadt unter Baulöwen und Immobilienhaien, unter Häuslebauern und Wohnungseigentümer_innen, unter Wohnungsbaugesellschaften und Kapitalanlageunternehmen. Wir konkurrieren mit ihnen um die eine oder andere Immobilie und spielen das Monopoly im Maßstab 1:1. Wir basteln mit Eifer am wachsenden Unternehmensverbund des Mietshäuser Syndikats.“ (Mietshäuser Syndikat, 2013b, S. 13)
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Gemeineigentum meint nicht gemeinsames oder genossenschaftliches Eigentum, sondern neutralisiertes Eigentum. D.h. das Eigentum kann nicht wieder privatisiert und in den Immobilienmarkt integriert werden. Nach Burghard Flieger handelt es sich um eine Form von Gemeineigentum, bei der begrenzte Nutzungs- und Verfügungsrechte bei den Mieter_innen bzw. den Bewohner_innen liegen (vgl. Flieger, 2001, S. 11).
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Mittlerweile existieren im Verbund des Mietshäuser Syndikats 106 Projekte und 21 Projektinitiativen.4 Das Syndikatsmodell dient weder als hierarchische Struktur, der die einzelnen Projekte untergeordnet sind noch steht die gegenseitige Vernetzung im primären Fokus – auch wenn sie ein erwünschtes Ergebnis des Syndikatsmodells ist. Vielmehr geht es darum, mit den Mitteln einer aktuellen kapitalistischer Organisationsform – der Rechtsform Gemeinschaft mit begrenzter Haftung (GmbH) – Effekte zu erzielen, die einer kapitalistischen Verwertungslogik diametral entgegen stehen. So sollen Projekte in Gründung im Kauf ihrer Immobilien unterstützt und über Transfermaßnahmen der Erwerb von weiteren Häusern und Grundstücken finanziell und mit Know-how gefördert werden, so dass immer mehr Orte entstehen, die auf Dauer und nachhaltig dem Immobilienmarkt entzogen sind. Grundstruktur des Syndikatsmodells Grundlage des Syndikatsmodells ist eine Hausbesitz-GmbH, die sich jeweils aus einem Hausverein und aus der Mietshäuser Syndikats GmbH zusammensetzt. Im Hausverein organisiert sich die Gruppe, die eine Immobilie erwerben will oder bereits erworben hat. Die Mietshäuser Syndikats GmbH besitzt einen einzigen Gesellschafter, den Verein des Mietshäuser Syndikats. Beide Gesellschafter_innen der Hausbesitz-GmbH haben jeweils eine Stimme, wenn es um Fragen des Immobilienvermögens geht. Da laut § 47 GmbHG (Paragraph 47, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung) (GmbHG, 1892) Beschlüsse in GmbHs immer Mehrheitsbeschlüsse sein müssen, kann deshalb nur eine gemeinsame Entscheidung getroffen werden. Insofern muss bei Entscheidungen, die vom Mietshäuser Syndikat und Hausprojekt gefällt werden, immer ein Konsens gefunden werden. Die Festlegung auf Beschlüsse im Konsensverfahren lese ich als einen libertär-demokratischen Anspruch, der mit der Grundstruktur des Mietshäuser Syndikats sichergestellt werden soll. „Im Ergebnis entsteht durch die beschriebene Beteiligung des Syndikats an den Hausbesitz-GmbHs ein Unternehmensverbund selbstorganisierter Hausprojekte, die sich der Idee des Solidartransfers von Altprojekt zu Neuprojekt verpflichtet haben. Die generelle Autonomie der Projekte wird durch ein Veto-
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Projektinitiativen sind Gruppen, die noch auf der Suche nach einem geeigneten Objekt sind und/oder noch in den Kaufverhandlungen sind. Zahlen von der Homepage des Mietshäuser Syndikats im Frühjahr 2016.
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recht des Mietshäuser Syndikats gegen Zugriffe auf das Immobilienvermögen eingeschränkt, um eine mögliche Reprivatisierung und erneute Vermarktung der Häuser zu blockieren. Das Mietshäuser Syndikat als Bindeglied bildet das stabile organisatorische Rückgrat des Verbundes, in dem sich ein vielfältiges Geflecht von Beziehungen, auch direkt zwischen den Projekten, entwickelt und Kommunikation und Solidartransfer ermöglicht wird.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010a, S. 7) Faktisch wird dem Mietshäuser Syndikat beziehungsweise der Mietshäuser Syndikats GmbH als Gesellschafterin der Hausbesitz-GmbH ein Vetorecht beim Hausverkauf, Satzungsänderung des Gesellschaftsvertrags sowie bei der Ergebnisverwendung5 eingeräumt. Damit kann eine Reprivatisierung der Immobilien im Verbund des Mietshäuser Syndikats verhindert werden. Die Geschäftsführung der Hausbesitz-GmbH liegt beim Hausverein, der sich in Selbstverwaltung organisiert. Dieser besitzt ebenso ein Vetorecht in den
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GmbHG § 29 Ergebnisverwendung vom 1. November 2008: „(1) Die Gesellschafter haben Anspruch auf den Jahresüberschuß zuzüglich eines Gewinnvortrags und abzüglich eines Verlustvortrags, soweit der sich ergebende Betrag nicht nach Gesetz oder Gesellschaftsvertrag, durch Beschluß nach Absatz 2 oder als zusätzlicher Aufwand auf Grund des Beschlusses über die Verwendung des Ergebnisses von der Verteilung unter die Gesellschafter ausgeschlossen ist. Wird die Bilanz unter Berücksichtigung der teilweisen Ergebnisverwendung aufgestellt oder werden Rücklagen aufgelöst, so haben die Gesellschafter abweichend von Satz 1 Anspruch auf den Bilanzgewinn. (2) Im Beschluß über die Verwendung des Ergebnisses können die Gesellschafter, wenn der Gesellschaftsvertrag nichts anderes bestimmt, Beträge in Gewinnrücklagen einstellen oder als Gewinn vortragen. (3) Die Verteilung erfolgt nach Verhältnis der Geschäftsanteile. Im Gesellschaftsvertrag kann ein anderer Maßstab der Verteilung festgesetzt werden. (4) Unbeschadet der Absätze 1 und 2 und abweichender Gewinnverteilungsabreden nach Absatz 3 Satz 2 können die Geschäftsführer mit Zustimmung des Aufsichtsrats oder der Gesellschafter den Eigenkapitalanteil von Wertaufholungen bei Vermögensgegenständen des Anlage- und Umlaufvermögens und von bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung gebildeten Passivposten, die nicht im Sonderposten mit Rücklageanteil ausgewiesen werden dürfen, in andere Gewinnrücklagen einstellen. Der Betrag dieser Rücklagen ist entweder in der Bilanz gesondert auszuweisen oder im Anhang anzugeben“ (GmbHG, 1892).
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bereits genannten drei Fällen (Hausverkauf, Satzungsänderung, Ergebnisverwendung). So genannte feindliche Übernahmen, das heißt der Verkauf von Anteilen gegen den Willen von Gesellschafter_innen werden in der Satzung des Gesellschaftsvertrags ausgeschlossen. Theoretisch ist es möglich, dass der Hausverein oder die Mietshäuser Syndikats GmbH als Gesellschafter_in austreten, allerdings werden im Gesellschaftsvertrag mögliche finanzielle Anreize eines Ausstiegs gebannt, da lediglich eine Rückzahlung des eingezahlten Stammkapitals6 vorgesehen ist. Wertsteigerungen werden folglich nicht berücksichtigt. Durch die vorgestellten Regularien dienen sowohl die Hausbesitz-GmbHs als auch die Mietshäuser Syndikats GmbH als zentrale Instrumente der Kapitalneutralisierung. Kapitalneutralisierung meint hier konkret, dass eine einmal über das Mietshäuser Syndikat erworbene Immobilie nicht mehr verkauft werden kann. Das heißt, das in den Kauf investierte Geld kann nicht mehr in den Kapitalkreislauf zurückgeführt werden, um in der marxschen Terminologie aus G (Geld, das für den Kauf der Immobilie X ausgegeben wurde) G’ zu generieren, wobei G’ größer als G ist. Die Differenz zwischen G’ und G wird als Mehrwert bezeichnet und entsteht im Kapitalkreislauf Geld – Ware – Geld’. „Kapital ist nicht einfach Wert, sondern sich verwertender Wert, d.h. eine Wertsumme, die die Bewegung G – W – G’ vollzieht“ (Heinrich, 2005, S. 83) und genau dieser Kreislauf wird durch die so genannte Kapitalneutralisierung unterbrochen. Der bereits mehrmals erwähnte Solidartransfer wird auf finanzieller Ebene maßgeblich mit Hilfe eines Solidartopfes gesichert. Der so genannte Solidarfonds ist ein Treuhandvermögen, also ein Zweck- beziehungsweise Sondervermögen, das von der Mietshäuser Syndikats GmbH verwaltet wird. In diesen Topf zahlen Neuprojekte in ihrer Anfangsphase fünf bis 10 Cent pro Quadratmeter Nutzungsfläche ein, ältere Hausprojekte zahlen 25 Cent pro Quadratmeter. Mit dem Geld werden im Falle von Finanzierungslücken Kredite gewährt und in Teilen die Stammeinlagen des Syndikats bei Projektgründungen entnommen. Der Hauptteil des Geldes geht in die Öffentlichkeitsarbeit sowie in Infrastrukturkosten für die ehrenamtlichen Beratungsund Anlaufkosten für Projektinitiativen (vgl. Flieger, 2001, S. 20f.). Das im Mietshäuser Syndikat praktizierte Syndikatsmodell basiert auf Vorschlägen der Dissertation von Matthias Neuling (1985) „Auf fremden
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Zur Gründung einer GmbH in Deutschland ist eine Kapitaleinlage von mindestens 25.000€ notwendig (GmbH Gesetzt § 5), diese Summe wird als Stammkapital bezeichnet (GmbHG, 1892).
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Pfaden: Ein Leitfaden der Rechtsformen für selbstverwaltete Betriebe und Projekte“. Ursprünglich wurde bei den Initiator_innen des Syndikats die Rechtsform Genossenschaft favorisiert. Allerdings sahen sich die Aktivist_innen mit dem juristischen Problem konfrontiert, mit Hilfe des Genossenschaftsmodells lediglich eine Genossenschaft gründen zu können, die dann den einzelnen Projekten deutlich weniger Autonomie gewähren könnte als es im Verbundmodell mit GmbHs möglich ist. Damit verknüpft wären aus Sicht des Mietshäuser Syndikats ein hoher bürokratische Aufwand und hierarchische Strukturen, die mit dem Anspruch auf Selbstverwaltung und Selbstorganisation von unten kaum zu vereinbaren sind. Demgegenüber kommt Burghard Flieger in seiner Expertise zu dem Schluss, dass das Mietshäuser Syndikat trotz seiner rechtlichen Form – der GmbH – die vier wesentlichen Charakteristika einer Genossenschaft aufweist: Dazu zählen das Förder-, das Identitäts-, das Demokratie- und das Solidarprinzip (vgl. Flieger, 2001, S. 24ff.). Im Förderauftrag von Wohnungs(bau)genossenschaften wird der dauerhaften Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum mehr Gewicht als der Verwertung von Kapital sowie der Erwirtschaftung von Gewinn beigemessen. Das Identitätsprinzip besagt, dass zwei Rollen, die sich auf dem kapitalistischen Markt gegenüberstehen in einer Person vereinigt sind. Das heißt konkret, dass es im Syndikatsmodell ähnlich wie bei den Genossenschaften keine Mieter_innen und keine Vermieter_innen gibt. Alle Beteiligten an einem Syndikatsprojekt sind demnach sowohl Mieter_in als auch Vermieter_in in einer Person. Das genossenschaftliche Demokratieprinzip ‚eine Person, eine Stimme‘ wird durch den Anspruch der Selbstverwaltung sowie der Entscheidung mittels Konsensverfahren konsequenter erfüllt als es bei Wohnungs(bau)genossenschaften in der Regel zu finden ist. Auch das Charakteristika des Solidarprinzips – bekannter als ‚Genossenschaftsgeist‘ – ist beim Mietshäuser Syndikat stärker vertreten als es bei Genossenschaften üblich ist. Vor allem bei Fragen im Bereich der Unternehmenskultur lässt sich Burghard Flieger folgend die Tendenz festhalten, dass genossenschaftliche Werte bei den Wohnungs(bau)genossenschaften einen geringen Stellenwert einnehmen als beim Mietshäuser Syndikat. In Teilen wird von den Verwaltungen der Genossenschaften das Solidarprinzip als Merkmal einer Genossenschaft selbst infrage gestellt.7
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Die unmittelbare Nähe zum Genossenschaftsgedanken zeigt sich auch darin, dass das Mietshäuser Syndikat im Jahr 2012 am Tag der Genossenschaften
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Organisationsstruktur im Verbund des Mietshäuser Syndikats Der Verein des Mietshäuser Syndikats trifft sich circa dreimal jährlich zur Mitgliederversammlung. Dort wird die Aufnahme neuer Projektinitiativen beschlossen, über die laufende Arbeit informiert, anstehende Fragen diskutiert, Workshops durchgeführt etc. Die Mitgliederversammlung ist auch das Organ, das Weisungen an die Mietshäuser Syndikats GmbH erteilt. Diese GmbH stellt vor allem aus rechtlichen Gründen den ökonomischen Arm des Vereins dar und unterhält das Büro in Freiburg. Bevor sich ein Projekt um Aufnahme im Mietshäuser Syndikat bewirbt, erfolgen im Büro des Mietshäuser Syndikats in Freiburg oder durch die regionalen Koordinations- und Beratungsstellen erste Beratungs- und Kooperationsgespräche. Die Büros organisieren sich autonom und kollektiv durch ein regelmäßig tagendes Plenum. Eine der regionalen Beratungsstellen ist die Regional AG Berlin/Brandenburg, die sich im Berliner Stadtteilbüro im Bethanien trifft. Die Koordinationsstelle in Tübingen beispielsweise bietet neben der kostenlosen Beratung auch Workshops und Vorträge zu den Themen SyndikatsModell, Gründung von Hausverein und GmbH, Gruppenprozesse und Organisationsformen, Finanzierung von Wohnprojekten inklusive Sanierungskosten und Fördermittel und Strategien bei politischen Auseinandersetzungen sowie Kaufverhandlungen an (Mietshäuser Syndikat Tübingen, 2013). Im Mittelpunkt der Beratungstätigkeiten stehen somit die Weitergabe von Wissen sowie die praktische Unterstützung von Projektinitiativen. Darüber hinaus soll über Vorträge und Informationsveranstaltungen Öffentlichkeit hergestellt und die Idee des Verbundprojektes Mietshäuser Syndikat verbreitet werden. Damit die Projektinitiativen bei einem Scheitern ihres Vorhabens keine Schulden haben, erfolgt die Projektunterstützung und Beratungsarbeit ausschließlich kostenfrei und durch ehrenamtliches Engagement von Mitgliedern des Syndikats. Die in der Beratung tätigen Menschen treffen sich im Rahmen der Mitgliederversammlung zum gegenseitigen Austausch und zur Verbesserung der Arbeit. Ursprünglich war angedacht, mit Hilfe der Regionalbüros eigenständige Syndikate aufzubauen. Die Syndikats-Mitgliederversammlung hat sich allerdings Ende 2003 dagegen entschieden. Es sollen folglich zwar weiterhin regionale Strukturen aufgebaut werden, allerdings im Verbund mit dem
den Klaus Novy Preis für Innovationen beim genossenschaftlichen Bauen und Wohnen erhalten hat (vgl. Rost, 2012).
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Mietshäuser Syndikat als Gesamteinheit. Damit wird vermutlich angestrebt, die Balance zwischen dezentraler Organisierung und ressourcensparender Zentralisierung zu halten. Diese Lösung dient wohl dem Ziel, sehr zeitund ressourcenaufwändigen Doppelstrukturen zu vermeiden und gleichzeitig über die Regionalstruktur Wissenshierarchien abzubauen sowie regionale Besonderheiten besser zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist bereits in der Syndikatsidee verankert, Projekte, die nicht vor der eigenen Haustüre existieren in das eigene Handeln und Denken zu integrieren. Zentrale „Handlungsrichtschnur bleibt der universalistische Grundsatz: Recht auf Wohnraum für alle. Solange der Syndikatsverbund die Grundstücksgrenzen und Selbstbezogenheit der einzelnen Hausprojekte überwindet, gibt es keinen wirklichen Grund, an Regional- und Ländergrenzen halt zu machen. Der Solidartransfer soll Ausgleich schaffen zwischen Ressourcenmagel einerseits und Ressourcenüberschuss andererseits, auch an verschiedenen Orten. Das ist ein Kontrastprogramm zum kapitalistischen Investitionsverhalten, welches Kapital als Hebel benutzt, um über Zinsen ein Vielfaches der investierten Gelder wieder heraus zu holen.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010a, S. 13) 2.1.2 Die NewYorck im Bethanien: Raum emanzipatorischer Projekte Die NewYorck im Bethanien befindet sich im Südflügel des als Bethanien bezeichneten Gebäudekomplexes am Mariannenplatz im Berliner Stadtteil Kreuzberg – die Räumlichkeiten wurden ursprünglich als Krankenhaus genutzt. Sowohl das Gebäude als auch die NewYorck können auf eine lange Geschichte zurückblicken: Das Bethanien steht für viele Menschen in Berlin nach wie vor als ein Symbol für Häuserkampf, Rebellion gegen die herrschenden Strukturen und Stadtpolitik ‚von unten‘ mit emanzipatorischen Anspruch. So wurde das Bethanien mehrmals besetzt, um nachdrücklich die Frage der Nutzung des Hauses als öffentliche Angelegenheit der Anwohner_innen zu definieren. Deren Vorstellungen standen (bzw. stehen) oftmals im Konflikt mit stadtplanerischen Konzepten. Die wohl bekannteste Besetzung des zum Gebäudekomplex zählenden ‚Georg von Rauch Hauses‘ dürfte in dem Ton-Steine-Scherben ‚Rauch-Haus-Song‘ aus den 1970er Jahren besungen werden (Zur Geschichte des Bethaniens vgl. Bethanien, 2013).
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Entstehungsgeschichte der NewYorck im Bethanien: Eine erfolgreiche Wiederaneignung von Raum Auch das Projekt NewYorck begann als eine Wiederaneignung von Raum – hier wurde der wütende Slogan ‚Nach der Räumung ist vor der Besetzung!‘ trotz Berliner Linie8 erfolgreich in die Tat umgesetzt. Im Jahr 2005 wurde das seit 1989 bestehende Hausprojekt in der Yorckstraße 59 in Kreuzberg – kurz Yorck599 genannt – geräumt, da die Mieter_innen den Plänen des neuen Hausbesitzers im Wege standen. Dieser wollte aus dem alten Fabrikgebäude (Luxus-)Lofts für wohlhabende Menschen bauen und damit zur anhaltenden ‚Aufwertung‘ des Stadtteils Berlin-Kreuzberg beitragen, die mit einer massiven Verdrängung der dort lebenden einkommensschwächeren Menschen einhergeht und eine Phase in städtischen Gentrifizierungsprozessen darstellt.10 Zuvor wurde im Winter 2003 der Kauf der Immobilie durch die Bewohner_innen der Yorck59 mit Hilfe des Mietshäuser Syndikats von der Gläubiger-Bank vereitelt, da diese die zu diesem Zeitpunkt zwangsverwaltete Immobilie an den Mieter_innen vorbei an den heutigen Besitzer verkaufte. Auf kommunalpolitischer Ebene wurde – trotz Verhandlungen und Gesprächsrunden – keine einvernehmliche politische Lösung des Konflikts gefunden. Stattdessen wurde das Hausprojekt geräumt. Der Räumungstitel, der der Räumung zugrunde lag, wurde später gerichtlich als nicht rechtsmäßig eingestuft. Fünf Tage nach der Räumung wurde am 11.06.2005 im Zuge des internationalen Straßentheater Festivals ‚Berlin lacht!‘11 der leerstehende Südflügel des Bethaniens besetzt. Das Festival findet seit seinem Bestehen im Jahr 2004 auf dem Mariannenplatz in Berlin Kreuzberg statt. In den besetzten Räumlichkeiten des Südflügels befand sich zuletzt das Sozialamt. Eigentlich sollte das stadteigene Gebäude an private Investoren verkauft werden, um dort ein ‚Internationales kulturelles Gründerzentrum‘ zu etablieren.
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Die Berliner Linie – auch Berliner ‚Linie der Vernunft‘ genannt – wurde 1981 eingeführt. Die Verordnung besagt, dass ein besetztes Gebäude ohne richterlichen Beschluss innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden der Besetzung von der Polizei zu räumen ist. Danach erst Bedarf es des offiziellen Rechtsweges und damit eines gültigen Räumungsbescheids (Berliner Linie, 2013).
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Informationen zum Hausprojekt Yorckstraße 59 gibt es im Internet unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Yorck59 (Yorck59, 2013).
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Mehr zu Gentrifizierung später im Kapitel. Zur Geschichte des Festivals Berlin lacht!: http://berlin-lacht.de/ (Berlin lacht!, 2013).
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Die Besetzer_innen unterstützten mit ihrer Aktion die Initiative Zukunft Bethanien (IZB)12 und verbanden dadurch ihre Forderungen nach einem Ersatzobjekt mit der Intervention in eine Auseinandersetzung um stadtpolitische Entwicklungen. Das IZB hat(te) zum Ziel, anstelle des vorgesehenen Internationalen kulturellen Gründerzentrums ein kulturelles, künstlerisches, politisches und soziales Zentrum von unten zu etablieren. Dieses Zentrum sollte unter Beteiligung der Anwohner_innen sowie der im Bethanien ansässigen Mieter_innen und Initiativen konzipiert, und durch das erste Bürger_innenbegehren auf Bezirksebene in Berlin (im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg) durchgesetzt werden. Das Bürger_innenbegehren wurde 2006 formal durch einen Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) erfolgreich abgeschlossen (vgl. DS/2173-1/II, 2008; DS/2173-2/II, 2008). Allerdings scheitert die konkrete Umsetzung der Pläne bisher maßgeblich am politischen Willen von Politiker_innen der BVV sowie von zwei Mieter_innen des Hauptgebäudes, der Druckwerkstatt im Kulturwerk des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlin (Druckwerkstatt, 2013)13 und dem mittlerweile ausgezogenen Künstlerhaus Bethanien GmbH (Künstlerhaus Bethanien, 2013). Formal wurde das Gebäude mit einem BVV Beschluss aus dem Jahr 2008 an die Gesellschaft für Stadtentwicklung gGmbH (GSE) als Treuhänderin übergeben. Seither wird der Südflügel des Gebäudes offiziell von den Nutzer_innen in Selbstverwaltung und weitgehend unabhängig betreut. Die Besetzer_innen erhielten im Zuge der Verhandlungen als Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien14 gültige Mietverträge.
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Homepage der IZB: http://www.bethanien.info/home/izb.html (IZB, 2010).
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Die Druckwerkstatt bbk ist eine nicht-kommerziell arbeitende Druckwerkstatt für Künstler_innen.
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Zu den Projekten zählen (Stand 2010): Spielräume - Kitaprojekt. Ein Projekt der Kindergruppe Kreuzberg Nord e.V.; Theaterspielraum. Theaterpädagogisches Zentrum: mit Theaterbündnis Blumenstrauß e.V., Berlin lacht e.V. Internationales Straßentheater Festival, u.a.; Heilpraktikschule. Verein zur Förderung der naturheilkundlichen Medizin e.V.; Projektzusammenhang NewYorck im Bethanien - Raum emanzipatorischer Projekte: Dazu zählen selbstorganisierte Migrant_innengruppen, die Dokumentationsgruppe der Antirassistischen Initiative, die Globale (ein globalisierungskritisches Filmfestival), die Anarchistische Föderation Berlin (AFB), das Anti-Kriegs-Cafe, die Kollektivbibliothek, verschiedene Stadtinitiativen (Mediaspree versenken!, Spreepi-
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Der Projektzusammenhang NewYorck heute Heute bezeichnet sich die NewYorck im Südflügel des Bethaniens als ein „Raum emanzipatorischer Projekte“ (NewYorck, 2013) mit Büros, einer großen Veranstaltungsetage sowie einem Wohnbereich und dient als beliebter Anlaufpunkt sowohl für die linke Szene in Berlin als auch für die Anwohner_innen im Kiez15 . Die NewYorck ist folglich mittlerweile mehr als ein Hausprojekt mit Platz für politische Initiativen und Gruppen. Es versteht sich als ein Zusammenhang, der sich an der Idee eines ‚Bethanien für Alle!‘ orientiert und ein kulturelles, künstlerisches, politisches und soziales Zentrum zum Ziel hat. Auf dem monatlich tagenden Projektplenum können sich deshalb jederzeit neue Gruppen und Initiativen vorstellen und aktiv in den Projektzusammenhang einbringen. Besonders interessant ist das Bethanien für meine Analyse vor allem deshalb, weil sich von hier aus verschiedene Initiativen von Bewohner_innen Berlins organisieren und mit ihrem Engagement Einfluss auf stadtpolitische Entwicklungen nehmen.16 Im Südflügel des Gebäudes finden die Gruppen wichtige Infrastruktur in Form von Veranstaltungs- und Büroräumen sowie Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen Initiativen und Interessierten. Neben dem bereits erwähnten Bürger_innenbegehren Initiative Zukunft Bethanien ist vor allem das Engagement gegen die aus den 1990er Jahren stammenden Pläne der Nutzung des Spreeufers zu nennen. Der Bürger_innenentscheid ‚Spreeufer für alle!‘ der Initiative ‚Media Spree Versenken! AG Spreeufer‘ wurde im Juli 2008 durchgeführt. Hier sprachen sich
rat_innen, Steigende Mieten stoppen!), die Regionalgruppe Berlin des Mietshäuser Syndikats, reflect! e.V., etc. (vgl. IZB, 2010). 15
Kiez ist in Berlin die gängige Bezeichnung für Stadtteil. Oft werden damit die angrenzenden Straßen rund um den Wohnort bezeichnet. Bei der KiezZuordnung werden nicht unbedingt die offiziellen Bezirksgrenzen herangezogen wie die Kiezbezeichnung ‚Kreuzkölln‘ gut veranschaulicht. Das relativ neue Kreuzkölln beschreibt das Wohngebiet in Nord-Neukölln südlich des Landwehrkanals, das zum Berliner Bezirk Neukölln gehört und sich zwischen Kottbusser Damm, Sonnenallee und Weichselstraße befindet. Die gefühlte Nähe zum beliebten Bezirk Kreuzberg wird in der Wortneuschöpfung deutlich (vgl. z.B. Nikolow, 2009).
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Eine spannende Entwicklung ist aktuell in Hamburg zu finden, die mit der Frage „Wem gehört die Stadt?“ und die Forderung „Recht auf Stadt“ neoliberale Veränderungsprozesse in Hamburg massiv herausfordert.
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87% der Wähler_innen17 gegen die geplante Nutzung des Spreeraumes aus und forderten unter anderem einen 50 Meter breiten und für alle frei zugänglichen Uferstreifen, den Verzicht des Baus von Hochhäusern oberhalb der Berliner Traufhöhe sowie einer weiteren Autobrücke über die Spree. (Bezirkswahlamt Friedrichshain-Kreuzberg, 2008) Kurz-Informationen zum Projekt Media Spree Das so genannte Projekt Media Spree wird zwar nicht zentral von der Stadt Berlin gesteuert, allerdings auf der Homepage als stadtplanerisches Leitbild ‚Spreeraum‘ gehandelt. Die Begrifflichkeit Media Spree dient vielmehr als Label, mit dem die Stadt zahlungskräftige Investor_innen anwirbt, um entlang des Spreeufers Kommunikations- und Medienunternehmen anzusiedeln und die dort vorhandenen so genannten ungenutzten Flächen oder Flächen in Zwischennutzung mit Lofts, Hotels, Bürokomplexe usw. zu bebauen. Im Vordergrund stehen dabei nicht die Bedürfnisse der Bewohner_innen in den angrenzenden Wohngebieten, sondern vielmehr der urbane Flair einer wohlsituierten Metropole sowie die Interessen der Investor_innen.18 Bis zum Ende der öffentlichen Förderung im Jahr 2008 war der Verein ‚Regionalmanagement mediaspree e.V.‘ eine wichtige Anlaufstelle für die Umsetzung des Media Spree Vorhabens im Sinne des Leitbilds Spreeraum der Stadt Berlin. Vorläufer des Vereins war die ‚Media Spree Berlin GmbH‘, ein privatwirtschaftlicher Zusammenschluss von Personen aus der Bau- und Immobilienwirtschaft, Grundstückseigentümer_innen im Media Spree Gebiet sowie Vertreter_innen aus der Senats- und Bezirksebene sowie von Vertreter_innen der Industrie und Handelskammer (IHK). Dem Projekt NewYorck ist es – wie die erwähnten Initiativen Media Spree Versenken und Initiative Zukunft Bethanien beispielhaft zeigen – folglich immer wieder gelungen, über die eigene subkulturelle Szene hinaus Menschen anzusprechen und an die Bedürfnisse der Menschen vor Ort anzuknüpfen. Damit sind Lern- und Öffnungsprozesse verbunden, die einen nicht zu
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Die Wahlbeteiligung lag bei 19,1%. Das Wahlergebnis hat keine bindende Wirkung zur Folge.
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So ist auf der Homepage der Stadt Berlin für die Entwicklung des Leitbild Spreeraums zu lesen, dass die Besonderheit des Planungsprozesses „die Parallelität der Leitbild- und Projektentwicklung [war]. Die privaten Investitionsabsichten der Anschutz Entertainment Group für die Arena am Ostbahnhof haben die Leitbildentwicklung wesentlich mitbestimmt“ (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, 2001).
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unterschätzenden Wert darstellen, wenn emanzipatorische Utopien gedacht, gelebt und experimentiert werden sollen und gesellschaftsverändernde Kraft entwickeln sollen. Das Engagement erstreckt sich allerdings nicht nur auf die öffentlichkeitswirksame Einbeziehung von Interessen der Anwohner_innen in stadtpolitische Belange und die damit einhergehende Thematisierung gesellschaftlicher Entwicklungen, wie beispielsweise die Orientierung städtischer Planungsprozesse an einer neoliberalen Logik, die massiv zur Gentrifizierung beiträgt, sondern auch in weniger sichtbaren Bereichen, z.B. im Feld strukturell rassistischer Ausgrenzung. An dieser Stelle ist die Arbeit der ARI (Antirassistische Initiative) hervorzuheben. Das seit 1988 bestehende Projekt hatte bereits seine Räumlichkeiten in der Yorck59, heute ist die Dokumentationsstelle in der NewYorck, weitere Räumlichkeiten finden sich in der Colbestraße in Berlin. Die ARI verfolgt als einen ihrer Schwerpunkte Flüchtlingspolitik. Im Rahmen ihrer Arbeit veröffentlicht sie beispielsweise jährlich die Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ (ARI, 2013). Die ZAG, eine Zeitschrift für antirassistische Theorie mit dem Ziel der Entwicklung von Handlungsperspektiven, erscheint mehrmals jährlich (zur Zeit halbjährlich). (ZAG, 2013) Sie wird ebenfalls von der ARI herausgegeben und von einer eigenständigen Arbeitsgruppe erstellt. 2.1.3 Der Schwarze Kanal: Ein Queerer Bauwagenplatz Der Schwarze Kanal19 ist ein Frauen-Lesben-Trans*20 Bauwagenplatz mit queer-feministischem Anspruch, der im Frühjahr 2010 von seinem letzten Standort in der Michaelkirchstraße im Berliner Bezirk Mitte in die Kiefholzstraße in Berlin Neukölln umziehen musste. Die Umzug ist das Ergeb-
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Alle Informationen stammen, soweit nicht anders angegeben, von den Homepages: http://www.schwarzerkanal.squat.net/Project.html (Schwarzer Kanal, 2010a) und http://queersandwagen.blogsport.de/txt/ (Queer and Rebel, 2009). Die Homepage des Schwarzen Kanals (Schwarzer Kanal, 2010a) ist nicht mehr online (Stand Frühjahr 2016).
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Trans* bezeichnet Menschen, die ein anderes Geschlecht leben als ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde und schließt alle mit ein, die sich nicht in die binäre Mann-Frau Kategorie einordnen.
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nis eines langen Kampfes gegen eine profitorientierte Stadtpolitik und den damit einhergehenden Räumungsbedrohungen. „Nach jahrelangem Streit um Räumung oder politische Lösung ist nun eine schwierige Entscheidung gefallen: Der Wagenplatz Schwarzer Kanal zieht um und verläßt voller Wut aber auch mit Hoffnung das Gelände in der Michaelkirchstraße und somit den Kiez. Wir wissen, daß wir so der Stadtumstrukturierung, Vertreibung und Media Spree nachgeben, doch wir hoffen auch, so einen längerfristigen Erhalt des Projekts Schwarzer Kanal zu sichern.“ ([schwarzerkanal.bleibt!], 2009) Vom Wagenplatz zum queeren Wagenplatz: Ein kurzer Blick in die Geschichte des Projekts Ursprünglich entstanden ist der Bauwagenplatz 1990 infolge einer Besetzung einer Brachfläche am Südufer der Spree in der Nähe der in Berlin Mitte liegenden Schillingbrücke. Als selbstständiges Kulturprojekt wollten die ca. 20 Bewohner_innen des Platzes vor allem mit Hilfe von Veranstaltungen wie Varietés, Theater, Konzerte, Diashows und Filmvorführungen einen Beitrag zu einer „unkommerziellen und bunten Kulturlandschaft in Berlin“ (Schwarzer Kanal e.V., 2010) beitragen. Eine ressourcenschonende Lebensweise - beispielsweise durch die Nutzung von Solarstrom und Regenwasser - sowie ein selbstbestimmtes Miteinander und die kollektive Organisation über ein wöchentlich stattfindendes Plenum gehörten zum Selbstverständnis der Bewohner_innen von Anfang an dazu. Vom Platz am Engeldamm 2 musste das Projekt 2002 für den Bau der Verdi-Zentrale weichen und erhielt einen Gestattungsvertrag21 durch das Bauunternehmen Hochtief für die Nutzung eines ungefähr 3500qm großen Geländes an der Michaelkirchstraße, das ebenfalls an der Spree gelegen ist. Gegen die Überlassung des Grundstückes klagten kurz nach dem Umzug des Projekts zwei benachbarte Grundstückseigentümer (die Office Grundstücksverwaltungsgesellschaft und das Deutsche Architekturzentrum). Der
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Gestattungsverträge werden meist in Bereichen der Energieversorgung und Telekommunikation abgeschlossen. Ein Gestattungsvertrag kann auch als Vertragsart herangezogen werden, wenn es um die Nutzung von fremden Grundeigentum geht, die nicht über ein Mietverhältnis oder einen Pachtvertrag geregelt werden soll (Gestattungsvertrag, 2013).
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Rechtsstreit um den vermeintlichen „städtebaulichen Missstand“22 (Queer and Rebel, 2009) dauerte bis 2007 an, bereits im April 2003 musste jedoch ein Teilstück des Geländes geräumt werden. Mit der Teil-Räumung des Platzes einher ging eine Neuausrichtung des Projektes. Es entstand der queere Frauen-Lesben-Trans* Bauwagenplatz Schwarzer Kanal. „Queer heißt nicht schwullesbisch, sondern gegen den Strom“23 : Das Projekt heute Heute definieren sich die Bewohner_innen als politisch und queer und verorten sich als Teil des informellen Netzwerkes antikapitalistischer Queers. Das Projekt funktioniert nach dem D.I.Y.-Prinzip24 und sieht sich als eine gelebte Alternative zu kapitalistischen Verwertungslogiken. Das heißt, der Wagenplatz begreift sich als Teil einer Graswurzelbewegung die selbstorganisiert und von unten eigene Strukturen aufbauen möchte sowie den Selbstanspruch verfolgt, sich immer wieder zu reflektieren und die eigenen Ungleichheits- und Ausgrenzungsmechanismen zu hinterfragen: „Unser queeres Politikverständnis will keine Gleichstellung in einem ungleichen System. Es geht darum, die ausgrenzenden Strukturen zu verändern. Der Schwarzen Kanal bietet einen sicheren Freiraum für Menschen, die von Homophobie und/oder Rassismus bedroht sind“ (Schwarzer Kanal, 2009) Queer steht folglich in der Selbstbezeichnung für ein politisches Bewusstsein, das Geschlechternormen infrage stellt und die queere Anliegen mit Antirassismus und Antifaschismus verbindet – und nicht nur als ein Sammelbegriff für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans*gender und intersexuelle Menschen. Der Wagenplatz Schwarzer Kanal ist bestrebt, diesen Anspruch im Alltag und mittels Veranstaltungen und anderen Angeboten zu verwirklichen. Deshalb besteht das Projekt Schwarzer Kanal auch nicht nur aus den Bewohner_innen, sondern wird von vielen Gruppen, Initiativen und
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‚The rampant peluca‘ besingen diesen „städtebaulicher Missstand“ in einem Song mit gleichnamigen Titel: https://myspace.com/therampantpeluca.
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Zitat aus Artikel in der September Ausgabe der Siegessäule 2004 „Paradies aus DDR Pappe“ (Winter, 2004).
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D.I.Y. heißt „Do it yourself“. Das D.I.Y.-Prinzip hat seine Wurzeln in den Punk-Bewegungen der 1970er Jahren. Es ist als eine Kritik an der Kommerzialisierung zu lesen und will zur Selbstorganisation sowohl des Alltagslebens als auch von Kulturveranstaltungen ermuntern.
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Einzelpersonen gestaltet und getragen. Entscheidungen werden nach dem Konsensprinzip entweder auf dem monatlich stattfindenden Projekttreffen25 oder auf dem wöchentlich tagenden Bewohner_innenplenum gefällt. Als ein kultureller, sozialer und politischer Anlaufpunkt für Queers und ihre Freund_innen möchte der Wagenplatz alle Menschen willkommen heißen, die einen antirassistischen, antisexistischen und antihomophoben Konsens teilen. Im Alltag der auf dem Wagenplatz wohnenden Menschen hat das kollektive Miteinander einen hohen Stellenwert. So gibt es beispielsweise eine Gemeinschaftsküche, in der für alle gekocht und gemeinschaftlich gegessen wird. Die Bühne, der Workshop-Wagen, das Open-Air-Kino, die Gemeinschaftsküche, der Fahrrad-Workshop-Wagen sowie der Lagerfeuer- und Barbereich tragen dazu bei, dass der Ort für diverse Events und zur Vorbereitung von politischen Aktionen genutzt werden kann. Neben der Bereitstellung eines Raumes, der es ermöglicht, jenseits von Konsumzwang und rigiden Begehrensordnungen mit neuen Formen des kollektiven Lebens- und Wirtschaftens zu experimentieren, ist das Projekt Schwarzer Kanal auch als politischer Akteur – oftmals mit der Selbstbezeichnung ‚Queer-Block‘ – auf Demonstrationen, Paraden und anderen politischen Interventionen schwerpunktmäßig in Berlin sichtbar. Zu den regelmäßigßig stattfinden Projekten zählen der Bike-Workshop, zu dem die Fahrradselbsthilfewerkstatt Les Lanternes Rouges (les lanternes rouges, 2010) sowie die antirassistische Initiative Bike Aid (Bike Aid, 2013)gehören. Les Lanternes Rouges haben sich aus dem Bedürfnis gegründet, der männlich dominierten kommerziellen Fahrrad(laden)szene einen Ort entgegen zu setzen, an dem alle Fragen erlaubt sind und alle zu Expert_innen ihrer Fahrräder werden können. Gegenseitige Hilfestellung und gemeinsames Lernen stehen dabei im Mittelpunkt der Aktivitäten. Über reine Fahrradreparaturfragen hinaus stellen die einmal wöchentlich stattfindenden Werkstatttage auch ein Anlaufpunkt für geselliges Beisammensein bei veganen Kuchen und Torten dar. Bike Aid hat es sich zum Ziel gemacht, auf die rassistische Ausgrenzung von Menschen ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Berlin und
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Beim Projekttreffen treffen sich alle Menschen, die in Projekten des Kanals aktiv sind – z.B. Bike-Workshop, Entzaubert Festival, Gartengruppe etc., mehr dazu im weiteren Verlauf des Kapitels –, die auf dem Platz wohnen oder Lust haben, eine einzelne Veranstaltung zu organisieren und/oder allgemeine Anfragen an den Platz haben.
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Brandenburg zu antworten. Den Flüchtlingen soll mit Hilfe von wieder aufgebauten und reparierten Fahrrädern zumindest ein Mindestmaß an Mobilität ermöglicht und damit die prekären Lebensverhältnisse ein klein wenig gemildert werden. Die Fahrräder stammen sämtlich aus Sachspenden und werden von Bike Aid repariert. Für die neuen Fahrradbesitzer_innen soll die notwendige Infrastruktur bereitgestellt werden, um vor Ort selbstorganisiert die Räder zu pflegen und warten zu können. Bislang erschwert vor allem die Residenzpflicht und weitere Formen des institutionellen Rassismus die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen. So sperrte sich die Heimleitung immer wieder gegen eine Zusammenarbeit mit Bike Aid. Der Aufenthaltsraum darf beispielsweise nicht für gemeinsame Treffen genutzt werden, es gibt keine Möglichkeiten, Fahrradwerkzeug zu lagern oder gar eine kleine Werkstatt aufzubauen. Die Residenzpflicht verbietet es den Heimbewohner_innen ohne Genehmigung der Ausländerbehörde den Landkreis bzw. kreisfreie Stadt zu verlassen, weshalb Treffen in Berlin kaum möglich sind.26 Weitere Projekte des Schwarzen Kanals sind das queere Filmfestival ‚Entzaubert‘, die ‚Queer and Rebel‘ Wagentage sowie das Musikfestival ‚up your e@rs‘: Up your e@rs ist ein Festival für queere Musik. Hier soll Musikschaffenden eine Plattform gegeben werden, die sich in einem queerfeministischen Kontext bewegen. Neben der Möglichkeit als Liveact aufzutreten gibt es ein Open-Stage, verschiedene Workshops wie Radio und Gesang sowie ein Radiopodcast, auf dem Mitschnitte und Interviews im Internet gehört werden können. In unregelmäßigen Abständen finden darüber hinaus unter den Label up your e@rs auch Konzerte statt, die der politischen Intention des Festivals entsprechen. Die Queer and Rebel Tage bearbeiten in Werkstätten, Gesprächen, Konzerten, Kunst und Aktionen die Themen Gentrifizierung und Stadtsanierung sowie die Entwicklung und den Erhalt von selbstbestimmten, nicht kommerziellen Projekten, queerem Leben und
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Seit Juli 2010 ist die Residenzpflicht in den Bundesländern Berlin und Brandenburg etwas gelockert worden. So dürfen sich seitdem Asylsuchende vorübergehend auch im jeweils anderen Bundesland aufhalten. Für Berlin und Brandenburg gelten jedoch unterschiedliche Einschränkungen. Zum Beispiel gelten die Lockerungen in Brandenburg nur für Menschen, die nicht gezwungen sind, in Sammelunterkünften zu wohnen. Eine gute Informationsseite stellt die Homepage des Flüchtlingsrats Brandenburg zur Residenzpflicht dar: http://www.residenzpflicht.info/ (residenzpflicht.info, 2009).
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unabhängiger Kultur.27 Ein Anliegen ist es – neben der inhaltlichen Auseinandersetzung – auch eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit herzustellen, in dem das Engagement des Projektes in aktuelle (stadt-)politische Entwicklungen eingebettet wird. Mit dem Fimfestival Entzaubert wird eine Plattform für Filme, Dokumentationen und andere visuelle Projekte geschaffen, die auf kommerziellen Mainstream-Festivals unsichtbar gemacht werden. Die Ideen von Creative Commons28 und Copyleft29 Rechten werden von den Veranstalter_innen aktiv befürwortet. Der Eintritt für das Festival ist frei, anfallende Kosten werden ausschließlich über Spenden gedeckt. Anhand des Vorstellungstextes des Festivals wird der politische und explizit antikapitalistische Charakter des Engagements im Rahmen des Projekts Schwarzen Kanals nochmal sehr deutlich: „entzaubert is a radical queer festival. We think that queer is about living your life in a political way which challenges gender and power structures. We think that fucking with gender normativity, abolishing borders and fighting for migrants’ and workers’ rights are all part of one struggle. The capitalist system is based on social inequality. So for us opposing capitalism is fundamental to the fight against transphobia, homophobia and sexism as well as racism, fascism and militarism“ (entzaubert, 2009). Das Filmfestival will somit nicht nur eine Alternative zu bestehenden Events darstellen, sondern verbindet die kulturelle Intervention mit einer emanzipatorischen Vision: Queeres Handeln als ein politisches Statement, in dem Geschlechter-, Macht- und Herrschaftsstrukturen herausgefordert werden.
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Die Queer and Rebel Tage fanden im Oktober 2009 zum dritten mal statt. Creative Commons stellen eine Alternative zum Urheberrechtsmodellen dar und orientieren sich an Offenheit und Teilhabe. Künstler_innen, Musiker_innen und Autor_innen legen damit fest, welche (Weiter-)Nutzung ihrer Werke möglich ist. Grundlegende Leitfragen sind dabei, ob der_die Urheber_in genannt werden soll, ob eine kommerzielle Nutzung erlaubt ist und ob das Werk weiterentwickelt werden darf (Creative Commons, 2013).
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Copyleft ist ein Wortspiel zu Copyright und will die unfreie Vereinnahmung des ursprünglich freien Werkes verhindern. Hier wird mit Hilfe des Urheberrechts eine unbeschränkte Verbreitung von Kopien und veränderten Versionen eines Werkes sichergestellt (Copyleft, 2013).
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Der Kampf gegen soziale Ungleichheit – als ein grundlegendes Merkmal kapitalistischer Strukturen – erfordert demnach widerständiges Verhalten gegenüber ‚dem‘ Kapitalismus. Eine antikapitalistische Haltung ist in dieser Lesart untrennbar mit dem Engagement gegen Sexismus, Trans*- und Homophobie genauso verbunden wie mit der Bekämpfung von Rassismus, Faschismus und Militarismus.
2.2 Inhaltliche Klammer: Raum- & Stadtpolitiken Das folgende Unterkapitel will die inhaltliche Klammer der gewählten widerspenstigen Alltagspraxen veranschaulichen und beschäftigt sich daher mit Gentrifizierung und Stadtpolitiken. Die Frage danach, was unter Gentrifizierung zu verstehen ist, steht im Fokus der Betrachtungen, da die Berliner Beispiele Kritik an Gentrifizierungsprozessen in die öffentliche Debatte bringen. Ich werde daher versuchen, Verbindungslinien zwischen Gentrifizierung und Stadt- bzw. Raumpolitiken aufzuzeigen. Zur Beantwortung der Fragen werde ich mich schlaglichtartig mit Erkenntnissen der kritischen (Stadt-)Soziologie beschäftigen, um anschließend die Wahl meiner Praxisbeispiele und ihre Verwobenheit in Stadt- und Raumpolitiken darzustellen. Letztendlich will ich mit diesem Kapitel veranschaulichen, warum sich meine gewählten Beispiele als ein Teil dieser Politiken lesen lassen und warum ich das Themenfeld als eine wichtiges Moment antikapitalistischen Engagements halte. Gentrifizierung: Eine Begriffsklärung Das Phänomen der Gentrifizierung ist eng mit kapitalistischer (Groß-)Stadtentwicklung verbunden und lässt sich als „immobilienwirtschaftliche Gewinnstrategie“ (Holm, 2010, S. 40) beschreiben. Mit dem nach wie vor anhaltenden Trend der frühen 1990er Jahre zur Reurbanisierung und Aufwertung innerstädtischer Wohngebiete, fand der Begriff Gentrifizierung Eingang in die stadtsoziologische Forschung und hat seither Konjunktur (vgl. Kecskes, 1997). Gentrifizierung beschreibt im Wesentlichen die Verdrängung von ökonomisch benachteiligten Mieter_innen, die oft in baulich heruntergekommen und/oder einfachen Verhältnissen in meist innerstädtischen Altbaugebieten leben. Da der Begriff Gentrifizierung mittlerweile stark umkämpft ist, – er wandelte sich von einem soziologischen Analyseansatz zu einer auch in stadtpolitischen Konflikten als Schlagwort gebrauchten Begrifflichkeit – beginne ich mit einer Minimaldefinition.
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Jürgen Friedrichs beschreibt Gentrifizierung als einen Prozess, bei dem „in einem Wohngebiet eine statusniedrige Bevölkerung durch eine statushöhere Bevölkerung ausgetauscht wird“ (Friedrichs, 1996, S. 95). Andrej Holm ergänzt diese Definition durch ein weiteres Kennzeichen: Die Veränderung des Charakters des Stadtgebiets. Demnach verläuft Gentrifizierung als ein Prozess, durch den „Haushalte mit höheren Einkommen BewohnerInnen mit geringen Einkommen aus der Nachbarschaft verdrängen und die wesentlichen Merkmale und Stimmungen der Nachbarschaft verändern“ (Holm, 2006, S. 64). Gentrifizierung ist grundsätzlich nicht mit Prozessen der Revitalisierung sowie der Reinvestition von Stadtteilen gleichzusetzen, auch wenn diese Prozesse immer auch charakteristische Momente von Gentrifizierung sind. Die Gentrifizierung eines Stadtteils beinhaltet folglich drei wesentliche Eigenschaften: Erstens die Aufwertung der Nachbarschaft durch bauliche Maßnahmen – also die ökonomische Inwertsetzung des Stadtteils, zweitens die Verdrängung der Bewohner_innenschaft sowie drittens die Veränderung des Charakters des Stadtteils, das heißt vor allem ein Imagewechsel bzw. eine symbolische Aufwertung desselben (vgl. Holm, 2006, 2010, S. 66). Gentrifizierungsverlauf In der Regel beginnt Gentrifizierung mit einer Pionierphase, wobei in der kritischen Forschung „der Pionierbegriff als Metapher für den kriegerischen und zerstörerischen Charakter der Gentrification“ (Holm, 2010, S. 9) verwendet wird. Allgemein unterscheidet die (Stadt-)Soziologie zwischen vier idealtypischen Phasen einer Gentrifizierung (vgl. Marquardt, 2006, 39ff.): In der ersten Phase ziehen so genannte Pioniere in betroffenen Gebiete. Pioniere zeichnen sich dadurch aus, dass sie meist einen höheren Bildungsgrad als die alteingesessene Bevölkerung besitzen, relativ jung und finanziell ungesichert, allerdings recht risikofreudig sind. Zu den klassischen Pionieren zählen Künstler_innen, Studierende sowie Menschen, die der Alternativszene zugeordnet werden. Sie ziehen in diese Wohngegend, weil dort billiger Wohnraum ebenso zu finden ist wie Möglichkeiten bestehen, alternative Infrastruktur, Kneipen, Bars, Galerien etc. zu etablieren. Der Einfluss der so genannten Pioniere wird jedoch nach Andrej Holm häufig in den Diskursen zu Gentrifizierung überschätzt – sie gelten oftmals „als tragische Gestalten [...], die gleichermaßen Opfer und Täter_innen der Aufwertungsprozesse sind“ (Holm, 2010, S. 30). Ihre Rolle lasse sich nach Holm vielmehr eher als Begleiterscheinung und Katalysator von städtischen Aufwertungsprozessen beschreiben, denn als deren eigentliche Ursache. Al-
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lerdings stellen selbstorganisierte Cafés und Buchladen auch gute „Türöffner für die Übernahme ehemaliger Armutsquartiere durch die Mittelklasse“ (Holm, 2010, S. 36) dar und dienen insofern zumindest der symbolischen Aufwertung des Stadtteils. Die Aktivist_innen in den von mir gewählten Beispielen lassen sich daher als potentielle Gentrifizierungsakteure ausmachen. Während der ersten Phase eines Gentrifizierungszyklus findet weder eine Verdrängung statt – es wird vor allem leerstehender Raum genutzt – noch erfolgt ein Imagewechsel des Quartiers. Das heißt zu Beginn einer Gentrifizierung lassen sich die klassischen Merkmale – Aufwertung, Inwertsetzung, Verdrängung – noch nicht ausmachen. Den ersten Pionieren folgen in der zweiten Phase weitere Pioniere sowie die ersten Gentrifier. Ein idealtypischer Gentrifier ist sehr gut gebildet, hat ein hohes Einkommen und zeigt sich weniger risikofreudig, da der (bereits) erreichte Lebensstandart gehalten werden soll. Zunehmende Modernisierungen, eine verstärkte Kommerzialisierung der in der ersten Phase entstandenen Infrastruktur sowie die Neueröffnung weiterer Geschäfte, gastronomischer Orte und Dienstleistungseinrichtungen führen zu einem zunehmenden Imagewechsel des Stadtteils und machen ihn für Investitionen im größeren Maßstab attraktiv. Aufgrund der zunehmend steigenden Mieten werden nach und nach Menschen vertrieben, die der ursprünglichen Mieter_innenstruktur zuzuordnen sind. In der zweiten Phase finden folglich erste Aufwertungs- und Verdrängungsmechanismen statt. In der dritten Phase steigen sowohl die Mietpreise als auch die Gewerbemieten derart an, dass nicht nur die originären Mieter_innen, sondern auch ein Teil der Pioniere der ersten Phase aufgrund der zunehmenden (Wohn-)Raumkosten wegziehen müssen. Diese Phase zeichnet sich besonders durch großräumige Sanierungsmaßnahmen durch Investor_innen aus, die sie vor allem zu Spekulationszwecken und weniger als den Bestand erhaltende Maßnahmen durchführen. Die vierte und letzte Phase eines idealtypischen Gentrifizierungszyklus zeigt sich in der Entstehung einer relativ homogenen Bewohner_innenstruktur des Viertels. Das Gebiet dient als rentable Kapitalanlage, viele ehemalige Mietwohnungen sind zu diesem Zeitpunkt in Eigentumswohnungen umgewandelt. Die dort lebenden Menschen weisen ein sehr hohes durchschnittliches Einkommen auf und sind darüber hinaus sehr gut (aus-)gebildet. Nach Sharon Zukin (1990) erfolgt im Prozess der Gentrifizierung eine ökonomische Verwertung von kulturellem Kapital, das über die Pioniere vermehrt in den Stadtteil fließt. Diese gesteigerte kulturell-symbolische Attraktivität ermöglicht eine zunehmende gewinnbringende Immobilienvermarktung des betroffenen Gebietes: „Die Kreativität der Pionierphase wandelt
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sich so im Laufe eines Aufwertungsprozesses in einen käuflichen symbolischen Mehrwert“ (Holm, 2010, S. 33), es findet folglich eine „immobilienwirtschaftlich vermittelte Enteignung des kulturellen Kapitals“(Holm, 2010, S. 33) statt. Ursachen von Gentrifizierung Obwohl die Forschungsergebnisse bezüglich der Erscheinungsformen von Prozessen der Gentrifizierung recht einheitlich sind, unterscheiden sich die Erklärungen für die auslösenden Ursachen sehr stark. Grob lassen sich ökonomische Erklärungsmodelle ebenso finden wie Forschungen, die die symbolischen und politischen Aspekte hervorheben: Vertreter_innen, die eine symbolische Gentrifizierung in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen, verweisen auf die Wirkmächtigkeit von Diskursen. Demnach ist der Mythos eines Gebietes und die künstlerisch-intellektuellen wie medialen Erzählungen über die Veränderungen von besonderer Bedeutung. Städtische Transformationsprozesse werden in dieser Lesart auch ‚hergeschrieben‘. Die symbolische Gentrifizierung hebt folglich die Rolle des Image(wechsels) eines Stadtteils für die Gentrifizierung hervor. An dieser Stelle sei kurz auf die Arbeit von Barbara Lang (1998) verwiesen. Sie beschäftigt sich in ihrer Dissertation aus einer ethnografischen Perspektive mit dem Mythos des Berliner Stadtteils Kreuzberg, den Hintergründen seiner Entstehung sowie dessen Auswirkungen auf Veränderungsprozesse in Kreuzberg in den 1960er bis 1990er Jahren. Demgegenüber stellt Tanja Marquardt (2006) in ihrer Analyse über den Kollwitzplatz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg die sich wechselseitig unterstützenden Funktionsweisen von Wohnungsmarkt- und Stadtentwicklungspolitiken in den Vordergrund ihrer Betrachtungen, die sich der politischen Gentrifizierung zuordnen lassen. Demnach war am Kollwitzplatz eine aktive Einmischung von Seiten der Politik notwendig, die über Fördermaßnahmen, Verordnungen etc. das Gebiet für zahlungskräftige Investor_innen überhaupt erst attraktiv machte. Da Marktmechanismen und ökonomische Anreize nicht ausreichten, eine politisch gewünschte Aufwertung in Gang zu bringen, wurde es deshalb erforderlich „die Rahmenbedingungen der Sanierungsgesetzgebung ebenso wie die Ausführungsbestimmungen auf Verwaltungsebene stärker an die Bedürfnisse potenzieller Investoren anzupassen“ (Marquardt, 2006, S. 70). Arbeiten, die die ökonomischen Erklärungen von Gentrifizierungsprozessen in den Fokus nehmen sind stark verbreitet, da „jeder Eingriff in die bestehenden städtischen Strukturen [...] unter kapitalistischen Bedingungen
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vor allem [als] ein ökonomischer Prozess“ (Holm, 2006, S. 35) bewertet wird. Diese ökonomischen Begründungen wiederum lassen sich in erster Linie in nachfrageorientierten Ansätze auf der Makroebene und angebotsorientierte Ansätze auf der Mikroebene unterscheiden. Die angebotsorientierten Ansätze – wie die so genannten ‚rent-gap‘ und ‚value-gap‘ Theorien – stellen vor allem mikroökonomische Des- und Reinvestitionsprozesse von Kapital in den Mittelpunkt der Erläuterungen (vgl. Marquardt, 2006, S. 37). Bei den rent-gap Theorien wird die Differenz zwischen aktueller und potentieller Rendite als so groß eingeschätzt, dass Investitionen zur Verbesserung der Bausubstanz und damit zur Erhöhung der Bodenpreise wirtschaftlich erscheinen. „Rent gaps üben also einen Druck auf die (Re)Investionen in das fixe Kapital eines Grundstücks aus, die – eine weitere Wohnnutzung des Gebietes vorausgesetzt – einer Gentrification dienen“ (Holm, 2006, S. 41, Hervohebungen im Original). Einen ähnlichen Blick nehmen value-gap Theorien ein. Allerdings gehen sie davon aus, dass es finanziell attraktiver ist, Wohnungsleerstand mittels Investitionen zu beenden, oft werden im Zuge der Sanierungen zumindest ein Teil der Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. „Value gaps üben Druck auf einen Besitzerwechsel der Grundstücke aus und verstärken damit – einen gleichzeitigen Nutzerwechsel angenommen – Gentrifizierungsprozesse“ (Holm, 2006, S. 41, Hervohebungen im Original). Darin liegt auch die Erklärung, warum zum Ende eines Gentrifizierungszyklus’ die Anzahl an Eigentumswohnungen meist gestiegen ist. Letztendlich beziehen sich value-gap Theorien auf die Gebäudewerte, wohingegen rent-gap Theorien die Grundstückswerte als Ausgangspunkt nehmen. Nachfrageorientierte Erklärungsansätze setzen demgegenüber makropolitische Veränderungen und Investitionszyklen in den Vordergrund. Demnach beeinflussen globale Wirtschaftsprozesse die sozialräumliche Entwicklung. Die Tertiärisierung der Wirtschaft zum Beispiel, also das Anwachsen des Dienstleistungssektors hatte die vermehrte Nachfrage von Wohnraum in den Innenstadtbezirken zur Folge. Hinzu kommen veränderte Bedürfnisse aufgrund von neuen Konsum- und Freizeitgewohnheiten der im Dienstleistungssektor tätigen Menschen. „Neben den ökonomischen Gründen, die eine Gentrifizierung in Gang bringen – neue Konsumformen neuer Konsumententypen –, spielen in dieser Gentrifizierungstheorie auch kulturelle Präferenzen und der Lebensstil der neuen Bewohner eine erklärende Rolle“ (Marquardt, 2006, S. 38).
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Als einen weiteren ökonomischen Erklärungsansatz benennt Andrej Holm den Übergang von einer Renten- zu einer Renditeökonomie innerhalb des Immobilienmarktes (vgl. Holm, 2010, S. 20ff.). Hier steht die Veränderung der Akteursstruktur im Mittelpunkt. So ist das Phänomen zu betrachten, dass die Immobilien zunehmend von großen Finanzmarktakteuren sowie Immobilienfirmen erworben und wieder verkauft werden. Häuser in Familienbesitz sind immer seltener anzutreffen. Waren Eigentümer_innen, die oft selbst in ihren Häusern oder zumindest ortsnah wohnten, an langfristig kalkulierbaren (Miet-)Einnahmen interessiert – die so genannte Rentenökonomie – steht demgegenüber für an Rendite orientierten Investor_innen der kurzfristig zu erzielende Profit im Fokus. Grundstücksverwertung wird folglich primär als Kapitalanlage betrachtet, die in einem möglichst kurzen Zeitraum Rendite für erfolgte Investitionen abwirft. Für meine Arbeit besonders spannend ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Stadtentwicklungspolitiken und Gentrifizierung sowie im besonderem Maße, wie selbstorganisiertes Engagement in den Stadtbezirken Prozesse der Gentrifizierung verstärken oder womöglich verhindern kann. Beiden Punkten werde ich mich im Folgenden kurz widmen. Stadtentwicklungspolitiken & Gentrifizierung Stadtentwicklungspolitiken werden oft mit Politiken der Stadterneuerung gleichgesetzt – nach Andrej Holm bedeutet der Eingriff in städtische Strukturen unter kapitalistischen Bedingungen primär eine ökonomische Verwertung. Unter Stadterneuerung selbst versteht die Stadtsoziologie die Restrukturierung und Modernisierung von Städten: „Stadterneuerung ist das unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen typische administrative Arrangement zur Verbesserung bestehender Nutzungen oder des vollständigen und weitgehenden Umbaus von Stadtteilen zur direkten oder indirekten Modernisierung der Lebensverhältnisse“ (Holm, 2006, S. 23). Modernisierung wiederum wird vielfach mit Sanierung assoziiert. Aus dieser Perspektive ist die Suche nach den Ursachen der Entstehung von Sanierungsgebieten aufschlussreich, um Stadterneuerung greifbarer zu machen. Aus einer ökonomischen Perspektive lassen sich Stadterneuerungsmaßnahmen – wie bei den ökonomischen Erklärungsansätzen für Gentrifizierung – als „Reinvestition in vormalige Desinvestitionsgebiete“ (Holm, 2006, S. 45) erklären. Die Reinvestitionen in Stadtteile folgen aus einer Makroperspektive ökonomischen Bewegungszyklen. Aus einer Mikroperspektive gehen sie meist mit einem Wechsel der Struktur der Eigentümer_innen einher:
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„Sanierungsgebiete entstehen also – aus einer historisch-raumökonomischen Perspektive betrachtet – durch die zyklischen Bewegungen des nach räumlicher Fixierung strebenden Immobilienkapitals und – aus einer mikrosozialen Perspektive betrachtet – durch die individuell rationalen Desinvestitionsentscheidungen der Eigentümer in den bereits bebauten Gebieten“ (Holm, 2006, S. 39f.). Die Definition von Stadterneuerung benennt neben dem Verweis auf ökonomische Logiken der Stadterneuerung (die Modernisierung der Lebensverhältnisse) auch zwei weitere Momente: Das zu erwartende administrative Handeln (erstens) unter den aktuellen gesellschaftlichen (Rahmen-)Bedingungen (zweitens). Hier zeigt sich bereits, dass rein ökonomische Erklärungen zu kurz greifen. Andrej Holm (2006) arbeitet in seiner Dissertation drei Bereiche von Stadterneuerung heraus, die ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und machtpolitischen Effekte fassen: Erstens die Ökonomie der Stadterneuerung, die sowohl aus einer makro- als auch aus einer mikropolitischen Perspektive kapitalistischen Kapitalverwertungslogiken folgt. Zweitens macht- und ordnungspolitische Maßnahmen, die zur Veränderung der Sozialstruktur führen und die Bewohner_innenschaft disziplinieren sollen und drittens die Organisation, Ideologie und Politik der Stadterneuerung, die der Legitimation der Veränderungen dient und Stadterneuerungsprozesse anstößt. Stadterneuerung lässt sich folglich als Ergebnis von ökonomischen Logiken (kapitalistischen Marktlogiken), politisch-ideologischer Legitimation sowie politisch-administrativen Eingriffen lesen. Alle drei Faktoren können (in ihrem Zusammenspiel) eine Gentrifizierung auslösen und sind Teil hegemonialer Projekte: „Wie bei den meisten gesellschaftlichen Konflikten geht es nicht nur um die Durchsetzung klassenspezifischer, ökonomischer und politischer Interessen, sondern um die Erlangung einer gesellschaftlich hegemonialen Position“ (Holm, 2010, S. 51). Stadtpolitische Alternativen hierzu sollen daher unvorstellbar sein.30 Hinzu kommt ein Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklungspolitik hin zur ‚neoliberalen Stadt‘: Die seit den 1970er Jahren vorherrschenden, am fordistischen Gesellschaftsmodell orientierten Stadtentwicklungskonzep-
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Zu einer ausführlichen Untersuchung des Themenfeldes Wohnungspolitik als Herrschaftspolitik sei an dieser Stelle auch auf die „Herrschaftsgeschichte des Wohnens“ von Jürgen Mümken (2006) verwiesen.
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te, die die Ziele einer nivellierten Mittelschichtsbevölkerung und sozial heterogener Stadtviertel verfolgten, wichen seit den 1990er Jahren einer neoliberal ausgerichteten Stadtpolitik. Hierfür prägte der neomarxistische Geograph und Sozialtheoretiker David Harvey den Begriff der ‚Unternehmerischen Stadt‘ (vgl. Harvey, 1989). Städtische Verwaltungen werden nach dem Muster des New Public Management zu nach marktwirtschaftlichen Logiken funktionierenden Agenturen umgebaut, die nun mit Kund_innen anstatt mit Bürger_innen operieren und strengen Effizienzkriterien genügen müssen (vgl. Lebuhn, 2007, 530f.). Die Stadtverwaltungen orientieren sich somit an den Logiken dynamischer Unternehmensführung bzw. ordnen sich diesen freiwillig unter. Infolgedessen sehen sie sich gezwungen, ihre Stadt unter Aufwendung immenser Finanzmittel als positiv besetzte Marke31 zu kreieren und damit als Marketing-Entrepreneur in eigener Sache in Erscheinung zu treten (vgl. Birk et al., 2006; Grabow und Hollbach-Grömig, 1998). Angesichts der so genannten „Enträumlichung der Ökonomie“ (Häußermann et al., 2008, S. 165) – die als ein Moment von Globalisierungsprozessen verstanden wird – ist es ein Ziel neoliberaler Stadtpolitiken sich als dynamische Stadt mit hohem Kultur- und Freizeitwert zu präsentieren, um im globalen Wettbewerb zwischen Metropolen für Investor_innen attraktiv zu sein. Die Ansiedlung von ‚Zukunftstechnologien‘ ist ebenso erklärtes Ziel (vgl. auch Stratmann, 1999). Mit der Selbstvermarktung geht eine als „Festivalisierung städtischer Kulturpolitik“ (Häußermann, 1993) beschriebene Konzentration auf medienwirksam inszenierte Großevents einher, die dem Image der Stadt einen möglichst internationalen, weltoffenen und einmaligen Charakter verleihen sollen. Demgegenüber stehen Kürzungen im sozialen Sektor, die Schließung öffentlicher Einrichtungen mit geringerem Imagewert, das Ende des städtischen sozialen Wohnungsbaus und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen (bis hin zur Trinkwasserversorgung), die Delegierung und Auslagerung vormals kommunaler Tätigkeiten an private Akteure oder Public-Private-Partnerships. All diese Maßnahmen werden mit schrumpfenden finanziellen Handlungsspielräumen begründet, Harvey sieht darin die „Einkreisung der Allgemeingüter“ (Harvey, 2003, S. 19) durch die Allgegenwart kapitalistischer Verwertungsinteressen. Bezüglich baulicher Stadtentwicklungspolitiken findet eine Fokussierung auf Prestige- und Leuchtturmprojekte statt. Sie werden als überregional
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Als ein exemplarisches Beispiel ist hier die Kampagne ‚be Berlin‘ zu nennen (beBerlin, 2008).
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strahlende Aushängeschilder (z.B. Elbphilharmonie, Frankfurter Westhafen, Media Spree) präsentiert. Die zunehmende Verdrängung der öffentlichen Sphäre der Stadt wird durch den Fokus auf ein finanzkräftiges Klientel aktiv in Kauf genommen, die Entstehung so genannter ‚Gated Communities‘ ist ebenso eine Folge dieser Politiken wie eine sich verschärfende sozialräumliche Polarisierung (vgl. Alisch und Dangschat, 1998, S. 135). In den als soziale Brennpunkte bezeichneten Stadtbezirken wird vor allem mit ordnungspolitischen Mitteln (Quartiersmanagement, Überwachung des öffentlichen Raumes) möglicherweise aufkeimender Protest und Widerstand gegen die beschriebenen Politiken verhindert. Andrej Holm verweist deshalb auf das bereits erwähnte ordnungs- und machtpolitische Moment von Stadtentwicklungspolitiken. Mir geht es an dieser Stelle darum, aufzuzeigen, dass die Frage, ob ein Gebiet gentrifiziert wird oder nicht, ein Ergebnis von vielfältigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist und deshalb nicht unveränderbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Auch hier spielen Alltagspraxen und das erlebte Erfahrungswissen eine wesentliche Rolle. Für meine Arbeit von Interesse ist darüber hinaus die Frage, welche grundsätzlichen Strategien zur Verhinderung von Gentrifizierungen in den Kämpfen um Raum- und Stadtpolitiken diskutiert und praktiziert werden. Auf die gewählten Praxisbeispiele bezogen: Finden sich im Konzept des Mietshäuser Syndikats, den Kämpfen und Strategien des Schwarzen Kanals und der NewYorck Ansätze, die die vorherrschende Stadt- und Gentrifizierungspolitiken herausfordern? Strategien zur Verhinderung von Gentrifizierungen Andrej Holm zufolge sah bereits Neil Smith in den 1980er Jahren die Dekommodifizierung der Wohnungsversorgung als einzige wirksame Strategie gegen Gentrifizierung (vgl. Holm, 2010, S. 71).32 Insofern stellt die Arbeit des Mietshäuser Syndikats möglicherweise einen nicht zu unterschätzendes Moment emanzipatorischer Stadt- und Raumpolitiken dar, weil es die Forderung nach einer Loslösung der Wohnungsversorgung von seiner Warenförmigkeit konsequent weiter treibt. Wohneigentum wird im Mietshäuser Syndikat dauerhaft in Gemeineigentum umgewandelt und kann im Prinzip
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Mit der Strategie der Dekommodifizierung ist die verstärkte Einmischung der öffentlichen Hand in den Bereich der Wohnungsversorgung gemeint. Das kann auf Ebene der allgemeinen Wohnungspolitik passieren und schließt zum Beispiel den Stopp der Privatisierung von kommunalen Wohnungen sowie den Rückkauf oder Neubau von Wohnungen mit ein.
