Westdeutsche Soziologie 1945–1960: Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß [1 ed.]
 9783428456796, 9783428056798

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JOHANNES WEYER

Westdeutsche Soziologie 1945· 1960

Soziologische Schriften

Band 41

Westdeutsche Soziologie 1945-1960 Deutsche Kontinuititen und nordamerikanischer Einfluß

Von

Dr. Johannes Weyer

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weyer. Johannes: Westdeutsche Soziologie 1945 - 1960: dt. Kontinuitäten u. nordamerikan. Einfluss / von Johannes Weyer. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Soziologische Schriften; Bd.41) ISBN 3-428-05679-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany

© 1984 Duncker

ISBN 3-428-05679-5

Vorwort Die Entwicklung von Wissenschaft ist kein gänzlich autonomer Prozeß, der nur seiner inneren Logik folgt. Er ist auf vielfältige Weise verknüpft mit und beeinflußt von allgemeinen politischen Prozessen und von spezifischen gesellschaftlichen Interessen (auch wenn manche Wissenschaftler dies nicht wissen und nicht wollen). Diese Aussage ist insoweit kaum mehr als eine Trivialität. Und an allgemeinen Versicherungen über die "gesellschaftliche Bedingheit" von Wissenschaft und an theoretischen Erörterungen dieser Bedingtheit von hohem Abstraktionsgrad ist denn auch kein Mangel. Spannend und äußerst schwierig hingegen wird es dann, wenn es um die genauere Bestimmung dieser Beziehung zwischen der Entwicklung von Wissenschaft und außerwissenschaftlichen Faktoren und Entwicklungen geht. Eben dieser Frage geht die vorliegende Untersuchung nach. Ihr Gegenstand ist die Entwicklung der Soziologie nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen und dann in der Bundesrepublik bis 1960. Was die Zerschlagung des faschistischen Herrschaftssystems für die Soziologie bedeutete, welche Elemente nach 1945 weitergeführt wurden, welche Einflüsse die Besatzungsmächte ausgeübt haben und welche Auswirkungen diese Soziologie ihrerseits auf die Herausbildung und Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft hatte, wird hier - gestützt auf breites und bislang weitgehend unerschlossenes - empirisches Material erörtert. So entsteht nicht nur der Grundriß einer Geschichte der westdeutschen Soziologie für die Zeit ihrer Rekonstruktion und Konsolidierung, sondern zugleich eine "Fallstudie" über den sozialen Inhalt und die Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft und die relative Eigendynamik ihres institutionellen Apparats und ihrer kognitiven Prozesse. So erhalten nicht nur theoretische Untersuchungen über Struktur und Funktion von Wissenschaft, sondern auch die drängenden Fragen nach den Möglichkeiten von Wissenschaft für die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse - und nach den Hindernissen für die Entfaltung dieses Humanisierungspotentials - ein besseres empirisches Fundament. Marburg, im Februar 1984

Reinhard Kühnl

Vorwort des Verfa4isers Die vorliegende Arbeit stellt die nur geringfügig modifizierte Fassung der Dissertation dar, die der Verfasser im Febraur 1983 unter dem Titel "Die Entwicklung der westdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext" am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg/ Lahn eingereicht hat. Die mündliche Prüfung hat am 9. Juni 1983 stattgefunden. Gedankt sei an dieser Stelle all denen, ohne deren Unterstützung das Zustandekommen dieser Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre, insbesondere den Archivaren der Sozialforschungsstelle Dortmund und der US-Botschaft in Bonn, vor allem Herrn Professor M. Rainer Lepsius, dem der Verfasser nicht nur den Zugang zum Archiv der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, sondern darüber hinaus anregende und fruchtbare Diskussionen verdankt. Für die kritische Beobachtung meiner Forschungen und den kooperativen Arbeitsstil sei hier neben anderen den Kollegen Ralf Schel/hase, Münster und Rainer Rilling, Marburg, gedankt. Herr Professor Reinhard Kühn/ hat durch Beratung und Betreuung, vor allem aber durch sein vollkommenes Verständnis für mein F orschungsanliegen diese Arbeit ganz entscheidend gefördert, wofür ich ihm an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Verbunden ist der Verfasser zudem der Universität Marburg, die durch ein Stipendium die Durchführung der Forschungen ermöglichte. Nicht unerwähnt sollen jedoch meine Eltern bleiben, ohne deren Verständnis und Unterstützung die vorliegende Arbeit - in Zeiten restriktiver werdender Wissenschaftspolitik - weder hätte fertiggestellt noch publiziert werden können. Johannes Weyer

Inhalt Erstes Kapitel Einleitung: Einflihrung in Problemstellung und Intention der Arbeit

15

1.

Zielsetzung der Arbeit ....................................... .

15

2.

Zum Stand der wissenschafts theoretischen Diskussion

18

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4

Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung ............ Soziologie im Faschismus ..................................... Soziologie in der Phase nach 1945 ............................. Die Entwicklung in den 50er Jahren ........................... Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung .....................

21 23 26 29 31

4.

Methodik und Argumentationsaufbau der Arbeit ................

32

Zweites Kapitel Die Deutsche Gesellschaft flir Soziologie

37

I.

Vorbemerkung ............................................. .

37

2.

Kurzdarstellung der DGS, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung bis 1960 ................................................... . Zur Vorgeschichte der DGS bis 1945 .......................... . Die Wiedergrundung der DGS nach 1945 ...................... . Organisationsgeschichtliche Entwicklung der DGS bis 1960 ...... . Exkurs: Zur internationalen Vertretung der DGS ............... . Die Kölner Zeitschrift für Soziologie .......................... . Fazit ...................................................... .

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

38 38

42 47 52

57

61

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2

61 61 62 70

3.3

Organisationspolitische Aktivitäten in den 50er Jahren .......... . Probleme der Professionalisierung ............................ . Die Kölner Konferenzen ..................................... . Der Hochschullehrer-Ausschuß ............................... . Organisationsinterne Auseinandersetzungen in den 50er Jahren ... . Fazit ...................................................... .

4.

Kurzchronik der Soziologentage 1946-1959 ..................... .

88

79 86

10

Inhalt

5.

Positionen der DGS (I): Gesellschaftsanalyse ................... . Faschismus in Deutschland .................................. . Die westdeutsche Gesellschaft ................................ . Die Lage der Intelligenz und ihre Rolle für die Weiterentwicklung der Gesellschaft ................................................ . Die Maßstäbe zur Beurteilung der Gesellschaft ................. . Zur Methodik der Gesellschaftsanalyse ........................ .

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

6.3.2 6.4

Positionen der DGS (11): Wissenschaftstheoretische Konzepte in der DGS ...................................................... . Soziologische Systeme in der unmittelbaren Nachkriegszeit ....... . Solms' Gesellungslehre ...................................... . v. Wieses Beziehungslehre ................................... . Kritik an v. Wiese .......................................... . Die Ansätze von König und Schelsky ......................... . Exkurs: Zur Lage der Soziologie und deren Anerkennung durch die Öffentlichkeit .................................."............ . Die wissenschaftstheoretische Debatte in den 50er Jahren ........ . Die Theorie-/Empirie-Debaue und die Diskussion über die ,Amerikanisierung' der bundesdeutschen Soziologie ..................... . Die Werturteilsdebatte ...................................... . Wissenschaft und gesellschaftliche Praxis ...................... .

7.

Abschließende Einschätzung und weiterführende Hypothesen ..... .

6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.3 6.3.1

110 110

124

135

141 149 155 155 155 157 167

172 174

179

179

189 193 198

Drittes Kapitel Die Sozialforschungsstelle Dortmund

207

I.

Vorbemerkung

207

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Kurzdarstellung der SFSD, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung bis 1960 .................................................... Die Entstehung der SFSD .................................... Konzeption und Organisationsstruktur der SFSD ................ Überblick über die Arbeit der SFSD 1946-1960 .................. Die Finanzierung der SFSD ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeitschrift ,Soziale Welt' (SW) ............................. Veranstaltungspolitik der SFSD ............................... Kontakte zu anderen Soziologen und Institutionen ...............

207 207 211 214 224 228 230 232

3.

Positionen der SFSD (I): Analyse der westdeutschen Gesellschaft ..

236

4.

Positionen der SFSD (11): Das wissenschaftstheoretische Konzept der Realsoziologie ............................................... Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlage ...................................... Methodische Grundlagen ..................................... Wissenschaft und Werturteil ..................................

243 243 244 250 255

4.1 4.2 4.3 4.4

Inhalt

11

4.5 4.6 4.7 4.8

Rezeption amerikanischer Soziologie ........................... Rekurs auf deutsche Soziologietraditionen ...................... Soziologie im Faschismus ..................................... Standortbestimmung der Soziologie nach 1945 ..................

260 264 267 269

5. 5.1 5.2 5.3

Das wissenschaftspolitische Programm der SFSD ................ Wissenschaft und gesellschaftliche Praxis ....................... Anerkennung durch die Öffentlichkeit .......................... Institutionalisierung - Kritik und Forderungen .................

272 273 282 286

6.

Abschließende Einschätzung und weiterführende Hypothesen ......

294

Viertes Kapitel

Wissenschaftspolitik der US-Besatzungsmacht (1945 bis 1953)

307

1.

Vorbemerkung. .. . . .. . . .. .. . .. .... ... . .. . .. . .. .. . .. . .. . ... . .

307

2.

Organisation der Wissenschaftspolitik im Bereich der US-Militärregierung ................................................... Scientific Research Division ................................... Reactions Analysis Staff ...................................... Manpower Division .......................................... Education and Cultural Relations Division ......................

312 313 315 320 328

2.1 2.2 2.3 2.4 3.

3.3 3.4

Das Konzept der Re-education und die Rolle der Soziologie in diesem Konzept .................................................... Allgemeine Grundzüge und Entwicklungen des Re-educationGedankens ............................................ . . . . . Die Rolle der Soziologie im Konzept der Re-education ........... Exkurs: Der intellektuelle Marshallplan ......................... Probleme der Umsetzung des Konzepts der Re-education ......... Das Beispiel Marburg ........................................

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Wissenschafts politische Maßnahmen der US-Besatzungsmacht ..... Maßnahmen an Universitäten ................................. Maßnahmen an sozial wissenschaftlichen Instituten ............... Förderung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ............. Informationspolitik .......................................... Das Austauschprogramm .....................................

350 351 354 357 363 370

5. 5.1

378

5.2

Amerikanische Aktivitäten außerhalb der Militärregierung ........ UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) ..................................................... Die RockefeIler Foundation ...................................

6.

Fazit und Beurteilung ........................................

385

7.

Ausblick: Wissenschafts politik und Forschungsförderung in der Bundesrepublik der 50er Jahre ....................................

390

3.1 3.2

330 330 337 340 341 345

378 382

Inhalt

12

Fünftes Kapitel SchluBbetrachtung: Soziologieentwicklung im gesellschaftlichen Kontext

394

Anhang Lebensläufe ausgewählter Soziologen .................................

404

Literaturverzeichnis ................................................

411

Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

427 429 431 434 435

1: 2: 3: 4: 5: 6:

Übersicht über die Abteilungen der SFSD .................. Mitarbeiter der Abteilungen der SFSD ..................... Finanzierung der SFSD .................................. Von der SFSD durchgeführte Veranstaltungen .............. Forschungsprojekte der SFSD .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veranstaltungen der ISA, des IIS und der Deutschen Sektion des IIS ................................................. Tabelle 7: Vorstandssitzungen, Mitgliederversammlungen und Veranstaltungen der DGS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 8: Von OMGUS und HICOG veranstaltete Tagungen .......... Personenregister

439 440 441

........................•....... . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443

.......................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

446

Institutionenregister

Verwendete Abkürzungen AI-V ASI DFG DGS DIVO

= Archiv I - V (siehe Literaturverzeichnis, Punkt 1) = Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute = Deutsche Forschungsgemeinschaft = Deutsche Gesellschaft für Soziologie = Deutsches Institut für Volksumfragen, Gesellschaft für Marktund Meinungsforschung E&CR = Education and Cultural Relations Division, OMGUS E&RA = Education and Religious Affairs Division, OMGUS ECA = Economic Cooperation Administration (Marshallplan) EMNID = EMNID GmbH & Co., Bielefeld, Institut für Markt-Meinungsund Sozialforschung (EMNID bedeutet: Erforschung der öffentlichen Meinung, Marktforschung, Nachrichten, Informationen, Dienstleistungen) EPA = European Productivity Agency, Paris ESF = Empirische Sozialforschung FA = Fachausschuß GARIOA = Government and Relief in Occupied Areas HICOG = Office of the U.S. High Commissioner for Germany HSL-Ausschuß = Hochschullehrer-Ausschuß ICD = Information Control Division, OMGVS IfS = Institut für Sozialforschung, Frankfurt IHK = Industrie- und Handelskammer IIS = Institut International de Sociologie ISA = International Sociological Association ISD = Information Service Division, OMGUS, später auch HICOG Jb = Jahresbericht (siehe im Literaturverzeichnis unter Sozialforschungsstelle Dortmund) JCS = Joint Chiefs of Staff KRG = Kontrollratsgesetz KZS = Kölner Zeitschrift für Soziologie, ab 1955 Soziologie und Sozialpsychologie MGR = Military Government Regulations MSB = Military Secutjty Board MV = Mitgliederversammlung NRW = Nordrhein-Westfalen OMGVS = Office of the Military Government (V.S.) OMGH = Office of the Military Government for Hesse RAS = Reactions Analysis Staff, HICOG RF = RockefeIler Foundation RKW = Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft SFSD = Sozialforschungsstelle Dortmund SHAEF = Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces SPP = Special Projects Program SRD = Scientific Research Division

14 ST SW SWNCC UNESCO UPC USGrCC VfS

WIB ZfgStW ZJB

Verwendete Abkürzungen

= Soziologentag (siehe im Literaturverzeichnis unter Verhandlungen der Soziologentage) = Soziale Welt = State-War-Navy Coordination Committee = United Nations Education, Scientific and Cultural Organization = University Planning Committee = U.S. Group Control Council = Verein für Socialpolitik = Military Government Weekly Information Bulletin = Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft = Zehnjahresbericht (siehe im Literaturverzeichnis unter Sozialforschungsstelle Dortmund)

Erstes Kapitel

Einleitung: Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit 1. Zielsetzung der Arbeit Die hier vorliegende Arbeit beabsichtigt die Re-Thematisierung und kritische Aufarbeitung eines wichtigen Abschnitts westdeutscher Soziologiegeschichte und versucht damit zum einen, die Prozesse nachzuzeichnen, die zur Rekonstruktion und Konsolidierung der westdeutschen Soziologie geführt haben, zum anderen Ursachen und Hintergründe' für diese Entwicklungen aufzuzeigen. Mit diesem Beitrag zur Rekonstruktion der Geschichte der westdeutschen Soziologie, ihrer - bisher kaum bekannten - Traditionslinien, ihrer historischen Wurzeln, ihres Selbstverständnisses und ihres Praxisbezuges soll ein bisher weitgehend ungeschriebenes bzw. nur in Fragmenten existierendes Kapitel westdeutscher Soziologiegeschichte geschrieben werden. Eine solche Untersuchung verfolgt damit zwei Absichten: Erstens soll der bisher bestehende Mangel einer empirisch fundierten, materialreichen Soziologiegeschichte der Westzonen und der Bundesrepublik behoben werden; daß dieses Unternehmen für den gesamten Zeitraum 1945 - 1982 in einer Arbeit nicht geleistet werden kann, versteht sich von selbst. Die vorliegende Darstellung beschränkt sich deshalb auf die Jahre der entscheidenden Weichenstellungen nach 1945 und verfolgt die Entwicklung bis zum Ende der 50er Jahre. Dieser Zeitraum stellt - wie noch zu zeigen sein wird - eine gewisse Einheit dar, die es verbieten würde, eine andere zeitliche Einteilung vorzunehmen (z. B. sich lediglich auf die Jahre 1945 bis 1950 zu beschränken).' . Zudem konzentriert sich diese Arbeit auf die Institutionen, die für die Entwicklung der bundesdeutschen Soziologie bis 196Ü'prägend waren, ohne dabei aber den Gegenstand auf die akademisch verfaßte Soziologie zu reduzieren. Gerade die - in der bisherigen Fachgeschichtsschreibung kaum beachteten - Interdependenzen zwischen außeruniversitärer und universitärer Soziologie werden in dieser Arbeit eine wesentliche Rolle spielen.