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nicht mehr im kapitalistischen Wohnungsmarkt gewinnbringend veräußert werden.33 Im Projektzusammenhang Bethanien finden sich Ansätze, die Andrej Holms Beschreibung einer „Kultur des Widerstandes“ (Holm, 2010, S. 39) entsprechen. Unter einer Kultur des Widerstandes versteht er die Zusammenarbeit der im Stadtteil lebenden Menschen in Stadtteilinitiativen und Stadtteilmobilisierungen, um unabhängig von subkulturellen Szenezugehörigkeiten gemeinsam mit den Anwohner_innen vor Ort vielfältige Aktionen gegen kapitalistische Inwertsetzungen und deren ordnungspolitische Weichenstellungen zu organisieren und gleichzeitig für solidarische Stadtteilarbeit zu werben. Ziel ist, mittels einer breiten Bündnispolitik und dank soziokultureller Verankerung in der umliegenden Nachbarschaft den Bedürfnissen von insbesondere sozial marginalisierten Anwohner_innen und Betroffenen Gehör zu verschaffen, öffentlichen Druck auf politische Mandatsträger_innen und Gentrifizierungsakteure zu erhöhen und somit dem hegemonialen Verständnis einer primär auf die Bedürfnisse von Investor_innen fokussierten Stadtpolitik lebenswerte Alternativen entgegen zu setzen. Holm plädiert folglich für Bündnispolitiken als gegenhegemoniale Strategien. Hierfür bedarf es aus Holms Perspektive „den Bruch mit elitär-subkulturellen Praktiken der Selbstmarginalisierung und eine bewusste Öffnung zu den sozialen Realitäten der Nachbarschaft“ (Holm, 2010, S. 39). Mit der Initiative Zukunft Bethanien, der Initiativplattform Media Spree Versenken! und den von diesen Bündnissen initiierten Kampagnen usw. finden sich vielfältige Ansätze aktiver Einmischung in Stadtteilpolitiken sowie der Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort. Christoph Spehr misst solchen Protestformen und situativen Bündnissen gegen politisch initiierte Stadtumstrukturierung die Qualität einer neuen sozialen Bewegung bei, die einen „neuen Zyklus sozialer Kämpfe“ (Spehr, 2010) einläuten könne. Die Logik, die hinter den Gentrifizierungen steckt, beschreibt Spehr als „herrschenden Vogonismus“34 (Spehr, 2010): Die ka-
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In der gut 25 jährigen Geschichte des Mietshäuser Syndikats ist im Jahr 2010 erstmals der Fall eingetreten, dass eine Projekt-GmbH (der Eilhardshof in Neustadt an der Weinstraße) Insolvenz anmelden und deshalb die Immobilie wieder dem Immobilienmarkt zur Verfügung gestellt werden musste. (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2013a) Wie dieser nicht intendierte Fall zukünftig verhindert werden kann, wird im Verbund des Mietshäuser Syndikats diskutiert.
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Christoph Spehr verwendet die Bezeichnung „herrschenden Vogonismus“ in ironischer Anspielung an Douglas Adams’ Roman „Per Anhalter durch die
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pitalintensive Inwertsetzung städtischer Areale gelingt demnach nur, indem Investor_innen das ‚Produkt Stadt‘, den zur Marke erhobenen ‚Flair der Urbanität‘ erfolgreich an kosmopolitisch orientierte, privilegierte Einkommensbezieher_innen vermarkten können. Dies zerstört jedoch unweigerlich das ‚Produkt Stadt‘, welches von den ursprünglichen Bewohner_innen eines Viertels ‚generiert‘ wird, da es ein vielfältiges Beziehungsgeflecht sozialer wie baulicher Strukturen, Läden sowie Formen der Nachbarschaftlichkeit darstellt. An dieser Stelle sei exemplarisch auf die solidarische Besetzung einer Grünfläche unweit des Bethaniens im Juni 2008 verwiesen, um dem Wunsch einiger Anwohner_innen nach einem selbst gestalteten interkulturellen Garten Nachdruck zu verleihen. Die Anwohner_innen, die sich über das so genannte selbstverwaltete interkulturelle AnwohnerInnenforum im Bethanien, kurz sOfa (sOfa, 2008) organisierten, konnten mit Hilfe der Unterstützungsaktion der Besetzer_innen dem stadtplanerischen Konzept einer sterilen Grünanlage den gewünschten Nachbarschaftsgarten abtrotzen. Seit Herbst 2009 existiert nun der Nachbarschaftsgarten ‚Ton Steine Gärten‘ (Ton, Steine, Gärten, 2013). Diese Episode steht exemplarisch für ein potentielles Ineinandergreifen widerständiger Praxen, das Holm mit der Begrifflichkeit einer Kultur des Widerstandes zu fassen versucht. Auch der Kampf des Schwarzen Kanals lässt sich als eine Kultur des Widerstandes lesen, auch wenn die Mobilisierungen in der Regel eher szeneinternen Charakter haben oder sich an die internationale WagenplatzCommunitiy sowie an politische Queers richten. Neben den tendenziell an die queer-feministische Szene-Öffentlichkeit gerichteten Veranstaltungen zeigt sich der Schwarze Kanal als Queer Block auf Demonstrationen und Veranstaltungen, die die Stadtumstrukturierung im Berlin kritisch thematisieren. Als weitere – meist jedoch nicht besonders erfolgreiche Strategien gegen Gentrifizierungen – lassen sich nach Holm Kulturen der Abschreckung und eine Kultur der Dislokation identifizieren (vgl. Holm, 2010, S. 36ff.). Bei der Kultur der Abschreckung wird maßgeblich mit massivem Widerstand und Protesten gedroht, die das Sicherheits- und Ordnungsgefüge der Stadt herausfordern, indem zum Beispiel hoher Sachschaden produziert und/oder (politische und finanzielle) Räumungskosten möglichst in die Höhe getrie-
Galaxis“ (1998), in dessen Eröffnungszene eine vogonische Bauflotte den Planet Erde sprengt, um Platz zu machen für eine neue Hyperraum-Trasse.
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ben werden sollen. Die Kultur der Dislokation demgegenüber versucht, eine „aufwertungsneutrale Kulturpraxis“ (Holm, 2010, S. 37) zu betreiben. Wie ich in diesem Kapitel zeigen wollte, bewegen sich diejenigen widerspenstigen Alltagspraxen, denen mein Forschungsinteresse gilt, (auch) im Rahmen von Raum- und Stadtpolitiken. Vorrangiges Ziel der Praxen ist jedoch nicht, politische Arbeit in diesem Themenfeld zu leisten. Vielmehr sollen in den Projekten mit alternativen Formen des miteinander Lebens und Arbeitens experimentiert werden. Der Versuch Räume zu schaffen, die durch weniger macht- und herrschaftsförmige Strukturen geprägt sind, ist mit einer radikaler Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Mit dem hier gezeichneten Bild widerspenstiger Alltagspraxen und der Konkretisierung durch die deskriptiv gehaltene Vorstellung der Praxisbeispiele möchte ich mich jetzt der Theoriebildung zuwenden. Vor der hier aufgespannten Hintergrundfolie werde ich daher im nächsten Schritt nach queer-feministischen Kapitalismuskritiken suchen, die in der Lage sind, widerspenstige Alltagspraxen in die theoretische Auseinandersetzung aufzunehmen.
3 Suchbewegung 1: Queer-feministische Kapitalismuskritiken
Seit ein paar Jahren lassen sich in der queer-feministisch akademischen Debatte im deutschsprachigen Raum vermehrt Auseinandersetzungen finden, die sich kritisch mit ökonomischen Fragen und den als neoliberal bezeichneten Transformationen kapitalistischer Strukturen beschäftigen.1 Ein Diskussionsmoment dreht sich um die Fragestellung, inwieweit queerfeministisches Engagement dazu beigetragen habe, neoliberalen Veränderungen Vorschub zu leisten bzw. inwieweit queer-feministische Interventionen von neoliberalen Strategien absorbiert wurden. Als ein wichtiger Denkanstoß aus dem angloamerikanischen Raum kann sicherlich das Wirken von Rosemary Hennessy (z.B. 1999; 1993; 2000) gewertet werden, die schon zu Beginn der 1990er Jahre auf die Gefahr der potentiellen Vereinbarkeit queerer Kämpfe mit kapitalistischen Veränderungsprozessen hinwies, wenn in den Analysen die ökonomisch-materielle Perspektive außen vor gelassen wird. Zeitgleich wird die Frage bearbeitet, wie herrschaftskritische, queer-feministische und antikapitalistische Projekte und Denkweisen entstehen (können). Diese Auseinandersetzung kann als eine Gegenbewegung gegen den Vorwurf der Vereinnahmung queer-feministischen Engagements gelesen wer-
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Vgl. dazu u.a. die Veröffentlichungen von Antke Engel (2009b; 2011), Renate Lorenz und Brigitta Kuster Lorenz und Kuster (2007), Do Gerbig (2009), Cornelia Möser (2008), AG Queer Studies (2009), Melanie Groß und Gabriele Winker (2007), Nikita Dhawan, Maria Do Mar Castro Varela und Antke Engel (2011a) usw.
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den, wonach selbiges als Vehikel kapitalistischer Transformationen diene – sei es auf wissenschaftlicher oder aber alltagsweltlicher Ebene.2 Ein grundlegendes Anliegen queer-feministischer Debattenbeiträge ist es, darauf hinzuwirken, die Verwobenheit sexueller Identitätsbildungen mit im weitesten Sinne Produktions- und Reproduktionsfragen sichtbar zu machen. Die jeweilige Ausformung kapitalistischer Verhältnisse hat demnach Auswirkungen auf die Möglichkeiten sexueller Identitätsbildungen und umgekehrt. Renate Lorenz, Pauline Boudry und Brigitta Kuster prägen hierfür beispielsweise den Begriff ‚sexuell arbeiten‘ (Boudry et al., 2000; Kuster et al., 1999; Lorenz und Kuster, 2007) In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, genau nachzuzeichnen, wie Sexualität als ein Macht- und Herrschaftsverhältnis mit kapitalistischer Produktion verknüpft ist. Queer-feministische Debatten sind für mich von besonderem Interesse, weil darin oftmals die Frage verhandelt wird, worin das subversive Potential queer-feministischen Engagements innerhalb der Herausforderungen kapitalistischer Verhältnisse liegt und wie widerspenstige Alltagspraxen aussehen und entwickelt werden können. Im Fokus meiner Betrachtung liegt deshalb weniger die Analyse, welchen Stellenwert zur Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktions- und Wirtschaftsweisen der Bereich der Reproduktion hat – der nach wie vor meist von Frauen unbezahlt geleistet wird; als Stichworte seien hier die so genannte Hausarbeitsdebatte aus den 1970/80er Jahren sowie aktuelle Auseinandersetzungen mit CareÖkonomie(n) genannt. Auch geht es mir nicht darum, zu fragen, welche unterschiedlichen Auswirkungen die so genannte Globalisierung sowie die damit einhergehenden neoliberalen Transformationen kapitalistischer Strukturen auf die Geschlechterverhältnisse haben. Vielmehr ist das Ziel dieser Arbeit, mithilfe queer-feministischer Perspektiven Möglichkeiten widerspenstiger Alltagspraxen auszuloten. Oder anders formuliert: Mir geht es darum, zu fragen, wie queer-feministische Kapitalismuskritiken dazu beitragen, widerspenstige Alltagspraxen theoretisch denken zu können. Hierfür möchte ich in die ‚Werkzeugkiste‘ queerfeministischer Debatten greifen. Die Überlegungen des Autor_innenkollektivs J.K. Gibson-Graham und jene Friederike Habermanns sind hierzu besonders
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Als zwei Beispiele lassen sich das von queer-feministischen Aktivist_innen selbstorganisierte Event ‚Who Cares? Queerfeminismus & Ökonomiekritik‘ (Who Cares?, 2010) sowie die internationale wissenschaftliche Tagung ‚Desiring Just Economies / Just Economies of Desire‘ (Just Economies, 2010) nennen.
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spannend, weil sie sich konkret mit den Möglichkeiten antikapitalistischfeministischer sowie herrschaftskritischer Alltagspraxen auseinander setzen. Sie bieten somit kapitalismuskritische Theoretisierungen an, die widerspenstige Alltagspraxen in den Fokus des theoretischen Interesses nehmen. Antke Engel interessiert sich für diejenigen Widersprüche, in denen widerspenstige Alltagspraxen verwoben sind. Ihre Strategie der VerUneindeutigung (Engel, 2001, 2002) sowie ihr Denkanstoß, Paradoxien innerhalb kapitalistischer Verhältnisse neu zu bewerten (Engel, 2009a,b) tragen dazu bei, Ambiguitäten und Widersprüche in den gelebten Alltagspraxen als potentielle Formen von Politisierung zu begreifen und damit nicht als notwendiges Scheitern der Bemühungen zu lesen. Mit dieser Schwerpunktsetzung greife ich nicht nur aktuelle Debatten auf, sondern wende mich mit J.K. Gibson-Graham auch einem Beitrag aus den 1990ern zu.3 Katherine Gibson und Julie Graham publizierten unter dem Kollektivnamen J.K. Gibson-Graham.4 Im deutschsprachigen akademischen Kontext wurde ihr Werk lange nicht rezipiert.5 Mittlerweile zeichnet sich ein Wandel innerhalb der queer-feministischen Wissenschaftsgemeinschaft ab, wie beispielsweise die internationale Tagung zu Queerfeminismus und Kapitalismuskritik ‚Desiring Just Economies / Just Economies of Desire‘ zeigte. Auf der in Berlin im Juni 2010 tagenden Konferenz war zwar Katherine Gibson nicht anwesend, die Veröffentlichungen des Autor_innenkollektivs waren allerdings in aller Munde. J.K. Gibson-Graham (Gibson-Graham, 2006b,a) suchen in ihren Arbeiten nach antikapitalistischen Handlungsoptionen im Hier und Jetzt und ermöglichen mit ihrer Dekonstruktion marxistischer Kapitalismusanalysen ein neues Nachdenken und Sprechen über alternative Formen ökonomischen Wirtschaftens und Lebens. Sie nennen diese community economies. Friederike Habermann (Habermann, 2008, 2009b, 2006a) macht sich für eine subjektfundierte Hegemonietheorie stark, zeichnet an der Genese der Hegemonialwerdung des homo oeconomicus als Leit- und allgemeingültiges Men-
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Die Erstveröffentlichung von „The End of Capitalism (As We Knew It)“ (Gibson-Graham, 2006a) erfolgte 1996. Die Zweitauflage mit neuer Einleitung erschien zeitgleich zur zweiten Monographie „A Postcapitalist Politics“ (Gibson-Graham, 2006b) im Jahr 2001.
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Julie Graham starb im April 2010. Kurze Rezeptionen finden sich u.a. bei Friederike Habermann (2009b), Antke Engel (2009a; 2009b) sowie in einem Vortrag von Katharina Pühl (2009) an der FU Berlin.
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schenbild die Verquickung diverser Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Subjektkonstitution nach und stellt Thesen für eine emanzipatorische Theorie und Politik auf, die ein Queeren sowohl der materiellen Verhältnisse als auch der Identitäten fordert. Hier spielen gerade widerspenstige Lebenspraxen eine wesentliche Rolle. Zugespitzt lässt sich die Behauptung aufstellen, dass sich Habermann in ihren Überlegungen stärker im Rahmen hegemonietheoretischer Auseinandersetzungen bewegt, wohingegen GibsonGraham eher den Schwerpunkt auf queer-feministisches Terrain legen und dabei etwas mehr auf der Suche nach postkapitalistischen Alternativen sind und weniger auf die Anschlussfähigkeit an eine Ökonomiekritik in marxistischer Tradition achten. Trotz dieser auf den ersten Blick konträr wirkenden Ausrichtungen lassen sich beide Ansätze meines Erachtens gewinnbringend miteinander in Beziehung setzen: Gemeinsamer Ausgangspunkt ist sicher ihre Rezeption queer-feministischer Analysen, die die Verwobenheit diverser Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den Individuen und damit in der Subjektkonstitution selbst thematisieren. Darüber hinaus setzen sie sich mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau auseinander, die mit ihrem Werk „Hegemonie und radikale Demokratie“ (Laclau und Mouffe, 1991) eine poststrukturalistische Wende hegemonietheoretischer Ansätze bewirkten. Neben der Würdigung der durch Laclau und Mouffe erfolgten Perspektivverschiebung werfen vor allem Gibson-Graham die Frage auf, ob sich auch im Konzept der radikalen und pluralen Demokratie nicht doch wieder eine ökonomistische Perspektive eingeschlichen hat. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe analysieren demnach zwar das Soziale in all seiner Vielfalt, Zerrissenheit, Unabgeschlossenheit etc. und ziehen daraus theoretische Konsequenzen, lassen allerdings ‚den‘ Kapitalismus bzw. den Diskurs über Kapitalismus unangetastet. Gibson-Graham befürchten hingegen, dass gerade im gegenwärtigen Diskurs über Kapitalismus das Ökonomische als zwangsläufig hegemonial begriffen wird und damit in letzter Konsequenz das hegemonial werden des kapitalistischen Diskurses als determinierender Faktor für gesellschaftliche Entwicklungen gar nicht mehr analysiert werden kann. Wirkmächtige nichtkapitalistische Alltagspraxen könnten dann nicht mehr gefunden werden. An dieser Stelle lässt sich an die Arbeiten von Habermann anschließen, die in ihrer Dissertation sehr gut nachzeichnet, wie sich das Leitbild des Menschen als homo oeconomicus und damit implizit auch die Wirkmächtigkeit des – in Gibson-Grahams Worten – kapitalozentristischen Diskurses durchgesetzt hat und wie dieses mit und in anderen Identitätskonstruktionen (Habermann nimmt hierfür die fast schon klassische Trias von Geschlecht, Rasse und Klasse) verwoben ist. Gibson-Graham würden vermutlich Habermann
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zustimmen, wenn sie – ebenso wie Gülay Çağlar (2004) – konstatiert: „Der homo oeconomicus ist jetzt. Wir werden“ (Habermann, 2008, 279). Das Autor_innenkollektiv interessiert sich in „A Postcapitalist Politics“ (GibsonGraham, 2006b) eben genau für dieses Werden. Wie kann jenes Werden aktiv gestaltet werden? Sie bieten mit dem Konzept der community economy erste theoretische und praktische Schritte hin zu einer postkapitalistischen Lebensorganisation im Hier und Jetzt. Auch Antke Engel (2009a; 2001; 2009b; 2002) interessiert sich für die Möglichkeiten widerspenstiger Alltagspraxen. Sie greift aus einer queeren Perspektive auf die Paradoxien und Uneindeutigkeiten innerhalb neoliberal geprägter Verhältnisse zurück, lotet die Möglichkeiten einer Politisierung dieser Ambivalenzen aus und macht sich für eine radikalisierte Version hegemonietheoretischer Überlegungen stark. Ihr Ziel ist es, das Feld des Ökonomischen stärker in den Blick queerer Theoriebildung zu rücken, da aus ihrer Perspektive queere Bewegungen nicht nur Effekte neoliberaler Transformationen oder Instrumente neoliberaler Veränderungen darstellen, sondern auch Stolpersteine und herrschaftskritische Anfechtungen derselben sein können. Vorgehensweise im Kapitel Das Kapitel verfolgt zwei Ziele. Ich möchte erstens aufzeigen, warum die dominanten Wissensproduktionen über Kapitalismus aus queer-feministischer Perspektive problematisch sind. Zweitens verfolge ich die Frage, welche Perspektiven und Handlungsansätze in den ausgewählten Theorieansätzen zu finden sind, um widerspenstige Alltagspraxen denken und leben zu können. Das Kapitel 3.1 widmet sich daher sehr allgemein der Dekonstruktion kapitalistischer Wissensproduktion. Mit der Annahme im Hinterkopf, dass es notwendig ist, vermeintliche Wahrheiten über kapitalistische Strukturen und Mechanismen infrage zu stellen, wende ich mich dann der Frage der Theoretisierung widerspenstiger Handlungspraxen zu. Dazu werde ich im Kapitel 3.2 in queer-feministische Perspektiven hegemonietheoretischer Überlegungen einführen. Was sind die Grundideen einer poststrukturalistisch gewendeten Hegemonietheorie, wie wird dort die Ebene der Alltagspraxen konzipiert und welche Kritiken formulieren Antke Engel, J.K. GibsonGraham und Friederike Habermann an der Theoretisierung von Hegemonie nach Chantal Mouffe und Ernesto Laclau? Das folgende Kapitel 3.3 nimmt dann die Handlungsstrategien und Perspektiven widerspenstiger Alltagspraxen in den Fokus der Betrachtungen. Wie theoretisieren die Wissenschaftler_innen widerspenstige Alltagspraxen und welche Handlungsstra-
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tegien bieten sie an, um kollektive Prozesse widerspenstiger Alltagspraxen zu denken und zu leben? Das abschließende Kapitel 3.4 fast die Ergebnisse dieser Suchbewegung zusammen und formuliert Fragen, die der Analyse der Praxisbeispiele dienen.
3.1 Wissen über Kapitalismus dekonstruieren Das folgende Unterkapitel setzt sich mit der Frage auseinander, warum es aus einer queer-feministischen Perspektive notwendig ist, das vorherrschende Wissen über die Funktionsweisen kapitalistischer Strukturen aufzubrechen. Ich greife hierfür auf die Überlegungen des Autor_innenkollektivs J.K. Gibson-Graham zurück. Sie zeigen sehr grundlegend auf, warum der aktuelle Diskurs über die Frage, was ‚Kapitalismus‘ ist und wie er funktioniert, ein Wissen über kapitalistische Verhältnisse produziert, das die Vorstellung der Möglichkeit der Überwindung kapitalistischer Gesellschaftsordnungen fast undenkbar macht. Gibson-Graham bescheinigen diesem Diskurs eine kapitalozentristische Perspektive. Das Kapitel 3.1.1 wird sich daher dem Vorwurf des Kapitalozentrismus widmen und Dekonstruktionen des Wissens über Kapitalismus anbieten. Mit einer kapitalozentristischen Perspektive einher geht das Menschenbild des homo oeconomicus. Menschen werden in dieser Lesart als Nutzen maximierende, rational handelnde Akteure konstruiert, die primär in KostenNutzen-Relationen denken und handeln und einzig auf ihren persönlichen Vorteil bedacht sind. Für das Kapitel 3.1.2 greife ich auf die Arbeiten von Friederike Habermann zurück, die in ihrer Dissertation „Der homo oeconomicus und das Andere“ (Habermann, 2008) nachzeichnet, wie es zur Herausbildung dieses Menschenbildes kam und welche Herrschaftsverhältnisse darin wirkmächtig sind. Das vorliegende Teilkapitel verfolgt das Ziel, hegemoniales Wissen über Kapitalismus zu irritieren und Sichtweisen anzuregen, die in der Lage sind, widerspenstige Alltagspraxen theoretisch zu fassen und als mögliche Experimente grundlegend anderer Formen des miteinander Lebens und Wirtschaftens zu begreifen. 3.1.1 Wider den Kapitalozentrismus J.K. Gibson-Graham unterziehen in ihrem Werk „The End of Capitalism (As We Knew it)“ (Gibson-Graham, 2006a) marxistische Theoriedebatten
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einer kritischen Analyse aus queer-feministischer Perspektive. Ein Anlass der Kritik ist die bewusst vereinfachende und provokante Frage: „Why can Feminists have revolution now, while Marxists have to wait?“ (GibsonGraham, 2006a, S. 251). Ausgangspunkt der Dekonstruktionsbemühungen marxistischer Wissensproduktionen ist folglich das Unbehagen, als Feminist_innen die Überzeugung zu teilen, die Veränderung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Hier und Jetzt beginnen zu können und gleichzeitig als Marxist_innen deutlich skeptischer zu sein. In „The End of Capitalism (As We Knew it)“ (Gibson-Graham, 2006a) formulieren die Autor_innen als Hauptkritikpunkt an marxistischen Denktraditionen die Schaffung eines Diskurses über Kapitalismus, der erfolgreichen Widerstand gegen kapitalistische Zumutungen fast undenkbar macht. Die Eigenschaftsbeschreibungen sowie Erklärungen von kapitalistischen Transformationsprozessen sind in diesem Diskurs derart gestaltet, dass widerständige Praxen lediglich als marginal und der kapitalistischen Logik unterlegen zu begreifen sind(Gibson-Graham, 2006a, S. 252). Zur Unterfütterung dieser These lässt sich an die empirischen Forschungsergebnisse von Suzanne Bergeron (2003) anknüpfen, die herausgearbeitet hat, dass im Globalisierungsdiskurs sowohl aus einer globalisierungskritischen als auch aus einer neoliberalen Perspektive die gleichen Argumentationsmuster und Erzählungen verwendet werden, die Unterscheidung zwischen den Positionen lediglich in der unterschiedlichen Bewertung liegt. Diese Gleichheit der Narration bewirkt letztendlich die Lähmung feministischer sowie – etwas breiter formuliert – emanzipatorischer Interventionen. Ziel der kritischen Diskussion ist es daher, der Wirkmächtigkeit des kapitalozentristischen Diskurses eine alternative Lesart entgegen zu stellen. Dadurch erhoffen sie sich die Dekonstruktion des kaum fassbaren und übermächtigen ‚Monsters‘ Kapitalismus und die Öffnung eines Diskurs-Raums, indem nicht-kapitalistische Formen des Wirtschaftens an die Oberfläche treten, eigene Positivität entfalten und somit zu einer denkbaren Alternative werden können. Der Kapitalozentrismus-Vorwurf stellt eine Analogie zur feministischen Kritik des Phallogozentrismus6 dar und besagt, dass Kapitalismus nicht
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Unter Phallogozentrismus wird das Denken des christlichen Abendlandes bezeichnet, das in hierarchisch strukturierten Dichotomien (Mann/Frau; Geist/Körper; Kultur/Natur usw.) operiert, wobei es von der Präexistenz der Idee vor dem Wort ausgeht (= Logozentrismus). Dieser Logozentrismus zeichnet sich dadurch aus, dass der Phallus als zentrales Symbol von Männlichkeit
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als eine spezifisch historische Form von Ökonomie, sondern als definierendes Moment von Ökonomie selbst begriffen wird. Alle anderen Wirtschaftsweisen sind folglich kapitalistischer Produktion untergeordnet. Letztendlich beschreibt der Kapitalozentrismus die Konzentration und Subsumtion aller gesellschaftlichen Prozesse unter die Zwänge kapitalistischer Produktion: „By virtue of its central role in defining specificities of the other social moments, ‚capitalism‘ becomes the dominant term in the social articulation. Crisis is therefore not only crisis of the totality but also capitalist crisis“ (Gibson-Graham, 2006a, S. 155). In ihren Worten geht es deshalb darum, „theoretical downsizing of capitalism“ (Gibson-Graham, 2006a, S. XXIV) zu betreiben, da „economy is what we (discursively and practically) make it“ (Gibson-Graham, 2006b, S. XXII). Mit ihrer Dekonstruktion des kapitalistischen Diskurses und der Selbstverortung als Post-Marxist_innen verabschieden sich J.K. Gibson-Graham trotzdem nicht von einer marxistischen Analyse, ihnen geht es um die Trennung marxistischen Denkens von der Vorstellung von Ökonomie als einem einheitlichen, in sich logischen sowie sich selbst regenerierenden System. „The step outside the discourse of Capitalism [...] is not to step outside Marxism [...] It is to divorce Marxism from one of its many and problematic marriages – the marriage to ‚the economy‘ in its holistic and self-sustaining form“ (Gibson-Graham, 2006a, S. 264). Sie greifen für die Dekonstruktion auf Argumentationsmuster und Auseinandersetzungen queer-feministischer Forschungspraxis zurück. Wichtige Denkanstöße holen sie sich bei Michel Foucault – seinem Machtverständnis als auch der Bedeutung von Wissen-Macht-Komplexe für die Konstruktion von Identität –, Donna Haraways Ansätzen der Dekonstruktion von Körpern sowie Althussers Konzeption der Überdetermination im Sinne eines antiessentialistischen Projekts. Inhaltliche Hauptstrategie in „The End of Capitalism“ ist es, das diskursive Bild von Kapitalismus so zu überzeichnen, dass damit Dekonstruktionsprozesse möglich werden, die wiederum die Vielfalt ökonomischer Prozesse
fungiert: Der Mann wird folglich als Grundmodell des Menschen erhoben, die Frau dagegen erscheint als Abweichung (= Phallogozentrismus). Alle Dichotomien werden im Phallogozentrismus als weiblich bzw. männlich konnotiert und erfahren damit ihre jeweilige Ab- bzw. Aufwertung (vgl. Meissner, 2008, S. 14).
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offen legen. Diese Strategie ist Resultat der kritischen Frage, warum die oftmals so genannte neue Weltordnung durch politische Fragmentation und gleichzeitig durch ökonomische Vereinheitlichung gekennzeichnet sein solle. Was würde sich ändern, wenn Ökonomie nicht als letzte Bastion von Einheit und Singularität in einer Welt voller Pluralität und Diversität gedacht würde (Gibson-Graham, 2006a, S. 263)? Mit der Suche nach und der Entwicklung einer Sprache facettenreicher Ökonomien („diverse economies“) intendieren J.K. Gibson-Graham den Bruch mit dem hegemonialen Diskurs von Kapitalismus, der sich durch die vermeintliche kapitalistische Singularität, Einheit und Totalität auszeichnet. Diese Charakteristika, die von Gibson-Graham als zentrale diskursive Formen kritischer Kapitalismusanalysen ausgemacht werden, führen dazu, unter Kapitalismus ein sich regelmäßig veränderndes System zu verstehen, das kaum überwunden werden kann. Eine elementare Herausforderung liegt dann darin, mithilfe der Methode der Dekonstruktion den Materialisierungen dieser Konstruktionen entgegen zu treten. Schließlich haben aus queer-feministischer Perspektive Konstruktionen von Wirklichkeit materielle Auswirkungen. Mit dem Begriff der Singularität („singularity“) (Gibson-Graham, 2006a, S. 256ff.) bezeichnen Gibson-Graham ein Verständnis von Kapitalismus, das im Kapitalismus ein alternativloses System sieht beziehungsweise ein System ohne äquivalente Alternativen. Wenn folglich eine Gesellschaft als kapitalistisch bezeichnet wird, dann ist der Bereich der Ökonomie ausschließlich durch eine kapitalistische Logik geprägt, die sich dadurch auszeichnet, widerständige Praxen immer wieder zu absorbieren. Kapitalistische Krisen gelten dann als Moment der Regeneration, das heißt, kapitalismuskritische Interventionen tragen unfreiwillig zur Systemerhaltung bei. Das Charakteristikum der Einheit („unity“) (Gibson-Graham, 2006a, S. 253ff.) findet seine Wurzeln in der Wahrnehmung der Ökonomie als einer autonomen sozialen Sphäre. Kapitalismus wird in dieser Lesart als eine strukturgebende Einheit begriffen, die gesellschaftliches Leben und Wirtschaften organisiert und in ein logisches Verhältnis setzt. „The capitalist economy is seen as integrated and disciplined by the process of the market, by competition, by the profit rate and its conditions, by the law of value or the laws of capital accumulation, all of which can be theorized as generating unity of form and movement in the economic totality.“ (GibsonGraham, 2006a, S. 254, FN 8)
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Kapitalismus kann dann mit den Attributen eines Organismus’, eines architektonischen Gebildes, einer geschlossenen Entität usw. versehen werden. Der diesen Vorstellungen innewohnende Funktionalismus, führt nach Donna Haraway (1991) letztlich dazu, dass alternative Zukunftsvisionen ausgebremst werden. Denn wenn Kapitalismus als eine strukturierende und systematische Einheit gelesen wird und nicht als Set diverser Praktiken, dann können diesem zwar Widerstand entgegengebracht oder Reformen abgerungen werden –die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse aber wird damit zum schier unermesslichen Unterfangen. Die Annahme der Totalität („totality“) (Gibson-Graham, 2006a, S. 258f.) kapitalistischer Strukturen hat zur Folge, dass beispielsweise alle nicht-kapitalistischen Formen der Produktion als innerhalb des kapitalistischen Systems stattfindend gesehen werden; Kapitalismus verstanden als soziale Totalität verhindert folglich jegliches Außerhalb kapitalistischer Verhältnisse. In J.K. Gibson-Grahams Augen ist es deshalb der marxistischen Theorietradition zwar gelungen, alle ökonomistischen Determinationen und Konzeptionen von Klasse – die Arbeiter_innenklasse als revolutionäres Subjekt und als zentraler Agent sozialer Transformation – zu überwinden, um letztendlich die Ökonomie wieder einzuführen: Die kapitalistische Ökonomie, die alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens durchdringt. „This means that the left is not only presented with the revolutionary task of transforming the whole economy, it must replace the entire society as well“ (GibsonGraham, 2006a, S. 259). All diese hegemonialen Zuschreibungen konstruieren in letzter Konsequenz Kapitalismus als ein Objekt der Transformation, das selbst nicht transformiert werden kann (vgl. Gibson-Graham, 2006a, S. 253). Gibson-Graham selbst arbeiten dementsprechend mit einer sehr engen Definition von Kapitalismus7 : „For us, capitalism is defined as a social relation, or class process, in which nonproducers appropriate surplus labor in value form from free wage laborers. The appropriated surplus is distributed by the appropriators (the capitalist or board of directors of the capitalist firm) to a variety of social destinati-
7
In der Erstausgabe von „The End of Capitalism“ findet sich eine Kapitalismusdefinition lediglich in einer Fußnote, erst mit dem Vorwort zur zweiten Auflage beantworten J.K. Gibson-Graham die Frage nach einer Definition direkt im Text. Hieran lässt sich nochmal zeigen, dass es ihnen vor allem um Dekonstruktionsprozesse im vorherrschenden Kapitalismusverständnis geht.
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ons. In this rendition, capitalism becomes recognizable as a set of practices scattered over a landscape in formal and informal enterprise settings, interacting with noncapitalist firms as well as all other sites and processes, activities and organizations.“ (Gibson-Graham, 2006a, S. XXIV) Damit heben sie sich ausdrücklich von der vorherrschenden hegemonietheoretischen Perspektive ab – Kapitalismus soll eben nicht als das bewusst überspitzt beschriebene unangreifbare und allgegenwärtige ‚Monster‘ erscheinen. Ziel dieser Definition ist es aufzuzeigen, dass kapitalistische Praktiken, Logiken usw. von vielen nicht-kapitalistischen Prozessen durchzogen sind und ohne diese auch nicht lebensfähig wären. Denn um kapitalistische Hegemonie theoretisch zu begreifen, muss es möglich sein, nicht-kapitalistische Formen des Wirtschaftens als Positivitäten definieren zu können. Ihre Existenz als widerständige Praxis muss daher sowohl theoretisch als auch praktisch im Bereich des Möglichen liegen. Wenn nicht, dann wäre kapitalistische Hegemonie kein Ergebnis von Machtkämpfen und gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern eine theoretische (Vor-)Annahme mit verheerenden politischen Konsequenzen (vgl. Gibson-Graham, 2006a, S. 263). Das heißt aber nicht, dass Gibson-Graham die Wirkmächtigkeit und Allgegenwärtigkeit kapitalistischer Logiken negieren wollen. Sie sprechen vielmehr die Warnung aus, diese Wirkmächtigkeit als Grundannahme oder gar zu akzeptierende und unhinterfragbare Tatsache hinzunehmen. An dieser Stelle lässt sich die queer-feministische Perspektive der Autor_innen verdeutlichen: Ebenso wenig wie Judith Butler (1995) mit ihrem Konzept der Performativität den Verlust des Subjekts heraufbeschwört – sondern vielmehr sowohl die Manifestation gesellschaftlicher Diskurse in den Körpern und Identitäten verdeutlicht als auch deren Veränderungs- und Handlungspotential hervorhebt, da Diskurse ständig neu (re-)produziert werden müssen – negieren J.K. Gibson-Graham nicht die Existenz kapitalistischer Verhältnisse. Sie fragen danach, wie sich der Diskurs um Kapitalismus verändern müsste, um Menschen darin als handlungsfähige Subjekte zu begreifen und damit gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Mit dieser Herangehensweise wenden sie eine von Kritiker_innen poststrukturalistischer Theorien vielfach hervorgebrachte Kritik um: Demnach ist poststrukturalistisches Denken nicht mit dem Makel behaftet, widerständiges Handeln nicht denken zu können. Im Gegenteil, es bedarf in ihren Augen einer poststrukturalistischen Perspektive, um die Frage nach Handlungsfähigkeit innerhalb kapitalistischer Verhältnisse zu stellen (und zu beantwor-
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ten). Diese Frage nach der Handlungsfähigkeit sowie das damit einhergehende Potential widerspenstiger Praxen ist für diese Arbeit sehr wertvoll. Mit Hilfe der Dekonstruktionsbemühungen von J.K. Gibson-Graham will ich aufzeigen, das die Form der Wahrnehmung von Realität immer auch Handlungsoptionen öffnet und/oder schließt. Besonders wichtiges Anliegen ist es, darauf hin zu wirken, in der Dominanz kapitalistischer Logiken ein Resultat hegemonialer Prozesse zu sehen und nicht ein definierendes Moment von Ökonomie selbst. Friederike Habermanns Wirken trägt nun dazu bei, die Frage zu beantworten, warum das aktuell hegemoniale Menschenbild des homo oeconomicus so wirkmächtig ist. 3.1.2 Wider das Menschenbild des homo oeconomicus Das Menschenbild des Nutzen maximierenden Individuums, das sich in seinen Entscheidungen an der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit seines Handelns orientiert und auf den eigenen Vorteil bedacht ist, ist der Wirtschaftstheorie entlehnt. Friederike Habermann bezeichnet die Ökonomen Stuart Mill, Adam Smith und Jeremy Bentham als geistige Väter des homo oeconomicus (vgl. Habermann, 2008, S. 130). Auch wenn sie in ihren Schriften den Begriff selbst noch nicht verwenden, gelten sie als wichtige Wegbereiter dieses Menschenbildes. Seither etablierte sich das Bild und ist heute nicht nur in der Wirtschaftstheorie gültig, sondern gilt gemeinhin als Grundmuster menschlichen Denkens und Handelns: Im homo oeconomicus „erkennen die Menschen nicht nur, wie sie angeblich tief in ihrem Inneren funktionieren, sondern auch, was sie von ihren Mitmenschen zu erwarten haben.“ (Habermann, 2008, S. 170f.). Im aktuellen Zeitalter neoliberaler Umstrukturierungsprozesse wird der Begriff sprachlich oft durch die foucault’sche Figur des Unternehmers seiner Selbst ersetzt (Foucault, 2006a,b). Ulrich Bröckling bezeichnet das unternehmerische Selbst jedoch als „Abkömmling des homo oeconomicus“ (Bröckling, 2007, S. 12). Allgemein verfolgen die an Foucault angelehnten Gouvernementalitätsstudien die Frage, wie sich Regieren unter neoliberalen Anzeichen verändert hat und welche Auswirkungen diese Formen des Regierens auf Subjektbildungsprozesse haben.8 Das unternehmerische Selbst gilt dabei als Korrelat einer neoliberalen Regierung und ist Ausdruck einer Gouvernementalität, welche sich im Neoliberalismus zwischen verschiedenen Herrschaftsverhältnissen herausgebildet hat. Sie schreibt Verhaltensmuster
8
Vgl. z.B. Opitz (2004, 2007) und Ludwig (2011).
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vor, begünstigt bestimmte Identitäten und unterwirft letztendlich alle Menschen unter ihre Maxime (vgl. Habermann, 2008, S. 178). Unter Gouvernementalität wird folglich eine bestimmte Form des Regierens verstanden, die ein Charakteristikum spätkapitalistischer Gesellschaften darstellt (vgl. u.a. Foucault, 2006a, 2000, 2006b). Gouvernementalität zeichnet sich darin sowohl durch das Zusammenwirken von institutionellen Formen des Regierens als auch durch Selbstführung, Selbstdisziplin und Selbstmanagement der Individuen aus. Demnach werden im Sinne neoliberaler Prozesse diese Imperative (Selbstführung, Selbstmanagement und Selbstdisziplin) universalisiert und gesellschaftliche Verantwortung an die Einzelnen abgegeben: „Das Unternehmerische umschreibt eine Ethik des Selbst, die zu einer Unterwerfung des gesamten Lebens unter marktwirtschaftliche Kalkulationen aufruft, wobei das Ziel die Bewahrung, Reproduktion und Mehrung des eigenen Humankapitals ist“ (Opitz, 2007, S. 105). Mit der Anrufung des neoliberalen unternehmerischen Selbst einher gehen paradoxe Erwartungen an die Menschen, da sie sowohl mit Freiheitsversprechen als auch mit Individualisierungszwängen konfrontiert sind. Alle Menschen haben vermeintlich die Freiheit, über das eigene Leben selbstbestimmt zu entscheiden, sich ‚selbst zu regieren‘. Mit dem Stellenwert individueller Freiheit einher geht gleichzeitig der Zwang zu Selbstvorsorge und Fürsorge. Die neoliberale Freiheit ist daher verbunden mit dem Rückgang kollektiver Sicherungssysteme. Jeder und jede ist gleichermaßen ihres Glückes Schmied und selbstverantwortlich für das Scheitern der individuellen Bemühungen. Wie Katharina Pühl (2004) zu Recht in ihrer Studie zu den Auswirkungen der Hartz IV Gesetzgebung hinweist, hat die Figur eine vergeschlechtlichte Dimension, die oftmals ausgeblendet wird. Sie spricht deshalb von der Unternehmerin ihrer Selbst. Demnach erfahren Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus gleichzeitig Momente der Flexibilisierung als auch der Fixierung. Die Individuen werden in allen Lebensbereichen mit der Anrufung als Unternehmer_innen ihrer Selbst konfrontiert, sie finden sich im Bereich des Öffentlichen ebenso wie im Bereich des Privaten. Wenn das unternehmerische Selbst ein Abkömmling des homo oeconomicus ist, dann bietet der Blick in die Entstehungsgeschichte des Menschenbildes Deutungsmuster für die Wirksamkeit und Wirkmächtigkeit des aktuellen Leitbilds. In ihrer historischen Analyse der Genese des homo oeconomicus zeigt Habermann auf, dass dessen Entstehung untrennbar mit der
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Entstehung des männlichen, weißen, bürgerlichen Subjekts verbunden ist. Friederike Habermann vertritt hierbei „die These, dass der homo oeconomicus als hegemoniales Leitbild für alle Identitäten gültig geworden ist, und damit durchaus ‚andere‘ Identitätsaspekte überdeterminieren kann. Der homo oeconomicus [...] bildet nicht nur das Stereotyp des weißen, heterosexuellen, gesunden, jungen (etc.) Mannes als Wirtschaftssubjekt ab, sondern es besteht ein diskursiver Zusammenhang zwischen diesem Entwurf und der Konstruktion des (Wirtschafts-)Subjekts im modernen, bürgerlichen Staat.“ (Habermann, 2008, S. 18) In der Parallelität der Formierung des bürgerlichen Subjekts mit dem Menschenbild des homo oeconomicus liegen die zu beobachtenden Ambivalenzen neoliberal geprägter gesellschaftlicher Veränderungen. So ergeben sich trotz erkämpfter Emanzipationserfolge immer wieder neue sexistische und rassistische Kräfteverhältnisse aus der gesellschaftlichen „Ausrichtung auf das Ideal des homo oeconomicus, welches weiblich besetzte (feminized) und ethnisierte (racialized) Eigenschaften als minderwertige Abweichungen konstruiert“ (Habermann, 2008, S. 248). Auch wenn heute der gesellschaftliche Aufstieg zumindest theoretisch für alle möglich ist – die heterosexuelle Managerin ist ebenso denkbar wie das erfolgreiche schwule / lesbische Pärchen – wenn das dafür individuell notwendige „‚passing‘, also der individuelle Wechsel in die hegemoniale Gruppe“ (Habermann, 2008, S. 248) gelingt, sollten strukturelle Herrschaftsverhältnisse nicht aus den Blick geraten. Trotz der Dominanz des ökonomischen Leitbilds, darf aus Habermanns Sicht nicht vergessen werden, dass es nach wie vor Menschen gibt, die a priori vom Idealtypus des Nutzen maximierenden, leistungsbereiten, neoliberalen Individuum ausgeschlossen werden und deshalb keine Chance haben, zu den Gewinner_innen neoliberaler Umstrukturierungen zu gehören (vgl. Habermann, 2008, S. 252). Strukturelle Herrschaftsmechanismen setzen dem Versprechen auf individuelles Glück nach wie vor Grenzen. Wenn die neoliberale Figur der Unternehmer_in ihrer Selbst lediglich eine Variante des homo oeconomicus darstellt, dann lassen sich Paradoxien innerhalb neoliberaler Transformationsprozesse relativ leicht erklären. Sie sind in letzter Konsequenz Ausdruck dafür, dass in den aktuellen Prozessen Verschiebungen stattfinden. Die Ausrichtung am unternehmerischen Selbst stellt eine Ausrichtung am männlich, weißen, bürgerlichen Subjekt dar, das wiederum seine ‚Anderen‘ konstituiert. Da gesellschaftlicher Kontext und
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Identitätsbildungen wechselseitige Prozesse sind, gilt es folglich in emanzipatorischer Absicht am ‚wir werden‘ zu arbeiten. Mit den vorangegangenen Ausführungen habe ich verdeutlicht, warum es zur Analyse widerspenstiger Alltagspraxen von Nöten ist, das dominante Wissen über Kapitalismus infrage zu stellen und als ein Ergebnis langjähriger gesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen. Damit sollte auch die Schwierigkeit aufgezeigt werden, sich von einer kapitalozentristischen Perspektive zu lösen. Insbesondere wenn es eine Prämisse queer-feministischen Denkens ist, dass kapitalistische Herrschaftsverhältnisse Identitätsbildungen und damit die Selbstwahrnehmung als handelnde Subjekte ebenso beeinflussen, wie andere Herrschaftsverhältnisse auch. Gleichermaßen bieten die hier angerissenen Perspektiven auch Deutungsmuster an, wie aus diesen Dekonstruktionsbemühungen Handlungsfähigkeit entstehen kann. An diesen Punkt anschließend werde ich im Folgenden das Interesse auf mögliche Handlungsstrategien widerspenstigen Alltagshandelns legen, die in den kapitalismuskritischen Theorien zu finden sind. Den Strategien voranstellen werde ich jedoch eine queer-feministische Lesart hegemonietheoretischer Diskurse. Dieser Schritt dient dem besseren Verständnis der hier diskutierten Theorieansätze.
3.2 Hegemonietheorie queer-feministisch wenden Wie bereits in der Einleitung geschrieben, bieten sich für meine Suche nach Theorieansätzen, die das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen erklären können, hegemonietheoretische Arbeiten an. Konkreter: Wissenschaftliche Arbeiten, die sich in eine gramscianische Theorietradition einordnen lassen bieten sich an, weil Gramsci den Alltagsverstand und damit auch alltägliche Handlungspraxen als wesentlichen Pfeiler von Hegemonieproduktion theoretisiert. Mit der poststrukturalistischen Wende gramscianischer Hegemonietheorie durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ist hegemonietheoretisches Denken anknüpfbar an queer-feministische Debatten. Dieses Teilkapitel übernimmt die Aufgabe, die hegemonietheoretische Hintergrundfolie der untersuchten queer-feministischen Kapitalismuskritiken von Antke Engel, Friederike Habermann und J.K. Gibson-Graham zu veranschaulichen. Den Ausführungen voranstellen möchte ich an dieser Stelle eine erste Definition von Hegemonie: In (neo-)gramscianischen Arbeiten wird Hegemonie als Konsens gepanzert mit Zwang definiert – in Abwandlung eines Zitats von
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Antonio Gramsci.9 Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass sich Gesellschaften nicht ausschließlich über repressive Mittel organisieren und regieren lassen. Es ist von Seiten der Beherrschten gleichermaßen ein bestimmtes Maß an Zustimmung notwendig. Diese Zustimmung wird nach Gramsci im Bereich der Zivilgesellschaft hervorgebracht. Darin wird ein Verständnis von Normalität hergestellt, das sich wesentlich im Alltagsbewusstsein manifestiert und einer beständigen Vergewisserung und Wiederholung bedarf. Der Alltagsverstand konstituiert und (re-)artikuliert sich dementsprechend aus einem Ensemble von Interessen, Überzeugungen und Praktiken. Ein zentraler Punkt von Hegemonie(re)produktion ist es dabei, dass die gegebene Gesellschaftsordnung und das damit einhergehende Alltagsverständnis als alternativlos wahrgenommen wird. Hegemonie kann in diesem Sinne als produktiv erzeugte und immer wieder zu produzierende Alternativlosigkeit verstanden werden, die wiederum eng mit performativen Akten gekoppelt ist. In diesem Verständnis lassen sich die Ansätze von GibsonGraham, Habermann und Engel als gegenhegemoniale Projekte lesen. Gegenhegemonial sind diese Ansätze insofern, als dass sie der vermeintlichen Alternativlosigkeit einer kapitalistischen Gesellschaftsorganisation ein produktives ‚Nein‘ entgegen setzen. Sie versuchen, Wege aufzuzeigen, die über eine schlichte Ersetzung einer hegemonialen Vorstellung durch ein neues hegemoniales Projekt hinausgehen. Zudem wollen sie mit der Logik von Hegemonie(re)produktion selbst brechen. Eng verbunden mit dem Begriff der Hegemonie ist die Annahme, dass gesellschaftliche Verhältnisse durch Antagonismen geprägt sind. Lange Zeit galt aus marxistischer Perspektive der Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital als der zentrale Herrschaftsmodus kapitalistischer Verhältnisse. Als klassisches Beispiel für einen Antagonismus wird der Bauer genannt, der nicht mehr Bauer ist, wenn ihm der Großgrundbesitzer keinen Boden mehr zur Verfügung stellt. Großgrundbesitzer und Bauer stehen folglich in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Die Identität ‚Bauer‘ kann ohne die Identität ‚Großgrundbesitzer‘ nicht sein. Antagonismus lässt sich daher nicht als Widerspruch übersetzen, da antagonistische Kräfte immer in einem relationalen und spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen.10
9
„Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ (Gramsci, 2012, S. 783) und Ausübung von Hegemonie ist „Kombination aus Zwang und Konsens“ (Gramsci, 2012, S. 1610).
10
Ich werde im Laufe des Kapitels noch ausführlicher auf den Begriff des Antagonismus eingehen.
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Im Folgenden werde ich (mit Friederike Habermann) stichpunktartig queerfeministische Kritiken an hegemonietheoretischer Denkweisen anreißen. Aus queer-feministischer Sicht ist besonders die Konstruktion des Subjekts sowie die Frage nach der Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen von Interesse. Gelingt es der theoretischen Perspektive, feministische Debatten in die Analyse mit einzubeziehen oder bleibt sie geschlechtsblind?11 Friederike Habermann kritisiert aktuelle positivistische Lesarten von Hegemonietheorie.12 Ich werde die zentralen Kritiken eines positivistischen Hegemoniebegriffs vorstellen, wie sie Habermann vor allem an regulationstheoretischen Ansätzen und neogramscianischen Lesarten der Internationalen Politischen Ökonomie formuliert: Als ein wesentlicher Punkt wird von Friederike Habermann die unbefriedigende Frage nach dem Subjekt genannt. So wird entweder ein Subjektbegriff in der Tradition der Aufklärung verwendet, der das Subjekt als vernunftbegabtes, handlungsfähiges und in sich geschlossenes, einheitliches Individuum konstruiert oder aber es werden Subjekte aus einer strukturalistischen Perspektive schlichtweg als Funktionsträger verstanden. Dieser funktionalistische beziehungsweise geschlossene Subjektbegriff führt zur Vernachlässigung von Antagonismen jenseits des kapitalistischen Antagonismus: „sämtliche gesellschaftliche Dynamik wird aus der kapitalistischen Produktionsweise erklärt“ 13 (Habermann, 2009a, S. 5). Damit einher geht die essentialistische Annahme, (Klassen-)Interessen seien im Wesentlichen vorgegeben und stabil und damit auch die Identitäten immer schon gege-
11
Ich bin mir bewusst, dass die Bezeichnung geschlechtsblind kritisch zu betrachten ist, da sie das mangelnde Bewusstsein gegenüber Geschlechterverhältnissen in den Worten einer körperlichen Einschränkung formuliert. Da dieser Begriff jedoch als stehender Begriff verwendet wird, halte ich – trotz der berechtigten Kritik – aufgrund einer fehlenden sprachlichen Alternative an der problematischen Formulierung fest.
12
Ein positivistisches Hegemonieverständnis sieht Friederike Habermann u.a. in aktuellen regulationstheoretischen Ansätzen, die in der deutschsprachigen Debatte maßgeblich durch die Überlegungen von Joachim Hirsch geprägt sind. Aber auch in den neogramscianischen Ansätzen der Internationalen Politischen Ökonomie finden sich in dieser Lesart vergleichbare Verkürzungen des Hegemoniebegriffs (vgl. Habermann, 2008, S. 48-68).
13
Hervorhebungen im Original. Unter dem gleichnamigen Titel findet sich eine überarbeitete Version der Konferenzschrift im Sammelband „Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven“ (Dzudzek et al., 2012)
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ben. Macht wird in dieser Logik als ein kohärentes und einseitiges (Klassen)Verhältnis verstanden, woran sich wiederum ein verkürztes Verständnis von Diskurs herauslesen lässt: Diskurs als herrschende Ideologie. Letztendlich führen diese positivistischen Lesarten dazu, dass die alltagsweltliche Ebene vernachlässigt wird (vgl. Habermann, 2008, S. 66f.). Das Handeln der Subjekte, ihre Verwobenheit mit Herrschaftsverhältnissen sowie der Einfluss dieser auf die Identitätsbildungen selbst spielt keine Rolle mehr. Als eine wesentliche Erweiterung hegemonietheoretischer Ansätze begreift Habermann die Kritik von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe an der marxistischen Theorietradition Mitte der 1980er Jahre. Ihr Ziel war es, den gramscianischen Hegemoniebegriff mithilfe einer poststrukturalistischen Perspektive zu erneuern. Das Denken Antonio Gramscis wird in Laclaus und Mouffes Augen als ein wichtiger Wendepunkt innerhalb marxistischer Auseinandersetzungen gesehen. Als zentrale Kritikpunkte ihrer poststrukturalistischen Intervention machen Laclau und Mouffe den Ökonomismus, den Etatismus sowie den Klassismus in der gramscianischen Hegemonietheorie aus.14 Gramsci gelang es demnach zwar vordergründig, die etatistische und ökonomistische Perspektive zu überwinden, indem er Hegemonie als ein gesellschaftliches Ringen um Kräfteverhältnisse begreift. Allerdings führt er Etatismus und Ökonomismus letztendlich wieder ein, weil er sich nicht von der Klassen-Perspektive löst:15 „Denn zu behaupten, dass Hegemonie immer einer fundamentalen ökonomischen Klasse entsprechen müsse, bedeutet zum einen, die Determination in letzter Instanz durch die Ökonomie wieder zu bekräftigen (den Ökonomismus) und zum anderen, Machtverhältnisse wieder auf den Staat zu beschränken (den Etatismus)“ (Habermann, 2009a, S. 7). Aus einer poststrukturalistischen Perspektive ist es nach Laclau und Mouffe (1991) notwendig, Machtkonzentrationen an einem Punkt zu verhindern, um demokratische Transformationen von Gesellschaften voranzutreiben. Dafür ist ein Bruch mit allen Essentialismen notwendig und soziale Identitäten müssen als nie endgültig fixierbar verstanden werden. Sie folgen damit einem poststrukturalistischen Verständnis von Subjekt. In dieser Lesart bestehen Subjekte aus einer Vielzahl von Subjektpositionen, die von
14
Ökonomismus, Etatismus und Klassismus lassen sich als Ökonomie-, Staatsund Klassenzentriertheit übersetzen.
15
Zur Kritik an Gramsci vgl. auch (Laclau und Mouffe, 1991, Kap. III).
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Widersprüchlichkeiten geprägt sind und immer wieder neu (re-)produziert werden müssen. Deshalb setzen sich die Wissenschaftler_innen mit der Frage auseinander, wie sich ausgehend von fragmentierten sozialen Identitäten Politik denken lässt. Da es keine homogenen Identitäten und damit auch keine homogenen Akteure gibt, sind politische Identitäten nicht unmittelbar gegeben, sondern entstehen auf Grundlage von komplexen diskursiven Praxen. Diese komplexen diskursiven Praxen nennen Mouffe und Laclau Artikulationen. Aber nicht nur die Subjekte, auch das Soziale bzw. die gesellschaftliche Ordnung ist vielfältig, fragmentiert und muss sich immer wieder neu (re-)produzieren. Macht – verstanden als Machtverhältnis – ist dabei nicht nur konstitutiv für das Soziale / die Gesellschaft, sondern auch an keinem zentralen Punkt zu lokalisieren. Sie ist an vielzähligen Orten und auf vielfältige Art und Weise zu finden. Soziale Machtverhältnisse werden in Antagonismen sichtbar, wenn sie artikuliert werden und damit in den Bereich des Politischen einwirken. Deshalb gibt es auch nicht einen grundlegenden Antagonismus, sondern verschiedene Antagonismen. Es ist deshalb zwar möglich, einen speziellen Antagonismus zu überwinden, allerdings nicht das Prinzip des potentiellen Antagonismus als solchen. Konflikthaftigkeit stellt damit ein zentrales Moment von Gesellschaft dar, die im Bereich des Politischen – der Dimension des Antagonismus – von kollektiven politischen Identitäten ausgetragen wird. Ein Antagonismus steht folglich für einen sozialen Konflikt, der die Unmöglichkeit einer vollständigen Konstituierung einer Ordnung und damit die Grenze bzw. Negation einer Ordnung selbst markiert.16 In diesem Konflikt wird die Beschränktheit jeder sozialen Objektivität sichtbar: Es gibt eben nicht die eine Wahrheit, Realität usw., sondern vielfältige und fragmentierte Aussagen über das, was als wahr gelten soll. Diese entstehen in den bereits erwähnten komplexen diskursiven Praktiken, die die Existenzbedingung einer jeden kollektiven Form politischer Identitätsbildung darstellen. Weil es Antagonismen gibt, gibt es den Bereich des Politischen, der sich durch soziale Machtverhältnisse und -kämpfe immer wieder verändert. Dadurch verändert sich auch das, was unter der Gesellschaft bzw. dem Sozialen verstanden wird bzw. wer Teil dessen ist oder nicht. Die sozialen Machtverhältnisse wiederum artikulieren sich in Antagonismen und mar-
16
Laclau und Mouffe sprechen in Hegemonie und radikale Demokratie vom Antagonismus als Negation einer gegebenen Ordnung. Vgl. (Laclau und Mouffe, 1991, S. 182).
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kieren dadurch die Grenze einer gegebenen Ordnung. Diese Grenze wird durch politische Interventionen – so genannte Artikulationen – immer wieder verschoben. Machtverhältnisse und soziale Konflikte sind somit konstitutiv für die Gesellschaft, es gibt demnach keine Gesellschaft, die immer frei von Konflikten und/oder Machtverhältnissen ist. Antagonismen als Grenzen einer gegebenen Ordnung stellen folglich die Existenzbedingung von Identitäten17 dar und erklären die Schwierigkeit ihrer Veränderung. Ausgehend von der Prämisse, dass das Soziale „nur als ein partieller Versucht existiert, Gesellschaft zu konstruieren“ (Laclau und Mouffe, 1991, S. 181), sehen Laclau und Mouffe im Antagonismus ein Zeugnis der Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung von sozialer Ordnung/ Gesellschaft. „Die Präsenz des Anderen hindert mich daran, gänzlich Ich selbst zu sein. Das Verhältnis entsteht nicht aus vollen Totalitäten, sondern aus der Unmöglichkeit ihrer Konstitution“ (Laclau und Mouffe, 1991, S. 180). Das heißt, dass soziale Identitäten immer im Wechselverhältnis zu anderen sozialen Identitäten stehen. Verändern sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und damit die Vorstellungen von Normalität, dann verändern sich auch die Definitionen der (Gruppen-)Identitäten. Im Prozess der Artikulation – und damit in allen gesellschaftlichen (Macht-)Kämpfen beziehungsweise sozialen Praxen – finden Verschiebungen und Produktionen von Interessen und Identitäten statt. Letztendlich haben Subjekte Handlungsmöglichkeiten und sind nicht durch Strukturen determiniert, weil gesellschaftliche Strukturen niemals total sein können. Die Unmöglichkeit der totalen Schließung von Strukturen und damit Festschreibung von Identitäten liegt in Laclaus und Mouffes Diskursbegriff begründet und stellt das zentrale Handlungsmoment dar. So stellt der Diskurs eine aus artikulatorischen Praxen hervorgehende, strukturierte Totalität dar, wobei diese immer nur partiellen Charakter besitzt, weil ihre notwendige (Re-)Artikulation nie identisch erfolgen kann. Artikulatorische Praxen stellen dabei die diskursive Struktur, die soziale Verhältnisse konstituiert und organisiert (vgl. Laclau und Mouffe, 1991, S. 143 u. 155). An diese Überlegungen knüpft Habermann in ihrer solidarisch-kritischen Bezugnahme an: Wenn sich Identität in jeder Artikulation verändert – und jedes auf Hegemonie gerichtete Handeln ist eine Artikulation – sei es unverständlich, warum Laclau und Mouffe in ihrem Werk „Hegemonie und
17
Identitäten werden hier als Gruppen-Identitäten verstanden, deren Existenz sich auf keinen essentialistischen Kern beziehen kann, sondern durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse entsteht.
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radikale Demokratie“ (1991) die Analyse von Identitätsbildungsprozessen außen vor lassen. Die permanente Verschiebung von (kollektiver) Identität im Ringen um Hegemonie würde eine Analyse der sich überlagernden Herrschaftsverhältnisse zulassen und deren Verwobenheit aufzeigen (vgl. Habermann, 2006a, S. 125). Habermann kritisiert damit, dass Laclau und Mouffe mit dem Konzept radikaler und pluraler Demokratie nur die Herrschaftsverhältnisse in Bezug auf Akkumulationsprozesse analysieren und andere Herrschaftsverhältnisse entnennen (vgl. Habermann, 2008, S. 93). Mit der Forderung nach einer antikapitalozentristischen Perspektive lässt sich mit Gibson-Graham die Kritik erweitern. Sie arbeiten als essentialistischen Schwachpunkt Laclaus und Mouffes ökonomistische Sichtweise heraus, die im sprichwörtlichen Sinne durch die Hintertüre wieder eingeführt wird. Demnach gebe es bei Laclau und Mouffe zwar keinen zentralen sozialen Agenten und damit kein klares revolutionäres Subjekt mehr, allerdings durchdringe der Kapitalismus in seiner aktuellen Form alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens, die wiederum seinen internen Logiken unterworfen seien (vgl. Gibson-Graham, 2006a, 258f.). Dieser Ökonomismusvorwurf lässt sich gut anhand der Beschreibung der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen veranschaulichen: Ein Hauptmerkmal fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaftsformationen liegt nach Laclau und Mouffe in der Vermehrung politischer Räume, ihrer zunehmenden Komplexität sowie der Schwierigkeit ihrer Artikulation. Demokratische Kämpfe sind folglich ein Resultat dieser Vermehrung politischer Räume, da sie erst deren Vielfalt implizieren. In dieser Lesart lässt sich das Auftauchen der neuen sozialen Bewegungen sowohl als Ergebnis als auch als versuchte Zurückdrängung der Ausdehnung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf alle sozialen Verhältnisse und deren Unterordnung unter die Logik der Profitproduktion verstehen. Damit liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass die Pluralisierung der Kampffelder und -formen seit dem 19. Jahrhundert nur möglich sei, weil ‚der‘ Kapitalismus in alle Sphären des Gesellschaftlichen vorgedrungen ist und deshalb überall bekämpft werden muss. Die neuen sozialen Bewegungen sind dann einerseits als eine Ausweitung des Demokratieversprechens in neue Bereiche des sozialen Lebens zu verstehen. Andererseits sind sie das Ergebnis einer doppelten Transformation sozialer Verhältnisse, die sich durch die Ausweitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ebenso wie durch eine wachsende Staatsintervention auszeichnet. Mit dieser doppelten Transformation bilden sich neue Unterordnungsverhältnisse sowie soziale Antagonismen, die in den neuen sozialen Bewegungen artikuliert werden (vgl. Laclau und Mouffe, 1991, v.a. Kap. IV). Letztendlich dienen folglich Veränderungen der kapitalistischen Ver-
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hältnisse als grundlegendes Erklärungsmuster für das Phänomen der neuen sozialen Bewegungen. Die Ökonomie determiniert damit das Feld des Sozialen. Der herrschende Diskurs über Kapitalismus bleibt deshalb nicht nur unangetastet, sondern schreibt sich weiterhin als unhinterfragbare Realität in das Alltagsbewusstsein ein. Mit den hier beschriebenen Kritiken lassen sich weder die Verwobenheit diverser Herrschaftsverhältnisse analysieren – so wie es Habermann fordert – noch werden in Anlehnung an Antke Engel Formen von Alltagspraxen denkbar, die dem antagonistischen Freund-Feind Schema entgegen treten, Ambivalenzen als Form der Politisierung begreifen und letztendlich antikapitalistische Experimente ermöglichen. Auch für diese Arbeit bleibt der hegemonietheoretische Ansatz bei Laclau und Mouffe unbefriedigend: Mit dieser Perspektive kann nur schwer Mut gemacht werden, herrschaftskritische und emanzipatorische Utopien zu denken, zu leben und zu experimentieren. Widerspenstige Alltagspraxen fallen damit einer kapitalozentristischen Denkweise zum Opfer. Die bisherigen Überlegungen sollten deutlich machen, dass eine hegemonietheoretische Perspektive nicht genügt, um queer-feministische Debatten und Denkweisen in die theoretischen Überlegungen zu integrieren. Im Folgenden möchte ich kurz zusammenfassen, an welchen Punkten die Autor_innen Friederike Habermann, Antke Engel und J.K. Gibson-Graham ansetzen und was sie sich zum Ziel nehmen. Auf die jeweiligen Argumentationslinien eingehen werde ich im Detail im anschließenden Teilkapitel (3.3. Handlungsstrategien für widerspenstige Alltagspraxen). J.K. Gibson-Graham beschäftigen sich mit konkretem Alltagshandeln, das dazu führen kann, eine kapitalozentristische Sichtweise zu überwinden. Zudem bieten sie Strategien an, mit deren Hilfe Praxen entstehen können, die über kapitalistische Verhältnisse hinausweisen. Ein hegemonietheoretischer Ansatzpunkt lässt sich daher an der Beschäftigung mit Alltagshandeln ausmachen. Mit den Überlegungen von Gibson-Graham lässt sich an die hegemonietheoretische Annahme anschließen, Hegemonie hänge wesentlich vom Alltagsverstand bzw. von der Wahrnehmung der ‚Realität‘ ab. Trotz der theoretischen Bedeutung von Alltagspraxen vernachlässigen hegemonietheoretische Arbeiten diese Ebene oft und betrachten Alltagshandeln als eine Art Blackbox.18 Friederike Habermann setzt an der Frage von Subjekt-
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Die Kritik der Vernachlässigung der Ebene des Alltags wird auch in neueren neogramscianischen Arbeiten thematisiert. Nicola Sekler und Ulrich Brand (2011) beispielsweise schlagen den Begriff der Multiskalarität von Hegemo-
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bildungsprozessen an. Mit ihrer subjektfundierten Erweiterung von Hegemonietheorie bietet sie eine Lesart an, wie sich queer-feministische Debatten zur Subjektbildung mit hegemonietheretischen Überlegungen verknüpfen lassen. Antke Engel fragt danach, wie sich der Kreislauf von Hegemonie(re)produktion aufbrechen lässt. Ihre Suche strebt eine Erweiterung hegemonietheoretischer Überlegungen an, die in letzter Konsequenz das Denken und Handeln in hegemonialen Strukturen zu überwinden trachtet.
3.3 Handlungsstrategien für widerspenstige Alltagspraxen Die bisherigen Ausführungen im Kapitel dienten im Wesentlichen der Infragestellung vermeintlicher Gewissheiten über die Funktionsweisen kapitalistischer Strukturen und stellten Hintergrundwissen zur Verfügung, um eine queer-feministische Perspektive auf Hegemonietheorie einzunehmen. Nachfolgend widme ich mich der Frage, welche Perspektiven und Handlungsstrategien queer-feministische Kapitalismuskritiken anbieten, um widerspenstige Alltagspraxen theoretisieren und leben zu können. Neben der Frage, wie die Autor_innen (J.K. Gibson-Graham, Friederike Habermann und Antke Engel) widerspenstige Alltagspraxen denk- und sichtbar machen, soll die jeweilige hegemonietheoretische Perspektivenerweiterung deutlich werden, die mit den theoretischen Überlegungen einhergeht. Das Kapitel 3.3.1 widmet sich dabei Gibson-Grahams Vorschlag, mit der Schaffung von community economies dazu beizutragen, Menschen zu befähigen, mit ‚nicht-Kapitalismen‘ zu experimentieren. Dazu bedarf es einer antikapitalozentristischen Sichtweise, um eine Sprache facettenreicher Ökonomien zu entwickeln. Im folgenden Kapitel 3.3.2 werde ich den Vorschlag einer subjektfundierten Hegemonietheorie nach Friederike Habermann vorstellen und danach fragen, was sich hinter dem Plädoyer des Verlernens von Privilegien verbirgt. Gibson-Graham fragen zukunftsgerichtet nach Möglichkeiten, wie sich in kollektiven Prozessen mit widerspenstigen Alltagspraxen experimentieren lässt, die über kapitalistische Logiken hinauswei-
niebildungsprozessen vor, um die Ebene des Alltags als Ort von Hegemonie(re)produktion sichtbar zu machen. Besonders auf der Ebene der praktischen Strukturkritik lässt sich demzufolge das emanzipatorische Moment von Alltagshandeln mit seinen Widersprüchen in die hegemonietheoretische Analyse aufnehmen.
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sen. Friederike Habermann dagegen setzt an der Bereitschaft der (Selbst-) Reflexion von Macht- und Herrschaftsprozessen an, da jede Identitätsbildung immer auch ein Ergebnis von strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist. Zur Veränderung der herrschenden Strukturen ist es daher notwendig, die eigenen gesellschaftlichen Privilegien in den kritischen Blick zu nehmen und diese durch das Lernen am ‚Anderen‘ sukzessive zu verlernen. Ihr Blick ist in gewisser Weise auf das Hier und Jetzt bezogen in die Vergangenheit zurück gerichtet. Im Kapitel 3.3.3 wende ich mich Antke Engel zu, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nach Wegen des politischen Umgangs zu suchen, die sich den wiederkehrenden Schließungsprozessen von Hegemonie(re)produktion widersetzen. Zudem bietet sie Bewertungsmaßstäbe an, um Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse nach ihrem emanzipatorischen Gehalt zu befragen. Ihre Perspektive setzt im Hier und Jetzt an – der ständigen Notwendigkeit, Entscheidungen zu fällen, zu Handeln – und fragt danach, wie sich getroffene Entscheidungen im Nachhinein bewerten lassen. 3.3.1 Kollektive Desidentifikation mit kapitalistischem Denken Die folgenden Theoretisierungen des Autor_innenkollektivs J.K. GibsonGraham stellen die logische Fortführung des Projekts dar, der kapitalozentristischen Perspektive auf Kapitalismus entgegen zu wirken. Mit dieser Vorgehensweise bleiben sie daher nicht bei der Dekonstruktion des Diskurses über Kapitalismus stehen, sondern bieten Perspektiven an, wie dieser Diskurs seiner Wirkmächtigkeit beraubt werden kann. Grundlegende Intention des Engagements ist es, „to promote ‚collective disidentification‘ with capitalism“ (Gibson-Graham, 2006b, S. 54). Wie bereits aus der Forderung nach einer antikapitalozentristischen Perspektive deutlich wurde, ist es, um ökonomische Differenzen beschreiben zu können, notwendig, sowohl aus einem hegemonialen Ökonomie-Verständnis auszubrechen als auch eine Sprache facettenreicher Ökonomien zu entwickeln. Letztlich geht es den Autor_innen darum, einen Denk-Raum zu schaffen, der ein Nachdenken über und Experimentieren mit alternativen Ökonomien zulässt – J.K. Gibson-Graham nennen diese community economies. Die Entwicklung solcher facettenreichen Ökonomien verstehen sie als ein gegenhegemoniales Projekt, das der Politisierung des ökonomischen Bereichs dient. In der Veröffentlichung „A Postcapitalist Politics“ (2006b) berichten die Wissenschaftler_innen von Projekten, die mithilfe von Politiken der (ökonomischen) Möglichkeiten eben jene community economies im
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Sinne eines place-based globalism schaffen wollen. Der Begriff des placebased globalism geht davon aus, dass es keine klaren Hierarchien zwischen den Ebenen vom Lokalen bis hin zum Globalen gibt. Folglich können (auch) globale Veränderungen im Hier und Jetzt, im Alltag der Menschen in Angriff genommen werden. „Place-based globalism constitutes a proliferative and expansive spartial imagery for a politics that offers a compressed temporality – traversing the distance from ‚nowhere‘ to ‚now here‘“ (Gibson-Graham, 2006b, S. XXI). Der Schwerpunkt des Interesses liegt bei Gibson-Graham auf der Ebene konkreter Handlungsmöglichkeiten, sie fragen dabei weniger nach den Grenzen als vielmehr nach den Bedingungen, unter denen Möglichkeitsräume der Veränderung geschaffen werden können: „We have refused to treat the local as a container/limit, preferring to treat it as the (only possible) starting point“ (Gibson-Graham, 2006a, S. XXVIII). Diese Perspektive erleichtert die Sichtbarmachung widerspenstiger Alltagspraxen und kann zu einer Weiterentwicklung hegemonietheoretischer Ansätze herangezogen werden, weil konkretes Alltagshandeln nicht als Blackbox behandelt wird. Gibson-Graham beziehen sich auf das alltägliche Handeln der Menschen und nehmen folglich kollektive Praxen im Nahbereich der Menschen als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Ziel ist es, über die Entstehung von community economies die Wissensproduktion des kapitalozentristischen Diskurses zu irritieren und herauszufordern. Als „poststructuralistic action research“ bezeichnen J.K. Gibson-Graham die verwendete (Forschungs-)Methode, in der sich die Wissenschaftler_innen mehr als aktive Mitglieder der Prozesse und weniger als Beobachter_innen verorten.19 Da es keine privilegierte Positionen gibt, um mit nicht-kapitalistischen Veränderungen zu beginnen, versuchen sie auf ihre Art und Weise und in ihrem Metier – der akademischen Welt – Projekte der Schaffung von community economies voran zu treiben. Damit verabschieden sie sich als Post-Marxist_innen in Anschluss an Laclau und Mouffe (1991) vom revolutionären Subjekt der Arbeiter_innenklasse oder anderen privilegierten Gruppen. Während ihrer Forschungstätigkeiten ist ihnen dabei klar geworden, dass die größte Herausforderung weniger in der diskursiven Dominanz von Kapitalismus liegt, sondern vielmehr in einer Kultur des Denkens: „We found out that we were up against a culture
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Vgl. auch die Homepage, die aus den konkreten (Forschungs-)Projekten entstanden ist: http://www.communityeconomies.org (Community Economies, 2013).