16

Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

Dabei beschränkt sich die Darstellung nicht auf die kognitiven Strukturen von Wissenschaft, sondern bezieht deren soziale Strukturen, das institutionelle Milieu, innerhalb desen die Theorieproduktion sich vollzog, als integralen Bestandteil in die Betrachtungen mit ein. Intendiert ist also nicht eine Theoriegeschichte, sondern eine Sozialgeschichte von Wissenschaft, innerhalb derer die vielfältigen Beziehungen zwischen institutioneller und kognitiver Struktur von Wissenschaft aufzuzeigen sein werden. Damit deutet sich bereits die zweite Absicht dieser Arbeit an, nämlich eine detaillierte Fallstudie zu erarbeiten, in der am konkreten Beispiel der Frage nach dem sozialen Inhalt und der Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft nachgegangen werden soll. Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft beinhaltet dabei den Komplex der gesellschaftlichen Bedingungen und der gesellschaftlichen Bedingtheit von Wissenschaft ebenso wie den der relativen Eigendynamik des institutionellen Apparats und der kognitiven Prozesse. Eine solche Sichtweise impliziert, daß die gesellschaftliche Vermitteltheit von Wissenschaftsentwicklung sich weder auf die Einflüsse der sozialen Struktur der Wissenschaft auf Prozesse der Theoriegenerierung, noch auf die gesellschaftliche Bedingtheit lediglich dieser sozialen Strukturen reduzieren läßt, alle drei Dimensionen (kognitive, institutionelle, gesellschaftliche) vielmehr in einem Vermittlungszusammenhang gesehen werden müssen, der bisher in der Wissenschaftstheorie zwar schon oft postuliert, kaum aber konkret nachgewiesen oder theoretisch abgeleitet wurde. Diese Arbeit versucht also, an einem konkreten Beispiel den Nachweis zu erbringen, daß Wissenschaft ihre Entwicklungsantriebe nicht ausschließlich aus sich heraus, sondern ebenfalls aus einer Vielzahl außerwissenschaftlicher Faktoren erhält. Wenn Wissenschaft aber tatsächlich externen Steuerungsmechanismen ausgesetzt ist, so muß sie eine gewisse Bandbreite von Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen; eine Manipulation der Wissenschaft setzt ihre Manipulierbarkeit logisch zwingend voraus. Dies bedeutet, daß Wissenschaft sich nicht lediglich nach einer ihr eigenen Forschungslogik entwickelt, sondern stets Alternativen (etwa in Form konkurrierender Theorien) zur Verfügung stehen müssen. Die Frage nach der Existenz dieser unterschiedlichen Alternativen, ihrer Durchsetzungskraft und den realen Prozessen ihrer Realisierung bzw. Nicht-Realisierung wird ein wichtiges Problem dieser Arbeit werden. Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft ist aber ein Komplex, der auf weitere Aspekte verweist: Neben dem Aspekt der gesellschaftlichen Determination von Wissenschaft, der in seinen einzelnen Komponenten ausführlich beleuchtet werden wird, ist der Aspekt der Funktion der Wissenschaftjür die Gesellschaft zweifellos von ebenso großer Wichtigkeit; es soll daher gezeigt

I. Zielsetzung der Arbeit

17

werden, wie nicht nur Wissenschaft durch gesellschaftliche Prozesse beeinflußt wird, sondern umgekehrt die Wissenschaft auch auf die Gesellschaft zurückwirkt, indem sie ihre Ergebnisse für die soziale Praxis nutzbar macht. Um über diese potentielle Nutzbarkeit hinaus die reale Nutzung erfassen zu können, wäre allerdings eine empirisch fundierte Wirkungsforschung nötig, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann. Jedoch enthält das vorliegende Material genügend Indizien, die auf Wirkungsintentionen und Wirkungsweise sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse hindeuten. Für die Soziologie hat der Komplex ,Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft' noch eine weitere, fachspezifische Komponente, stellt Gesellschaft für die Soziologie - als Wissenschaft von der Gesellschaft - doch nicht nur Rahmenbedingung und Determinante, sondern zugleich Objekt ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit dar. Soziologie ist - im Unterschied zu anderen Wissenschaften - bereits durch ihre besonderen Gegenstand spezifisch gesellschaftliche Praxis, die an gesellschaftlichen Problemdefinitions- und Problemlösungsprozessen mitwirkt. Diese "Reflexivität von Soziologie" (Schmidt 1974, S. 29) bedeutet also, daß Soziologie sich stets auf einen Gegenstand bezieht, der ihr nicht äußere Natur, sondern bereits bearbeitete Umwelt, Resultat der eigenen soziaen Praxis ist. An diesem Punkt wird es zu einer wichtigen Frage, inwiefern die Soziologie bei der Konstitution ihres Gegenstandes von den gesellschaftlichen Interessenkonstellationen abhängig ist, wie sich diese Interessen bei der Selektion soziologisch relevanter Themen, aber auch bei der Gestaltung des institutionellen Apparates der Wissenschaft auswirken. Interessenbezogenheit und Interessengebundenheit der Soziologie werden so zu wichtigen Aspekten, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll. Festgehalten werden soll hier allerdings, daß neben der doppelten Intention dieser Arbeit, einen Beitrag zur Fachgeschichte wie auch zur Diskussion über die soziale Bedingtheit von Wissenschaft zu leisten, nicht beabsichtigt ist, damit zugleich einen neuen wissenschaftstheoretischen Ansatz zu präsentieren bzw. bestehende Ansätze zu falsifizieren. Eine solche Verallgemeinerung wäre zudem erst nach Erarbeitung einer hinreichenden Fülle von Fallstudien möglich, deren es - für das engere Gebiet der Soziologie - trotz erheblicher Fortschritte, die besonders in den letzten Jahren zu verzeichnen sind, immer noch mangelt.

Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

18

2. Zum Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion Dennoch soll hier vorab kurz nachgeprüft werden, was bisher an wissenschafts-theoretischen Ansätzen existiert, die möglicherweise als methodischer Rahmen für diese Arbeit genutzt werden könnten. Zunächst ist in der wissenschafts-theoretischen Debatte zu erkennen, daß mit der von Thomas Kuhn eingeleiteten Abwendung von Modellen, die die Wissenschaftsentwicklung als Prozeß der linearen Akkumulation von Wissen interpretieren, die Meinung Konsens geworden ist, der Fortschritt in der Wissenschaft vollziehe sich nicht ohne den Einfluß äußerer, insbesondere gesellschaftlicher Faktoren. Eine "Verknüpfung kognitiver Prozesse und sozialer Strukturen" (Weingart 1976, S. 34) wird also gemeinhin ebenso behauptet, wie die These vertreten wird, der Vollzug von Wissenschaft sei an sich bereits gesellschaftliche Praxis. Ist die Tatsache einer gesellschaftlichen Beeinflussung der Wissenschaft heute unbestritten und "offensichtlich" (Halfmann 1980, S. 7), so gehen über die konkrete Ausgestaltung dieses Bedingungsverhältnisses, "über den Zusammenhang von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ... die Ansichten sehr stark auseinander." (S. 9) Zumeist verbleiben die Ausführungen zu diesem Komplex auf einer sehr allgemeinen Ebene, wenn etwa bemerkt wird, Wissenschaft sei ein "in der Gesellschaft verlaufender Prozeß" (Bialas 1975, S. 125), oder wenn die "Einbezogenheit der Praxis von Soziologie in die Organisation der sozialen. politischen und ökonomischen Interessen der Gesellschaft" (Schmidt 1974. S. 34) konstatiert wird. ohne daß Einzelheiten dieser Verflechtungen benannt werden. Oft wird die Frage nach der Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft aber auf das Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung von sozialen Strukturen der Wisenschaft und kognitiven Prozessen reduziert l ; Peter Weingart vertritt sogar die These, "daß die Strukturen der formalen Organisation der Wissenschaft offenkundig durch kognitive Komplexe geprägt werden" (Weingart 1976, S. 56), stellt mit einer solchen Aussage also die gesellschaftliche Bedingtheit von Wissenschaft in Frage. Diese Einschränkung gilt seiner Ansicht nach auch für Paradigmenwechsel: "Nimmt man an, daß sich die sozialen Strukturen der Wissenschaft ... über wissenschaftliche Werte und Orientierungskomplexe konstituieren, dann muß auch ihr Wandel aus der Dynamik der kognitiven Prozesse heraus erklärt werden." (Weingart 1976, S. 66) 1

Siehe

7..

B. Weingart 1972. S. 37.

2. Zum Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion

19

Mit solchen Thesen reduziert Weingart, der derzeit als einer der führenden Wissenschaftstheoretiker der Bundesrepublik angesehen werden kann, die Suche nach Ursachen für die Wissenschaftsentwicklung auf rein ideelle, innerwissenschaftliche Prozesse, womit er hinter die Position zurückfällt, die gerade die absolute Autonomie der Wissenschaft in Frage stellt und die gesellschaftliche Bedingtheit auch der Theoriegenerierung behauptet. Das letzte Zitat Weingarts weist allerdings auf eine weitere wichtige Frage hin, die die Debatte in der Wissenschaftstheorie prägt: Beschränkt sich die externe Beeinflussung der Wissenschaft lediglich auf deren Bruchstellen (Paradigmenwechsel), und folgt die Wissenschaft in Phasen der ,normal science' ausschließlich ihren eigenen Entwicklungsgesetzen? Externer Einfluß wäre damit bloß die Selektion von Alternativen an den Knotenpunkten der Entwicklung statt einer kontinuierlich sich vollziehenden Normierung wissenschaftlicher Aktivität. Der Meinungsbildungsprozeß zu diesem Komplex ist noch weitgehend unabgeschlossen, so daß dieses Problem hier ungelöst bleiben muß. Daran anschließend ergibt sich direkt eine weitere Frage: Ist externe Steuerung von Wissenschaft gleichbedeutend mit mangelnder Rationalität von Wissenschaft, also mit der Aufgabe ihrer Wissenschaftlichkeit?· Zu diesem letzten Punkt gibt es seit Anfang der 70er Jahre eine These, die viele der bisherigen Annahmen infragestellt, nämlich die von Böhme, v. d. Daele und Krohn entwickelte These der ,Finalisierung der Wissenschaft'.2 Diese besagt, daß "externe Zwecksetzungen zum Entwicklungsleitfaden der Theorie werden" (Böhme 1973, S. 129) können (eine solche Theorie wäre dann definitionsgemäß finalisiert), und geht ferner davon aus, daß die Funktionalisierung wissenschaftlicher Theorien für politische Zwecke nicht automatisch deren Wissenschaftlichkeit suspendiert: "Da ,Finalisierung' gerade die Offenheit für die theoretische Internalisierung externer Zwecke bedeutet, kann Wissenschaft bei einer solchen Struktur prinzipiell auch ihre Herrschaftskonformität und ihre Dienstleistungsfunktion für partikulare Interessen maximieren, ohne sich als brauchbare Wissenschaft aufzuheben." (S. 144) Diese Finalisierungsthese geht somit über die - vor allem zeitweilig von DDR-Seite vertretene - Behauptung hinaus, daß mit der zunehmend krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus auch der apologetische Charakter der bürgerlichen Wissenschaft immer offensichtlicher und unausweichlicher werde und diese sich damit als Wissenschaft aufgebe. 3 Böhme et al. behaupten demgegenüber als Konsequenz ihrer Finalisierungsthese: Böhme 1973. Siehe dazu z. B.: Bergner I Mocek 1976, S. 58; Löwe 1977, S. 142 ff.; Domini Lanfermann 1975, S. 44; ähnlich auch Tomberg 1971, S. 475. 2

3

20

Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

"Damit wird aber auch die Hoffnung fraglich, theoretische Entfaltung und Herrschaftskonformität der Wissenschaft könnten sich als unverträglich erweisen ... " (S. 144) Die Finalisierungs-These ist also ein - empirisch allerdings kaum abgesichertes - Modell, das die Weiterentwicklung herrschafts konformer Wissenschaft unter den Bedingungen externer Steuerung erklären könnte; zudem weist die Finalisierungsthese darauf hin, welch wichtiges Untersuchungsfeld der Komplex ,Alternativen in der Wissenschaft' bildet. Insgesamt muß hier aber festgestellt werden, daß bisher keines der existierenden wissenschaftstheoretischen Modelle soweit ausgereift ist und operationalisiert wurde, daß es als forschungsleitendes Raster für die vorliegende Arbeit hätte verwendet werden können. Die hier zitierten Arbeiten bewegen sich allesamt auf einer hypothetischen, prätheoretischen und zumeist rein definitorischen Ebene der Argumentation; die Verbindung der Empirie (Wissenschaftsgeschichtsschreibung) mit der metasoziologischen Theorie ist m. W. bisher weder in der einen noch der anderen Richtung gelungen. Erschwerend für eine theoretische Verallgemeinerung seitens der Wissenschaftstheorie hat sich allerdings die Tatsache ausgewirkt, daß bisher in wissenschaftshistorischen Arbeiten vorwiegend wissenschaftsimmanente Prozesse untersucht wurden, zudem solche Studien sich zum großen Teil auf die Naturwissenschaften - insbesondere die als Prototyp der modernen Wissenschaft verstandene Physik - konzentrieren. 4 Daß zwischen dem Forschungs- und Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaften und dem der Soziologie aber ein grundlegender Unterschied besteht, ist spätestens seit Gerd Schmidts und Klaus Dülls Ausführungen zur Reflexivität und Historizität als Spezifikum der Soziologie unübersehbar. 5 Angesichts dieser unzureichenden Materialbasis für eine wissenschaftstheoretische Verallgemeinerung verwundert es kaum, daß sich in vielen Publikationen die wiederholte Forderung findet, vorrangig den Mangel an empirischen Fallstudien zu beheben und vor allem das ungeklärte Verhältnis von kognitiven Strukturen und sozialen Prozessen am empirischen Beispiel zu untersuchen. Der Ruf nach Fallstudien und empirischen Bestandsaufnahmen etwa in Form der "Geschichte soziologischer Organisationen" (Lepenies 1981, S. XXVI) ist eine Stereotype der Wissenschaftstheorie, die die Beschränkung des rein theoretischen Zugriffs auf das komplexe Phänomen . Wissenschaft' offensichtlich werden läßt. 6 Bialas 1975. S. 122. S. 129. Schmidt 1974. S. 29 ff.; Düll 1975. S. 31 ff. o Z. B.: Materialistische Wissenschaftsgeschichte 1981. S. 224 ff.; bes. S. 231 ff.; Halfmann 1980. S. 133; Weingart 1972. S. 25. S. 38; Bialas 1975. S. 129 u. a. 4

5

3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

21

Dabei wird deutlich, daß vor allem die komplizierten Vermittlungsprozesse, die die gesellschaftliche Determination von Wissenschaft ausmachen, im Mittelpunkt künftiger Untersuchungen zu stehen hätten, wird doch ein platter Determinismus in Form des direkten, unmittelbaren Schlusses von den gesellschaftlichen Bedingungen auf kognitive Prozesse inzwischen mehrheitlich als unsinnig und an den realen Problemen vorbeigehend betrachtet. 7 Es läßt sich hier also resümieren, daß seitens der Wissenschaftstheorie ein großes Defizit an konkreten Fallstudien vor allem im nicht-naturwissenschaftlichen Bereich gesehen wird, andererseits die bisherigen wissenschaftstheoretischen Ansätze kaum als forschungsanleitende und -strukturierende Modelle fungieren können. Es soll daher als nächster Schritt der Frage nachgegangen werden, ob die gerade in den letzten Jahren im quantitativen Umfang erheblich gewachsene Soziologiegeschichtsschreibung dieses Defizit inzwischen behoben hat und ob insbesondere Untersuchungen vorgelegt worden sind, die Aufschlüsse über die Prozesse der gesellschaftlichen Determination von Wissenschaft ermöglichen. Der übernächste Schritt wird dann in der Klärung der in dieser Arbeit verwendeten Methode bestehen, wurde doch deutlich, daß es im gegenwärtigen Stadium nicht möglich ist, sich auf ein wissenschaftstheoretisches Modell und dessen theoretische wie methodische Implikate zu stützen. 3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung Die bundesdeutsche Soziologie hat im wesentlichen zwei Phasen erlebt, in denen die Geschichte des eigenen Faches Gegenstand breiterer Diskussionen war, nämlich Ende der 50er Jahre und Ende der 70er Jahre. Zum 50. Jubiläum der DGS im Jahr 1959 befaßte sich eine Reihe von Soziologen mit Traditionen und der Geschichte des eigenen Faches, wobei der Faschismus, die Emigration, aber auch die Entstehung der empirischen Sozialforschung (ESF) ebenso erstmals im Mittelpunkt eines breiteren Interesses standen wie eigene deutsche Soziologietraditionen.' In den 60er Jahren wurden dann verschiedene Gesamtdarstellungen vorgelegt, von denen besonders Friedrich Jonas' vierbändige 'Geschichte der Soziologie' hervorzuheben ist, die bis heute Standardwerk der Profession und Pflichtlektüre jedes Soziologiestudenten ist, in der die Geschichte der Soziologie aber lediglich als Geschichte der durch Einzelindividuen verkörperten soziologischen Theorien präsentiert wird. 7 S. Weingart 1976, S. 83. Ein besonders eklatantes Beispiel findet sich bei Kurt Braunreuther, der behauptet, "daß die Periodisierung des Kampfes der Arbeiterklasse letztlich die Periodisierung der gegen sie gerichteten bürgerlichen Apologetik bestimmt" (1975, S. 41 f.); eine solche These bietet m. E. in dieser Verkürzung kein geeignetes Instrumentarium zur Analyse der Geschichte der Soziologie. I Siehe dazu Kap. 11, 6.3.1.