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of thinking [...] that made capitalism very difficult to sidestep or give up“ (Gibson-Graham, 2006b, S. 3). Community economies Das wichtigste Kennzeichen von community economies liegt darin, diese als theoretische Leerstelle zu begreifen, da die Schaffung solcher Ökonomien ein fortwährender Such- und Aushandlungsprozess ist. Dies gelingt, indem Gemeinschaft vielmehr ein Ergebnis der Prozesse und weniger eine Voraussetzung derselben darstellt: „Unlike the proliferative fullness of diverse economy, the community economy is an emptiness – as it has to be, if the project of building is to be political, experimental, open and democratic“ (Gibson-Graham, 2006a, S. XV). Für die Konzeption von community economies ist es daher wichtig, den Gemeinschaftsbegriff neu zu definieren. So bedarf es in den Augen von Gibson-Graham der ‚Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten‘20 ; sie fordern darüber hinaus ein queeren des Ökonomischen (vgl. auch Engel, 2009a, S. 156ff.). Es soll daher kein Idealtypus einer community economy entworfen werden. Vielmehr geht es darum, eine Resozialisierung und Repolitisierung des Ökonomischen zu erreichen und ethische Praxen des „being-in-common“ (Gibson-Graham, 2006b, S. 86) aufzuzeigen. Dafür bedarf es in den konkreten Kontexten der Sensibilität gegenüber den Fragen, was für das persönliche und soziale Überleben notwendig ist, wie sozialer Mehrwert bestimmt und verteilt, ob und wie dieser Überschuss produziert bzw. konsumiert wird und wie Gemeingüter produziert und erhalten werden (Gibson-Graham, 2006b, S. 88). Zur Klärung dieser Fragen arbeiteten sie vier Koordinaten heraus, die die Diskussion zur Schaffung konkreter community economies anleiten (können): necessity (Was sind unsere Bedürfnisse und wie können wir ihnen begegnen?), commons (Was sind unsere Gemeingüter? Wie sollen diese erneuert, vergrößert, verkleinert, verändert, erweitert und weitergegeben werden?), surplus (Was ist unser Überschuss und wie soll dieser generiert und verteilt werden?) und consumption (Welche Ressourcen sollen konsumiert
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Zum Begriff der ‚Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten‘ siehe die Ausführungen zu Antke Engel im weiteren Verlauf des Kapitels.
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werden und wie sollen diese verteilt werden?) (Gibson-Graham, 2006a, S. XVIII).21 Zum Aufbau konkreter community economies schlagen die Autor_innen drei Strategien vor: politics of language, politics of the subject und politics of collective action (Gibson-Graham, 2006b, S. XXXIII-XXXVII). Alle drei Strategien lassen sich in ihren Augen unter den Begriff der Politiken der ökonomischen Möglichkeiten („politics of economic possibility“) (GibsonGraham, 2006b, S XXXIII) subsumieren. Sie folgen dabei keiner linearen Logik und zeitlichen Abfolge, sondern bedingen und befördern sich gegenseitig.22 Die politics of language (Sprach- und Wissenspolitiken) versuchen, die Vielfältigkeit ökonomischer Alltagspraxen sichtbar zu machen und dem Kapitalozentrismus etwas entgegen zu setzen. Zu den Prämissen einer antikapitalozentristischen Perspektive (vgl. Gibson-Graham, 2006b, S. 72) zählt dabei die Annahme, dass erstens ökonomische Branchen, Unternehmen und Subjekte vielfältige Orte besetzen und unterschiedlichen ökonomischen Logiken folgen und diese Orte zweitens das Potential besitzen, eine oder mehrere ökonomische Identitäten (Subjektpositionen) anzubieten. Dabei ist drittens jede ökonomische Relation durch verschiedene Formen ökonomischer Freiheit, Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet. Da alle ökonomischen Dynamiken als überdeterminiert wahrgenommen werden, sind sie viertens politisch veränderbar. Aus der politischen Veränderbarkeit ökonomischer Dynamiken ergibt sich fünftens die Möglichkeit, mithilfe politischer Auseinandersetzungen ökonomische Veränderungen zu bewirken. Letztendlich finden sich sechstens vielfältige Formen kapitalistischen Wirtschaftens ebenso wie diverse nicht-kapitalistische Wirtschaftsformen. Mit den politics of the subject (Subjektpolitiken) verbindet sich die Annahme, dass neue Alltags- und Gesellschaftsentwürfe immer auch einer Veränderung der eigenen Identitäten und Subjekonstruktionen bedarf.23 Es geht folglich um die Frage, wie wir die Position als Gegner_innen kapitalis-
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Zur Visualisierung vgl. Kapitel 6.
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Zur Visualisierung vgl. Kapitel 6.
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Wenn aus einer queer-feministischen Perspektive gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse Auswirkungen bis hinein in die Subjektbildungsprozesse von Menschen haben, dann gehen gesellschaftliche Veränderungen immer mit Veränderungen der Identitäten einher. Da diese Prozesse nicht einseitig sind, können Gibson-Graham folgend Subjektpolitiken dazu beitragen, die herrschenden Verhältnisse zu verändern.
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tischer Verhältnisse insofern verlassen, als dass wir zu Subjekten werden, die den Wunsch und die Kreativität besitzen, ‚nicht-Kapitalismen‘ zu schaffen. Damit einher geht die Aufforderung, an jedem Ort mit gesellschaftlichen Veränderungen zu beginnen, da nur im wechselseitigen Prozess zwischen Veränderungen des gesellschaftlichen Kontextes und (der) Identitäten letztendlich emanzipatorische Prozesse in Gang gesetzt werden können. Auch in den habermann’schen Thesen einer subjektfundierten Hegemonietheorie lässt sich die Notwendigkeit solcher anti-essentialistischen Identitätspolitiken wiederfinden Habermann (2008).24 Unter politics of collective action (Politiken der kollektiven Handlungsfähigkeit)25 verstehen Gibson-Graham alle konkreten Versuche, neue (ökonomische) Realitäten zu schaffen. Das verbindende Moment der kollektiven Handlungsfähigkeit wird dabei nicht über geteilte Identitäten hergestellt, sondern über die gemeinsame Anstrengungen, community economies denkbar zu machen, zu entwerfen, zu leben etc. Es sollen folglich – in Antke Engels Worten – Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten (Engel, 2009a, S. 161) entstehen und dadurch erneuten Ausschlussmechanismen entgegengewirkt werden. J.K. Gibson-Grahams Konzeption von community economies ist somit anschlussfähig an die Vorstellung widerspenstiger Alltagspraxen. Ihre Herangehensweise und Dekonstruktion von Kapitalismus hilft mir, Alltagspraxen als zentrale Momente der Etablierung von Ideen, Vorstellungen, Hoffnungen, Experimenten usw. einer ‚anderen‘ Gesellschaft zu sehen. Darüber hinaus zeigen die Wissenschaftler_innen eine Möglichkeit auf, wie kapitalistische Transformationsprozesse als nicht-naturwüchsig dekonstruiert und als Ergebnis sozialer Prozesse wahrgenommen werden können. Im Kapitel 6 (Zusammenführung: Von der Praxis lernen?) werde ich prüfen, inwieweit sich das Konzept der community economies auf die Beispiele widerspenstiger Alltagspraxen in dieser Arbeit übertragen lässt.
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Die an dieser Stelle lediglich erwähnten Thesen werden im weiteren Verlauf des Kapitels noch erörtert.
25
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Seminarteilnehmer_innen bedanken, die im im WS 09/10 an der FU Berlin das Seminar „We’re here, we’re queer, we’re not going shopping! Kapitalistische Verhältnisse queer-feministisch kritisieren“ besuchten. Sie gaben mir wertvolle Gedankenanregungen und leisteten unter anderem die etwas freie, aber durchaus stimmige Übersetzung der Begrifflichkeit der „politics of collective action“.
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3.3.2 Kollektives Verlernen von Privilegien Friederike Habermann bietet mit ihrem Vorschlag einer subjektfundierten Hegemonietheorie eine Theoretisierung von Hegemonie an, die ein queerfeministisches Verständnis von Subjektbildungsprozessen mit aufnimmt und dadurch die Herausforderung in Angriff nimmt, mit einer hegemonietheoretischen Perspektive die Vielzahl an strukturellen Herrschaftsverhältnissen in die jeweilige Analyse mit einzubeziehen. Ihr Anspruch ist es folglich, queerfeministische Debatten mit hegemonietheoretischem Denken zu verbinden. Sie nennt diese Verbindung subjektfundierte Hegemonietheorie. Der zentralen Hauptthese einer subjektfundierten Hegemonietheorie liegt die Annahme zugrunde, dass alle Herrschaftsverhältnisse über Identitäten bzw. Identitätsbildung miteinander gleichursprünglich verwoben sind. Die eingeforderte subjektbezogene Perspektive arbeitet Friederike Habermann vor allem anhand der postkolonialen Überlegungen von Stuart Hall (Mehlem et al., 1994) und dem queer-feministischen Konzept der Performativität nach Judith Butler (Butler, 1995) heraus. Der von Judith Butler geprägte Begriff der Performativität bietet sich nach Habermann an, genauer zu beschreiben, was Laclau und Mouffe unter Artikulation als Modus der Hegemonieproduktion und damit Politik verstehen. Gleichzeitig kann in ihren Augen damit die kritisierte Entnennung von Herrschaftsverhältnissen durch Identitäten/Identitätsbildungen entgegen gewirkt werden, weil mit Butler die strukturelle Verwobenheit „von Subjekten und ihren verkörperten Identitäten“ (Habermann, 2008, S. 117) aufgezeigt werden kann. Kräfteverhältnisse und Hegemonien sind demnach von diesen performativen Akten der Subjektivierung nicht unabhängig zu denken. Im Folgenden werde ich kurz Friederike Habermanns Argumentationslinien nachzeichnen, warum sich die Arbeiten Stuart Halls und Judith Butlers für ein subjektfundiertes Verständnis von Hegemonie anbieten: Stuart Hall (siehe u.a. Mehlem et al., 1994) setzt sich in seinen Arbeiten zu Rassismus und Identitäten mit der Frage auseinander, wie gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt werden. Ihn interessieren vor allem kulturelle Praktiken auf der Mikroebene, die wesentlichen Einfluss auf rassistische Konstruktionen von (Gruppen-)Identitäten und damit einhergehende Ausgrenzungsmechanismen haben. Hegemonie wird darin als das Ringen um Alltagsverstand gefasst. Hall begreift demnach das Alltagsbewusstsein der Menschen als zentralen Produktionsort von Hegemonie. Damit schließt sich Hall an einen wesentlichen Aspekt der gramscianischen Theorie an, der oftmals vernachlässigt wird: Hegemonie hängt wesentlich von der Idee ab, es gäbe keine
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Alternative. Diese vermeintliche Alternativlosigkeit muss immer wieder in alltäglichen Handlungen neu hergestellt werden. Deshalb ist es wichtig, möglichst alle Herrschaftsverhältnisse in die Analyse mit einzubeziehen und nicht nur kapitalistische Ausbeutungsprozesse zu analysieren oder andere Herrschaftsverhältnisse vermittelt über kapitalistische Strukturen zu erklären. Auch mit der Überwindung kapitalistischer Herrschaft werden andere Herrschaftsverhältnisse nicht automatisch überwunden sein. Das Konzept der Performativität (Butler, 1995) fragt nach der Art und Weise, wie die soziale Welt gemacht wird und wie diese zu verändern ist. Vor allem das hartnäckige Verhaftetsein in der verkörperten Subjektivierung spielt hierbei eine große Rolle – gerade eben auch trotz der sozialen Konstruiertheit von sex, gender und Begehren. Im Mittelpunkt der Analyse bei Butler steht folglich die Verstrickung der Subjekte in die Strukturen, die wiederum erst die eigene Existenzweise ausmachen. Butler beschreibt diese Verstrickung und damit die Wirkmächtigkeit von Diskursen im Begriff der Performativität: „Performativität bestehe immer innerhalb eines Prozesses der geregelten und registrierten Wiederholung von Normen, wobei diese Wiederholung nicht von einem Subjekt performativ ausgeführt würde, sondern das sei, was das Subjekt ermögliche“ (Habermann, 2009a, S. 16). In Butlers eigenen Worten: „Zunächst einmal darf Performativität nicht als ein einzelner oder absichtsvoller ‚Akt‘ verstanden werden, sondern als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler, 1995, S. 22) Auch hier wird – ähnlich wie bei Hall – die Bedeutung alltäglicher Praxen hervorgehoben. Habermanns Anspruch ist es nun, die Verwobenheit aller (Herrschafts-) Verhältnisse und Identitäten mithilfe des Konzepts einer subjektfundierten Hegemonietheorie zu analysieren.26 Der hier formulierte Anspruch ist mit Vorsicht zu genießen, zeichnet Habermann zwar in ihrer Analyse die Verwobenheit von Rassen-, Klassen- und Geschlechtskonstruktionen und damit einhergehenden Identitätsbildungen im Menschenbild des homo oeconomicus nach, lässt allerdings beispielsweise eine Betrachtung von Sexualität als
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Zum Anspruch alle Herrschaftsverhältnisse analysieren zu wollen vgl. These im Paper zum Vortrag für die Konferenz zu Kapitalismustheorien an der Universität in Wien im April 2009 Habermann (2009a).
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ein weiteres Macht-, Herrschafts- und Unterdrückungsmoment ebenso außen vor wie die Frage nach Behinderungskategorisierungen und damit einhergehenden Ausschlussmechanismen. Die Betonung ihrer Aussage muss wohl auf das Insistieren auf die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen gelegt werden. Dies geschieht bei Habermann in expliziter Distanzierung von der so genannten Intersektionalitätsforschung, da diese in ihren Augen nach wie vor von den Metaphern der Straßenkreuzung (und ähnlichen Bildern) geprägt ist. Diese Metaphern führen letztendlich zu einem eindimensionalen et cetera bei der Auflistung von Herrschaftsmechanismen. Wie genau diese Verwobenheit aufgezeigt und in all ihrer Vielfalt in die wissenschaftliche Analyse eingebracht werden kann, ist Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen – auch in Debatten der Intersektionalitätsforschung (z. B. Winker und Degele, 2009). Katharina Walgenbach (2007) zum Beispiel plädiert für das Verständnis von Gender als einer interdependenten Kategorie. Gender als interdependente Kategorie bedeutet demnach, dass Gender „gleichzeitig auf diversen Ebenen und Feldern (re-)produziert wird. Es handelt sich [...] um ein Dominanzverhältnis, das mehrere gesellschaftliche Bereiche durchzieht und Lebensrealitäten auf fundamentale Weise prägt“ (Walgenbach, 2007, S. 56).27 Interdependente Kategorien werden gesellschaftlich produziert, sie sind folglich Ergebnis von Macht- und Herrschaftsmechanismen. Walgenbach fordert deshalb, Klasse und Ethnizität ebenso als interdependente Kategorien zu fassen. In dieser Denklogik muss folglich auch von interdependenten Dominanz- und Geschlechterverhältnissen ausgegangen werden. Die gegenseitige Abhängigkeit sozialer Kategorien sowie die damit verbundenen komplexen Dominanzbeziehungen stehen im Fokus des (Forschungs-)Interesses, die Suche nach einem vermeintlich genuinen Kern der Kategorien ist hierbei nicht mehr notwendig. Habermanns formulierter Anspruch, alle Herrschaftsverhältnisse in ihrer Verwobenheit analysieren zu wollen, ist aus meiner Perspektive nur in der hier vorgeschlagenen Lesart zu verstehen, basiert ihr Vorschlag einer subjektfundierten Hegemonietheorie doch auf der Annahme der Notwendigkeit, die Erkenntnisse des historischen Materialismus mit nicht-essentialistischen Ansätzen postkolonialer sowie feministischer Theorie zu verknüpfen und in die Analyse von Herrschaftsverhältnissen mit einzubeziehen. Unter einer subjektfundierten Hegemonie wird dann das Ringen um Hegemonie in allen gesellschaftlichen Sphären verstanden, in dessen Prozess nicht nur „Identitäten und deren Interessen, sondern auch der gesellschaft-
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Hervorhebungen im Original.
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liche Kontext (re-)produziert“ (Habermann, 2009a, S. 2) wird. Friederike Habermann begreift damit Geschlecht und Identitäten nicht als Ausgangspunkt ihrer Analyse, sondern als Ergebnis eines Prozesses. Ziel ist es, eine Theorie zu entwickeln, die in der Lage sei, „die Machtverhältnisse sowohl in ihren materialistischen als auch in ihren subjekttheoretischen Aspekten zu erfassen“ (Habermann, 2006a, S. 118), weil Herrschaftsverhältnisse über Identitäten/ Identitätsbildungen miteinander verwoben sind. Wenn Herrschaftsverhältnisse über Identitäten miteinander verwoben sind, dann ist es demnach notwendig, das Verhältnis zwischen Subjekten/ Subjektivierungsprozessen und Strukturen bzw. gesellschaftlichen Kontext neu zu lesen. Subjekte sind damit ein Teil der Strukturen und umgekehrt. Beide bedingen sich gegenseitig und stehen in einem relationalen Verhältnis. Diese Relationen sind jedoch nicht durch bestimmte Determinismen gekennzeichnet (vgl. Habermann, 2008, S. 128). Subjektfundierte Hegemonietheorie Zu den wesentlichen Elementen einer subjektfundierten Hegemonietheorie gehören demnach folgende Annahmen (Habermann, 2009a, S. 19f.): Das Ringen um Hegemonie findet erstens in allen gesellschaftlichen Sphären und zwischen allen Identitäten statt. Deshalb lassen sich zweitens Privilegien nicht nur ökonomisch begründen. Drittens impliziert das Streben nach Hegemonie die Abgrenzung einer (Gruppen-)Identität zu anderen, hegemonisierten Identitäten: Hegemonie kann somit nur als Identität erreicht werden. Alle Identitäten sind damit viertens artikulierte Kategorien und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Letztendlich werden fünftens Identitäten, Interessen und gesellschaftliche Kontexte ständig (re-)produziert. Kapitalismus ist folglich ein Herrschaftsverhältnis unter anderen Herrschaftsverhältnissen, die wiederum in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen und Identitätsbildungsprozesse beeinflussen. Der gesellschaftliche Kontext der Organisation des Ökonomischen folgt im Kapitalismus (immer noch) kapitalistischen Logiken – mit Privateigentum, das als höchstes Gut innerhalb kapitalistisch organisierter Gesellschaften gilt; Kapitalist_innen, die Eigentümer_innen der Produktionsmittel sind; Arbeiter_innen, Angestellten und Dienstleister_innen, die nur ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen können; der Warenförmigkeit (fast) aller Dinge; Märkten auf denen über vermeintlichen Äquivalententausch Mehrwert geschaffen wird usw. Welche Gestalt das System Kapitalismus annimmt, ist Ergebnis von (Macht-)Kämpfen, dem Ringen um Hegemonie. Jede Identität ist einerseits Resultat dieser vielfältigen gesellschaftlichen
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Auseinandersetzungen, auf der anderen Seite bietet die Notwendigkeit der permanenten (Re-)Produktion der gesellschaftlichen Kontexte Handlungsund Veränderungspotential. Aus diesen Annahmen – die eine subjektfundierte Hegemonietheorie maßgeblich prägen – zieht Habermann den Schluss, das Alltägliche als politisch zu begreifen. Es spielt demnach eine wesentliche Rolle, wie Menschen ihren Alltag leben und gestalten. Auch utopistisch anmutende Experimente sind folglich niemals gänzlich zum Scheitern verurteilt, tragen sie doch zumindest auf subtile Weise zur Veränderung der Subjekte und des gesellschaftlichen Kontextes bei.28 Bezogen auf kapitalistische Verhältnisse heißt das demnach, dass nicht notwendigerweise erst ‚der‘ Kapitalismus als Ganzes abgeschafft werden muss. Es ist vielmehr möglich, im Kleinen anzufangen – Friederike Habermann arbeitet dabei oftmals mit dem Bild der Halbinseln (Habermann, 2009b). Auch die Selbstorganisation in einer Essenskooperative, das Engagement in Projekten unter den Mottos ‚beitragen statt tauschen‘, ‚teilen statt kaufen‘ oder das Leben in einer Hausgemeinschaft, die kein Privateigentum kennt, tragen beispielsweise dazu bei, die Welt zu verändern. Der utopische Überschuss all dieser Halbinseln liegt dann schlichtweg bereits darin, „die scheinbare Natürlichkeit der kapitalistischen Logik allein durch die Erfahrung aufzubrechen, dass es auch anders geht“ (Schuhmacher und Weber, 2009). Ein weiteres Ergebnis ihrer Überlegungen kann im Hinweis auf notwendige Strategien kollektiver Emanzipation gesehen werden. Der Kampf um die Überwindung von Hegemonie ist folglich immer nur durch eine doppelte Geste möglich: Es muss ebenso für die Gleichberechtigung innerhalb der (sozialen, rechtlichen, ökonomischen, kulturellen usw.) Verhältnisse gekämpft wie auch die Überwindung binärer Konstruktionen in Angriff genommen werden. Damit positioniert sich Habermann in der vor allem in den 1990er Jahren geführten inner-feministischen Debatte, die danach fragt, inwieweit die Aufgabe essentialistischer Annahmen den Effekt haben kann, Herrschaftsverhältnisse unsichtbar zu machen. Damit verbunden ist die Angst, mit dem Verzicht auf Essentialismen letztendlich ‚den‘ Feminismus um seine politische Schlagkraft zu berauben. Dieser Vorwurf wurde (und wird teilweise immer noch) an queer-feministische Interventionen adressiert. In
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Friederike Habermann wählte für ihrem Beitrag in einem Sammelband zu herrschafts- und warenkritischer Selbstorganisation den Titel „Utopieren heißt probieren“ (Habermann, 2006b).
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diesen Auseinandersetzungen taucht oftmals der von Gayatari Chakravorty Spivak geprägte Begriff der Notwendigkeit strategischer Essentialismen auf. Mit Judith Butler lässt sich argumentieren, es sei nicht notwendig, zu wissen, wer das Subjekt des Feminismus sei, wichtiger wäre es, zu verstehen, wie Subjekt- und Identitätsbildungsprozesse von statten gingen (vgl. Butler, 1993). Bezogen auf widerspenstige Alltagspraxen ist es in Anlehnung an Friederike Habermann wichtig, mit einem ‚Sowohl-als-auch‘ zu arbeiten – hier sei noch einmal an die doppelte Geste der Emanzipation erinnert. Diese Geste bedeutet konkret, eigene Privilegien zu verlernen und Verantwortung gegenüber ‚Anderen‘ zu übernehmen. Die Verantwortungsübernahme muss in einem fortschrittlichen Sinne über eine reine Tauschlogik hinausgehen, da die herrschenden Ungleichheitsverhältnisse einen bedingungslosen und asymmetrischen Umgang miteinander erfordern, weil (gesellschaftliche, ökonomische, soziale usw.) Ressourcen unterschiedlich zur Verfügung stehen. Die Herausbildung autonomer Räume – Stichwort Halbinseln – ist dabei von wesentlicher Bedeutung, auch wenn sie partiell ausschließenden Charakter haben. Auf andere Menschen Zugehen und gemeinsame Kommunikation – auch mit ‚den Anderen‘ – ist für Habermann unabdingbar für ein gegenhegemoniales Projekt, da das Infragestellen der eigenen Identität immer auch Identitätsveränderungen der ‚Anderen‘ mit einschließt. Letztendlich führen in diesem Verständnis Identitätsveränderungen zu Veränderungen des gesellschaftlichen Kontextes und damit wieder zu Identitätsveränderungen (Habermann, 2008, S. 123f.). Ich verstehe diese doppelte Geste als kollektiven Prozess des Verlernens von Privilegien. Die (Selbst-)Reflexion der eigenen Privilegien und der Prozess des ‚Verlernens‘ findet notwendigerweise auch über die Interaktion mit denjenigen statt, denen diese Privilegien vorenthalten werden. Ohne die gegenseitige Bezugnahme – oder besser: Ohne die Bereitschaft in der privilegierteren Position, auf die weniger Privilegierten zu hören – wird es kaum möglich sein, diese doppelte Geste der Emanzipation zu leben. 3.3.3 Politisierung der prinzipiellen Unentscheidbarkeit Antke Engel setzt in ihren hegemonietheoretischen Überlegungen bei der Annahme an, dass zur Herstellung von Hegemonie temporäre Fixierungen der gesellschaftlichen Ordnung notwendig sind. Diese Schließungsmomente – das heißt, die Momente der Fixierung – sind ein Ergebnis von Machtund Herrschaftsverhältnissen und stellen eine Momentaufnahme des gesell-
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schaftlichen Konsens’ dar, der immer wieder neu infrage gestellt und reproduziert wird. Dieser Konsens schlägt sich im Alltagswissen, in den Vorstellungen von Normalität nieder – das heißt, in der Frage, was als normal gilt und was nicht. Aufgrund des grundsätzlich konfliktorischen Charakters von Hegemonie(re)produktion, spielen Kompromisse zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Gruppierungen, Positionen und/oder Interessen eine wichtige Rolle zur Aufrechterhaltung eben jener hegemonialen Strukturen. Damit wird die alltägliche und aktive Zustimmung der Menschen sowie die Suche nach Kompromissen zu einem wichtigen Organisationsprinzip des Politischen und ist Grundlage gesellschaftlicher Konsensbildung. Hegemonie bezieht sich in diesem Verständnis auf „forms of rule and governance that employ non-repressive forms of power and attain legitimacy through consensus“ (Castro Varela et al., 2011b, S. 3). Engel stellt nun die theoretische Frage, wie es gelingen kann, den Kreislauf von Hegemonieproduktion insofern zu durchbrechen, als dass der Moment der zumindest kurzfristigen Schließung, das heißt, der Herstellung eines zeitweiligen Konsens’, misslingt. Sie fragt folglich danach, wie die Spannungen, die durch das Aufbrechen hegemonialer Strukturen entstehen, emanzipatorisch gehalten werden können. Mit den Strategien der VerUneindeutigung und der Dissensorientierung bietet sie zwei Ansatzpunkte an, über die hegemoniale Schließungsprozesse erschwert werden sollen. Hintergrundfolie der Überlegungen zur Strategie der VerUneindeutigung ist die Frage, wie die Sichtbarkeit queer-feministischer Praxen dazu beitragen kann, hegemoniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzugreifen, wenn davon auszugehen ist, dass queer-feministische Interventionen neoliberalen Entwicklungen dienlich sein können – aber nicht müssen.29 Engel geht davon aus, dass „queere Bewegungen nicht einfach als Effekt neoliberaler Transformationen oder als Instrumente ihrer Durchsetzung, sondern auch als Stolpersteine und kritische Anfechtungen fungieren können“ (Engel, 2009a, S. 23). Aus meiner Perspektive basiert diese Strategie auf Handlungsstrategien, wie sie in queer-feministischen Aktivitäten zu finden sind. Die theoretischen Überlegungen zur Strategie der VerUneindeutigung stammen daher aus der Bezugnahme auf queer-feministische Handlungspraxen. Demgegenüber sehe ich den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Strategie der Dissensorientierung in der theoretischen Auseinandersetzung Engels mit Hegemonie-
29
Antke Engel hat den Bereich medialer und kultureller Praxen im Kopf, wenn sie über die Frage nachdenkt, wie hegemoniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzugreifen sind (vgl. Engel, 2009a).
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theorien und der Frage nach einer queer-feministischen Erweiterung dieser Theoretisierungen. Ich möchte hier die beiden Strategien vorstellen und damit erstens Engels hegemonietheoretische Perspektive verdeutlichen und zweitens danach fragen, welche Handlungsstrategien sie für widerspenstige Alltagspraxen vorschlägt. VerUneindeutigung Die Strategie der VerUneindeutigung fußt auf einer Beschreibung spätmoderner Gesellschaften. Diese zeichnen sich Antke Engel zufolge durch rigide Vorstellungen von Normativität und flexible Normalisierungstendenzen aus. Neoliberale Transformationsprozesse haben zur Folge, dass Menschen mit den bereits erwähnten Paradoxien konfrontiert sind, sowohl auf Freiheitsversprechen als auch auf Flexibilisierungszwänge reagieren zu müssen. Engel definiert Neoliberalismus als „komplexes Projekt, in dem ökonomische, politische und subjektivierende Prozesse ineinandergreifen [...] Neoliberale Diskurse richten soziale Gerechtigkeit am ökonomisierten Leistungsprinzip aus und forcieren die Ausbildung sozialer [...] Subjektivität als flexibler, an Marktprinzipien und individueller Leistung orientierter Arbeitskraftunternehmer_in“ (Engel, 2009a, S. 24). Durch den Mechanismus flexibler gewordener Normalisierungen werden Angebote zur Integration in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse an vormals marginalisierte Gruppen/ Positionen möglich. Die Integration jener Gruppen/ Positionen ist vielfach durch Individualisierungsmomente gekennzeichnet. Das heißt, die Verantwortung für mögliches Scheitern wird individualisiert. Mit den Individualisierungstendenzen werden nicht nur gesellschaftliche Problemlagen dem Bereich des Privaten zugeschrieben, sondern sie führen auch zur Herausbildung neuer Hierarchien und sozialer Ungleichheiten. Relativ rigide Normativitätsvorstellungen begrenzen zudem die beschriebenen Flexibilisierungstendenzen und sorgen durch gesellschaftliche Zuschreibungen und Ausschlüsse für die Aufrechterhaltung und Organisation des sozialen Raums. Strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden daher nicht abgebaut. Ein Beispiel hierfür wäre die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz homosexuell liebender Menschen, solange sie sich der Normvorstellung der heterosexuellen Kleinfamilie mit dem Ideal romantischer Liebe anpassen. Diese Form lesbischer/ schwuler Partnerschaft kann
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beispielsweise in Deutschland über das Lebenspartnerschaftsgesetz30 staatlich anerkannt werden. Mit dieser Anerkennung einher gehen Versorgungspflichten gegenüber der verpartnerten Person – d.h. es findet eine sozialrechtliche Gleichstellung mit der Institution Ehe statt – gleichzeitig erhalten die Paare jedoch deutlich weniger staatliche Vergünstigungen im Vergleich zur heterosexuellen Ehe – d.h. es gibt beispielsweise keine Gleichstellung im Einkommenssteuerrecht. Antke Engel nimmt diese Ambivalenz des neoliberalen Individualisierungsversprechens als Ausgangspunkt, um nach politischen Interventionsmöglichkeiten zu suchen (vgl. Engel, 2002, S. 203). Eine zentrale Herausforderung liegt dabei darin, aus einer kapitalismuskritischen und queeren Perspektive Sexualität und Ökonomie zusammen zu denken, um die Bedeutung neoliberaler Transformationen für die Veränderung spätmoderner Machtverhältnisse und Herrschaftsformen zu verstehen (vgl. Engel, 2009a, S. 29). Hierfür schlägt sie die Strategie der VerUneindeutigung vor: „Angriffspunkt einer Strategie der VerUneindeutigung sind also die Normen und das Identitätsphantasma, die hegemoniale (heteronormative) Subjektivitäten und sozio-kulturelle Verhältnisse organisieren“ (Engel, 2002, S. 227). Da Normativitätskritiken nicht automatisch mit einer Kritik an Hierarchien und Ungleichheiten einher gehen, – wie zum Beispiel die Debatte um die Verwobenheit von queer politics in ein neoliberales Projekt zeigen – bedarf es in ihren Augen der Kriterien der Enthierarchisierung und Denormalisierung (vgl. Engel, 2002, S. 204ff.) zur Beurteilung von herrschaftskritisch-queerem Engagement. Beide prozessbezogenen Begriffe dienen als Maßstab zur Klärung der Frage, ob in konkreten Situationen gefällte Entscheidungen und/oder Handlungen dazu beitragen, Hierarchien abzubauen und Normalisierungen anzugreifen. Sie sollen dabei als Maßstäbe betrachtet werden, die in der Lage sind, sich der Herausforderung zu stellen, bei der Analyse kapitalistischer Ökonomien das Zusammenspiel zwischen ökonomischen und kulturellen Dimensionen zu erörtern. Insgesamt trägt die Frage nach Enthierarchisierungs- und Denormalisierungstendenzen dazu bei, Umverteilungs- und Anerkennungsforderungen miteinander zu verschränken und ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen als strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse wahrzunehmen. Das heißt, die Kriterien Enthierarchisierung und Denormalisierung müssen sich auf rechtliche, ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierungen
30
Das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG, 2001) ist online verfügbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/lpartg/index.html.
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und Ungleichheiten beziehen, die miteinander verschränkt sind (vgl. Engel, 2002, 205). Die Betonung der notwendigen Verknüpfung zwischen Umverteilungsund Anerkennungspolitiken ist eine Bezugnahme auf eine breit geführte Kontroverse um die Ziele feministischen Engagements. Die Frage, ob der Schwerpunkt feministischen Handelns im Insistieren auf einer ökonomischen Umverteilung liegen solle oder die gesellschaftliche Anerkennung der Vielfalt an Lebensentwürfen und Begehrensformen im Vordergrund stehen müsse, wurde und wird vielfach als entweder/oder Perspektive diskutiert. Vor allem queer-feministisches Engagement wurde oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das Bemühen um das Aufbrechen der rigiden ZweiGeschlechter-Norm eine Wahlfreiheit suggeriere und ökonomische Machtverhältnisse ausblende. Antke Engel positioniert sich in dieser Debatte, indem sie Anerkennungs- und Umverteilungspolitiken als gleichwertige und sich gegenseitig bedingende Politiken begreift und deshalb vorschlägt, die Frage nach Denormalisierungs- und Enthierarchisierungsprozesse als Bewertungskriterien für bereits erfolgte Entscheidungen einzuführen.31 Warum aber interessiert sich Antke Engel bei der Strategie der VerUneindeutigung für Kriterien, die kollektives Handeln im Nachhinein bewerten will? Ein Grund für die Suche nach Kriterien, die herrschaftskritisch ausgerichtetes queeres Handeln auszeichnen, besteht darin, dass sich neoliberale und queere Diskurse teilweise überlappen und queeres Engagement folglich nicht automatisch herrschaftskritisch sein muss.32 Einen weiteren Grund liefert die Annahme, dass Entscheidungen im Rahmen prinzipieller Unentscheidbarkeit gefällt werden müssen. Es geht aus einer queer-feministischen Perspektive letztendlich darum, Handlungsfähigkeit zu erhalten, obwohl nie auf Dauer und mit Sicherheit festgelegt werden kann, was politisch und damit gesellschaftlich verhandelbar ist. Politik ist demnach das Treffen von Entscheidungen unter den Bedingungen der Unentscheidbarkeit (vgl. Engel, 2009a, S. 36 u. 110). Weil keine Bedeutung und keine Identität endgültig fixiert werden kann, ist das, was politisch ist, immer hinterfragbar.
31
Nancy Fraser (2001) nimmt in der Debatte eine besondere Rolle an. Sie plädiert sehr nachdrücklich für die Verschränkung von Umverteilungs- und Anerkennungspolitiken, wirft allerdings queeren Perspektiven vor, lediglich Anerkennungspolitiken zu betreiben und die Frage materieller Umverteilung zu ignorieren.
32
Zur Definition einer herrschaftkritisch ausgerichteten Queer Theory siehe Engel (2009a, S. 20).
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Die theoretische Prämisse, dass alle Entscheidungen in einem prinzipiellen Feld der Unentscheidbarkeit gefällt werden müssen, bezieht sich auf Jacques Derridas Verständnis von Dekonstruktion: „Dekonstruktion ist Hyperpolitisierung, indem sie Pfaden und Codierungen folgt, die nicht rein traditionell sind, und ich glaube, daß sie eine Politisierung hervorruft [...], sie gestattet uns, das Politische und das Demokratische zu denken, indem sie den notwendigen Raum offen hält, ohne den sie letztendlich eingeschlossen bliebe.“ (Derrida, 1999, S. 189f.) Diesem Verständnis von Dekonstruktion folgend, gibt es keine letzte Instanz, keine Wahrheit, die nicht infrage gestellt werden kann. Es lassen sich folglich immer Wege finden, die die gewohnten (Denk-)Pfade verlassen und dadurch eine Sensibilität für Macht- und Herrschaftsverhältnisse entwickeln. Dekonstruktion deckt potentiell auf, wie das konkret herrschende Wissen, die Vorstellung einer konkreten Realität hergestellt wurde und welche machtvollen Ein- und Ausschlüsse damit einher gingen. „Als Konsequenz folgt daraus, dass ich niemals mit gutem Gewissen sagen kann, ich hätte eine gute Wahl getroffen oder ich hätte meine Verantwortlichkeit übernommen“ ((Derrida, 1999, S. 192), das heißt die Frage danach, welche Ein- und Ausschlüsse mit einer Entscheidung einhergehen, bleibt immer aktuell. Für politische Entscheidungen bedeutet dies, dass sich aus einer queeren Perspektive eine Entscheidung immer dann rechtfertigt, „wenn sie Enthierarchisierungen und Denormalisierungen bewirkt – Effekte, die allerdings erst sichtbar werden, wenn die Verantwortung für eine Entscheidung angesichts der Unentscheidbarkeit gewagt wurde“ (Engel, 2009a, S. 110). Beide Kriterien schließen das Wissen mit ein, dass die Frage, welche Hierarchien und Normalitäten als gesellschaftlich problematisch gelten, immer eine politische Frage ist. Ein wichtiges Kennzeichen poststrukturalistisch geprägter Hegemonietheorie besteht daher in der Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik. Unter Politik werden demnach konkrete Handlungen verstanden, die versuchen, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verändern: Politik bezeichnet „das Ensemble von Praktiken, Diskursen und Institutionen, die eine bestimmte Ordnung zu etablieren versuchen und menschliche KoExistenz unter Bedingungen organisieren, die immer potentiell konfliktorisch sind“ (Mouffe, 2008, S. 102f.). Das Politische demgegenüber schließt die grundsätzliche Frage mit ein, was gesellschaftlich als politisch und damit verhandelbar gilt. Es handelt sich in den Mouff’schen Worten beim Politischen um „die Dimension des Antagonismus die menschlichen Verhältnissen
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inhärent ist, viele Formen annehmen kann und in unterschiedlichen Typen sozialer Verhältnisse entsteht“ (Mouffe, 2008, S. 102). Mit dem Begriff des Politischen ist daher die Annahme verbunden, dass potentielle Konflikthaftigkeit zu den Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens gehört und es folglich einer Sphäre/ eines Raumes bedarf, der gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren sucht. Dieser Raum lässt sich demnach von anderen Sphären wie bspw. der Sphäre des Ökonomischen trennen. Was aber konkret zum Bereich des Politischen zählt, ist bereits vermachtet und Ergebnis von Politik. Die Figur der Unentscheidbarkeit erlaubt es – Antke Engels Argument folgend – die Gefahren ökonomistischer Kapitalismuskritik zu überwinden und „ein Verhältnis zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen zu formulieren, das weder eine Determinierung des Politischen durch die Wirtschaftsverhältnisse annimmt, noch die Ökonomie der Kontingenz des Politischen unterwirft“ (Engel, 2009a, S. 120). Mit der Anerkennung der Notwendigkeit, Entscheidungen in der Unentscheidbarkeit zu fällen, lassen sich in Engels Perspektive Politikformen verhindern, die eine eindeutig normativ codierte beste aller möglichen Welten durchsetzen wollen oder aber auf „hegemoniale Suprematie (Überlegenheitsansprüche)“ (Engel, 2009a, S. 122) setzen. In dieser Lesart müssen neoliberale Paradoxien nicht unbedingt in Antagonismen formuliert werden, eine Politisierung sei eben auch durch die Betonung der Unentscheidbarkeit möglich. In diesem Sinne liest Engel die Ambivalenz zwischen neoliberalen Befreiungsversprechen und Individualisierungszwängen als eine Ressource für widerständige Praxen, in denen kulturelle Politiken als Faktoren ökonomischer Veränderungen begriffen werden (vgl. Engel, 2009a, S. 103). An dieser Stelle distanziert sich Engel ausdrücklich vom Konzept radikaler Demokratie (Laclau und Mouffe, 1991), da dieses gesellschaftliche Veränderungen nur in Antagonismen – bei Mouffe (2008) später in Agonismen – denken kann. Ankte Engel formuliert den Vorwurf, dass im Konzept radikaler Demokratie jeder Form von Ambiguität oder Paradoxie im Bereich des Politischen das Politisierungspotential abgesprochen wird (vgl. Engel, 2009a, S. 124). Damit aber verbleibt die Analyse Engel folgend in einer binären Denklogik, die es aus einer queer-feministischen Perspektive zu überwinden gilt. Sie fordert deshalb eine Radikalisierung von Hegemonietheorien:
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Eine „radikalisierte Version hegemonietheoretischer Überlegungen [bietet] ein Modell der Politisierung und des Politischen [...], das ein queeres Interesse an Identitätskritik in sich aufnimmt und Differenz/en anerkennt, die nicht als das Andere der Identität formatiert sind“ (Engel, 2009a, S. 133). Mit dieser radikalisierten Version geht Antke Engel über die Überlegungen von Friederike Habermann hinaus, die das ‚Andere‘ in ihrer Denklogik noch benötigt. Habermann verbleibt damit teilweise in der binären Logik, da sie auf theoretischer Ebene die zumindest partielle Fixiertheit als notwendiges Moment von Hegemonie und damit letztendlich auch Politik begreift, auch wenn sie explizit ein queeren gesellschaftlicher Verhältnisse einfordert. Für die Umsetzung der Überlegungen in konkretes Alltagshandeln allerdings bleibt Habermanns Votum greifbarer. Lernen mithilfe der ‚Anderen‘, das heißt ein sukzessives Verlernen der eigenen Privilegien und damit in letzter Konsequenz die Auflösung der konkreten Binarität zwischen dem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘, ist leichter vorstellbar als die grundlegende Verabschiedung von der Konstruktion des ‚Anderen‘. Was aber verbindet Antke Engel mit der Idee einer radikalisierten Version hegemonietheoretischer Überlegungen? Eng verbunden mit der Forderung der Politisierung der Unentscheidbarkeit ist die Überlegung, ein am Dissens orientiertes Politikverständnis in den Vordergrund hegemonietheoretischer Überlegungen zu stellen. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, was Engel unter einer solchen Dissensorientierung versteht. Dissensorientierung Die Forderung der Dissensorientierung basiert aus meiner Perspektive auf zwei grundlegenden Überlegungen. Erstens setzt Antke Engel am empirisch zu beobachtenden Phänomen an, dass gesellschaftliche Konsensbildung tendenziell mit Homogenisierungstendenzen einher geht. Hinzu kommt die These Engels, das neoliberal geprägte Gesellschaften eine neue Form der Konsensproduktion anbieten: Konsens lasse sich demnach auch über Heterogenität herstellen. Wie beispielsweise die Einbindung von Menschen in den hegemonialen Konsens erfolgt, deren Liebes- und Lebensentwürfe nicht in das Raster einer heteronormativen Kleinfamilie passen, und welche Grenzen der Akzeptanz von Heterogenität und Differenzen im Prozess der gesamtgesellschaftlichen Konsensbildung gesetzt sind, wird von Antke Engel
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in der neoliberalen Strategie der ‚projektiven Integration‘ (Engel, 2009a) erläutert.33 Ein zweiter Ansatzpunkt bezieht sich auf die hegemonietheoretische Annahme der Notwendigkeit der temporären Schließung in der Hegemonieproduktion. Wenn Konsens für den Moment der Schließung von entscheidender Bedeutung ist, so stellt sich Engel zufolge die Frage, ob der Prozess der kurzfristigen Schließung mithilfe einer queer-feministisch verstandenen Dissensorientierung aufgehalten oder irritiert werden kann. Die sich daraus ergebenden emanzipatorischen Handlungsmöglichkeiten würden potentiell über die Reproduktion von Hegemonie hinausweisen. Zum Verständnis dessen, was Antke Engel unter der Strategie der Dissensorientierung begreift, ist es daher notwendig, sich die Herstellung von Konsens zu vergegenwärtigen und dessen Funktion im Prozess der Hegemonie(re)produktion nachzuvollziehen. Die Herstellung von Konsens – und damit einhergehend die Produktion von Wahrheiten – kann folglich Engels Analyse neoliberaler Transformationen kapitalistischer Verhältnisse folgend auch über die Betonung von Heterogenität erfolgen. Antke Engel argumentiert „that late-modern societies experience a neoliberalization of consensus: consensus no longer depends on homogenziation or a phantasmatic whole but instead presents itself as an individualizing/differentiating consensus built from rhizomatically spreading alliances and as such undermining coherence“ (Engel, 2011, S. 84f.). Um das bereits erwähnte Beispiel zu verdeutlichen: Die Aufrechterhaltung des Konzepts der heterosexuellen Kleinfamilie als ein grundlegendes Ordnungs- und Normalitätsmuster von Gesellschaft und den damit einhergehenden Ausschlussmechanismen gelingt aus dieser Perspektive auch, wenn andere Lebensentwürfe und Begehrensformen gesellschaftlich anerkannt werden. Diese primär symbolische Anerkennung schließt oftmals eine Gleichstellung auf der materiellen Ebene aus. Es bleibt folglich beim neoliberalen Versprechen, als vereinzeltes Individuum eine Vielfalt von Le-
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Ich werde im Zuge dieser Arbeit die Strategie der projektiven Integration nicht vorstellen, weil sie sich zu weit von meinem Forschungsinteresse entfernt. Detaillierte Informationen zum Konzept der Projektiven Integration finden sich vor allem in Kapitel 1 „Technik und Taktiken der projektiven Integration“ (Engel, 2009a, S. 39-65) .
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bensweisen leben zu können, solange die gesellschaftlichen Grundstrukturen nicht infrage gestellt werden (vgl. auch Engel, 2009a). Wenn der gesellschaftlich produzierte Konsens gleichermaßen Ergebnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und immerfort umkämpft ist, dann schließt der Kampf um Bedeutungen, das heißt die tägliche Herstellung des gesellschaftlichen Konsens’, marginalisierte Positionen mit ein. Dieser Einschluss bedeutet, dass widerständiges Handeln immer auch Teil gesellschaftlicher Konsensproduktion ist: „If queer politics and hegemonic structures are complex, contradictory, permanently articulated an re-articulated processes that are interconnected, then it is essential to develop an understandig of (queer) resistance and political transformation as engagement with the irreducible simultaneity of complicity and subversion“ (Castro Varela et al., 2011b, S. 11). Hegemonieproduktion ist demnach ebenso widersprüchlich, vielschichtig und in Bewegung wie queeres Engagement auch. Es bedarf aus Engels Perspektive daher eines Umgangs mit der Erfahrung, dass queere Politiken Teil der Hegemonieproduktion sind, während sie gleichzeitig versuchen, Hegemoniebildungsprozesse subversiv zu unterlaufen. Antke Engel plädiert in diesem Sinne für ein am Dissens orientiertes Politikverständnis, um normativen Homogenisierungstendenzen vorzubeugen (z.B. Engel, 2009a, S. 126 u. 232). Homogenisierungstendenzen sind hochgradig vermachtet und Ergebnis gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie der mit den Verhältnissen verbundenen Kämpfe. Nicht Konsens sondern Dissens solle demnach im Mittelpunkt politischer Praxis stehen.34 Gleichzeitig ist diese Strategie der Versuch, einen Weg zu finden, der der neoliberalen Herstellung von Konsens über die Betonung von Heterogenität eine emanzipatorische Antwort auf die potentielle Komplizenschaft widerspenstiger Handlungspraxen entgegen stellt. Trotz der Annahme, eine Komplizenschaft widerständiger Handlungspraxen mit den herrschenden Strukturen nicht ausschließen zu können, folgt Engel in ihrer Argumentation grundsätzlich der These von Chantal Mouffe, dass Konsens nicht ohne Ausschluss herstellbar ist (vgl. Mouffe, 1999). Vor
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Mit der Idee der Dissensorientierung greift Antke Engel vermutlich eine Überlegung von Judith Butler auf, die in „Körper von Gewicht“ danach fragt, ob „kollektive[n] Desidentifizierungen“ (Butler, 1995, S. 24) für demokratische Auseinandersetzungen von besonderer Bedeutung seien.
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diesem theoretischen Hintergrund ist die Forderung nach einem Politikverständnis zu verstehen, die nicht die Suche nach Konsens in den Vordergrund politischer Handlungen stellt, sondern den Dissens mit den gesellschaftlichen Verhältnissen artikuliert. Dissens dient dabei in Mouffes Augen als notwendiger Bestandteil von Politik und stellt kein temporäres Hindernis auf dem Weg zum Konsens dar: „Aus diesem Grund kann eine demokratische Gesellschaft nicht auf Harmonie und Versöhnung abzielen“ (Mouffe, 1999, S. 27). Entgegen der Mouffe’schen Vorstellung, Dissens zwar als zentrales Merkmal (liberal-)demokratischer Gesellschaften zu postulieren, jedoch gleichzeitig davon auszugehen, dass es eines Konsens´ in denjenigen Institutionen bedarf, die für „die demokratische Ordnung konstitutiv sind“ (Mouffe, 1999, S. 27), will Engel die Funktion der Dissensorientierung vermutlich anders verstanden wissen. Wenn in unzähligen feministischen Arbeiten die Ausschlusskriterien und strukturellen Herrschaftsverhältnisse liberal-demokratischer Institutionen herausgearbeitet und kritisiert werden, dann kann es kaum ein Ziel emanzipatorischer Suchbewegungen sein, liberal-demokratische Institutionen als positiven Bezugspunkt – d.h. als notwendigen Konsens – einzufordern.35 Deshalb ist die Suche nach Formen der Vergemeinschaftung, die nicht auf gemeinsamen Identitäten beruhen und Differenzen nicht als Rechtfertigung für Macht- und Herrschaftsverhältnisse missbrauchen, aus
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Die Annahme, jede Gemeinschaft brauche einen gemeinsam geteilten Konsens – Mouffe spricht in „Das demokratische Paradox“ (2008) von einem „gemeinsamen symbolischen Raum“ (Mouffe, 2008, S. 30) – wird spätestens dann aus einer queer-feministischen und herrschaftskritischen Perspektive kritikwürdig, wenn er mit der positiven Bezugnahme auf liberal-demokratische Grundsätze und Institutionen gleichgesetzt wird. Mouffe geht davon aus, dass „wir eine gemeinsame Bindung an ethisch-politische Prinzipien liberaler Demokratie besitzen: Freiheit und Gleichheit“ (Mouffe, 2008, S. 103). Mit dieser Bezugnahme auf die Gesellschaftsform einer liberalen Demokratie gelingt es Mouffe, Hegemonieproduktion so zu zähmen, dass aus antagonistischen Positionen – die widerstreitenden Positionen/ Gruppen verstehen sich als Feind_innen – Agonismen werden. Agonistische Politik erkennt das Gegenüber als eine Gegner_in an: „d.h. als jemand, dessen Ideen wir bekämpfen, dessen Recht, jene Ideen zu verteidigen, wir aber nicht in Zweifel ziehen“ (Mouffe, 2008, S. 103). Chantal Mouffe bezeichnet ihr Demokratiemodell als agonistische Demokratie, synonym dazu verwendet sie auch die Begrifflichkeiten agonistischer Pluralismus sowie radikale und pluralistische Demokratie.
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einer queer-feministischen Perspektive besonders brisant. Antke Engel bezieht sich in dieser Suche auf J.K. Gibson-Graham und schlägt den Begriff der „Gemeinschaft-ohne-Gemeinsamkeit“ (Engel, 2009a, S. 161) vor. Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten kommen ohne die Schaffung gemeinsamer Identitäten aus. Gemeinschaftlichkeit wird stattdessen über gemeinsames Handeln hergestellt. Es geht daher in Anlehnung an Jacques Derrida um die Versuch, „Individualität so mit Sozialität zu koppeln, dass Verbundenheit nicht nur mit denjenigen gelebt wird, mit denen eine_r sich durch Ähnlichkeit, Verwandtschaft oder Intimität verbunden fühlt“ (Engel, 2009a, S. 161).36 Antke Engels Forderung der Dissensorientierung ist durch diese Vorstellung der Schaffung von ‚Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeit‘ geprägt. Sie verbindet mit einem am Dissens orientierten Politikverständnis auf der einen Seite die Akzeptanz der Involvierung widerständiger (Handlungs)Praxen in gesellschaftliche Hegemonieproduktion, andererseits den Versuch, durch ständiges infrage Stellen den Schließungsprozess der Hegemoniebildung herauszufordern. Ein Ansatzpunkt für die Forderung nach Dissensorientierung liegt im Verständnis von Hegemonie als „ongoing struggle“ (Castro Varela et al., 2011b, S. 19). Eng damit verbunden ist die Idee, Politik als ein permanentes Aufbrechen des gesellschaftlichen Konsens’ zu verstehen. Politik lässt sich daher aus Antke Engels Perspektive als „hegemonic struggles“ (Engel, 2011, S. 64) lesen. Wenn es in dieser Lesart ein Anliegen emanzipatorischer Politik ist, den Kreislauf der Konsensproduktion zu brechen, dann stellt sich die Frage, wie dieses Aufbrechen konstruktiv zu nutzen ist. In den jüngeren Arbeiten konkretisiert Engel ihr Verständnis von Dissensorientierung in dem sie klarstellt, dass ein subversives Unterlaufen von Hegemonie(re)produktion kein Außerhalb hegemonialer Strukturen bildet. Jeder subversive Akt der Spannungshaltung und damit der Infragestellung des gesellschaftlichen Konsens ist in dieser Argumentation bereits Teil von Prozessen der Hegemonie(re)produktion. „Politics of subversion work from within this normalizing process and consist of doing-it-wrongly; that is, in claiming individualism without conceding to the neoliberal norms of autono-
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An anderer Stelle verknüpft Antke Engel die Suche nach ‚Gemeinschaft-ohneGemeinsamkeit‘ mit der Frage: „Lassen sich gesellschaftliche Formen denken, in denen ich mir wünsche, dafür Sorge zu tragen, dass andere gemäß ihren und nicht meinen Wünschen leben können?“ (Engel, 2009a, S. 159)
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my, privatized responsibility, personal achievement and economic utility. Instead, individualism insist on infinite possibilities of building alliances according to improbable, uncommon, anomalous or amazing criteria“ (Engel, 2011, 85). Die Idee, subversiv zu handeln, indem der Prozess des Wiederholens gesellschaftlicher Normen verfälscht wird, ist nicht neu. Letztendlich beschreibt Judith Butler in ihrem Konzept der Performativität (Butler, 1991, 1995), wie gesellschaftliche Normen und damit hegemoniale Vorstellungen von Normalität aufgebrochen werden können. Ein neuer Aspekt scheint mir das Insistieren Engels auf Versuche, den Schließungsprozess von Hegemonieproduktion zu verhindern. Damit verbunden ist die Idee, im Sinne von ‚Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten‘ (Engel, 2009a) Koalitionen durch gemeinsames Handeln zu bilden und damit Kollektivität mit Individualität und Heterogenität zu verbinden. Ein verbindendes Moment von Koalitionsbildungen, die Gemeinschaftlichkeit ohne identitäre Gemeinsamkeiten herstellen, kann aus Engels Perspektive über gemeinsames Begehren gelingen. Oder anders formuliert: Bei der Suche nach Wegen, die hegemonialen Schließungsprozesse aufzubrechen, schlägt Antke Engel vor, Begehren als konstitutives Moment des Politischen zu begreifen: „In the end what remains is a paradoxical tension on the level of the political that translates into ongoing hegemonic struggles on the level of politics. Thanks to queer theory, we* can give this paradoxical tension between the contingency of sociohistorical dependency and self assertion in connectivity a name: desire. Desire as a constitutive moment on the political as well as queering subjectivity, which opens up towards irreducible otherness“ (Engel, 2011, S. 87). Antke Engel stellt in „Bilder von Sexualität und Ökonomie“ (2009) Bezug zu J.K. Gibson-Graham her, wenn sie Begehren als wichtige Stütze „ökonomischer Diversität“ (Engel, 2009a, S. 156) konzipiert. Ebenso wie Engel sprechen J.K. Gibson-Graham dem Begehren, das heißt dem Wunsch nach Veränderung, eine wirkmächtige Rolle zu. Mit den drei Strategien, Möglichkeitsräume zu entwerfen, die über kapitalistische Verhältnisse hinausweisen – politics of the subject, politics of language und politics of collective action – setzen sie an einer solchen Begehrensproduktion an. Sie fragen danach, wie wir zu Subjekten werden, die das Begehren und die Kreativität besitzen ‚nicht-Kapitalismen‘ zu schaffen.
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Ich möchte an dieser Stelle meiner theoretischen Ausführen kurz innehalten und die Frage aufwerfen, was sich aus den erfolgten Überlegungen als Denkanregungen für konkretes widerspenstiges Handeln im Hier und Heute mitnehmen lässt: Mir ging es darum zu zeigen, dass es aus queer-feministischer Perspektive hilfreich sein kann, Widersprüche und Paradoxien – mit denen kollektive Handlungspraxen zwangsläufig verbunden sind – nicht voreilig als Scheitern emanzipatorischer Prozesse zu lesen. Wenn queer-feministischen Denken davon ausgeht, dass alle Formen der Identitätsbildung, die Wahrnehmung der Realität, jedes Handeln immer schon von Machtverhältnissen beeinflusst ist und es grundsätzlich kein Handeln gibt, dass sich außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse bewegt und daher potentiell macht- und herrschaftsfrei sein kann, dann sind Widersprüche, Ambiguitäten und Paradoxien in erster Linie ein Beleg für die Verwicklung in vorhandene und historisch gewachsene Strukturen. Da diese Strukturen jedoch über tägliche Handlungspraxen immer wieder neu hergestellt werden müssen, lassen sie sich mittels fehlerhafter Wiederholung verändern. Ein wichtiges Moment für gesellschaftliche Veränderung ist dabei Begehren. Nur wenn Menschen den Wunsch/das Begehren verspüren, die gegebenen Verhältnisse zu verändern, kommen Veränderungen in Gange. In meiner Lesart kann dieses Begehren auch aus dem Gefühl materieller Not heraus entstehen oder durch andere äußere Umstände geprägt sein und muss nicht zwangsläufig dem individuellen Drang nach emanzipatorischer Veränderung entspringen. Die Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse wiederum schaffen neues Begehren. Eine klare Kausalkette lässt sich dabei weder vorhersagen noch rekonstruieren. Daher kann auch keine Person alle Konsequenzen einer Entscheidung abwägen, Entscheidungen sind immer mit der Unsicherheit verbunden, nicht zu wissen, was sie genau bedeuten (werden). Ein emanzipatorischer Umgang mit dieser grundsätzlichen Unentscheidbarkeit kann es sein, die Kriterien der Enthierarchisierung und Denormalisierung einzuführen und das Moment der Unentscheidbarkeit zu politisieren. Diese Politisierung der Unentscheidbarkeit kann dazu beitragen, die Unterschiedlichkeit und Vielfalt von Menschen zu betonen und sensibel auf Tendenzen der Homogenisierung zu reagieren.
3.4 Zwischenfazit & Fragen an die Praxis Zum Ende des Kapitel möchte ich zusammenfassend noch einmal danach fragen, wie mir die theoretischen Auseinandersetzungen helfen, widerspenstige Alltagspraxen denken, leben und analysieren zu können. Ein zentrales
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Ergebnis meiner Analyse queer-feministischer Kapitalismuskritiken sehe ich in dem Versuch der Einnahme einer antikapitalozentristischen Perspektive, die immer wieder neu zu gestaltende und zu definierende Formen postkapitalistischer Lebensorganisation im Hier und Jetzt sichtbar macht. Diese Perspektive braucht die Strategien der Politiken der kollektiven Handlungsfähigkeit, sowie der Sprach- und Subjektpolitiken, um mit dem gegenwärtig vorherrschenden Bild allumfassender kapitalistischer Strukturen zu brechen und damit Handlungsperspektiven zu eröffnen – Habermann gebraucht dafür das Bild von Halbinseln (Habermann, 2009b), die zwar nicht losgelöst vom kapitalistisch dominierten Festland gedacht werden können, aber trotzdem die vermeintliche Alternativlosigkeit mit dem Aufzeigen einer emanzipatorischen Vielfalt der Lebensorganisation ad absurdum führen. Der gegenwärtig hegemonialen Perspektive wird mithilfe der aufgezeigten Dekonstruktionen ein erster Stachel genommen. Wird die zur Aufrechterhaltung der herrschenden Hegemonie notwendige Alternativlosigkeit entlarvt, dann entstehen Unsicherheiten, Nischen, neue Erfahrungsräume etc., die die bestehenden Verhältnisse herausfordern. Eine Politisierung des Ökonomischen wird dann ebenso denkbar wie die Wahrnehmung des Alltäglichen als politisch. Damit bewege ich mich im Rahmen feministischer Interventionen, die darauf hinweisen, dass strukturelle Gesellschaftsveränderungen kaum von oben in einer top-down-Bewegung durchsetzbar sind, solange keine emanzipatorischen Veränderungsprozesse im Alltagsleben stattfinden. Deshalb setze ich auch – der Idee eines place-based globalism folgend – den Fokus auf konkrete Praxen vor Ort. Da in einem queer-feministischen und herrschaftskritischen Verständnis Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse miteinander verwoben sind, wird es notwendig, danach zu fragen, wie sich Prozesse der Denormalisierung und Enthierarchisierung initiieren lassen. Diese Kriterien der Denormalisierung und Enthierarchisierung dienen als Maßstab, Entscheidungen zu bewerten, Verantwortung für sie zu übernehmen und sie in einem offenen Prozess immer wieder infrage zu stellen. Im Hintergrund der Überlegungen steht die poststrukturalistisch geprägte Annahme, dass Politik durch das Treffen von Entscheidungen in der Unentscheidbarkeit gekennzeichnet ist. Durch die Strategie der VerUneindeutigung kann eine Politisierung der Unentscheidbarkeit in Angriff genommen werden. Damit soll letztendlich ein produktiver Umgang mit den mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen einhergehenden Paradoxien und Widersprüchlichkeiten ermöglicht werden. Die zu findenden Ambiguitäten und Widersprüche in den konkreten Alltagspraxen lassen sich in dieser Lesart als potentielle Formen von Politisierung begreifen. Auch Halbinseln bieten demnach emanzipatorisches Poten-
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tial, es muss eben nicht erst vollständig die jeweilige Gesellschaftsorganisation grundlegend verändert werden, bevor erste Schritte hin zu einem befreit(er)en Zusammenleben und Wirtschaften möglich sind. In diesem Sinne will ich versuchen, Denkprozesse zu ermöglichen, die über ein reines Hegemoniedenken radikal hinausweisen und in letzter Konsequenz einen kleinen Beitrag dazu leisten, Hegemonie(re)produktion in einer emanzipatorischen Art und Weise zu überwinden. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich folgende Fragen, die für die Analyse meiner Praxisbeispiele von besonderem Interesse sind: • Welche Strategie der Schaffung von community economies wenden die Beispiele schwerpunktmäßig an? Wie sehen die Strategien der Politik der kollektiven Handlungsfähigkeit, der Sprach- und Subjektpolitiken aus? • Wie bearbeiten die Beispiele die Verwobenheit von Macht-, Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnissen? • Wie werden Denormalisierungs- und Enthierarchisierungsprozesse angestoßen? Wo finden sich Praxen, die dazu beitragen können, Privilegien zu verlernen und damit den Kontext in einem egalitären Sinne zu verändern? • Wie ist der Umgang mit Widersprüchlichkeiten? Kommt es zu Momenten der VerUneindeutigung, die zur Politisierung der Unentscheidbarkeit beitragen?
4 Suchbewegung 2: Demokratietheoretische Erweiterung
Im vorangegangen Kapitel habe ich mich aktuellen Debatten queer-feministischer Kapitalismuskritik gewidmet und bin der Frage nachgegangen, wie mithilfe der vorgestellten Ansätze widerspenstige Alltagspraxen theoretisch denkbar und damit bereits existierende Praxen aus einer Theorieperspektive sichtbar werden. Das folgende Kapitel verfolgt das Ziel, darüber nachzudenken, welchen Demokratiebegriff es braucht, um das Praktizieren von Demokratie in widerspenstigen Alltagspraxen als demokratisches Handeln zu begreifen und damit in die Theoretisierung von Demokratie aufzunehmen. Konkret möchte ich auf die demokratietheoretischen Hinweise aus meiner ersten Suchbewegung zurückgreifen und diese um eine explizit demokratietheoretische Komponente erweitern. Ich beabsichtige folglich nicht, einen vollständigen Überblick über feministische und queere Debatten zu demokratietheoretischen Fragen zu geben. Mir geht es vielmehr darum, schlaglichtartig Denkanregungen aus den vorhandenen Debatten und Fragestellungen aufzugreifen und für meine Arbeit fruchtbar zu machen. Die Entscheidung einzelne Aspekte zu fokussieren liegt in erster Linie in den Eigenschaften feministischer Demokratietheorien begründet. So lassen sich wichtige Grundthemen feministischer Forschung implizit und explizit mit demokratietheoretischen Fragen verknüpfen: Es werden Fragen nach dem Verhältnis von Öffentlich und Privat, der Konzeption dieser beiden Sphären und den Zugangsbarrieren zu den Bereichen des Öffentlichen ebenso diskutiert wie über die Modi politischer Repräsentation und das Verhältnis zwischen Anerkennungs- und Verteilungspolitiken gestritten wird. Wie die genannten Beispiel kurz andeuten sollen, lässt sich feministische Wissenschaft vielfach als demokratietheoretisch relevante Forschung lesen. Darüber hinaus widmen sich feministische Forscher_innen konkret den (androzentristischen) Modellen von Demokratie. Das heißt, sie üben
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Kritik daran, dass Geschlechterverhältnisse in der Regel keine Beachtung finden und weisen nach, warum Demokratietheorien in ihrer Grundkonzeption vielfach auf einem Ausschluss nicht-männlich konnotierter Individuen basieren (z.B. Holland-Cunz, 2004; Sauer, 2001a,b). Feministische Demokratietheorien bleiben jedoch nicht nur auf der Stufe der Kritik an den so genannten malestream Theorien stehen, sondern verfolgen auch Fragen, wie Demokratie zu gestalten sei, um dem Ziel einer geschlechtergerechten Gesellschaftsordnung näher zu kommen (z.B. Berger et al., 2000; Phillips, 1995). Neben diesen Auseinandersetzungen, die sich den theoretischen Demokratiemodellen widmen, weisen feministische Bewegungen selbst Demokratiebezug auf. So waren und sind feministische Interventionen, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse kritisieren, stark mit der Bezugnahme auf demokratische Versprechen und Ideale verknüpft. Beispielhaft möchte ich eine zentrale Forderung der so genannten ersten Frauenbewegung der ‚westlichen Welt‘ anführen. Die Einführung des Wahlrechts für Frauen – und damit das Versprechen der französischen Revolution ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ – wurde für alle Menschen eingefordert. Diese mittlerweile als längst überholt geltende Forderung ist (selbst) in West-Europa noch nicht lange Realität. In der Schweiz – dem vermeintlichen Musterland demokratischer Praxis – wurde das Wahlrecht für Frauen im Jahr 1971 (im Kanton Appenzell Innerrhoden aufgrund einer Klage feministischer Aktivist_innen sogar erst 1990) eingeführt. Die Berücksichtigung aller Facetten feministischer Beschäftigung mit Demokratie und ihrer Theoretisierung ist daher im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Zumal ich ergänzend zur Auseinandersetzung mit feministischen Einsichten und Forderungen den Versuch vage, mich libertären Vorstelllungen kollektiver Entscheidungsfindung zu widmen. Ich verstehe Barbara Holland-Cunz’ (2006) These folgend die politische Philosophie des Anarchismus als radikalste aller Demokratietheorien. Das Interesse an libertären Vorstellungen von Demokratie ist dabei sowohl meiner herrschaftskritischen Perspektive geschuldet als auch im Hinblick auf meine Praxisbeispiele sinnvoll: Die Aktivist_innen pflegen einen politischen Umgang, der sich in die Tradition libertärer Vorstellungen von Gesellschaftsveränderung einordnen lässt. Zudem formulieren die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussionen oftmals ein reserviertes Verhältnis zur Begrifflichkeit Demokratie. Darüber hinaus halte ich die Frage für aufschlussreich, wie libertär-orientierte Ideen kollektiver Entscheidungsfindung dem Wunsch nach inklusiven Handlungs- und Entscheidungsverfahren kon-
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zeptionell begegnen und gleichzeitig Heterogenität und Differenz(en) zwischen Menschen anerkennen. Spannende Anleihen für die Herausarbeitung eines Demokratieverständnisses finden sich darüber hinaus bei Veröffentlichungen zu den OccupyBewegungen (z.B. Kastner et al., 2012; Mörtenbeck und Mooshammer, 2012; Pickerill und Krinsky, 2012). Dort werden unter den Stichworten Arabischer Frühling, 15M-Bewegung, Occupy etc. demokratische Praxen diskutiert, die, einem radikalen Inklusionsverständnis folgend, nach Formen des kollektiven Handelns suchen, die nicht auf einem identitären ‚Wir‘ fußen, sondern Perspektiven entwerfen, die die herrschenden Verhältnisse als grundlegend veränderbar denken (können). Die Nähe der dort praktizierten Demokratie zu anarchistischen Vorstellungen kollektiver Entscheidungsfindung wird in den Texten immer wieder hervorgehoben (z.B. Kastner, 2012). Wenn es Ziel des folgenden Kapitels ist, den Demokratiebegriff herauszuarbeiten, der in den betrachteten Kapitalismuskritiken zur Sprache kommt, aber nicht herausgearbeitet wird, dann ist es notwendig, sich von einem ‚westlichen‘, staats- und institutionenzentrierten Verständnis von Demokratie zu lösen. Demokratie ist dann nicht ausschließlich gleichzusetzen mit parlamentarischen Formen repräsentativer Demokratie, Gewaltenteilung, freien und geheimen Wahlen sowie einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die politische Fragen – in der Regel als Sachdiskussionen – behandelt, die dann wiederum von den demokratisch gewählten Repräsentant_innen aufgenommen und in Gesetze überführt werden. Es geht vielmehr darum, zu untersuchen, wie „nicht-repräsentationistische und alternative soziale Formen von Demokratie“ (Lorey, 2012, S. 9) konzipiert und praktiziert werden. Demokratie muss demnach neu erfunden werden. Isabell Lorey schlägt hierfür den Terminus ‚präsentistische Demokratie‘ (vgl. Lorey, 2011, 2012, S. 43) vor: „Wenn Demokratie bedeutet, dass die Vielen regieren und nicht das vereinheitlichte ›Volk‹, wenn Demokratie bedeutet, dass sich die Vielen versammeln und austauschen und sich nicht vertreten lassen, wenn die zentralen Komponenten von Demokratie also zuallererst Versammlung und miteinander sprechen, sich zuhören sind, und nicht Recht, Repräsentation und Wahlen, dann existieren die Vielen vor der juridischen – das heißt der rechtlichen, repräsentativen – Konstitution von Demokratie, dann sind freie Wahlen, Recht und demokratische Repräsentation der ›realen‹ sozialen und politischen Praxen von Demokratie nachgeordnet.“ (Lorey, 2012, S. 45f.)