22

Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

In den 60er Jahren erschienen ferner in der DDR mehrere kritische und material reiche Auseinandersetzungen mit der bundesdeutschen Soziologie2, die den politischen Kontext und die politische Funktion der bundesdeutschen Soziologie mit in ihre Betrachtungen einbezogen. Obwohl diese Publikationen z. T. zu ähnlichen Ergebnissen kamen wie bundesdeutsche Darstellungen, wurden sie von der bundesdeutschen Soziologie weder rezipiert noch diskutiert, was seine Ursache möglicherweise im Sprachduktus der DDR-Untersuchungen und der dort vertretenen Kollektiv-Anklage hat. Ende der 70er Jahre erlebt die bundesdeutsche Soziologie dann einen regelrechten ,Boom' fachgeschichtlicher Selbstreflexionen, was Helmut Schelsky sogar dazu veranlaßte, von einer "fachgeschichtlich-retrospektiven Phase der bundesdeutschen Soziologie" (Schelsky 1981 b, S. 66) zu sprechen. M. Rainer Lepsius hatte 1976 diese Entwicklung mit eingeleitet, als er auf dem 17. Soziologentag eine fachgeschichtliche "ZwischenbiIanz der Soziologie" (Lepsius 1976, S. I ff.) vorstellte. 1979 erschien dann ein Sonderheft der Kölner Zeitschrift mit dem Titel ,Deutsche Soziologie seit 1945', das durch die Beiträge von Lepsius und Tenbruck eine intensive Debatte auslöste. Vor allem aber sah sich Schelsky zu einer heftigen Reaktion und einer kritischen Auseinandersetzung mit Lepsius' Thesen wie auch dessen methodischem Ansatz veranlaßt. 3 Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre erschienen weiterhin verschiedene, teils sehr detaillierte und faktenreiche Fallstudien zur Geschichte der deutschen Soziologie4, wobei die Kontinuität zwischen Weimarer Republik, Faschismus und Bundesrepublik sich immer stärker als zentrale Forschungsfrage herauskristallisierte. Ein weiteres Sonderheft der Kölner Zeitschrift s trug dieser Entwicklung Rechnung, indem es z. T. bisher tabuisierte Themen aufgriff und neben anderen Publikationen daran mitwirkte, einige klassische Stereotype des geschichtlichen Selbstverständnisses der bundesdeutschen Soziologie zu revidieren. Ebenfalls um das Jahr 1980 erschien eine Reihe von autobiografischen Publikationen, die die Fachgeschichte um wesentliches Material bereicherten, das sonst sicherlich verlorengegangen wäre. 6 Nicht zuletzt sei auf die umfangreiche Materialsammlungvon Wolf Lepenies 7 hingewiesen, die ebenBraunreuther / Steiner 1962; Steiner 1967. Lüschen 1979. Lepsius 1979. Tenbruck 1979. Schelsky 1981b. 4 Jay 1976. Hinrichs 1981, Bergmann 1981, Greven ( Moetter 1981. Schellhase 1982, Hülsdünker 1983; bereits zuvor: Schmidt 1974 (zur US-Soziologie). Düll 1975 (zur französischen Soziologie)'. j Lepsius 1981 a. 6 Abendroth 1976, König 1980, Sche1sky 1981a, Linde 1981; auch Greffrath 1979. 7 Lepenies 1981; darin finden sich verschiedene Fallstudie'l. u. a. Alemann 1976. Pollak 1980. 2

.1

3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

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falls eine eingehendere Beschäftigung der bundesdeutschen Soziologie mit ihrer eigenen Fachgeschichte signalisiert. 8 Trotz dieser wichtigen Ansätze einer detaillierten Aufarbeitung und ReThematisierung der Fachgeschichte ist es unübersehbar, daß vor allem zur Entwicklung nach 1945 gegenwärtig immer noch ein Mangel an empirisch fundierten Fallstudien und Organisations-Geschichten existiert. Die meisten Darstellungen zur Nachkriegsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie sind grobe, oft sehr pauschale überblicke, deren Thesen - das soll diese Arbeit im Einzelnen nachweisen - häufig nicht oder nur bedingt zutreffen. Bei manchen Publikationen handelt es sich um bloße übersichten über die einschlägige Sekundärliteratur oder um Zusammenfassungen weniger zentraler Publikationen aus dem untersuchten Zeitraum. 9 Genuine soziologiegeschichtliche Forschung ist nur in den wenigen FäHen getrieben worden, so daß - teils nachweislich falsche und inzwischen revidierte - Stereotype der Fachgeschichtsschreibung bis zum heutigen Tage tradiert werden. \0 Eine empirische Fundierung der aufgestellten Hypothesen findet sich nur in wenigen Fällen, so daß eine kritische überprüfung der Soziologiegeschichtsschreibung für die Zeit nach 1945 dringend erforderlich ist. Wenn auch in der sehr material reichen Lepsius-Schelsky-Debatte eine Reihe wertvoHer Hinweise enthalten ist, die die Richtung anzeigen, die weitere Forschungen einzuschlagen hätten, so muß hier doch konstatiert werden, daß die überwiegend pauschalisierenden Feststellungen in der einschlägigen Literatur keineswegs geeignet sind, ein die wesentlichen Aspekte umfassendes Bild der westdeutschen Soziologie nach 1945 zu entwerfen bzw. auf solch differenzierte Fragestellungen wie die nach den Wirkungsmechanismen der gesellschaftlichen Determination von Wissenschaft eine hinreichende Antwort zu geben. Die zentralen Stereotype bundesdeutscher Soziologiegeschichtsschreibung sollen im Folgenden kurz diskutiert werden:

3.1 Soziologie im Faschismus Obwohl Schelsky bereits 1950 auf die Existenz einer Soziologie im Faschismus hingewiesen hatte I I und Heinz Maus nach 1946 unermüdlich das 8 Der Frage nach den HintergrUnden fUrdie Aktualität soziologiegeschichtlicher Reflexionen soll hier nicht nachgegangen werden; vgl. dazu: Schelsky 1981 b, Schmidt 1974 u.a. 9 Beispiel: Karger 1978. 10 Beispiel: Matthes 1972; teils wiederholte er die dort vertretenen Thesen auf dem 21. Soziologentag 1982 in Bamberg. 11 Schelsky 1950, S. 5.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

Versagen der Soziologie gegenüber dem Faschismus und ihre Unterwerfung unter die neue Herrschaft kritisierte, blieben bis etwa 1980 folgende zwei Stereotype Konsens des Selbstverständnisses der bundesdeutschen Soziologie: Erstens habe es keine Soziologie im Faschismus gegeben, zweitens sei sie von den neuen Machthabern unterdrückt, liquidiert, ausgetrieben usw. worden. 12 Rene König etwa behauptete, die Soziologie sei "um 1933 brutal zum völligen Stillstand gebracht" (1958, S. 14) worden. Auch Maus und Schelsky schlossen sich 1959 diesen Thesen weitgehend an, wenn auch Schelsky als Nuance das Argument einbrachte, die Soziologie sei "selbst am Ende" (1959, S. 37)13 gewesen. Solche Differenzen änderten jedoch nichts an dem Bild, das die bundesdeutsche Soziologie bis vor kurzer Zeit von ihrer Vergangenheit hatte. Selbst in DDR-Darstellungen findet sich die Behauptung einer Unterbrechung der soziologischen Arbeit durch den Faschismus '4, wenn auch andererseits in solchen Publikationen mit großem Nachdruck auf die faschistische Vergangenheit bundesdeutscher Soziologen hingewiesen wird. 15 Die in fachgeschichtlichen Reflexionen vorfindliche These einer NichtExistenz von Soziologie im Faschismus stützt sich weitgehend auf eine definitorische Ausklammerung der in der Zeit 1933 bis 1945 betriebenen Soziologie, die solche Wissenschaft als unsoziologisch aus dem disziplinären Kontext verweist. Lepsius etwa schreibt: "Eine nationalsozialistische Soziologie ist jedoch nicht entstanden, und sie konnte schon deswegen nicht entstehen, weil der rassistische Determinismus der nationalsozialistischen Weltanschauung das Gegenprogramm einer soziologischen Analyse darstellte." (Lepsius 1979, S. 28) 'Schelsky hingegen versucht in seiner jüngsten Darstellung, seine 195ger These mit der 1950er These zu verknüpfen und die Nicht-Unterbrechung einer ohnehin belanglosen Soziologie mit der Existenz einer wissenschaftlich ertragreichen Soziologie im Faschismus zu verbinden (1981 b, S. 9, 13), die durch ihre empirischen Arbeiten "innerdeutsche Voraussetzungen der Eingliederung in die ,internationalisierte' Soziologie nach 1945 längst geschaffen" (S. 20) hatte. 1b Es ist also unübersehbar, daß die bundesdeutsche Soziologie bis Ende der 70er Jahre nur sehr unklare und widersprüchliche Behauptungen über ihre Vergangenheit vor 1945 aufstellte, ja es war sogar möglich, daß 1969 von I! 1.1

I~ I; 11>

Matthes 1972. S. 219: Maus 1959. S. 87: Lepsius 1979. S. 26 ff.: Adorno 1959. S. 257. Ebenso Adorno 1952. S. 481. Steiner 1967. S. 206. BraunreutherlSteiner 1962. S. 56 ff. Siehe dazu ausführlich: Klingemann 1981.

3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

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Jonas eine Geschichte der Soziologie vorgelegt werden konnte, die die Zeit von 1933 bis 1945 mit vier Zeilen abhandelt. 17 Erst Anfang der 80er Jahre wurde das Geschichtsbild in diesem Punkt gründlich revidiert, wobei die bisherigen Stereotype allesamt widerlegt werden konnten. Der Komplex ,Soziologie im Faschismus' wurde damit in den letzten Jahren zu einem der zentralen Punkte der soziologiegeschichtlichen Debatte; seine Brisanz ergibt sich zweifellos mit daraus, daß dieses Thema zuvor weitgehend tabuisiert worden und die fach- wie individualgeschichtliche Vergangenheit noch weitgehend unbewältigt war. Insbesondere die Arbeiten von Peter Hinrichs, Waltraud Bergmann et al. und Carsten Klingemann haben durch ihre empirisch fundierten Recherchen zu dieser Entwicklung beigetragen und eine differenziertere Betrachtungsweise dieser Thematik auch bei anderen Autoren bewirkt. IB Wesentliches Ergebnis dieser Arbeiten ist der Nachweis einer fast bruchlosen Kontinuität zwischen der Soziologie in der Weimarer Zeit, im Faschismus und in der Bundesrepublik. Belegt wird durch diese Untersuchungen ferner zweifelsfrei die Existenz von Soziologie, ja sogar von empirischer Sozialforschung während der Zeit des Faschismus, die keineswegs kollektiv verfolgt, sondern dort, wo sie sich in die Praxis der politischen Herrschaftsausübung einpaßte, systematisch gefördert wurde. 19 Zudem ist der Beweis erbracht, daß die meisten Soziologen sich keineswegs unfreiwillig den neuen Verhältnissen unterwarfen, sondern aktiv an deren Gestaltung mitwirkten und sich den neuen Machthabern z. T. offen anbiederten. Soziologie wurde im damaligen Selbstverständnis häufig als Werkzeug der faschistischen Machtausübung verstanden und angepriesen. Durch den Nachweis, daß solche Konstruktionsversuche einer nationalsozialistischen Soziologie bereits vor 1933 festzustellen sind, läßt sich die erstmals 1948 von Maus aufgestellte - These erhärten, daß zumindest einige Soziologen zu den Wegbereitern des Faschismus zu rechnen sind. 20 Die Tatsache einer systemkonformen und herrschaftsstabilisierenden Soziologie im Faschismus ist heute jedenfalls nicht mehr zu leugnen. Mit dieser Revision des Geschichtsbildes mußten konsequenterweise auch bisher gängige Stereotype über den ,Neuanfang' nach 1945 hinfällig werden. 17 1972, Band IV, S. 84. Joachim Matthes' Darstellung von 1972 überspringt diese Zeit sogar völlig. 18 Z. B. bei Lepsius 1981b;siehe Bergmann 1981, Hinrichs 1981. Klingemann 1981. 19 Dies geschah z. B. in Form der Neugründung von Instituten; vgl. Klingemann 1981, S.287. 20 Maus 1948, S. 51.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit 3.2 Soziologie in der Phase nach 1945

Das Jahr 1945 wird zumeist als Nullpunkt und Neuanfang nach zwölfjähriger Unterbrechung jeglicher soziologischer Arbeit, die unmittelbare Nachkriegs phase folglich als Neubegründungs- bzw. Wiederbelebungsphase begriffen, in der dem gewaltigen Nachholbedarf in der Weise Rechnung getragen wurde, daß "die Türen weit aufgemacht (wurden) und so viel von dem zwölf Jahre lang Versäumten hereingelassen (wurde) wie möglich, vor allem aus Amerika ... " (Adorno 1959, S. 259).21 Konsens herrscht in den verschiedenen Darstellungen darüber, daß in dieser Phase die Theoriearbeit zugunsten der empirischen Forschung zumeist vernachlässigt wurde und die stärker theoretisch orientierten Soziolgen - etwa Alfred Weber oder Leopold von Wiese und Kaiserwaldau zwar den organisationspolitischen Neuanfang bewerkstelligten, aber keine inhaltliche Prägung auf die deutsche Soziologie ausübten. So entstand nach Lepsius - eine Soziologie, die "Merkmale eines positiven Dilettantismus und eines bewußten Eklektizismus" (1976, S. 3) trug. Schelsky beklagt in diesem Zusammenhang, daß beim Aufbau der westdeutschen Soziologie nicht auf die Soziologen zurückgegriffen wurde, die aus der Zeit vor 1945 deutsche Erfahrungen mit empirischer Sozialforschung (ES F) vorzuweisen hatten (1950, S. 7), während er in einer späteren Darstellung betont. die Restauration der Soziologie sei unvermeidlich gewesen (1959. S. 58). Schelsky erklärt die starke Rezeption der ESF einerseits als einen "Missionserfolg der Soziologie der USA", andererseits sieht er "Ursachen in der Verfassung und dem Bewußtsein der deutschen Gesellschaft nach 1945 selbst" (S. 55). Zum zweiten Punkt führt er aus: "Der Aufschwung der empirischen Soziologie nach 1945 in Westdeutschland bezieht seine Geltung vor allem aus einem antiideologischen Realitäts- und Orientierungsbedürfnis ... " (S. 55 f.) Die bundesdeutsche Soziologie sei damit in ihre "nachideologische Phase geraten" (S. 42). Theodor W. Adorno weist demgegenüber stärker auf gesellschaftliche Faktoren hin: "Der Aufschwung der deutschen Soziologie nach dem Krieg entspringt einem genuinen Bedürfnis. Die Aufgaben von Planung. die nach der tota~I Vgl. dazu: Neuloh 1978. S. 36 f.; Lepsius 1976. S. 3; Lepsius 1979. S. 29 (Daß Neubegründung und Wiederbelebung sich bereits immanent widersprechen, hat Lepsius nicht reflektiert.); Bolte 1976.

3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

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len Niederlage, nach der physischen Zerstörung der Städte, nach Ereignissen wie dem Zustrom der Millionen von Flüchtlingen sich stellten, erheischten unangreifbare informatorische Daten ... (Deshalb) wurden die Methoden des ,administrative research'fürdie Verwaltungunentbehrlich." (1959, S. 261) Bereits 1952 hatte Adorno neben diesem Bedürfnis der Verwaltung auf weitere Faktoren hingewiesen, die diese Entwicklung vorantrieben, nämlich den "amerikanische(n) Einfluß", das "unartikulierte Bedürfnis der Menschen, ihre Urteile, Wünsche und Bedürfnisse nicht bloß auf dem Stimmzettel geltend zu machen", und die "Tendenz der Wirtschaft, Risiken so weit wie möglich herabzusetzen" (S. 479). All dies - so Adorno weiter - "kam den Methoden des ,social research' im Nachkriegsdeutschland entgegen" (ebd.). Adorno erklärt schließlich in seiner 195ger Abhandlung aus den in der Industrie sich aufdrängenden Problemen (z. B. der Mitbestimmung) das große Interesse an der Betriebssoziologie, deren Zweck seiner Auffassung nach primär war, "Informationen über den subjektiven Bewußtseinsstand der Arbeitenden" (S. 262) zu ermitteln, was alleine mit den Methoden der ESF geleistet werden konnte. Adorno nennt weiterhin als einen Grund für das Vordringen der ESF das ideologische "Vakuum" (ebd.), das durch die Diskreditierung der Marx'schen Theorie entstanden war und nunmehr von der scheinbar wertfreien ESF aufgefüllt wurde. Die hier schon in Publikationen der 50er Jahre nachweisbare Verortung von zweierlei Ursachen für die sich nach 1945 entwickelnde Dominanz der ESF - amerikanischer Einfluß einerseits, ideologische Bedürfnisse und gesellschaftlicher Problemlösungsbedarf andererseits - findet sich 1979 bei Tenbruck wieder, wenn dieser auch eine überwiegend deskriptive und geistesgeschichtliche Darstellung präsentiert. Tenbruck ist jedoch der einzige Autor, der über die gängigen Thesen hinaus nach den Gründen für die subjektive Empfänglichkeit westdeutscher Soziologen für die ESF fragt. Er nennt folgende zwei Aspekte: Erstens habe die aus den USA importierte Soziologie den Anspruch erhoben, mittels empirisch orientierter Sozialforschung Gesellschaft plan bar und steuerbar machen zu können, zweitens habe sie solche Wissenschaft als zuverlässiges Mittel zur künftigen Sicherung der Demokratie präsentiert. Diese beiden Faktoren erklären - so Tenbruck - die Faszination, die die ESF auf westdeutsche Soziologen ausübte. 22 Helmut Steiner hingegen argumentiert im Hinblick auf die Ursachen für die Durchsetzung der ESF anders; er betrachtet die Entwicklung weniger als das Ergebnis subjektiver Prozesse oder des amerikanischen Einflusses 22

Tenbruck 1979, S. 87 ff.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

hierin sich von allen anderen Darstellungen unterscheidend -, sondern primär als "ein objektives Erfordernis für die Entwicklung der Soziologie unter den Bedingungen des wiedererstandenen deutschen Imperialismus ... "(1967, S.205), welcher die "unmittelbar praktische Nutzbarmachung gewonnener theoretischer Ergebnisse" (S. 206) zum vorrangigen Erfordernis machte. Steiner setzt sich ferner eingehend mit der politischen Orientierung der westdeutschen Nachkriegssoziologie auseinander und hält vor allem v. Wiese vor, den "politisch militante(n) Antikommunismus" (S. 205) zum Programm erhoben, statt sich kritisch mit dem Faschismus auseinandergesetzt zu haben. 23 Die vor allem in Bezug auf die Zeit des Faschismus sehr faktenreiche Darstellung von Braunreuther / Steiner gelangt schließlich zu einer - sicher nur vor dem Hintergrund des kollektiven Vergessens in der bundesdeutschen Soziologie verständlichen - scharfen Polemik gegen die "bürgerliche Soziologie" in Westdeutschland, der die Autoren vorhalten, "von Anfang an in der restaurativen Entwicklung der deutschen Westzonen ein entscheidender Aktivposten im Herrschaftsmechanismus des westdeutschen Monopolkapitals" (1962, S. 71) gewesen zu sem. Auch im Kontext der bundesdeutschen Soziologie gibt es kritische Darstellungen, wenn etwa Bärbel Kirchhoff-Hund die nach 1945 erfolgte "Neuoorientierung" (1978, S. 73) als eine "mit Hilfe US-amerikanischen Kapitals" bewerkstelligte "Orientierung an der am weitesten entwickelten kapitalistischen Gesellschaftsordnung" begreift, die das Ziel verfolgt habe, "einen Beitrag zu liefern zum reibungslosen Ablauf einer scheinbar neuen Ordnung" (S. 74). Bärbel Meurers Analyse der Soziologentage kommt zu dem Ergebnis, daß die Soziologie auf den Zusammenbruch des Faschismus "mit Irritation und Rückzug" (1979, S. 220) reagiert habe. Sie bescheinigt besonders v. Wiese eine "analytische Unfähigkeit" (S. 221) und hält als Fazit des 8. Soziologentages fest: "So wenig die Soziologie zur Analyse der Zeiterscheinungen imstande war. so wenig war sie auch bereit, auf die ihr angesonnenen neuen Aufgaben einzugehen." (S. 221) Zudem konstatiert sie bei der damaligen Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) eine "Abwehr gegen die moderne Sozialforschung" (S. 223). 2.1

Vgl. BraunreutherlSteiner 1962. S. 49.

3. Stand und Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

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Man kann also zu den Darstellungen dieser unmittelbaren Nachkriegphase festhalten, daß der gesellschaftliche Problemlösungsbedarfund - mit Einschränkungen - der amerikanische Einfluß als die Komponenten angesehen werden, die die Entwicklung nach 1945, vor allem aber das Erstarken der ESF erklärlich machen sollen. Diese Erklärungsversuche gehen somit über rein wissenschaftsimmanente Prozesse hinaus und berücksichtigen daneben politische gesellschaftliche und ökonomische Faktoren. Es muß allerdings die Einschränkung gemacht werden, daß diese Darstellungen die zitierten Zusammenhänge lediglich behaupten, sie aber kaum mit empirischem Material belegen. Folglich kann es als eine Anforderung für die Forschung formuliert werden, die hier behaupteten Zusammenhänge nachzuprüfen. Dazu will auch die hier vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.

3.3 Die Entwicklung in den 50er Jahren Für die soziologiegeschichtliche Darstellung der 50er Jahre kann man eine Horizontverengung gegenüber dem vorherigen Zeitraum (teils innerhalb derselben Publikation) in der Weise feststellen, daß außerwissenschaftliche Faktoren aus der Betrachtung weitgehend ausgeklammert werden. Bezüglich ihres kognitiven Gehaltes wird die Soziologie der 50er Jahre zumeist als eine statische Einheit betrachtet, innerhalb derer sich kaum wesentliche Veränderungen vollzogen haben. Beliebt ist es in solchen Darstellungen, verschiedene Schulen bzw. Zentren der Soziologie abzugrenzen oder mit Soziologengenerationen zu argumentieren 24 , wobei dann zumeist eine Reduktion des Gegenstandes auf die akademisch verfaßte Soziologie stattfindet. Die 50er Jahre werden so als die "Gründerzeit" (Matthes 1972, S. 223) begriffen, in der die Soziologie durch das Wirken der "Gründergeneration" (Lepsius 1979, S. 36) geprägt war, deren ,Schulen' sich vor allem durch divergierende theoretische Konzeptionen voneinander unterschieden. Schelsky weist hingegen auf die umfangund bedeutungsreiche außeruniversitäre Soziologie hin, betont, daß der Schwerpunkt der bundesdeutschen Soziologie bis in die 60er Jahre im Bereich der ES F gelegen habe und widerspricht zudem Lepsius' Behauptung von der Einflußlosigkeit der Soziologie für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse. 25

In neueren Darstellungen wird institutionellen Entwicklungen erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt 26 , wobei das Hauptaugenmerk auf die Professio24 25 26

Schelsky 1959, Matthes 1972, Lepsius 1976 und 1979. Schelsky 1981 b, S. 44 f.; Lepsius 1976, S. 4; Lepsius 1979, S. 54. Lepsius 1979, Schelsky 1981 b.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

nalisierungspolitik und die institutionellen Lehr- und Forschungskapazitäten der Soziologie gelegt wird. Eine Verknüpfung dieser institutionellen Prozesse mit kognitiven Entwicklungen ist jedoch bisher nicht unternommen worden. Gegen Ende der 50er Jahre wird von fast allen Autoren eine Zäsur der Soziologieentwicklung festgestellt, die aber recht unterschiedlich erklärt wird. Lepsius führt sie auf das "Gefühl der Unzufriedenheit" (1979, S. 41) über den erreichten Entwicklungsstand innerhalb der Profession und die sich mit dem 14. Soziologentag 1959 abzeichnende Auflösung der Gründungskonstellation zurück. Matthes sieht den bei der jüngeren Soziologengeneration entstandenen "Zwang zur Profilneurose" (1972, S. 231) als einen entscheidenden Grund für den Ausbruch aus der Schulenbildung an. Schelsky verweist dementgegen darauf, daß diese Entwicklungen schon Mitte der 50er Jahre in Gang gekommen seien 27 ; und Steiner sieht die gesamten 50er Jahre als einen Zeitraum an, in dem sich in einem allmählichen Prozeß ein "Gestaltungswandel im Selbstverständnis und in der AufgabensteIlung" (1967, S. 206) der Soziologie vollzog, den er auf sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen und die damit verbundene Förderung einer pragmatisch ausgerichteten Soziologie zurückführt. Die "Zäsur in der westdeutschen Soziologieentwicklung um und nach 1959" (S. 238) begründet er jedoch - sich darin von anderen Darstellungen nicht unterscheidend - mit der sich in der damaligen Soziologie abzeichnenden Notwendigkeit wissenschaftlicher Theoriebildung. Es läßt sich also resümieren, daß die Soziologie der 50er Jahre in bisherigen soziologiegeschichtlichen Arbeiten zwar unter verschiedenen Aspekten - zumeist wissenschafts- oder organisationsimmanenten - untersucht worden ist, ein klares, mit Fakten hinlänglich fundiertes Gesamtbild der Entwicklung aber kaum gezeichnet worden ist. Eine kritische Revision gängiger Stereotype hat mit der Lepsius-Schelsky-Debatte erst begonnen; sie fortzusetzen und vor allem eine Verbindung bisher unverbundener Bruchstücke herzustellen, ist eine wesentliche, noch zu leistende Aufgabe der soziologiegeschichtlichen Forschung. Damit wird es auch möglich werden, die bisher präsentierten Phaseneinteilungen der bundesdeutschen Soziologie kritisch zu überprüfen und vor allem Hintergründe der Entwicklungen und Ursachen der Zäsuren zu ermitteln, was bisher nur in Ansätzen geleistet worden ist. 28 27

2"

Schelsky 1981 b. S. 59 f. In bisherigen soziologiegeschichtlichen Darstellungen wurden folgende Phasenein-

3. Stand und Defizite der Soziotogiegeschichtsschreibung

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Wesentlicher Anspruch einer solchen Gesamtinterpretation müßte es sein, wissenschaftsinterne Entwicklungen und externe Einflußfaktoren in einer integrierten Darstellung miteinander zu verbinden. 3.4 Defizite der Soziologiegeschichtsschreibung

Es ist unübersehbar, worin die Defizite der bisherigen Soziologiegeschichtsschreibung bestehen. Die hier vorliegende Arbeit will dort anknüpfen, wo in der Aufarbeitung der Epoche 1945 bis 1960 Lücken existieren bzw. wichtige Forschungsfragen nur unzureichend geklärt sind. Folgende Punkte werden dabei im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen: I. Wie ist der Komplex der personellen wie inhaltlichen Kontinuität Faschismus / Bundesrepublik einzuschätzen? Wie verliefen die wissenschaftlichen Karrieren der Soziologen nach 1945 weiter, von denen die heutige Forschung inzwischen mit Sicherheit sagen kann, daß sie auch während des Faschismus wissenschaftlich und politisch aktiv waren? 2. Gab es 1945 einen Neuanfang sowohl personeller als auch inhaltlicher Art? Wie sah die Faschismusbewältigung der westdeutschen Soziologie aus? 3. In welcher Gestalt vollzogen sich die Prozesse der Re-Institutionalisierung und Rekonstruktion der westdeutschen Soziologie? teilungen vorgenommen: upsius unterscheidet 1976 folgende vier Phasen: I. Rekonstruktionsphase 1945-1960, 2. Konsolidierungsphase 1960/61-1967/68, 3. Phase der beschleunigten Expansion und der Politisierung und Ideologisierung ab 1968, 4. gegenwärtig (1976): Phase der Stagnation. 1979 beschränkt er sich auf eine Darstellung der Zeit bis 1968 und gelangt dabei zu völlig andersgearteten Einteilungen: I. Wiederbelebung 1945-1949, 2. Neubegründung 1950-1955 (Herausbildung der Gründungskonstellation), 3. Die 50er Jahre, 4. Die 60er Jahre bis 1968. Karger (1978) orientiert sich in ihrer Phaseneinteilung ausschließlich am Kriterium der Satzungsänderung in der DGS und macht daher zwei Phasen (1945-1956 und 1959-1968) aus. (S. 185). Lutz / Schmidt (1977) sehen für die Industriesoziologie - der für die 50er Jahre insofern besondere Bedeutung zukommt, als die ESF überwiegend Industrie- und Betriebssoziologie war - folgende zwei Phasen: Die Gründungsphase in der ersten Hälfte der 50er Jahre und die Konsolidierungsphase bis zum Beginn der 60er Jahre. (S. 156) Steiner (1967) schließlich ermittelt für die Entwicklung bis zu Beginn der 60er Jahre drei Etappen: I. Nachkriegsphase 1945 ff., 2. Allmähliche Durchsetzung der ESF, beginnend Anfang der 50er, manifest ab Mitte der 50er Jahre, 3. Beginn einer neuen Etappe mit der Zäsur 1959.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

4. Wie groß war der Einfluß der Amerikaner 29 auf die westdeutsche Soziologie nach I 945? Welche Veränderungen der kognitiven und institutionellen Struktur der Soziologie hat er bewirkt? Welche Konsequenzen erwuchsen daraus für die Entwicklung der bundesdeutschen Soziologie? 5. Wie entwickelte sich das Verhältnis von theoretischer und empirischer, von universitärer und außeruniversitärer Soziologie vor allem in den 50er Jahren? Welche Ursachen können dafür ausgemacht werden? 6. Wie sind kognitive, institutionelle und' organisationspolitische Entwicklungen der westdeutschen Soziologie zwischen 1945 und 1960 zu interpretieren; welche Hintergründe und Einflußfaktoren gibt es für diese Prozesse?

4. Methodik und Argumentationsautbau der Arbeit

Die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit ist durch die Feststellung präformiert, daß bisherige soziologiegeschichtIiche Darstellungen auf ungenügender Materialbasis beruhen. Konsequenz aus dieser Erkenntnis war es, zunächst weitgehend ohne vorgefaßte Selektionsprinzipien zeitgeschichtliches Material zu sammeln, um daraus eine historisch-chronologische Bestandsaufnahme der Soziologie unter kognitiven wie institutionellen Aspekten zu erarbeiten. Bei der Analyse des kognitiven Bereichs gab es nur geringe Probleme der Literaturbeschaffung, weil wichtige Positionsbestimmungen der Soziologie in den einschlägigen Medien dokumentiert sind, wenn auch bedauerlicherweise die Verhandlungen einiger wichtiger Fachtagungen um 1950 nicht protokolliert sind. Dieses Material wird in den einzelnen Kapiteln nach verschiedenen Gesichtspunkten systematisiert und immanent interpretiert; dies sind vor allem die beiden Komplexe Gesellschaftsanalyse und Selbstverständnis der Soziologie, wobei letzterer das wissenschaftstheoretische wie das wissenschaftspolitische Konzept einschließt. I Bei der Analyse des institutionellen Bereichs war ein ausgedehntes Quellenstudium nötig, das durch den Besuch von zumeist bisher unausgewerteten -,

Der Begriff ,Amerikaner' ist zwar recht unscharf, wird hier aber PraktikabilitätsGründen aber dennoch verwendet. I Die in diesen Abschnitten angesprochenen Themenkomplexe werden hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt behandelt. welche Schlüsse sich aus den kognitiven Prozessen für eine Geschichte der westdeutschen Soziologie ziehen lassen. Das hat zur Konsequenz, daß die jeweiligen fachwissenschaftlichen Problematiken (beispielsweise die der Werturteilsfrasge oder der sozialstrukturellen Verortung der Intelligenz) nur in begrenztem Maße verfolgt werden können. 29

4. Methodik und Argumentationsaufbau der Arbeit

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und schwer zugänglichen Archiven das Material sicherte und zudem wertvolle Dokumente über das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zutage förderte. Ausgewertet wurden vor allem die Archive der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der Sozialforschungsstelle Dortmund, darüber hinaus verstreute Materialien über die US-Besatzungspolitik. 2 Wesentliche Aufgabe der Forschung war es, aus den vorliegenden, teils unvollständigen Materialien zunächst rein immanent die'Geschichte soziologischer Institutionen und Organisationen zu rekonstruieren, ohne die Fakten in ein vorab gefaßtes Interpretationsschema zu pressen. So weit dies möglich ist, soll das Material zunächst ,für sich sprechen'; eine Interpretation wird vor allem dort nötig, wo das gesellschaftliche Substrat ermittelt und eine Verbindung zwischen der kognitiven Substanz und den institutionellen Prozessen hergestellt werden soll. Auf diese Weise wird der Versuch unternommen, institutionelle und gesellschaftliche Ursachen der soziologischen Theorieentwicklung zu ermitteln. Die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen der Soziologie wird also nicht in der Weise angegangen, daß die Soziologieentwicklung lediglich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung abgebildet bzw. gespiegelt wird, wobei dann die gesellschaftlichen Fakten den Maßstab bilden, in den die Wissenschaft sich lediglich einzufügen hat; es werden vielmehr aus der Analyse des theorie- und institutionengeschichtlichen Befundes die Fragestellungen entwickelt, die auf den sozialen Kontext von Wissenschaft verweisen. Dadurch wird dann die Richtung präzisiert, in der zusätzliche Fakten über das gesellschaftliche Umfeld ermittelt werden müssen. In diesem Zusammenhang verweist schon die Zufälligkeit der Materialauffindung darauf, daß die Verifizierung vorher aufgestellter Hypothesen nur in einem begrenzten Umfang möglich ist; zum Teil weisen die Quellen in Richtungen, die mittels einer vorab entwickelten theoretischen Gegenstandsdefinition nicht hätten ermittelt werden können. Der gesamte Forschungsprozeß war so durch eine ständige Revision von Hypothesen und eine allmähliche, schrittweise Konkretion des Themas gekennzeichnet, die weniger aus der theoretischen Vorarbeit als vielmehr aus 2 Die Tatsache, daß die Archive größtenteils völlig ungeordnet waren bzw. noch keinen festen Standort gefunden hatten, wirft ein Schlaglicht auf die Behandlung solcher Dokumente einerseits, auf die empirische Gründlichkeit bisheriger Arbeiten andererseits. Mangels einer ordnungsgemäßen Archivierung der für diese Arbeit verwendeten Dokumente ist es auch nicht möglich, nach dem gewohnten Modus zu zitieren (mit Angabe der Akte, deren Nummer und Seitenzahl). Vielmehr werden lediglich der Titel des betreffenden Schriftstücks (bei Briefen Absender, Adressat u. Datum) und die FundsteIle (Archiv I-V) angegeben.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