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Loreys Interesse ist es, das Praktizieren von Demokratie an den Orten der Besetzungen als konstituierendes Moment von Demokratie zu begreifen. Hiermit gelingt ihr ein Blick auf Aktivitäten, die in der Regel nicht als Formen politischen Handelns betrachtet werden und damit in der demokratietheoretischen Auseinandersetzung wenig Aufmerksamkeit erfahren. In ihren Worten geht es darum, den „Fokus auf eine konstituierende Macht der Vielen, die prozessual und immanent verstanden wird“ zu legen und damit „die widerständige und gesellschaftsverändernde Kraft von Alltagshandeln, sozialen Beziehungen, Weisen des Zusammenlebens, Lebensformen und vor allem Subjektivierungsweisen in den Blick zu nehmen“ (Lorey, 2012, S. 30). Mit dieser Schwerpunktsetzung plädiert Isabell Lorey nicht dafür, die Frage nach institutionellen Formen von Demokratie beiseite zu stellen. In Loreys Argumentation wird konstituierten Formen (repräsentativer) Demokratie nicht grundsätzlich eine Absage erteilt. Sie fragt stattdessen danach, wie sich das Paradox eines Verständnisses von Demokratie auflösen lässt, das zur Etablierung einer demokratischen Ordnung das Engagement der Vielen/ Massen braucht und zugleich in Versammlungen der Vielen – sei es in Form von Demonstrationen, Besetzungen oder anderen Formen politischer Meinungsäußerungen – eine Bedrohung eben dieser demokratischen Ordnung wahrnimmt und diese folglich eindämmen, zumindest aber in regulierbare Bahnen lenken möchte. Daher gilt ihr Augenmerk der konstituierenden Kraft der Besetzungsbewegungen und den praktizierten Formen einer ‚nicht-repräsentationistischen, präsentistischen Demokratie‘ (Lorey, 2011). Diese Form der Demokratie findet im Hier und Jetzt statt, in der Organisation des Alltags in den Camps und auf den besetzten Plätzen. Mein Forschungsinteresse fokussiert auf eine etwas anders gelagerte Ebene von Alltagshandeln. Ich beschäftige mich mit Formen des Alltagshandelns und demokratischer Praxen, die nicht immer auf die gleiche Weise sichtbar sind wie die demonstrative Besetzung eines öffentlichen Platzes oder die Organisation eines Camp-Alltags. Meine Beispiele existieren parallel, vor und nach öffentlichkeitswirksamen politischen Aktionen und stellen gleichsam ein Experimentierfeld, auf dessen Erfahrungswissen, Ressourcen und persönliche Netzwerke dann die bewegungspolitischen Akteure zurückgreifen können. Allerdings gilt für die gewählten Praxisbeispiele – das Mietshäuser Syndikat, der Wagenplatz Schwarzer Kanal und die NewYorck im Bethanien – gleichermaßen wie für die Aktivitäten im Rahmen der aktuellen Besetzungsbewegungen eine Gleichsetzung zu vermeiden, die Jens Kastner mit einem Dilemma libertär-sozialer Bewegungspraxen beschreibt: Demnach gelänge es zwar oftmals in den Praxen, neue Formen von Demokratie zu praktizieren, diese hätten jedoch meistens keine bis wenige Auswirkun-
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gen auf die institutionellen Formen demokratischer Regierungspraxis (vgl. Kastner, 2012). In anderen Worten, das System parlamentarischer Repräsentation als Synonym für Demokratie zu begreifen – die nach wie vor gängige Interpretation von Demokratie in ‚westlicher‘ Tradition – muss nicht unbedingt durch konkrete Praxen libertärer Entscheidungsfindung infrage gestellt werden. Isabell Lorey fasst dieses Dilemma begrifflich in der Unterscheidung zwischen konstituierender und konstituierter Macht (vgl. Lorey, 2012, S. 29). Ich möchte den Einwand von Jens Kastner als Plädoyer lesen, bei der von mir vorgenommenen Fokussierung auf Alltagspraxen und Alltagshandeln nicht zu vergessen, dass diese bereits von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchdrungen sind. Die demokratischen Praxen, mit denen die Beispiele experimentieren, weisen nicht unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen hin. Allerdings halte ich es für sinnvoll, die in den Praxen zu findenden Möglichkeitsräume in den Mittelpunkt meines Interesses zu stellen. Wenn ich aus queer-feministischer Perspektive davon ausgehe, dass alle Menschen bis in die Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung hinein von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beeinflusst sind und gleichermaßen strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse tagtäglich wiederhergestellt werden müssen, dann stellt sich die Frage nach den Erfolgen sozialer Praxen etwas anders. Dann lässt sich beispielsweise die Analyse, dass die Occupy Bewegung, die M15 Bewegung sowie die verschiedenen Ausprägungen des Arabischen Frühlings usw. nicht bereits das Ende neoliberaler Hegemonie einläuten, nicht nur als Schwäche dieser libertär geprägten Bewegungspraxen lesen. Aus queer-feministischer Perspektive muss dann nicht die pessimistische Schlussfolgerung gezogen werden: „Plätze erobern, aber sie nicht halten können, Platzverweise empört zurückweisen, aber sie nicht eindämmen können, Platzverschiebungen einzufordern und anzumahnen, aber sie nicht auf Dauer stellen zu können“ (Kastner, 2012, S. 81f.). Zumal es nach Henri Lefebvre (2006) auch darum geht, Widersprüche zwischen Praxen alltäglichen Handelns und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herzustellen, auszubauen und dauerhaft einzurichten.1 Mit einer solchen Fokussierung auf die Bedeutung von und den Umgang mit Widersprüchen lässt sich wieder eine Brücke zu Antke Engels Plädoyer schlagen,
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Vgl. Raumkonzeption von Henri Lefebvre (2006), auf die sich Jens Kastner (2012) in seinem Artikel bezieht.
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in den Widersprüchen und Paradoxien neoliberaler Gesellschaftsveränderungen emanzipatorisches Potential zu suchen. Vorgehensweise im Kapitel Die nachfolgenden Fragestränge leiten meine zweite Suchbewegung an: Welche Hinweise auf den Demokratiebegriff finden sich in den queer-feministischen Kapitalismuskritiken und wie lassen sich diese demokratietheoretisch erweitern? Welche demokratietheoretischen Ansätze sind in der Lage, widerspenstige Alltagspraxen demokratietheoretisch zu erfassen und zu beschreiben? Wie lässt sich folglich nicht nur das Wissen über Kapitalismus sondern auch über Demokratie derart irritieren und verändern, dass damit widerspenstige Alltagspraxen in den Forschungsblick rücken? Beginnen möchte ich meine Ausführungen in Kapitel 4.1 mit der Wiedergabe der demokratietheoretischen Hinweise aus der ersten Suchbewegung: Welche Bezüge zwischen Kapitalismusverständnis bzw. Handlungsstrategien und Demokratieverständnis werden in den queer-feministischen Kapitalismuskritiken hergestellt? Der zweite Argumentationsschritt folgt einer hegemonietheoretisch inspirierten Überlegung: Wenn gesellschaftliche Hegemonie daran gebunden ist, die gegebene Gesellschaftsordnung als alternativlos zu postulieren und gegenhegemoniales Handeln alternative Sichtweisen und Lebensentwürfe sichtbar macht, dann erfordert ein Nachdenken über Demokratie die Bereitschaft der Infragestellung des herrschenden (westlich geprägten) Verständnis’ von Demokratie. Ich widme mich daher in Kapitel 4.2 demokratietheoretischen Leerstellen: Warum gelingt es gängigen Vorstellungen von Demokratie nicht, Alltagshandeln als demokratietheoretisch relevant zu fassen? Was ist folglich das vorherrschende Verständnis von Demokratie und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Analyse widerspenstiger Alltagspraxen? Im anschließenden Kapitel 4.3 (Anknüpfungspunkte: Wie lässt sich Demokratie neu konzipieren?) stelle ich drei Perspektiven vor, die dazu beitragen, Demokratie neu zu denken: Die erste Perspektive widmet sich einem Beitrag von Barabara Holland-Cunz aus den 1990er Jahren. HollandCunz’ Zusammenschau der Kennzeichen feministischer Demokratietheorien bezieht sich auf den bewegungspolitischen Kontext feministischer Theoriebildung und bietet erste Ansatzpunkte für einen normativen Rahmen feministischer Demokratietheorien. Der aktuelle Vorschlag Isabell Loreys, Alltagsorganisation als präsentistische Demokratie zu begreifen, lenkt den Fokus auf Alltagspraxen, die als zentraler Moment der (Neu-)Erfindung von Demokratie demokratietheoretisch brisant werden. Die Konzeption präsen-
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tistischer Demokratie stellt damit die zweite Perspektive dar. Die dritte Perspektive bezieht sich auf libertäre Ideen. Ralf Burnickis Vorschlag, die Ideenlehre des Anarchismus als Demokratietheorie zu fassen, rundet daher die Suche nach einer herrschaftskritisch und queer-feministisch inspirierten Demokratiekonzeption ab. All diese Überlegungen dienen als Grundlage, um das in den Kapitalismuskritiken gefundene Demokratieverständnis hervorzuheben und zu erweitern. Die sich hieraus ergebende Lesart demokratischer Praxen und deren demokratietheoretische Einbettung ergeben den Demokratiebegriff meiner Arbeit. Das Kapitel 4.4 zieht somit ein Zwischenfazit und fasst das queer-feministisch und herrschaftskritisch geprägte Demokratieverständnis zusammen.2
4.1 Demokratietheoretische Hinweise aus der Suchbewegung 1 Während meiner ersten Suchbewegung – der Auseinandersetzung mit queerfeministischen Kapitalismuskritiken – ist mir aufgefallen, dass sich in den Texten kurze Bezüge zum Begriff ‚Demokratie‘ finden lassen. Diese demokratietheoretischen Verweise tauchen jedoch nur am Rande auf und werden nicht weiter ausgeführt. Ich werde an dieser Stelle die gefundenen Schnittstellen zwischen Kapitalismusverständnis und Demokratiebegriff der queerfeministischen Kapitalismuskritiken aufgreifen und danach fragen, welche Grundannahmen sich daraus ableiten lassen, um widerspenstige Alltagspraxen als demokratische Praxen zu würdigen. Zur Beantwortung dieser Fragen gehe ich in zwei Schritten vor. Im ersten Schritt bleibe ich nah an den Originaltexten. Ich greife die gefundenen Hinweise auf das Demokratieverständnis auf und befrage sie auf ihre demokratietheoretischen Bezüge. Im zweiten Schritt erweitere ich diese Hinweise um eine demokratietheoretische Auseinandersetzung mit der Parole ‚Das Private ist politisch!‘. Mit dieser zweiten Herangehensweise lese ich assoziativ zwischen den Zeilen und erar-
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In Kapitel 6 werde ich im Anschluss an die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen in Kapitel 5 auf dieses Kapitel zurückgreifen und die hiesigen Überlegungen mit den Begrifflichkeiten, Erfahrungen und Vorstellungen aus den Praxisbeispiele in Beziehung setzen. Die theoretisch-akademischen Auseinandersetzungen verknüpfe ich folglich in Kapitel 6 mit den durch konkrete Alltagserfahrungen geprägten Demokratievorstellungen der Aktivist_innen.
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beite weitere Anhaltspunkte für das in den Kapitalismuskritiken verwendete Demokratieverständnis. 4.1.1 Demokratietheoretische Hinweise der queer-feministischen Kapitalismuskritiken Die demokratietheoretischen Hinweise finden sich ausnahmslos bei der Frage, wie Menschen in ihrem Alltagshandeln befähigt sind, gesellschaftliche Veränderungen anzuregen. Deshalb werde ich an dieser Stelle aufzeigen, welche Anhaltspunkte ich in der Konzeption von community economies (J.K. Gibson-Graham), der Idee des Lernens am ‚Anderen‘ (Friederike Habermann) sowie im Rahmen einer queere Perspektive auf Paradoxien, Ambiguitäten und Widersprüche (Antke Engel) gefunden habe. Die Wissenschaftler_innen gehen in ihren Arbeiten jeweils nur sehr kurz oder gar nicht auf ihre demokratietheoretischen Bezüge ein. Beispielsweise findet sich beim Autor_innenkollektiv J.K. Gibson-Graham lediglich der Verweis, dass die Entwicklung von community economies demokratisch sein müsse: „Unlike the proliferative fullness of diverse economy, the community economy is an emptiness – as it has to be, if the project of building is to be political, experimental, open and democratic“ (Gibson-Graham, 2006a, S. XV). Hinweise in der Konzeption von community economies Wie bereits erwähnt, ist bei Gibson-Graham die Aussage, dass der Prozess der Schaffung von community economies politisch, experimentell, offen und demokratisch verlaufen müsse, die zentrale Stelle, an der der Link zwischen Kapitalismus- und Demokratieverständnis hergestellt wird. Was genau unter einem solchen Prozess zu verstehen ist, wird nicht weiter ausgeführt. Es lohnt sich hier allerdings herauszuarbeiten, welches Politik- und Demokratieverständnis den Überlegungen zugrunde liegt. Gibson-Grahams Politikbegriff ist sehr stark durch ihre feministische Einstellung geprägt: Sie begreifen das Alltägliche als politisch, indem sie die konkreten Nahverhältnisse von Menschen als strategische Ansatzpunkte zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse wählen. Dabei wird essentialistischen und universalistischen Wertevorstellungen, Normen und Wahrheiten eine Absage erteilt. Deshalb kann auch die Frage, was unter Politik zu verstehen ist, lediglich als eine politische begriffen werden. Entscheidungen sind demnach immer Entscheidungen in der Unentscheidbarkeit.3
3
Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Antke Engel in Kapitel 3.3.3.
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Gibson-Graham fordern deshalb ‚politics of economic possibility‘ (GibsonGraham, 2006b, S XXXIII) ein, – ich habe sie mit Politiken der ökonomischen Möglichkeiten übersetzt – in denen die Menschen vor Ort als handelnde Akteure begriffen werden. Die Entwicklung von community economies muss damit einer Logik folgen, die den Prozess als prinzipiell offen, experimentell, demokratisch und politisch auffasst. Die Forderung eines Queerens der Ökonomie geht folglich mit einer Politisierung des Ökonomischen einher, wie es auch Antke Engel (Engel, 2002, 2009a,b)explizit fordert. Da gesellschaftliche Veränderungen in kollektiven Praxen erfolgen, in deren Prozess Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten entstehen, Identitäten immer wieder infrage gestellt und verändert werden sowie der Schwerpunkt auf das Handeln vor Ort gelegt wird, lässt sich die Forderung nach demokratischen Prozessen in einem feministisch-libertären Sinne verstehen: Demokratie ist demnach eine Lebensform und (Alltags-)Praxis, die die kollektive Selbstbestimmung der Menschen als Herzstück demokratischen Handelns begreift und gesellschaftliche Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse überwinden möchte. Diesem Demokratieverständnis wohnt folglich eine prinzipielle Offenheit und Veränderbarkeit inne, die nicht an institutionalisierte Mechanismen und Verfahren gebunden ist. Mit der Ablehnung, einen Idealtypus einer community economy zu entwerfen, und der Betonung der Prozesshaftigkeit der Schaffung solcher Gemeinschaften, verweisen die Wissenschaftler_innen auf den Prozesscharakter von Demokratie, der kontextabhängig ein Mehr an Mitgestaltung verspricht. Ihr übergreifendes Ziel ist es, Politiken der ökonomischen Möglichkeiten aufzuzeigen.4 Gibson-Graham verorten daher ihre Denkanstöße im Bereich eines in die Zukunft weisenden Versprechens, in dem die Menschen als zentrale handelnde Akteure gelten. Daher verstehen sie das Alltagshandeln der Menschen als politisches Handeln, Demokratie ist damit eng mit konkretem Handeln von Menschen verknüpft. Hinweise bei der Idee des Lernens am ‚Anderen‘ Friederike Habermanns Demokratievorstellung verweist ebenfalls auf die Zukünftigkeit des demokratischen Versprechens. Die Aussage „der homo oeconomicus ist jetzt. Wir werden.“ (Habermann, 2008, S. 279) betont die
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Zu den Handlungsstrategien, die als Politiken ökonomischer Möglichkeiten zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse angeführt werden, zählen die Strategien der kollektiven Handlungsfähigkeit, der Sprach- und Wissenspolitiken sowie der Subjektpolitiken. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.3.1.
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Veränderbarkeit einer jeden Ordnung als Bedingung demokratischer Emanzipationsprozesse. Das notwendige Lernen am ‚Anderen‘ verweist darauf, dass Demokratie etwas ist, was im Alltag geschieht und der Interaktion mit anderen Menschen bedarf. Kollektive Lernprozesse, die Abgabe von Privilegien im Prozess des Lernens am ‚Anderen‘, verweisen auf den partizipativen und herrschaftskritischen Charakter von Demokratie. Wenn Habermann (ebenso wie Gibson-Graham) den Lebensalltag der Menschen als politisch begreift, weil Subjekte permanent gesellschaftliche Kontexte (re-) produzieren und damit auch ihre Identitäten verändern, dann lässt sich an das damit einhergehende Demokratieverständnis anknüpfen. Auch bei Friederike Habermann findet sich jedoch keine fertig ausgearbeitete Demokratiekonzeption.5 Konkret greift Habermann auf Jacques Derridas Verständnis einer „démocratie à venir“ (Habermann, 2008, S. 291) zurück, in dem die Verletzbarkeit jeder Ordnung eine Bedingung für Demokratie ist. Demokratie wird darin als ein in die Zukunft blickendes Versprechen formuliert, das als ein Ideal immer wieder performativ erneuert werden muss. Demokratie ist folglich immer im Entstehen und kann nie gänzlich vollendet werden. „Wenn ich von einer Demokratie spreche, die im Kommen bleibt (la démocratie à venir), dann heißt das nicht, daß morgen die Demokratie verwirklicht sein wird, und es bezieht sich auch nicht auf eine Zukunft der Demokratie, sondern es bedeutet, daß es ein Engagement hinsichtlich der Demokratie gibt, das die Irreduzibilität des Versprechens anerkennt [...] Es gibt die Zukunft (il ya de l’avenir). Es gibt etwas, das im Kommen bleibt.“ (Derrida, 1999, S. 184) Ziel dieses Ideals ist es, in einen „wahrhaftigen und herrschaftsfreien Dialog“ (Habermann, 2008, S. 289) zu kommen. Dafür müssen Privilegien verlernt bzw. abgegeben werden, weil diese – auch als Differenzen – Hierarchien implizieren. Ebenso wie bei Gibson-Graham lässt sich damit die Verknüpfung
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Wichtige theoretische Hinweise und Verweise auf das Demokratieverständnis finden sich vor allem im Abschlusskapitel „Queeremos! – Thesen für eine emanzipatorische Theorie und Politik“ ihrer Dissertation zum homo oeconomicus (Habermann, 2008, S. 275ff.). Aber auch in ihrer Buchpublikation „Halbinseln gegen den Strom“ (Habermann, 2009b) wird ihre Perspektive deutlich.
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zu einem libertären Demokratieverständnis herstellen, in dem konkrete Lebenspraxen das zentrale Moment kollektiver Selbstbestimmung sind. Friederike Habermann fordert in diesem Sinne ein Queeren materieller Verhältnisse ebenso wie das Queeren der Identitäten. Das Queeren der materiellen Verhältnisse bedeutet hierbei – aus einer antikapitalozentristischen Perspektive – die Sichtweisen auf Kapitalismus bzw. kapitalistische Verhältnisse zu verändern. Emanzipatorische (Alltags-)Praxen stehen in dieser Logik vor der Aufgabe, sowohl eine „Emanzipation als Identität wie auch [...] von einer Identität“ (Habermann, 2008, S. 282) zu leisten. Mit der Idee des Queerens der Identitäten verabschiedet sich Habermann von der Vorstellung, es sei politisch notwendig, kollektive Identitäten auf Dauer zu schaffen. Es bedarf demnach zwar kollektiver Identitäten, diese sollen jedoch immer wieder aufgelöst und verändert, das heißt nicht auf Dauer fixiert werden. Um handlungsfähig zu sein, ist in dieser Logik die strategische Nutzung von Gruppenidentitäten vonnöten, die durch das Lernen am ‚Anderen‘ und die Bereitschaft, Privilegien zu verlernen, immer wieder aufgebrochen und durchkreuzt werden. Hinweise bei der Politisierung der prinzipiellen Unentscheidbarkeit Antke Engel thematisiert die Notwendigkeit der prinzipiellen Offenheit demokratischer Prozesse und fragt danach, wie Unsicherheiten, Paradoxien und Widersprüchlichkeiten zu Ausgangspunkten emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung werden können. Auch ihr Demokratiebegriff ist ein im Werden begriffener Zustand: Ein Zustand, der nie erreicht werden kann, sondern sich durch permanente Veränderung auszeichnet. Neben der in die Zukunft gerichteten Perspektive findet sich bei Engel auch ein Verweis auf die Bewertung gefällter Entscheidungen. Das heißt, demokratische Praxen werden Antke Engel folgend daran gemessen, ob sie in ihren Effekten Denormalisierungen und Enthierarchisierungen bewirken (vgl. Engel, 2002, Kap. V). Die Konzeption von Demokratie misst sich folglich ebenso daran, ob sie in der Lage ist, diesen beiden Kriterien zuträglich zu sein. Die Strategie der VerUneindeutigung hat Auswirkungen auf die Frage, wer Teil der demokratischen Prozesse sein kann (vgl. Engel, 2002, Kap. IV u. V). Das heißt, der Demokratiebegriff braucht eine bestimmte Offenheit und Unbestimmtheit, der Demos kann folglich keine fixe Größe sein, sondern muss kontingent und unbestimmt bleiben. Wie ich im Laufe des Kapitels zeigen werde (vgl. Kapitel 4.3 ), halte ich es für aufschlussreich, die gefundenen Verweise mit dem Konzept präsentistischer Demokratie (Lorey, 2011, 2012), den Prämissen feministischer Demokratie-
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theorien nach Barbara Holland-Cunz (1998; 1999) sowie mit Theoretisierungen anarchistischer Demokratietheorie (Burnicki, 2003, 2005) zu verknüpfen. Beispielsweise sind die Denkanregungen des Autor_innenkollektivs J.K. Gibson-Graham in ein Verständnis feministischer Demokratietheorien integrierbar, wie es Barbara Holland-Cunz (1998; 1999) im Rahmen ihrer Analyse feministischer Vorstellungen von Demokratie zeigt. Das anarchistische Demokratieverständnis mit seinem Schwerpunkt auf Konsensverfahren als konkreten Entscheidungsverfahren bietet weitere Anhaltspunkte und Ergänzungen zu den bei Gibson-Graham diskutierten Handlungsansätzen zur Schaffung von community economies. Mit welchen Formen des miteinander Lebens und Arbeitens wird in libertär geprägten Kontexten experimentiert? Die Orientierung von community economies an Fragen nach den Bedürfnissen der Menschen, den vorhandenen Gemeingütern, den geschaffenen (materiellen) Werten und den Wegen des Konsums der Güter trägt dazu bei, ein soziales Miteinander zu schaffen, das über kapitalistische Verhältnisse hinaus weist. Alle drei Ansätze (Gibson-Graham, Habermann und Engel) betonen die Notwendigkeit, Demokratie im Bereich des Alltagshandelns anzusiedeln und verweisen auf das Versprechen, das einem demokratischen Ideal innewohnt. Offen bleibt, wie sich demokratie-relevantes Handeln im Alltag äußert, was folglich demokratische Alltagspraxen sind. Unklar bleibt darüber hinaus, warum alltägliches Handeln in erster Linie auf die zukunftsbezogenen Aspekte demokratischer Ideale rekurrieren solle. Braucht es nicht mehr als das emanzipatorische Projekt in der Ferne, mehr als die Utopie am Horizont, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, wenn diese bis in die persönlichste Identitätsbildung hinein wirkmächtig sind? Die Perspektive, Demokratie als präsentistisch zu begreifen, rückt den Fokus weg von den demokratischen Versprechen hin zum konkreten Praktizieren von Demokratie in den Nahverhältnissen der Menschen. Die anarchistische Perspektive, die mit der Praxis des Konsensverfahrens einen Vorschlag unterbreitet, wie möglichst hierarchiearme Entscheidungen gefällt werden können, konkretisiert das Verständnis von Demokratie als alltagsrelevante Größe. Bevor ich mich jedoch im Kapitel 4.3 den hier erwähnten Perspektiven widme, möchte ich im Folgenden über die Auseinandersetzung mit dem Slogan ‚Das Private ist politisch‘ zwischen den Zeilen lesend weitere Hinweise auf den Demokratiebegriff aus den queer-feministischen Kapitalismuskritiken herauskristallisieren. Ich gehe bei dieser Suchbewegung von einer demokratietheoretischen Betrachtung des Slogans aus, um dann auf Ergebnisse aus Kapitel 3 zurückzugreifen.
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4.1.2 ‚Das Private ist politisch!‘: Was heißt das für den Demokratiebegriff? In der Monographie „Die Asche des Souveräns“ von Birgit Sauer (2001b) findet sich eine spannende Auseinandersetzung mit dem bekannten Slogan ‚das Private ist politisch‘. Dieser steht sinnbildlich für die Infragestellung der vermeintlich klaren und statischen Trennung zwischen der Sphäre des Öffentlichen und der Sphäre des Privaten. In dieser weiterhin angenommenen Trennung liegt auch heute noch ein Geschlechterbias eingeschrieben – allen Veränderung in den Geschlechterverhältnissen zum Trotz. Ich möchte an dieser Stelle die feministische Arbeit des Aufzeigens der fiktiven Trennung dieser beiden Sphären als „zentrale[n] patriachale[n] Modus zur Konstruktion hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit“ (Sauer, 2001b, S. 184) nicht fortführen, sondern als gegeben annehmen. Mir geht es darum, die Gedanken von Birgit Sauer zu Privatheit und zur inhaltlichen Bedeutung der Parole ‚das Private ist politisch!‘ aufzugreifen und daraus demokratietheoretische Schlüsse zu ziehen. Ich verfolge daher die Frage, was es bedeutet, diesen Slogan ernst zu nehmen. Darüber hinaus ziehe ich anschließend Verbindungslinien zu den beiden Plädoyers aus den queer-feministischen Kapitalismuskritiken. Die Forderung der frauenbewegten Aktivist_innen nach einer (Re-)Politisierung des Privaten beinhaltet nach Sauer vier Dimensionen: • Erstens geht es um die öffentliche Artikulation, dass der Ort des Privaten „ein Ort von Herrschaft und Gewalt“ (Sauer, 2001b, S. 185) ist, der gesellschaftlicher Regulierung bedarf. • Zweitens soll mit dem Slogan aufgezeigt werden, das die Sphäre des Privaten immer schon von politischen Entscheidungen beeinflusst und reguliert wurde. An dieser Stelle sei an die staatliche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB) ebenso erinnert wie auch an die feministische Forderung, Gewalt in (Ehe-)Beziehungen als Straftat zu sanktionieren (§ 177 StGB). • Drittens wird ein Wechsel der Perspektive eingefordert: Wenn das Private politisch ist, dann hat das auch Auswirkungen auf das Verständnis davon, was unter der Sphäre des Politischen zu verstehen ist. Politik ist damit nicht nur in politischen Gremien zu finden, Politik findet auch und gerade im Alltagsleben statt. Da das Politische in demokratisch organisierten Gesellschaften eng mit Öffentlichkeit
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verbunden ist, schlägt Birgit Sauer eine neue Perspektive auf das Politische und damit auf Öffentlichkeit vor: „Öffentlichkeit ist also nicht als Ort wie das Parlament und die Straße oder als Institution wie die Zeitung zu konzipieren [...] Öffentlichkeit ist vielmehr jener Raum, wo Macht und Herrschaft thematisiert und kritisiert werden. Öffentlichkeit bezeichnet die ‚Möglichkeitsstrukturen‘ politischen Handelns.“ (Sauer, 2001b, S. 200) Bezogen auf das Verständnis des Politischen bedeutet dies, dass überall dort, wo Öffentlichkeit hergestellt wird, die Sphäre des Politischen zutage tritt. Das Politische ist demnach jeder Raum, in dem Macht und Herrschaft kritisch zur Sprache kommen können. Durch Kritik an den herrschenden Verhältnissen in diesen Räumen kann kollektive Handlungsfähigkeit entstehen.6 Wenn Öffentlichkeit in der Raummetapher und nicht im Ortsbegriff verstanden wird, müssen wir uns vom Konzept einer einzigen Öffentlichkeit verabschieden; exemplarisch seien hier Nancy Frasers Überlegungen zum demokratischen Wert pluraler Öffentlichkeiten genannt (Fraser, 2001). • Als vierte Dimension des Slogans ‚das Private ist politisch!‘ beschreibt Birgit Sauer den Anspruch der Frauenbewegungen, nicht nur die politische Dimension des privaten Bereichs aufzuzeigen, sondern gleichzeitig Momente des Privaten – der androzentristisch organisierten, freundschaftlichen Seilschaften und Netzwerke etc. – in der Sphäre des Öffentlichen zu skandalisieren. Diese verhindern den vermeintlich egalitären Zugang zur ‚Öffentlichkeit‘ und entlarven den im Öffentlichen herrschenden rationellen Diskurs der Vernunft als Farce. Festzuhalten bleibt, dass die Aussage ‚das Private ist politisch!‘ nicht nur die Verschiebung der Grenzen zwischen privat und öffentlich fordert. Ziel ist es vielmehr, die Verwobenheit dieser Sphären aufzuzeigen und die Herrschaftsmechanismen offen zu legen, die mit der Annahme einer klaren Trennung zwischen öffentlich und privat verbunden sind. „Die Grenze [zwischen öffentlich und privat; M.S.] ist das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte- und Machtverhältnisse“ (Sauer, 2001b,
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Diese Annahme bedeutet noch nicht, dass alle Räume gleichviel Handlungsfähigkeit besitzen und damit die gleichen Chancen bieten, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern.
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S. 187. Hervorhebungen im Original). Das heißt, die Auseinandersetzung darum, was öffentlich verhandelbar und was Privatsache ist, „ist ein Kampf um Macht und Bedeutung sowie um Inklusion und Gerechtigkeit“ (Sauer, 2001b, S. 186). Wenn wir Öffentlichkeit und damit auch das Politische als einen Raum begreifen, indem Macht- und Herrschaftsmechanismen thematisiert werden, – um in der Raum-Ort-Analogie zu bleiben – dann hat das Auswirkungen auf das Verständnis von Demokratie. Demokratie bezeichnet demnach nicht mehr ausschließlich Staats- und Regierungsformen oder Entscheidungsverfahren in Gremien, die politisch bindende Entscheidungen fällen. Demokratie lässt sich dann „substantiell als ‚Lebensform‘“ (Sauer, 2001b, S. 233) fassen. Der Ruf nach einer Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse meint dann „die Herstellung materieller, sozialer und politischer Bedingungen der Partizipation zur Realisierung einer demokratischen Lebensweise“ (Sauer, 2001b, S. 233) . Demokratie als Lebensform hat in diesem Verständnis ein starkes Augenmerk auf Inklusion. Um sich an den Entscheidungen zu beteiligen (partizipatives Moment), müssen die gesellschaftlichen Bedingungen derart gestaltet sein, dass die Menschen befähigt sind, über das Wie des Zusammenlebens zu entscheiden. „We do learn to participate by participating“ (Pateman, 1974, S. 105) ist dabei ein wichtiges Leitmotiv eines solchen partizipatorischinklusiven Demokratieverständnisses. Demokratie ist somit prozesshaft. Sie wird im konkreten Handeln der Menschen gelernt. Daher findet Demokratie idealiter auch nicht nur in den gewählten Repräsentationsorganen und im Wahlakt selbst statt, sondern ebenso in der Wohngemeinschaft, am Arbeitsplatz und auf der Straße. Ich nehme im folgenden Birgit Sauers Überlegungen zur Parole ‚das Private ist politisch!‘ zum Anlass, die im vorherigen Teilkapitel geäußerten Mottos ‚das Alltägliche ist politisch!‘ und ‚das Ökonomische ist politisch!‘ – dort als Forderung der ‚Politisierung des Ökonomischen‘ formuliert – auf ihre demokratiepolitischen Implikationen zu befragen. Bezieht sich die erste Devise (‚das Alltägliche ist politisch‘) klar erkennbar auf das Verständnis von Demokratie als Lebensform, lässt sich gleichzeitig auch eine Verschiebung der Perspektive feststellen. Beinhaltet die Bezugnahme auf die gesellschaftliche Trennung zwischen öffentlich und privat noch klarer das Moment der Veröffentlichung, so zielt die Wahrnehmung des Alltäglichen als politisch auf den Aspekt der unbewussten, alltäglichen Herstellung von Herrschaftsverhältnissen. Herrschaft wird demnach nicht nur substantiell verändert, indem Räume geschaffen werden, die die
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herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse thematisieren. Herrschaft manifestiert sich eben auch durch die Art und Weise, wie sich Menschen tagtäglich Verhalten, wie sie ihr Alltagsleben gestalten. Das heißt, das jeweils individuelle Verhalten der Menschen in ihrem Lebensalltag beinhaltet ein Moment von Politik und ist daher demokratietheoretisch interessant. Ganz im Sinne (post-)gramscianischer und poststrukturalistischer Annahmen der notwendigen (Re-)Produktion von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen mittels stillschweigenden Konsens’ (Gramsci) bzw. performativer Wiederholung (Butler) gibt es keinen Moment im Leben eines Menschen, der frei von Machtverhältnissen und deren (Re-)Produktion ist. Gleichsam wird die Frage des menschlichen Miteinander auch im Kleinen, im vermeintlich banalen Alltag zu einer Politischen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Perspektive fordert nicht die (gesellschaftliche) Regulation aller alltäglich-privaten Handlungen der Menschen. Sie bezieht sich vielmehr auf die Annahme, dass sich über Alltagshandeln Gesellschaft verändern lässt, wenn (erstens) die Frage, was politisch ist als eine politische Frage gesehen wird, (zweitens) die damit verbundene Trennung zwischen öffentlich – privat als ein Ergebnis von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verstanden wird und (drittens) davon ausgegangen wird, dass Herrschaft auch über tägliches Handeln hergestellt werden muss. Die zweite Parole, die Forderung der (Re-)Politisierung des Ökonomischen will daran erinnern, dass auch der Bereich der Ökonomie nicht eine klar abgrenzbare Sphäre ist. Ökonomische Fragen sind Fragen, die auf vielfältige Art und Weise in Öffentlichkeiten artikuliert und diskutiert werden. Sie sind politischen Entscheidungen unterworfen und können verändert werden. Selbst die vermeintlichen Gesetzes des Marktes, die Logiken ‚des‘ Kapitalismus sind gesellschaftlich geschaffene Regeln und können verändert werden. Antke Engel arbeitet an dieser Stelle mit dem Bild der Entscheidungen in der Unentscheidbarkeit, die es zu politisieren gilt. Gibson-Graham formulieren diese Perspektive mittels des provokantes Ausspruchs: „economy is what we (discusively and practically) make it“ (Gibson-Graham, 2006b, S. XXII). Das heißt, materielle Fragen sind Fragen, die demokratischen Entscheidungsverfahren unterworfen werden können (und müssen). Dazu zählen Entscheidungen, wie die wirtschaftliche Produktion ablaufen soll ebenso wie Fragen nach dem gesellschaftlichen Konsum. Dass Fragen demokratischer Gesellschaftsorganisation nicht losgelöst von wirtschaftlicher Produk-
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tion zu denken sind, ist keine genuine Erfindung feministischen Denkens.7 Feminist_innen betonen in ihren Arbeiten jedoch immer wieder die Unmöglichkeit, Demokratie zu denken, ohne auch eine materielle Perspektive mit einzubeziehen. So waren beispielsweise Frauen (nicht nur) in der BRD lange Zeit rechtlich nicht gleichgestellt. Diese fehlende Gleichstellung führte zu materieller Abhängigkeit. Auch wenn die rechtlichen Hürden mittlerweile größtenteils beseitigt sind, findet sich nach wie vor eine geschlechtliche Diskriminierung zu Ungunsten weiblich kategorisierter Menschen: Auch im Jahr 2011 bestand ein statistisches Lohngefälle von 23% zwischen Männern und Frauen, das sogenannte bereinigte Lohngefälle liegt bei 8% (Equalpayday, 2012). Eine geschlechtergerechte demokratische Perspektive kann folglich von materiellen Fragen nicht abstrahieren. Ein Ziel der Forderung nach einer Politisierung des Ökonomischen besteht deshalb darin, der weit verbreiteten Haltung, Entscheidungen über ökonomische Fragen WirtschaftsExpert_innen oder Parteivertreter_innen zu überlassen, entgegen zu treten und Perspektiven ökonomischer Selbstermächtigung zu propagieren. Fragen nach dem Wie gesellschaftlicher Produktion sind politische Fragen, die auf unterschiedlichste Art und Weise gestellt und öffentlich diskutiert werden können (und müssen). Einen klaren Ort dafür gibt es nicht, Formen des Alltagshandeln sind dabei ebenso relevant wie die Thematisierung auf der Straße und in Parlamenten.
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Arthur Rosenberg (1962) z.B. stellt im Werk „Demokratie und Sozialismus. Zur Geschichte der letzten 150 Jahre“ die Bedeutung der Frage wirtschaftlicher Organisation als zentrale Frage um Demokratie in den Mittelpunkt seiner historischen Analyse der Entwicklung der neuzeitlichen Demokratien in Europa und den USA. Er beginnt mit der Französischen Revolution 1789 und endet mit einer Zeit-Diagnose im Jahr 1937. 1789 ist demnach nicht zu denken ohne die Forderung nach einer gerechteren Wirtschaftsordnung – 1848 ebenso wenig. Auch in den verfassungsrechtlichen Diskussionen des Grundgesetzes (GG) nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Jahr 1949 lassen sich Fragen nach dem Verhältnis von Demokratie und wirtschaftlicher Produktion finden, um ein weiteres Beispiel zu nennen. So diskutiert der Staatsrechtler Wolfgang Abendroth (1967) die Frage der Wirtschaftsform als eine offene Frage. Demnach ermögliche das GG die Einführung einer sozialistischen Wirtschaftsweise. Das Prinzip einer kapitalistischen Produktionsweise ist aus dieser Perspektive daher nicht in der deutschen Verfassung festgeschrieben.
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Ich möchte an dieser Stelle daher festhalten: Nehmen wir den Slogan ‚das Private ist politisch!‘ ernst und ergänzen wir ihn durch die Mottos ‚das Alltägliche ist politisch!‘ und ‚Politisierung des Ökonomischen‘, dann heißt das für die einzunehmende demokratietheoretische Perspektive folgendes: Demokratie ist etwas Heterogenes, ein sich in ständiger Bewegung befindliches, den Lebensalltag der Menschen betreffendes und dort auch stattfindendes Moment gesellschaftlicher Organisation. Die Frage nach Inklusion beinhaltet dabei nicht nur ein partizipatorisches Moment, sondern auch die Frage nach den herrschenden materiellen Verhältnissen. Diese wiederum sind Ergebnis von Machtkämpfen und -verhältnissen, damit öffentlich politisierbar und demokratischen Entscheidungen unterwerfbar. Einen fest definierten Ort für kollektives politisches Handeln gibt es nicht, stattdessen bietet sich die Metapher des Raumes an. Überall dort, wo Macht- und Herrschaftsverhältnisse angesprochen, kritisiert und bekämpft werden, entstehen Räume, die zu einem mehr an Demokratie beitragen können. Die Vielfalt demokratischer Räume muss sich daher auch in der theoretischen Konzeption von Demokratie wiederfinden. Mit diesem ersten Zwischenfazit wende ich mich in meiner Suchbewegung den Leerstellen demokratietheoretischer Arbeiten zu. Dieser Schritt ist notwendig, um aufzuzeigen, warum ich es für notwendig halte, nicht nur das Wissen über Kapitalismus, sondern auch das allgegenwärtige Verständnis von Demokratie in einer dekonstruktivistischen Geste infrage zu stellen.
4.2 Leerstellen: Warum Demokratie neu denken? Dieses Teilkapitel dient der Klärung, warum es aus meiner Perspektive notwendig ist, Demokratie neu zu denken. Wie ich bereits angedeutet habe, greifen die dominanten Vorstellungen von Demokratie nicht, um widerspenstige Alltagspraxen als demokratische Praxen zu theoretisieren. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, die in der ersten Suchbewegung gefundenen Anhaltspunkte demokratietheoretisch anzureichern. Ich werde deshalb an dieser Stelle festhalten, mit welchen demokratietheoretischen Leerstellen meine zweite Suchbewegung konfrontiert ist. Was sind folglich die demokratietheoretischen Hürden, die es zu überwinden gilt? Für das Demokratieverständnis stellen im Wesentlichen folgende Punkte eine demokratietheoretische Herausforderung dar: • Demokratietheorien konzipieren Demokratie in der Regel im Dreiklang zwischen Staatsvolk/ Demos, Staatsterritorium und (Rechts-)-
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Staatlichkeit. Damit verbunden ist die Wahrnehmung von Demokratie vornehmlich als Staats- und Regierungsform. • Selbst partizipativ-deliberativ orientierte Ansätze lösen sich meist nicht von einer auf Staaten bezogenen Perspektive. Direktdemokratische Verfahren gelten daher gemeinhin als Ergänzung zum repräsentativen System und adressieren die Organe der Repräsentation. • Demokratisches Handeln wird in der Regel auf den Wahlakt und öffentliche Meinungsäußerungen (Demonstrationen, Petitionen, Zeitungsartikel usw.) reduziert. Demokratietheorien fokussieren damit auf die Sphäre des Öffentlichen im Gegensatz zur Sphäre des Privaten und haben Schwierigkeiten, Alltagshandeln demokratietheoretisch zu erfassen. • Die formale (rechtliche) Gleichheit – verankert in der (Staats-)Bürger_innenschaft – nivelliert Differenzen und abstrahiert von wirkmächtigen Herrschafts- und Machtverhältnissen (seien es ökonomischer, kultureller oder sozialer Art). • Demokratietheorien sind nicht zwangsläufig herrschaftskritisch ausgerichtet. Ich werde die Leerstellen anhand zweier Kritiken verdeutlichen: Ausgangspunkt meiner Ausführungen wird Isabell Loreys (2012) Kritik sein, moderne (westliche) Demokratietheorien seien untrennbar mit einer juridischen Perspektive verbunden (Kapitel 4.2.1 ). Diese erste Kritik fasst gut zusammen, warum Demokratie heute von einer auf Staaten bezogenen Perspektive kaum zu lösen ist. Als zweite Kritik möchte in Kapitel 4.2.2 auf Normalisierungstendenzen feministischer Demokratietheorien eingehen. Ich werde mithilfe von Birgit Sauer (2011) aufzeigen, dass eine feministische demokratietheoretische Perspektive nicht unbedingt in der Lage ist, die genannten Schwachstellen in in Angriff zu nehmen. Ich folge Birgit Sauers These, das auch feministisch motivierte Arbeiten Gefahr laufen (können), herrschende (Macht-)Strukturen zu stützen. 4.2.1 Juridischer Demokratiebegriff Das heutige westliche Verständnis von Demokratie ist von den Ideen der Aufklärung und der Vorstellung von der Existenz universeller Menschenrechte geprägt. Als historisch zentrale Momente werden die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 sowie die Er-
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klärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung 1789 genannt. Vor dem Hintergrund der menschenverachtenden Massenverbrechen Nazi-Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges wird die Idee der universell gültigen und unveräußerlichen Menschenrechte in der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 erneut als internationaler Wertekodex postuliert. Die damit verbundene Vorstellung von Freiheit und Gleichheit aller Menschen ist fest mit der westlichen Vorstellung von Demokratie verbunden. Sämtliche Demokratietheorien beziehen sich auf diese Annahmen, auch wenn bereits Olympe de Gouges (1791) in ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ darauf verweist, dass die vermeintliche Gleichheit Aller in den historischen Beispielen mit vielfältigen Ausschlüssen einher ging (und geht). Da die westliche Demokratietradition historisch mit der Entstehung von demokratisch verfassten Nationalstaaten verknüpft ist, ist es nicht verwunderlich, dass (moderne) Demokratietheorien Demokratie gemeinhin als eine Staats- und Regierungsform konzipieren. Gängige Standardwerke politikwissenschaftlicher Demokratietheorien definieren daher Demokratie als „Herrschaft oder Machtausübung des Demos [...] Mit Herrschaft des Volkes ist legitime Herrschaft gemeint [...] Diese zeichnet dreierlei aus. Sie geht vom Volk aus, wird durch den Demos (oder seine von im gewählten Repräsentanten) ausgeübt und dem Anspruch nach zum Nutzen des Staatsvolks eingesetzt.“ (Schmidt, 2006, S. 19) Darüber hinaus wird zwischen verschiedenen Typen von Demokratie unterschieden: parlamentarische und präsidielle Demokratien, Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien, Mehrheits- und Konsensusdemokratien sowie direkte Demokratien. Isabell Loreys (2012) Hauptkritik setzt an diesem Verständnis von Demokratie an: Demokratie wird demnach lediglich juridisch theoretisiert. Das heißt, Demokratie ist eng mit der Vorstellung von Souveränität verknüpft. Der demokratische Grundsatz, die gesetzgebende Macht gehe vom ‚Volk‘ aus, prägt dieses juridische Verständnis von Demokratie. Das heißt, die Selbstgesetzgebung (Souveränität) der Staatsbürger_innen wird im Konzept repräsentativer Demokratie durch die Parlamente als Repräsentationsorgane sichergestellt. Demokratie wird in dieser Lesart in der von Georg Jellinek geprägten Trias zwischen Territorium, Volk/ Demos und Staat gedacht (vgl. Kersten, 2000). Das heißt, Demokratie bleibt in der modernen
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Version, wie sie von den Vertragstheorien geprägt wurde, an ein konkretes Staatsgebiet und eine dazugehörige Bevölkerung gebunden.8 Wenn aber Demokratie aus feministischer Perspektive nicht nur eine Staats- und Regierungsform ist, sondern auch eine Lebensform darstellt, dann braucht es demokratietheoretische Ansätze, die mit dieser juridischen Perspektive brechen. Warum es allerdings nicht genügt, lediglich eine feministische Perspektive einzunehmen, lege ich im nächsten Unterkapitel dar. 4.2.2 Normalisierungstendenzen feministischer Demokratietheorien Birgit Sauer (2011) diagnostiziert in ihrem Rückblick auf feministische Demokratietheorien die Tendenz einer zunehmenden Engführung des feministischen Demokratiebegriffs. Dieses enge Demokratieverständnis führt aus ihrer Perspektive in letzter Konsequenz dazu, bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht mehr grundlegend infrage stellen zu können. Feministische Demokratietheorien nähern sich in dieser Argumentation androzentristischen Theoretisierungen von Demokratie an und ergänzen diese lediglich durch die Addition der Kategorie Geschlecht. Die in den Entwicklungslinien beschriebenen Veränderungen lassen sich auch zur zunehmenden Etablierung feministischer Wissenschaft an den Universitäten in Beziehung setzen. So lässt sich mit der Professionalisierung und Etablierung von Frauen- und Geschlechterforschung, später Gender Studies, eine Trennung zwischen bewegungspolitischen Akteur_innen und Wissenschaftler_innen ausmachen, der mit einem Verlust des gegenseitigen Austauschs und der wechselseitigen Einflussnahme einher ging. In feministischen Debatten wird oftmals für das Verhältnis zwischen Theorieproduktion und aktivistischer Praxis das Bild zweier ungeliebter Schwestern herangezogen (z.B. Jung, 2009, S. 150). Der Anspruch feministischer Wissenschaft auf Vollführung einer „kritische[n] Doppelbewegung“ (Jung, 2009, S. 148) weist auf das spannungsreiche Verhältnis der beiden ungeliebten Schwestern und den Stellenwert feministischer Selbstreflexion hin. Diese Doppelbewegung zielt sowohl „auf eine Transformation der sozialen Realität“ ab als auch „auf eine Transformation wissenschaftlicher Beforschung und Begleitung sozialer Realität“ (Jung, 2009, S. 148).
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Zur feministischen Kritik an den Vertragstheorien siehe Carol Patemann (2000). Patemann hat ihre Kritik Anfang der 1970er Jahre formuliert. Zur Aktualität der Kritik vgl. Wilde (2009).
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Selbst wenn Feminist_innen der These der Normalisierung feministischer Wissenschaft (Holland-Cunz, 2001) nicht folgen wollen, lassen sich Entkoppelungstendenzen zwischen feministisch orientiertem, gesellschaftspolitischen Engagement und professionalisierter, feministischer Forschung ausmachen: Aus Barbara Holland-Cunz’ Perspektive sei es feministischer Wissenschaft nicht gelungen, einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Wissenschaft zu bewirken. Stattdessen ließe sich eine schrittweise Integration feministischer Forschung in die Normalwissenschaft feststellen, die mit einem Verlust herrschaftskritischen Potentials einhergehe. Der Weg feministischer Demokratietheorie in die demokratietheoretische Normalwissenschaft – so ließe sich die These Birgit Sauers (2011) in Barbara HollandCunz’ (2001) Worten formulieren – erklärt daher, warum auch eine feministische Perspektive nicht zwangsläufig widerspenstige Alltagspraxen demokratietheoretisch fassen und erklären kann. Ich werde der Argumentation Birgit Sauers folgend, erstens kurz auf die Entwicklungslinien eingehen und dann (zweitens) die postkoloniale und konstruktivistische Kritik an den normalisierten feministischen Demokratietheorien wiedergeben. Entwicklungslinien feministischer Demokratietheorien Welche feministischen Debatten und Schwerpunktsetzungen lassen sich in der Rückschau auf feministische Theoretisierungen von Demokratie (nach Birgit Sauer) ausmachen? Die Entwicklungstendenzen bewegten sich ausgehend von einer grundlegenden Kritik an modernen Demokratiekonzepten (erstens) über Versuche, eine Demokratisierungen der als starr erlebten demokratischen Institutionen voranzutreiben (zweitens) hin zu Fragen der besseren Repräsentation von Frauen in parlamentarischen Institutionen (drittens): In den 1970er Jahren galt parlamentarische Demokratie als Beispiel patriarchaler Strukturen, die es grundlegend zu verändern galt. „Der Parlamentarismus der repräsentativen Demokratie wird als frauenpolitisches Problem und nicht als demokratische Chance diskutiert“ (Holland-Cunz, 2004, S. 469). Einen zentralen demokratietheoretischer Beitrag leistete Carole Pateman (2000) die die Grundlagen moderner Demokratiekonzepte als androzentristisch entlarvte. Carole Pateman folgend lässt sich zeigen, dass die Vertragstheorien, die das bürgerlich-westlichen Verständnis von Staat und Demokratie auch heute noch maßgeblich prägen, auf einem Geschlechtervertrag basieren, der dem Gesellschaftsvertrag vorgänglich ist. In der Erzählung über die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wird folglich der „brüderliche Pakt“ (Pateman, 2000, S. 20) verschwiegen, der der bür-
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gerlichen Gesellschaft „eine patriarchale und grundlegend maskuline politische Ordnung“ (Pateman, 2000, S. 20) gibt. Dieser Geschlechtervertrag ist auch heute noch „als politische Struktur moderner Staatlichkeit [...] in das Selbstverständnis demokratischer Verfassungsstaaten eingelassen“ (Wilde, 2009, S. 42). Anja Lieb sieht in Patemans Analyse zwei zentrale Momente feministischer Demokratietheorie: „Erstens die Einsicht, dass und wie Geschlecht als Konstruktionsprinzip in die moderne bürgerliche Demokratie und Öffentlichkeit eingeschrieben wurde und in der Folge als Platzanweiser funktioniert. Zweitens die Erkenntnis, dass die qua Gesellschaftsvertrag zustande gekommene Sphäre bürgerlicher Demokratie soziale Ungleichheit und die Verschiedenheit der Menschen nicht überwinden kann“ (Lieb, 2009, S. 266). Im Laufe der 1980er Jahre veränderte sich die Perspektive und es rückte die Demokratisierung bestehender Strukturen in den Fokus. Es lässt sich somit eine Abkehr von unkonventionellen Formen der Partizipation und eine Hinwendung zu konventionellen Formen beobachten. Standen zuerst nicht-verfasste bis kaum institutionalisierte Politiken wie Bürger_inneninitiativen, Demonstrationen etc. im Mittelpunkt, rückten schrittweise alle Formen politischer Beteiligung im formalisierten, verfassten und institutionalisierten Bereich in den Vordergrund (vgl. Holland-Cunz, 2004). Verfechter_innen dieses Ansatzes zielten darauf ab, ein „engendering von liberalen Demokratien und Demokratietheorien“ (Sauer, 2011, S. 126) voranzutreiben. Es galt demnach die politische Geschlechterungleichheit mit den Mitteln und Instrumenten demokratischer Institutionen anzuprangern und zu überwinden. Das Augenmerk der Forschungstätigkeiten lag daher auf Fragen von Input-Orientierung und Partizipation. Mit dieser Schwerpunktsetzung stellte sich die Frage, wie sich die Schwächen repräsentativer Demokratie, konkreter deren „politische Männlichkeit produzierende[r] Mechanismus“ (Sauer, 2011, S. 126) durch gleichstellungspolitische Aktivitäten eindämmen und durch partizipative Formen demokratischer Mitbestimmung ergänzen lassen. Diese an bestehende Institutionen gerichtete Perspektive lässt sich als ein zweites zentrales Anliegen feministischer Demokratietheorien bezeichnen, das Ziel einer „Demokratisierung der Demokratie“ (Lieb, 2009). In den 1990er Jahren erfolgte eine weitere Schwerpunktverschiebung, indem die Suche nach den Ursachen mangelnder Repräsentation von Frauen in den parlamentarischen Institutionen zum dominanten Thema wurde. Fragen der deskriptiven und substanziellen Repräsentation standen daher
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im Mittelpunkt der Arbeiten. Dieses Repräsentationsverständnis geht davon aus, dass es nicht ausreiche, die numerische Anzahl von Frauen in demokratisch gewählten Gremien zu erhöhen (deskriptive Repräsentation), sondern es auch darum gehe, zu fragen, mit welchen Mitteln die Vertretung von Fraueninteressen (substanzielle Repräsentation) gestärkt werden kann (z.B. Celis, 2008). In diesem Sinne wird beispielsweise eine Unterscheidung zwischen einer numerischen Repräsentation und gleichstellungspolitischem Engagement aufgemacht. Als Repräsentant_in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe – beispielsweise Frau – muss diese Person noch lange nicht im Sinne der Gruppe handeln.9 Daher ist es feministisches Ziel, sowohl den Anteil weiblich sozialisierter Personen in den parlamentarischdemokratischen Institutionen als auch die Anzahl an Befürworter_innen feministischer Anliegen zu erhöhen. Die hier aufgezeigten Entwicklungslinien lassen sich auch als zunehmende Fokussierung feministischer Demokratietheorien auf bereits existierende Formen demokratischer Mitbestimmung beschreiben. Diese Fokussierung läuft jedoch Gefahr, lediglich an (erfolgversprechenden) Reformen orientiert zu sein. Sie ist dann schwer in der Lage, grundlegende Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben. Birgit Sauer (2011) schlägt daher zur Wiedergewinnung des herrschaftskritischen Potentials feministischer Demokratietheorien vor, konstruktivistische und postkoloniale Kritiken an Repräsentations- und Demokratietheorien in die politikwissenschaftliche Debatte mit aufzunehmen. Postkoloniale und konstruktivistische Kritiken Die aus postkolonialer und konstruktivistischer Perspektive genannten Hauptkritikpunkte an aktuellen feministischen Demokratietheorien lassen sich Birgit Sauer folgend zwei Argumenten zuordnen:10 Das erste Argument richtet sich gegen die Reduktion des Demokratiegedankens auf Fragen der Repräsentation. Der zweite Kritikstrang richtet sich gegen Identitätsvorstellungen, die in den kritisierten Demokratietheorien mitschwingen. Beide Kritiken sind auch für meine Suche nach einer demokratietheoretischen Perspektive, die widerspenstige Alltagspraxen erfassen kann, von Bedeutung.
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Zur Problematik von Gruppenrepräsentationen vgl. Anne Phillips (1995). Sofern nicht anders angegeben, ist die Sammlung der Kritikpunkte dem Text „‚Only paradoxes to offer?‘ Feministische Demokratie und Repräsentationstheorie in der ‚Postmoderne‘S“ (Sauer, 2011) entnommen.
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Sie erklären, warum ich in meiner Suche nicht einfach an das dominante Verständnis von Demokratie anknüpfen kann. Erstens: Wird Demokratie ausschließlich als politische Repräsentation in Institutionen verstanden, dann geht damit ein einseitiges und unkritisches Repräsentationsverständnis einher. Fragen der Partizipation werden daher vernachlässigt. Darüber hinaus ist diese Fokussierung mit einer Engführung verbunden: Demokratie ausschließlich im Rahmen bestehender politischer Institutionen zu denken, raubt – so eine Anfangsthese meiner Arbeit – dem Begriff der Demokratie ein zentrales Moment seines emanzipatorischen Potentials. Es geht dann aus einer feministischen Perspektive schlichtweg nur noch um die Frage, wie die Integration feministischer Anliegen in parlamentarisch-demokratische Institutionen erfolgen kann. Ein grundlegendes Nachdenken über die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ein Fragen nach deren Überwindung findet dann nicht mehr statt. Eine queerfeministische Perspektive muss – so sie denn ihrem repräsentationskritischen Anspruch gerecht werden will – auf diese Engführung feministischer Demokratietheorien reagieren und ein Demokratieverständnis entwickeln, das repräsentativen Parlamentarismus nicht mit Demokratie gleichsetzt. Zweitens: Mit der Gleichsetzung Demokratie = repräsentative Demokratie geht in der Regel ein mangelnder Subjektbegriff einher. Identitäten werden daher in vielen Demokratietheorien als vorpolitisch und vordiskursiv angenommen. Das heißt, es wird nicht berücksichtigt, dass Identitätsbildungsprozesse bereits in einem Setting von Macht- und Herrschaftsverhältnissen von statten gehen und daher nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu denken sind. Genauso wenig, wie Identitäten losgelöst von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zu denken sind, ist es möglich, Interessen als unabhängige Variable zu begreifen. Interessen sind ebenso von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beeinflusst. Eine solche Kritik am vorherrschenden Identitätsverständnis aktueller feministischer Demokratietheorien ist eng verbunden mit der Infragestellung der Idee, Identität sei eine fixe Größe, die lediglich repräsentiert werden müsse. In dieser Lesart kommt Identität dann nicht ohne die Konstruktion eines ‚Anderen‘ aus und bleibt damit in der ausschließenden Konstruktion eines Innen und Außen verhaftet (vgl. Sauer, 2011, S. 131). Einem solchen Identitätsverständnis immanent ist ein Verständnis von Repräsentation, das als „eine exklusive, eine ausschließende Praxis“ (Sauer, 2011, S. 131) wirkmächtig ist. Repräsentation ist dann nicht nur exklusiv, sondern beinhaltet auch ein entmündigendes Moment: Das Problem des repräsentativen Sprechens und Handelns für andere.
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„Demokratisch-repräsentative Verfahren übertragen somit stets herrschenden Gruppen Macht und marginalisieren zugleich stimmlose Gruppen. Repräsentation in liberalen Demokratien wird also als eine herrschaftliche Praxis entlarvt“ (Sauer, 2011, S. 132). Beispielsweise werden Migrant_innen – solange sie nicht ihre Staatsbürger_innenschaft wechseln (können) – aus dem „fiktiven Volk“ (Sauer, 2011, S. 131) ausgeschlossen und können daher an der parlamentarisch-demokratischen Form der Organisation des gesellschaftlichen Lebens nicht teilnehmen.11 Ihnen wird somit ein zentraler Ort demokratischer Entscheidungsfindung vorenthalten. Immer dann, wenn spezifische Belange von Migrant_innen in den Parlamenten diskutiert und entschieden werden, haben die von der Regelung Betroffenen kein aktives Mitwirkungsrecht. Sie können – sofern dies gewollt ist – in die Beratungen mit einbezogen werden, indem beispielsweise Migrant_innenorganisationen zur Thematik befragt werden. Die hier angerissenen Schwächen feministischer Demokratietheorien, die sich an einem repräsentativen Modell orientieren, verdeutlichen mein Anliegen, Demokratie neu zu denken. Werden – um im Beispiel des Ausschlusses von Menschen mit Migrationshintergrund zu bleiben – bestimmte (Bevölkerungs-)Gruppen nur marginal im System parlamentarischer Demokratie gehört, so muss sich eine herrschaftskritisch orientierte Demokratietheorie von der Fixierung an einer parlamentarischen Perspektive lösen. Wie aus den hier nur schlaglichtartig angerissenen Kritiken deutlich geworden sein sollte, ist eine feministisch orientierte Demokratieperspektive, wie sie vielfach in politikwissenschaftlichen Demokratietheorien Anwendung findet, nicht unbedingt in Einklang zu bringen mit den Hinweisen auf ein Verständnis von Demokratie, wie es in den vorgestellten queerfeministischen Auseinandersetzungen mit Kapitalismus mitschwingt. Insbesondere die Erkenntnis, dass eine emanzipatorisch motivierte Theoretisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht davor gefeit ist, den herrschaftskritischen Anspruch zu verlieren, möchte ich an dieser Stelle nochmals hervorheben. Eine wesentliche Herausforderung für dieses Kapitel stellt folglich die Frage dar, wie sich Demokratie neu denken lässt. Wie lässt sich demnach
11
Auf kommunaler Ebene gilt in Deutschland eine Ausnahme für EU Bürger_innen: Sie dürfen an den kommunalen Wahlen teilnehmen. Auf Landesoder Bundesebene gilt auch für Menschen aus anderen EU Ländern der Ausschluss aus dem fiktiven ‚Volk‘ der Deutschen.
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Demokratie so theoretisieren, dass sie eine kapitalismuskritische Perspektive integriert? Und wie lässt sich der Blickwinkel erweitern, so dass widerspenstige Alltagspraxen als demokratische Praxen theoretisiert werden?
4.3 Anknüpfungspunkte: Wie lässt sich Demokratie neu konzipieren? Im Folgenden will ich deshalb fragen, wie ein queer-feministisches Verständnis von Demokratie aussehen könnte, das sich mit der Suche nach alternativem Wissen über Kapitalismus und kreativen Umgangsweisen mit kapitalistischen Verhältnissen verbinden lässt. Als Grundlage für meine Überlegungen will ich auf Analyse von Barbara Holland-Cunz (1998; 1999) zurückgreifen (Kapitel 4.3.1 ). Sie stellte Ende der 1990er Jahre eine Synthese feministischer Vorstellungen von Demokratie in Thesenform zur Diskussion. Forschungsgrundlage war die Analyse feministischer Debattenbeiträge zu demokratietheoretischen Fragen. Holland-Cunz arbeitete in ihren Thesen sieben Punkte heraus, die feministische Demokratietheorien – trotz ihrer Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit – kennzeichnen. Ich (re-)interpretiere Holland-Cunz’ Thesen aus queer-feministischer Perspektive. Isabell Loreys (2011; 2012) Vorschlag, Alltagspraxen – bei ihr handelt es sich um den Organisationsalltag in Protestcamps der sogenannten neuen Besetzungsbewegungen – als Formen präsentistischer Demokratie zu konzipieren, hilft mir, den Fokus auf Alltagshandeln zu richten. Daher werde ich im zweiten Teil des Kapitels (Kapitel 4.3.2 ) nach Anknüpfungspunkten im Konzept präsentistischer Demokratie suchen. Die Handlungspraxen präsentistischer Demokratie sind von libertären Perspektiven und Entscheidungsmodi beeinflusst. Im dritten Teil des Unterkapitels (4.3.3 ) werde ich daher der Frage nachgehen, inwieweit es lohnt, die politischen Ideen des Anarchismus als radikale Demokratietheorie (Burnicki, 2003, 2005) zu lesen. Mit dem Rekurs auf anarchistische Theoretisierungen möchte ich veranschaulichen, wie sich Demokratie als Lebensform, d.h. als Handlungsrahmen im Alltag von Menschen niederschlägt. Mein Ziel ist es, mit diesem Vorgehen nicht nur theoretisch zu klären, dass Alltagshandeln sowohl für eine kapitalismuskritische als auch für eine demokratietheoretische Perspektive von Relevanz ist, sondern auch das Handeln selbst zu thematisieren. Ich bemühe mich
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daher, die theoretische Blackbox Alltagshandeln zu öffnen und mit Leben zu füllen.12 4.3.1 Sieben Thesen feministischer Demokratietheorien Barbara Holland-Cunz’ (1998; 1999) Suche nach gemeinsamen Grundannahmen feministischer Demokratietheorien hat wenig Aufmerksamkeit erfahren. Ihr Diskussionsbeitrag fiel in eine Zeit, in der inner-feministisch eine große Debatte über den Gegenstand feministischer Forschung geführt und danach gefragt wurde, was das Subjekt ‚Frau‘ sei. Eine wichtige Symbolfigur für die Kontroversen dieser Zeit ist Judith Butler, die mit ihrem Werk „Gender Trouble“ – in deutscher Übersetzung: „Das Unbehagen der Geschlechter“ (Butler, 1991) – einen grundlegenden Wechsel der feministischen Perspektive provozierte und mit dieser Verschiebung feministische Forscher_innen verunsicherte.13 Abgrenzung, die Betonung von Differenz(en) und weniger die Suche nach Gemeinsamkeiten standen daher im Mittelpunkt der feministischen Debatten. Eventuell ist es auch diesen Debatten geschuldet, dass Holland-Cunz’ Beitrag keine große Aufmerksamkeit fand. Für mein Forschungsinteresse sind ihre Thesen wertvoll, da Barbara Holland-Cunz einen feministischen Demokratiebegriff extrahiert, der nicht juridisch verengt ist und kaum Gefahr läuft, Normalisierungstendenzen zu unterstützen. Ihre Perspektive ist von einem positiven Bezug auf feministische Utopien geprägt, den sie in ihr Demokratieverständnis integriert. Wie sie beispielsweise in einem Artikel aus dem Jahr 2006 hervorhebt, begreift Holland-Cunz feministische Utopien über gesellschaftliches Zusammenleben als notwendiges Korrektiv für eine akademische Auseinandersetzung mit Demokratietheorien, da diese im Begriff sei, phantasielos repräsentative Formen liberaler Demokratiekonzepte um eine Geschlechterperspektive anzureichern, ohne eine grundlegende Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick zu behalten (vgl. Holland-Cunz, 2006). In diesem Sinne
12
Vgl. hierzu auch die Kritik an einer gramscianisch orientierter Hegemonietheorie, die die Besonderheit von Alltagshandeln zur Reproduktion von Hegemonie hervorhebt und gleichzeitig das Alltagshandeln in den Ausführungen außen vor lässt (Kapitel 3.2 ).
13
Eine bekannte Dokumentation der Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum ist unter dem Titel „der Streit um Differenz“ (Benhabib et al., 1993) veröffentlicht.