der Materiallage resultierten. So ist z. B. die weitgehende Ausklammerung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den folgenden Betrachtungen nicht ausschließlich ein Ergebnis inhaltlicher Vorentscheidungen, sondern zum Teil auch Folge mangelnder Quellenfunde, was u. a. dadurch zustande kam, daß dem Verfasser der Zutritt zum Institutsarchiv nicht erlaubt wurde. 3 Wenn diese Arbeit auch beansprucht, einen umfassenden überblick über die Entwicklung der west- und bundesdeutschen Soziologie im Zeitraum 1945 bis 1960 zu präsentieren, so kann dies keineswegs gleichbedeutend mit lückenloser Vollständigkeit sein. Es war vielmehr notwendig, bestimmte, sinnvolle Schwerpunkte zu setzen. Ein Schwerpunkt ergab sich alleine schon daraus, daß bisherige Soziologiegeschichte überwiegend Theoriegeschichte ist; folglich sieht es diese Arbeit als ihre Aufgabe an, ein Gegengewicht zu liefern, indem den institutionellen Entwicklungen und darüber hinausgehend den Verflechtungen von Wissenschaft und Gesellschaft breiter Raum gewidmet wird. Besondere Ausführlichkeit ist dort geboten, wo es sich um Prozesse handelt, die bisher weitgehend unbekannt sind. Auch ein zweiter Schwerpunkt ergibt sich aus den bisherigen Defiziten, nämlich aus der Reduktion von Soziologiegeschichte auf eine "Vereins- und Lehrstuhlgeschichte" (Schelsky 1981b, 12). Diese Arbeit wird die außeruniversitäre Sozialforschung ebenso wie die universitäre Sozialforschung nach ihrem Stellenwert für die bundesdeutsche Soziologie untersuchen, ohne dabei eine apriorische Wertung vorzunehmen. Ein dritter Schwerpunkt ergibt sich aus dem Interesse dieser Arbeit, Soziologie und ihre Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext darzustellen. Dazu werden aus dem komplexen Phänomen Gesellschaft, das in all seinen J Die Ausklammerung einer eigenständigen Geschichte des Frankfurter IfS bzw. der Frankfurter Schule aus dieser Arbeit kann folgendermaßen begründet werden: Erstens ist die Theoriegeschichte der Frankfurter Schule weitgehend aufgearbeitet (vgl. Jay 1976 u.a.l, zweitens war die Frankfurter Schule für die Soziologie der 60er Jahre prägend, hatte in den 50er Jahren jedoch lediglich eine RandsteIlung inne, was sicherlich z. T. damit zusammenhängt. daß die Frankfurter erst nach Deutschland zurückkehrten, als das institutionelle Gefüge der westdeutschen Soziologie bereits so weitgehend restauriert war, daß ihr Einfluß notwendigerweise beschränkt bleiben mußte. Zudem - drittens - paßten sich die Frankfurter in die einmal eingeschlagene Entwicklung recht reibungslos ein; eine wirkungsvolle Opposition etwa im Maus'schen Stil haben weder Adorno noch Horkheimer betrieben. Diese Konformität (vgl. Jay 1976, S. 334 f.) und Eingliederung in die Soziologie des Adenauerstaates zu untersuchen und nach deren Ursachen zu fragen, wäre sicherlich ein wichtiges Thema für künftige Forschungen. Viertens war es dem Verfasser nicht möglich. Einblick in das Archiv des IfS zu nehmen; aus Gründen der Arbeitsökonomie wurden deshalb die Recherchen auf andere Teilbereiche konzentriert, in denen der Zugang zum Quellenmaterial unproblematischer war.

4. Methodik und Argumentationsaufbau der Arbeit

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Bedingungsfaktoren nicht untersucht werden kann, die Aspekte herausgegriffen, die in der Analyse des soziologischen Materials als gesellschaftliches Substrat aufleuchten. Für die Arbeit ergibt sich somit folgender Argumentationsaufbau: Sowohl aus dem universitären wie auch aus dem außeruniversitären Bereich wird jeweils die für den untersuchten Zeitraum zentrale Institution dargestellt und untersucht; es handelt sich dabei zum einen um die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) als Standes vertretung der akademmisch verfaßten Soziologie, um die von ihr veranstalteten Soziologentage und die als ihr Publikations- und Vereinsorgan wirkende Kölner Zeitschrift für Soziologie (KZS) (Kap. 11); zum anderen um die Sozialforschungsstelle Dortmund (SFSD) als größte, im betrachteten Zeitraum gewichtigste und zweifellos führende Institution im außeruniversitären Bereich sozialwissenschaftlicher Forschung und die von ihr maßgeblich gestaltete Zeitschrift Soziale Welt (SW) (Kap. III). Beide Institutionen werden unter zwei Aspekten behandelt, dem der Organisationsgeschichte einerseits, dem der Entwicklung der theoretischen Programmatik andererseits. Zudem werden jeweils die Fragen herausgearbeitet, die sich aus der immanenten Analyse des Materials nicht beantworten lassen, sondern darüber hinausgehende Recherchen im gesellschaftlichen Kontext erforderlich machen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext soll Kapitel IV dieser Arbeit beantworten, wobei insbesondere die Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung im betreffenden Zeitraum untersucht werden wird, weil diese beiden Faktoren vorwiegend für die Konstitution der ideellen und institutionellen Rahmenbedingungen der Soziologieentwicklung verantwortlich zu machen sind. Der methodische Ansatz dieser Arbeit, aus der Wissenschaftsentwicklung das gesellschaftliche Substrat herauszukristallisieren, ermöglicht es, auf ein separates Kapitel zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Westzonen und der Bundesrepublik zu verzichten. 4 Statt dessen konzentriert sich die Darstellung auf die Wissenschaftspolitik der US-Besatzungsmacht. Mit umfangreichen und größtenteils bisher unbekannten Dokumenten zu diesem Thema wird in der Diskussion des gesellschaftlichen Kontextes in gewisser Weise der Schwerpunkt auf den Komplex der ,Amerikanisierung' der Soziologie gelegt, während die wissenschafts politische Landschaft in den 50er Jahren nur kursorisch gestreift wird.

4 Hier kann auf eine Reihe von Publikationen von Huster (1975) bis Schwarz (1966) verwiesen werden, die diesen Komplex ausführlich behandeln.

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Einführung in Problemstellung und Intention der Arbeit

So legt diese Arbeit auch insgesamt den Hauptakzent auf die unmittelbare Nachkriegszeit, während besonders die - meist hinlänglich bekannten kognitiven Entwicklungen gegen Ende der 50er Jahre nur kurz angesprochen werden. Begründet werden kann diese Akzentsetzung damit, daß die ersten Nachkriegsjahre die Jahre der entscheidenden Weichenstellung für die weitere Entwicklung der Soziologie sind. Daß diese Arbeit aber den Schlußstrich nicht mit dem Jahr 1950 zieht, hat seinen Grund darin, daß nicht nur die Weichenstellungen, sondern auch deren Auswirkungen in den 50er Jahren verfolgt werden sollen und erst durch diese komplexe Betrachtung sich ein differenziertes Bild der Entwicklungen zeichnen läßt, das nicht nur die Frage nach den Beeinflussungsmechanismen, sondern auch die nach den tatsächlichen Auswirkungen beantworten soll. Das abschließende Kapitel dieser Arbeit versucht, die verschiedenen Teiergebnisse auf eine Weise zu kombinieren, die es gestattet, die Entwicklung der west- und bundesdeutschen Soziologie von 1945 bis 1960 in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext in den wesentlichsten Grundzügen zusammenhängend zu beschreiben und zu begründen (Kap. V).

Zweites Kapitel

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie I 1. Vorbemerkung

Das folgende Kapitel befaßt sich mit der für den behandelten Zeitraum (1945 bis 1960) maßgeblichen Standesvertretung der west- und bundesdeutschen Soziologie im akademischen Bereich, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), deren Selbstdarstellungs- und Diskussionsforen die in der Regel alle zwei Jahre veranstalteten Soziologentage waren und als deren offiziöses Publikationsorgan die Kölner Zeitschrift für Soziologie (KZS) fungierte. Dargestellt werden sowohlorganisationsgeschichtliche und organisationspolitische Aspekte der Entwicklung dieser Organisation wie auch der Verlauf der wissenschaftlichen Debatte. Der erste Abschnitt befaßt sich mit den Prozessen der Wiedergründung der DGS und beschreibt in einem kurzen Überblick die wesentlichsten Momente der organisationspolitischen Entwicklung. Zwei Aspekte organisationspolitischer Aktivitäten in den 50er Jahren werden daran anschließend ausführlicher behandelt: die Professionalisierungspolitik und die verbandsinternen Auseinandersetzungen im Verlaufe der 50er Jahre. Nach einer Übersicht über die Soziologentage der Zeit von 1946 bis 1959 werden inden folgenden zwei Abschnitten verschiedene Aspekte des Selbstverständnisses der DGS-Soziologie 2 dargestellt und diskutiert. Die Aspekte, unter denen diese Darstellung erfolgt, sind die Gesellschaftsanalyse (darunter fallen insbesondere die Analyse des Faschismus wie der westdeutschen Gesellschaft und die Verortung der Intelligenz) und J Soweit nicht anders vermerkt, stammt das verwendete Quellenmaterial in diesem Kapitel aus dem Archiv der DGS (A I). 2 Wenn in diesem Kapitel von Soziologie gesprochen wird, so ist damit stets die von der DGS und der Kölner Zeitschrift repräsentierte Soziologie gemeint. Zuweilen wird auch das - nicht ganz korrekte - Kürzel .DGS-Soziologie' verwendet, das suggeriert. die von der DGS repräsentierte Soziologie bilde einen homogenen Block miteinander in Argumentations- und Diskussionszusammenhängen stehender Konzepte. Dennoch wird dieses Kürzel aus praktischen Erwägungen verwendet.

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

-- die wissenschaftstheoretischen Konzepte der Soziologie (hier werden u.a. verschiedene theoretische Ansätze, die Entwicklung der wissenschaftstheoretischen Debatte wie auch die wissenschaftspolitische Programmatik beschrieben). Soweit dies möglich ist, werden bereits in den einzelnen Abschnitten neben der systematischen Betrachtung historische Längsschnitte unternommen, da es die Absicht dieses umfassenden Überblicks über Grundpositionen der von der DGS repräsentierten Soziologie ist, charakteristische Verschiebungen soziologischen Selbstverständnisses herauszuarbeiten, um anhand solcher Brüche erste Indizien für Phasen der Soziologieentwicklung zu ermitteln. Diese Ergebnisse werden dann in einem späteren Kapitel in Beziehung zu Entwicklungen in anderen Sparten der Soziologie und zum gesellschaftlichen Kontext gesetzt, so daß in einer integrierten Betrachtung gesicherte Phasen der Soziologieentwicklung abgeleitet werden können. Das Fazit des Kapitels versucht deshalb, Fragen zu entwickeln, die einer über die wissenschaftsimmanente Betrachtung hinausgehenden Beantwortung bedürfen.

2. Kurzdarstellung der DGS, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung bis 1960

2.1 Zur Vorgeschichte der DGS bis 1945 Die DGS wurde 1909 als eine Abspaltung vom Verein für Socialpolitik (VfS) gegründet, der seit seiner Gründung 1872 ein pragmatisches Konzept von Sozialwissenschaft verfolgt hatte, was seinen Mitgliedern die Bezeichnung ,Kathedersozialisten' eintrug. Die DGS verfolgte demgegenüber ein Konzept ,reiner' Wissenschaft; doch waren die Differenzen zwischen den heiden Organisationen nie so groß, daß der Kontakt untereinander völlig abriß. Im Gegenteil: Fast alle DGS-Mitglieder blieben Mitglieder des VfS, und die Tagungen wurden stets aufeinander abgestimmt, so daß man mit Meurer von einer "enge(n) Verbindung zwischen beiden Organisationen" (Meurer 1979, S. 217) sprechen kann. Bereits kurz nach der Gründung kam es 1912 zu einer Spaltung im Vorstand der DGS, die zum Ausscheiden Max Webers führte, da sein Konzept einer werturteilsfreien Wissenschaft nicht konsensfähig war. I

I

v. Wiese 1946a. S. I: Karger 1978. S. 110.

2. Kurzdarstellung der DGS bis 1960

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An der Wiedergründung der DGS nach dem Ersten Weltkrieg 1919 war Leopold von Wiese und Kaiserswaldau maßgeblich beteiligt; er schreibt dazu in seinen Erinnerungen: ,,1919 schien mir der Zeitpuntk zu r Neugründ ung der Gesellschaft gekommen zu sein, und ich versuchte, von Köln aus die Teilnahme für diese wissenschaftliche Kollektivarbeit neu zu beleben, wie ich es auch sechundzwanzig Jahre später nach dem zweiten Kriege getan habe." (v. Wiese 1957, S. 59) v. Wiese war in der Weimarer Zeit Schriftführer der DGS und hatte mit der von ihm 1921 begründeten und geleiteten Kölner Zeitschrift deren wichtigstes Organ in der Hand. 2 Die erste organisationspolitische Maßnahme der DGS nach dem Krieg war es, auf dem ersten Nachkriegssoziologentag 1922 die Mitgliederzahl auf 120 zu beschränken und damit der DGS - so v. Wiese - bewußt den Charakter einer "esoterische(n) Gelehrtengesellschaft" (v. Wiese 1946a, S. 2) zu verleihen. Ab 1930 nahm die DGS auch an den internationalen Soziologen kongressen teil, die das von Rene Worms 1893 gegründete Institut International de Sociologie (IIS) veranstaltete. Obwohl dem nationalsozialistischen Regime nicht ablehnend gegenüberstehend - v. Wiese etwa stellte 1936 die Frage, "ob der Aufbau des deutschen nationalen Volks- und Staatslebens die Mitarbeit der allgemeinen Soziologie entbehren kann" (v. Wiese 1946a, S. 3) - mußte die DGS im Faschismus ihr Wirken einstellen. Nach der Darstellung aus verschiedenen Quellen, die sich aber offensichtlich alle auf v. Wieses Ausführungen stützen, fand im Dezember 1933 die letzte Mitgliederversammlung der DGS statt, auf der - unter dem Eindruck der "ultimativen Drohung einer Gegengründung" (Lepsius 1979, S. 28) durch sogenannte ,völkische Kräfte' - "sich Tönnies gezwungen (sah), sein Amt als Präsident niederzulegen" (v. Wiese 1959, S. 16), da er nicht zu Konzessionen bereit war. Hans Freyer wurde zum neuen ,Führer' der DGS erwählt; "wie es den Wünschen des Kultus-Ministeriums entsprach" (S. 17). Eine zuvor ins Auge gefaßte Kompromißlösung, die DGS durch ein DreiMänner-Kollegium (Werner Sombart, Freyer, v. Wiese) zu leiten, war den neuen Machthabern und den sie stützenden Kräften innerhalb der DGS offensichtlich ausreichend gewesen. v. Wiese kommentierte dies später so: "Wir schlossen kein Kompromiß und mußten abtreten, als uns ein Majoritätsbeschluß das politische Vertrauen versagte." (1946a, S. 4) Die Gefahr einer Gegengründung war damit aber offensichtlich noch nicht abgewandt, denn die "mit der neuen volksgenoßlichen Bewegung besonders 2 Lepsius beschreibt v. Wiese in diesem Zusammenhang als "unermüdliche(n) Organisator. doch ohne intellektuelle Faszination" (1981 b, S. 15). Zur KZS siehe Abschnitt 2.5.

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

verwachsenen Kreise ... veranstalteten ... von sich aus ein Treffen deutscher Soziologen in Jena" (Stoltenberg 1933/34, S. 424), das am 07.01.1934 unter der Führung von Ernst Krieck, Obmann des Amtes für nationalsozialistische Wissenschaft und Erziehung im Deutschen Hochschulverband, stattfand. 3 Inwiefern die neuen Machthaber darüber hinaus sich direkten Einfluß in der DGS sichern konnten, bleibt nach den vorliegenden Informationen unklar. Es gibt Indizien, die dafür sprechen, wenn etwa v. Wiese 1946 schreibt, daß "die Leitung der Gesellschaft einem Parteimitglied mit Totalvollmachten übertragen" (1946a, S. 4) wurde. Dies kann Freyer nicht gewesen sein, da ernie NSDAP-Mitglied war (Linde 1981, S. 116); vermutlich handelt es sich hierbei um den Juristen Reinhard Höhn, Hauptabteilungsleiter im Reichssicherheitsdienst der SS, ab 1936 Direktor des Berliner Instituts für Staatsforschung, der in seiner Funktion als" , Wissenschaftspapst' der SS" (Schelsky 1981b, S .28) zumindest den Versuch unternahm, "Ergebnisse empirischer Sozialforschung zu einem staatlich-herrschaftstechnisch verwertbaren ,Erkenntnisprodukt' zu machen" (Klingemann 1981, S. 285).4 Höhn fungierte als "Verbindungsmann der ... Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum Reichsarbeitsdienst" (S. 278) und war "wahrscheinlich die treibende Kraft in dem Versuch der Gleichschaltung" (Schelsky 1981b, S. 28) der DGS.5 Es ist anzunehmen, daß Höhns Position, vor allem aber der von ihm installierte Spitzeldienst an den Hochschulen 6 ihm eine große Einflußnahme auf die DGS-Geschäfte ermöglichte. Dennoch war Freyer formal ,Führer' der DGS - nach v. Wieses Angaben war dies möglich, weil es sich bei ihm un den "Vertrauensmanne der Nationalsozialisten" (1959, S. 17) handelte. Völlig ungeklärt sind die Vorgänge nach dem Jenaer Soziologentreffen. 1934 - wann aber genau, ist nicht herauszufinden -legte Freyer die DGS still. Er begründet dies so: "Als ich nach anfänglichen Versuchen, die fehlschlugen, einsehen mußte, daß eine wissenschaftliche Tätigkeit unter dem damaligen Regime nicht Vgl. Maus 1959. S. 75 f. Pikantes Detail am Rande ist die Tatsache. daß Höhn 1956 die Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft gründete (dazu und zu Höhn ausführlich: Köhler 1981), in der 1956 ein Automations-Seminar unter Teilnahme verschiedener bundesdeutscher Soziologen stattfand (Teilnehmerliste in All); die Soziologen trafen sich also 1956 in der Akademie des Mannes. der die DGS nach 1933 gleichgeschaltet hatte! ~ Auch Schelsky. der sonst meist bestens informiert ist. muß sich hier interessanterweise auf Vermutungen stützen! 6 Köhler 1981. S. 29. .1

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2. Kurzdarstellung der DGS bis 1960

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möglich sein würde, legte ich die Gesellschaft stilI, um sie nicht zu kompromittieren." (Freyer an Eckert, o.D., zit. n. Eckert an v. Wiese 26.04.1946)1 Auch andere Darstellungen sprechen von einer StilIegung8, doch bleiben die genauen Begleitumstände dieser Stillegung wohl eines der am wenigsten geklärten Kapitel deutscher Soziologiegeschichte9 ; die Unterlagen der DGS sind nach Freyers Angaben beim alliierten Bombenangriff auf Leipzig am 04.12.1943 zerstört worden 10, so daß eine Rekonstruktion der Ereignisse anhand von Originaldokumenten nicht mehr möglich ist. Schelsky fragt daher m. E. zurecht: "Weshalb hat eigentlich das 1933 die Macht ergreifende nationalsozialistische System ... die ,formlose Stillegung der Gesellschaft ... ' so ohne weiteres hingenommen?" (1981b, S. 25) Seine Erklärung, die Soziologie sei bereits "derart belanglos" gewesen, "daß sich eine ,Gleichschaltung' gar nicht lohnte" (ebd.), mag ein wichtiger Hinweis sein, reicht aber m. E. zur umfassenden Erklärung dieses Vorgangs ncht aus." Ob die DGS-Führung nun ihre Suspendierung unter Wahrung der eigenen Würde formal selbst vollzogen hat oder ob sie dazu gezwungen wurde, ist nicht genau rekonstruierbar; sie war den faschistischen Machthabern aller7 Dies hinderte Freyer allerdings nicht daran, unter dem Faschismus eine sehr rege wissenschaftliche Tätigkeit zu entfalten, siehe z. B. die Beschreibung bei Linde 1981. 8 v. Wiese 1946a, S. 4; Lepsius 1979, S. 29; Braunreuther/Steiner 1962, S. 58; Klingemann 1981, S. 278. 9 Neuerdings scheint es möglich zu werden, etwas Licht in die Vorgänge der DGSStilIegung zu bringen. Wie dem Verfasser von Michael Neumann, Göttingen, mitgeteilt wurde, gibt es ein Dokument von Max Hildebert Boehm aus dem Jahre 1946, in dem dieser die Ereignisse der Jahre 1933/34 wie folgt schildert: Freyer habe keineswegs die Absicht gehabt, die DGS stillzulegen, sondern wollte sie zusammen mit A. Walther, M. Rumpf, Rothacker und Boehm - weiterführen. Dieser Plan wurde aber - so Boehm weiter - von R. Höhn gestört, weil dieser selbst Präsident der DGS werden wollte. Höhn habe Freyer derart unter Druck gesetzt, daß jener schießlich zurücktrat. Siehe dazu: M. Neumann, Soziologie in Göttingen 1920 - 1950, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus; erscheint demnächst. Es ist zudem erstaunlich, daß Freyer - nach Klingemanns Angaben - noch 1936 als DGS-Präsident auftrat (1981, S. 288), was die Stillegungsthese vollends fragwürdig macht. Auch Maus' Hinweis, die Zeitschrift für deutsche Soziologie und Volkswissenschaft sei von 1934 bis 1936 von Rumpf, Freyer und Boehm "in Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für Soziologie" (1959, S. 76) herausgegeben worden, läßt ähnliche Zweifel aufkommen. JO Freyer an Eckert, op. eit. 11 Mit der These der Belanglosigkeit setzt sich Klingemann äußerst kritisch auseinander lInrl weist alleine anhand eines Vergleichs verschiedener Schelsky-Aussagen deren Unhaltbarkeit nach (1981, S. 281 ff.). Ähnlich wie Schelsky spricht auch v. Wiese vom "innere(n) Verfall" (1946a, S. 3) der Soziologie.

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dings durch die Installierung des Dreier-Kollegiums einen Schritt entgegengekommen. Fest steht jedenfalls, daß es innerhalb der DGS starke Kräfte gab, die mit dem Faschismus sympathisierten. Diese Kräfte waren bestrebt, trotz der Nicht-Existenz der DGS zumindest gegenüber dem Ausland eine Art Standesvertretung der deutschen Soziologen darzustellen: Als im Herbst 1939 in Bukarest der internationale Soziologenkongreß des IIS stattfinden sollte, der dann aber wegen der Kriegsereignisse abgesagt werden mußte, "wurde die Vertretung der deutschen Forschung in geradezu grotesker, völlig parteipolitisch gestalteter Form unter Professor Ipsens ,Führung' vorbereitet ... " (v. Wiese 1946a, S. 3) Schelsky bezeichnet daher Gunter Ipsen neben Höhn als "Scharfmacher" (1981 b, S. 27) innerhalb der Soziologie; nach Angaben verschiedener anderer Quellen kann man als dem Faschismus nahestehende Soziologen ferner hinzuzählen: Karl-Heinz Pfeffer, Karl Valentin Müller, Ottmar Spann, Freyer, Johann Plenge, Andreas Walther u. a. 12 Man kann also abschließend die Situation nach 1933 derart beschreiben, daß die DGS zwar formell aufgelöst war, es aber weiterhin eine recht aktive Soziologie gab, die allerdings keine genuine Standesvertretung besaß.

2.2 Die Wiedergründung der DGS nach 1945 Auch nach dem 2. Weltkrieg ergriff v. Wiese die Initiative zur Wiedergründung der DGS; der sehr frühe Zeitpunkt, zu dem dies geschah (Frühjahr 1946) ist ohne die fördernde Unterstützung maßgeblicher Besatzungsoffiziere und einflußreicher US-Soziologen, zu denen v. Wiese gute Beziehungen unterhielt, nicht erklärlich. 13 Ein Beispiel sei hier nur kurz genannt: Pitirim A. Sorokin, den v. Wiese seit den 30er Jahren kannte, erteilte v. Wiese schon am 25.07.1945 verschiedene nützliche Ratschläge, an wen dieser sich mit der Bitte um Unterstützung seiner Vorhaben wenden solle. Dank der Unterstützung, der fördernden Hilfe und dem Rat seiner amerikanischen Freunde war es v. Wiese möglich, noch vor Genehmigung der DGS durch die zuständigen Behörden (Militärregierung und Kontrollrat) am 5./6.04.1946 eine Versammlung in Bad Godesberg abzuhalten, auf der die DGS gegründet wurde. 14 Bereits vom 19. bis 21.09.1946 konnte diese I! Schelsky 1981b. S. 25; König 1980. S. 190; Maus 1959. S. 75. S. 78 ff.; bei Maus finden sich viele detaillierte Beispiele; vgl. ferner Bergmann 1981. I.l Vgl. Kap. IV. 4.3. 14 Weitere Vorstandsmitglieder wurden: Christian Eckert. Georg Jahn. Max Graf zu Solms. Hans Lorenz Stoltenberg. ab September 1946: Heinz Sauermann. Siehe Lepsius 1979. S. 29. S. 67; v. Wiese 1946a. S. 5.

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DGS den ersten Soziologentag nach dem Zweiten Weltkrieg veranstalten, der teilweise provisorische und improvisierte Züge hatte, aber seine Hauptfunktion, "zu dokumentieren, daß wir ,da sind' .. (v. Wiese 1946a, S. 5), erfüllte. v. Wiese beurteilte den Soziologentag nachträglich in einem Brief an Sorokin zwar recht kritisch 15; doch hatte er mit diesem frühen Soziologentag das erreicht, wozu ihm seine amerikanischen Freunde geraten hatten: Eine Wiederbelebung der soziologischen Standesvertretung nach altbewährtem Muster l6 . Die genauen Umstände der Wiedergründung der DGS liegen fast genauso im Dunkeln wie die Umstände der Stillegung; allerdings gibt es über die Vorgänge der offiziellen Anmeldung bei den zuständigen Behörden einige aufschlußreiche Dokumente. Unter den Bedingungen der Vier mächteMilitärregierung in Deutschland mußte die DGS ihre Anerkennung als Organisation für alle vier Zonen einzeln bei den jeweiligen Militärbehörden beantragen; auch der Kontrollrat war für die Zulassung zuständig. 17 Zuvor fand allerdings bereits im April 1946 die erwähnte "Zusammenkunft in Godesberg (statt), auf der die Gesellschaft nach dem Vorbilde der alten (Vorkriegs-DGS, J. W.) neu konstituiert wurde" (v. Wiese, 1948/49a, S. 2). Erst vier Monate später, am 31.08.1946, als die Vorbereitungen für den 8. Soziologentag also schon im Gange waren, richtete Max Graf zu Solms an den Hessischen Erziehungsminister folgendes Gesuch um Genehmigung der DGS, das auszugsweise zitiert werden soll: "An das Großhessische Staatsministerium, den Hessischen Minister für Kultus und Unterricht, Abt. Erwachsenenbildung ... Betr.: Genehmigung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Bezug: Tagebuch Nr. Abt. VI/ 12374/46 Zu/r. v. 6.8.46 Alle Vorstandsmitglieder sind politisch geprüft. Seitens der britischen Besatzungsbehörde ist die von dem in der britischen Zone wohnhaften Präsidenten nachgesuchte Genehmigung der Gesellschaft inzwischen erfolgt. Der Universitätsoffizier der amerikanischen Zone Dr. Hartshorne hat v. Wiese an Sorokin am 01.11.1946. Zudem konnte v. Wiese auf diesem Wege sicherstellen, daß er selbst wieder DGSPräsident wurde. Interessant ist nebenbei, daß die Wiedergründung der DGS in v. Wieses Autobiografie (1957) völlig fehlt. 17 Mausanv. Wiese am 18.08.1946;Solmsanv. Wiese am 17.08. 1946 und 31.08.1946. 15

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sein Einverständnis bereits erteilt und tatkräftige Unterstützung der Veranstaltung versprochen. gez. Solms" Die Vorstandswahlen waren also schon vor der Genehmigung der DGS abgehalten worden. 18 Im Zusammenhang mit dem Genehmigungsgesuch schrieb Solms am 01.09.1946 an v. Wiese:

" ... ich ... hoffe daher, in Kürze in Besitz der Genehmigung der Gesellschaft zu sein." Dem völlig entgegengesetzt ist die Mitteilung v. Wies es im 4. DGSRundschreiben vom 15.08.1946, in dem es heißt, daß "soeben erst die Genehmigung unserer Gesellschaft erfolgt ist". Auch auf dem 8. Soziologentag im September behauptete er: "Es dauerte verhältnismäßig lange, bis unsere Gesellschaft die Genehmigung in allen Zonen erhielt." (8. ST, S. 105) 19 Es soll nicht unterstellt werden, daß v. Wiese hier absichtlich die Unwahrheit sagte, doch ist aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich, daß seine Aussagen den Tatsachen entsprechen. Für diese Vermutung spricht auch der folgende Vorgang, der verdeutlicht, weIche Schwierigkeiten beim Versuch der Legalisierung der DGS zu überwinden waren. Solms schrieb am 21. I l.l946, also nach dem Soziologentag, an v. Wiese, daß er am 13.1l.l946 eine Mitteilung aus dem Hessischen Erziehungsministerium erhalten habe, derzufolge " ... das Genehmigungsgesuch für die DGS den Alliierten Kontrollrat in Berlin vorgelegt (wurde). Eine Stellungnahme von dort ist noch nicht erfolgt. " Und fast ein Jahr nach dem 8. Soziologentag, am 17.08.1947, schrieb Solms an v. Wiese: "Vom Kontrollrat ist die meinerseits seinerzeit in Ihrem Antrag für die amerikanische Zone erbetene Zulassung der D.G.f.S. noch nicht eingetroffen. Ich habe inzwischen auch via Wiesbaden nicht wiederum gemahnt, da ja seitens der zuständigen Universitätsoffiziere die Unterstützung unserer Absichten zugesichert ist." Solms fragte zudem nach, ob er noch einmal ein Treffen mit Howard P. Becker (Chief. Higher Education Branch, OMGH) arrangieren solle.

IK

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Vgl. Becker an v. Wiese am 21.08.1946. Die Verhandlungen der Soziologentage werden mit dem Kürzel ST zitiert.

2. Kurzdarstellung der DOS bis 1960

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Zu einer Zeit also, als etwa die Gewerkschaften noch unter teils konspirativen Umständen und räumlich stark isoliert arbeiten mußten 20 , war es der Standesorganisation der Soziologen bereits möglich, sich auf überregionaler und überzonaler Ebene zu organisieren - und das obwohl die Zulassung der DGS noch nicht vorlag! Neben dem Besatzungsoffizier Becker war es vor allem Edward Y. Hartshorne 21 , der sich besonders für die DGS eingesetzt und sie zur Vorbereitung des 8. Soziologentages ermuntert hatte. So wurde sein Name auf dem Soziologentag auch immer wieder erwähnt; und v. Wiese bedankte sich ausdrücklich bei der Militärregierung, "die uns wohlwollend und verständnisvoll nicht nur geduldet, sondern mannigfach gefördert und unsere bisherige Arbeit erleichtert hat" (l946b, S.9). Die Kräfte der DGS-Gründer waren durch die im Rahmen der Wiedergründung nötigen Aktivitäten so weit absorbiert, daß die Qualität des ersten Nachkriegssoziologentages zugegebenermaßen darunter litt. 22 Die von v. Wiese verfolgte Strategie, "so früh wie möglich einen Neuanfang zu wagen" (v. Wiese 1959, S. 17) und dabei "die Tradition der Zeit vor 1933 in wesentlichen Punkten aufrecht (zuerhalten)" (v. Wiese 1946a, S. 5), fand offensichtlich weitgehende Zustimmung innerhalb der Profession. Adolf Geck etwa schrieb an v. Wiese: "Möge es der Gesellschaft vergönnt sein, den Idealen unserer alten Soziologenherzen zu kräftigem Durchbruch zu verhelfen ... " (27.04.1946) Bedenken wurden einzig von Frankfurter Seite angemeldet, insbesondere von Heinz Maus und Max Horkheimer. Maus hatte zwar seine Mithilfe bei der Erledigung der Formalitäten in der Französischen Zone angeboten folglich hatte er wohl keine prinzipiellen Einwände gegen die Wiedergründung der DGS -, doch er formulierte deutlich inhaltlich abweichende Vorstellungen in Bezug auf die Gestaltung des 8. Soziologentages. Er betonte in einem Brief vom 18.08.1946, "daß wir den Kongreß nicht gleich als eine ,typisch bourgeoise' Sache dürfen kritisieren lassen", weswegen er v. Wiese fragte, 20 Eindrucksvolle Beispiele finden sich bei Pirker (1979, S. 28). Die erste Interzonenkonferenz der Gewerkschaften fand im Dezember 1946, die DGB-Gründung erst 1949 statt; überregionale Gewerkschaften waren noch im April 1946 strikt verboten (S. 37). 21 Zu Hartshorne und Becker siehe Kap. IV. 22 v. Wiese, 8. ST, S. 105.

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"ob Lukacs noch eingeladen werden kann, ob an einen Vertreter der Gewerkschaften, an einen bekannten Marxisten zu denken ist ... " v. Wiese stand solchen Anregungen allerdings sehr negativ gegenüber und wurde durch die von Maus öffentlich vorgetragene Kritik an der Soziologie in seiner ablehnenden Haltung gegenüber solchen Vorschlägen noch bestärkt. 23 Auch Horkheimer, der damals noch in den USA lehrte, teilte Maus' Skepsis gegenüber v. Wieses Bestrebungen und gab ihm auf diese Weise Rückhalt. Er ließ v. Wiese über Maus mitteilen, daß er befürchte, "ob seiner Ihnen ja bekannten Einstellung kaum als korrespondierendes Mitglied der Gesellschaft geeignet zu sein" (Maus an v. Wiese am 18.08.1946). Dennoch entschloß sich Horkheimer, Ende 1947 korrespondierendes Mitglied der DGS zu werden; offensichtlich tat er dies aber nur unter Vorbehalten, denn v. Wiese sah sich veranlaßt, ihm zu schreiben: "Ganz ausgeschlossen scheint es mir, daß unsere Gesellschaft ein Hort der Pflege von Rassenvorurteilen werden könnte." (23.12.1947) Die Bedenken Horkheimers richteten sich vor allem dagegen, daß die institutionelle Basis der westdeutschen Soziologie wiedererrichtet wurde, ohne daß zuvor eine Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit sowohl der Soziologen als auch des gesellschaftlichen Systems stattgefunden hatte: "Alles scheint aufs Vergessen angelegt." (Horkheimer an Maus 28.06.1946, zit. n. Greven/Moetter 1981, S. 18) Daß Horkheimers Bedenken nicht ganz unberechtigt waren, mag folgendes Beispiel erläutern: Schon 1947 sah sich Maus genötigt, gegenüber v. Wiese zu beteuern, daß er "keiner der marxistischen Parteien" (Maus an v. Wiese Ende Mai 1947)24 angehöre und auch eine innere Distanz zu orthodoxen und dogmatischen Tendenzen dieser Parteien habe, wenngleich er Marx' Werk für rezipierenswert halte. Nicht die ehemaligen Rassentheoretiker mußten sich also vor der DGS rechtfertigen, sondern diejenigen, die im Verdacht standen, dem Marxismus nahezustehen - dies bereits 1947! Offensichtlich zerstreuten sich aber im Lauf der Zeit Horkheimers Bedenken, denn der Kontakt und die Kooperation mit v. Wiese intensivierten sich erheblich. v. Wiese hatte im Sommer-Semester 1953 und im WinterSemester 1953/54 eine Gastprofessur in Frankfurt, und er schrieb zu dieser Zeit an Horkheimer: 2.1 24

Dazu s. u.: vgl. Greven/Moetter 1981. S. 15. Gemeint sind SPD und SED.