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möchte ich Barbara Holland-Cunz’ Suche würdigen und ihre Thesen zur Diskussion stellen. Sie bieten Anhaltspunkte, wie Demokratie theoretisiert werden muss, um widerspenstige Alltagspraxen in den Fokus einer demokratietheoretischen Betrachtung zu rücken. Darüber hinaus halte ich die Thesen für anschlussfähig an eine explizit queer-feministische Perspektive. Im Folgenden werde ich deshalb die Thesen kurz vorstellen, nach Anschlussstellen suchen und – wo nötig – neue Lesarten vorschlagen. Thesen einer feministisch fundierten Demokratietheorie Die Gemeinsamkeiten feministischer Demokratietheorien lassen sich nach Barbara Holland-Cunz (1998; 1999) mit den Schlagworten herrschaftskritisch, normativ, diskursiv, bindungsorientiert, partizipatorisch, direkt- und radikaldemokratisch beschreiben: Eine herrschaftskritische Perspektive auf Demokratie sucht grundsätzlich nach Macht- und Herrschaftsmechanismen, das heißt nach Exklusionsmechanismen, die innerhalb des demokratischen Gemeinwesens und als Abgrenzung nach Außen wirken. Ein Ziel ist es, diese Herrschaftsverhältnisse aufzudecken und abzubauen. Zudem verfolgt eine herrschaftskritische Perspektive den Anspruch, sensibel auf potentielle Normalisierungstendenzen zu reagieren. Feministische Demokratietheorien argumentieren in einem herrschaftskritischen Sinne offen normativ. Die „Artikulation befreiungstheoretischer Zielsetzungen“ (Holland-Cunz, 1999, S. 226) ist deshalb für Feminist_innen kein Tabu. An der grundsätzlichen Bejahung normativer Zielsetzungen lassen sich die bewegungspolitischen Wurzeln feministischer Forschung aufzeigen. Feministische Interventionen in der Wissenschaft sind in dieser Lesart von den Visionen emanzipatorischer (Frauen-)Befreiungsbewegungen geprägt und artikulieren eine politische Parteinahme. Feministische Wissenschaftler_innen bekennen sich daher nicht nur zu ihren normativen Beweggründen, sondern stellen in ihren Arbeiten die Möglichkeit objektiver und neutraler Forschung per se infrage. Mit einer sollen herrschaftskritischen und normativen Perspektive einher geht nach Holland-Cunz’ Analyse meist ein radikaldemokratischer Impuls. Feministisches Engagement bezieht sich auf vielfältige Art und Weise auf Visionen einer anderen gesellschaftlichen Organisation des menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens: Die Reklamation der Notwenigkeit umfassender Gesellschaftstransformationen „umfasst[e] die Beseitigung patriarchaler Herrschaft in allen Lebensbereichen sowie die Etablierung neuer Arbeits-, Lebens- und Politikformen“ (Sauer, 2001b, S. 170). Diese Visionen sind vom Anspruch des Einschlusses aller ‚Anderen‘ geprägt. Die Inklusi-
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on aller Menschen in die Prozesse demokratischer Entscheidungsfindung wird daher aus einer radikaldemokratischen Perspektive forciert. Die Inklusionsforderung beinhaltet auch das kollektive Nachdenken über Fragen, wie gesellschaftliches Zusammenleben zu gestalten sei. Gleichzeitig sollen Differenzen zwischen den Menschen anerkannt werden: Das „Differentsein der BürgerInnen“ (Holland-Cunz, 1999, S. 225) wird daher getragen von der Idee einer radikal pluralisierten Bürger_innenschaft. Die Forderung nach einem inklusiven Demokratieverständnis ist folglich nicht gleichzusetzen mit der Idee homogener Angleichung. Vielfalt und Differenz(en) sollen bei konkreten Bemühungen um Inklusion nicht unsichtbar gemacht werden, sie sind stattdessen als wesentliches Moment gesellschaftlicher Teilhabe zu konzipieren. Der formulierte Anspruch der Sensibilität gegenüber Ausschlussmechanismen erfordert auch ein reflexives Moment, Barbara Holland-Cunz sieht darin ein diskursives Element feministischer Demokratievorstellungen: „Diskursive Demokratie denkt immer auch über die Bedingungen ihres Sprechens und Entscheidens nach“ (Holland-Cunz, 1999, S. 221). Das von Barbara Holland-Cunz verwendete Diskursverständnis grenzt sich von einer an Habermas orientierten Vorstellung ab, wonach es Menschen potentiell gelänge, in der Öffentlichkeit als Freie und Gleiche zu partizipieren, indem idealiter ein herrschaftsfreier Dialog geführt würde (vgl. z.B. Habermas, 1992). Sozial-ökonomische Unterschiede zwischen den Menschen und damit verbundene Macht- und Herrschaftsverhältnisse lassen sich demnach nicht vor Eintritt in die Sphäre des Öffentlichen ablegen, so dass im Prozess der Deliberation das bessere Argument, die rationale Vernunft siegt. Die diskursive Komponente feministischer Demokratietheorien bezieht sich vielmehr auf konkrete Erfahrungen feministischer Bewegungen, die in der Face-to-Face-Kommunikation ein zentrales Moment von Partizipation sehen. Nur wenn Menschen untereinander kommunizieren, kann ein von Friederike Habermann forciertes Lernen am ‚Anderen‘ erfolgen. Erst wenn es Orte gibt, an denen die verschiedenen Bedürfnisse zur Sprache kommen können, kann Gemeinschaft entstehen, die nicht auf gleichmachender und Herrschaftsverhältnisse negierender Gemeinsamkeit basiert. Das heißt, das im Diskurs enthaltene reflexive Moment bezieht sich auch auf die Vorstellung von Gemeinschaft. Gemeinschaft wird nicht als statisches Gebilde angenommen, sondern als im ständigen Prozess befindliches verstanden. Es gibt folglich keine a priori klar abgrenzbare Gemeinschaft. Die Unabgeschlossenheit und der Prozesscharakter von Gemeinschaft stehen daher im Mittelpunkt jeglicher Gemeinschaftsstiftung. Die Suche nach Gemeinschaft-
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ohne-Gemeinsamkeiten nach J.K. Gibson-Graham und Antke Engel beinhaltet ein solches diskursives Element. An diese Vorstellung von Gemeinschaft gekoppelt ist bei Holland-Cunz das Charakteristikum der Bindungsorientierung 14 . Das Merkmal der Bindungsorientierung meint, dass demokratische Gemeinwesen nicht ohne Integrationskräfte auskommen können. Mit anderen Worten: Jede kollektive Form des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Organisation braucht nach Holland-Cunz ein gewisses Maß an Zugehörigkeitsgefühl (d.h. Bindungsorientierung). Dieses Gefühl der Zugehörigkeit entsteht immer wieder neu im Prozess der Bindungsstiftung. Bindungsstiftung wird von Barbara Holland-Cunz als „dauernde[s] offene[s] Gespräch der engagierten BürgerInnenschaft mit sich selbst“ (Holland-Cunz, 1999, S. 224) verstanden. Feminist_innen betonen dabei, dass Differenzen innerhalb der Gemeinschaft zur Bindungsstiftung weder eingeebnet noch hierarchisiert werden sollen. Einem solchen inklusiven Verständnis von Demokratie wohnt darüber hinaus eine partizipatorisch und direktdemokratische Vorstellung demokratischer Entscheidungen inne: Das Charakteristikum direkter Entscheidungsbeteiligung betont eine bottom-up Perspektive. Jede_r sollte in die Lage versetzt werden, über die eigenen Belange mit zu entscheiden. An die radikal plurale Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft geknüpft ist die Chance, an den politischen Entscheidungen teilzunehmen. Die Initiative zur Schaffung verbindlicher Regelungen geht aus einer bottom-up Perspektive in der Regel von den Betroffenen selbst aus und wird nicht von Dritten forciert. Formen der politischen Repräsentation werden daher mit Skepsis betrachtet, auch wenn es durchaus feministische Stimmen gibt, die – trotz der Schwächen repräsentativer Systeme – für eine feministisch geprägte Variante von Repräsentationsmodellen plädieren.15
14
Barbara Holland-Cunz leitet dieses Merkmal aus den Erfahrungen weiblicher Lebenszusammenhänge ab. Frauen erfahren sich aus dieser Sichtweise als existenziell gebundene Lebewesen, wobei der Prozess der Bindungsstiftung nie abgeschlossen werden kann. Holland-Cunz hebt hier die Fähigkeit zu gebären und die oftmals Frauen zugesprochenen Aufgaben der (familiären) Pflege und Fürsorgetätigkeit in den Fokus ihrer Überlegungen. Dieses Argument ist aus einer queer-feministischen Perspektive zu kritisieren, da eine biologistische Festschreibung dessen, was ‚Frau‘ ist, vorgenommen wird. Vgl. Diskussion im weiteren Verlauf des Kapitels.
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Ein prominentes Beispiel ist Anne Phillips (1995) Vorschlag der Gruppenrepräsentation. Sie betont den Wert direkter Entscheidungsfindung und sieht
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Eng verknüpft mit der Vorstellung direkter Demokratie ist ein partizipatorisches Moment. Demokratie beschränkt sich dabei nicht nur auf bestimmte Orte und/oder Lebensbereiche, sondern Demokratie wird als Lebensform gefasst. Die Demokratisierung aller Lebensbereiche und damit die sukzessive Aufhebung der Trennung zwischen privat und öffentlich ist erklärtes Ziel feministischer Demokratietheorien. In dieser (fiktiven) Trennung zwischen privat und öffentlich wird ein zentraler Herrschaftsmodus ausgemacht, der für das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis konstitutiv ist.16 Queer-feministische Lesarten Welche der vorgeschlagenen Thesen bedürfen einer neuen Lesart und/oder Ergänzung, wenn sie für eine queer-feministische Interpretation offen sein sollen? Was heißt es folglich, den Anspruch queerer Theoriebildung in die demokratietheoretische Überlegungen zu integrieren, so dass nicht nur Geschlecht, sondern auch Sexualität als ein gesellschaftlich relevantes Herrschaftsverhältnis begriffen wird? Was verändert sich in der demokratietheoretischen Konzeption, wenn die gesellschaftlichen Normsetzungen im Fokus der Betrachtungen stehen und weniger marginalisierte Gruppen? Zuerst möchte ich meine queer-feministisch geprägte Lesart des Charakteristikums der Bindungsorientierung diskutieren. Ich halte diesen Aspekt für einen strittigen Punkt, da Barbara Holland-Cunz’ Argumentation auf der Erfahrung genuin weiblicher Lebenszusammenhänge beruht. Diese Bezugnahme impliziert ein Wissen darüber, was ‚Frau‘/‚weiblich‘ im Wesenskern bedeutet. Wie lässt sich folglich die Forderung nach einer Bindungsorientierung lesen, so dass sie ohne Bezug auf Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Norm auskommt und menschliche Reproduktion nicht in den Mittelpunkt demokratietheoretischer Überlegungen stellt? Ich schlage vor „das feministisch-anthropologische Bild des Menschen als existenziell gebundenem Lebewesen“ (Holland-Cunz, 1999, S. 223) in
in der Gruppenrepräsentation ein reformatorisches Mittel, das auf gegebene Machtstrukturen reagiert. Ihre Utopie ist es, dass Gruppenrepräsentationen obsolet werden. 16
Zur Fiktion der Trennung zwischen privat/öffentlich gibt es eine breite feministische Auseinandersetzung. Demokratietheoretisch brilliant ist Carole Patemans (2000) Beitrag zum Gesellschaftsvertrag, der ein Brüderlicher ist und dem ein Geschlechtervertrag voraus geht. Zur Aktualität des Geschlechtervertrages vgl. z.B. Gabriele Wilde (2009).
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der Art zu verstehen, dass die Existenz von Individuen nicht losgelöst von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu denken ist.17 Das heißt, jede menschliche Identität, jede individuelle Selbst-Wahrnehmung, ist geprägt von gesellschaftlichen Verhältnissen. Es gibt demnach keine autonomen Subjekte, keinen letzten Wesenskern, der Mensch-sein ausmacht und der nicht bereits von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen durchzogen ist. Ein bindungsorientierter Demokratiebegriff abstrahiert daher nicht von den Verhältnissen, in denen die Menschen leben (und zwar auf sozialer, materieller, kultureller Ebene usw.). Zusätzlich verweist der Aspekt der Bindungsorientierung darauf, dass Menschen soziale Wesen sind. Sie stehen in Beziehung zu anderen Menschen und den Strukturen, die sie umgeben. Die Frage nach Demokratie lässt sich folglich auch nicht losgelöst von den (historisch gewachsenen) konkreten Lebensumständen der Menschen theoretisieren. Ein solches feministisch-anthropologisches Menschenbild hebt sich vom – auch im Alltagsverständnis präsenten – Bild des Menschen als homo oeconomicus ab. Die demokratietheoretisch spannende Frage kreist dann nicht um Modelle, die erklären sollen, warum Menschen trotz ihrer Ausrichtung am Eigennutz vernünftigerweise demokratische Formen der Gesellschaftsorganisation vorziehen (sollen). Stattdessen steht die Auseinandersetzung mit Prozessen der Gemeinschaftsstiftung und Entscheidungsfindung im Fokus, die die Verwicklung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse mit bedenkt und selbstreflexiv konkrete gesellschaftliche Veränderungen in die Emanzipationsbestrebungen integriert. Die Suche nach ‚Gemeinschaften-ohneGemeinsamkeiten‘ und Formen der Entscheidung angesichts einer potentiellen Unentscheidbarkeit rücken dann beispielsweise in den Vordergrund demokratietheoretischer Überlegungen. Mit einem solchen Verständnis von Bindungsorientierung würde auch die Frage nach Zugehörigkeit – zum Beispiel die Frage danach, wie eine Person zur Staatsbürger_in wird – neu zu diskutieren sein. Innerhalb queer-feministischer Debatten lassen sich Auseinandersetzungen zum Thema (Staats-)Bürger_innenschaft in Debatten zur Konzeption von ‚sexual citizenship‘ finden (vgl. z.B. Berger et al., 2000; quaestio, 2000). Citizenship verhandelt grundsätzlich die Fragen, „wie eine Gesellschaft gesellschaftliche Teilhabe, soziale Mitgliedschaft und politische Partizipation organisiert“ (quaestio, 2000, S. 17). Sexual citizenship erweitert diese Fragen um
17
Eventuell lässt sich der Begriff der Bindungsorientierung mit dem Begriff der „Gefährdetheit des Lebens“ (Butler, 2005, S. 165) verknüpfen.
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eine sexualpolitische Komponente, indem zusätzlich gefragt wird, „inwieweit demokratische (Rechts-)Strukturen heteronormativ verfasst sind und umgekehrt durch Heteronormativität reguliert werden“ (quaestio, 2000, S. 17). Eine am Konzept von sexual citizenship orientierte Lesart des Charakteristikums der Bindungsorientierung lenkt folglich den Blick weg von den Individuen und den marginalisierten Gruppen sowie den Anstrengungen, diese in die bestehenden (demokratischen) Strukturen zu integrieren. Stattdessen steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen ändern müssten, um gesellschaftliche Teilhabe, soziale Mitgliedschaft und politische Partizipation für alle zu gewährleisten. Diese Fokussierung wird dem queeren Ansatz gerecht, der Prozesse der Normenbildung – und gesellschaftliche Normen an sich – in den Mittelpunkt der Analyse stellt und eine Politisierung jener gesellschaftlichen Praktiken und Kontexte voranzutreiben versucht, die (politische) Identitäten herstellen (vgl. quaestio, 2000, S. 14). Konkret heißt das, die heterosexuelle Verfasstheit gesellschaftlicher Strukturen zu thematisieren und nicht nur um die Anerkennung von Identitäten zu kämpfen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen. Wenn es ein Anliegen queer-feministischer Forschungstätigkeiten ist, den Blick auf die Normen zu werfen und diese in ihren Herrschaftsstrukturen zur Disposition zu stellen, dann verändert sich eventuell auch die Schwerpunktsetzung der explizit normativen Ausrichtung feministischer Demokratietheorien. So ist der argumentative Spagat zu bewältigen, auf der einen Seite Normen als Herrschaftsinstrumente zu entlarven und gleichzeitig einen normativen Standpunkt einzunehmen, der in den Herrschaftsmechanismen ein strukturelles Problem erkennt und diese abbauen möchte. Um im Beispiel der Konzeption von sexual citizenship zu bleiben, bietet dieses Konzept Deutungen, wie strukturelle Verhältnisse Identitäten erst hervorbringen. Gleichzeitig ist es normatives Ziel, diese Verhältnisse so zu verändern, dass sie weniger exklusive Wirkung entfalten. Eine queer-feministisch geprägte Demokratiekonzeption steht so gesehen vor der Herausforderung, ihre eigenen Zielsetzungen und Normen immer wieder infrage zu stellen. Ein Wissen über die zu erwartenden Effekte von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kann es demnach nicht geben. Jedes ‚Wie weiter?‘ ist daher nicht losgelöst von den gegebenen Umständen zu denken. Ob politische Kämpfe emanzipatorische Impulse hervorbringen, ist aus queer-feministischer Perspektive immer erst im Nachhinein zu bewerten. Ich möchte an dieser Stelle innehalten und kurz zusammenfassen, was ich für das Demokratieverständnis meiner Arbeit aus den bisherigen Überlegun-
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gen mitnehme: Ein Anliegen ist es, aufzuzeigen, dass feministische Demokratietheorien Demokratie als ein dynamisches Konzept begreifen, das das Versprechen beinhaltet, gesellschaftliches Zusammenleben radikal zu verändern. Die Vision einer befreiten Gesellschaft steht dabei am Horizont der Emanzipationsbestrebungen. Diese Vision ist gepaart mit dem Wissen, dass es einen statischen ‚Endpunkt‘ emanzipatorischer Entwicklung nicht geben wird. Die Suche nach Wegen zunehmender demokratischer Selbstbestimmung stellt daher ein wesentliches Moment dar, da das Ziel selbstbestimmten Lebens im Laufe der Zeit immer wieder Veränderungen unterworfen und von den konkreten Herrschaftsverhältnissen abhängig ist. Barbara Holland-Cunz’ These, feministische Demokratietheorie zeichne sich durch einen herrschaftskritischen Impetus aus, der selbstreflexiv die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit in die Vorstellung von Demokratie aufnimmt, bleibt auch aus einer explizit queeren Perspektive relevant, ebenso die Konzeption des visionären Charakters von Demokratie als ihr wesentliches Merkmal. Ein queer-feministisches Verständnis von Demokratie fokussiert daher auf demokratische Handlungspraxen und verabschiedet sich von der Modellierung statischer Demokratiemodelle, da diese dem Prozesscharakter von Demokratie nur schwer gerecht werden. Feministische Demokratietheorien nehmen folglich Unsicherheiten in Kauf, was Demokratie genau ist. Genauso wie das feministische Subjekt, die Kategorie ‚Frau‘, an Klarheit verloren hat, so fordert eine queer-feministische Perspektive in meiner Lesart dazu auf, unter Demokratie in erster Linie das Moment des Versprechens der Möglichkeit einer herrschaftsfreien, zumindest aber herrschaftsärmeren Welt zu verstehen und nach Verfahren zu suchen, die aus einer heutigen Perspektive einem herrschaftskritischen, partizipativ-inklusiven Verständnis von Demokratie zuträglich sind. Die Frage, wie ein solches prozessbezogenes Demokratieverständnis in den Demokratiebegriff konzeptionell eingearbeitet werden kann, bleibt in der queer-feministischen Literatur oft unbeantwortet. Daher widme ich mich in den folgenden Teilkapiteln der Frage nach demokratischen Praxen im Alltagshandeln. Das Modell präsentistischer Demokratietheorie bewegt sich explizit im Rahmen feministischer Debatten (Kapitel 4.3.2 ), die Konzeptionierung von anarchistischen Ideen als Demokratietheorie (Kapitel 4.3.3 ) verbindet libertäres Gedankengut mit queer-theoretischen Ansätzen.18
18
Die potentielle Nähe zu libertären Gedanken wird wenig diskutiert. Lena Eckert (2009) beispielsweise zieht Parallelen zwischen anarchistischen und queeren Politiken.
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4.3.2 Präsentistische Demokratie Ich werde daher den Vorschlag von Isabell Lorey aufnehmen, präsentistische Formen demokratischer Praxis in das Demokratieverständnis zu integrieren. Dieser in die Zukunft gerichtete Blick bietet meines Erachtens Anknüpfungspunkte, wie Demokratietheorie so zu irritieren ist, dass es möglich wird, die Verweise auf Demokratie in den queer-feministischen Kapitalismuskritiken aufzugreifen und zum Demokratiebegriff dieser Arbeit zu verdichten. Isabell Loreys (2011; 2012) demokratietheoretische Überlegungen basieren auf ihrer Auseinandersetzung mit den aktuellen Besetzungsbewegungen, insbesondere der spanischen 15M Bewegung und der US-amerikanischen Occupy Bewegung. Sie stellt fest, dass diese Bewegungen ein bisher unbekanntes Phänomen politischer Protestmobilisierung sichtbar machen. Gemeinsam ist den Besetzungen, dass sie keine konkreten Forderungen an ‚die Politik‘ stellen. Damit verbunden ist eine klare Absage an alle politischen Parteien; der Vorwurf, die Parteien würden sie nicht repräsentieren, gilt ausnahmslos allen Akteuren politischer Repräsentation. Zuletzt weigern sich die Bewegungen, eigene Sprecher_innen zu stellen, sei es auch nur auf Zeit und/oder als Delegierte. In Loreys Worten: „They do not fit in the hegemonic parameters of what is considered politics, struggles and political agency“ (Lorey, 2011, S. 1). Auf den ersten Blick lassen sich die genannten Besonderheiten Isabell Lorey folgend auf den bekannten Gegensatz zwischen Formen repräsentativer Demokratie und von Graswurzelbewegungen gelebten Formen direkter Demokratie zurückführen.19 Allerdings beziehen sich die von Isabell Lorey untersuchten Bewegungen positiv auf den Demokratiebegriff. Sie fordern und leben beispielsweise „¡Democracia Real YA! “ – reale Demokratie jetzt. Diese Form der Demokratie – Lorey nennt sie „non-representationist, presentist democracy“ (Lorey, 2011) – findet im Hier und Jetzt statt, in der Organisation des Alltags in den Camps und auf den besetzten Plätzen. Wie konzipiert Isabell Lorey daher das Modell präsentistischer Demokratie, welche demokratietheoretische Kritik am vorherrschenden Verständnis von Demokratie ist damit verbunden? Und wie helfen ihre Überlegungen weiter,
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Zu diesen Besonderheiten zählen beispielsweise die Ablehnung von Repräsentationsorganen des demokratischen Systems; die Weigerung, durch Sprecher_innen und/oder intellektuellen Fürsprecher_innen die Bewegung zu repräsentieren; die Ablehnung der Schaffung eines identitären kollektiven Subjekts usw.
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Demokratie so zu denken, dass ich damit die in den untersuchten Kapitalismuskritiken gefundenen Verweise auf Demokratie theoretisieren kann? Wie bereits dargelegt, besteht Isabell Loreys Hauptkritik an einem westlichen Demokratieverständnis darin, Demokratie lediglich juridisch zu begreifen. Aus dieser Perspektive ist Demokratie ausschließlich eine Staatsund Herrschaftsform und keine Lebens- und Gesellschaftsform, wie es feministische Demokratietheorien immer wieder hervorheben (vgl. Lieb, 2009, S. 261). Isabell Lorey folgt der feministischen Sichtweise und weist darauf hin, dass es notwendig ist, diese enge Perspektive zu überwinden: „Das Praktizieren der Demokratie schießt stets über die juridische Logik hinaus und entgeht ihr, denn es ist in dieser Logik nicht möglich, den demos unbestimmt, kontingent und beliebig zu lassen [...] Den demos kontingent und unbestimmt zu lassen, würde die gesamte Idee der Volkssouveränität ins Wanken bringen“ (Lorey, 2012, S. 28f.). Im Modell präsentistischer Demokratie fokussiert Lorey auf die Aspekte von Demokratie, die mit der juridischen Brille nicht gefasst werden können. Sie bezeichnet sie als Praktizieren von Demokratie. Beispielhaft für das Praktizieren steht die Organisation des Alltags, des sozialen Miteinanders, wie es auf den besetzen Plätzen entsteht. Um die machtvollen Exklusionsmechanismen zu umgehen, die in der Jellinek’schen Triade angelegt sind, muss der Demos genauso unbestimmt bleiben wie das Ausschlusskriterium Territorium. Die Frage, welche Wege möglich wären, die Prozesse zu institutionalisieren, die an den Orten präsentistischer Demokratie ihren Anfang finden, beantwortet Isabell Lorey bewusst nicht. Aus Loreys Perspektive ist es aktuell notwendig, nicht „aus den alten, vermeintlich bewährten Denk- und Aktionsmustern den Aufbau einer traditionellen Form konstituierter Macht zu forcieren“ (Lorey, 2012, S. 48). Stattdessen bestünde die Kunst darin, „diesen Prozess der radikalen Veränderung von Demokratie mitsamt ihren bisherigen ökonomischen Grundlagen am Laufen zu halten“ (Lorey, 2012, S. 49). Das Modell präsentistischer Demokratie hebt folglich den Aspekt hervor, Demokratie als Lebens- und Gesellschaftsform zu verstehen. Daher kann sie auch ohne Sprecher_innen, ohne die Schaffung eines kollektiven Subjekts, ohne Forderungen an ‚die Politik‘ auskommen und irritiert damit nachhaltig das hegemoniale Verständnis von Politik, Kämpfen und politischer Vertretung.
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Präsentistische Demokratie verfolgt anstelle von klassischen Formen der Repräsentation ein radikales Verständnis von Inklusion: Jede_r kann demnach Teil des Prozesses werden. „The other, new form of democracy that is practised in the moment of the assembly in actively becoming presentist is not a non-political form of living. It is a mode of the political subjectivation of all who want to participate in it. It is not concerned with the unavoidable exclusions through representation, but operates radically inclusively. “ (Lorey, 2011, S. 4) Das Ziel radikaler Inklusion versucht jedoch nicht, eine kollektive Identität zu schaffen. Isabell Lorey verwendet die Bezeichnungen der „heterogenen Singularitäten“ (Lorey, 2012, S. 34) und der „inkludierende[n] Heterogenität“ (Lorey, 2012, S. 40), um zu verdeutlichen, dass diese radikale Inklusion nicht mit homogenisierenden Effekten einhergeht. Allerdings ist diese Mannigfaltigkeit der heterogenen Singularitäten nichts, was lediglich proklamiert werden kann, sie muss in den täglichen Praxen immer wieder als inkludierende Heterogenität hergestellt werden. Neben dem Anspruch einer radikalen Inklusion ist das Ziel möglichst großer Horizontalität als weiteres Merkmal präsentistischer Demokratie festzuhalten. Horizontalität zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen versuchen, sich aufeinander zu beziehen. Sie treten in Verbindung und stellen ‚Sozialitäten‘ her. Damit verbunden ist der Wille, Hierarchien und Ideologien abzubauen und aufzubrechen. Die soziale Praxis der Herstellung von Horizontalität ist nicht von Formen direkter Demokratie und Konsensverfahren zu trennen. Ziel ist es folglich, „in der Herstellung von respektvollen und verantwortlichen wechselseitigen sozialen Beziehungen Demokratie zu praktizieren, die bestehenden Herrschaftslogiken immanent aus[zu]setzen“ (Lorey, 2012, S. 40). Die Idee der Existenz präsentistischer Formen von Demokratie ist für meine Arbeit besonders interessant, weil sie mir helfen kann, das vorherrschende Verständnis von Demokratie nachhaltig zu irritieren und Alltagshandeln als eine wesentliche Komponente demokratischen Miteinanders sichtbar zu machen. Wenn das Praktizieren von Demokratie den juridischen Formen von Demokratie vorausgeht, dann werden Fragen der Institutionalisierung weniger dringlich. Es können demokratische Praxen entstehen, die nicht in bestehende Strukturen zu integrieren sind. Der Aspekt der Demokratie als Lebensform bekommt damit ein neues Gewicht. Zudem bietet es Ansatzpunkte einer „Neuerfindung der Demokratie“ (Holland-Cunz, 2004, S. 473)
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– eine Forderung, die Barbara Holland-Cunz bereits vor gut einem Jahrzehnt als aktuelle Forschungsfrage und demokratiepolitische Zukunftsvision formulierte. Die Idee radikaler Inklusion versucht dabei, die Problematik des Ausschlusses anders zu betrachten und bietet Anschlüsse an ein queer-feministisch orientiertes Verständnis von Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten. Ausschlüsse sind dann weniger machtvoll, wenn sie nicht auf Dauer in gesetzliche Regularien u.a. verfestigt werden. Der Begriff der radikalen Inklusion lässt sich auch in Verbindung setzen mit der libertären Vorstellung der freiwilligen Assoziation sowie dem Kriterium der Betroffenheit bei Entscheidungen. Das Kriterium der Entscheidungsbetroffenheit lese ich als eine konkretes Beispiel, den Demos unbestimmt und kontingent zu lassen.20 Mit Isabell Loreys Fokussierung auf präsentistische Formen von Demokratie lässt sich daher eine Brücke schlagen, die demokratietheoretischen Überlegungen auf einer philosophischen Makroebene mit konkreten Praxen der Entscheidungsfindung in Projekten verbindet. Wie im präsentistischen Modell jedoch Demokratie praktiziert wird, bleibt bei Isabell Lorey noch recht vage. Es finden sich zwar Hinweise, das ein präsentistisches Verständnis nicht von Konsensverfahren und direkter Demokratie zu trennen sei. Eine Auseinandersetzung, was am Konsens orientierte Verfahren sind, findet allerdings nicht statt. Ich werde daher im folgenden Unterkapitel anarchistischen Ideen Raum geben. Was heißt es folglich, die politische Philosophie des Anarchismus als Demokratietheorie zu verstehen und was verbirgt sich demokratietheoretisch hinter dem Verfahren der Konsens-Entscheidung? Mit diesem Vorgehen beschäftige ich mich mit einer radikalen Erweiterung des Demokratiebegriffs. Konkret frage ich danach, inwiefern anarchistische Debatten dazu beitragen können, heutige Vorstellungen von Demokratie zu überwinden und damit den visionären Charakter von Demokratie zu betonen und greifbarer zu machen. 4.3.3 Anarchistische Theorie als Demokratietheorie Im folgenden Teil widme ich mich einer Erweiterung des Demokratiebegriffs, indem ich anarchistische Konzepte explizit in mein Demokratieverständnis integriere. Mit der Hinzunahme anarchistischen Gedankenguts beabsichtige ich, die Vision der Aufhebung von Herrschaft als ein wesentliches demokratietheoretisches Ziel zu betonen. Das Verständnis von Demokratie als
20
Vgl. hierzu die Ausführungen unter Punkt 4.3.3 in diesem Kapitel.
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Wegsuche in Richtung weniger Hierarchien, Macht und Herrschaft wird in einer libertären Lesart hervorgehoben. Das demokratische Versprechen, das mit der Vorstellung einer Demokratie im Werden verbunden ist, wird von einer anarchistisch geprägten Tradition demokratischen Denkens sehr ernst genommen. Zudem finden sich in den vorgestellten queer-feministischen Kapitalismuskritiken Visionen einer Zukünftigkeit, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. Diese Visionen verändern die Grundstrukturen gesellschaftlicher Organisation radikal. Queer-feministisches Engagement fordert daher in meinem Verständnis zur Realisierung schwer denkbarer Prozesse heraus und ermuntert, das Undenkbare zu Denken. Wie sollen beispielsweise die festgefahrenen Muster von Zweigeschlechtlichkeit und die damit verbundenen Annahmen des gegenseitigen Begehrens nicht nur kritisch hinterfragt, sondern nachhaltig überwunden werden? Wie sähe dann eine Gesellschaft aus, die sich der Unterscheidung zwischen männlich/weiblich entledigt hat und sämtliche Herrschaftsverhältnisse immer wieder aufs Neue überwindet? Zuletzt finde ich den Modus der Entscheidungsfindung, das heißt, das anarchistische Konsensverfahren, spannend, weil es versucht, die Heterogenität der Menschen zu respektieren und gleichzeitig nach Lösungen sucht, die von allen (von der Entscheidung Betroffenen) getragen werden. Ich erhoffe mir mit dieser Auseinandersetzung eine Annäherung an die Frage, wie Gemeinschaft – und damit verknüpft kollektives Handeln – entstehen kann, ohne homogenisierende und damit ausschließende Gemeinsamkeiten zu schaffen. Die Ansätze auf Konsens zielender Entscheidungsfindung sind stark von konkretem Praxishandeln geprägt und können die teilweise sehr abstrakten Überlegungen queer-feministischer Theorieproduktion konkretisieren. Lassen sich mit einem anarchistischen Demokratieverständnis Vorstellungen von Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeiten, Ideen radikaler Inklusion und inkludierender Heterogenitäten in konkretes Handeln übersetzen und damit veranschaulichen? Das Teilkapitel beabsichtigt daher, die theoretisch-abstrakte Diskussion über Demokratie an konkrete Praxen kollektiver Entscheidungsfindung zurückzukoppeln. Um diese Ziele zu erreichen, ist es notwendig, zwei Ebenen der Diskussion zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene geht es um die theoretische Rechtfertigung, warum Anarchismus als ‚radikalste aller Demokratietheorien‘ (vgl. Holland-Cunz, 2006) gelten kann. Wie lassen sich demnach anarchistische Ideen und Ansätze als Demokratietheorie legitimieren? Die zweite Ebene betrifft das anarchistische Konsensverfahren als demokratische Praxis kollektiver Entscheidungsfindung. Das Konsensverfahren stellt hier ein Beispiel demokratischer Handlungsweisen in widerspenstigen Alltagspraxen
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dar. Ich werde mich in diesem Teilkapitel schwerpunktmäßig mit der Ebene demokratischer Praxen auseinandersetzen, zuvor gehe ich jedoch kurz auf die theoretische Ebene ein und zeige mit Ralf Burnickis (2003; 2005) Hilfe auf, wie die Philosophie des Anarchismus als Demokratietheorie konzipiert werden kann. Anarchistische Strömungen propagieren Utopien herrschaftsloser Gesellschaften und bevorzugen Entscheidungsverfahren, die auf einem anarchistischen Konsensbegriff basieren. Das Ziel anarchistischer Bewegungen ist die Befreiung der Menschen von allen Herrschaftsverhältnissen und keineswegs, wie gerne suggeriert wird, Chaos gepaart mit dem Recht der Stärkeren. „Wird ‚Demokratie‘ zum Inbegriff einer zunächst noch herrschaftsbegrenzenden, aber zugleich egalitären Tendenz, die in äußerster Konsequenz auf die Abschaffung von ‚Herrschaft‘ zielen kann“ (Burnicki, 2003, S. 11), dann lässt sich Anarchismus Ralf Burnickis Argumentation folgend als eigenständige Demokratietheorie betrachten. Da es den Anarchismus genauso wenig gibt, wie es Sinn macht von dem Feminismus zu sprechen, beziehe ich mich auf Texte, die von poststrukturalistischen Debatten geprägt sind und Anschlüsse an queer-feministische Perspektiven bieten. Wenn darin Macht nicht mehr als ein rein äußerliches, repressives Verhältnis verstanden und die Herausbildung jeglicher Identität immer auch als ein Ergebnis von Machtverhältnissen angenommen wird, dann ist anarchistisches Denken mit der Frage konfrontiert, was die erstrebte Befreiung des Menschen konkret bedeutet. Was heißt es folglich für eine Bewegung, die alle Herrschaftsverhältnisse ablehnt und ein gesellschaftliches Miteinander anstrebt, das auf Freiwilligkeit beruht, wenn die handelnden Akteure bereits durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägt sind? Wenn Individualität somit nicht frei von Machtverhältnissen gedacht werden kann und es keinen letzten Wesenskern gibt, der Mensch-sein charakterisiert? Der Kampf gegen derzeitige Herrschaftsmechanismen erfolgt daher aus anarchistischer Perspektive unter „der Bedingung der Heterogenität der Subjekte“ (Burnicki, 2005, S. 56), die wiederum in Herrschaftsverhältnisse verstrickt sind, da sie Ergebnisse derselben darstellen. „Die Anarchie ist kein Endzustand einer Entwicklung, keine statische Form der Gesellschaft, sondern ein permanentes Werden“ (Mümken, 2005, S. 21). Eine solche im Werden begriffene „Revolutionsutopie [...] nimmt Haltungsprobleme inkauf. Denn unter der Bedingung der Heterogenität Aller ließe sich ja fragen, worauf eine revolutionäre Perspektive – als Perspektive kollektiven Handelns – überhaupt gründet“ (Burnicki, 2005, S. 55).
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Die Idee einer hierarchielosen Demokratie Unter dem Konzept einer „hierarchielosen Demokratie“ ist ein „politisches Ordnungssystem“ zu verstehen, „das ‚Demokratie‘ an die Bevölkerungsbasis zurückzubinden versucht und Entscheidungen an das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen koppelt“ (Burnicki, 2003, S. 56). Eine solche weitreichende gesellschaftliche Transformation sprengt den Rahmen derzeitiger Institutionen und Strukturen. Das anarchistische Gesellschaftsideal ist jedoch nicht frei von Institutionen, sie haben allerdings eine andere Funktion. Sie sind eingebettet in eine dezentrale föderale Struktur und dienen als Orte des interaktiven Austauschs und nicht als zentralisierende Regelungsinstanzen. Institutionen dienen im Idealfall als Garant demokratischer Partizipation, da sie in Abhängigkeit vom Engagement ihrer Mitglieder bestehen und Orte bereitstellen, in denen kollektive Angelegenheiten besprochen und entschieden werden. Demokratietheoretisch bedeutet diese Gebundenheit von Institutionen, dass es nicht möglich ist, eine Karte demokratischer Institutionen zu zeichnen, die dann auf Dauer Gültigkeit behält. Damit sind solche Institutionen vermutlich weniger gefährdet, eine Eigendynamik entwickeln, die zur Machtkonzentration führt und Mechanismen herausbildet, die dem Zweck des (Macht-)Erhalts dienen. Solche ‚anarchistischen‘ Institutionen sind daher mit Werkzeugen vergleichbar, die dem Ziel der Selbstorganisation der Menschen dienen (vgl. Burnicki, 2003, 51f.). Anarchistische Theorien stellen folglich nicht die Frage nach demokratischen Institutionen in das Zentrum demokratietheoretischer Überlegungen. Stattdessen stehen das einzelne Individuum und dessen Selbstbestimmungsrecht im Mittelpunkt. Hintergrundfolie ist dabei die Annahme, dass jede Person grundsätzlich am Besten in der Lage ist, zu entscheiden, was für sie gut und wünschenswert ist und was nicht. Jeglicher Objektivierungsinstanz wird mit größter Skepsis begegnet. Auf den Demokratiebegriff bezogen äußert sich das Charakteristikum des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen in einem bereits im Konsensprinzip verankerten Minderheitenschutz. Demokratietheoretisch neu ist nach Ralf Burnicki demnach „der Schutz Benachteiligter bereits über das Demokratieverfahren selbst“ (Burnicki, 2003, S. 53). Der Schutz von Minderheiten muss in einer solchen Lesart demokratischen Strukturen nicht erst durch entsprechende Regelungen nachträglich hinzugefügt werden. Das Konsensprinzip beinhaltet bereits Mechanismen, die dem Schutz von Minderheiten dienen.21 Konsens lässt
21
Das Konsensverfahren ist insofern praktizierter Minderheitenschutz, als dass eine Entscheidung nur dann getroffen ist, wenn sie von allen Betroffenen mit-
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sich daher als Entscheidungsverfahren definieren, „an dessen Ende eine Entscheidung steht, die alle Beteiligten mittragen können“ (Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, 2004, S. 13). In der Formulierung ‚mittragen können‘ befindet sich der Hinweis, dass das Konsensmodell unterschiedliche Meinungen zulässt, ohne die Unterschiede zwischen den Einzelnen zu übergehen. Ein zentrales Merkmal des Konsensprinzips ist es daher, „dass es sich um einschließende Entscheidungen handelt“ (Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, 2004, S. 13). Einschließend insofern, als dass widerstreitende Bedürfnisse und Positionen nicht gegeneinander verhandelt und unterschiedlich gewichtet werden, sondern der Anspruch gilt, Lösungen zu finden, die – trotz unterschiedlicher Interessen – für alle tragbar sind. Von daher zielen Veränderungen des status quo in der Regel auf die Verbesserung der Situation aller Beteiligten. Dieses inklusive und partizipatorische Demokratieverständnis verändert die Frage grundlegend, wer Teil des demokratischen Demos ist. Nicht das Territorialprinzip liegt der Demos-Bestimmung zugrunde, sondern die Frage nach der Betroffenheit. Alle Menschen, die von einer Entscheidung betroffen sind, haben demnach das Recht, an der Entscheidung mitzuwirken. Wer Teil des Demos ist, entscheidet sich daher kontextbezogen und sprengt den Rahmen nationalstaatlicher Grenzen. Der im Konsensprinzip eingebundene Minderheitenschutz äußert sich im Vetorecht für alle, für die die forcierte Veränderung einen Nachteil bedeuten würde. Ralf Burnicki fasst diese beiden Grundgedanken in einer ‚anarchistischen‘ Demokratiedefinition zusammen: „Demokratie soll heißen die Chance der Individuen, in sämtlichen Entscheidungen mitzuwirken, die sie betreffen [...] Demokratie soll außerdem heißen ein Vetorecht von Minderheiten sowie von Mehrheiten, um eine Veränderung gegebener Umstände zu ihrem Nachteil durch Widerspruch zu verunmöglichen“ (Burnicki, 2003, S. 152f. Im Original: fett).
getragen werden kann. Sobald eine betroffene Person – konkreter eine von der Entscheidung potentiell negativ betroffene Person – ein Veto einlegt und damit die vermeintlich gefundene Lösung nicht mitträgt, muss nach neuen Lösungen gesucht werden. Das Mittragen einer Entscheidung ist jedoch nicht mit einer aktiven Zustimmung gleichzusetzen, sondern kann eine Vielzahl an Bedeutungen und damit verbunden Handlungskonsequenzen beinhalten.
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Ralf Burnicki schlägt in seiner Veröffentlichung vor, das anarchistische Konsensprinzip als ein Modell sozial-inklusiver Demokratie zu bezeichnen. Ein solches Demokratieverständnis nimmt die Bedürfnisse der Menschen und ihren Lebensalltag als Grundlage. Das anarchistische Konsensverfahren: Auswirkungen auf demokratische Alltagspraxen Mit dem hier kurz vorgestellten Verständnis von Anarchismus als radikaler Demokratietheorie im Kopf, beschäftige ich mich im Folgenden mit dem anarchistischen Konsensverfahren als Beispiel demokratischer Alltagspraxen. Ich frage danach, welche Auswirkungen dieses Verfahren auf die politischen Ansprüche und die gewünschten Umgangsweisen in den Nahverhältnissen der Menschen hat. Besonders hervorheben möchte ich den Anspruch, über das Konsensverfahren der Heterogenität der Menschen gerecht zu werden und trotzdem kollektiv handlungsfähig zu bleiben. Das Handbuch zur gewaltfreien Entscheidungsfindung der Werkstatt für Gewaltfreie Kommunikation (2004) betont daher in den Leitsätzen einer konsensorientierten Moderation die Notwendigkeit, zum Dissens zu ermutigen. Die explizite Suche nach DissensPunkten wird dort wie folgt begründet: „erst wenn der Dissens deutlich ausgesprochen ist, kann eine Problemlösung gefunden werden, die die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse [...] mit einschließt“ (Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, 2004, S. 106). Aus dieser Perspektive ließe sich eine dissensorientierte Politik als elementarer Schritt zu herrschaftsminimierenden Entscheidungen lesen. Denn erst wenn die konträren Positionen bekannt sind, gibt es die Möglichkeit, nach Wegen zu suchen, die für alle tragbar sind. Tadzio Müller betont in seinem Artikel „Empowering Anarchy“ (Müller, 2003) dass sich ein ‚Poststrukturalistischer Anarchismus‘ von der Idee einer Macht-freien Praxis verabschieden muss. Ein anarchistischer Umgang mit Machtverhältnissen wäre demnach eine ‚Ethik der Differenz‘: „Anarchism [...] ought to be understood as [...] power guided by ethics, by an ethics of difference“ (Müller, 2003, S. 43). Diese Ethiken der Differenz sind anknüpfbar an queer-feministische Interpretationen hegemonietheoretischer Überlegungen, die danach fragen, wie die Trennung in Herrschende und Beherrschte aufgebrochen werden kann, sodass einer konkreten Hegemonie nicht zwangsläufig die nächste folgen muss. Die Verbindung postgramscianischer Theorie mit anarchistischen Idealen wird – trotz der historisch verbrieften Abgrenzung Antonio Gramscis zu
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libertären Bewegungen – von Verfechter_innen einer post-anarchistischen Perspektive hergestellt. Jens Kastner beispielsweise verspricht sich „gramscianisch-anarchistische Koinzidenzen, an denen weiterzuarbeiten wäre“ (Kastner, 2011, S. 103). Vor allem die Bedeutung des Alltags für Hegemonieproduktion und Hegemonietheorie als Analyseinstrument, wie Herrschaftsverhältnisse im Hier und Heute beschaffen sind, erscheinen in diesem Sinne als fruchtbare Anknüpfungspunkte. Anarchistische Theorie bietet mit dem Ideal einer Demokratie im Werden Vorstellungen, wie im Hier und Heute emanzipatorische Gesellschaftsveränderung in Angriff genommen werden kann. In diesem Sinne ist auch Tadzio Müllers (2003) Vorschlag zu lesen, Anarchismus als gegenhegemoniales Projekt zu fassen. Auch hier meint Gegenhegemonie nicht das Ringen um eine neue Hegemonie, die in ihren Grundfesten lediglich die Macht- und Herrschaftsverhältnisse verändert, sondern vielmehr den Versuch, dem hegemonialen Projekt selbst zu entkommen. Da jede Hegemonie auf das Alltagsverständnis der Menschen Bezug nimmt, sind alle Versuche der Etablierung emanzipatorischer Lebensweisen gegenhegemonial. Wie bereits dargelegt stellt das Konsensverfahren aus einer heutigen Perspektive ein Verfahren dar, das darum bemüht ist, ‚Ethiken der Differenz‘ zu etablieren und gesellschaftliche Entscheidungsfindung derart zu gestalten, dass sie die Chance erhöht, für alle Menschen Lösungen zu finden, die für sie eine Verbesserung des status quo darstellen. Getroffene Entscheidungen bleiben so lange gültig, bis sie von den Betroffenen wieder zur Disposition gestellt werden. Sie bieten daher weniger Sicherheit als rechtliche Vorschriften, tragen allerdings dazu bei, bestehende Verhältnisse weniger stark zu zementieren. Zumindest theoretisch wird damit der Prozesscharakter von Demokratie hervorgehoben. Allerdings muss sich anarchistische Praxis immer wieder mit der Problematik auseinandersetzen, dass eine anarchistische Vision gesellschaftlichen Miteinanders keine Garantie für einen emanzipatorischen Umgang der Menschen untereinander bietet. Gerade wenn Herrschaftsverhältnisse in den Subjekten eingeschrieben sind, bedarf es großer Anstrengungen, das Konsensverfahren nicht als Herrschaftsinstrument zu missbrauchen. So ist das Kriterium der negativen Betroffenheit und das Ziel, mit demokratischen Entscheidungen die konkreten (Lebens-)Situationen für alle zu verbessern, angesichts der Notwendigkeit, Entscheidungen in Rahmen prinzipieller Unentscheidbarkeit treffen zu müssen, nicht einfach zu erfüllen. Alleine die relevante Frage, wer berechtigterweise am Prozess der Entscheidung teilnehmen kann und damit ein Vetorecht erhält, ist nicht einfach zu beantworten.
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Dazu kommt, dass im Vorhinein nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob die gewünschten Effekte eintreten werden. Eine weitere Herausforderung liegt darin, dass dem Kriterium der negativen Betroffenheit ein potentieller Konservatismus zugrunde liegt. Es gibt zwar ein Vetorecht für alle, die von einer Entscheidung benachteiligt sind. Allerdings gibt es keine (direkten) Möglichkeiten, ein Veto gegen bestehende Verhältnisse einzulegen. Wenn aber die herrschenden Verhältnisse und die Subjektkonstruktionen Ergebnis von Macht- und Herrschaftsstrukturen sind, dann kann dieser Konservatismus – Entscheidungen, sind immer nur dann absehbar, wenn sie für alle Betroffenen eine Verbesserung versprechen – dazu führen, dass Benachteiligungen bestehen bleiben. Von konkreten Verhältnissen negativ Betroffene müssen demnach einen größeren Aufwand betreiben, um die bestehende Verhältnisse zu überwinden. Sie müssen die Vorteilsinhaber_innen davon überzeugen, dass die geforderte Abgabe der Privilegien in letzter Konsequenz auch für die Nutznießer_innen der aktuellen Situation keinen Nachteil bedeuten.22 Hier wären die von Antke Engel vorgeschlagenen Kategorien der Denormalisierung und Enthierarchisiserung hilfreiche Werkzeuge, um bereits getroffene Entscheidungen daraufhin zu befragen, ob sie tatsächlich einem anarchistischen Konsensverständnis entsprechen. Mir geht es in meinen Ausführungen jedoch weniger darum, danach zu fragen, welche Stolpersteine einer Umsetzung in das Alltagshandeln entgegen stehen, sondern die Grundgedanken anarchistischer Demokratieversprechen darzulegen. Ich beabsichtige aufzuzeigen, welches radikale Potential dem Demokratiebegriff innewohnen kann. Besonders betonen möchte ich das anarchistische Verständnis von Demokratie, das den Schutz von Minderheiten bereits durch seine Entscheidungsverfahren in die Konzeption von Demokratie aufnimmt und die Forderung nach inklusiver Demokratie konkret werden lässt. Um den zu erwartenden Herausforderungen zu begegnen, möchte ich zweierlei vorschlagen: Zunächst lassen sich die von Antke Engel eingeführten Kriterien der Denormalisierung und Enthierarchisierung auch als Bewertungsmaßstab für im Konsensverfahren gefällte Entscheidungen einführen. Darüber hinaus verweist meines Erachtens die angerissene Problematik
22
Die hier genannten demokratietheoretischen Probleme und Herausforderungen lassen sich jedoch auch nicht von anderen Verfahren demokratischer Entscheidung beheben. Beim Mehrheitsentscheid beispielsweise können legitimer Weise Minderheiten überstimmt werden.
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auch darauf, dass sich die Themen, die kollektiv verhandelt werden, grundlegend verändern, wenn ein anarchistisch geprägtes Demokratieverständnis den Entscheidungen zugrunde liegt. Dies bedarf radikal anderer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die aus einer heutigen Perspektive schwer vorstellbar sind. Die Schwierigkeit, sich eine anarchistisch geprägte Gesellschaftsorganisation vorzustellen, möchte ich dabei ausdrücklich nicht als Verweis auf die grundsätzliche Unmöglichkeit ihrer Umsetzbarkeit verstanden wissen, sondern als Betonung des im positiven Sinne Utopischen des Projekts.
4.4 Zwischenfazit: Demokratie queer-feministisch & herrschaftskritisch denken? Abschließend möchte ich das in diesem Kapitel herausgearbeitete Demokratieverständnis kurz zusammenfassen. Mein Hauptanliegen war es, einen Demokratiebegriff zu entwickeln, der in der Lage ist, die in den Kapitalismuskritiken gefundenen Verweise auf Demokratie aufzunehmen und demokratietheoretisch anzureichern, so dass Alltagspraxen in den Fokus demokratietheoretischer Betrachtungen rücken können. Zur Spezifizierung meines Demokratiebegriffs werde ich daher erstens kurz resümieren, welches Wissen über Demokratie meinen Demokratiebegriff prägt. Zweitens werde ich Adjektive vorschlagen, die dieses Demokratieverständnis umreißen. Queer-feministisch und herrschaftskritisch geprägtes Wissen Ich verstehe Demokratie als Lebensform und Alltagspraxis von Menschen, die von der Vision emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung geprägt ist und durch ständige Lernprozesse heterogen und in Bewegung bleibt. Differenzen finden darin Anerkennung und werden nicht als Macht- und Herrschaftsmechanismen missbraucht. Ein wesentliches Ziel demokratischer Organisation, die Inklusion aller von den Entscheidungen betroffenen Menschen, bleibt daher im Fokus der Bemühungen. Die materiellen, sozialen und politischen Bedingungen direkter Partizipation sind darin zentrales Thema demokratischer Praxis, das heißt ein Nachdenken über die Bedingungen des Sprechens und Entscheidens ist Bestandteil eines selbstreflexiven, sozial-inklusiven Demokratieverständnisses. Queer-feministische Analysen betonen auf der einen Seite, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht von Heute auf Morgen erfolgreich umsetzbar sind, machen aber gleichzeitig
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Mut, mit den Projekten egalitär-demokratischer Gemeinschaften, die nicht auf Exklusion beruhen, im Hier und Heute zu beginnen. Anarchistisch geprägte Vorschläge demokratischer Entscheidungsfindung, konkret: anarchistische Formen der Konsensfindung, bieten fassbare Vorschläge, wie ein herrschaftkritisch ausgerichtetes und egalitäres Verständnis von Demokratie im Alltagshandeln der Menschen umsetzbar ist. Damit lassen sich in anarchistischen Idealen konkrete Handlungsanleitungen finden, wie erstrebenswerte Umgangs- und Lebensweisen aussehen könn(t)en. Queer-feministische Perspektiven – darin vor allem die Sensibilität gegenüber strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen – lassen sich als hilfreiche Reflexionsinstanz begreifen, die die Experimente anarchistischer Entscheidungsfindung begleiten, da sie einen großen Erfahrungsschatz bieten, wo und in welchen subtilen Formen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse entstehen (können) oder bereits bestehen. Anarchistische Theorie hat ein weniger ausgearbeitetes Verständnis davon, was genau unter Macht- und Herrschaft zu verstehen ist. Diese Schwäche anarchistischer Theorie liegt darin, dass sich anarchistische Debatten in erster Linie über konkrete Praxen der Umsetzung der Ideale drehen und sich weniger mit den Wurzeln und Phänomenen (heutiger) Herrschaftsverhältnisse auseinander setzen. Eine solche demokratische Utopie kann als Motor gesellschaftlicher Entwicklungen dienen und bietet Erklärungsansätze, woher Menschen die Energie nehmen, das emanzipatorische Versprechen eines egalitären, möglichst herrschaftsfreien Zusammenlebens in konkrete Alltagspraxen umzusetzen. Demokratiebegriff dieser Arbeit Mit welchen Attributen lässt sich der Demokratiebegriff belegen, so dass er dem Ziel dient, Alltagspraxen in den Fokus demokratietheoretischer Betrachtungen zu rücken? • Das Demokratieverständnis grenzt sich von Demokratievorstellungen ab, denen ein juridisches Verständnis von Demokratie innewohnt. Mit der Abkehr von dieser juridischen Engführung ist es möglich, Alltagspraxen in den Blick zu nehmen. Sie stellen Orte dar, in denen Demokratie in sozialen Beziehungen als Lebensform praktiziert wird. Der Demokratiebegriff ist insofern immer auch bindungsorientiert. • Dem juridischen Verständnis gegenüber steht eine Vorstellung von Demokratie, die immer dort zum Erscheinen kommt, wo Macht- und Herrschaftsstrukturen kritisiert und herausfordert werden. Diese Vielfalt demokratischer Räume geht mit der Notwendigkeit einher, den
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Demos unbestimmt und kontingent zu lassen. Demokratie lässt sich folglich mit den Adjektiven vielfältig und temporär beschreiben. • Wenn Demokratie in verschiedenen Räumen praktiziert wird, dann lässt sie sich nicht in relativ statischen Organisationsmodellen und Institutionengefügen beschreiben. Stattdessen bezieht sich der Demokratiebegriff auf Prozesse, die in herrschaftsbegrenzender und egalitärer Absicht Formen des sozialen Miteinanders immer wieder neu aushandeln. Demokratie ist daher prozess- und kontextbezogen. • Die Heterogenität der Subjekte, deren Identitäten Ergebnis und Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind, stehen folglich im demokratietheoretischen Fokus. Es geht darum, in horizontalen Prozessen radikal inklusiv zu wirken, ohne (auf Dauer) neue kollektive Identitäten und damit Ausschlussmechanismen zu schaffen. Das Herzstück demokratischer Praxen ist das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in ihrer Vielfalt und Machtverwobenheit. • Das Handeln von Menschen lässt sich in dieser Lesart als demokratisch bezeichnen, wenn es darum bemüht ist, eine Verbesserung der Lebenssituation für alle zu bewirken und Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzubauen. Damit ist der Demokratiebegriff offen normativ. • Der kontingente und unbestimmte Demos erfährt durch das Kriterium der Entscheidungsbetroffenheit eine Konkretisierung und temporäre Fixierung. In diesem radikal inklusiven Verständnis steht es allen offen, sich an demokratischen Verfahren zu beteiligen, wenn die anstehenden Entscheidungen das eigene Leben tangieren. Damit ist der Demokratiebegriff repräsentationskritisch, partizipatorisch und horizontal. • Da Entscheidungen grundsätzlich in einem Rahmen der Unentscheidbarkeit gefällt werden müssen, – es ist nicht möglich sämtliche Auswirkungen einer Entscheidung vorherzusehen – dienen die Kriterien der Enthierarchisierung und Denormalisierung als Maßstäbe, um auszuloten, ob die gewünschte Verbesserung der Lebenssituation eingetroffen ist. Demokratie ist folglich macht- und herrschaftskritisch. • Das anarchistisch geprägte und queer-feministisch orientierte Konsensverfahren stellt eine bereits gelebte Möglichkeit dar, Demokratie zu praktizieren. Es ist ein Verfahren, das idealiter die Verwobenheit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen nicht abstrahiert, sondern in
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die Prozesse des Aushandelns und der Entscheidungsfindung mit integriert. Dem Konsensverfahren wohnt ein radikaldemokratischer Impetus inne, da es bestehende Verhältnisse radikal infrage stellt und herausfordert. Mit der hier vorgenommenen Spezifizierung meines emphatischen Demokratiebegriffs werde ich den primär theoriegeleiteten Teil meiner Suchbewegung beenden und wende mich im folgenden Kapitel der Analyse widerspenstiger Alltagspraxen zu.23 Das daran anschließende Kapitel 6 (Zusammenführung: Von der Praxis lernen?) wird die Überlegungen aus den Kapiteln 3 & 4 mit den Ergebnissen aus Kapitel 5 (Widerspenstige Alltagspraxen: Die Praxisbeispiele) verbinden und nach Lerneffekten für die Theorieproduktion fragen.
23
Zum Begriff ‚emphatischer Demokratiebegriff‘ vgl. z.B. Brand (2005).
5 Widerspenstige Alltagspraxen: Die Praxisbeispiele
Nachdem in den vorangegangen Kapiteln (Kapitel 3 & 4) der Fokus auf der ersten Forschungsfrage lag – „Wo finden sich Ansätze in der Theorieproduktion, die widerspenstige Alltagspraxen erfassen können und welche Handlungsoptionen bieten sie den Praxen an?“, wende ich hier den Forschungsblick auf die empirisch gewonnenen Ergebnisse. Ich beschäftige mich hierbei mit widerspenstigen Alltagspraxen, die ich über Gruppendiskussionen erfasst habe. Diesem Schritt vorangegangen ist die Suche nach einer geeigneten Methodologie. Ich habe mir die Frage gestellt, welche Forschungswerkzeuge sich als nützlich erweisen, um das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen in den gewählten Beispielen (dem Mietshäuser Syndikat, dem Schwarzer Kanal und der NewYorck im Bethanien) zu beschreiben und zu analysieren. Warum ich mich letztendlich für das Verfahren der Gruppendiskussion entschieden habe, lege ich im Kapitel 5.1 dar. Das folgende Kapitel 5.2 stellt die Themenstränge der geführten Gruppendiskussionen vor. Diese erste Auswertung orientiert sich primär an den Schwerpunktsetzungen der Diskussionen und an den entwickelten Leitfragen der Gruppendiskussionen. Eine vertiefende Betrachtung erfolgt dann in Kapitel 6, in dem die empirischen Ergebnisse mit den theoretischen Überlegungen verknüpft werden.
5.1 Herrschaftskritische Methodologie? Ausgangspunkt meiner theoretischen Auseinandersetzung mit möglichen Verfahren der Datenerhebung war die Frage, wie eine Erhebungsmethode aussehen muss, die einer queer-feministischen und herrschaftskritischen Perspektive gerecht wird. Wie lässt sich folglich Wissen über die gelebten widerspenstigen Alltagspraxen erfragen, das diese als kollektiv gelebte
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Praxen begreift? Was heißt es für die Datenerhebung, wenn sich diese Praxen zudem stetig verändern? Wie kann ich als Forscher_in Aktivist_innen ansprechen, ohne die hierarchische Kluft zwischen verobjektivierender Wissenschaftler_in und verobjektivierten Forschungsteilnehmer_innen aufzumachen, bzw. diese Kluft zumindest möglichst gering halten? In welchem Rahmen kann ich von den widerspenstigen Alltagspraxen lernen, der dem gelebten Alltag sehr nahe kommt? Welches Setting bietet sich daher für die Sammlung des zu analysierenden Datenmaterials an? Ich habe mich letztendlich gegen das Führen von Einzelinterviews ebenso entschieden wie gegen Formen teilnehmender Beobachtung, stattdessen habe ich die Durchführung von Gruppendiskussionen gewählt. Im Folgenden werde ich erstens das Verfahren der Gruppendiskussion vorstellen, bevor ich zweitens auf die konkrete Gestaltung der Gruppendiskussionen eingehe und ein kurzes Resümee der durchgeführten Veranstaltungen ziehe. 5.1.1 Das Gruppendiskussionsverfahren Ich habe mich für die Durchführung von Gruppendiskussionen entschieden, weil dies kollektive Prozesse und Dynamiken sichtbarer macht. Ein wesentliches Organisationsmerkmal emanzipatorischer Lebens- und Wirtschaftsweisen liegt zudem in der kollektiven Kommunikation in Plenumsstrukturen. Hier werden konkrete Entscheidungen ebenso gefällt wie theoretische Debatten und Strategiediskussionen geführt; ferner wird ein Rahmen geschaffen, in dem über Emotionen, persönliche Befindlichkeiten und Gruppendynamiken geredet werden kann. Darüber hinaus bemühen sich die ausgesuchten Beispiele um möglichst geringe Hierarchien. So soll es beispielsweise keine Expert_innen geben, die stellvertretend für das Projekt an die Öffentlichkeit treten. Die Entscheidung für das Gruppendiskussionsverfahren stellt insofern auch eine bewusste Würdigung der üblichen Entscheidungsverfahren und -strukturen der untersuchten Gruppen dar. Ich verbinde mit diesen Verfahren und Strukturen ein an libertären Vorstellungen orientiertes Demokratieverständnis, das die Aktivist_innen in den Projekten vertreten. Die Gruppendiskussionen sollen sich möglichst frei entwickeln können, damit sich die jeweilige Gruppe „weniger mit dem Relevanzsystem der Forscherin auseinandersetzt, als mit ihrem eigenen“ (Groß, 2008, S. 103). Ursprünglich war geplant, eine externe Moderation hinzu zu ziehen. Diese sollte an den zentralen Diskussionspunkten gezielte Nachfragen stellen und dadurch eine Konkretisierung des Gesagten sicherstellen. Damit verbunden war die Idee, nicht Gefahr zu laufen, die Gesprächssituation zu sehr durch mein
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Forschungsinteresse zu dominieren. Letztendlich habe ich mich gegen diese Variante entschieden, da diese Überlegungen dem Bild von Wissenschaft entsprechen, der es gelingt, einen objektiven Blick einzunehmen. Wichtiger als die mögliche Korrekturfunktion einer externen Moderation war der Versuch, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Hierarchie zwischen Wissenschaftler_in und Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion möglichst gering hält. Eine zwischen mir und der Gruppe vermittelnde dritte Instanz wäre diesem Ziel vermutlich nicht dienlich gewesen. Im Folgenden werde ich kurz auf die Methode des Gruppendiskussionsverfahrens eingehen, um dann in Kapitel 5.1.2 meine Konzeption der Gruppendiskussionen vorzustellen. Die in den 1940er Jahren in den USA und England entwickelte Methode der sozialwissenschaftlichen Gruppendiskussion wurde in Deutschland in den 1950er Jahren vor allem durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung etabliert. Aktuelle methodologische Weiterentwicklungen des Verfahrens finden sich bei Ralf Bohnsack, Peter Loos und Burkhard Schäffer. Melanie Groß hat in ihrer Dissertation (2008) die Methode der Gruppendiskussion angewandt, um der Frage nachzugehen, wie Widerstand in post-, queer- und linksradikal-feministischen Gruppen definiert und damit Handlungsfähigkeit erreicht wird. Ihre Herangehensweise und ihre theoretischen Überlegungen sind für meine Arbeit sehr hilfreich, da sich meine Praxisbeispiele in einem vergleichbaren Kontext bewegen. Zusätzlich zeigt sie auf, wie sich das Gruppendiskussionsverfahren aus einer queer-feministischen Perspektiven anwenden lässt. Eine sozialwissenschaftliche Gruppendiskussion stellt „ein mulitlaterales Gespräch von Gruppenmitgliedern unter relativ kontrollierten Bedingungen“ (Lamnek, 2005, S. 27) dar, das heißt es ist „eine Erhebungsmethode, die Daten durch die Interaktionen der Gruppenmitglieder gewinnt, wobei die Thematik durch das Interesse des Forschers bestimmt wird“ (Lamnek, 2005, S. 27). Insofern lässt sich die Gruppendiskussion als eine „nichtstandardisierte, mündliche Form der Befragung von Gruppen mit – zumeist ermittelnder – Intention“ (Lamnek, 2005, S. 32) definieren.1
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Teilweise wird versucht, die Gruppendiskussion als ein an standardisierten Forschungsmethoden der quantitativen Sozialforschung orientiertes Erhebungsverfahren zu etablieren. In der Meinungs- und Marktforschung findet sie als forschungspragmatische Herangehensweise Anwendung; sie gilt hier als kostengünstige und zeitsparende Alternative zu Einzelinterviews. Beide Verwendungen entsprechen nicht meinem Gruppendiskussions-Verständnis.
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Mein Verständnis von Gruppendiskussionsverfahren ist wie bereits angedeutet durch die Frage geprägt, wie eine Erhebungsmethode aussehen muss, damit sie dem theoretischen Background dieser Arbeit gerecht wird – ein Verfahren also, dass herrschaftskritischen, denormalisierenden Bemühungen nicht zuwider läuft und darum bemüht ist, die befragten Personen nicht zu passiven Forschungsobjekten zu degradieren, sondern den Dialog zwischen allen Beteiligten sucht. Wie lässt sich folglich eine Momentaufnahme des kollektiven ‚Wir‘ machen, das die immer wieder notwendige Reproduktion von Realität mittels performativer Akte bedenkt und die Menschen als in sozialen Beziehungen stehend begreift? Das heißt, jedes kollektive ‚Wir‘ kann und soll – von meinem theoretischen Standpunkt aus – immer nur ein vorübergehendes sein, das beständig Änderungsprozessen unterworfen ist. Gleichzeitig ist dieses ‚Wir‘ in strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verhaftet, die das Erfahrungswissen sowie die Alltagspraxen der Individuen prägen. Das Gruppendiskussionsverfahren als eine qualitative Methode bietet hierbei eine Möglichkeit, Erfahrungswissen und Alltagspraxen reflexiv in die Theorie- und Methodenproduktion zu integrieren. Ein als ‚Rekonstruktive Sozialforschung‘ bezeichnetes Methodenverständnis folgt in diesem Sinne dem Anspruch, „dass im Arbeitsprozess rekonstruktiver Sozialforschung Erforschte wie Forscher sich hinsichtlich der Komplexität ihres Erfahrungswissens, ihrer Alltagskompetenzen und ihrer Sensibilität gleichermaßen ernst genommen fühlen können“ (Bohnsack, 2008, S. 11). Es geht bei der Analyse der Diskussion in dieser Lesart letztendlich nicht darum, die jeweiligen Einzelmeinungen und Positionen der Diskutierenden herauszuarbeiten. Vielmehr greift die Methode die theoretische Grundannahme auf, dass in kollektiven Diskussionsprozessen die Orientierungsmuster2 der interagierenden Personen entstehen (Bohnsack, 2008, S. 110). Diese wiederum sind geprägt durch den gesellschaftspolitischen Kontext sowie durch Alltags-Erfahrungen und -verstand der Teilnehmenden. Damit wird das Gruppendiskussionsverfahren anschlussfähig an meine queer-feministische und herrschaftskritische Lesart von Hegemonie(re)produktion, die am Punkt der (Re-)Produktion
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Orientierungsmuster sind Praxen habitualisierten Handelns. Diese differenzieren sich in Orientierungsrahmen und Orientierungsschemata. Erstere sind durch die persönliche Sozialisation erfahrene und das soziale Umfeld geprägte Denk- und Handlungsmuster, letztere stellen die institutionalisierten normativen Vorgaben der Gesellschaft dar (vgl. Bohnsack, 2007, S. 228ff.).
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von Alltagsverstand, Erfahrungswissen und daraus resultierenden Alltagspraxen ansetzt. Genauer: Die kontextuelle, gesellschaftliche Bedingtheit der Meinungsäußerungen der befragten Menschen findet dem Anspruch nach in der Wahl der Befragungsmethode Berücksichtigung. Die Positionen von Individuen entstehen demnach im Kontext spezifischer Situationen und sollen deshalb mittels Gruppendiskussion auch nicht davon losgelöst betrachtet und gedeutet werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 33). In der Analyse der Gruppendiskussion geht es deshalb maßgeblich um die Identifizierung der kollektiven Bedeutungsmuster von Gruppen (Bohnsack, 2008, S. 110), die in möglichst alltagsnahen Situationen ermittelt werden sollen (Lamnek, 2005, S. 34). Ralf Bohnsack versucht in diesem Sinne das Verhältnis zwischen strukturellen (gesellschaftspolitischen) Zusammenhängen und spontanen, situativen Prozessen der Meinungsbildung zu berücksichtigen, indem er die Durchführung von Gruppendiskussionen in seiner Analyse mit der auf Karl Mannheim zurückgehenden dokumentarischen Methode verbindet. Die Dokumentarische Methode eröffnet darin „einen Zugang nicht nur zum reflexiven, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis. Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z.T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert. Dennoch wird dabei die empirische Basis des Akteurswissens nicht verlassen.“ (Bohnsack et al., 2007, S. 9) Es soll folglich ein Zugang zur Handlungspraxis der Akteure ermöglicht werden, der – mit Hilfe der Dokumentation der Diskussion – Rückschlüsse auf gemeinsame Hintergründe und geteiltes Wissen sowie Annahmen über die Konstruktion von Realität zulässt. Sowohl die Teilnehmer_innen einer Gruppendiskussionen als auch die Arbeit der wissenschaftlich tätigen Person sind vom sozialen Kontext, in dem sich die Individuen täglich bewegen, geprägt: „Das dort geltende Relevanz- und Bedeutungssystem fließt in die eigene Bewertung sozialer Phänomene und Prozesse mit ein und wird von allen beteiligten Individuen beeinflusst“ (Groß, 2008, S. 103). Ich werde deshalb meine theoretischen Überlegungen und meine Vorgehensweise ausführlich darlegen, auch wenn ich mich – da ich keine komparative Analyse der drei Beispiele vornehme – nur grob am methodischen Vorgehen von Melanie Groß orientiere. Einen systematischen Vergleich, wie es die dokumentarische Methode vorschlägt, werde ich deshalb nicht leis-
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ten. Die Gruppendiskussion bietet sich für mich nicht nur wegen ihrer potentiellen Kompatibilität mit meiner theoretischen Perspektive an, sondern auch, weil Theoriedebatten in der Praxis der Gruppen und Zusammenhänge aufgenommen, überprüft und reflektiert sowie kritisiert werden. Dies geschieht oft auch über Diskussionen in Plenen. Plenumsstrukturen stellen wie bereits erwähnt ein wichtiges Medium der internen Kommunikationsund Interaktionsformen der Bewegungszusammenhänge dar. Insofern kann gerade der Anspruch der größtmöglichen Alltagsnähe in der Erhebungsmethode der Gruppendiskussion besonders gut in meinen Praxisbeispielen erfüllt werden; zählt doch die kollektive Auseinandersetzung in Gruppen zur alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelt der Aktivist_innen. Ergänzend werden die Diskussionen möglichst an Orten durchgeführt, die den Teilnehmer_innen bekannt sind.3 5.1.2 Konzeption der Gruppendiskussionen Nachfolgend werde ich die Konzeption meiner Gruppendiskussionen vorstellen sowie auf die Durchführung und Auswertung der Datenerhebung eingehen. Vorbereitend zur Rekonstruktion der einzelnen Gruppendiskussionen resümiere ich anschließend kurz die durchgeführten Diskussionen. Leitfragen zur Vorbereitung der Gruppendiskussionen Ich habe für die drei Beispiele jeweils einen Diskussionsleitfragen entwickelt, der meine Forschungsfragen aufgreift und gleichermaßen an die Selbstbeschreibungen der Projekte anknüpft. Diese Leitfragen dienten vornehmlich der Vorbereitung und Durchführung der Gruppendiskussion. Für die Teilnehmenden waren sie Vorabinformationen, welche Fragen mich besonders interessieren. In der Situation der Gruppendiskussion fungierten die Leitfäden als Orientierungs- und Moderationshilfe. Es war nicht vorgesehen, die Fragen in einer bestimmten Reihenfolge zu stellen bzw. zu diskutieren. Themen, die nicht aus der Dynamik der Gruppendiskussion heraus zur Sprache kommen, sollten über gezieltes Nachfragen meinerseits in die Diskussion eingebracht werden.
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Die Diskussion über das Projekt Schwarzer Kanal wurde im Freien geführt, für schlechtes Wetter stand ein Gemeinschaftswagen zur Verfügung. Für die NewYorck bot sich ein Raum in der Veranstaltungsetage an. Die Diskussion über das Mietshäuser Syndikat fand in Leipzig in einem der Projekte statt.