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"Mir liegt sehr daran, so viel wie möglich an Verbindungen mit Frankfurt zu erreichen ... " (v. Wiese an Horkheimer 12.03.1953) Offensichtlich war dies kein einseitiger Wunsch, denn Horkheimer schreibt seinerseits, daß die Zusammenarbeit mit v. Wiese zu den Dingen gehöre, "die mir den Mut zu dem geben, was ich hier tun kann" (19.12.1953). Und erfährt fort: "Erhalten Sie uns die Freundschaft, auf die ich selbst und meine Mitarbeiter so stolz sind!" (ebd.)25 Solche Bemerkungen gehen weit über das Maß an Höflichkeitsfloskeln hinaus; es kann also unterstellt werden, daß diese Aussagen sehr ernst gemeint waren. 2.3 Organisationsgeschichtliche Entwicklung der DGS bis 1960

In der 1946 festgelegten Satzung wurde die DGS als eine "Gelehrtengesellschaft" definiert, deren Zweck es sei, den "Gedankenaustausch unter ihren Mitgliedern zu fördern und an der Verbreitung und Vertiefung soziologischer Denkweisen mitzuwirken", neben der "reinen und angewandten Soziologie" wurde als Aufgabengebiet die "Sozialpolitik" (8. ST, S. 203) miteingeschlossen. Die Satzung enthält keine weiteren inhaltlichen Bestimmungen, sondern beschränkt sich auf die Organisationsstruktur26 ; die wichtigsten Punkte sind die Beschränkung der Mitgliederzahl auf 150, die sich nach dem Patentsystem (Wahl durch die Mitgliederversammlung auf Vorschlag durch ordentliche Mitglieder) ergänzt, und die Festlegung der Abhaltung von Mitgliederversammlungen zu den Soziologentagen (§ 2). 1948 konkretisierte man diesen Passus dahingehend, daß "Soziologentage nur alle zwei Jahre zu veranstalten" (v. Wiese 1948/49d, S. 249) seien und "im Zwischenjahre wie bisher nur eine nicht öffentliche Mitgliederversammlung mit nur einem wissenschaftlichen Vortrage und einem Rundtafelgespräch vorzunehmen" (ebd.) sei. 27 Zu diesen Mitarbeitern gehörte zu dieser Zeit auch Maus. Eine Ausgrenzung faschistischer Soziologen, wie sie König in Bezug auf die Kölner Zeitschrift vornahm (1967, S. 3), wurde nicht festgelegt. 27 Zwischen den Soziologentagen fanden 1949, 1951 und 1954 (in Verbindung mit dem 12. ST) auf Initiative v. Wieses und veranstaltet von der DGS AnthropologischSoziologische Konferenzen statt, auf denen Soziologen gemeinsam mit Vertretern der Nachbarwissenschaften unter Ubergreifender Thematik referierten und diskutierten (s. Tabelle im Anhang). Durch die Verbindung mit DGS-MVs hatten diese Veranstaltungen vereinsoffiziösen Charakter. 25

26

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Die Beschränkung der DGS auf eine zahlenmäßig begrenzte "esoterische Gelehrtengesellschaft" hatte sich - so v. Wiese - in den zwanziger Jahren "bewährt" (1946a, S. 2), so daß dieses Prinzip nach 1945 übernommen wurde. 28 In der Praxis sah dies so aus, daß überwiegend v. Wiese ihm bekannte in- und ausländische Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen aufforderte, Mitglied der DGS zu werden 29 , und so durch die relativ willkürliche Aufnahme von Mitgliedern 30 seiner Wahl die DGS vor allem für den nachrückenden, i. e. S. soziologischen Nachwuchs für Jahre blockierte. Zwar wurde bereits 1950 die Erhöhung der Mitgliederzahl auf 200 (unter vorläufiger Beibehaltung des Maximums von 175) beschlossen, so daß der Mitgliederstand der DGS 1955 181 betrug, doch eine Lockerung des Exklusivitätsprinzips erfolgte erst 1955/56. Die neue Satzung von 1955 sah keine zahlenmäßige Beschränkung der Mitgliederzahl mehr vor - wenn auch das Patentsystem beibehalten wurde -, und 1956 setzte man sich sogar über das vorgeschriebene Verfahren der Zuwahl hinweg und ermöglichte so durch die ausnahmsweise erfolgte schriftliche Zuwahl von 40 neuen Mitgliedern besonders jüngeren Soziologen die Teilnahme am 3. Weltkongreß der ISA in Amsterdam. Bis 1961 wurden, bezogen auf den Stand von 1955, insgesamt 98 - meist jüngere Soziologen aufgenommen, so daß die DGS 1961 nach Abzug der Abgänge 250 Mitglieder hatte und in ihrer Struktur zudem "wesentlich verjüngt" (Stammer 1961b, S. 6) war. 31 28 Zur Finanzierung der DGS sei hier erwähnt, daß die Einnahmequellen größtenteils die Mitgliedsbeiträge waren; v. Wiese lehnte "Geld bettelei" (v. Wiese an Plessner 26.1.1958) ausdrücklich ab. Zur Durchführung größerer Veranstaltungen war die DGS allerdings auf die Unterstützung der jeweiligen Stadt (8. ST: Frankfurt, 9.ST: Worms usw.) angewiesen. Später, etwa zur Durchführung des 14. Soziologentages oder der Internen Arbeitstagung 1961, bemühte man sich auch um Zuschüsse von Regierungen und Stiftungen, ferner um Spenden der Industrie (Geschäftsbericht 1959; Prot. der Vorstandssitzung der DGS v. 27.10.1960, S. 5). 29 Einige Beispiele für Aufnahmen in die DGS: 1946 Hans G. Schachtschabel (Darmstadt-Institut) 1947 Theodor Heuss (späterer Bundespräsident) Max Horkheimer Everett C. Hughes (Soziologe aus Chicago) Gottfried Eisermann 1948 R. König 1949 Karl Valent in Müller (auf Vorschlag W. E. Mühlmanns) 1950 Wilhelm Brepohl H. Schelsky 1951 Carl Jantke 1952 Wolfgang Abendroth 1954 Karl Georg Freiherr von Stackelberg (EMNID-Institut) ]0 König an Plessner 10.04.1956. .11 Zur Entwicklung der Mitgliederzahlen der DGS siehe: v. Wiese 1950/51b, S. 260; Prot. der DGS-MV v. 16.10.1950; Stammer 1961b, S. 6; Satzung, in: KZS 56, S. 531 ff.; Prot. der DGS-MV v. 04.11.1956, in: KZS 56, S. 701.

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Organe der DGS waren der Vorstand und die Mitgliederversammlung (abg.: MV). Soweit aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich - v. Wiese hat die DGS-Akten als "Torso" (Plessner an A. Bergsträsser 08.01.1958) hinterlassen, was Plessner später die Arbeit erheblich erschwerte, da wichtige Beschlüsse nicht einwandfrei rekonstruierbar waren -, fanden in der Regel nur einmal jährlich Mitgliederversammlungen statt (Ausnahme 1946: 2 MVs); 1948 und 1958 fanden offensichtlich keine Mitgliederversammlungen statt. Da die MV von 1947 eine außerordentliche MV war, kann man behaupten, daß in den ersten Jahren nach der DGS-Gründung das Organisationsleben sehr ruhig verlief. Vorstandssitzungen (VS) sind bis 1955 nicht dokumentiert, ab 1955 fanden sie zunächst ebenfalls jährlich (in der Regel vor den MVs), dann mit Zunahme der organisationsinternen Auseinandersetzungen ab 1958 und der wachsenden Größe des Verbandes halbjährlich statt. Der Vorstand der DGS blieb in der Zeit von 1946 bis 1955 im wesentlichen unverändert 32 ; 1954 gab v. Wiese als Folge seiner Emeritierung gezwungenermaßen und entgegen den eigenen Wünschen das Direktoriat des Kölner Forschungsinstituts und somit die Herausgeberschaft der Kölner Zeitschrift ab und zog aus diesem Funktionsverlust die Konsequenz, auch die DGS-Präsidentschaft niederzulegen. 33 Sein Nachfolger wurde Helmuth Plessner, der auch 1957 wiedergewählt wurde; 1959 wurde nach langen vereinsinternen Spannungen Otto Stammer als neuer Vorsitzender gewählt, der ebenfalls wie Plessner nicht als Exponent einer Richtung in der DGS, sondern eher als "Neutraler" (Prot. der VS 06.03.1961, S. 10) bezeichnet werden kann. Mit ihm gelangten erstmals eine Reihe ,jüngerer' Soziologen (Ralf Dahrendorf, Hans-Paul Bahrdt, Heinrich Popitz) in den DGS-Vorstand. Stammer wurde 1961 wiedergewählt. Mit dem personellen Wechsel 1955 gab es auch deutliche Veränderungen in der Organisationsstruktur der DGS, die sich in der neuen Satzung von 1955 niederschlugen. 34 Der neue § I enthielt den zusätzlichen Passus, daß es Zweck der DGS sei, "sich an der Klärung von Fach- und Studienfragen der Soziologie zu beteiligen." (KZS 1956, S. 531)35 12 1953 wurden im Rahmen der Vorstandserweiterung Schelsky und A. Rüstow hinzugewählt:; KZS 1953/54, S. 160. J3 Die Funktions-Koppelung von Ordinariat, Direktorposten und Zeitschriftenleitung war statutenmäßig festgelegt, so daß rein rechtlich gegen diese ,Entmachtung' v. Wieses nichts einzuwenden war (vgl. v. Wiese 1957, S. 98 f.). Dennoch hätte v. Wiese eine andere Regelung vorgezogen; denn: "Müde war ich noch nicht." (S. 99) Unklar bleibt nach ~. Wieses Darstellungen allerdings, wieso er 1950 emeritiert wurde, aber erst 1954/55 dIe oben beschriebenen Konsequenzen ziehen mußte. 34 Siehe K ZS 1956, S. 531 ff. 35 Dies war sicherlich eine Konsequenz aus der Arbeit der beiden UnterrichtsKommissionen; dazu siehe Abschnitt 3.1. 1.

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Der § 4 behielt zwar das Patentsystem bei, enthielt aber keine Klausel bezüglich einer Mitgliederbeschränkung. Die Kompetenzen der verschiedenen Organe der DGS wurde präziser als in der alten Satzung geregelt; für die Vorstandswahl wurde ein neuer Modus eingeführt (§ 11), Schelskys Vorschlag der Listenwahl setzte sich aber nicht durch. Eine wichtige Neuerung war die Einführung von Ausschüssen (§ 13), die als Organe der DGS gelten (§ 8), und des mit Sondervollmachten ausgestatteten Hochschullehrerausschusses (§ 14). Man kann also sagen, daß die DGS sich mit dieser neuen Satzung in gewisser Weise an die fachliche Spezialisierung und die gewachsene Größe der Profession anpaßte. Zur Bildung von Fachausschüssen (abg.: FA) hatte es schon vor 1955 verschiedene Anläufe gegeben. Bereits 1948 hatte v. Wiese in der Kölner Zeitschrift annonciert, daß es "wünschenswert wäre, wenn mit Beginn des neuen Jahres die längst in Aussicht genommene Tätigkeit der Untergruppen ins Leben träte" (KZS 1948/49. S. 370), doch ist aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich, ob diese Absicht realisiert wurde. Außer der Universitätskommission, die 1953 aktiv war, und dem Hochschullehrerausschuß, den Schelsky 1953 ins Leben rief3 6 , gab es offensichtlich bis 1956 keine aktive Untergruppe der DGS. Mit der neuen Satzung von 1955 wurde zum ersten Mal die Existenz von Fachausschüssen festgeschrieben, 1956 beschloß dann der Vorstand von sich aus die Bildung von vier Fachausschüssen (Gemeinde-, Industrie-, Religions- und Familiensoziologie)37. die unterschiedlich effektiv arbeiteten. Besonders der von Schelsky geleitete FA für Religionssoziologie erfreute sich großer Beliebtheit und großen Zulaufs; Schelsky schreibt: "Wir scheinen ... ein sehr lebendiges Gewässer angestochen zu haben ... " (Schelsky an Plessner 25.07.1957). 1961 war dieser FA mit 100 Mitgliedern der mit Abstand größte. 38 Dagegen existierte der von König geleitete FA für Gemeindesoziologie nicht lange. Plessner sah sich daher im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum 14. Soziologentag zu einer Kritik an der Arbeit der Fachausschüsseveranlaßt. 39 Das Verhältnis der Fachausschüsse zur DGS war von Anfang an problematisch. da an deren Arbeit auch Nicht-DGS-Mitglieder teilnehmen konnten; vor allem König sah daher die Gefahr "einer Invasion in die DGS über die Fachausschüsse" (Prot. der VS vom 04.01.1962, S. 2). Zudem sicherte der Posten eines Fachausschuß-Vorsitzenden einen gewissen Einfluß innerhalb .1~ .17

.1~ .19

Siehe Abschnitt .11 . Prot. der DOS-MV vom 04.11.1956. in: KZS 1956. S. 702. Stammer 1961b. S. 4. Erklärung des Vorsitzenden zu TOP I (VS vom 26.04.1959). S. 5.

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der DGS, so daß die DGS immer ein großes Interesse daran hatte, daß diese Posten nur von solchen Kollegen eingenommen wurden, die der DGS gegenüber prinzipiell positiv eingestellt waren. So wurde etwa Elisabeth Noelle-Neumanns Vorstoß - mit der es in der DGS etliche Konflikte gab - in den Jahren 1956/57 einen FA für Methodenfragen der empirischen Sozialforschung zu gründen, bis 1958 herausgezögert 40 ; so blieb auch Müllers Versuch erfolglos, nach dem Scheitern der Sezessionsbestrebungen durch das Institut International de Sociologie (IJS) über einen FA für Vertriebenen- und FlüchtIingsforschung in der DGS Fuß zu fassen. 41 Andererseits gelang im Falle des - zunächst außerhalb der DGS agierenden und von der nachrückenden ,jüngeren' Generation getragenen ,Club der Industriesoziologen' die Integration in die DGS in Form der Gründung des F As für Industriesoziologie. Der ungeklärte Status der F As innerhalb der DGS und die teils ineffektive Arbeit veranlaßten Stammer häufiger zu Kritik. 1961 bemängelte er den schlechten Informationsfluß zwischen FAs und Vorstand und regte an, "lieber die bestehenden Ausschüsse ... zu aktivieren" (Stammer 1961b, S. 5) statt neue einzurichten. Dennoch hatte die DGS zu dieser Zeit bereits acht FAs.42 Bereits im nächsten Jahr kritisierte Stammer die Arbeit der FAs wiederum als "nur zum Teil befriedigend" (Prot. der VS v. 18.10.1961, S. 2) und schlug vor, deren Status innerhalb der DGS zum Gegenstand eingehender Diskussionen zu machen; als eine Perspektive wurde die Möglichkeit diskutiert, die F As zu Sektionen der DGS weiterzuentwickeln. 43 Als Resümee kann hier festgehalten werden, daß angesichts der relativ geringen Häufigkeit von Mitgliederversammlungen und Vorstandssitzungen sich die Tätigkeit der DGS als Fachvertretung überwiegend auf die Abhaltung von Soziologentagen - die aber mehr Repräsentations- als Arbeitscharakter hatten -, von interdisziplinären Anthropologisch-Soziologischen Konferenzen und Vorstandswahlen beschränkte, wenn auch auf einer informellen Ebene eine Reihe weiterer Aktivitäten zu verzeichnen waren. 44 Als Organisation war die DGS in der hier diskutierten Zeitspanne nicht kontinuierlich mit einem wissenschaftlichen oder wissenschaftspolitischen Thema befaßt; sie wurde vielmehr stets kurzfristig an bestimmten ,Brenn-

40 Noelle-Neumann an v" Wiese 3.10.50; Bergsträsser an Noelle-Neumann 31.10.61; Bergsträsser an Stammer 31.10.61 und 28.11.61; König an Plessner 11. 7.58 und 25.7.58; Stammer 1961b, S. 4; Prot. der DGS-MVv. 4.11.56, in: KZS 1957, S. 708; Prot.derVSv. 26.4.59, S. 6. 41 Prot. der VS vom 18.10. 1961, S. I ff. 42 Aufstellung in: Stammer 1961b, S. 4. 43 Prot. der VS vom 18.10.1961, S. 4. 44 Insbesondere im Zusammenhang mit den Konflikten um das IIS und dem SchelskyRücktritt, dazu Abschnitt 3.2.