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Mit der Entscheidung der Offenlegung der Fragen weiche ich vom üblichen Standard des Gruppendiskussionverfahrens ab. Ich halte diese Vorgehensweise für sinnvoll, da es meinem politischen Anspruch ebenso wie dem Selbstverständnis der Projekte entspricht. Ich möchte damit die Trennung zwischen Forscher_in und Beforschten aufweichen, da eine Intervention von Seiten der Diskussionsteilnehmenden bereits im Vorfeld möglich wird und ich meine Forschungsinteressen offen lege. Darüber hinaus ist dieses Vorgehen mit meiner queer-feministischen Perspektive vereinbar, derzufolge Meinungen und Positionen weder ad hoc entstehen noch authentisch abgefragt werden können, da sie immer von strukturellen Verhältnissen geprägt und von der konkreten Situation abhängig sind. Die Leitfragen wurden von mir in acht Kategorien unterteilt, die Bezug auf meine theoretischen Suchbewegungen nehmen (siehe Kapitel 3 & 4 ) und bei allen Projekten angesprochen werden sollen: Fragen nach der Idee und dem Selbstverständnis des Projekts (erstens), (zweitens) Fragen nach der Motivation und der Vision, die mit dem Engagement verbunden wird, (drittens) Fragen zur politischen Selbstverortung, (viertens) Fragen zum Kapitalismus-Begriff und dem Verständnis antikapitalistischer Politik (im Projektalltag), Fragen zum gelebten Demokratieverständnis (fünftens), (sechstens) Fragen zu den Ausschlüssen, die das Projekt produziert und zur Verwobenheit in Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, (siebtens) Fragen zum Umgang mit Widersprüchen sowie (achtens) Fragen zur Handlungsfähigkeit und der damit verbunden potentiellen Wirkmächtigkeit der Projekte. Diese Fragekategorien habe ich den Teilnehmer_innen nicht mitgeteilt, damit meine persönlichen Schwerpunktsetzungen die Diskussion weniger dominieren. Zu den Fragekategorien kamen noch Fragen und Differenzierungen hinzu, die sich auf das jeweilige Beispiel beziehen. Jeder Fragebogen endete mit der Frage nach weiteren Themen, Ergänzungen und/oder Punkten, die diskutiert werden sollen. Mit dieser offenen Frage sollten die Teilnehmer_innen ermuntert werden, eigenständig Aspekte in die Diskussion einzubringen (auch wenn sie von mir nicht forciert wurden). Durchführung und Auswertung der Gruppendiskussionen Die Gruppendiskussionen waren für ein bis zwei Stunden angesetzt. Es diskutierten jeweils mindestens fünf Projektmitglieder miteinander. Ziel war es, eine Diskussionsatmosphäre zu schaffen, in der sich die Meinungsvielfalt innerhalb der Projekte wiederfindet und gleichzeitig Gespräche initiiert werden, die sich nicht nur an der Oberfläche bewegen, sondern thematisch in
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die Tiefe gehen. Jede Gruppendiskussion wurde als audio-Datei gespeichert. Bildmaterial wurde nicht gesammelt. Die Entscheidung, kein Videomaterial zu verwenden, trägt erstens dem teilweise explizit formulierten Bedürfnis der Projekte nach Anonymität der Diskutierenden Rechnung. Darüber hinaus liegt es zweitens auch in meinem Erkenntnisinteresse begründet: Ich interessiere mich dafür, wie sich die Gruppe im Moment der Diskussion als Kollektiv ‚erfindet‘; ich will also die Momentaufnahme der Reproduktion der kollektiven Identität in seiner Vielfalt festhalten. Wie die Einzelnen als Individuen aufeinander reagieren und wer genau welche Position bezieht, ist deshalb zweitrangig für mich. Während der Gruppendiskussionen wollte ich wichtige Aspekte notieren und direkt im Anschluss der Diskussion ein Gedächtnisprotokoll schreiben. Bei der Durchführung der Diskussionen war mir die Konzentration auf das Gesagte jedoch wichtiger, so dass die Notizen sehr spärlich ausfielen. Die Audioaufnahmen habe ich anschließend vollständig transkripiert. Ursprünglich hatte ich gedacht, es genüge die Transkription von Schlüsselsequenzen. Letztendlich diente das gesamte Material – die Notizen, die Gedächtnisprotokolle sowie die Transkriptionen – der Analyse und Auswertung der Gruppendiskussionen. Resümee der durchgeführten Gruppendiskussionen An der Gruppendiskussion zum Mietshäuser Syndikat nahmen knapp 20 Menschen aus ca. 15 verschiedenen Projekten teil. Darunter befanden sich sowohl Projekte und Aktivist_innen, die die Anfänge des Syndikats miterlebt und mitgestaltet haben als auch Projektinitiativen, die noch auf der Suche nach geeigneten Objekten waren. Darüber hinaus beteiligte sich eine Person, die zu Vernetzungszwecken angereist war. Ihre Gruppe plant, die Idee des Mietshäuser Syndikats in Frankreich zu etablieren und an die dortigen gesetzlichen Regelungen anzupassen. Der Grad der Beteiligung am Mietshäuser Syndikat war sehr vielfältig. Manche waren als ehrenamtliche Berater_innen des Mietshäuser Syndikats tätig, andere nur über die Organisation des eigenen Hausprojekts am Verbund des Syndikats beteiligt, für manche Teilnehmer_innen war die Arbeit im Mietshäuser Syndikat die vornehmliche politische Beteiligung, andere hatten im Alltag politische Schwerpunktsetzungen, die in keinem direkten Zusammenhang zum Mietshäuser Syndikat stehen. Der Zeitpunkt der durchgeführten Gruppendiskussion lag sehr günstig. Zum Zeitpunkt der Anfrage gab es im Syndikatsverbund das Bedürfnis, eine Auseinandersetzung über die gemeinsamen Grundsätze zu führen. Meine
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Anfrage, eine Gruppendiskussion zu führen, wurde daher als Gelegenheit genutzt, diesem Bedürfnis im Rahmen der Veranstaltung Raum zu geben. Diesem Zufall geschultet ist vermutlich auch der Umstand, dass die zur Verfügung gestellten Fragen bereits im Vorfeld der Gruppendiskussion in einigen Projekten diskutiert wurden. Dementsprechend dicht und rege war die Diskussion. Nach einem spontanem Aufwärmspiel beschränkte sich meine Teilnahme an der Diskussion auf wenige Redebeiträge und die zeitliche Strukturierung.4 Da eine Person zu Beginn der Diskussion freiwillig die Redeleitung übernahm, wurden meine Redebeiträge nicht vorgezogen. Die Gruppendiskussionen mit Aktivist_innen aus der NewYorck im Bethanien und vom Schwarzen Kanal waren weniger gut besucht. Bei beiden Veranstaltungen waren jeweils weniger als 8 Menschen anwesend. An der Diskussion der NewYorck beteiligten sich maßgeblich Leute aus dem Wohnbereich. Beim Schwarzen Kanal fehlten Aktivist_innen aus der Projektgruppe, hier diskutierten auschließlich Wagenplatzbewohner_innen. Die Teilnehmenden der Diskussionen waren inhaltlich in geringerem Umfang vorbereitet, sie hatten sich im Vorfeld die Fragen durchgelesen, allerdings nicht darüber diskutiert. Die meisten Äußerungen der Teilnehmenden waren daher spontan und reagierten auf Fragen, die ich im Verlaufe der Veranstaltungen stellte oder auf Redebeiträge von Mitdiskutierenden. In diesem jeweils sehr kleinen Setting war es deshalb weitaus schwieriger, einen Gesprächsverlauf zu initiieren, der sich in weiten Teilen von alleine trägt. Ich führte daher in beiden Fällen das Gespräch teilweise aktiv. Trotz vergleichsweise ungünstigerer Rahmenbedingungen waren diese beiden Diskussionen sehr spannend und lehrreich. Zur weniger ausgeprägten Diskussionsfreude trug vermutlich bei der NewYorck eine interne Auseinandersetzung über das Thema Transphobie bei. Der Schwarze Kanal war nach seinem Umzug von der Michaelkirchstraße in die Kiefholzstraße erst kürzlich mit dem Aufbau der wichtigsten Infrastruktur fertig geworden, was vermutlich die Bereitschaft der Teilnehmenden zu einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung und Selbstreflexion über das Projekt verringerte.
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Zu Beginn habe ich spontan ein Aufwärmspiel mit den Anwesenden gespielt, da ich weniger Menschen erwarte hatte. In diesem sollten sie ihrer Sitznachbar_in erzählen, was sie als erstes unternehmen würden, wenn sie plötzlich in der Welt ihrer Träume seien. Mit dieser Murmelrunde sollten alle Personen ermuntert werden, die eigenen Gedanken mitzuteilen. Spiele dieser Art dienen dazu, die Angst der Teilnehmer_innen vor Redebeiträgen zu reduzieren und damit mehr Menschen in den Kreis der aktiv Diskutierenden aufzunehmen.
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Vermutlich war es bei den Berliner Projekten zudem auch deshalb schwieriger, aus einer Gruppen-Interviewsituation in eine rege Diskussion zu kommen, da der Fokus der Veranstaltung auf meinem Forschungsprojekt lag und nicht auch auf bereits vorhandene Bedürfnisse der Teilnehmenden reagierte. Festhalten möchte ich jedoch noch einmal ausdrücklich, dass die Offenheit der Mietshäuser Syndikatsmitglieder bezüglich meiner Anfrage aus Forscher_innenperspektive als ungewöhnlicher Glücksfall zu betrachten ist und daher zwangsläufig die anderen Gruppendiskussionen etwas in den Schatten stellt.
5.2 Rekonstruktion der Gruppendiskussionen Dieses Kapitel dient der Rekonstruktion der Gruppendiskussionen. Die einzelnen Diskussionen werden hierfür zu thematischen Schwerpunkten zusammengefasst, indem ich mich an den gesetzten Themenschwerpunkten ebenso wie an den Leitfragen orientiere. Die Reihenfolge der Themenschwerpunkte folgt entweder dem Gesprächsverlauf, der inhaltlichen Dichte der Redebeiträge oder dient dem Lesefluss. Diese Form der Auswertung gibt den Redebeiträgen der Aktivist_innen viel Raum. Die Verknüpfung der Diskussionsbeiträge zum theoretischen Rahmen der Arbeit findet im Wesentlichen auf der Ebene kurzer Verweise statt und dient der Vorbereitung auf das folgende Kapitel. Dort verknüpfe ich die Ergebnisse der Gruppendiskussionen mit den theoretischen Suchbewegungen und frage danach, was die Theorieproduktion von den untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen lernen kann. Im Folgenden werde ich daher die zentralen Ergebnisse der Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats (Kapitel 5.2.1 ), der NewYorck im Bethanien (Kapitel 5.2.2 ) und des Schwarzen Kanals (Kapitel 5.2.3 ) vorstellen. 5.2.1 Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats Aus dem Material zur Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats habe ich sechs thematische Schwerpunkte herausgearbeitet: Der Bezug zu Stadtentwicklung und die Auswirkungen auf die Nachbarschaft (erstens) verdeutlicht sehr anschaulich die inhaltliche Klammer der drei Praxisbeispiele. Hier wird diskutiert, welche Rolle das Mietshäuser Syndikat bezüglich Gentrifizierungsdynamiken und allgemeiner in Bezug auf Raum- und Stadtpolitiken einnimmt. Darüber hinaus finden sich in diesem Themenfeld Hinweise, wie Kollektivität und damit verbunden kollektives Handeln gefasst wird und
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welche Handlungsmöglichkeiten die Aktivist_innen trotz ihrer Einbindung in vorherrschende Prozesse städtischer Entwicklung und Verdrängung sehen. Zudem wird deutlich, wie wirkmächtig kapitalozentristische Perspektiven im Alltagsverstand der Menschen sind – auch im Alltagsverstand der Mitglieder des Mietshäuser Syndikats. Bei der Frage der Übertragbarkeit der Idee des Mietshäuser Syndikats (zweitens) stehen zwei Überlegungen im Zentrum der Diskussion. Einmal geht es nah am Mietshäuser Syndikat um die Frage, wie sich die Idee des Mietshäuser Syndikats auf kommunalen Wohnbestand und damit auf ‚klassische‘ Mietshäuser übertragen lässt. Zum anderen geht es um die weiterführende Frage, welche Auswirkungen die Syndikatsidee auf weitere gesellschaftliche Bereiche haben kann. Der Themenschwerpunkt Ausschlussproduktion: Das Mietshäuser Syndikat als potentielles Eliteprojekt (drittens) fragt im Wesentlichen danach, welche Ausschlüsse das Mietshäuser Syndikat in seiner aktuellen Struktur produziert und wie diese reduziert werden können. Wer sind die Menschen, die von den Aktivitäten des Mietshäuser Syndikats erfahren und welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um Teil der Syndikatsstruktur zu werden? Das Konzept des kulturelles Kapitals wird als eine notwendige Voraussetzung diskutiert, kulturelle Armut dagegen schließt Menschen von der Syndikatsstruktur tendenziell aus. Die Bildungsfunktion des Syndikats soll deshalb dazu beitragen, die Ausschlussproduktion zu veringern. Das Themenfeld Die Crux mit dem Privateigentum: Gründe für’s Gemeineigentum (viertens) thematisiert den Grundgedanken des Mietshäuser Syndikats: die Schaffung von Wohnraum in Gemeineigentum. Hier stehen die individuellen Beweggründe der Diskussionsteilnehmer_innen im Vordergrund. Warum haben sich die Menschen in und mit ihrem Wohnprojekt für die Schaffung von kollektivem Gemeineigentum und damit gegen die Übertragung der Immobilie in ihren Privatbesitz entschieden? Die von vielen geteilte Erfahrung, erst über das Mietshäuser Syndikat den Kauf von Immobilien als realisierbare Option ins Auge gefasst zu haben, wird hier sehr ausgiebig thematisiert. Die letzten beiden Themenfelder Selbstbestimmtes, kollektives Wohnen: Das Demokratieverständnis (fünftens) und Utopien: auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft (sechstens) verdeutlichen den anspruchsvollen Demokratiebegriff und die gesellschaftliche Relevanz der Aktivitäten im Mietshäuser Syndikat. Nach dem Verständnis der Diskussionsteilnehmer_innen kann das Mietshäuser Syndikat als Wegweiser und Experimentierfeld für eine zukünftige herrschaftsfreie Gesellschaft verstanden werden, indem das scheinbar Utopische bereits heute in den Mietshäuser Syndikatsprojekten tagtäglich Gestalt annimmt.
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Bezug zu Stadtentwicklung und Auswirkungen auf die Nachbarschaft Beim Themenstrang Bezug zu Stadtentwicklung und Auswirkungen auf die Nachbarschaft kommen drei Perspektiven zum Tragen. Die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion berichten von Veränderungen ihres persönlichen Handelns und Denkens (erstens), sie beschreiben den Einfluss von Syndikatsprojekten auf den Charakter der Nachbarschaft (zweitens) und diskutieren (drittens) ihre Rolle in Stadtentwicklungs- und Gentrifizierungsdynamiken. An verschiedenen Stellen der Diskussion berichten die Diskutierenden davon, dass persönliche Perspektivveränderungen, die mit ihrem Engagement im Mietshäuser Syndikat einhergehen, dazu beitragen, gesellschaftspolitische Zusammenhänge anders zu deuten oder verstärkt wahrzunehmen. Die Diskutant_innen sind sich darin einig, dass die Entscheidung für ein Engagement im Mietshäuser Syndikat die persönliche Wahrnehmung des Wohnumfeldes beeinflusst. So findet oftmals eine Sensibilisierung für Stadtpolitik statt, es werden neue Möglichkeiten für Stadtgestaltung gesehen, sowie öffentliche Plätze mit anderen Augen bewertet: „Seit wir uns entschieden haben [...] diese Wohnform zu wählen, gehe ich ganz anders durch die Stadt. Also, ich habe ganz andere Augen für öffentliche Plätze oder für Projekte oder für Möglichkeiten für Stadtgestaltung. Ich merke das total. Oder mir stoßen viel mehr Sachen in der Zeitung auf [...]: Wo wird was gemacht? Oder wo wird wirklich für die Bürger_innen was gemacht? [...] es öffnet oder mir öffnet es persönlich auf jeden Fall die Augen“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 23).5 Veränderungen im grundsätzlichen Charakter der Nachbarschaft werden damit begründet, dass die Wohnprojekte auffallen. Das weckt die Neugier der Nachbar_innen. Die Projekte gelten als exotisch, sind manchen ein Dorn im Auge, sie stellen die herrschende Ordnung in Frage, sorgen für Unruhe usw. Oftmals öffnen sich die Projekte in den Stadtteil hinein, indem sie ein kulturelles Programm anbieten und/oder Informationsveranstaltungen organisieren (z.B. zur Syndikatsidee, um neue Direktkredite einzuwerben,
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Ein weiteres Zitat: „Ich habe festgestellt, seit ich mich mit der ganzen Problematik Kollektiveigentum [...] auf dem Wohnungsmarkt auseinander setze, laufe ich immer durch die Stadt und denke ich: ‚Oh ein Haus, das sollte eigentlich auch Kollektiveigentum werden!‘“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 31).
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aber auch zu aktuellen stadtpolitischen Entwicklungen). Sie prägen damit das Bild der Nachbarschaft und bieten Raum für gegenseitiges Kennenlernen und Austausch. Der Bezug des Mietshäuser Syndikats zu Stadtentwicklung wurde im Wesentlichen über das Thema Gentrifizierung diskutiert. Die Mitwirkenden der Gruppendiskussion waren sich darin einig, dass Wohnprojekte des Mietshäuser Syndikats oft in Gentrifizierungdynamiken eingebunden sind. Sie schreiben sich darin die unfreiwillige Rolle als Pioniere zu und verweisen in ihrer Begründung auf das Alltagswissen über Gentrifizierung: „In dieser Gentrifizierungsdebatte wird immer darauf hingewiesen wer halt die Büchsenöffner für so runtergekommene Stadtteile sind, das sind natürlich Künstler und natürlich auch Alternativprojekte und ich glaube man darf da die Augen auch nicht davor verschließen. Das ist halt mal so.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 20) Die Projekte stellen sich spätestens mit beginnender Veränderung in der Nachbarschaft – das Viertel wird ‚gehypt‘ – die Frage nach ihrem Anteil in diesem Prozess. Die Teilnehmer_innen sind folglich mit dem Widerspruch konfrontiert, sich als unfreiwillige Gentrifizierungsagenten wahrzunehmen, obwohl das Syndikatsmodell von seiner Grundidee – Recht auf bezahlbaren Wohnraum für alle – kapitalistischen Prinzipien entgegen tritt. Die Schaffung von Kollektiveigentum, das dem Immobilienmarkt auf Dauer entzogen ist, verstehen die Diskussionsteilnehmer_innen als zentrales antikapitalistisches Moment des Mietshäuser Syndikats. Mit der Schaffung von Gemeineigentum sollen demnach Mechanismen im Bereich des Wohnens außer Kraft gesetzt werden, die kapitalistischen Logiken folgen. Allerdings bedeutet die Organisationsform des Mietshäuser Syndikats noch nicht, dass Syndikatsprojekte per se antikapitalistisch sind, wie eine Person kritisch anmerkte. Sie spricht allerdings dem Syndikat eine grundlegend politische Dimension zu, die antikapitalistische Züge trägt: „Zu der Frage nach der politischen Ausrichtung und wie das eventuell beibehalten wird: [...] In einem gewissen Rahmen, also in relativen Grenzen, ist einfach diese Form der Organisation schon politisch. Also es ist nicht so, dass es ein antikapitalistisches Projekt per se sei [...] Aber es ist schon so, dass es [...] mit dieser ganzen Eigentumsgeschichte, dem Ganzen einen bestimmten Dreh gibt. Und ganz egal wer da drin wohnt und wie sich die Leute zur Tagespolitik äußern, oder ob sie zu Demos
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gehen und was zu welchen, bleibt [dieses politische Moment] auf jeden Fall“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 10) erhalten. Als eine wesentliche Strategie, sich in Gentrifizierungsdyndamiken einzumischen, wird aktives politisches Engagement genannt. Darunter fassen die Diskussionsteilnehmer_innen Formate wie Informationsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen zum Thema Gentrifizierung und Veränderung in der Nachbarschaft durchführen, die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen (als Beispiel wurden Genossenschaften genannt), das Bereitstellen von Infrastruktur bis hin zu Versuchen, in die städtische Sanierungspolitik einzugreifen. Ein besonders wichtiges Anliegen ist es, dafür Sorge zu tragen, dass Verdrängungsmechanismen nicht greifen: „Weil eben die Uhr anzuhalten [...], das kriegen wir nicht hin und ich weiß auch gar nicht, ob wir das wollen, darüber diskutieren wir gar nicht.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 23) Exemplarisch für eine Intervention in Gentrifizierungsdynamiken steht die ‚Aktion Sperrminorität‘ (Sperrminorität, 2011) in Freiburg: Sie ist ein Nachfolgeprojekt eines Bürger_innenentscheids, der im Jahr 2006 eine dreijährige Sperrfrist für den Verkauf von kommunalen Wohnungseigentum bewirkte (WiM, 2009). Die Sperrminoritätsidee ist ein Versuch, einzelne Prinzipien des Mietshäuser Syndikatsgedanken auf die kommunale Wohnungsversorgung zu übertragen. Es soll eine rechtliche Konstruktion verabschiedet werden, die die Stadtbau GmbH – das städtische Wohnungsunternehmen – verpflichtet, preiswerten Wohnraum im Stadtgebiet zur Verfügung zu stellen sowie einkommensschwache Bevölkerungsteile mit Wohnraum zu versorgen. Im Aufruf zum Bürger_innenbegehren ‚Aktion Sperrminorität‘ wird auf das Ziel einer neuen Form der Bürger_innenbeteiligung hingewiesen, die sich explizit am Modell des Mietshäuser Syndikats orientiert: „Wir wollen durch einen neuen Bürgerentscheid in der Satzung der Freiburger Stadtbau GmbH dauerhaft verankern, dass der Mietwohnungsbestand erhalten und ausgebaut wird. Damit dieser Passus nicht wieder vom Gemeinderat gestrichen werden kann, erwirbt die Stiftung Unverkäuflich einen Geschäftsanteil der FSB [Freiburger Stadtbau GmbH]: Als Mitgesellschafter erhält sie ein Vetorecht gegen Satzungsänderung in diesem Punkt und gegen Wohnungsverkäufe, in Anlehnung an das Modell des Freiburger Mietshäuser Syndikats (www.syndikat.org).“ (Sperrminorität, 2009, S. 2) Im Redebeitrag, der die Aktion ‚Sperrminorität‘ thematisiert, wurde somit der Bogen gespannt von der Frage nach der Verwicklung in Gentrifizierungs-
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prozesse hin zur Frage der Übertragbarkeit der Prinzipien des Mietshäuser Syndikats, auf die ich im nächsten Unterabschnitt (Übertragbarkeit der Idee des Mietshäuser Syndikats) eingehen werde. Ein weiteres Beispiel für Einflussmöglichkeiten des Mietshäuser Syndikats auf stadtpolitischer Ebene – ebenfalls ein Freiburger Beispiel, das die mögliche stadtpolitische Relevanz von Syndikatsprojekten verdeutlicht – ist die Wahrnehmung des Syndikats als kollektiver politischer Akteur: So fragten in Freiburg Politiker_innen der Kommunalverwaltung im Zuge von Privatisierungsbestrebungen von städtischem Wohnraum, ob das Syndikat einen Teil des kommunalen Wohnungsbestand aufkaufen wolle. „Da wurde dann ganz flapsig in Freiburg am Anfang sogar von den GRÜNEN, die verkaufen wollten, gesagt: ‚Wollt ihr es nicht kaufen? [...] für 100 Millionen Euro?‘“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 21). Dieser Aussage folgte Gelächter, da das Syndikat weder dem Anspruch nach noch aus seiner heutigen Finanzlage heraus in der Lage wäre, solch eine Summe zu investieren. Zumal zu den Grundprinzipien die Selbstorganisation der Menschen zählt. Das heißt, die Dachorganisation Mietshäuser Syndikat handelt demnach nicht über die Köpfe der Bewohner_innen eines Hauses hinweg.6 Die Syndikatsstruktur bzw. das Verwaltungsbüro der Syndikats GmbH als potentiellen Investor anzusprechen, folgt genau genommen nicht (mehr) dem Syndikatsmodell. Allerdings, und das ist mir an dieser Stelle wichtig, zeigt das Beispiel auf, dass der Syndikatsverbund als ein ernstzunehmender Akteur wahrgenommen wird.7 An anderer Stelle bezieht sich ein Redebeitrag positiv auf den Effekt, einen kollektiven Akteur zu schaffen: Wir „verdienen alle nicht besonders viel Geld, könnten alleine wahrscheinlich nie so eine Geschichte hochziehen, aber gemeinschaftlich kann man das schaffen. Und auch Verantwortung aufteilen und [...] einen kollektiven Akteur schaffen, der irgendwie was schafft, was man als Einzelner nicht schaffen kann“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11).
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Eine potentielle Ausnahme stellt das Vetorecht bei Verkauf da, die Reprivatisierung von Immobilienbesitz in Kollektiveigentum verhindert werden soll.
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Inwieweit Freiburg eine besondere Rolle spielt, kann hier nicht bewertet werden. Dass die Kommunalpolitik evtl. einen anderen Bezug zum Syndikat hat, mag in der Entstehungsgeschichte des Syndikats begründet liegen und darin, dass in Freiburg die meisten Syndikatsprojekte zu finden sind. Mit der SUSI (2013) befindet sich dort auch eines der größten Projekte.
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Eine Form der Handlungsfähigkeit liegt aus Perspektive der Diskutierenden folglich im Moment der Kollektivität. Diese Kollektivität ist von einem solidarischen Grundprinzip getragen – im Zitat wird geteilte Verantwortung angesprochen, an anderer Stelle wird die Idee des Solidarverbunds rezipiert – und stellt sich gegen Vereinzelungstendenzen, wie sie neoliberalen Transformationen zugeschrieben werden. Als freiwilliger Zusammenschluss von Individuen sind diese folglich in der Lage, ihre Ideen von alternativen Formen des Lebens und Wohnens umzusetzen. Ein wesentliches Diskussionsmoment in Bezug auf die Verwicklung in Stadtpolitiken drehte sich um die Bewertung der Widersprüche und der daraus abzuleitenden Handlungsmöglichkeiten. Folgende Fragen lassen sich aus den Diskussionsbeiträgen herauslesen: Welche Chancen ergeben sich, Gentrifizierungsdyndamiken zu beeinflussen, wenn das Syndikat als stadtpolitisch relevanter Akteur wahrgenommen wird? Wie ist mit dem Widerspruch umzugehen, dass die Projekte Teil von Stadtentwicklungsprozessen sind oder zumindest sein können, die dem politischen Ziel des Syndikats entgegen stehen? Die Antwort auf diesen Widerspruch – antikapitalistische Gemeineigentumgenerierung versus Gentrifizierungsmotor – wird einhellig als eine politische Aufgabe verstanden. Es sei demnach notwendig, nicht die Augen zu verschließen, sondern sich aktiv in den Prozess einzumischen. Es reiche deshalb auch nicht, dafür Sorge zu tragen, dass innerhalb der Projekte keine Verdrängungsmechanismen (z.B. aufgrund von steigenden Mietpreisen)8 in Gang gesetzt würden. Vielmehr erfordert die Eingebundenheit in die stadtpolitischen Entwicklungen in den Augen der Diskussionsteilnehmer_innen einen explizit politischen Umgang mit der Thematik. Für meine Arbeit besonders interessant ist hier, dass der Widerspruch einen politischen Umgang erfährt und dass das gegen Verdrängung gerichtete stadtpolitische Engagement als eine Form demokratischer Bürger_innenbeteiligung gelesen werden kann. Darüber hinaus finde ich die Frage nach einer Übertragbarkeit auf andere Bereiche – hier konkret auf den Bereich der kommunalen Wohnraumversorgung – spannend, zumal sie im Falle der Aktion Sperrminorität in Freiburg auch noch als neue Form von Bürger_innenbeteiligung beworben wird. Eine Form der Beteiligung – Min-
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Die zu zahlende monatliche „Miete“ in den Projekten ergibt sich aus den Kosten des Kaufs der Immobilie, den zu erwartenden Renovierungs- und Sanierungskosten und orientiert sich am gültigen Mietspiegel – zumindest bei der Frage nach der Höhe des zu zahlenden Solidarbeitrags.
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derheitenbeteiligung durch Vetorecht bei Verkauf von städtischen Eigentum über die Stiftung Unverkäuflich9 – die nicht zu den gängigen Formen demokratischer Selbstorganisation zählt. Mit Hilfe der Stiftung Unverkäuflich soll damit das Einspeisen von Immobilien in den privaten Immobilienmarkt verhindert werden, das städtische bzw. kommunale Eigentum soll folglich bei der Kommune verbleiben. Damit erhofft sich die Initiative eine Möglichkeit des politischen Zugriffs auf die Verwendung der Wohnungsbestände im Sinne der Idee des bezahlbaren Wohnraums für alle. Diese Form der politischen Einflussnahme soll das Gemeingut Wohnraum sichern und unabhängig von kurzfristigen parteipolitischen Strategien und Wahltaktiken machen. Über die Bestandssicherung von kommunalem Wohnungseigentum hinaus ist die Stiftung beauftragt, zur Entwicklung von alternativen Formen solidarischen Wirtschaftens und neuen Verfahren der Bürger_innenbeteiligung beizutragen. Die treuhänderische Verwaltung der Stiftung Unverkäuflich wird vom Verein Aktion Sperrminorität e.V. geleistet (Sperrminorität, 2010). Bezugnehmend auf die berichteten Erfahrungen in Freiburg wurde in der Diskussion die Frage aufgeworfen, inwiefern die Syndikatsstruktur Gefahr läuft, Aufgaben zu übernehmen, die staatliche Aufgaben sind.10 Ist eventuell der Versuch, Syndikatsprojekte in städtische/kommunale Entwicklungspolitiken einzubinden, eine stadtpolitische Befriedungsstrategie? Wäre dann die Förderung von Syndikatsmodellen von Seiten der politischen Entscheidungsträger_innen ein Weg, um sozialstaatliche Aufgaben abzubauen, ohne gesellschaftlichen Widerstand/Protest hervorzurufen? Eindeutige Antworten auf die aufgeworfenen Fragen wurden nicht gefunden. So besteht auf der einen Seite große Angst vor einer Assimilation in die herrschenden Verhältnisse: „Inwieweit werden Projekte von der Umgebung quasi wieder assimiliert? Und werden wieder von dem ganz normalen System das drum’rum ist wieder aufgesogen?“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 29). In diesem Zitat kommt ganz deutlich das Alltagswissen über Kapitalismus zum Tragen, das
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Die Stiftung Unverkäuflich wurde im März 2010 gegründet (Stiftung Unverkäuflich, 2010).
10
„Inwieweit übernimmt so ein Mietshäuser Syndikat oder Leute, die da drin wohnen [...], Funktionen, die eigentlich der Staat übernehmen sollte? Und kann das sein, wenn es im größeren Maßstab passiert, sich der Staat zurückzieht und vielleicht das ein bisschen überlässt, der Eigeninitiative der Leute? Ist das positiv oder kann das auch negativ sein?“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 29)
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nach Gibson-Graham kapitalozentristische Züge trägt.11 Ein Verständnis von Kapitalismus, das dem System Kapitalismus die Macht zuschreibt, aus sich heraus widerständiges Handeln zu transformieren, so dass das ehemals widerständige Potential verloren geht. Mit der Sichtbarkeit der Projekte in der Öffentlichkeit, ihrer potentiellen Interaktion mit den Menschen aus der Nachbarschaft, lässt sich ein subversives Potential ausmachen. Die Abweichung von der bekannten Alltagsnormalität kann die Normalität selbst in Frage stellen und bietet Ansatzpunkte, das Wissen über die Realität zu verändern. Eine wichtige, wenn auch einfache Botschaft lautet somit: ‚Es geht auch anders‘. Anders formuliert, aus dem TINA-Prinzip (‚There is no alternative!‘) kann TATA entstehen: ‚There are thousand alternatives!‘. An dieser Stelle lässt sich ein weiteres mal explizit an die Überlegungen von Gibson-Graham anschließen. So beschreiben die Diskussionsteilnehmer_innen in ihren eigenen Alltagserfahrungen Mechanismen, die sich in den politics of the subject wiederfinden lassen. Gleichzeitig verweisen die Außenwirkungen in die Nachbarschaft auf politics of language, die durch die konkreten Versuche der politics of collective action in Gang gesetzt werden (können). Wie die obigen Ausführungen zeigen, sind Mietshäuser Syndikatsprojekte auf vielfältige Art und Weise in Stadtprozesse eingebunden. Welche Effekte sie im Einzelnen haben, ist dabei nicht klar zu beantworten. Was allerdings gewürdigt werden sollte, ist ihr Beitrag, alternative Möglichkeitsräume offen zu halten und/oder sogar zu eröffnen. Im Folgenden widme ich mich der Frage nach der Übertragbarkeit der Idee des Mietshäuser Syndikats, vornehmlich im Bereich des Wohnens. Übertragbarkeit der Idee des Mietshäuser Syndikats Bei der Frage nach der Übertragbarkeit der Idee des Mietshäuser Syndikats auf andere Bereiche des Lebens lässt sich eine Diskrepanz feststellen: Demnach gibt es für die Diskussionsteilnehmer_innen viele denkbare Möglichkeiten der Ausweitung, ihre praktischen Erfahrungen zeigen jedoch vor allem die Herausforderungen und Schwierigkeiten auf. So sind sich die Mitglieder des Mietshäuser Syndikats grundsätzlich einig, dass das Prinzip Syndikat nicht nur auf die Sicherstellung von bezahlbarem Wohnraum beschränkt ist: „Das Prinzip Syndikat [...] ist für mich nicht auf Wohnen beschränkt. Das ist für mich ein utopisches Moment“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 33). Was genau unter dem Syndikatsprinzip zu verstehen
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Vgl. Kapitel 3.1.1.
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ist, war nicht Teil der Diskussion. Eine anwesende Person verwies auf die Idee einer anarchosyndikalistischen Gesellschaftsordnung und warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie eine Vernetzung und gemeinsame Organisation selbstbestimmter Projekte aussehe könne, ohne auf basisdemokratische Entscheidungsstrukturen zu verzichten (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 34).12 In ihrem Alltag sehen sich die Aktivist_innen jedoch mit Problemen konfrontiert, die eine Übertragung des Syndikatsgedanken – so wie er in der Satzung des Mietshäuser Syndikats formuliert ist – auf andere gesellschaftliche Bereiche erschweren. Konkret wurde die Frage nach der Übertragbarkeit auf kommunalen Wohnungsbestand aufgeworfen und diskutiert, inwiefern in ‚klassischen‘ Mietshäusern das Syndikatsmodell angewendet werden kann. Als eine zentrale Hürde wurde in der Diskussion die Anforderung der Selbstorganisation angesprochen, die für viele Menschen ein Ausschlusskriterium darstelle. Erschwerend kommt aus Sicht der Diskutierenden fehlendes Wissen hinzu. So haben viele Menschen noch nie etwas vom Mietshäuser Syndikat gehört und es mangelt oftmals am Erfahrungswissen, wie große Mietseinheiten in Selbstverwaltung zu organisieren sind. „Für mich hängt das so ein Stückweit auch mit der Frage zusammen, ist das Prinzip des Mietshäuser Syndikats übertragbar? [...] Ich kann nur sagen, es ist eigentlich so nicht übertragbar. Es ist für die meisten Leute in ihren Mietshäusern nur theoretisch übertragbar, weil die meisten Leuten aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, so Projekte zu managen.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 21). Konkret zeigt die Erfahrung, dass Menschen in existenziellen Umbruchsituationen – Verkauf oder Abriss des bewohnten Mietshauses ist geplant – selten auf die Idee kommen zu sagen, ‚wir machen es selbst‘ (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 26). Es besteht in den Augen der Diskussionsteilnehmer_innen die Gefahr, dass der Versuch der Organisierung eines Hauses, das vor dem Verkauf steht, letztendlich ähnliche Gestalt annimmt wie bei Bau-
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Mit dem Begriff Anarchosyndikalismus wird die Organisation von Menschen in allen Lebensbereichen verstanden, die auf der Grundlage von gegenseitiger Solidarität, Selbstorganisation und Selbstbestimmung erfolgt. Das Syndikatsprinzip bedeutet demnach den Zusammenschluss von Menschen unter den drei genannten Prinzipien, mit der Idee, eine staats- und klassenlose, hierarchiefreie Kollektivordnung der Gesellschaft zu erringen.
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gruppen. Dort gibt es professionelle Personen, die letztendlich die organisatorische Verantwortung übernehmen und in einem Dienstleistungsverhältnis zu den (zukünftigen) Bewohner_innen stehen. Umso größer der Wohnkomplex ist, desto schwieriger wird es in der Regel für die Mieter_innen, in der konkreten Situation die Selbstorganisation des Hauses zu übernehmen und es in Eigenregie zu verwalten. In diesem Zusammenhang wurde von einem weiteren Freiburger Versuch berichtet, bei dem eine Siedlung aus den 1950er Jahren vor dem Abriss gerettet werden sollte. Der Kontakt zum Mietshäuser Syndikat entstand über persönliche Bekanntschaften. Woran letztendlich der Versuch gescheitert ist, wurde nicht berichtet. „Und zwar in Freiburg gab es die Spittelackerstraße. Das ist so eine 50er Jahre Siedlung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gewesen. Und das ist damals an einem Baggerloch gelegen. Und die hatten das Pech, dass dahin in den 80er Jahre die Landesgartenschau hinkam und der Seepark entstand. Und dann kamen die auf die Idee – diese einfachen Häuschen mit Garten, die Leute waren total glücklich, niemand wollte ausziehen. Und da kam die Stadt auf die Idee, dass man da Eigentumswohnungen hinmachen kann. Und da kam dann durch persönliche Kontakte, weil jemand – die wären wahrscheinlich glaub ich nie auf das Mietshäuser Syndikat zugekommen – die Initiative [ergriff]. Das war halt so ein Ex-Knacki, [...] der hatte mal in der Grether gewohnt und der hatte dann da [in der Spittelackerstraße] gewohnt. Und er kam auf die Idee, doch ins Grether zu gehen. Und dann haben wir das so begleitet, die Projektidee. Also wir haben sehr viel, also, Arbeit reingesteckt so zwei, drei Jahre. Alternativentwürfe und so ein Zeug gemacht. Das Ding ist dann gescheitert, es ist alles abgerissen worden. Und das war mal ein sehr weit gediehener Versuch so was zu machen“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 26).13 In dem obigen Zitat werden nicht nur die Probleme deutlich, sondern es wird implizit auch auf einen weiteren Aspekt des Selbstverständnisses verwiesen: der Bildungsauftrag des Mietshäuser Syndikats. Dieser wurde im
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Die Grether ist eines der ersten Mietshäuser Syndikate und wurde 1995 als Syndikatsprojekt gekauft (Grether, 2013).
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Verlauf der Diskussion explizit formuliert und wird im nächsten Abschnitt zur Ausschlussproduktion noch einmal aufgegriffen. Auch die bereits erwähnte Aktion Sperrminorität, die u.a. von SyndikatsAktivist_innen ins Leben gerufen wurde, stellt einen praktischen Versuch dar, grundlegende Ideen des Syndikats zu übertragen. Als gegen Ende der Diskussionsveranstaltung auf Eigeninitiative einer teilnehmenden Person über die Utopien geredet wurde, die die Menschen mit dem Engagement im Mietshäuser Syndikat verbinden, wurde die Frage der Übertragbarkeit noch einmal grundlegender aufgeworfen. Zu diesem Zeitpunkt fielen Begrifflichkeiten wie Dominoeffekt, Vorwegnahme des Richtigen im Falschen, ausbreiten, größer werden, übertragen usw., um zu verdeutlichen, dass die Versuche, eines möglichst hierarchiearmen und selbstverwalteten Zusammenlebens auch für andere Bereiche inspirierend wirken sollen (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 29ff.). Besonders hervorhebenswert war hier die Analogie von der Wohnorganisation ohne Vermieter_in hin zur Arbeitsorganisation ohne Chef_in. Ausschlussproduktion: Das Mietshäuser Syndikat als potentielles Eliteprojekt Eine Frage, die sehr viel Raum einnahm, war die Frage nach der Ausschlussproduktion innerhalb von Syndikatsprojekten und damit einhergehend die Frage, welche Außenwirkung und gesellschaftliche Relevanz das Mietshäuser Syndikat hat. Ein kennzeichnendes Merkmal der meisten Projekte ist eine relativ große Homogenität der Bewohner_innen. Bemerkenswert ist dabei der von den Diskussionsteilnehmer_innen wahrgenomme Wandel der Bewohner_innenstruktur innerhalb der Projekte selbst. Demnach stammten ursprünglich ein Großteil der Bewohner_innen aus der aktiven Besetzer_innenszene der 1980/1990er Jahre, die vielfach auch von obdachlosen Menschen und Punks getragen wurde. Mittlerweile lässt sich der überwiegende Anteil der Menschen der links-akademischen Alternativszene zuordnen. Die zu beobachtenden Homogenisierungstendenzen sind allerdings nicht das Resultat bewusster Entscheidungen, sondern Ergebnis schleichender Prozesse: „Was ich jetzt aus unserem Projekt doch so ein bisschen sehe, dass wir am Anfang die Tendenz hatten, thematisch belegte Wohnungen zu machen und [...] die Tendenz gerade ein bisschen abnimmt [...] Oder dass man [...] das wieder mehr ins Bewusstsein rücken muss, [...] eine stärkere Durchmischung zu machen. Weil, eigentlich ist das [konkrete Syndikatsprojekt] aus einem
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Selbsthilfeprojekt heraus entstanden [...] Teilweise geht es darum, [...] die Wohnform für sich selber zu verbessern [...] Und sonst war es immer so, wenn die Wohnung leer war, haben wir sie als weiteres vergeben [...] Sowas muss dann wieder neu als Beschluss [...] gefasst werden: Die nächste Wohnung die frei wird [...], wird wieder thematisch belegt“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 27f.). Trotz heftigen Widerspruchs einer Person, die KFZ Mechaniker_in gelernt hat, waren sich die Diskutierenden einig, dass die Wirkung des Mietshäuser Syndikats auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist. Viele Menschen – genannt wurden Erwerbslose, die z.B. „den Rückhalt [...] in einer Wohngemeinschaft vermutlich nochmal viel besser gebrauchen könnten als Leute, die meinetwegen studieren oder so“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 20) – haben demnach Schwierigkeiten, Teil der Syndikatsstruktur zu werden. Den Aktivist_innen wird in der Regel ein höherer Bildungsgrad, zumindest jedoch ein besonderes Maß an kulturellem Kapital zugeschrieben. Kontrovers diskutiert wurde in der Debatte die Frage, was genau der Begriff kulturelles Kapital bedeutet. Letztendlich bestand Einigkeit darin, dass es nicht auf den Bildungsgrad ankomme, auch wenn empirisch ein Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Engagement in Mietshäuser Syndikatsprojekten festzustellen sei.14 Wichtiger als der formale Bildungsgrad ist demnach die Zugehörigkeit zum linken Milieu: „Es geht auch gar nicht primär um Akademiker, sondern es geht auch eben um [...] politisches Bewusstsein, das sich dann darüber ausdrücken kann, dass du dich im linken Spektrum [...] verortest. Das ist auch eine Form von kulturellem Kapital“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 25). Formelhaft und mit einer gewissen Portion Ironie brachte es eine Teilnehmer_in auf den Punkt: „So ganz schematisch würde ich denken, hast du kein Kapital im Sinne von finanziellem Kapital und kein kulturelles
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„Das Entscheidende ist doch eigentlich [...] das man sich sich selber halt anfängt Gedanken dazu machen: ‚Was will ich eigentlich? Wie lebe ich gerade?‘ [...] Da ist das Studium keine Vorbedingung um so was machen zu können“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 24).
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Kapital, machst du Mietwohnung. Hast du kulturelles Kapital und kein Geld, machst du Syndikat. Hast du sowohl als auch, dann machst du Baugruppe“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 22). Die in diesem Zitat erwähnten Baugruppen wurden an mehreren Stellen in der Diskussion negativ bewertet und stehen symbolisch für aktive Gentrifizierer_innen. Ihnen haftet das Bild an, sie seien in der Lage, ihren Livestyle und damit verbunden ihre Art des Wohnens an angesagten Orten verwirklichen zu können. Der Zuzug dieser privilegierten Gruppe gehe mit massiven Verdrängungsmechanismen einher, da Grundstücks- und Wohnungspreise steigen und – der allgemeinen Wertsteigerung des Wohngebiets folgend – auch die Mieten teurer werden. In Verbindung mit der Diskussion um die eigene Verwicklung in Gentrifizierungsdyndamiken lässt sich aus der Aussage auch Unsicherheit herauslesen: die Frage nämlich, inwieweit Menschen in den Syndikatsprojekten nicht ähnliche Prozesse anstoßen würden wie die kritisierten Baugruppen. Einzig die finanzielle Ausstattung verhindere demnach die Gleichsetzung mit Baugruppen und den damit verbundenen Effekten. Allerdings wurde an vielen Stellen betont, dass mit dem Engagement im Mietshäuser Syndikat politische Entscheidungen verbunden sind, die eben nicht im Einklang mit der genannten Analogie zu bringen sind. Ein zentrales Beispiel dafür sind in den Gründen und Motivationen zu finden, die mit der Frage nach der Gemeingutgenerierung und der daraus folgenden Absage an Häuser in Privatbesitz verbunden sind. Auf die Thematik, Gemeingut zu schaffen, gehe ich im nächsten Abschnitt (Die Crux mit dem Privateigentum: Gründe für’s Gemeineigentum) ausführlicher ein. Eine Diskussionsteilnehmer_in bezeichnete kulturelle Armut als Ursache für indirekt wirkende Ausschlussmechanismen. Kulturelle Armut bezeichnet das Fehlen von kulturellem Kapital. Menschen müssen diesem Verständnis folgend überhaupt erst in der Lage sein, Ideen zu entwickeln und zu sagen, ‚wir machen es anders‘. Konkret erzählte eine Person von Mitschüler_innen der Tochter, die in Sozialbauten unter schlechten Bedingungen leben und deren Quadratmeterpreis über der Miete im Mietshäuser Syndikatsprojekt liegt.15
15
Eine weitere Person stellte an anderer Stelle die These auf, alle Menschen könnten zu 20% der üblichen Kosten zu Miete wohnen, wenn die Wohnraumversorgung generell über Syndikatsprojekte organisiert sei (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 32).
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„Wenn ich zum Beispiel an manche Kinder aus der Klasse von meiner Tochter denke, die ist 16. Da gibt es dann welche, die kommen aus Stadtteilen aus Lübeck, wo glaub ich solche Gedanken gar nie angekommen sind. Über solche Möglichkeiten von so einer Wohnform. Die wohnen in Scheiß Sozialbauten [...] unter beschissenen Verhältnissen für nicht weniger oder mehr Geld als [...] wir letztendlich zahlen [...] Von daher hat das schon was mit Elite zu tun. Also sich überhaupt für so was zu entscheiden, oder Menschen zu finden, so eine Community zu finden und zu sagen: ‚Ja ok, ich schließe mich da an, setz mich damit auseinander und will das auch‘“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 22). Wie den ungewollten Ausschlussmechanismen zu begegnen sei, blieb eine offene Frage. Neben dem Hinweis darauf, dass das Syndikat als Verbundstruktur auch eine Bildungsfunktion einnimmt, gab es wenig konkrete Lösungsideen. Demnach besteht der politische Anspruch, dafür Sorge zu tragen, Menschen in ihrem Bemühen zu unterstützen, ihre Wohnbedürfnisse selbst in die Hand zu nehmen. Dies geschieht sowohl über die Weitergabe von Wissen, sei es in den kostenlosen (Rechts-)Beratungen, auf Informationsveranstaltungen zur Idee und Funktion des Mietshäuser Syndikats etc. aber auch auf der Ebene, Menschen dazu zu befähigen, sich als Gruppe selbst zu organisieren. „Das heißt also, [...] dass die Leute, die diese Voraussetzung nicht mitbringen, dass die draußen bleiben. Das haben wir gerade in den Grundsätzen drinnen, würde ich behaupten, zumindest in der Aufnahme in das Syndikat [...] Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen Prozess, der die Leute vielleicht zu dem Punkt hinführt, dass sie so eine selbstorganisierte Gruppe bilden oder bilden können [...] Da kommen wir halt wieder genau zu der Bildungsfunktion eines Syndikats [...] Und die Grundvoraussetzung [sich selbst zu organisieren], [...] die existiert in den Gruppen, die du jetzt beschrieben hast oder in den Zusammenhängen, die existiert häufig gar nicht, vielleicht schon gar nicht als Idee. Nicht mal als Idee, dass es eine Möglichkeit ist.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 25) Am Ende der Gruppendiskussion wurde ein weiteres Ausschlussmoment erwähnt: Die Frage der Mobilität. Eingeschränkte Mobilität schließt Menschen von den Selbstorganisationsprozessen im Syndikatsverbund aus. Konkret
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genannt wurde als Beispiel der Besuch einer Mitgliederversammlung ebenso wie die im Rahmen des Verbundtreffens des Mietshäuser Syndikats stattgefundene Gruppendiskussion. Die Partizipationschancen sind folglich innerhalb der Syndikatsstruktur ungleich verteilt. Im Zuge dessen wurde auch festgestellt, dass der Anteil der weiblich sozialisierten Personen auf dem am Vortag stattgefundenen Berater_innentreffen ebenso wie bei der Gruppendiskussion gering war. Der Anteil lag jeweils bei ca. 35% (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 35). Die Frage, warum das Geschlechterverhälntis so ungleich war, wurde im Rahmen der Gruppendiskussion nicht mehr thematisiert. Der Hinweis auf die Ungleichverteilung der Geschlechter dient hier als Erinnerung, dass sich strukturelle Macht- und Herrschaftsmechanismen auch durch alternative Räume und Strukturen ziehen, auch wenn dort ein emanzipatorischer Anspruch formuliert wird. Die Crux mit dem Privateigentum: Gründe für’s Gemeineigentum Das Mietshäuser Syndikat ist durch das Leitprinzip der Idee des Rechts auf Wohnraum für alle geprägt. Das Recht auf Wohnraum erklärt aber noch nicht, warum privatem Immobilienbesitz eine Absage erteilt und stattdessen Gemeineigentum geschaffen werden soll. Die Frage nach den Gründen für die Schaffung von Gemeineigentum wurde auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet. Persönliche Alltagserfahrungen und der Verweis auf eine (reine) Werkzeugfunktion16 des Syndikats standen im Vordergrund, explizit politische Beweggründe wurden auch genannt. Insgesamt stand das Bemühen im Raum, dieser Frage möglichst wenig Bedeutung zuzusprechen. Diese Zurückhaltung der Diskussionsteilnehmer_innen ist insofern interessant, weil in der Außendarstellung – das heißt sowohl auf der Homepage (Mietshäuser Syndikat, 2013a) als auch in der Informationsbroschüre ‚Rücke vor zur Schlossallee‘ (Mietshäuser Syndikat, 2010a) – der antikapitalistische Bezug des Syndikats sehr deutlich hergestellt wird. Hier wird offensichtlich ein Unterschied zwischen den persönlichen Beweggründen und einer Präsentation in einer breiten Öffentlichkeit gemacht. Vielleicht mag ein Grund darin liegen, dass die Diskussion insgesamt viel selbstkritische Äußerungen enthielt. Eine Botschaft lautete: So politisch bzw. antikapitalistisch sind wir garnicht.
16
„Dass es [das Syndikat] für mich einfach ein Werkzeug ist, wo Räume entstehen können, die die Bewohner und Bewohnerinnen nutzen, wie sie es erstmal für richtig halten“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 8).
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Auf der anderen Seite findet sich in der Diskussion immer wieder der Verweis darauf, dass hierarchiefreies, selbstbestimmtes und kollektives Zusammenleben nicht in Einklang zu bringen ist mit (einer Ungleichheitsverteilung) von Privatbesitz. Eine Person erzählte in diesem Zusammenhang von ihrer Erfahrung als Hausbesitzer_in und den Schwierigkeiten – trotz großem Bemühen ihrerseits – die Hierarchie zwischen ihr als Besitzer_in und ihren (Mit-)Bewohner_innen aufzubrechen. Die Idee, ein selbstverwaltetes Hausprojekt mit dazugehörigem Bauwagenplatz zu schaffen ist in diesem Fall letztendlich an der genannten Kluft gescheitert (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 16f.). Allerdings stellt nicht nur die Hierarchie zwischen Besitzer_innen und Mieter_innen ein Problem von Eigentum dar. So beobachteten beispielsweise Diskussionsteilnehmer_innen das Phänomen, dass Auseinandersetzungen schnell eine besondere Härte einnehmen, sobald persönliches Eigentum betroffen ist. Ein Mensch berichtet in diesem Zusammenhang von Eigentümer_innenversammlungen, die sehr anstrengend sind, weil „die Härte der Diskussion [...] sich daran festmacht, [...] dass es eine andere Diskussionsebene ist, wenn es um’s Eigentum geht. Das macht irgendwas mit den Leuten“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 17). Für viele Diskussionsteilnehmer_innen standen für die Entscheidung, mit Hilfe des Syndikats Gemeineigentum zu schaffen, weniger die explizite Kritik an Eigentumsverhältnissen, sondern persönliche Beweggründe im Vordergrund. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung in gemeinschaftlichen Strukturen, die Chance etwas dauerhaftes zu schaffen und gleichzeitig die Freiheit zu haben, Projekte auch wieder verlassen zu können, waren vielfach zentrale Argumente für die Entscheidung, ein Mietshäuser Syndikatsprojekt in Angriff zu nehmen. „Wir haben als Gruppe da angesetzt, bei der Idee, wir wollen selbstbestimmt, gemeinschaftlich wohnen [...] Wir wollten es selbst gestalten. Wir haben lange überlegt und wir sind schnell zu dem Punkt gekommen, wir wollen das nicht besitzen, wir wollen das bewohnen und gestalten [...] Irgendwann [sind wir] über das Mietshäuser Syndikat gestolpert [...] Aber der Auslöser, so hab ich das Mietshäuser Syndikat auch verstanden, war ja erstmal sozusagen die Frage: ‚Wie organisiere ich das?‘“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 9f.). Die Idee, als kollektiver Akteur handlungsfähig zu sein und sich gleichzeitig nicht für den Rest des Lebens an ein kollektives Projekt zu binden, erfreut sich bei den Diskussionsteilnehmer_innen großer Beliebtheit, wie die folgenden Zitate exemplarisch zeigen:
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„Und es ist auch natürlich der Freiheitsgrad den ich habe, wenn ich [...] feststelle, die Struktur in unserem Projekt ändert sich [...] dann hab ich auch durch diese Struktur [...] ein leichte[s] zu sagen, dann suche ich ein anderes. Weil meine Existenz hängt da nicht drin, mein Eigentum oder mein was auch immer. Meine Energie und mein Herz hängt da dran. Aber wenn ich merke, das ist nicht mehr meins, dann bleibt da ’ne Idee, aber dann würde ich gehen können.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 17) „Der Gedanke, wo wir beim Syndikat gelandet sind: dass man halt einen Freiraum schafft, der auch über die eigenen Bedürfnisse hinaus besteht. Also, wenn ich [...] nicht mehr überzeugt bin, in diesem Projekt zu wohnen, dann kann das Projekt trotzdem weiter bestehen [...] Es ist also was Dauerhaftes, was da geschaffen wird. Das finde ich, das ist also das Positive daran an dem Kollektiveigentumsgedanken.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11) Neben dem Freiheitsgrad, wieder zu gehen – der nicht verwechselt werden soll mit dem vielfach postulierten Freiheitszwang neoliberaler Marktlogik – verbinden die Aktivist_innen auch ein Hinterfragen der herrschenden Normierung von Bedürfnissen. „Ich brauche eigentlich kein Eigentum, sondern ich brauche irgendwie einen Platz, wo ich wohnen kann. Also das ist [...] so ein Effekt, [...] dass ich so ein bisschen mehr darauf zurück komme: ‚Ok, das sind meine tatsächlichen Bedürfnisse‘“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 10f.). Mit dem Engagement im Mietshäuser Syndikat findet in diesem Sinne ein in Frage stellen der gängigen Orientierungsmuster statt. Die Frage nach dem Grundbedürfnis nach einem Platz zum Wohnen, kann dann anders beantwortet werden. „Allgemein ist es ja so, ok, wenn du irgendwo wohnen willst: Bausparvertrag, Geld verdienen, Kauf dir ’ne Eigentumswohnung und dann kannst du wohnen“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11). Diesem Alltagswissen steht die Idee von Kollektiveigentum entgegen. In Frankreich erläutern zum Beispiel die Aktivist_innen die Syndikatsidee mit dem „Konzept des Nutzungseigentum[s]“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 3). Das heißt, alle Menschen die in den Syndikats-Häusern wohnen, entscheiden selbst, wie sie dort leben wollen. Sie haben das alleinige Nutzungsrecht. Es ist ‚ihr‘ Haus, solange sie darin wohnen. Eine weitere Diskutant_in zieht
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eine Parallele zur Commons Debatte, die in seiner Lesart an die Vorstellung von Nutzungseigentum anschließbar ist: „Und das was du gesagt hast, mit dem Nutzungseigentum, dann fällt auf, dass das an eine andere Debatte auch anschließbar ist. Nämlich an die der Commons, also die der Gemeingüter. Das wir eigentlich eine Struktur basteln, vielleicht [...] wie bei Open Sources [...] Der Unterschied ist der, dass es sich um materielle Güter handelt [...] Wir schaffen eine Struktur, die von ganz vielen Leuten nutzbar ist, ganz unabhängig von ihren Eigentumsrechten. Und das finde ich eine ganz tolle Dimension, die da noch auftaucht.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 4) Die gemeinschaftliche Verfügung über Wohnraum folgt daher zwei Logiken. Auf der einen Seite lässt sich der Lebensalltag mit dem Slogan aus der Besetzer_innenszene beschreiben: ‚die Häuser denen, die drin wohnen‘. Auf der anderen Seite geht es darüber hinausgehend um die Schaffung einer kollektiven Struktur – dem Verbund des Mietshäuser Syndikats, dessen Aufgabe es ist, dafür Sorgen zu tragen, dass möglichst viele Menschen die Chance bekommen, vom Gemeineigentum ‚Wohnraum‘ profitieren zu können. Sei es, indem neue Projekte aus der Taufe gehoben werden, sei es, indem (Re-)Privatisierungen verhindert werden. Der Solidartransfer von Altzu Neuprojekten stellt darin eine anschauliche und auf Projektebene monatlich sichtbare Form der Umsetzung der Gemeingutgenerierung dar. Auf der persönlich-individuellen Ebene stellen nicht nur die bereits erwähnte Sicherheit – das Bedürfnis etwas auf Dauer zu schaffen – und die Unabhängigkeit – die Freiheit wieder gehen zu können – Beweggründe für die Schaffung von Kollektiveigentum dar. Für die konkrete Alltagsorganisation ist ein weiterer Aspekt zu nennen, der im Mietshäuser Syndikat eine erstrebenswerte Alternative zum Modell des Privatbesitzes sieht: Gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen braucht andere Raumstrukturen, als in klassischen Miet- und/oder Eigentumswohnanlagen zu finden sind. Große Gemeinschaftsräume, keine überflüssigen Bäder und Küchen sowie der Wunsch nach möglichst viel zusammenhängender Fläche und weniger kleinteiligen Einzelwohnungen lassen sich in nicht-kollektiven Eigentumsverhältnissen schlechter umsetzen. Kollektiveigentum, das nicht an die dort lebenden Individuen gebunden ist, erhöht demnach die Chance, flexibel auf sich ändernde Wohnbedürfnisse einzugehen und Veränderungen der räumlichen Strukturen vorzunehmen (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 18).
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Selbstbestimmtes, kollektives Wohnen: Das Demokratieverständnis Auffallend an der Diskussion, welchen Stellenwert selbstbestimmtes, kollektives Wohnen für die Aktivist_innen hat und welche Ideale sie damit verbinden, ist, dass sie mit Selbstverwaltung, Selbstorganisation bzw. Selbstbestimmung – alle drei Begriffe werden synonym gebraucht – sehr weitreichende politische Vorstellungen von kollektiven Formen der Entscheidungsfindung und der Organisation von Gesellschaft verbinden. Allerdings, und das wurde sehr deutlich artikuliert, verwenden sie die Begriffe in deutlicher Abgrenzung zum Demokratiebegriff. Demokratie wurde als Begriff einer „Hegemonialdebatte, wo jeder versucht Demokratie zu idealisieren mit seinen Formen dessen, was Ideal ist“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 15) kritisiert, der nicht per se etwas Gutes bedeutet. Gleichzeitig findet die Begrifflichkeit Basisdemokratie immer wieder Verwendung und ist im Gegensatz zu Demokratie positiv besetzt. Politischer Anspruch der im Syndikat tätigen Menschen ist es, für die Gemeinschaft relevante Entscheidungen in allen Bereichen des (Alltags-)Lebens in kollektiven Prozessen zu fällen, die von allen getragen werden. Das Konsensprinzip als Entscheidungsmodus wird darin bevorzugt; der Begriff Konsens wurde in der Diskussion mehrmals umschrieben aber nicht verwendet. „Also dieses selbstbestimmt hat für mich auch viel damit zu tun, [...] dass ich mich mit meinen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen [...] darüber austausche, wie ihre Vorstellungen [sind]. Und letztendlich, [...] dass wir dann zusammen eine Lösung finden, die für alle irgendwie ok ist. Das ist für mich was ganz Existenzielles, [...] das macht für mich eigentlich Leben aus“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 12f.). Allerdings ist ein selbstbestimmtes Leben nicht nur „viel Erleichterung in einem Alltag“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 16), sondern bedeutet auch Position beziehen und Verantwortung übernehmen. Selbstbestimmung ist demnach „nicht nur Zuckerschlecken“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 13f.) und „hat einen Preis, der da heißt mehr Verantwortung, das stimmt, und manchmal Stress [...] aber diesen [Preis] zahle ich allemal gerne“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 15), wie zwei Teilnehmer_innen konstatierten. Selbstverwaltung hat daher viele Bedeutungen; unter anderem das Versprechen, mehr Handlungsmöglichkeiten zu haben, die (freie) Wahl, mit welchen Themen sich Menschen in ihrem Alltag auseinandersetzen wollen und die Befriedigung des existenziellen Bedürfnisses, das Leben erst ausmacht (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 12ff u. 18).
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„Die Spanne irgendwie von einer Selbstorganisation geht dann bis dahin, dass ich denke, das ist die Vorwegnahme von so was wie ‚das Richtige im Falschen‘, ’ne. Gibt irgendwie ein Gespür davon, wie Gesellschaft sein könnte, wenn Menschen die konkreten Verfügungsmöglichkeiten haben“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 16). Ziel der Aktivist_innen ist es, einem herrschaftsfreien Zusammenleben möglichst nahe zu kommen. Als Motivation für das Interesse an Mietshäuser Syndikatsprojekten wurde „die Idee der Autonomie und der Verbindung zwischen den Menschen“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 13) genannt. „Das heißt, die hierarchiefreie Verbindung innerhalb des Projekts, aber auch [...] gegenüber anderen Instanzen wie Staat oder Vermieter“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 13). Auch wenn die Teilnehmer_innen während der Diskussion das Mietshäuser Syndikats positiv hervorheben, da es selbstorganisiertes und hierarchiearmes Zusammenleben fördert, indem die Selbstbestimmung der Projekte die Grundlage für die Struktur des Syndikats ist, sind sich die Teilnehmer_innen auch der strukturellen Grenzen bewusst. Auf einer rein organisatorisch, regulatorischen Ebene ist die Syndikatsstruktur eben kein Garant für mehr Selbstbestimmung in den Projekten. Die Aufnahme in den Syndikatsverbund setzt zwar eine selbstorganisierte Gruppe voraus, allerdings hat das Mietshäuser Syndikat keinen Einfluss auf die Alltagsorganisation in den Projekten: „Ich finde für die Selbstbestimmung hat das Syndikat nicht automatisch die Lösung [...], weil vieles sozusagen von den Leuten mit dem man dann direkte Beziehungen führt, abhängt“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 15). Trotz dieser Einschränkung – Selbstorganisation als Grundvoraussetzung und keinerlei Regulatorien, wenn innerhalb der Projekte Probleme auftreten – verbinden die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion mit dem Syndikat einen wichtigen Beitrag zu mehr Selbstbestimmung. So ist es ein Ort, an dem sie Gleichgesinnte treffen, die die Bedürfnisse nach Selbstorganisation und kollektiven Formen des Zusammenwohnens teilen. Utopien: Auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft Die Diskussion über die Utopien, die für die Teilnehmer_innen hinter der Syndikatsidee stehen, wurde zum Abschluss der Veranstaltung sehr rege geführt. Sie war Ergebnis meiner Frage nach Themen und/oder Fragen, die aus Perspektive der Diskutierenden im Laufe der Gruppendiskussion zu kurz kamen und/oder noch nicht angesprochen wurden. Im Wesentlichen zeichneten sich die Redebeiträge durch eine Kombination aus fernen
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Utopie-Zielen und konkreten Umsetzungsvorstellungen aus, die dem Alltag der Diskutierenden entlehnt sind. Allen Utopien gemein ist eine transformatorische Perspektive. Nicht ein revolutionäres Ereignis würde demnach die Gesellschaft verändern, sondern vielmehr eine „sehr sanfte Transformation“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 33). Wie bereits erwähnt, lässt sich als abstrakte Utopie der Teilnehmer_innen das Ziel einer befreiten Gesellschaft formulieren, die aus einer heutigen Perspektive nach anarchosyndikalistischen Prinzipien organisiert ist. Eine Person verwies in der Diskussion darauf, dass die gewünschte Überwindung der herrschenden Verhältnisse auch die Überwindung des Syndikats in seinen bestehenden Regeln bedeuten könne: „Wenn ich das so zu Ende denke, würde ich sagen, wäre das Ziel auch die Abschaffung des Syndikats. Weil es besteht aus formalen Mustern, und das wäre nicht mehr meine Utopie [...] Die Überwindung der herrschenden Verhältnisse würde bedeuten, die formale Struktur des Syndikats zu beenden“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 33). Allerdings solle das Formelle nicht zu gering geschätzt werden – wie eine weitere Person entgegnete. Sie stellte die Frage auf, ob die Frage nach Organisationsformen etwas anderes sei als die Frage nach etwas Formellen (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 35f.). Mit dieser Gleichsetzung greift sie die Diskussion über den transformatorischen Charakter des Syndikatsgedankens auf. Alle Anwesenden sahen als ein zentrales Element dieses Transformationspotential. So verbinden sie mit ihrem Engagement die Hoffnung, einen Dominoeffekt auszulösen (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 31). Demnach können die Erfahrungen im Bereich des selbstbestimmten Wohnens dazu führen, nach Formen des selbstbestimmten Arbeitens zu suchen und letztendlich Selbstbestimmung auf alle Lebensbereiche auszudehnen. Das Prinzip Syndikat beinhaltet demnach ein utopisches Moment, da es in allen gesellschaftlichen Bereichen Anwendung finden kann (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 33). Eng verknüpft mit der Utopie einer selbstbestimmten Gesellschaft ist die Vorstellung, dass mit mehr Selbstverwaltung in den verschieden Bereichen des Lebens weniger Hierarchien und Ausschlüsse einhergehen. Das heißt, die Übernahme von mehr Eigenverantwortung ist in der Vorstellung der Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion in einen kollektiven Prozess eingebunden, der auf gegenseitiger Solidarität basiert. Eine Person hält zum Ende der Veranstaltung fest, dass die Verwirklichung der Syndikatsidee für viele Menschen bereits im Bereich des Utopi-
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schen liegt und mit dem Engagement im Mietshäuser Syndikat Handlungsspielräume eröffnet werden (können): „Ich wollte nochmal [...] darauf hinweisen, dass das, was das Syndikat macht, für ganz viele Leute schon utopisch ist. Also, mir fällt immer mal wieder auf, wenn ich von Außenstehenden gefragt werde, was es denn bedeutet, was wir machen, was die Idee dahinter ist, dann sagen halt viele: ‚Mh, quatsch, das kann doch gar nicht funktionieren. Warum machst du das, warum findest du das gut?‘ Und ich denke, dass ist genau der Ansatzpunkt, wo man [...] Spielräume im Kopf freischalten kann und dadurch Handlungsspielräume irgendwie neu erschaffen werden.“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 34) Mit diesem Zitat, das auf die potentielle Wirkmächtigkeit widerspenstiger Alltagspraxen verweist, möchte ich die Rekonstruktion der Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats abschließen und mich der Diskussion der NewYorck im Bethanien zuwenden. 5.2.2 Gruppendiskussion der NewYorck im Bethanien Die Gruppendiskussion der NewYorck im Bethanien zeichnet sich durch vier thematische Schwerpunktsetzungen aus. Erstens diskutieren die Teilnehmer_innen das Selbstverständnis (NewYorck im Bethanien: Selbstverständnis), das sie mit der NewYorck verbinden. Die politischen Ansprüche, einerseits ein sehr offenes Projekt zu sein, dass auf niedrigschwelliger Ebene Menschen anspricht und auf der anderen Seite dem Bedürfnis nach einen Schutzraum vor homophober, rassistischer und sexistischer Diskriminierung Rechnung zu tragen, weisen auf den potentiell konfliktorischen Charakter des Selbstverständnisses hin. Der Schwerpunkt Demokratieverständnis: „Die Utopie, die wir alle haben, so ein bisschen lebbar zumachen“ (zweitens) setzt sich mit der Frage auseinander, was Selbstverwaltung bedeutet. Hier wird die Ebene des persönlichen Anspruchs an Selbstverwaltung ebenso herausgearbeitet, wie Konflikte und Widersprüche diskutiert werden, die sich aus der konkreten Selbstverwaltungspraxis des Bethaniens ergeben. Das Stichwort Kapitalismus: Gegenteil der eigenen Emanzipation (drittens) fasst die Hinweise auf das Kapitalismusverständnis der Diskussionsteilnehmer_innen zusammen. Hier ist das zugeschriebene Verhältnis zwischen neoliberalen Strukturen und konsumistischen Politikbetreibens von Interesse. Der vierte Schwerpunkt Kollektive Emanzipationsprozesse organisieren?: Widersprüche und Konflikte im Bethanien widmet sich
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den Herausforderungen, mit denen sich die Aktivist_innen in der NewYorck konfrontiert sehen. Im Fokus der Diskussion standen die Heterogenität der politischen Zielsetzungen und die Vielfalt der im Bethanien aktiven Gruppen, konkrete Ausschlüsse und Hierarchien sowie die Frage nach Pragmatismus und/oder Idealismus. NewYorck im Bethanien: Selbstverständnis Die NewYorck im Bethanien teilt sich räumlich in einen öffentlichen Bereich und einen Wohnbereich. Der Hauptteil der Diskussion drehte sich um den öffentlichen Bereich. An einigen Stellen wurde die Rolle des Wohnraums bezüglich des Veranstaltungsbereichs thematisiert. Im öffentlichen Teil des Gebäudes soll „niedrigschwellig Raum für verschiedene Projekte zur Verfügung“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 1) gestellt werden. Niedrigschwellig meint hier, dass es für externe Gruppen, Einzelpersonen, Initiativen etc. relativ einfach ist, das Bethanien zu nutzen. Dazu ist es notwendig, als Gast Anfragen auf dem Gesamtprojekteplenum (GPP) zu stellen, um beispielsweise eine einmalige Veranstaltung zu organisieren oder eine Theatergruppe zu gründen. Über das GPP koordinieren sich die Gruppen, die fester Bestandteil der NewYorck sind. Eine Intention des Projekts ist es, einen Ort zu schaffen, an dem „nicht-politische Leute durch das Haus politisiert“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 3) werden. Allerdings merkte eine Person an, dass die Frage, was als niedrigschwellig empfunden wird, abhängig von der Perspektive der Menschen ist. So vermutet sie, dass für viele Nachbarn das Projekt „gar nicht so niedrigschwellig [ist]. Sondern für die sind andere Räume, Kulturcafés usw. – selbst wenn die kommerziell sind – niedrigschwelliger. Für uns ist es zum Beispiel niedrigschwellig, dass es unkommerziell ist [...] Für andere Leute ist es vielleicht wichtiger, dass keine Plakate an den Wänden hängen, was für uns genau wichtig ist“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 4).17 Das Bethanien soll allerdings nicht nur ein offener Raum mit niedrigschwelligem Angebot, sondern gleichzeitig ein Schutzraum sein. Diese beiden Ziele stehen in einem konfliktiven Verhältnis zueinander, weil Offenheit meist auch mit mehr Unsicherheit einhergeht (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010,
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Diese Vermutung basiert auf Erfahrungen, die die Person im Zuge ihres Engagements im NewYorck gemacht hat. Ihr liegt der Kontakt in die Nachbarschaft und die Intervention in stadtpolitische Entwicklungen sehr am Herzen.
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S. 2). Da Offenheit und Fluidität in der NewYorck einen hohen Stellenwert besitzen, sind die Grundlagen der Zusammenarbeit sehr vage gehalten. Im weitesten Sinne betreiben alle Gruppen linke Politik und arbeiten nicht gewinnorientiert, sondern unkommerziell. Was der Projektezusammenhang genau unter linker Politik versteht, bleibt relativ offen. Im Verlaufe der Diskussion fallen die Selbstzuschreibungen wie linksradikal, antirassistisch, antisexistisch; andere Herrschaftsverhältnisse werden nicht explizit aufgezählt, allerdings wird auf die Unvollständigkeit der Aufzählung hingewiesen. Festzuhalten ist, dass sich die Diskussionsteilnehmer_innen nicht nur floskelhaft auf den Anspruch einer antirassistischen und antisexistischen Einstellung beziehen. Sie kommen immer wieder auf ihre Erfahrungen und Bedürfnisse in Bezug auf diese beiden Themen zurück. In der Frage Offenheit versus Schutzraum lässt sich eine Schwerpunktverschiebung feststellen. Stand zu Beginn der NewYorck die Verankerung im Stadtteil (Kiez) im Vordergrund, so hat sich das Projekt mittlerweile als ein linksradikaler Ort etabliert, der zwar offener ist als viele andere Szeneorte, allerdings aufgrund seiner klaren Zuschreibung als linksradikal von seiner generellen Offenheit etwas eingebüßt hat (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 3f. u. 8f.). Diese Entwicklung liegt jedoch nicht nur an der Etablierung als ‚Szenetreff‘, sondern auch an den Themen selbst. Der politische Schwerpunkt, Stadtpolitik zu betreiben, ist beispielsweise anschlussfähiger als andere Themen: „Bei Stadtteilpolitik [...] wird das Bethanien weiterhin ein Ort sein, wo sich Leute treffen [...] Und das ist auch ein Thema, wo man sich leicht mit Leuten verbinden kann. Aber es gibt auch andere Themen, da ist es auch schwieriger mit Leuten direkt vor der Haustüre auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 9). Demokratieverständnis: „Die Utopie, die wir alle haben, so ein bisschen lebbar zu machen“18 Die Diskussion über das Thema Selbstverwaltung nimmt in der Gruppendiskussion viel Raum ein. Die Verständigung über die Frage, was Selbstverwaltung heißen sollte und die Bewertung des Ist-Zustandes des selbstverwalteten Alltags im Bethanien wird in Teilen kontrovers geführt. Allgemein und positiv formuliert bedeutet Selbstverwaltung „dass ich über die relevanten Dinge, [...] die hier passieren und die dann auch für mein Leben wichtig
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Zitat aus der Gruppendiskussion (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 29).
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sind [...] in einem kollektiven Prozess entscheide“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 28). Die Diskussionsteilnehmer_innen gaben zu bedenken, dass die Möglichkeiten, Dinge selbst zu entscheiden, nicht gänzlich bedingungsfrei, d.h. ungebunden von externen Sachzwängen sind. Trotzdem sei es eine zentrale Idee von Selbstverwaltung, die Bedingungen der Zusammenarbeit gemeinsam festzulegen und wichtige Fragen in der Gruppe zu entschieden ohne das eine dritte Instanz – wie beispielsweise eine Chef_in – strukturierende Vorgaben macht und/oder die letzte Entscheidungsinstanz ist (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 29f.). Formale Hierarchien werden folglich zugunsten kollektiver Entscheidungsstrukturen abgelehnt. Eine Teilnehmer_in verweist auf die Gefahr, in einen förmlichen „Plenumsrausch“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 30) zu verfallen und eine Art „Zwangskollektivität“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 30) zu etablieren. Deshalb fügt sie als ein weiteres zentrales Moment von Selbstverwaltung das Kriterium der Freiwilligkeit hinzu: „Für mich ist Selbstverwaltung: Ich kann teilnehmen [...] Plus es sind viele Leute da, die dann auch verbindlich teilnehmen, also so eine kritische Masse. Aber [...] ich finde es darf halt nicht so ein Muss sein“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 30). Im Sinne des Moments der Freiwilligkeit plädiert der Redebeitrag dafür, die im Bethanien festzustellende Tendenz, dass ein Großteil der Selbstverwaltungsarbeit vom gleichen Kreis an Leuten erledigt wird, nicht per se als kritikwürdig zu bewerten. Ein Effekt dieser ungleichen Arbeitsverteilung ist, dass im Bethanien „einfach manches funktioniert“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 30) und nicht über das GPP koordiniert wird. Wenn Dinge ungeregelt funktionieren, dann ist das aus dieser Perspektive solange gut, wie sich alle Beteiligten wohl fühlen: „Und tatsächlich ist es bei mir so, dass ich auch denke: Wenn es läuft, das würde ich erstmal gar nicht so negativ sehen. Blöde ist es halt, wenn es läuft, weil Leute ganz viel machen, aber gar keine Lust haben so viel zu machen.“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 29) Die Frage, ob das Engagement Weniger und die in der Regel damit verbundenen informellen Hierarchien dem Ziel einer reibungslosen Selbstverwaltung, dem ‚Es funktioniert einfach‘ unterzuordnen ist, wird kontrovers und ergebnislos diskutiert. Neben der pragmatisch orientierten Einstellung, dass mit einer funktionierenden Selbstverwaltung Raum für Begegnungen zwischen Menschen geschaffen wird, der wiederum emanzipatorisch wirken kann, findet sich ebenso der Wunsch nach mehr Auseinandersetzung und Selbstreflexion nach innen. Eine Teilnehmende kritisiert in diesem Zusammenhang den zu findenden Pragmatismus: „Ich finde die NewYorck ist sehr pragmatisch organisiert [...] Das ist für mich keine richtige Selbstverwaltung wie sie so basisdemokratisch laufen sollte. Das ist eine Verwaltung von einer
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gewissen ‚Elite‘“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15). Stattdessen wirft sie die These in den Raum, ob die Frage, wie zusammen gearbeitet wird, eine politische Frage ist: „Und ist das nicht auch politisch? Wenn wir eine bessere Welt wollen, dann müssen wir gucken, wie arbeiten wir zusammen, ’ne?“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 18). Eng verbunden mit der Forderung nach mehr interner Gruppen-Selbstreflexion ist die Vorstellung von Selbstverwaltung, die ein Grenzen testen, Versuche machen – ihre Prozesshaftigkeit – in den Vordergrund stellt (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 22), und gleichzeitig auf der Suche nach machtsensiblen und herrschaftskritischen Kommunikationsstrukturen ist: „Eigentlich müsste man eine Form der Kommunikation und Entscheidungsfindung finden, die [den] Bedürfnissen [...] und auch der Unterschiedlichkeit von Menschen viel gerechter wird. Und auch die gesellschaftliche Positionierung noch mehr mit in den Blick kriegt“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 32). Die Frage nach der Effizienz von Entscheidungsstrukturen hat in diesem inklusiven und bedürfnisorientierten Demokratieverständnis wenig Priorität. Stattdessen wird mit der Idee eines Delegiert_innenprinzips eine Kleinteiligkeit gefördert, die es ermöglichen soll, Entscheidungsfragen mit Menschen auf einer Vertrauensebene zu diskutieren und dann im GPP kollektiv zu einer konsensfähigen Lösung zu kommen – ohne die zeitlichen Kapazitäten der Anwesenden zu überlasten. Im Bethanien wird das Delegiert_innenprinzip über ein monatlich stattfindendes Plenum (das GPP) umgesetzt. An diesem Treffen nehmen im Idealfall alle im Bethanien aktiven Gruppen und Initiativen teil. Zu Beginn des Treffens können externe Einzelpersonen, Gruppen, Initiativen etc. ihre Anliegen vortragen, die dann im Plenum (in Abwesenheit der Fragesteller_innen) kollektiv geklärt werden. Das GPP ist in erster Linie eine Struktur, mit deren Hilfe gemeinsame Organisationsfragen geklärt werden. Inhaltliche Fragen werden dann thematisiert, wenn es zu Kontroversen kommt. Bei Konflikten werden – je nach Bedarf und Motivation der Aktivist_innen – immer wieder Workshops zu bestimmten Themen angeboten. Diese Angebote haben rein appellierenden Charakter und sind nicht verpflichtend.19 Neben einer internen Organisation stellt das GPP folglich das Entscheidungsgremium dar, dass die Offenheit nach außen gewährleis-
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Ein Beispiel für einen thematischen Workshop ist die Auseinandersetzung mit Definitionsmacht-Konzepten, um sexistischen, trans- und homophoben gesellschaftlichen Strukturen eine reaktive Strategie entgegen zu setzen. Auslöser
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ten soll. Die Plenumstermine werden daher öffentlich bekannt gegeben und finden in einem regelmäßigen Rhythmus statt. Eine maßgebliche Alltagserfahrungen der Aktivist_innen ist, dass dieser anspruchsvolle Demokratiebegriff oft von äußeren Sachzwängen, fehlenden Kapazitäten aufgrund der Notwendigkeit, Lohnarbeitsverhältnissen nachzugehen, der Tendenz zu konsumistischem Politikverhalten20 , Versprechungen und Verpflichtungen neoliberaler Flexibilität und damit einhergehender mangelnder Verbindlichkeit, und einer „verständlichen Unwilligkeit, eigene Privilegien abzubauen oder zu hinterfragen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15) herausgefordert wird (vgl. auch NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14 u. 20). An den Diskussionsbeiträgen wird deutlich, dass sich die Diskutierenden bewusst sind, dass ihre (Erfolgs- und Misserfolgs-)Erfahrungen bezüglich des Wunsches, ihre „Utopie [...] ein bisschen lebbar zu machen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 29), von den gesellschaftlichen Machtund Herrschaftsverhältnissen geprägt sind.21 Ihr Ort ist nicht frei von ineinandergreifenden Herrschaftsverhältnissen, Privilegien sind nicht einfach zu verlernen, auch wenn das persönliche Engagement zu einer ‚besseren Welt‘ führen soll. Für meine Arbeit sind hier drei Aspekte besonders interessant: Die Diskussionsteilnehmer_innnen teilen die queer-feministische Annahme, Herrschaftsverhältnisse seien miteinander verschränkt und beeinflussen Subjektund Identitätsbildungsprozesse (erstens). So ist zum Beispiel die Kommunikation in Plenumsstrukturen voraussetzungsvoll, verlangt diszipliniertes Verhalten und ist nicht frei von Hierarchien und Macht: „Das Plenum ist auch nicht so direkt der Ort, an dem Hierarchien besonders gut abgebaut werden können“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 31). Gleichzeitig herrscht zweitens Einigkeit darüber, dass kapitalistische Strukturen sehr wirkmächtig sind und dadurch die Organisierung kollektiver Strukturen erschwert wird. Das Alltagswissen über die Logiken ka-
des Konflikts waren die Fragen des Verständnisses von und Umgangs mit Transphobie. Die Workshops fanden im Frühjahr 2011 statt. 20
Unter „Konsumverhalten in Bezug auf Politik“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 20) verstehen die Diskutierenden die zu beobachtende Tendenz, dass viele Aktivist_innen schnell und oft ihr Engagement in Projekten wechseln. Kontinuierliche, verlässliche Arbeit wird dadurch erschwert.
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„Rassistische, sexistische [...]; diskriminierende gesellschaftliche Strukturen. Strukturen, die gesellschaftlich vorhanden sind. Bei uns auch“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 37).
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pitalistischer Strukturen und die Erfahrung darin persönlich verfangen zu sein, zeigt sich auch in der Bedeutung, die sogenannten Sachzwängen zugesprochen wird. So wurde die Frage danach, wie die Forderung nach einer Selbstverwaltung umgesetzt werden könne, die über ein reines Verwalten hinausgeht, immer wieder verschoben. Zuerst wurde sie dem Ziel der Legalisierung der NewYorck untergeordnet, später waren es die Vereinbarungen im Vertrag mit der Gesellschaft für Stadtentwicklung (GSE), die in der SVAG (Selbstverwaltungs-Arbeitsgruppe) professionelles Handeln und Auftreten zur Priorität werden ließ. Die Frage danach, was Selbstverwaltung für die NewYorck bedeutet, fand wenig Raum. Dieser Prioritätensetzung widersprach der anfänglichen Hoffnung vieler Aktivist_innen, mit der Legalisierung den Zeitpunkt erreicht zu haben, sich vermehrt den inhaltlichen Fragen eines emanzipatorischen Zusammenlebens und -arbeitens zu widmen: „Und bei dem ersten Treffen von dieser SV AG [...] saß ich eben da und dachte: Ok, jetzt ist die Chance! Jetzt müssen wir mal irgendwie ganz tief durchatmen und jetzt müssen wir mal überlegen und jetzt schaffen wir uns Raum! Und jetzt laden wir alle, alle Projekte ein! Und jetzt fragen wir diese: ‚Ey, jetzt haben wir den Raum und das ist unser Raum, und was wollen wir damit machen?‘ Und dann habe ich angefangen, ganz wild irgendwelche Zettel zu schreiben und Einladungen von wegen: ‚Ein Freiraum, was bedeutet das für dich? Der ist frei von was und frei wofür?‘ [...] Und das ist so schnell abgewiegelt worden“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 17). Zusammenfassend lässt sich drittens für das Demokratieverständnis der Aktivist_innen im Bethanien festhalten, dass der Balanceakt, den Widerspruch zwischen Ideal und konkreter Praxis konstruktiv zu politisieren, viel Arbeitsaufwand bedeutet und immer wieder scheitert. Ungelöst bleibt die Frage danach, wo Pragmatismus und Akzeptanz der herrschenden Strukturen dem Projekt dienlich sind und wo „unglaublich viel Chancen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 2) vertan werden, weil „die politische Philosophie“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 16) zu wenig verfolgt und gefragt wird: „Ist es denn wirklich so wie es sein sollte oder läuft es einfach nur gut?“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 16). Wie lässt sich die politische Philosophie einer funktionierenden Selbstverwaltung zusammenfassen?: Wichtige Fragen des Zusammenlebens und -arbeitens sollen in kollektiven Entscheidungsstrukturen basisdemokratisch und konsensual geklärt werden. Das Kriterium der Kleinteiligkeit soll in-
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formelle Hierarchien abbauen und machtsensible sowie herrschaftskritische Kommunikation erleichtern. Formale Hierarchien werden abgelehnt. Der Anspruch, macht- und herrschaftskritisch zu kommunizieren und zu entscheiden, erfordert auch die Bereitschaft, selbstreflexiv (Entscheidungs)Strukturen zu hinterfragen und offen für Veränderungen zu sein (Kriterium der Prozesshaftigkeit). Dieses inklusive und bedürfnisorientierte Demokratieverständnis beinhaltet auch das Kriterium der Freiwilligkeit: Alle können Teil der kollektiven Entscheidungsstrukturen sein, müssen sich aber nicht immer aktiv in den Prozess einbringen. Kapitalismus: Gegenteil der eigenen Emanzipation In der Gruppendiskussion wurde die Frage, was Kapitalismus ist und inwiefern die NewYorck als ein antikapitalistisches Projekt zu verstehen ist, nicht diskutiert. Aus den Redebeiträgen lässt sich schlussfolgern, dass das Alltagswissen über Kapitalismus dem Bild entspricht, wie es von GibsonGraham sehr anschaulich gezeichnet wurde. Lohnarbeitsverhältnisse als ein ‚Gegenteil der eigenen Emanzipation‘ (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14) rauben vor allem viel Energie, die den Aktivist_innen für das Engagement im Bethanien fehlt. Emanzipatorische Prozesse leiden demnach unter diesem Herrschaftsverhältnis und erfordern ein gewisses Maß an Pragmatismus (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Pragmatismus meint in diesem Zusammenhang, im Eingeständnis der Verstrickung in die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse den politischen Anspruch an autonome Selbstverwaltung im Bethanien den Möglichkeiten anzupassen. Ich werde im nächsten Abschnitt Kollektive Emanzipationsprozesse organisieren?: Widersprüche und Konflikte im Bethanien das Thema Pragmatismus und/oder Idealismus nochmal aufgreifen und inhaltlich vertiefen. Ich finde es interessant, dass viele Redebeiträge, die das Thema Kapitalismusverständnis erwähnen, die Tendenz zu unverbindlichem ‚ProjekteHopping‘ mit neoliberalen Veränderungen kapitalistischer Strukturen in Verbindung setzen. Eine teilnehmende Person spricht in diesem Zusammenhang von konsumistischem (Politik-)Verhalten (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 20). Aus ihrer Perspektive liegt ein Grund für die Attraktivität des wechselhaften Engagements in verschiedenen politischen Projekten und Themen darin, dass das utopische Ziel, ‚das ganz Andere‘, weit weg ist und gleichzeitig in einer neoliberal geprägten Gesellschaft „totale Beschleunigung“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 20) und Druck herrschen sowie konsumistische und vereinzelte Verhaltensweisen gefördert werden. Neoliberale Veränderungen werden in der Gruppendiskussion jedoch nicht nur
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negativ bewertet, mit Neoliberalismus verbindet ein Redebeitrag beispielsweise viele Möglichkeiten, die den Einzelnen geboten werden (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 20). Auf der praktischen Ebene finden sich im Bethanien Ansätze, die über kapitalistische Austauschverhältnisse hinausweisen. Es ist ein Ort, an dem ein solidarisches Miteinander geübt werden kann und der Besuch von Veranstaltungen nicht an den finanziellen Möglichkeiten der Besucher_innen scheitern soll. Zuletzt arbeiten die Gruppen im Projektezusammenhang alle unkommerziell und auf freiwilliger Basis. Das heißt, der Projektezusammenhang ist darum bemüht, die kapitalistischen Herrschaftsmechanismen möglichst zu unterwandern und solidarische Alternativen zu entwickeln. Die Arbeit im Bethanien wird in diesem Sinne vom Ideal getragen, „dass die Leute sehr passioniert an ihrer eigenen und der weltweiten Emanzipation arbeiten“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Dieses Zitat weist nicht nur auf das ehrgeizige Ziel der Aktivist_innen hin, sondern verweist auf eine zentrale Problematik, mit der sie in ihrem Alltag immer wieder konfrontiert werden: Die Frage nach kollektiven Emanzipationsprozessen. Diese sind Thema des folgenden Abschnitts. Kollektive Emanzipationsprozesse organisieren?: Widersprüche und Konflikte im Bethanien Wie lässt sich folglich der Wunsch nach kollektiven Emanzipationsprozessen vorantreiben, wenn der „Mikrokosmos NewYorck“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 11) von gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen durchzogen ist? Um mit dem Bild von Friederike Habermann (2009b) zu sprechen: Wieviel Insel sollte die Halbinsel Bethanien sein und wie groß und und offen ist der Zugang zum Festland? Und welche Bezugsgröße ist das Festland genau? Andere linksradikale Orte? Die Gesellschaft, deren fester Bestandteil immer auch Projekte sind, die gesellschaftliche Alternativen denken und leben möchten? Im Folgenden werde ich auf drei Aspekte eingehen, die in der Gruppendiskussion im Zusammenhang mit der Thematik ‚kollektive Emanzipationsprozesse und Widersprüche im Alltag‘ diskutiert wurden: Heterogenität der Gruppen und Ziele, Ausschlüsse und Hierarchien sowie Pragmatismus und/oder Idealismus. Heterogenität der Gruppen und Ziele Wie bereits zu Beginn des Kapitels kurz angerissen, ist es Ziel der NewYorck, einen offenen Raum zu stellen, der die Infrastruktur für unterschiedliche Gruppen und Initiativen bereithält. Das Ziel der Schaffung eines selbst-
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verwalteten sozio-kulturellen Zentrums, das nah an den Bedürfnissen der Nachbar_innen agiert, bildete mit der Besetzung des Südflügels und damit zu Beginn des Projekts den Schwerpunkt der politischen Tätigkeiten. Die Mischung zwischen „eher linksbürgerlicher, linksliberaler [...] [und] autonomer Szene“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 7) in der IZB führte letztendlich dazu, dass zwar mit der Räumung des Hausprojekts in der Yorckstraße ein langjähriges Projekt endete, aber fast zeitgleich ein größeres Projekt erfolgreich ins Leben gerufen wurde. Diese Heterogenität findet sich nach wie vor in der NewYorck wieder: „Und ich finde das hier besonders toll, weil hier so viele verschiedene Leute zusammenkommen. Auch wenn es oft ein Problem ist und auch eine Herausforderung [...] [ist], es aber auch schöne Seiten hat [...], dass dann so Berührungspunkte entstehen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 22). Die NewYorck als politisierender, in die Stadt intervenierender und die Nachbar_innen integrierender Ort ist demnach nicht konfliktfrei mit dem Bedürfnis in Einklang zu bringen, tiefergehende Emanzipationsprozesse im Kleinen zu ermöglichen. Ungeklärt bleibt in der Diskussion die Frage, wie der Wunsch nach einer breiten Außenwirkung – zum Beispiel die Etablierung des Bethaniens als Stadtteilzentrum – mit der Hoffnung auf eine verstärkte linksradikale Vernetzung und gemeinsame emanzipatorische Weiterentwicklung zu vereinbaren ist: „So dieser Widerspruch zwischen [...] ein richtiges Stadtteilzentrum hier zu sein oder so ein Anlaufpunkt für [...] Problematiken hier im Alltag, für die [emanzipatorischen] Kämpfe, die hier stattfinden oder stattfinden sollten. Und das Gegending oder das, was dann oft meine Erfahrung ist, dass das halt zu Lasten von Menschen oder Prozessen geht [...], [die] in bestimmten emanzipatorischen Prozessen an einem anderen Punkt sind. Die [...] [bestimmte] Diskussionen um Emanzipation tiefergehender und umfassender geführt haben.“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 36f.). Eng verbunden mit dieser Frage ist die Schwierigkeit, neue Leute aktiv in den bestehenden Konsens einzubinden, ohne inhaltlich an der Oberfläche zu bleiben, indem bestimmte Label (antirassistisch, antisexistisch usw.) postuliert, aber kaum inhaltlich ausgefüllt werden. Dieser Widerspruch zwischen Öffnung nach außen und Weiterentwicklung nach innen beinhaltet ein großes Frustpotential bei den Aktivist_innen.
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„Also das ist [...] auf jeden Fall eines meiner Frustmomente hier, das mit diesen ganzen Labeln. Antirassistisch steht ja hier ganz groß bei der NewYorck [...] Aber im Endeffekt wird das nicht ausgefüllt. Das ist halt echt ein Label, was auf der schwarzen Tafel pappt und nicht konkret umgesetzt wird. Und da finde ich, da müssten wir oder das Projekt sich ernster nehmen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 13). Eine Teilnehmer_in der Gruppendiskussion fasst die Problematik mit der Bemerkung zusammen, dass zum Engagement in der NewYorck eine gewisse Leidensfähigkeit gehört. Die Bereitschaft also, immer wieder Gruppenprozesse anzustoßen und mit zu tragen. Das heißt folglich auch, Themen immer wieder neu zu diskutieren, um dafür Sorge zu tragen, dass gewisse emanzipatorische Prozesse und Positionen nicht verloren gehen und neue Menschen in die kollektiven Emanzipationsprozesse eingebunden werden (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 37). Dass diese Widersprüche im Mikrokosmos NewYorck nicht zu lösen sind, ist den Teilnehmer_innen bewusst. Zumindest wird der politische Anspruch formuliert, diese konfliktträchtigen Ziele besser in Einklang zu bringen (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 37). Ausschlüsse und Hierarchien Wie in den vorherigen Ausführungen bereits angerissen wurde, ist das Bethanien nicht frei von Ausschlüssen und Hierarchien. Das beginnt mit der Frage, wer die Räumlichkeiten für die eigenen Aktivitäten nutzt, was als niedrigschwelliges Angebot wahrgenommen wird und reicht bis hin zu Hierarchien innerhalb des Projektezusammenhangs selbst. Die Diskrepanzen zwischen Schutzraumbedürfnis und offenem Freiraum beinhalten daher immer auch die Frage nach Ausschlüssen: Wer soll mit dem Raum angesprochen werden und wo liegen die Grenzen? Was sind folglich die Regeln, die einzuhalten sind, damit der Freiraum als solcher existieren kann? In der Gruppendiskussion wurde beispielsweise die informelle Hierarchie zwischen Bewohner_innen und Projekten kritisiert. Die Bewohner_innen empfinden demnach mehr Verantwortungsgefühl und mehr Druck auf ihren Schultern, gleichzeitig haben sie aber auch eine größere informelle Entscheidungsmacht: „Es ist halt oft so, dass der Wohnbereich doch einen ganz dollen Einfluss hat [...], der Wohnbereich eigentlich mehr bestimmt. Was eigentlich nicht so sein sollte.“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 5) Darüber hinaus ist das Bethanien in der Regel weiß dominiert. Zum Beispiel wird auf dem GPP nicht immer gedolmetscht, obwohl selbstorga-
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nisierte Migrant_inneninitiativen wie z.B. die ARI oder das Latino Kino fester Bestandteil der NewYorck sind und das Engagement gegen rassistische Ausgrenzung innerhalb des Projekts hohe Priorität einnimmt (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15). Die Gruppendiskussion war ebenfalls ein weißer Raum, dort zählte die Mehrheit der Anwesenden zu der Gruppe der Bewohner_innen. Wie homogen und ‚nicht-weiß‘ der Wohnbereich im Vergleich zu den Projekten im öffentlichen Bereich zusammengesetzt ist, wurde nicht thematisiert. Diese Frage könnte vermutlich Anhaltspunkte bieten, ob ein Zusammenhang zwischen der generell weißen Dominanz und der hervorgehobenen Position der Bewohner_innen besteht. Aufgrund der bereits angesprochenen Heterogenität der Gruppen und Ziele im Bethanien existieren Meinungsverschiedenheiten, welche Themenfelder politisch besonders wichtig sind. So empfindet eine Person den Kampf gegen Transphobie beispielsweise als „unterbelichtet“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15) und als etwas, das oft ins Private abgeschoben wird. Stadtteilpolitik demgegenüber erfährt einen viel höheren Stellenwert. Die Frage also, was als politisch gilt und welche Prioritäten zu setzen sind, ist umstritten.22 In dieser Frage lassen sich alte gesellschaftliche Trennungen und feministische Kämpfe um die Unterscheidung zwischen Privat und Öffentlich wiederfinden. Beispielsweise fühlt sich eine Person „auf Arbeit noch mehr gegendert als hier im Projekt. Aber das heißt nicht, dass ich mich hier nicht gegendert fühle“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Die zwei genannten Beispiele zeigen, dass im NewYorck queer-feministisches Themen diskutiert werden, diese allerdings auch gegen Widerstände durchgesetzt werden müssen. Die gesellschaftlich dominante Unwilligkeit, Geschlechterverhältnisse als Macht- und Herrschaftsmechanismen zu begreifen, spiegelt sich im Bethanien wider. Allerdings finden dort auch Veränderungen und Suchbewegungen statt. So führte eine Auseinandersetzung nach einem transphoben Vorfall letztendlich dazu, dass ein mehrtägiger Workshop zur Thematik ‚Definitionsmacht‘ als projektinterne Veranstaltung durchgeführt wurde (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 12f.). Ein Grund für die tendenzielle Bevorzugung stadtpolitischer gegenüber feministischer Themen liegt sicher auch in der Entstehungsgeschichte des Projekts begründet. Wurde doch das Haus in einer konkreten stadtpolitischen Auseinandersetzung besetzt: Das Hausprojekt Yorck59 wurde geräumt und es fehlten Ersatzobjekte zu ak-
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„Von daher gilt hier so eine normale Sicht auf was ist jetzt überhaupt politisch. Da gibt es auch so Hierarchien, was dann als politisch angesehen wird. Oder was als wichtig angesehen wird“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15).
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zeptablen Konditionen. Das heißt, es ging darum „halt überhaupt so Raum zu haben. Also einfach wirklich so Räume, ganz handfest, Räume, die man anfassen kann und nicht jedesmal [...] mieten“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 23) muss. Ein weiteres Beispiel für Ausschlüsse und Hierarchien ist das Engagement für die Legalisierung des Projekts und später für die Einhaltung der Vertragspflichten. Es führte zu Professionalisisierungsdynamiken. Im konkreten Fall unterstützten der Druck von außen und Sachzwänge vorhandene Dynamiken, die eine bestimmte Form der Professionalität hervorrufen. Diese geht mit der Aneignung von Spezialwissen und der Einführung hierarchischer Arbeitsteilung einher. Diese Wissenshierarchien führen dazu, dass Arbeitsgruppen ausschließend wirken. So berichtete eine Teilnehmer_in davon, dass sie die SV AG als eine sehr professionelle Gruppe wahrnimmt, was ein Mitwirken von ihrer Seite verhinderte: „Wenn man da reingeht, ohne [...] ein bestimmtes Wissen zu haben, dann sitzt man einfach nur so da: ‚Ich kann hier keine Aufgaben übernehmen, ich kann hier nichts beitragen, was irgendwie Sinn macht‘“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 18). Ein geteilter Wunsch in der Gruppendiskussion war es deshalb, Reflexionsprozesse nach innen zu führen. Fragen wie: „Wer zieht sich hier zurück? Oder wer prescht mehr vor? Und wie können wir es machen, dass alle irgendwie den Raum auch kriegen oder ermutigt werden?“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 18) stünden dann regelmäßig im Mittelpunkt der Arbeitstreffen. Diese Selbstreflexionen sind mit zeitlichem Aufwand verbunden. Zeit wiederum wurde als ein begrenzender Faktor diskutiert, der vor allem in der Frage der Prioritätensetzung zwischen pragmatischen Herangehensweisen und idealistischen Utopie-Experimenten eine Rolle spielt. Pragmatismus und/oder Idealismus? Das folgende Zitat zeigt sehr deutlich das Wissen der Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion darum, nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Strukturen, die sie umgeben, agieren zu können. Es zeigt darüber hinaus die Relevanz der Frage nach Pragmatismus und/oder Idealismus auf. „Dass die Leute halt zu 70% in Lohnarbeit und im Gegenteil von ihrer eigenen Emanzipation sozusagen stecken [...] Es gibt nicht so viele Leute, die wirklich hier vollzeitrevolutionär unterwegs sind [...] Man kann sich das als Ideal hinschreiben, aber man muss halt ein bisschen gucken, wie schafft man es denn, sich zu organisieren und dabei akzeptieren, dass die Leute nicht so [...] das ganz andere glauben. Da wird man dann
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natürlich relativ pragmatisch [...] Vielleicht ist es ja schon gut, dass es dran steht, das es antirassistisch ist. Vielleicht erinnert es die Leute daran, was sie eigentlich wollen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Wenn folglich Lohnarbeit als grundlegendes kapitalistisches Prinzip im Alltagsleben der Menschen viel Raum einnimmt, dann beschränkt dieses Herrschaftsverhältnis die Möglichkeiten emanzipatorischer Prozesse im Bethanien (und anderswo). Das Plädoyer für ein gewisses Maß an Pragmatismus ist hier meines Erachtens als Akzeptanz der Verwobenheit in die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, um an den Widersprüchen zwischen politischen Idealen und Alltagsrealität nicht zu scheitern. Das Eingeständnis der Verwicklung in die Herrschaftsmechanismen kann aus dieser Perspektive Handlungsfähigkeit erhöhen, weil es die Chance bietet, mit Widersprüchen anders umzugehen. Die Teilnehmer_innen waren sich deshalb einig, dass es notwendig ist, nicht nur an einem Ort die Verhältnisse anzugreifen: In der NewYorck „wird sich vielleicht ein bisschen zu viel als Ort verstanden und an anderen Orten wird sich zu wenig als Ort verstanden. Das da weniger hierarchische Organisation auch möglich wäre; und auch ein Ort ist, an dem Sachen passieren und wo man vielleicht bestimmte Sachen diskutieren sollte und ein solidarischeres Miteinander irgendwie wünschenswert wäre“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 40f.).23 Mit Ort beschreiben die Aktivist_innen einen Raum, in dem emanzipatorische Suchprozesse vonstatten gehen (können). Eine Person weist in der Diskussion mehrmals darauf hin, dass die Frage, was als Freiraum wahrgenommen wird, von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich beantwortet werden kann. Deshalb findet sie die Vorstellung falsch, mit dem Bethanien einen Freiraum für alle Menschen geschaffen zu haben. „Es gibt sozusagen diese 20 Räume [im Kiez] und dieser hier ist eher einer für linksradikale oder politisch bewegte Leute“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 38). Etwas mehr Bescheidenheit in den eigenen politischen Ansprüchen be-
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Als konkretes Beispiel wurde der Arbeitsplatz genannt. Die Aktivist_in arbeitet an einem Ort, an dem ein linkes politisches Selbstverständnis postuliert wird. Trotzdem ist „die Letztinstanz die entscheidet, was passiert, ist halt der Chef“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 28). Sie kann daher über die Bedingungen, unter denen sie dort arbeitet, nicht mitentscheiden.
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züglich der Wichtigkeit des Projekts täte demnach gut, gepaart mit der Bereitschaft, voneinander zu lernen: „Ich glaube es wäre besser, sich untereinander mit den anderen Gruppen, die irgendwie ihre Orte haben, zu vernetzen [...], zu verstehen, dass wir selber auch etwas lernen können, auch wenn wir glauben, wir wissen alles schon“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 39). Das Scheitern beziehungsweise die Akzeptanz des Scheiterns an den Idealvorstellungen kann also Handlungsfähigkeit erhöhen, wenn es – bildlich gesprochen – von der „das Glas ist [halb] voll Seite“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 21) betrachtet wird. Allerdings funktioniert dieser Mechanismus nur, wenn die Aktivist_innen ihren Idealismus nicht über Bord werfen. Ohne den Wunsch, die eigenen Utopien lebbar zu machen (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 29) und konkrete Ideen zu entwickeln, wie diese im Alltag umzusetzen sind, ist Pragmatismus sicher keine Lösung. Eng verbunden mit den politischen Idealvorstellungen ist die Frage, welche Wirkung die NewYorck entfalten soll: Das Bethanien wird von den Diskutierenden grundsätzlich als eine Insel betrachtet – es „ragt so aus einer Normalität schon hervor“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 25) – gleichzeitig „ist es eingebettet und von daher auch wieder keine Insel in so ein, sag ich mal, linksradikales Netz hier in Berlin“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 25). Die Frage nach der Schwerpunktsetzung wurde kontrovers und ohne Ergebnis diskutiert. Es blieb daher ungeklärt, wieviel abgeschlossene Insel und wieviel Offenheit und Einbettung in die direkte Nachbarschaft gewünscht ist. Das Unverständnis gegenüber dem Bedürfnis „alle möglichen anderen mit ins Boot zu holen“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 40) wurde gleichermaßen artikuliert wie darauf verwiesen, dass die Idee, „ein Anlaufpunkt für [...] Problematiken hier im Alltag, für die Kämpfe, die hier stattfinden“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 36), sein zu wollen, ein Teil der Visionen für das Bethanien ist. Interessant ist, dass bei dieser Frage die Unterscheidung zwischen Wohn- und öffentlichem Bereich wieder eine Rolle spielte. Demnach ist es Teil des Konzeptes, den Konflikt zwischen Schutzraum und nach-außen-orientiertem ‚Aktionsraum‘ auch über diese Zweiteilung auszugleichen. Die Besonderheit des Bethaniens liegt dabei in der praktizierten Mischung und wird als relativ ausgeglichen empfunden: „Nur ein öffentlicher Bereich wäre halt glaub’ ich viel weniger so ein Inselgefühl, ein Rückzugsortgefühl [...] Nur so ein Wohnbereich wäre wahrscheinlich viel weniger so ein Austrahlungs- und wir machen hier was [Raum]“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 26).
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5.2.3 Gruppendiskussion des Schwarzen Kanals An der Gruppendiskussion zum Schwarzen Kanal nahmen ausschließlich Bewohner_innen des Wagenplatzes teil. Menschen, die nicht auf dem Gelände wohnen, aber durch die Organisation von Veranstaltungen oder die Durchführung von Projekten das Bild des Schwarzen Kanals prägen, waren der Einladung nicht gefolgt. Die Diskussion spiegelt deshalb die Sichtweise der Bewohner_innen wider. Perspektiven auf den Schwarzen Kanal, die die reine Projektebene verteten könnten, waren damit nicht präsent. Inhaltlich lässt sich die Gruppendiskussion in sechs Themenstränge gliedern: Im ersten Punkt Der Schwarze Kanal: Ein undurchsichtiges Projekt? steht die Selbstbeschreibung des Platzes im Mittelpunkt der Diskussion. Hier werden die Konturen eines Projektes deutlich, das aus der männlich geprägten Wagenplatznormalität ausbrechen und einen Schutzraum vor der heterosexistischen und transphoben Alltagsrealität in Berlin bieten möchte. Regelmäßiger Referenzpunkt in der Gruppendiskussion war die Bezugnahme auf ein radikal queeres Selbstverständnis. Dieser zweite Schwerpunkt geht der Frage nach, was unter dem Label radikal queer verstanden wird und beleuchtet die gesellschaftspolitische Reichweite dieser Selbstzuschreibung. Im dritten Themenfeld „Kapitalismus regt uns auf, das kannst du festhalten“ wird emotional über die Frage diskutiert, was es bedeutet, eine antikapitalistische Perspektive einzunehmen. Darüber hinaus finden sich Statements zur These, queeres Engagement sei neoliberalen Veränderungsprozessen dienlich. Neben der gesellschaftstheoretischen Ebene wird in der Diskussion auch darüber nachgedacht, ab wann Handeln in kapitalistisch organisierten Gesellschaften als antikapitalistisch gelten kann. Diese Überlegungen werden auf die Aktivitäten des Schwarzen Kanals zurückbezogen. Unter dem Titel Demokratieverständnis: Radikal queer gedacht (viertens) wird das radikal queere Selbstverständnis des Schwarzen Kanals mit den demokratischen Praxen der Mitglieder des Projekts verknüpft. Welches Verständnis von Demokratie und demokratischen Handlungspraxen geht mit einer radikal queeren Perspektive einher? Ein weiterer, fünfter Schwerpunkt der Diskussion bezog sich auf die Widersprüche zwischen politischem Anspruch und Alltagsrealität. Auch hier spielt – wie im Beispiel der NewYorck auch – die Diskrepanz zwischen dem Bedürfnis nach einem Schutzraum und dem Ziel der Offenheit des Projektes eine zentrale Rolle. Im letzten inhaltlichen Punkt wird die Rolle von Raum- und Stadtpolitiken thematisiert.
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Der Schwarze Kanal: Ein undurchsichtiges Projekt? Der Schwarze Kanal wird von seinen Bewohner_innen als ein Bauwagenplatz beschrieben, der einen radikal queeren Ansatz verfolgt. Damit ist er – dem Selbstverständnis nach – mehr als ein ‚normaler‘ Bauwagenplatz, da er einen sichtbaren Gegenpol zur tendeziell von Männern dominierten und durch mackerhaftes Verhalten geprägten D.I.Y.-Kultur vieler Bauwagenplätze bilden soll. Das Selbstverständnis des Platzes richtet sich somit sowohl gegen „die Wagenplatznormalität“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1) als auch gegen die normierenden Zwänge der Welt ‚draußen‘. So ist zum Beispiel der Alltag einer Diskussionsteilnehmer_in durch täglich gegen ihre Person gerichtete transphobe Gewalt geprägt, der Kanal demgegenüber ein angstfreier Raum, in dem sie ihre Identität leben kann.24 Dieses „ziemlich undurchsichtige[s] Projekt“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1) stellt „unterschiedliche, viele Sachen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 2) dar. Es ist die Rede von Platz und Projekt. Die Struktur selbst ist wiederum permanent in Veränderung begriffen. Zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion organisiert sich der Schwarze Kanal mittels zweier regelmäßig stattfindenden Gruppentreffen: Die Bewohner_innengruppe und die Projektgruppe. Dem politischen Selbstverständnis nach ist das monatlich zusammenkommende Projektplenum das Gremium, in dem sich alle Menschen koordinieren, die unter dem Label des Schwarzen Kanals (und in der Regel auch auf dessen Grundstück) Projekte durchführen und damit den Projektgedanken des Kanals mit Leben füllen (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 2). Eng verzahnt mit dem Projektgedanken ist die Bedeutung der vorhandenen Gemeinschaftsfläche. Diese wird zwar auch von den Bewohner_innen des Bauwagenplatzes genutzt und in weiten Teilen zur Verfügung gestellt, steht aber sinnbildlich für die Eigenständigkeit des Projekts Schwarzer Kanal und hat „erstmal mit dem Bauwagenplatz so direkt nichts zu tun“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 2). Die Bewohner_innen der Bauwagen treffen sich in einem wöchentlich tagendem Plenum, um ihren gemeinsamen Alltag zu koordinieren.25 In wel-
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„Wenn ich auf der Straße bin, dann bin ich konfrontiert [...] mit permanenten transphoben Begegnungen. Jeden Tag. Und dann komm ich auf den Schwarzen Kanal [...] und jetzt kann ich diese Angst erstmal hier in die Mülltonne [...] packen und kann mich sicher bewegen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 17).
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Auf dem Plenum werden nicht nur wichtige Organisationsfragen geklärt, sondern es soll auch eine Struktur bieten, in der für persönliche Anliegen ein Anlaufpunkt und Raum zur Verfügung gestellt wird.
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chem Verhältnis das Projekt- und das Bewohner_innenplenum zueinander stehen und für welche Aufgaben welches Plenum zuständig ist, ist im Detail (noch) nicht geklärt. Vielmehr verhandeln die Aktivist_innen in einem ergebnisoffenen Prozess, welche Regelungen sich in der Praxis als besonders praktikabel erweisen.26 Der Projektgedanke, die Idee, mehr als nur ein Wagenplatz zu sein und die Selbstverortung als ein radikal queeres Projekt bilden folglich zwei zentrale Momente des Schwarzen Kanals. Einigkeit besteht in der Ansicht, dass der Kanal „mehr als ein Wohnprojekt, sondern ein Projekt ist. Wo halt verschiedene Aktivitäten stattfinden jenseits des Wohnens. Das über die Wagenplatznormalität hinausgeht“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1). Was sich hinter der Bezugnahme auf den immer wieder zu finden Projektgedanken genau verbirgt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Er bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen der Utopie „so eine Art Modellversuch, ein anderes Zusammenleben auszuprobieren, eine andere Art von Gesellschaft“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1) zu leben, dem Bedürfnis der als heteronormativ geprägten D.I.Y.-Kultur einen Wohlfühlort entgegen zu setzen und angstfreie Räume zu schaffen auf der einen Seite und andererseits der Problematik, in vielen Fällen auch ausgrenzend zu wirken, wie selbstkritisch angesprochen wird, da er für und von Menschen aus einer bestimmten politischen Szene gestaltet wird. Ein radikal queeres Selbstverständnis Im Laufe der Diskussionsveranstaltung bezogen sich die Aktivist_innen regelmäßig positiv auf die Definition als ‚radikal queerer Platz‘. Radikal queer erhält dabei eine umfassende Bedeutung und beeinflusst das Kapitalismusund Demokratieverständnis. Ich werde daher die Frage verfolgen, was radikal queer für die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion bedeutet und damit eine Annäherung an den Begriff vornehmen. Grundlegend beinhaltet der Begriff eine Kritik an heteronormativen Verhältnissen und die Vorstellung eines Selbstdefinitionsrechtes. Der ehemalige Frauen-Lesben-Trans-Platz wurde demnach im Laufe seines Bestehens zu
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„Das sind auch noch so Punkte, an denen wir zum Teil auch noch ganz schön viel arbeiten [...] Wo wir das selber immer auch aushandeln: Was ist der Bereich, in dem die Leute [...] bei Entscheidungen mitreden, die hier wohnen? Und welche Befugnisse [...] werden der Projektgruppe zugeschrieben? Und in wie großen Teilen durchmischt sich das bzw. überschneidet sich das eben? [...] Das ist glaub ich so ein langes ausprobieren“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 3).
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einem radikal queeren Platz: „Ein Platz, wo [...] eine Selbstdefinition für Geschlechter vorhanden ist, wo Leute selber definieren können, welches Geschlecht sie haben“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1). Radikal queer bleibt allerdings nicht auf der individuellen Ebene stehen, sondern umfasst auch eine bewusste politische Aktion, die grundsätzlich herrschaftsförmige Strukturen hinterfragt. Die kollektive Selbstreflexion über die eigenen Privilegien, Ausschlussmechanismen und die Verstrickung in gesellschaftliche Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungsverhältnisse steht aus einer radikal queeren Perspektive regelmäßig auf der politischen Agenda des Platzes. Radikal queer soll deshalb verdeutlichen, „dass es nicht darum geht, sich zurückzuziehen und [...] [sich] darauf zu beziehen, wie anders wir sind [...] und was wir für uns selber für andere Privilegien haben wollen, oder wie schön pink wir mit uns umgehen wollen. Sondern halt einfach zu sehen, wie das alles miteinander verstrickt ist. So Kapitalismus, der Alltag von uns allen, wie wir gesehen werden. Und wie wir sein sollen und welche Handlungsspielräume wir haben [...] Wenn du vom Kanal ausgehst als radikal queeres Projekt, dann könnte der Anfang sein, [...] die Geschlechterverhältnisse oder diese Konstruktion zu hinterfragen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15). Das Zitat zeigt sehr deutlich, wie weitreichend das Verständnis von queer ist. Nicht die Frage der individuellen sexuellen Vorlieben und Praktiken, das heißt die Frage, „mit wem du gerade ins Bett gehst“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15), spielt für das Selbstverständnis des Platzes eine Rolle. Queer verweist hier auf einen machtsensiblen und machtkritischen Anspruch der Aktivist_innen. Sie wollen keine ‚pinken‘ Privilegien für sich beanspruchen, sondern sie erkennen die Bedeutung von Alltagshandeln im Wechselspiel mit den persönlichen Handlungsmöglichkeiten an, die wiederum von Macht- und Herrschaftsverhältnisse durchdrungen sind. Eng verbunden mit der Selbstdefinition als radikal queeres Projekt ist das Wissen und Nachdenken über Kapitalismus bzw. kapitalistische Strukturen. Der Begriff des informellen Netzwerks antikapitalistischer Queers – dem sich laut Homepage der Schwarze Kanal (2010a) zugehörig fühlt – war den Diskussionsteilnehmer_innen nicht bekannt. Allerdings konnten sie sehr gut beschreiben, was der Begriff ausdrücken möchte. Da sich anhand dieses Begriffs eine spannende Diskussion über das Kapitalismusverständnis der Teilnehmer_innen entwickelte, halte ich in meiner Arbeit an dieser Zuschreibung fest und widme mich im folgenden Abschnitt der Rekonstruktion der Diskussion.
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„Kapitalismus regt uns auf, das kannst du festhalten!“27 Diese Aussage war das Fazit der emotional geführten Debatte über die Fragen, was die Aktivist_innen unter Kapitalismus und vice versa unter antikapitalistischer Politik verstehen und ob bzw. inwiefern queere Politiken neoliberalen Transformationen kapitalistischer Verhältnisse dienlich seien. Das verbreitete Alltagswissen über Kapitalismus, wie es Gibson-Graham beschreiben, das heißt die Allgegenwärtigkeit und Unschärfe sowie die vermeintliche Eigenlogik und Selbstständigkeit ‚des‘ Kapitalismus prägten die Diskussion ebenso, wie ein kritisches in Frage Stellen vermeintlicher Allgemeinplätze. Ab wann gilt das Hinterfragen gesellschaftlicher Strukturen als antikapitalistisch? (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 18) Diese Frage war mit der Annahme verbunden, dass alle Herrschaftsverhältnisse miteinander verknüpft sind und im konkreten Alltagsleben Relevanz zeigen (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15). Zudem herrschte den Redebeiträgen zufolge Unklarheit darüber, was Kapitalismus genau ist und wie kapitalistische Strukturen abgeschafft werden können. Wie kann folglich antikapitalistische Politik klar benannt werden, wenn Kapitalismus allgegenwärtig und unbekannt gleichermaßen ist? Was heißt es für das Projekt Schwarzer Kanal, wenn heterosexuelle Gesellschaftsstrukturen als ein fester Bestandteil kapitalistischer Verhältnisse wahrgenommen werden und der radikal queere Ansatz genau an diesem Punkt ansetzt und Heteronormativität als Norm grundlegend in Frage stellt? (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 18) Beinhalten die Versuche der Brechung der heterosexuellen Normalität bereits Momente einer antikapitalistischen Alltagspraxis? Einig waren sich die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion, dass die wissenschaftliche Frage nach der Verstrickung queeren Engagements mit kapitalistischen Transformationsprozessen falsch gestellt wird. Stattdessen solle danach gefragt werden, welche Veränderungen die erfolgten Bemühungen bewirkten und noch zentraler, welche Missstände aus einer heutigen Perspektive vorhanden sind und wie diesen sinnvoll entgegnet werden kann. „Ich würde überhaupt nicht die Rechnung aufmachen, dass das besser für den Kapitalismus ist, oder so. Sondern eher so: Wenn sich diese Sache jetzt verändert hat, [...] weil es für viele Leute jetzt wichtig ist, so und so zu leben oder so. Was ist dann weiterhin wichtig nicht zu vergessen? [...] Die Frage müsste doch sein: Ok, es haben sich irgendwelche Sachen geändert, Menschen
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Zitat aus Gruppendiskussion (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 19).
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haben sich in ihrem Alltag geändert und [...] wie kann [dann] die radikale Praxis aussehen?“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 18) Dieser Appell aus einer nicht-akademischen Alltagspraxis sehe ich als einen wichtigen queer-feministischen Beitrag, der sich auf der einen Seite der Verstrickung verschiedener Herrschaftsverhältnisse untereinander und in den Subjekten selbst bewusst ist und gleichzeitig gesellschaftsverändernde Handlungsmöglichkeiten nicht aus den Augen verliert. Wichtiger als die Frage, wie queere Interventionen und neoliberale Gesellschaftsstrukturen ineinander greifen, ist demnach die Frage, wie aus einer Ist-Analyse gesellschaftlicher Missstände heraus eine radikale Handlungspraxis aussehen kann, um emanzipatorische Veränderungen anzustoßen. In dieser Perspektive stehen weniger die Paradoxien und die Politisierung derselben – wie es Antke Engel (2002) vorschlägt – im Mittelpunkt der Frage nach Handlungsfähigkeit, sondern konkrete gesellschaftliche Zumutungen, die politisiert und verändert werden sollen. Mit dem Nachdenken über Kapitalismus verbunden war jedoch nicht nur eine theoretisch-abstrakte Auseinandersetzung über die Verwobenheit diverser Herrschaftsverhältnisse und ein Gedankenaustausch über die Funktionsweisen kapitalistischer Strukturen (bzw. über das Wissen über die Funktionsweisen ‚des‘ Kapitalismus), sondern es wurde auch die Frage nach antikapitalistischen Momenten in den konkret gelebten Alltagspraxen aufgeworfen: Ist das Leben auf einem Bauwagenplatz und die damit verbundenen kleinen Erfolgserlebnisse, wie beispielsweise Dinge einfach selbst zu bauen, zu reparieren oder Lösungen für Probleme zu finden, für die es keine käufliche Lösung gibt, bereits der Beginn einer antikapitalistischen Praxis? (Vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15) Ist aus dieser Perspektive das „mal nicht um die Ecke denken“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15), sondern „schön simpel praktisch [...] Sachen selber [...] machen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 15), Teil eines antikapitalistischen Alltags, da Mehrwertproduktion und warenförmige Tauschverhältnisse keine Rolle spielen? Oder galt nur der mittlerweile veraltete Status als besetzter Platz als Beleg für aktives antikapitalistisches Engagement? (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 16) Die aufgeworfenen Fragen wurden nicht abschließend beantwortet, allerdings bestand Einigkeit darin, dass der Kanal zumindest ein unkommerzieller Ort und Bestandteil eines Netzwerks links-subversiver Infrastruktur in Berlin ist. Dieses Netzwerk selbst bietet nicht nur Infrastruktur im wörtlichen Sinne. Eng verknüpft mit der Netzwerkstruktur ist das Wissen der Nutzer_innen, dass sie nicht nur die Infrastruktur nutzen können, sondern in
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der Regel auch noch Menschen treffen, die das konkrete Vorhaben mit ihrem Wissen und ihren Ideen bereichern. Als Beispiel wurde die Organisation des Ladyfests in Berlin genannt. Demnach können die Organisator_innen des Ladyfestes davon ausgehen, dass sie in ihrem Vorhaben nicht nur über die Bereitstellung von Infrastruktur – wie z.B. Räume, in denen die Veranstaltungen des Ladyfests stattfinden können – unterstützt werden, sondern aus den jeweiligen Projekten zusätzlich Leute dazu stoßen, die das Fest inhaltlich mitgestalten. Es findet folglich über die Bereitstellung von Infrastruktur hinaus ein gegenseitiger Austausch statt, der nicht in Maßstäben von Tauschlogiken gemessen werden kann: „Und dann weiß ich auch, [...] da kommen dann noch zwei [Leute] dazu und die werden auch nicht sagen: ‚[...] Wir bekommen jetzt 200€ Miete von euch und den Rest macht ihr‘, sondern da gibt’s dann auch noch Ideen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 16). Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass der Schwarze Kanal Möglichkeiten der Selbstorganisation bereitstellt und durch seinen Bezug auf die D.I.Y.-Kultur mit Formen des miteinander Lebens experimentiert, die sich nur schwer in klaren Kosten-Nutzen-Relationen beschreiben lassen. Der unkommerzielle Charakter der Veranstaltungen – jede_r soll an diesen teilnehmen können, egal wie die jeweiligen finanziellen Verhältnisse aussehen – lässt Ansätze von nicht-warenförmigen Austauschbeziehungen erkennen. Ob diese Erfahrungen dazu beitragen, gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend neu denken und organisieren zu können, oder ob diese lediglich kleinste Stachel antikapitalistischen Engagements sind, lässt sich nicht beantworten. Auf jeden Fall zeigt die Diskussion auf, dass die queer-feministische Annahme der Verschränktheit von Herrschaftsverhältnissen Unsicherheiten und Gewissheiten gleichermaßen produziert. So kann im kollektiven Handeln die Chance gesehen werden, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen und zum Tanzen zu bringen – wie beispielsweise das Engagement gegen heterosexuelle Normierungen als ein Teil antikapitalistischer Alltagspraxen begriffen werden kann – und gleichzeitig die Frage aufgeworfen werden, ab wann widerspenstiges Handeln gegen die herrschenden Herrschaftsverhältnisse (die eben auch kapitalistische Verhältnisse sind) als antikapitalistisch gilt. Auch das in der Diskussion zu findende queer-feministisch geprägte Wissen über die Unmöglichkeit, machtfreies Wissen zu produzieren, fordert das ständige in Frage Stellen und die Bereitschaft der kritischen Selbstreflexion ebenso ein wie es dem relativ kleinen Projekt ermöglicht, einen Raum zu schaffen, der die machtvollen heteronormativen Zuschreibungen vergessen lässt. Hier können Menschen die Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung
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in ‚die Mülltonne‘ werfen und einfach nur die eigene Identität leben, weil das Projekt als Kollektiv diese Strukturen hinterfragt und eine Alternative zur heteronormativen Gesellschaftsstruktur zu leben versucht (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 17). Die erwähnte D.I.Y.-Kultur bietet Möglichkeiten, persönlich befriedigende (Arbeits-)Erfahrungen zu sammeln, da Ergebnisse der eigenen Arbeit unmittelbar sichtbar sind. Diese kleinen Erfolgserlebnisse bereits im marx’schen Sinne als ein Effekt der geringeren Entfremdung von der eigenen Arbeit zu lesen, ist vermutlich eine etwas wagemutige These. Mir geht es bei diesem Gedankengang primär um das Aufwerfen von Fragen, die möglicherweise zum Nachdenken anregen und neue Denkprozesse provozieren. Demokratieverständnis: Radikal queer gedacht Ebenso wie die Selbstdefinition des Projektes als radikal queer in der Begrifflichkeit bereits transformatorische Prozesse mitdenkt und einfordert, so ist auch das in der Diskussion zu findende Demokratieverständnis von einer starken Betonung der Prozesshaftigkeit geprägt. Angstfreie Kommunikationsmöglichkeiten, Selbstreflexion über das eigene Handeln (als Gruppe und als Individuum) und eine machtsensible Grundeinstellung werden als Grundlage gesehen, Fragen der Alltagsorganisation möglichst im Konsens zu klären. Die konkreten Strukturen des Platzes, wie beispielsweise die Aufteilung in Projekt- und Bewohner_innenplenum und deren Zuständigkeiten, verändern sich immer wieder im Laufe der Zeit und sind von den Menschen und deren Bedürfnisse abhängig, die gerade das Projekt als Gruppe tragen.28 Wichtiger als formale Regeln und Strukturen ist den Aktivist_innen deshalb ein Umgang untereinander, der im Idealfall möglichst wenig Hierarchien (re-)produziert und stattdessen unterschiedliche Bedürfnisse und Privilegien berücksichtigt: Der Versuch „relativ vielfältig zu sein und auch die unterschiedlichen Realitäten zu sehen und die Privilegien“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 9) hat deshalb eine hohe Priorität und wird im Alltag oft thematisiert. Dementsprechend können Lösungen „sehr unterschiedlich ausfallen [...] [und es braucht] dafür nicht unbedingt Regeln“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 10), da die jeweiligen Umstände in die Entscheidung mit einfließen sollen. Der weitgehende Verzicht auf feste Entscheidungsmodi erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zur Selbstreflexi-
28
„Wenn man mal für ein Jahr weg war, dass man sich ziemlich sicher sein kann, das es nicht mehr dasselbe ist, was mensch vorfindet“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 2).
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on. Eine Aktivist_in merkt in diesem Zusammenhang an, dass innerhalb der Bewohner_innenschaft zwei unterschiedliche Umgangsweisen in der Frage der gemeinsamen Alltagsorganisation auf dem Wagenplatz zusammen kommen und immer wieder neu ausbalanciert werden müssen. Es reiben sich demnach immer wieder Vorstellungen der Selbstorganisation wie sie in D.I.Y.-geprägten Kontexten gängig sind mit dem Bedürfnis nach kollektiver Entscheidungsfindung im Plenum (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 9).29 Ebenfalls durch die D.I.Y.-Kultur geprägt ist die positive Bezugnahme auf den Begriff der Selbstverantwortung. Selbstverantwortung meint hier, dass „es mir klar ist, was mein Tun oder mein nicht-Tun wahrscheinlich für Folgen hat. Und das ich das so ein bisschen abwäge [...] Also generell ist hier [...] eine viel stärkere Reflexion da über das eigene Tun.“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 8) Gleichzeitig verbinden die Gesprächsteilnehmer_innen mit dem Begriff die Aufforderung, für die Veränderung des eigenen Lebens mitverantwortlich zu sein. Die Welt um sie herum wird demnach nicht schöner, wenn sie nichts dafür unternehmen (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 8). Selbstverantwortung in diesem Sinne hat folglich immer ein selbstreflexives Moment, das eine gesellschaftlich-kollektive Komponente beinhaltet. Deshalb ist das Wort hier nicht gleichzusetzen mit einer neoliberalen Begriffsauslegung, die lediglich ein auf sich selbst bezogenes Individuum als Adressat_in hat und nicht in kollektiven Strukturen denkt. Eigenverantwortliches Handeln30 wird nicht nur von den Bewohner_innen, sondern von allen Aktivist_innen des Projekts Schwarzer Kanal eingefordert. Damit einher geht der Anspruch einer relativ offenen und leicht zugänglichen Projektstruktur. Alle Vorhaben sind erstmal grundsätzlich will-
29
„Also eine Alltagsorganisation: Wo ich denke, dass die Leute aus unterschiedlichen Historien und Ansprüchen aufeinander stoßen und versuchen da einen für alle verträglichen Konsens hinzukriegen [...] Also von der einen Seite von Leuten, die einen Selbstorga-Anspruch haben und auf der anderen Seite andere Leute halt, die viel über Pläne und Plenas machen wollen [...] Zu schauen, wie kriegen wir es hin, dass sich die Reibungen im erträglichen Maße halten“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 9).
30
Es fand in der Diskussion keine klare Trennung zwischen Eigenverantwortung und Selbstverantwortung statt. Auffallend ist, dass die Diskutierenden in der Regel von Selbstverantwortung sprechen, wenn sie von sich selbst reden. Der Begriff Eigenverantwortung findet dann Verwendung, wenn von externen Gruppen oder Personen gesprochen wird, die für einzelne Veranstaltungen den Schwarzen Kanal nutzen.
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kommen, solange sie dem radikal queerem Selbstverständnis nicht zuwider laufen. In der Alltagspraxis ist die Umsetzung des Anspruches, eine mobilisierende und offene Struktur zur Verfügung zu stellen, die relativ niedrigschwellig genutzt werden kann, oft mit Schwierigkeiten verbunden: „Die Praxis ist da tatsächlich schwieriger als der Wille, offen zu sein“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 5), wie eine Diskussionsteilnehmer_in selbstkritisch einfügt. Widersprüche zwischen politischem Anspruch und Alltagsrealität Die in der Gruppendiskussion genannten Widersprüche zwischen politischem Anspruch und Alltagsrealität lassen sich im Wesentlichen auf die beiden Ansprüche zurückführen, sowohl ein Schutzraum als auch ein offenes Projekt zu sein. Diese Widersprüche betreffen gleichermaßen die Ebene des zusammen Wohnens und die Projektebene. Einmal geht es um den Umgang der Mitbewohner_innen untereinander und einmal um den Kontakt zwischen Bewohner_innen und Menschen, die sich im Schwarzen Kanal einbringen wollen. Auf Projektebene wird Intransparenz als Problem benannt. Dazu gehören Ausschlussmechanismen, die mit einem gewissen Szenewissen einhergehen. Der Kanal ist für ‚Außenstehende‘ schlecht erreichbar. Beispielsweise finden Besucher_innen mitunter keine Ansprechperson für ihre Fragen. Es ist oft unklar, wer ansprechbar ist, weil alle Bewohner_innen sehr beschäftigt sind und es keine klaren Zuständigkeiten gibt. „Ich glaube, dass dieser Punkt gar nicht so unwichtig ist, ich glaube, es kann ganz schön frustend sein, den Schwarzen Kanal zu erreichen [...] Die Kommunikation ist nicht so richtig einfach.“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 3) Hinzu kommt ein besonders hohes Maß an Eigenverantwortung, das die Realisierung von Projekten auf dem Kanal erschweren kann. Der Freiheitsgrad der mit der D.I.Y.-Kultur einhergeht, kann durch unklare Zuständigkeiten, fehlendes Wissen über die vorhandene Infrastruktur oder schlichtweg die Unsicherheit, ob die eigene Idee den Wünschen und Vorstellungen des ‚Platz-Kollektivs‘ entspricht, auch als Hürde empfunden werden (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 3ff.). Dies gilt um so mehr, wenn bewusst offen gehalten wird, wer alles als Teil des Schwarzen Kanals gilt. Eine Person fasst das beschriebene Dilemma folgendermaßen zusammen: „Die Praxis ist da tatsächlich schwieriger als der Wille, offen zu sein“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 5). Auf der Ebene des zusammen Wohnens berichten Bewohner_innen über den Widerspruch zwischen weitreichendem Projektgedanken und Anspruch auf Kollektivität auf der einen Seite und dem starken Bedürfnis vieler Be-
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wohner_innen nach Individualismus und Rückzug auf der anderen Seite. Eine Person berichtet von der Schwierigkeit, als neue Mitbewohner_in so anzukommen, dass ein Gefühl des Dazugehörens entsteht (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 5f.). Nicht nur das Bedürfnis nach individuellem Rückzugraum, sondern auch der Anspruch (und die Notwendigkeit), als Projekt offen nach außen zu wirken, führt zu Herausforderungen im Alltag der Diskussionsteilnehmer_innen. So kann es passieren, dass individuelle Bedürfnisse keinen Raum finden, weil das Projekt als Ganzes funktionieren muss. Dieser Druck des ‚Funktionieren-Müssens‘ war zu räumungsbedrohten Zeiten besonders virulent. Allerdings wird von der Tendenz berichtet, dass das Angst-Bild, als Projekt nicht handlungsfähig zu sein, weil zu viele auf ihre persönlichen Bedürfnisse achten, nach wie vor an die Wand gemalt wird und die Bewohner_innen emotional unter Druck setzt (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 10). Die Rolle von Raum- und Stadtpolitiken Die jahrelange Räumungsbedrohung und die Lage im stadtpolitisch umkämpften Bereich des Media-Spree-Gebiets machten stadtpolitisches Engagement für den Schwarzen Kanal unumgänglich und verdrängte in Teilen die eigentlichen Themenschwerpunkte, die der Platz setzen möchte. Als eigentliche Themen wurde queere und antirassistische Politik genannt. Mit dem Umzug in die Kiefholzstraße hat deshalb die Dringlichkeit, stadtpolitisch aktiv zu sein, abgenommen. Eine Diskussionsteilnehmer_in drückt die Freude darüber folgendermaßen aus: „Und jetzt so: ‚Ach wir haben einen Vertrag! Und so schön grün hier!‘“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 12). Trotz des auf drei Jahre befristeten Nutzungsvertrags befindet sich das Projekt in einer gefühlten Atempause, da zu Zeiten der Räumungsbedrohung der Planungszeitraum auf einen Monat beschränkt war. Allerdings verweist eine Person auf die nach wie vor bestehende Unsicherheit: Eine in Teilen sehr umstrittene stadtplanerische Umgestaltung des Gebietes ist vorgesehen. So soll in der Nähe des Grundstückes der bestehende Autobahnring verlängert und ausgebaut werden sowie ein Großteil der umliegenden Flächen als Gewerbegebiet ausgeschrieben werden. Die Veränderungen der direkten Nachbarschaft liegen zudem nicht nur in der Zukunft, die benachbarte Kleingartensiedlung musste bereits im Winter 2010 dem geplanten Autobahnneubau weichen. „Es sollte halt daran gedacht werden, dass die Räder unter den Fahrzeugen bleiben“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 13).
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Für meine Arbeit besonders interessant war allerdings nicht die Thematisierung der stadtpolitischen Auseinandersetzungen, sondern das Verständnis von Stadtpolitik selbst. Im folgenden Zitat, mit dem ich dieses Kapitel auch beenden möchte, wird deutlich, dass Stadtpolitik demnach vor allem als eine Frage der Erreichbarkeit und Sichtbarkeit innerhalb der Stadt gesehen wird. Eine solche Perspektive auf Stadtpolitik macht diese immer notwendig, unabhängig davon, welchen Status ein Projekt aktuell hat. Das Zitat, zeigt darüber hinaus noch einmal exemplarisch das Spannungsfeld von Prioritäten, Kapazitäten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in dem sich widerspenstige Alltagspraxen bewegen: „Das ist natürlich immer ein wichtiges Thema. Stadtpolitik. Gerade wenn man Projekte betreibt, die für viele Leute offen sein sollen. Dann geht es natürlich viel um Erreichbarkeit, aber auch um Sichtbarkeit in der Stadt [...] Seitdem die Räumung nicht mehr vor der Tür steht [...], geht das Thema [Stadtpolitik zurück, M.S.]. Weil der Wunsch da ist, die eigentlichen Themen vom Schwarzen Kanal etwas höher zu setzen. Was queere Politik angeht und antirassistische Politik. Das das wieder einen höheren Stellenwert hat. Weil das in den letzten Jahren immer wieder zurückstecken musste, weil akut eben Stadtpolitik vor der Tür stand.“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 14).
6 Zusammenführung: Von der Praxis lernen?
Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, die Ergebnisse der Praxisbeispiele mit den theoretischen Suchbewegungen zu Beginn der Arbeit zusammen zu führen. Mit diesem Vorgehen widme ich mich der zweiten Forschungsfrage, in der danach gefragt wird, was die Theorieproduktion von den konkret gelebten widerspenstigen Alltagspraxen lernen kann: Inwieweit sind die theoretischen Ansätze hilfreich, die Alltagspraxen analytisch in den Blick zu nehmen? Welche Rückschlüsse lassen sich aus den gelebten Praxen für die theoretischen Überlegungen ziehen? Welche theoretischen Begriffe, Sichtweisen und Handlungsanweisungen erweisen sich als hilfreich und wo stößt die Theoriebildung an Grenzen? Die Gliederung des Kapitels folgt einer dreiteiligen Fragestellung: Das Kapitel 6.1 widmet sich der Frage, wo es den theoretischen Konzepten gelingt, die untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen adäquat zu beschreiben. Im folgenden Kapitel 6.2 frage ich danach, wo die Theoriebildung an Grenzen stößt. Das Kapitel 6.3 hat zum Ziel, die theoretischen Ansätze um Ergebnisse aus den Praxisbeispielen zu ergänzen. Abschließend werde ich in Kapitel 6.4 resümieren, welche Hinweise sich daraus für die Frage nach Handlungsfähigkeit ergeben. Bevor ich mich jedoch den einzelnen Unterpunkten zuwende, werde ich die Aufgabenstellungen der theoriegeleiteten Überlegungen der Kapitel 3 (Suchbewegung 1: Queer-feministische Kapitalismuskritiken) und Kapitel 4 (Suchbewegung 2: Demokratietheoretische Erweiterung) in Erinnerung rufen. Den Ausführungen voranstellen möchte ich eine Bemerkung zu den verschiedenen Funktionen, die meine Suchbewegungen erfüllten. Es sollte erstens aufzeigt werden, warum die Wahrnehmung widerspenstiger Alltagspraxen aus kapitalismuskritischer und demokratietheoretisch interessierter Sicht das vorherrschende Wissen über Kapitalismus und Demokratie irritieren und infrage stellen muss. Zweitens ging es darum, nach queer-
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feministisch inspirierten Ansätzen zu suchen, die eine Aufnahme widerspenstiger Alltagspraxen in den Fokus der Theoriebildung erlauben. Zuletzt (drittens) ging es mir darum zu fragen, welche Handlungsstrategien die verschiedenen Theorien konkreten Alltagspraxen vorschlagen. Aufgrund dieser Dreiteilung bietet es sich an, selektiv Aspekte aus der Theorieproduktion heranzuziehen, um nach den Lerneffekten für die Theoretisierung widerspenstiger Alltagspraxen zu fragen. Dieses spotlight-gleiche Vorgehen ermöglicht es mir, Akzente zu setzen und pointiert auf mögliche Lerneffekte einzugehen. In Kapitel 3 standen queer-feministische Perspektiven auf kapitalistische Verhältnisse sowie deren Theoretisierung im Zentrum meiner Ausführungen. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Feststellung, dass gängige Kapitalismustheorien oft Schwierigkeiten haben, das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen zu erfassen oder gar Handlungsperspektiven für diese Praxen anzubieten, obwohl sie sich kritisch auf ihren Forschungsgegenstand beziehen. Damit verbunden war die Annahme, dass die Frage, wie Kapitalismus theoretisiert wird, Handlungsoptionen öffnet und/oder schließt. Die queerfeministische Auseinandersetzung mit gängigen Wissensproduktionen über Kapitalismus, die damit verbundene Kritik an Kapitalismuskritiken und die Entwicklung alternativer Sichtweisen auf kapitalistische Verhältnisse diente dem Ziel, diese Leerstelle zu beheben. Am Ende dieser ersten Suchbewegung habe ich vier Fragen formuliert, die die Leitfragen (und die Auswertung) der Gruppendiskussionen prägen: Die Frage nach den Strategien der Schaffung von community economies (erstens), (zweitens) die Frage nach dem Umgang mit der Verwobenheit in Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, die Frage nach entprivilegierenden Praxen (drittens) und zuletzt die Frage nach dem Umgang mit Widersprüchlichkeiten (viertens). Aus der kapitalismuskritischen Perspektive betrachte ich für das aktuelle Kapitel im Wesentlichen die Handlungsstrategien, die die theoretischen Ansätze anbieten. Da sich diese auf verschiedenen Abstraktionsebenen befinden, berücksichtige ich hier nicht alle Strategien in gleichem Maße. Kapitel 4 diente dem Ziel, die kapitalismuskritischen Perspektiven der ersten Suchbewegung um eine demokratietheoretische Perspektive zu erweitern. Dazu war es notwendig, einen Demokratiebegriff zu entwickeln, der Demokratie als eine Lebensform begreift, die die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander berücksichtigt. Das Selbstbestimmungsrecht der Individuen in ihrer Vielfalt und Machtverwobenheit gilt darin als Herzstück demokratischer (Alltags-)Praxen. Diesen Demokratiebegriff habe ich mit folgenden Attributen umschrieben: macht-, herrschafts- und repräsentationskritisch, das heißt mit partizipatorischem, horizontalem und radikal
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inklusivem Anspruch. Darüber hinaus sehe ich ihn als prozess- und kontextbezogen. Dieser Begriff ist somit in der Lage, Demokratie an vielfältigen Orten und (als zeitlich) temporär zu erfassen. In diesem Verständnis ist Demokratie bindungsorientiert und normativ. Hier geht es mir im Wesentlichen darum zu fragen, ob bzw. wo der noch recht abstrakte Demokratiebegriff durch die konkret gelebten widerspenstigen Alltagspraxen ergänzt werden kann. Indem ich die untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen mit der Theorieproduktion in dieser Weise zusammenführe, beabsichtige ich zu Ergebnissen zu kommen, die über die Betrachtung der einzelnen Beispiele hinausweisen. Ein sehr prägnantes Ergebnis meiner Betrachtungen liegt in der Feststellung, dass die widerspenstigen Alltagspraxen sich umso leichter mit den theoretischen Werkzeugen erfassen und beschreiben lassen, je klarer und zielgerichteter sie sind. Steht demgegenüber weniger ein gemeinsames Ziel, sondern die vielfältige Nutzung von Räumen im Mittelpunkt der Praxen, dann werden daran die Grenzen und Herausforderungen der Theoriebildung deutlich.
6.1 Theorie als Analysewerkzeug In diesem Kapitel möchte ich veranschaulichen, wie die theoretischen Prämissen und Handlungsstrategien aus den queer-feministischen Kapitalismuskritiken dazu beitragen, die gewählten widerspenstigen Alltagspraxen zu beschreiben. Besonders hilfreich ist hierbei das Instrumentarium, das bei J.K. GibsonGraham zu finden ist. Insbesondere das Konzept der community economies sowie die dazugehörigen Handlungsstrategien, die Strategien der Sprachund Wissenspolitiken, der Subjektpolitiken sowie der Politiken kollektiver Handlungsfähigkeit lassen sich sehr gut visualisieren.1 Diese Strategien schlagen Gibson-Graham vor, um über kapitalistische Verhältnisse hinausdenken zu können. Sie dienen folglich dem Anspruch, eine kapitalozentristische Perspektive auf gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. Auch die Frage danach, welche Bedürfnisse (necessity) die widerspenstigen Alltagpraxen prägen, welche Gemeingüter (commons) dort geschaffen werden, was in den Praxen konsumiert wird (consumption)
1
Die Visualisierung erfolgt im weiteren Verlauf des Kapitels anhand des Beispiels des Mietshäuser Syndikats.
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und welcher Mehrwert (surplus) entsteht, trägt dazu bei, widerspenstige Alltagspraxen als gelebte community economies zu beschreiben.2 Diese vier Koordinaten haben J.K. Gibson-Graham ursprünglich entwickelt, um den Prozess der Entstehung von community economies anzustoßen. Da es nicht mein Forschungsinteresse war, community economies ins Leben zu rufen, sondern bestehende widerspenstige Alltagspraxen in den theoretischen Blick zu nehmen, ziehe ich die Koordinaten heran, um die Beispiele zu veranschaulichen. Im Gegensatz zu Gibson-Graham schreibe ich damit – als Forscher_in und nicht als Mitglied einer community economy – den Koordinaten bestimmte Stichworte zu, die den Gruppendiskussionen entnommen sind.3 Der hohe Stellenwert, der in den Gruppendiskussionen der Thematisierung der Widersprüche und der Verstrickungen in die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zugesprochen wurde, in denen sich die Aktivist_innen der Praxisbeispiele bewegen, weist darauf hin, dass Friederike Habermanns Insistieren auf der Notwendigkeit der Subjektfundierung von Hegemonietheorien für die hegemonietheoretische Debatte von hoher Bedeutung ist. Hier böte es sich an, die gewählten Praxisbeispiele als Mikrokosmos gesellschaftlicher Verhältnisse zu untersuchen, um herauszuarbeiten, wie sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und das Ringen um ihre Veränderung in den widerspenstigen Alltagspraxen niederschlagen.4 Die Geste der doppelten Emanzipation – das heißt die Annahme, dass Hegemonie nur dann überwunden werden kann, wenn sowohl für eine Gleichberechtigung innerhalb der herrschenden Verhältnisse als auch für die Überwindung dualistischer Denkweisen gekämpft wird – sowie die damit verbundene Bereitschaft, die eigenen Privilegien infrage zu stellen und sukzessive zu verlernen, spiegelt sich ebenfalls in den Ergebnissen der Gruppendiskussionen wider. Antke Engels Kriterien der Denormalisierung und Enthierachisierung bieten sich als Werkzeuge an, um auszuloten, inwieweit es den Praxisbeispielen gelingt, ihren emanzipatorischen Ansprüchen gerecht zu werden. Damit gibt Engel Kriterien an die Hand, um gefällte Entscheidungen und kollektive Handlungspraxen, die in einem Setting grundsätzlicher Unentscheidbarkeit gewagt wurden, im Nachhinein zu bewerten.5
2
Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.3.1.
3
Die Visualisierung in Schaubildern erfolgt im weiteren Verlauf des Kapitels.
4
Diese Fragestellung geht über meine hinaus und bedarf einer anderen empirischen Datengrundlage.
5
Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.3.3.
Von der Praxis lernen? | 217
Im Folgenden will ich in erster Linie die Stärken der Theorieansätze anhand des Beispiels des Mietshäuser Syndikats darlegen. Das Mietshäuser Syndikat bietet sich deshalb an, weil es das Beispiel mit sehr greifbaren Zielen und Handlungsweisen ist. Darüber hinaus ist es sicher auch die inhaltliche Tiefe der geführten Gruppendiskussion, die es erleichtert, die theoretischen Überlegungen mit den Handlungspraxen der Syndikatsmitglieder abzugleichen. Die Tiefe der Diskussion ergab sich aus dem zum Zeitpunkt meiner Anfrage bei vielen Mitgliedern bereits vorhandenen Bedürfnis, im Mietshäuser Syndikat eine Diskussion über die Grundsätze ihrer Arbeit zu führen. Dort wo das Hinzuziehen der beiden anderen Beispiele weiteren Erkenntnisgewinn verspricht oder der Verdeutlichung dient, werde ich auch auf die NewYorck im Bethanien und den Schwarzen Kanal eingehen. Mit dem Mietshäuser Syndikat lässt sich das von J.K. Gibson-Graham vorgeschlagene Instrumentarium zur Schaffung von community economies gut veranschaulichen. Die Perspektive von Gibson-Graham ermöglicht es, die Aktivitäten des Mietshäuser Syndikat in den theoretischen Rahmen einzubetten und zu beschreiben. Die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion machen sehr ausdrücklich darauf aufmerksam, dass sich ihr Engagement im Mietshäuser Syndikat im Feld von Politiken der ökonomischen Möglichkeiten („politics of economic possibilities“) (Gibson-Graham, 2006b, S. XXXIII) bewegt. Wenn ihre Art der Organisation von Wohnraum bereits das Praktizieren des Utopischen bedeutet (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 34), dann stehen sie für Alltagspraxen, die die bestehenden hegemonialen Verhältnisse brüchig werden lassen, da der postulierten Alternativlosigkeit konkrete Alternativen entgegengesetzt werden. Das folgende Zitat veranschaulicht beispielsweise sehr deutlich die Idee, die hinter der Begrifflichkeit ‚Politiken der ökonomischen Möglichkeiten’ steht: „Das ist genau der Ansatzpunkt, wo man dann so gewisse Handlungs- und [...] Spielräume im Kopf freischalten kann und dann dadurch Handlungsspielräume [...] neu erschaffen kann.” (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 34) In den folgenden Schaubildern habe ich die Strategien kollektiver Handlungsfähigkeit zur Überwindung kapitalistischer Verhältnisse festgehalten. Auffallend ist, dass beim Mietshäuser Syndikat neben der auf den ersten Blick offensichtlichen Strategie – der Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit mittels der Schaffung von Gemeineigentum – ein weiterer Schwerpunkt der politischen Arbeit im Bereich der Sprach- und Wissenspolitiken liegt. Diese Politiken werden durch das schlichte Aufzeigen von alternativen Formen des Wohnens und Lebens ebenso verfolgt, wie durch die selbst
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zugeschriebene Bildungsfunktion des Syndikats, also indem Wissen durch Beratung und Öffentlichkeitsarbeit weitergegeben wird (Schaubild 1).
Schaubild 1: Politics of economic possibilities im Mietshäuser Syndikat
Ebenso wie sich die Handlungsstrategien gut herausarbeiten lassen, können die vier Koordinaten von community economies – die Frage nach den Bedürfnissen, den Gemeingütern, den Formen des Konsums und des Mehrwerts – im Mietshäuser Syndikat klar benannt werden (Schaubild 2). Sie machen deutlich, dass sich das in widerspenstigen Alltagspraxen Geschaffene nicht rein monetär ausdrücken lässt. Die hier gelebten Alltagspraxen produzieren Formen von Mehrwert, der sich nicht in die Logiken kapitalistischer Wertschöpfung einpassen lässt, sondern über kapitalistische Strukturen hinaus weist. Eine Solidargemeinschaft mit geteilter Verantwortung beispielsweise ist kaum in finanzielle Kosten-Nutzen-Rechnungen zu integrieren. Ebenso ist die Erfahrung, durch das Mietshäuser Syndikat zu einem kollektiven Akteur zu werden, der Handlungsfähigkeit schafft, nicht in
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Schaubild 2: Das Mietshäuser Syndikat als community economy
die Maßstäbe von Mehrwertproduktion umzurechnen. Als Beispiel hierfür diente das Argument, die meisten Mitglieder in den Syndikatsprojekten seien nicht in der Lage, ohne die Strukturen des Mietshäuser Syndikats eine Immobilie zu kaufen, da ihnen dazu die finanziellen Mittel und das notwendige Wissen fehlen würden (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11). Als weiteren Aspekt möchte ich betonen, dass diese Form der Mehrwertproduktion – wenn sie denn als solche benannt werden soll – ohne Ausbeutung oder kapitalistische Inwertsetzung auskommt. Wie ich bereits im vorangegangenen Kapitel hervorgehoben habe, spielte die Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten in der Gruppendiskussi-
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on des Mietshäuser Syndikats eine große Rolle. Es stellt sich daher die Frage, ob der politische Umgang des Syndikats mit dem Widerspruch, ein potentieller Gentrifizierungsakteur zu sein, mit der Strategie der Politisierung der Unentscheidbarkeit politischen Handelns (nach Antke Engel) erfasst werden kann.6 Aus meiner Perspektive gehen die Aktivist_innen im Mietshäuser Syndikat einen anderen Weg als ihn Engel vorschlägt.7 Nichtsdestotrotz – und das finde ich besonders interessant – kann der politische Umgang mit der Problematik dazu führen, zu den von Antke Engel forcierten Effekten der Denormalisierung und Enthierarchisierung beizutragen. Enthierarchisierend wirkt das Syndikat bei der Gentrifizierungsthematik, indem durch diesbezügliche Informations- und Diskussionsveranstaltungen Wissenshierarchien abgebaut werden (können). Die Treffen dienen zudem dem Ziel, die Menschen in ihrem Wohnumfeld miteinander ins Gespräch zu bringen und nach gemeinsamen Strategien zu suchen. Der denormalisierende Effekt ist auf den ersten Blick weniger offensichtlich. Hier geht es vor allem darum, den Besucher_innen der Veranstaltung zu zeigen, dass es erstens eine Vielfalt an Wohn- und Lebensformen gibt und zweitens, dass Wohnen nicht ausschließlich über Eigentum und/oder die Anmietung von Wohnraum organisiert sein muss. Da fehlendes kulturelles Kapital von den Syndikatsmitgliedern als Ursache für einen strukturellen Ausschlussmechanismus erkannt wird und sie sich daher den politischen Auftrag geben, durch verschiedene Formen der Wissensweitergabe dieses Machtverhältnis aufzubrechen, lässt sich auf die Bereitschaft zur doppelten Geste der Emanzipation und dem damit verbundenen Verzicht auf Privilegien schließen – zwei Konsequenzen, die Friederike Habermann aus ihrer Forderung nach der Subjektfundierung von Hegemonietheorie zieht.8 Eventuell ließe sich für das Beispiel der NewYorck im Bethanien sowie für den Schwarzen Kanal das Instrumentarium von Habermann erweitern. Wenn Habermann die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen in den Subjekten selbst in den Mittelpunkt hegemonietheoretischer Perspektiven stellt, dann ließe sich die vielfältige Nutzung von gemeinsam geteiltem Raum als Experimentierfeld für die Strategie des ‚Lernens am Anderen‘ untersu-
6
Zur Strategie der Unentscheidbarkeit vgl. auch Kapitel 3.3.3.
7
Zum Umgang mit dem Widerspruch vgl. auch Kapitel 6.2.
8
Vgl. Kapitel 5.2.1, Zwischenüberschrift: ‚Ausschlussproduktion: Das Mietshäuser Syndikat als potentielles Eliteprojekt’. Zur Subjektfundierung von Hegemonietheorie vgl. Kapitel 3.3.2.
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chen. Wenn beispielsweise – wie ich im nächsten Teilkapitel zeigen werde – die Heterogenität der Nutzer_innen und Nutzungsformen in der NewYorck eine wesentliche Herausforderung für die emanzipatorischen Ansprüche ist, dann ließe sich der Umgang der Aktivist_innen mit den verschiedenen gesellschaftlichen Privilegien und Hierarchien, die in dem Projekt zum Tragen kommen, als Formen der Hegemonie(re)produktion und Strategien zur Überwindung dieser Herrschaftsverhältnisse untersuchen. Dazu bedarf es aus meiner Perspektive des Versuchs, die Überlegungen von Friederike Habermann für die Untersuchung von Praxisbeispielen zu operationalisieren.
6.2 Grenzen der Theorieperspektiven Wie deutlich geworden sein sollte, ist das theoretische Instrumentarium der queer-feministischen Kapitalismuskritiken hilfreich, um damit die widerspenstigen Alltagspraxen des Mietshäuser Syndikats sichtbar zu machen. Schwieriger gestaltet sich diese Aufgabe bei der NewYorck im Bethanien und dem Schwarzen Kanal. Alle drei Projekte lassen sich als ‚Verbundprojekte’ beschreiben – das Mietshäuser Syndikat als Dachorganisation aller Mietshäuser Syndikatsprojekte, die NewYorck als Zusammenschluss emanzipatorischer Projekte in Berlin und der Schwarze Kanal als Bauwagenplatz mit Projektstruktur. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Beispielen liegt darin, dass es sich beim ersten um in Deutschland verteilte Projekte handelt, die sich eine gemeinsame Struktur aufgebaut haben (das Mietshäuser Syndikat) und im zweiten Fall um Projekte, in denen sich verschiedene Gruppen die gleichen Örtlichkeiten teilen (die NewYorck und der Schwarze Kanal). Dieser Unterschied ist möglicherweise ein Erklärungsansatz für die Herausforderungen und Grenzen der Theorieperspektiven. In diesem Teilkapitel will ich deshalb aufzeigen, wo die theoretischen Ansätze aus meinen Suchbewegungen an Grenzen stoßen und nach möglichen Erklärungen für die Schwierigkeiten fragen. Ich werde die Grenzen in erster Linie anhand der NewYorck im Bethanien aufzeigen und durch Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen zum Schwarzen Kanal und zum Mietshäuser Syndikat vertiefen. Grenzen des Konzepts von community economies Für das Bethanien stellt die Heterogenität des Projekts eine große Herausforderung dar. Die Trennung zwischen öffentlichem Veranstaltungsbereich und privatem Wohnbereich, die Vielzahl der Projekte und Initiativen, die die
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Infrastruktur und Räumlichkeiten der NewYorck nutzen, das unterschiedliche involviert Sein der Projekte und Initiativen in die Rahmenstruktur der Selbstverwaltung usw. werfen Fragen auf, die die Beschreibung des Raums emanzipatorischer Projekte mit Hilfe der theoretischen Ansätze erschweren. Die Frage nach der Schwerpunktsetzung bei den Handlungsstrategien nach J.K. Gibson-Graham lässt sich noch relativ leicht beantworten: Die Besetzung des Hauses sowie der Prozess der Legalisierung ist in erster Linie den Strategien kollektiver Handlungsfähigkeiten zuzuordnen. Die Einbettung der Auseinandersetzung um die Legalisierung der NewYorck in den strukturellen Rahmen von Stadtumstrukturierung und Gentrifizierung lese ich als Teil von Sprach- und Wissenspolitiken. Intention der Aktivist_innen war es von Anfang an, auch Subjektpolitiken anzustoßen. Diese Strategie ist jedoch mehr ein Effekt der Aktivitäten und bildet weniger einen zentralen Schwerpunkt der Arbeit des Bethaniens. Wenn eine Diskussionsteilnehmer_in beispielsweise darauf verweist, dass sie sich zwar im Bethanien weniger gegendert fühlt als an ihrem Lohnarbeitsplatz, die Auseinandersetzung mit Geschlechtszuschreibungen aber auch im Bethanien tendenziell als eine private Gelegenheit angesehen wird, dann lässt sich daraus schließen, dass Subjektpolitiken keinen besonders hohen Stellenwert einnehmen. Über die Konfliktbearbeitung in Form von Workshops zur Thematik finden dann trotzdem Subjektpolitiken statt (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S.12ff, S. 14 u. 15). An anderer Stelle wird die These vertreten, es gebe „eine normale Sicht” (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15) auf die Frage, was politisch sei. „Da gibt es auch so Hierarchien, was dann als politisch angesehen wird. Oder was als wichtig angesehen wird“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15). Auch hierin zeigt sich, das Subjektpolitiken nicht im primären Fokus der Aktivitäten des Bethaniens stehen. Die Heterogenität der Nutzer_innen und Nutzungsformen der NewYorck stellt die Frage nach den Handlungsstrategien vor weitere Herausforderungen. Beispielsweise wird für die Bewohner_innen des Projekts vermutlich der Stellenwert von Subjektbildungsprozessen höher angesiedelt sein als für den Projektbereich. Das heißt, je nachdem von welcher Gruppe und zu welchem Zweck die Räume der NewYorck konkret genutzt werden, wird sich ein anderes Bild ergeben, welche Strategien schwerpunktmäßig zum Tragen kommen und was sich dann hinter den Begriffen kollektive Handlungsfähigkeit, Sprach- und Wissenspolitiken und Subjektpolitiken verbirgt. Deutlich wird an den Ausführungen, dass die analytische Trennung in die drei Handlungsstrategien in der Praxis schwer auszuführen ist. Die Kategorien sind viel unschärfer in den Konturen und überlappen und durchdringen sich auf vielfältige Art und Weise. Was ich mit diesen Überlegungen auch aufzei-
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gen möchte, ist, dass meine anfängliche Einschätzung der Schwerpunktstrategie bei der Wahl der Praxisbeispiele – Mietshäuser Syndikat: Politiken kollektiver Handlungsfähigkeit, NewYorck im Bethanien: Sprach- und Wissenspolitiken, Schwarzer Kanal: Subjektpolitiken – in dieser Klarheit nicht beizubehalten ist. Das folgende Schaubild verdeutlicht die beschriebenen Schwierigkeiten am Beispiel der Visualisierung der NewYorck als community economy (Schaubild 3). Wie auf dem Bild zu sehen ist, ist beispielsweise die Koordinate der Bedürfnisse im heterogenen Projekt NewYorck im Bethanien sehr vielschichtig und widersprüchlich und erschwert es, die weiteren Koordinaten zu bestimmen. Vor allem das Bedürfnis, ein Schutzraum und ein Freiraum mit niedrigschwelligem Angebot zu sein, ist im Alltag nicht unbedingt miteinander vereinbar. Das Schutzraumbedürfnis äußert sich unter anderem
Schaubild 3: Die NewYorck im Bethanien als community economy
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darin, dass es den politischen Anspruch gibt, dass Menschen im Bethanien möglichst nicht mit bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen konfrontiert werden. Zum Beispiel wird rassistische Ausgrenzung formal nicht toleriert. Gleichzeitig führt das Ziel, „niedrigschwellig Raum für verschiedene Projekte zur Verfügung“ (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 1) zu stellen, immer wieder zu Konflikten mit dem Schutzraumbedürfnis, weil die Offenheit des Projektes auch Menschen ansprechen möchte, die sich – um im Beispiel zu bleiben – noch nicht ihres Alltagsrassismus’ bewusst sind.9 Da rassistische Zuschreibungen und Vorurteile in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft bis hinein in die Subjektbildungsprozesse wirkmächtig sind, kann es keinen Ort geben, der frei von Rassismen ist. Das Schutzraumbedürfnis hat demzufolge das Ziel, rassistische Ausgrenzung möglichst zu vermeiden. Wenn die Reflexion über die eigenen rassistischen Muster nicht zur Bedingung für den Zutritt zu diesem Ort wird – diese Forderung ist nicht nur schwer umzusetzen, sondern widerspräche auch der gewünschten Offenheit des Projekts – dann sind dem Schutzraum ‚antirassistischer Ort’ Grenzen gesetzt. Wie bereits am Beispiel des Bethaniens gezeigt wurde, ist es auch beim Schwarzen Kanal schwierig, den Kanal als community economy graphisch darzustellen, wie das nächste Schaubild zeigt (Schaubild 4). Aus meiner Perspektive ist auch hier vor allem die Heterogenität des Projekts die größte Hürde. Wenn ein Projekt „unterschiedliche, viele Sachen“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 2) ist und sich ständig verändert, dann ist es nicht einfach, mit den von Gibson-Graham vorgeschlagenen Koordinaten zur Schaffung von community economies zu arbeiten. Beim Vergleich der vier Schaubilder wird zudem deutlich, dass nicht nur die Koordinate der Bedürfnisse (necessity) mit potentiell konfliktierenden Bedürfnissen gefüllt werden kann, wie ich am Beispiel des potentiellen Konflikts zwischen Schutzraum- und Freiraumbedürfnis gezeigt habe. Auch die Frage danach, was das gemeinsame Ziel ist und welche Gemeingüter mit den Projekten geschaffen werden, d.h. die Koordinate der Commons, lässt sich nicht unbedingt eindeutig beantworten. Die Frage, was einen Raum emanzipatorischer Projekte (NewYorck im Bethanien) oder eine Gemeinschaftsfläche für radikal queere und antirassistische Aktivitäten (Schwarzer Kanal) auszeichnet, lässt beispielsweise deutlich mehr Interpretationsspielraum als das Ziel, Gemeineigentum zu schaffen und die Reprivatisierung zu verhindern (Mietshäuser Syndikat).
9
Vgl. hierzu auch die Diskussion in Kapitel 5.2.2, darin u.a. Zwischenüberschrift: ‚NewYorck im Bethanien: Selbstverständnis’.
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Schaubild 4: Der Schwarze Kanal als community economy
Ich frage mich daher, ob das Konzept der community economies eventuell nur für bestimmte Formen kollektiver Organisierung geeignet ist. Je klarer das Ziel einer Gruppe formuliert werden kann, desto einfacher scheint es, das Konzept der community economies anzuwenden. Je vielschichtiger und diffuser die politischen Ziele einer Gruppe sind und umso heterogener die Gruppenzusammensetzung ist, desto schwieriger wird es, mit dem Konzept von community economies zu arbeiten. Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei auch um ein Ebenen-Problem handelt. Das Mietshäuser Syndikat ist ein Verbund von Projekten, der unter den gemeinsamen Nenner ‚Schaffung von Gemeineigentum und Verhinderung von Reprivatisierungen‘
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in Verbindung steht, der ‚alltägliche Alltag‘10 findet in den verschiendenen Hausprojekten statt. Demgegenüber sind die beiden anderen Beispiele zwar auch Verbundprojekte, die verschiedenen Projekte im Bethanien und am Schwarzen Kanal teilen sich jedoch die gleichen Örtlichkeiten. Das heißt, das Gemeinsame oder Verbindende ist der geteilte Raum und der darin hervortretende politische Anspruch: Bei der NewYorck als ‚Raum emanzipatorischer Projekte‘ und beim Schwarzen Kanal als ‚radikal queerer Ort‘. Die Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der Bedürfnisse standen bei denjenigen Gruppendiskussionen im Mittelpunkt, die im direkten Wohn- und Aktivitätsumfeld der Diskussionsteilnehmer_innen stattfanden. Die Mitgliederversammlung des Mietshäuser Syndikats ist demgegenüber ein Treffen, zu dem verschiedene Projekte im Mietshäuser Syndikat zusammen kommen, die im ‚alltäglichen Alltag‘ in meist recht loser Verbindung stehen, sich teilweise nur über die Struktur des Mietshäuser Syndikats kennen. Der gemeinsam geteilte Alltag ist in den beiden anderen Beispielen deutlich enger. Zwar müssen die Aktivist_innen am Schwarzen Kanal und in der NewYorck nicht alle Veranstaltungen gemeinsam durchführen oder im Bereich des Wohnens eine Küche teilen, allerdings tragen sie gemeinsam Sorge dafür, dass und wie die Örtlichkeiten genutzt werden und in ihrer Existenz gesichert bleiben. Das heißt für mich, dass es dem Konzept von community economies nicht immer gelingt, jene konkreten Projekte adäquat zu beschreiben, die gesellschaftliche Strukturen über Alltagshandeln und -leben verändern (wollen) und dadurch die herrschenden Verhältnisse herausfordern. Das genannte Ebenen-Problem zeigt demgegenüber aber auch auf, dass die Frage, was community economies sind, offen bleiben muss. In J.K. Gibson-Grahams Worten geht es darum, Politiken der ökonomischen Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich aus Prozessen der Entstehung von community economies speisen, die experimentell, demokratisch, offen und politisch sind (vgl. Gibson-
10
Ich arbeite hier mit dem Begriff ‚alltäglicher Alltag‘, um zu verdeutlichen, dass es im Alltag unterschiedliche Abstufungen der Regelmäßigkeit gibt. So ist beispielsweise das morgendliche Zähneputzen ‚alltäglicher Alltag‘. Der Besuch von Demonstrationen demgegenüber ist in dem genannten Beispiel Teil des persönlichen Alltags und hebt sich gleichzeitig vom Akt des Zähneputzens in seiner Alltäglichkeit ab. Um im Syndikatsbeispiel zu bleiben: Der Besuch einer Mitgliederversammlung bewegt sich weniger im Rahmen des von mir sogenannten ‚alltäglichen Alltags‘ und gehört gleichzeitig zum Alltag der Syndikatsmitglieder.
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Graham, 2006a, S. XV). Diese Offenheit mag auch ein Erklärungsansatz sein, warum sich das Analyseinstrument von community economies als unterschiedlich tragfähig erwiesen hat. Die notwendige Offenheit des Konzepts reibt sich daher unter Umständen an dem Instrumentarium, das J.K. Gibson-Graham anbieten. Politischer Umgang mit Widersprüchen Bei der Frage danach, wie die hier untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen mit Widersprüchen umgehen, fällt auf, dass sich aus den Ergebnissen der Gruppendiskussionen die Anwendung der von Antke Engel vorgeschlagenen Strategie der Politisierung der Unentscheidbarkeit nicht herauslesen lässt. Stattdessen finden sich im Beispiel des Mietshäuser Syndikats und im Bethanien zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit Widersprüchen, die in den Diskussionen jeweils eine große Rolle spielten: die Akzeptanz der Verstricktheit in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und die Positionierung innerhalb politischer Auseinandersetzungen. Beim Bethanien wurde der Umgang der Aktivist_innen mit dem Wissen um ihr verstrickt-Sein in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse mit der Strategie der Akzeptanz dieser Verstricktheit beantwortet. Konkret wurden kapitalistische Verhältnisse als Herrschaftsverhältnisse diskutiert, die dazu führen, dass die Aktivist_innen oft „im Gegenteil [...] ihrer eigenen Emanzipation [...] stecken” (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Aus dieser Perspektive kann ein gewisser pragmatischer Umgang mit emanzipatorischem Ideal und konkreten Realisierungsmöglichkeiten desselben das Handlungsrepertoire erhöhen. Dieser Pragmatismus bedeutet, dass die Spannung durch die Annahme der Eingebundenheit in die gesellschaftlichen Strukturen ausgehalten, aber nicht öffentlich politisiert wird. Die Kriterien der Enthierarchisierung und Denormalisierung lassen sich auch im Praxisbeispiel der NewYorck als Bewertungsmaßstäbe heranziehen. Was heißt es beispielsweise für das Kriterium der Enthierarchisierung, wenn Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion davon reden, dass es auch die Unwilligkeit gibt, eigene Privilegien abzugeben (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 15)? Diese Selbstreflexion weist zumindest auf das Wissen der Aktivist_innen hin, dass das Ziel des Aufbaus möglichst hierarchiearmer Strukturen auch mit der Abgabe von Privilegien verbunden ist. Es lässt sich folglich als ein Beispiel für das Vorhandensein des Kriteriums der Enthierarchisierung lesen. Die in dem Projektverbund aufkommenden Spannungen, Widersprüche, Debatten usw. bieten aus einer solchen Perspektive Experi-
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mentierräume, in denen Privilegien wenn nicht verlernt, so doch zumindest infrage gestellt werden. Das Mietshäuser Syndikat dagegen wählt die Strategie der politischen Positionierung und Einmischung in Gentrifizierungsdynamiken im Umgang mit dem Widerspruch, ein potentieller Gentrifizierungsakteur zu sein, obwohl die Syndikatsprojekte dem Immobilienmarkt entzogen werden. Hier sei beispielsweise an die Aktion Sperrminorität erinnert, die den Verkauf von kommunalem Wohnungsbestand in Freiburg dauerhaft verhindern wollte. Der vorgeschlagene Maßnahmenkatalog orientierte sich am Modell des Mietshäuser Syndikats.11 Ein anderes Beispiel wäre der selbstgegebene Bildungsauftrag des Mietshäuser Syndikats mit dem Ziel, fehlendes kulturelles Kapital durch Beratungen und Weitergabe von Wissen auszugleichen und damit Selbstorganisierungsprozesse zu unterstützen.12 Den Aktivist_innen im Mietshäuser Syndikat geht es daher weniger darum zu politisieren, dass es schwer möglich ist, eine klare Antwort auf die Frage zu finden, ob sie Teil von Gentrifizierungsprozessen sind oder nicht. Die Entscheidung, sich aktiv in Debatten um Gentrifizierung einzubringen und Verdrängungsmechanismen aufzudecken und zu skandalisieren, ist daher nicht mit der Strategie von VerUneindeutigung bzw. der Politisierung der Unentscheidbarkeit zu vergleichen. Die hier aufgezeigten Grenzen der theoretischen Ansätze aus den queerfeministischen Kapitalismuskritiken und den damit verbundenen Herausforderungen an die Theorieproduktion sollen nicht als Problem oder gar als nicht hinzunehmende Abweichung missverstanden werden. Vielmehr dienen sie mir als Plädoyer, Theorieproduktion und aktivistische Praxis in einen produktiven Dialog zu bringen, um gegenseitige Lernprozesse anzuregen. Das folgende Kapitel 6.3 fragt daher danach, was die Theorie aus der Analyse der betrachteten widerspenstigen Alltagspraxen lernen kann.
11
Zur Aktion Sperrminorität siehe Kapitel 5.2.1, Zwischenüberschrift: Bezug zu Stadtentwicklung und Auswirkungen auf die Nachbarschaft.
12
Zum Bildungsauftrag des Syndikats vgl. Kapitel 5.2.1, Zwischenüberschrift ‚Ausschlussproduktion: Das Mietshäuser Syndikat als potentielles Eliteprojekt’.
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6.3 Lerneffekte für die Theoriebildung Nachdem in den vorangegangenen Ausführungen die Nützlichkeit der theoretischen Perspektiven und Handlungsansätze sowie die Grenzen der Theoretisierungen im Vordergrund standen, wende ich mich hier den Lerneffekten zu. Welche Erkenntnisse aus den Gruppendiskussionen lassen sich festhalten, die die Theorieproduktion bereichern? Auffallend ist, dass die praxisbezogenen Ergänzungen im Wesentlichen auf die demokratietheoretische Perspektive fokussieren. Eine Erklärung hierfür liegt in den unterschiedlichen Funktionen, die die Suchbewegung 1 & 2 erfüllten. So bewegt sich die Herleitung des Demokratiebegriffs auf einer anderen Abstraktionsebene als die Suche nach Handlungsansätzen in den besprochenen queer-feministischen Kapitalismuskritiken, die dazu beitragen, das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen in den Blick zu nehmen und konkrete Handlungsstrategien vorschlagen. Darüber hinaus finden sich in dem Interviewmaterial spannende Anhaltspunkte, wodurch sich widerspenstige Alltagspraxen auszeichnen und was ihre Stärken sind. Ich werde daher nachfolgend erstens für die kapitalismuskritische Perspektive resümieren, welche Schlussfolgerungen sich aus vorangegangenen Teilkapiteln ziehen lassen um anschließend (zweitens) auf die demokratietheoretischen Hinweise eingehen, die sich in den Praxisbeispielen finden. Drittens werde ich kurz auf die Gruppendiskussion zum Mietshäuser Syndikat zurückgreifen und anhand dieser den Begriff der widerspenstigen Alltagspraxen ergänzen. 6.3.1 Einsichten für die kapitalismuskritische Perspektive Für die kapitalismuskritische Perspektive lässt sich festhalten, dass die Teilnehmer_innen der Gruppendiskussionen immer wieder von den Wechselwirkungen zwischen (selbst) geschaffenen kollektiven Strukturen und persönlichem Handeln und Denken berichten. Sie weisen darauf hin, welche bedeutende Rolle das Wissen über die Funktionsweisen gesellschaftlicher Strukturen hat und betonen gleichzeitig die Veränderbarkeit jenes Wissens durch die Schaffung anderer Strukturen und Denkperspektiven. Hier lässt sich an das Plädoyer von Gibson-Graham anschließen, im Sinne einer ‚weak theory’ die Suche nach Möglichkeitsräumen als einen wichtigen Schritt bei der – zwangsläufig auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägten – Wissensgenerierung zu begreifen.
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In allen drei Gruppendiskussionen lassen sich Hinweise finden, die die Dominanz kapitalozentristischen Wissens aufzeigen und die konkreten Alltagspraxen herausfordern. Gleiches gilt für die damit verbundene Wahrnehmung der Menschen als Nutzen maximierende, dem Menschenbild des homo oeconomicus entsprechende, neoliberal geprägte Subjekte. Gleichzeitig berichten die Diskussionsteilnehmer_innen immer wieder vom Potential und der Kraft der Veränderung, die in den widerspenstigen Alltagspraxen stecken. Wenn beispielsweise die Selbstorganisation in den Projekten ein Gespür dafür vermittelt, wie die Gesellschaft sein könnte (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 16) oder die heteronormativen Strukturen in einer radikal queeren Praxis aufgebrochen werden (vgl. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 18), dann entstehen darin Momente, die eben nicht in die Logiken kapitalistischer Gesellschaftsorganisation passen. Anhand der Praxisbeispiele lässt sich folglich begründen, warum die Dekonstruktion dominanten Wissens über die Funktionsweisen kapitalistischer Strukturen wichtig ist. Die von den Aktivist_innen erlebte Kraft des Handelns lässt sich im Umgang mit Widersprüchen veranschaulichen: Widersprüche zwischen politischem Ideal und konkreter Praxis werden zwar auch den gesellschaftlichen Strukturen zugesprochen, trotzdem hält es die Aktivist_innen nicht davon ab, ihre Träume zu verwirklichen bzw. für die gewünschte Gesellschaftsveränderung einzutreten. Damit verbunden ist die Suche nach einem Umgang mit den Widersprüchen, der die Handlungsfähigkeit der widerspenstigen Praxen stärkt, wie es die Strategien der Akzeptanz der Verstricktheit und der politischen Positionierung verdeutlichen.13 6.3.2 Ergänzungen der demokratietheoretischen Perspektive Für die demokratietheoretische Perspektive möchte ich Überlegungen vorstellen, die sich aus der Gruppendiskussion des Mietshäuser Syndikats und der NewYorck im Bethanien ergeben. Den Punkten voranstellen möchte ich jedoch eine Bemerkung zum Demokratieverständnis der Gruppendiskussionsteilnehmer_innen. Es betrifft die strikte Ablehnung der Begrifflichkeit Demokratie. In allen drei Diskussionen finden sich Äußerungen, die eine ablehnende Haltung begründen. Besonders ausgeprägt war dies beim Mietshäuser Syndikat: Hier wollten sich die Diskussionsteilnehmer_innen ausdrücklich der „Hegemonialdebatte“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 15)
13
Vgl. Kapitel 6.2, Zwischenüberschrift: ‚Politischer Umgang mit Widersprüchen’.
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um das Verständnis von Demokratie verweigern. Die politischen Ansprüche, Gedanken und Aktivitäten im Syndikat sowie im Zusammenleben der Aktivist_innen sollten nicht in den Dienst eines Machtkampfs um die Deutungshoheit der Begrifflichkeit Demokratie gestellt werden. Da es mir in meinen demokratietheoretischen Überlegungen in erster Linie um die Frage ging, wie Demokratie konzipiert sein muss, um Alltagshandeln in den Fokus demokratietheoretischer Betrachtungen zu rücken, werde ich trotzdem danach fragen, was aus den Beispielen für eine demokratietheoretische Perspektive gelernt werden kann, zumal der Begriff Basisdemokratie – im Gegensatz zur Begrifflichkeit Demokratie – mehrmals als positiver Bezugspunkt genannt wurde. Das heißt, ich bleibe dabei, die Aktivitäten in den widerspenstigen Alltagspraxen auch als demokratische Praxen zu lesen. Mithilfe der Rekonstruktion der Gruppendiskussion zum Mietshäuser Syndikat in Kapitel 5.2.1 lassen sich drei Ergebnisse festhalten, die in dieser Klarheit in den theoretischen Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff nicht sichtbar waren: Der Zusammenhang zwischen demokratischen Praxen und kapitalistischen Strukturen (erstens), die Verknüpfung von Freiheit und Sicherheit (zweitens) und (drittens) die Bedeutung des Konsensbegriffs. Demokratische Praxen stellen kapitalistische Strukturen infrage Als ersten Punkt möchte ich die Annahme aufgreifen, dass hierarchiefreies, selbstbestimmtes und kollektives Zusammenleben nicht vereinbar ist mit der Ungleichverteilung von Privatbesitz. In der Diskussion ging es konkret um Wohneigentum. Stattdessen wurde die Idee von Nutzungseigentum stark gemacht. Das heißt, die Aktivist_innen des Mietshäuser Syndikats verbinden ihre Forderung nach maximaler Selbstbestimmung mit der Vorstellung, Strukturen zu schaffen, die sich kapitalistischen Verwertungsmöglichkeiten verweigern.14 Das Demokratieverständnis geht daher mit einer Infragestellung kapitalistischer Strukturen einher. Antikapitalistisches Engagement ist in dieser Lesart untrennbar mit einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. Wenn kapitalistische Verhältnisse sehr wirkmächtige Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sind, dann lässt sich eine grundlegende Demokratisierung der Lebensverhältnisse kaum ohne die Infragestellung kapitalistischer Strukturen und Mechanismen erreichen. Auch wenn es sicherlich nicht von ungefähr kommt, dass dieser
14
Vgl. Kapitel 5.2.1, Zwischenüberschrift: ‚Die Crux mit dem Privateigentum: Gründe für’s Gemeineigentum’.
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Zusammenhang besonders beim Mietshäuser Syndikat ins Auge fällt – einem Beispiel das sich der Schaffung von Gemeineigentum verschrieben hat – habe ich dieses Ergebnis in dieser Deutlichkeit nicht erwartet. Verknüpfung von Freiheit und Sicherheit Der zweite Aspekt ist die Verknüpfung von Sicherheit und Freiheit, die in der Diskussion mehrmals hergestellt wird. Die Schaffung kollektiver Sozialstrukturen, die den Projekten eine dauerhafte Basis bieten, ist ein häufig geäußertes Bedürfnis. Gleichermaßen wird die Freiheit geschätzt, das Projekt wieder verlassen zu können ohne in finanzieller Hinsicht existentiellen Schaden zu nehmen. Diese Freiheit, jederzeit das Projekt verlassen zu können, wenn die persönlichen Bedürfnisse nicht mehr mit den Strukturen des Projektes vereinbar sind, wird als ein sehr hoher Zugewinn an Lebensqualität geschätzt. Hierbei ist es unerheblich, ob sich die Projektstrukturen und/oder die persönlichen Bedürfnisse verändert haben.15 Diese Verknüpfung von Sicherheit und Freiheit lese ich als Hinweis darauf, dass vielfältige und temporäre demokratische Praxen nicht notwendigerweise prekär und von kurzer Dauer sind. Stattdessen entstehen Strukturen, die in der Lage sind, auf Veränderungen zu reagieren und einen Kompromiss zwischen maximaler Freiheit und größtmöglicher Sicherheit zu bieten. Interessant ist zudem, dass hier Freiheit und Sicherheit jeweils positiv belegt sind und auch in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Die Sicherheiten, die durch kollektive Strukturen gewonnen werden (können), gehen daher nicht zu Lasten der persönlichen Freiheit. Die hier geschaffene Kollektivität ist folglich eine sich möglicherweise ständig verändernde Größe und ist nicht von einzelnen Gruppenmitgliedern abhängig. Diese Art der Kollektivität könnte auch ein Hinweis darauf sein, wie sich die Begrifflichkeit der Gemeinschaft-ohne-Gemeinsamkeit (Antke Engel) mit weiteren Attributen beschreiben lässt.16 Konsensprinzip Als dritte Ergänzung möchte ich auf die Betonung des Konsensprinzips hinweisen. Der Anspruch, Entscheidungen zu fällen, die von allen Betroffenen mitgetragen und unterstützt werden, wurde in der Diskussion sehr hoch gehalten (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 12ff.). Damit verbunden
15
Vgl. Kapitel 5.2.1, Zwischenüberschrift: ‚Die Crux mit dem Privateigentum: Gründe für’s Gemeineigentum’.
16
Vgl. Kapitel 3.3.3, Zwischenüberschrift: ‚Dissensorientierung’.
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ist die Erfahrung, erst durch gemeinsames Handeln Handlungsfähigkeit zu erlangen und dadurch Dinge zu bewirken, die von Einzelnen nicht geschafft werden können: „Wir sind alle [...] in irgendwelchen Strukturen eingebunden, verdienen alle nicht besonders viel Geld, könnten alleine wahrscheinlich nie [...] so eine Geschichte hochziehen, aber gemeinschaftlich kann man das schaffen. Und auch Verantwortung aufteilen und [...] einen kollektiven Akteur schaffen, der [...] was schafft, was man als Einzelner nicht schaffen kann.” (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 12) Der hohe Anspruch an Entscheidungsverfahren im Alltag erhöht die kommunikativen Fähigkeiten, d.h. das kulturelle Kapital der Syndikatsmitglieder und trägt gleichzeitig dazu bei, dass Verantwortung geteilt und gegenseitige Unterstützung erfahren wird. Die in Konsensentscheidungen enthaltene Wertschätzung aller Beteiligten wird dabei als ein besonderes Merkmal von Lebensqualität erlebt und zeichnet „eigentlich Leben [erst] aus“ (Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 13), auch wenn sich die Teilnehmer_innen der Diskussion gleichzeitig der Schwierigkeiten der Umsetzung dieses Ideals bewusst waren. Aus demokratietheoretischer Perspektive interessant sind beim Beispiel der NewYorck die Thematisierung von Freiwilligkeit sowie die Überlegungen zum Thema Pragmatismus. Beide Perspektiven weisen darauf hin, dass ein gehaltvoller Demokratiebegriff, der alltägliches Leben mit demokratischem Anspruch verbindet, in den aktuell herrschenden Strukturen oftmals an Grenzen stößt. Das Praktizieren präsentistischer Demokratie, wie es Isabell Lorey (2012; 2011) vorschlägt, wird durch die Unmöglichkeit, sich den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu entziehen, herausgefordert und begrenzt. Freiwilligkeit Steht Freiwilligkeit auf Ebene des westlichen Demokratieverständnis’ noch außer Frage – Menschen gehen zur Wahl oder auch nicht, sie beteiligen sich an partizipativen Verfahren oder auch nicht, stellt sich die Frage nach Freiwilligkeit auf der Ebene des Alltags nochmals anders. Da in den widerspenstigen Alltagspraxen repräsentative Entscheidungsverfahren abgelehnt werden und die Gruppengrößen in der Regel kleiner sind, wird eine mangelnde Beteiligung schneller zu einem Problem als im Repräsentativsystem parlamentarischer Demokratien. Im Anspruch radikaler Inklusion, welcher
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ein wesentliches Zeichen präsentistischer Demokratievorstellungen ist, ist das Moment von Freiwilligkeit enthalten. Radikale Inklusion verspricht allen Menschen die Möglichkeit, Teil der demokratischen Prozesse zu werden, wenn sie sich daran beteiligen.17 Äußere Grenzen werden formal nicht gesetzt. Gleichzeitig schafft die Zugehörigkeit zu einem Projekt ein bestimmtes Maß an Verbindlichkeit. Wenn die Selbstverwaltung der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit im Mittelpunkt demokratischer Praxen steht, dann gibt es den Anspruch, dass sich die Aktivist_innen an der Selbstverwaltung beteiligen. Ohne das Engagement der Beteiligten wird die Existenz des Projekts gefährdet sein. Der Anspruch, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, erfordert deshalb auch ein bestimmtes Maß an Leidensfähigkeit, wie eine Teilnehmer_in der Gruppendiskussion feststellte (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 37). Es ist in den Alltagspraxen daher notwendig, die Balance zu finden zwischen dem Postulat der Freiwilligkeit an der Beteiligung an den Prozessen der Selbstverwaltung und der Notwendigkeit des Engagements, soll das Projekt über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben. Für das Demokratieverständnis dieser Arbeit bedeutet dies, dass die Kontextbezogenheit ein wesentlicher Faktor für das Gelingen (oder auch Misslingen) präsentistischer Formen von Demokratie ist. Das heißt, je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden auch die demokratischen Umgangsweisen in den widerspenstigen Alltagspraxen variieren. Das Moment der jeweils wahrgenommenen Freiwilligkeit bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen wird folglich nicht immer gleich und von den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen geprägt sein. Pragmatismus In der Gruppendiskussion zum Bethanien gab es eine Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen eines gewissen Maßes an Pragmatismus. Ich habe Pragmatismus bereits als eine Strategie angeführt, die das Handlungsrepertoire erhöhen kann und damit einen möglichen Umgang mit dem Widerspruch zwischen politischen Idealen und Herausforderungen in den Alltagspraxen anbietet.18 Aus einer demokratietheoretischen Perspektive ist dieser Aspekt der Diskussion ebenfalls von Interesse. Die Bedeutung von Pragmatismus ist dabei demokratietheoretisch ambivalent zu bewerten. So stellt pragmatisches Handeln auf der einen Seite eine Möglichkeit des Um-
17 18
Vgl. Kapitel 4.3.2. Vgl. Kapitel 6.2, Zwischenüberschrift: ‚Politischer Umgang mit Widersprüchen’.
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gangs mit Widersprüchen dar: Menschen können, solange sie in vielen Bereichen ihres Lebens in ihrem Selbstbestimmungsrecht begrenzt sind, nicht in vollem Maße den anspruchsvollen Demokratiebegriff leben. Als Beispiel wurde die Notwendigkeit genannt, in kapitalistisch organisierten Lohnarbeitsverhältnissen zu stehen (vgl. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). Deshalb ist es vermutlich nicht besonders hilfreich, Organisationsstrukturen aufzubauen, die es notwendig machen, dass die meisten Leute „vollzeitrevolutionär unterwegs sind” (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14). In dieser Lesart kann Pragmatismus Handlungsfähigkeit erhöhen. Auf der anderen Seite kann ein Zuviel an Pragmatismus ein begrenzender Faktor für Selbstreflexionsprozesse sein, die wiederum notwendig sind, um dem Ideal möglichst herrschaftsbegrenzender und selbstermächtigender Gestaltung des eigenen Lebens näher zu kommen. Auch an dieser Problematik wird deutlich, dass ein anspruchsvolles Demokratieverständnis immer auch den gesellschaftlichen Kontext mit berücksichtigen muss. Die damit verbundene Herausforderung, auf der einen Seite ein Demokratieverständnis zu entwickeln, das normativ gehaltvoll ist und in die utopische Zukunft weist und auf der anderen Seite die Rückbindung an die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen nicht außer acht lässt, wurde in der demokratietheoretischen Suchbewegung dieser Arbeit in dieser Klarheit bisher nicht deutlich. Ein weiteres Ergebnis bezieht sich nicht direkt auf meine theoretischen Suchbewegungen, sondern auf das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen selbst. Da dieses Phänomen jedoch nicht nur ein Ergebnis sozialer Praktiken in konkreten Lebenszusammenhängen ist, sondern auch von mir als ein solches theoretisiert wurde, stelle ich im nächsten Abschnitt die Ergänzungen des Begriffs widerspenstige Alltagspraxen vor. 6.3.3 Erweiterungen zum Begriff widerspenstige Alltagspraxen Ich habe in der Einleitung den Begriff widerspenstige Alltagspraxen definiert, indem ich ihn als kollektives Alltagshandeln beschrieben habe, das sich die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zum Ziel gesetzt hat. Darüber hinaus habe ich widerspenstigen Alltagspraxen die Eigenschaften zugeschrieben, kapitalismuskritisch ausgerichtet zu sein und konsensorientierte, demokratische Umgangsweisen zu leben. Am Beispiel des Mietshäuser Syndikats lassen sich drei weitere Kennzeichen widerspenstiger Alltagspraxen ausmachen: Erstens die Fähigkeit, mit den vorhandenen Werkzeugen – seien es rechtliche Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Organisationsmodelle oder Marktlogiken – Verhältnisse zu
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schaffen, die über das Gegebene hinaus weisen. Konkret ist es hier beispielsweise die GmbH-Struktur, mit deren Hilfe eine Entprivatisierung von Wohnraum geschaffen wird. Es gelingt folglich, in kapitalistischen Strukturen unverkäufliches Gemeineigentum an Wohnraum zu generieren und auf Dauer zur Verfügung zu stellen. Dem kapitalistischen Zyklus der wechselnden Auf- und Abwertung von Wohngebieten zu Profitmaximierungs- und Spekulationszwecken wird mit einer Struktur des solidarischen und kollektiven Umgangs mit Wohneigentum begegnet, die einen Kontrapunkt zum vermeintlich unaufhaltsamen Prozess der kapitalistischen Immobilienverwertung setzt.19 Neben dem kreativen Umgang mit den existierenden gesellschaftlichen Strukturen sehen die Aktivist_innen zweitens die Notwendigkeit, in ihren Strategien offen zu bleiben, um auf Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reagieren zu können. Das heißt, die Strategien, mit denen aus einer heutigen Perspektive die gegebenen Verhältnisse herausgefordert werden, können mit der Zeit obsolet werden. Es bedarf folglich der Anpassungsfähigkeit der Strategien. Dieses Moment widerspenstigen Handelns wird beispielsweise dann deutlich, wenn die Struktur des Mietshäuser Syndikats als vorübergehend definiert wird (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 33). Als dritten Punkt möchte ich die Bedeutung von Kollektivität hervorheben. Kollektives Handeln schafft demnach erst die Voraussetzungen, die die Menschen im Syndikatsmodell Handlungsfähigkeit erleben lässt. Diese Kollektivität ist voraussetzungsvoll: Die Menschen müssen über ein bestimmtes Maß an kulturellem Kapital verfügen, um Prozesse anzuregen, die dazu führen, zu denken: ‚es geht auch anders‘. Dem Selbstverständnis des Syndikatsverbunds folgend ist damit neben der konkreten Umsetzung von Mietshäuser Syndiaktsprojekten die Bildungsfunktion ein zweiter wesentlicher Pfeiler zur Erhöhung der Handlungsfähigkeit der Menschen in ihrem Lebensalltag. Dies geschieht über das konkrete (Vor-)Leben der Utopie alternativer Wohn- und Lebensformen ebenso wie über Öffentlichkeitsarbeit und Beratungstätigkeiten. Mit der Bildungsfunktion des Syndikats soll folglich fehlendem kulturellen Kapital als Ursache von Handlungsunfähigkeit entgegengewirkt werden. Widerspenstige Alltagspraxen zeichnen sich daher immer auch durch die Kollektivität ihres Handelns aus. Ohne Kollektivität ist folglich das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen nicht zu denken.
19
Zur Struktur des Syndikats vgl. Kapitel 2.1.1.
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6.4 Zur Handlungsfähigkeit widerspenstiger Alltagspraxen An dieser Stelle möchte ich die Frage verfolgen, was die Theoriebildung – jenseits konkreter Anregungen – von den untersuchten Praxen in Bezug auf die Frage der Handlungsfähigkeit lernen kann. Für den Begriff der Handlungsfähigkeit lässt sich festhalten, dass bei dieser Frage eine Perspektivverschiebung stattfindet. Ging es in der theoretischen Auseinandersetzung im Wesentlichen um die Frage, welches (Theorie-)Wissen dazu beiträgt, die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zu denken, so stehen hier die Erfahrungen aus den Praxisbeispielen im Fokus, die aus Sicht der Aktivist_innen Handlungsfähigkeit erleben lassen. Ein sehr zentrales Moment von Handlungsfähigkeit lässt sich mit dem Begriff der Kollektivität beschreiben. Erst wenn es den Aktivist_innen gelingt, aus ihrer durch neoliberale Verhältnisse geprägten Vereinzelung auszubrechen, können sie (kollektive) Handlungsfähigkeit erleben. Die in den Projekten geschaffenen kollektiven Strukturen bleiben grundsätzlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt, sie tragen jedoch zur Veränderung der darin handelnden Subjekte bei und stoßen (dadurch) Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen an. Die Erfahrung, gemeinsam etwas zu erreichen, was als einzelne Person nicht zu schaffen wäre, ist dabei ein zentrales Moment der kollektiven Handlungsfähigkeit. Trotz selbstkritischer Reflexion über die gesellschaftspolitische Relevanz ihres Alltagshandeln sehen die Aktivist_innen in ihren Projekten einen „Modellversuch, ein anderes Zusammenleben auszuprobieren. Eine andere Art von Gesellschaft“ (Schwarzer Kanal, 2010b, S. 1). Die wahrgenommene kollektive Handlungsfähigkeit wird vom Versprechen nach mehr Möglichkeiten getragen und gilt als wesentliche Motivationsgrundlage (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 18). Die Idee von Gemeinschaft-ohneGemeinsamkeit ist aus meiner Perspektive auf ein solches Verständnis von Kollektivität angewiesen, da die in den Praxen gelebte Kollektivität mit einem solidarischen Grundprinzip verbunden wird. Ein weiterer zentraler Aspekt, der in den Praxen Handlungsfähigkeit erleben lässt, ist die erfahrene Kraft des Handelns. Diese ist verbunden mit einem utopischen Moment, das Spielräume im Kopf freischalten kann und damit mehr Handlungsspielräume ermöglicht (vgl. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 34). Die damit verbundene Chance, von der Alltagsnormalität abzuweichen, bietet das Potential, die erfahrenen (Lebens-)Realitäten partiell zu verändern. Darüber hinaus zeigt die Kraft des Handelns auf, dass
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das Wissen über Alternativen Veränderungen in der Perspektive ermöglicht, die wiederum die gefühlte Handlungsfähigkeit erhöhen kann. Die materielle Sicherheit des Projekts, das heißt, das Wissen um die gesicherte Existenzgrundlage ist ein Faktor, der die Handlungsfähigkeit in den Alltagspraxen stärkt. Wie ich dargestellt habe, ist es für die Interviewten ein zentrales Anliegen, dass das Projekt auf Dauer angelegt und gleichzeitig für seinen Fortbestand nicht auf das einzelne Individuum angewiesen ist (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11 u. 17). Diese materielle Sicherheit ist in den untersuchten Beispielen nicht gleichermaßen gegeben. Das Mietshäuser Syndikat bietet hierfür eine deutlich langfristigere Perspektive als etwa der Dreijahresvertrag des Schwarzen Kanals mit dem Liegenschaftsfonds Berlin über die Nutzung des Geländes in der Kiefholzstraße.20 Pragmatismus, Flexibilität und Kontextbezogenheit sind drei Aspekte, die die Handlungsfähigkeit in den widerspenstigen Alltagspraxen beeinflussen. Ob sie jedoch die wahrgenommen Handlungsfähigkeit begünstigen oder aber einschränken ist zunächst offen: Pragmatismus als Handlungsfähigkeit stärkendes und schwächendes Moment habe ich bereits ausführlich behandelt.21 Der Begriff der Flexibilität wurde beispielsweise in der Gruppendiskussion mit dem Schwarzen Kanal positiv diskutiert, da mit diesem der Anspruch verbunden wurde, Regelungen zu finden, die auf konkrete Situationen bezogen sind (vgl. z.B. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 9ff.). Das Mietshäuser Syndikat bezieht sich vor allem auf der individuellen Ebene positiv auf das Moment der Flexibilität. So wird jene unter anderem mit der Freiheit assoziiert, wieder gehen zu können ohne dabei die eigene Existenz oder das Weiterbestehen des Wohnprojekts zu gefährden (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11 u. 17). Bei der NewYorck dagegen wurde der Aspekt mit dem Begriff des konsumistischen Projekte-Hoppings verbunden, das die Handlungsfähigkeit schwächt (vgl. z.B. NewYorck im Bethanien, 2010, S. 20).
20
Die Zukunft des Schwarzen Kanals ist zum Zeitpunkt der Drucklegung sehr ungewiss. Der abgelaufene Vertrag wurde bislang nicht verlängert, weil der Liegenschaftsfonds auf einen rassistischen Passus besteht dessen Nichteinhaltung eine fristlose Kündigung zur Folge hätte. Aktuell wird das Grundstück zudem vom Land Berlin als Gelände zur Errichtung einer Unterkunft für Asylsuchende in Betracht gezogen.
21
Vgl. hierzu Kapitel 6.3.2.
Von der Praxis lernen? | 239
In der Kontextbezogenheit der Projekte wird die Verstrickung in die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse deutlich. Sie war den Diskussionsteilnehmer_innen sehr bewusst und wurde oft thematisiert. Ein Diskussionsmoment drehte sich dabei um den begrenzenden Faktor, der damit einhergeht: Das Modell des Mietshäuser Syndikats ist beispielsweise eben nicht einfach auf gewöhnliche Mietshäuser zu übertragen (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 21) und in der NewYorck können nicht alle „vollzeitrevolutionär” (NewYorck im Bethanien, 2010, S. 14) unterwegs sein, da die Aktivist_innen auf (kapitalistische) Lohnarbeitsverhältnisse angewiesen sind. Der Schwarze Kanal schließt beispielsweise durch Szenecodes und Organisationsstruktur ungewollt Menschen von der Nutzung des Platzes und der damit verbundenen Möglichkeiten aus, obwohl der radikal queere Anspruch, offen für alle zu sein, die die Selbstbestimmung der Geschlechter akzeptieren, diese Ausschlüsse verhindern will (vgl. z.B. Schwarzer Kanal, 2010b, S. 3-5). Gleichzeitig bietet die Akzeptanz der Verstricktheit beispielsweise in Verbindung mit einer gewissen Portion Pragmatismus die Möglichkeit, die je eigene Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Auch die Erfahrung der Wirksamkeit des kollektiven Handelns ist eng mit der wahrgenommenen Kontextbezogenheit verbunden: Etwas als Kollektiv zu schaffen, dass als Einzelne_r unvorstellbar wäre, weist auf diese Verflechtung hin (vgl. z.B. Mietshäuser Syndikat, 2010b, S. 11).
7 Schlussbetrachtung
Meine queer-feministische Suchbewegung hatte ihren Ausgangspunkt in der Feststellung zweier Leerstellen. Demnach haben aktuelle Kapitalismuskritiken und Demokratietheorien oftmals ein Problem, das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen in den Fokus ihrer Analysen zu nehmen. Widerspenstige Alltagspraxen zeichnen sich durch ihre Kritik an kapitalistischen Verhältnissen und ihre positive Bezugnahme auf konsensorientierte Umgangsweisen aus. Sie sind kollektive Experimente, die sich auf der Suche nach emanzipatorischen Alternativen menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens befinden. Eine Stärke ist ihre Kollektivität. Eine weitere Stärke liegt in ihrer Kreativität und ihrer Flexibilität. Die Kreativität nutzen sie als Werkzeug, um mit den und gegen die bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Existenzweisen zu ermöglichen, die ein utopisches Moment in sich tragen. Ihr Handeln weist bereits jetzt darauf hin, dass das schier Undenkbare denkbar gemacht werden kann. Damit lassen sie ein zentrales Moment von Hegemonie(re)produktion brüchig werden: Die Behauptung, es gäbe keine Alternative. Ihre Flexibilität äußert sich darin, dass sie Veränderungen mitdenken können und sich der Prozesshaftigkeit ihres Handelns bewusst sind. Interessant ist, dass jene Flexibilität jedoch in keinem Widerspruch zu Langfristigkeit und Sicherheit stehen muss. Mit der Flexibilität einher geht auch ein gewisses Maß an Offenheit gegenüber zukünftigen Veränderungen genauso wie gegenüber dem Umgang mit vorhandenen Widersprüchen zwischen emanzipatorischen Idealvorstellungen und konkreten Handlungsmöglichkeiten im Hier und Jetzt. Mit den Charakteristika der Kollektivität, Kreativität und Flexibilität lässt sich die Suche widerspenstiger Alltagspraxen beschreiben, radikal inklusive und unbestimmte Formen der Gemeinschaftlichkeit zu schaffen, die ohne identitäre Gemeinsamkeiten auskommen.
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Um mich den hier beschriebenen Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen nähern zu können, war es in meiner ersten Suchbewegung notwendig, mit J.K. Gibson-Graham die kapitalozentristischen Momente kapitalismuskritischen Wissens über kapitalistische Verhältnisse zu irritieren. Hilfreich hierfür war die Analyse Friederike Habermanns, der es gelingt, aufzuzeigen, warum das Menschenbild des homo oeconomicus so wirkmächtig ist und deshalb durch seine Allgegenwärtigkeit einer kapitalozentristischen Perspektive dient. Die Strategien kollektiver Handlungsfähigkeit durch die Schaffung von community economies (J.K. Gibson-Graham), des Lernens am ‚Anderen‘ und der damit verbundenen Bereitschaft des Verlernens von Privilegien (Friederike Habermann) sowie der Politisierung der prinzipiellen Unentscheidbarkeit (Antke Engel) waren in dreifacher Hinsicht für das Gelingen des Forschungsvorhabens von Bedeutung: Sie dienten mir erstens als Ansätze, um widerspenstige Alltagspraxen in den Fokus queer-feministisch geprägter Theoretisierungen von Kapitalismus(kritik) aufzunehmen. Zweitens boten sie Deutungen, wie sich die untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen beschreiben und analysieren lassen. Zuletzt erlaubten sie es, die gelebten Praxen mit den theoretischen Überlegungen zu verknüpfen und damit nach Grenzen und Lerneffekten für die Theorie zu fragen. Die zweite Suchbewegung hatte eine demokratietheoretische Erweiterung der queer-feministischen Kapitalismuskritiken zum Ziel und widmete sich der erwähnten demokratietheoretischen Leerstelle. Die in den Kapitalismuskritiken gefundenen Hinweise auf Demokratie – einer Demokratie im Werden, die in der Lage ist, den Demos unbestimmt und kontingent zu lassen, zu Gemeinschaften-ohne-Gemeinsamkeit führt und in konkreten Handlungspraxen als ein experimenteller, offener, politischer und demokratischer Prozess zu Tage tritt – lassen sich mit einem westlich geprägten Verständnis von Demokratie als einer (meist) repräsentativ organisierten Staats- und Regierungsform nicht verbinden. Isabell Loreys Kritik an einem juridischen Demokratieverständnis erleichterte einen Perspektivwechsel, der den Weg zur Wahrnehmung von Alltagspraxen als demokratische Praxen ebnete. Birgit Sauers Kritik an Normalisierungstendenzen feministischer Demokratietheorien führte die Hinwendung feministischer Demokratie(theorien) zum vorherrschenden juridischen Demokratieverständnis vor Augen und zeigte dessen Wirkmächtigkeit auf. Barbara Holland-Cunz’ Synthese der feministischen Merkmale feministischer Demokratietheorien, das Modell präsentistischer Demokratie von Isabell Lorey sowie Ralf Burnickis Interpretation anarchistischer Philosophie als Demokratietheorie waren wichtige Wegbereiter_innen zum Demokratiebegriff dieser Arbeit.
Schlussbetrachtung | 243
Dieser Demokratiebegriff ist in der Lage, widerspenstige Alltagspraxen als demokratische Praxen zu lesen. Ich habe Demokratie als eine Lebensform definiert, die bindungsorientiert in sozialen Beziehungen gelebt wird. Das Herzstück demokratischer Praxen ist dabei das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Demokratie ist deshalb prozess- und kontextbezogen, temporär und vielfältig. Als ein macht- und herrschaftskritischer sowie radikaldemokratischer Begriff steht er zu seiner normativen Zielsetzung und versteht sich als repräsentationskritisch, partizipatorisch und horizontal. Die dritte und letzte Suchbewegung diente dem Ziel, Erfahrungen und Wissen aus konkret gelebten widerspenstigen Alltagspraxen mit den theoretischen Überlegungen zu verbinden und danach zu fragen, was die Theorieproduktion aus den Praxen lernen kann. Für den Demokratiebegriff meiner Arbeit war die in den Praxen zu findende Verknüpfung zwischen Freiheit und Sicherheit eine spannende Ergänzung. Demnach gelingt es, Freiwilligkeit als ein wesentliches Merkmal widerspenstiger Alltagspraxen auszumachen. Diese Freiwilligkeit zeigt sich auch in der Freiheit, jederzeit die kollektiven Strukturen verlassen zu können. Die relative Sicherheit liegt in den Mechanismen begründet, die die Strukturen in weiten Teilen unabhängig von konkreten Personen machen. Diese Sicherheit kann durch Pragmatismus gestärkt oder geschwächt werden. Pragmatismus wirkt immer dann stärkend, wenn er dazu dient, über die Akzeptanz der Verstricktheit in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Pragmatismus wird dann zur Gefahr demokratischer Praxen, wenn damit Selbstreflexionsprozesse verhindert werden und er damit dem Prozesscharakter widerspenstiger Alltagspraxen zuwider läuft. Ein weiterer sehr interessanter Aspekt liegt im Wechselspiel zwischen demokratischen Alltagspraxen und kapitalistischen Verhältnissen. Den Erfahrungen aus den untersuchten widerspenstigen Alltagspraxen folgend ist ein gehaltvoller Demokratiebegriff nur in Verbindung mit der Infragestellung kapitalistischer Verhältnisse zu leben. Dieses Ergebnis stellt die Annahme auf den Kopf, Demokratie ginge (historisch gesehen) Hand in Hand mit kapitalistischen Verhältnissen. Es verweist damit darauf, dass die gelebten Praxen über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. Für die kapitalismuskritische Perspektive lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Das Konzept der community economies ist besonders gut in der Lage, widerspenstige Alltagspraxen zu beschreiben, wenn das gemeinsame Ziel sehr klar formuliert werden kann und wenig Interpretationsspielräume zulässt. Je heterogener und vielschichtiger die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder in den kollektiven Praxen sind, desto schwieriger wird es, mit dem von J.K. Gibson-Graham angebotenem Instrumentarium zu arbeiten. Die
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Offenheit und Unbestimmtheit des Konzepts von community economies ist damit ihre große Stärke und Schwäche zugleich. Die habermannsche These der notwendigen Subjektfundierung von Hegemonietheorien wird durch die Erfahrung gestärkt, dass widerspenstige Alltagspraxen immer mit ihrer Verstricktheit in die sie umgebenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse konfrontiert sind. Der von Antke Engel vorgeschlagene Weg der Politisierung der Unentscheidbarkeit, um mit den vorhandenen Widersprüchen politisch umzugehen, wird in den untersuchten Praxen nicht gewählt. Stattdessen stehen Strategien im Zentrum, die entweder einer klare politische Positionierung vornehmen oder aber über die Strategie der Akzeptanz zu einem Umgang mit der Verstricktheit führen, der emanzipatorische Handlungsfähigkeit befördert. Die von Engel eingeforderten Kriterien der Denormalisierung und Enthierarchisierung zur Beurteilung von Praxen werden – trotz unterschiedlicher Antworten auf die Frage des Umgangs mit Widersprüchlichkeiten – in den widerspenstigen Alltagspraxen als Orientierungen genutzt, um das konkrete Handeln auf der Wegsuche hin zu den emanzipatorischen Idealen auszuloten. Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel, aktivistische Praxis auf der Ebene von Alltagshandeln mit akademischer Wissensproduktion in einen Dialog zu bringen. Entgegen dem Bild zweier ungeliebter Schwestern – mit der wissenschaftlichen Theorie auf der einen Seite und der aktivistischen Praxis auf der anderen Seite – sollten die Stärken des Dialogs dieser vielleicht ungleichen Schwestern hervorgehoben werden.1 Damit verbunden war die aktivistische Kritik an Formen der Wissensproduktion, die emanzipatorische Veränderungen nicht denken (kann) sowie die Erwartungshaltung, Theorie diene dazu, zu verstehen, wie bestimmte Herrschaftsstrukturen funktionieren, um sie daraufhin verändern zu können. Die Herangehensweise ergab sich in erster Linie daraus, dass ich ein Praxisphänomen – das Phänomen widerspenstiger Alltagspraxen – als Ausgangspunkt meiner Suchbewegung wählte. Konkreter: Ich habe erstens die Frage verfolgt, wo Kapitalismuskritiken und Demokratietheorien verhindern, die Möglichkeit der Überwindung bestehender Herrschaftsverhältnisse zu denken. In einem zweiten Schritt habe ich nach Theorieansätzen gesucht, die dazu beitragen, die normativ gewollte Überwindung herrschender Verhältnisse eben doch zu denken. Ich habe dabei bewusst in Kauf genommen, nicht genau zu wissen, was Kapitalismus und Demokratie jeweils sind.
1
Zum Bild der ungeliebten Schwestern siehe Kapitel 4.2.2.
Schlussbetrachtung | 245
Mir ging es folglich nicht darum, mich an der Suche nach der sprichwörtlichen Achillesferse des Kapitalismus’ zu beteiligen, in der Hoffnung, ihn irgendwann in ferner Zukunft mit einem gezielten Schwertstreich besiegen zu können. Stattdessen habe ich mich dafür interessiert, wie – Odysseus-gleich – das übermächtige Monster Kapitalismus möglicherweise zu überlisten sei – um ein weiteres Bild aus der griechischen Mythologie zu verwenden.2 Mit dieser Bezugnahme möchte ich in der Symbolsprache auf eine zentrale queer-feministische Annahme hinweisen: Wenn queer-feministische Perspektiven davon ausgehen, dass jedes Wissen und jede Wahrnehmung von Realität durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägt ist, dann gibt es kein Wissen, das, vom gesellschaftlichen Kontext losgelöst, den Weg in die Zukunft einer befreiten Gesellschaft weist. Aus dieser Perspektive ist es beispielsweise nicht ratsam, sich im Detail zu verlieren und nach dem vermeintlichen Wesenskern kapitalistischer Verhältnisse zu suchen. Diese Suche ist immer essentialistisch und zum Scheitern verurteilt. Um es mit einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Judith Vey kommt in ihrer Dissertation zum Ergebnis, Gegenhegemonie sei nicht (ausschließlich) Antikapitalismus, stattdessen sei Gegenhegemonie verbindend, vielfältig, widersprüchlich und an vielfältigen Orten zu finden (vgl. Vey, 2015, Kap. 9). Widerspenstige Alltagspraxen müssen daher nicht genau wissen, wie Kapitalismus funktioniert oder wie sie mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen verwoben sind. Wichtiger ist es, danach zu fragen, wie Herrschaftsverhältnisse im Hier und Heute bekämpft und überwunden werden können. Um es mit Judith Butler zu formulieren: ‚Der‘ Feminismus muss nicht wissen, was das Subjekt ‚Frau‘ ist, sondern danach fragen, welche Funktion das Subjekt ‚Frau‘ im aktuellen Herrschaftsgefüge einnimmt.3 In diesem Sinne ist es im Dienste widerspenstiger Alltagspraxen, wenn kritische Gesellschaftstheorie danach fragt, wie Herrschaftsverhältnisse emanzipatorisch zu überwinden sind.
2
Dass ich einen Helden als Leitbild zitiere, dessen Frau 20 Jahre zu Hause auf den Gatten gewartet hat, sei mit einer Portion Selbstironie kritisch angemerkt.
3
Es handelt sich um eine Abwandlung der Aussage Judith Butlers, die im Titel eines Zeitungsartikels der Frankfurter Rundschau mit „Der Feminismus braucht ‚die Frauen‘ aber er muss nicht wissen ‚wer‘ sie sind“ (Butler, 1993) wiedergegeben wird.
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