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punkten' aktiv, die meist durch externe Ereignisse entstanden waren. Diese ,besonderen Vorkommnisse', die teils in den folgenden Abschnitten ausführlicher dargestellt werden, lassen sich durch folgende Stichworte überblicksartig zusammenfassen: 1946 1950 1950/51 1953 ff. 1958/59 1959 1961

Wiedergründung der DGS Auseinandersetzung mit der Politischen Wissenschaft Konflikt mit dem IIS und dessen Deutscher Sektion Probleme der Professionalisierung Zweiter Konflikt mit dem IIS Konflikt mit Schelsky Interne Arbeitstagung / ,Positivismusstreit'

2.4 Exkurs: Zur internationalen Vertretung der DGS In dem folgenden Exkurs soll gezeigt werden, auf welche Weise sich die DGS im internationalen Rahmen organisationspolitisch betätigte, da dies besonders im Hinblick auf die Auseinandersetzungen mit dem IIS von Bedeutung ist. 45 Im November 1945 hatte die UNO als eine ihrer Unterorganisationen die UNESCO gegründet, deren Aufgabe unter anderem die Förderung des internationalen Kontaktes der Wissenschaft ist. 46 Diese Organisation. die sich in verschiedener Weise an der Förderung des Wiederaufbaus der westdeutschen Soziologie beteiligte. war mit ihrem von Arvid Broderson geleiteten Social Science Department (Sitz Paris) die treibende Kraft bei der Gründung der International Sociological Association (ISA). Von deutscher Seite war der - damals noch in Zürich lebende - König schon in der Planungsphase an der ISA-Arbeit beteiligt. 47 Die ISA wurde nach einer vorbereitenden Besprechung48 formell auf einer Zusammenkunft von Soziologen aus 21 Nationen vom 5. bis 10. September 1949 in Oslo gegründet. Unter der Präsidentschaft Louis Wirths. später Georges Friedmanns. veranstaltete diese Organisation in den 50er Jahren vier Weltkongresse der Soziologie (\ 950: Zürich. 1953: Lüttich, 1956: Amsterdam, 1959: Mailand / Zum IIS s. Abschnitt 3.2. Zur UNESCO siehe auch Kap. IV. 5.1. 47 König hatte schon während des Krieges Kontakt mit J. Huxley. dem späteren ersten Generaldirektor der UNESCO; zudem hatte er sich eigenen Angaben zufolge bereits seit längerer Zeit mit der Idee einer internationalen Soziologenorganisation beschäftigt (1980. S. 159). König war nach dem Krieg Experte bei der UNESCO; von 1962 - 1966 war er Präsident der ISA (S. 162). 4K Diese fand am 14.10.1948 in Paris statt. Teilnehmer waren: Louis Wirth. Georges Davy. den Hollander. Gurvitch. König. Paul F. Lazarsfeld. Le Bras und Erik Rinde (v. Wiese 1950/5Ic. S. 260). 45

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Stresa)49, an denen sich zunehmend mehr nationale Soziologenorganisationen beteiligten, u. a. auch aus den osteuropäischen Ländern und aus Entwicklungsländern. Die ISA verstand sich als eine Neugründung, d. h. nicht als Fortsetzung des vor dem 2. Weltkrieg bestehenden Institut International de Sociologie (JIS). Der Aufbau dieser Weltorganisation bereitete einige Schwierigkeiten, was Kritiker immer wieder deren Legitimität bezweifeln ließ - so daß König den eher provisorischen Charakter des von ihm maßgeblich organisierten I. Weltkongresses in Zürich auch freimütig bekannte 50 ; doch 1956 meinte er, nach dem 3. Weltkongreß feststellen zu können, daß "die ISA wirklich institutionellen Charakter angenommen" habe und angesichts der spürbaren weltweiten Resonanz "eindeutig die einzig repräsentative internationale Organisation der Soziologen dar(stellt)" (I956b, S. 682). In der ISA, über deren Struktur, Arbeitsweise und thematische Schwerpunkte hier weiter nichts ausgeführt werden SOll51, war die DGS von Anfang an durch ihren Präsidenten v. Wiese vertreten, was angesichts der damaligen politischen Konstellationen als recht ungewöhnlich bezeichnet werden kann. v. Wiese wertete diese Tatsache selbst so: "Es war ein besonderer Vertrauensbeweis für uns, daß wir, obwohl ein formaler Friedensvertrag noch nicht geschlossen ist, als vollberechtigte Mitglieder in Oslo hinzugezogen wurden." (v. Wiese an Wende 24.4.1950) Diesen Vertrauensbeweis hat die DGS vor allem König und Geiger zu verdanken; König hatte nach eigenen Angaben v. Wieses "Einladung als deutscher Vertreter ... veranlaßt" (1980, S. 162), und Theodor Geiger hatte - als dänischer Delegierter in Oslo und aktiver Mitarbeiter der ISA52 zugunsten v. Wieses interveniert, als die französischen Soziologen gegen die Teilnahme v. Wieses an der Gründungsversammlung in Oslo protestierten. 53 Auch König verteidigte die deutschen Interessen gegen diese Widerstände, die wahrscheinlich ihre Ursache im Engagement v. Wiees bei Archivplünderungen in Paris im Jahr 1941 hatten 54, und setzte sich besonders für die Integration der DGS in die ISA ein, obwohl dabei sogar formale Bestimmungen umgangen werden mußten, weil Deutschland kein UNO-Mitglied war 55 und insofern nicht Mitglied einer ihrer Unterorganisationen werden konnte. Vgl. Tabelle 6 im Anhang. König 1953/54, S. 154. 51 Siehe dazu König 1953/54, S. 154. 52 Geiger war sogar ursprünglich als Leiter der sozialwissenschaftlichen Abteilung der UNESCO vorgesehen. 53 Geiger an v. Wiese 15.06.1949. 54 Dazu v. Wiese 1957, S. 77 f., S. 95. 55 König an v. Wiese 17.01.1949. 49

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v. Wiese war bei der ganzen Angelegenheit selbst nicht wohl; es hat den Anschein, als sei er eher von König mit sanftem Druck nach Oslo geschickt worden, als daß er von sich aus gegangen wäre. 56 Dies jedenfalls legt ein Schreiben v. Wies es an König vom 22.06.1949 nah, in dem er ausdrückt, daß seine Neigung, nach Oslo zu fahren, "gleich Null" sei und er auch nicht bloß geduldet, sondern willkommen sein möchte. Auch schien er nicht mit vollem Herzen hinter der Sache gestanden zu haben, denn er fährt fort: "Rein sachlich gesehen, besteht keine Notwendigkeit für unsere deutsche Gesellschaft, den Anschluß zu suchen." Fast resignativ fügte er hinzu, er wünsche, daß der Kelch ISA an ihm vorübergehe. Auch nach dem Gründungskongreß schienen v. Wieses Zweifel nicht völlig verflogen zu sein; König schrieb ihm am 18.10.1949, also wenige Tage nach Oslo: "Ich muß auch gestehen, daß ich Ihre Bemerkung nicht ganz verstehe, sie hätten sich in einer gewissen ,Isolierung' gefühlt ... " Er wies v. Wiese auf den Beifall hin, mit dem er als einziger Delegierter empfangen worden sei, und fügte hinzu: "Im übrigen konnte ich auch privat bei der ganzen Tagung feststellen, daß Ihre Anwesenheit auf das allgemeine Wohlwollen schlechterdings aller Delegierter stieß." (König an v. Wiese 18.10.1949) v. Wieses Kritik, daß Deutsch als Verhandlungssprache nicht zugelassen war - die dieser sogar öffentlich vortrug!57 -, begegnete König mit der Versicherung, er werde in Zürich persönlich dafür sorgen, daß auch deutsch gesprochen werde: "Nur wollten wir das unauffälliger machen, darum wurde der neutrale Boden der Schweiz für diesen Zweck gewählt." (ebd.) Dieses Zitat verdeutlicht, wie geschickt König taktieren mußte, um den deutschen Delegierten angesichts der komplizierten politischen Lage, aber auch dessen politischer Vergangenheit in die ISA zu integrieren. Am I. Weltkongreß der ISA, 1950 in Zürich, auf dem die ISA mit der endgültigen Fassung von Satzung und Arbeitsprogramm ihre feste Form erhielt, beteiligten sich auf deutscher Seite neben v. Wiese auch Schelsky, 5~ Schelsky interpretiert die Situation ebenfalls so, daß der DGS "gar keine andere Wahl gelassen" (1981 b. S. 63) war, als der ISA beizutreten. Was König damit alles in die Wege geleitet hat. wird erst im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das IIS (dazu s. u.!) deutlich. 57 V. Wiese 1950j51c. S. 261.

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Wilhelm Brepohl und K. V. Müller58 , während es einen großen Teil der bundesdeutschen Soziologen eher zum Kongreß der Konkurrenzorganisation IIS in Rom zog. v. Wiese selbst beschrieb die Stimmungslage so, daß "der Wunsch, nach Rom zu gehen, sehr stark" (v. Wiese an Rinde 06.06.1950) war; er selbst fühlte sich aber zu seinem Bedauern an die ISA gebunden und versagte sich daher die Teilnahme am IIS-Kongreß.59 Seine Skepsis gegenüber der Züricher Veranstaltung drückt wohl nichts deutlicher als als die Formulierung in einem Brief an H. G. Schachtschabei, in dem er vom "sogenannten ,Weltkongreß'" (v. Wiese an Schachtschabel 08.09.1950) spricht - Weltkongreß in Anführungszeichen! Auch aus seinem in der Kölner Zeitschrift publizierten Bericht ist deutlich herauszulesen, wie wenig ihn der Züricher Kongreß begeisterte. Er bemängelte darin vor allem die wenig fruchtbaren Diskussionen und den Massencharakter des Kongresses, - "Alles wurde von Papiermassen überdeckt" - womit "die Idee solcher Konferenzen ... ad absurdum" geführt werde. Er erkannte die Funktion solcher Kongresse als internationale Begegnungsmöglichkeiten an, schränkte jedoch ein: " ... der unmittelbare Gewinn für sie (die Wissenschaft, J. W.) kann dagegen nur gering bewertet werden". Als "zweiter heikler Mißstand" wurde seitens v. Wies es die "enge Verbindung mit der praktisch-politischen Problematik" kritisiert 60 , was in der Konsequenz die Wissenschaft erwürge. Zudem stellte v. Wiese das Organ isationsprinzip der ISA in Frage: "Ich sehe aber keine Notwendigkeit für das Prinzip der Nationalitäten bei internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften". (alle Zitate: v. Wiese 1950j51c, S. 262) Es ist ganz offensichtlich, daß v. Wiese das alte - und auch von der IIS praktizierte - Prinzip der Gelehrtengesellschaft gegenüber der Repräsentation von Nationen bevorzugte. Diese öffentliche und kaum taktisch verklausulierte Kritik v. Wies es an seinem Förderer König muß diesen zweifellos schwer getroffen haben; es ist kaum zu bezweifeln, daß solche Kollegenschelte nicht gerade zu einem guten persönlichen Klima zwischen den beiden Soziologen beigetragen hat. 61 Auch in der Folgezeit ist immer wieder festzustellen, daß die DGS unter v. Wieses Führung sich in der ISA - in der sie hauptsächlich aufgrund der Initiative SW 1950/51. S. 91; Horkheimer 1952, S. 50. Dazu ausführlich Abschnitt 3.2. 60 Diese war ausdrücklich im ISA-Programm festgeschrieben - König 1953/54, S. 154. 61 Das Verhältnis v. Wiese - König blieb auch in der Folgezeit gespannt (Plessner an Bergsträsser 29.4.1957). 58

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Königs vertreten war - nicht recht heimisch fühlte. v. Wiese konnte den offenen Bruch aber nicht wagen, da er König für die frühzeitige internationale Anerkennung zu Dank verpflichtet war; doch mehr oder minder unverhohlen sympathisierte er mit der Konkurrenzorganisation IIS. 1960, als v. Wiese keine Ämter und Funktionen in DGS oder ISA mehr bekleidete und sich offensichtlich nicht mehr zur Rücksichtnahme verpflichtet fühlte, besuchte er sogar den 20. Kongreß der IIS; er tat dies, obwohl er von 1953 bis 1956 Vizepräsident der ISA gewesen war. 62 Das Interesse der bundesdeutschen Soziologen an der Teilnahme an ISAKongressen war spürbar gering. In Bezug auf die niedrige Zahl der Anmeldungen zum Kongreß in Lüttich 1953 schrieb Walther G. Hoffmann: "Ich könnte mir vorstellen, daß der Grund u. a. in den Vorgängen des Züricher Kongresses zu suchen ist ... Ich war in Zürich selbst nicht dabei; aber offensichtlich war doch im ganzen die Stellung der Deutschen recht unfreundlich." (Hoffmann an v. Wiese 13.06.1953) Daher fragte er v. Wiese, ob "Sie ... irgendwelche Schritte unternommen haben, um einen besonders freundlichen Empfang sicherzustellen bzw. um zu verhindern, daß etwas ähnliches geschieht wie in Zürich" (ebd.).63 Auch in späteren Jahren und unter anderen DGS-Vorsitzenden hat sich das Verhältnis DGS / ISA nie völlig entkrampft. Beim 3. Weltkongreß 1956 war nach Angaben der Kölner Zeitschrift die Teilnahme "nicht recht zahlreich" (KZS 1956, S. 531)64, wenn auch König an anderer Stelle - zur Unterstreichung der Bedeutung der ISA gegenüber dem IIS - auf die zahlreiche aktive Teilnahme bundesdeutscher Soziologen verwies. 65 Wie schon im Bericht vom 3. Weltkongreß kritisierte König auch in seinem Bericht vom 4. Weltkongreß 1959 offen die Haltung der DGS, die sich darin zeigte, daß außer ihm und Theodor W. Adorno "kein Ordinariatsinhaber aktiv tätig und anwesend" war, wohl aber eine Reihe jüngerer Leute, die seiner Einschätzung nach wohl "leichter Anschluß an das internationale Leben der Soziologie gefunden" (1959c, S. 734) hätten als die ältere Generation; und er richtete daher an die Adresse der DGS die Mahnung: v. Wiese 1957. S. 95. Was genau Hoffmanns Anstoß erregte. ist nicht rekonstruierbar: es ist aber -analog zu den Konflikten um v. Wieses Person - unschwer vorstellbar. daß alleine das Auftreten von Schelsky und K. V. Müller in diesem Rahmen als Provokation aufgefaßt werden mußte. M Vgl. König 1956b. S. 683. hl König an Geeb 08.05.1958. h2

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"Vielleicht wäre in Zukunft eine größere Initiative der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in dieser Hinsicht ratsam und wünschenswert." (S. 735) Obwohl in der MV vom 04.03.1960 Konsens über eine künftig anzustrebende regere Beteiligung von DGS-Mitgliedern an ISA-Kongressen erzielt wurde 66 , war der Konflikt noch nicht aus der Welt geräumt. Daß doch mehr dahinterstand, beweist das Protokoll der Vorstandssitzung vom 27.10.1960, in dem von der "ungenügenden Vertretung der DGS in der ISA" (S. 4) gesprochen wurde. Der Adressat dieser ,Rüge' war wohl König, denn er vertrat die DGS anstelle v. Wieses in der ISA.67 Es bereitete also offensichlich erhebliche Schwierigkeiten, das Verhältnis DGSjISA zu bereinigen; 1962 hieß es dann allerdings, die Zusammenarbeit der beiden Organisationen sei intensiviert worden. 68 2.5 Die Kölner Zeitschrift für Soziologie

Das offiziöse Publikationsorgan der DGS und - neben den Soziologentagen - eines ihrer wichtigsten Selbstdarstellungs- und Diskussionsforen war die Kölner Zeitschrift für Soziologie, die daher im folgenden kurz vorgestellt werden soll. Die Entwicklung der Kölner Zeitschrift ist auf das Engste mit dem Kölner Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften 69 und mit der Person v. Wies es verbunden. Das Institut wurde 1919 angesichts der "drohenden sozialen Revolution" (v. Wiese 1957, S. 52) von der Stadt Köln gegründet, denn - so v. Wiese "die Erfahrungen der inneren Unruhe des Jahres 1918 hatten gelehrt, daß das gesellschaftliche Leben einer objektiven Beobachtung und einer theoretischen Überschau bedarf' (1953 j 54a, S. 347). Ab 1921 erschienen die Kölner Vierteljahres hefte für Sozialwissenschaften, später Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, die im Zusammenhang mit der Auflösung des Instituts und seiner Umwandlung in ein ,Institut für Deutschen Sozialismus' im Jahre 193470 ihr Erscheinen einstellen mußten. Protokoll der DGS-MV in: KZS 1960, S. 582. Dies ist dokumentiert ab 1954, auch 1961 hatte er noch diese Funktion inne. Auf dem Höhepunkt der verbandsinternen Auseinandersetzungen 1959 war allerdings Dahrendorf der offizielle DGS-Vertreter auf dem 4. Weltkongreß; s. dazu: Schelsky-Rundbrief 23.11.1954; Stammer 1961 b, S. 7; Prot. der VS v. 26.04.1959, S. 7. 68 Prot. der DGS-MV v. 20.10.1961, in: KZS 1962, S. 216. 69 Dazu siehe Alemann 1976. 70 v. Wiese 1948/49a, S. 3. 66

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Diese Vierteljahreshefte waren stark durch v. Wiese geprägt; eine spezielle Rubrik - das ,Archiv für Beziehungslehre' - war als Publikationsforum für solche Arbeiten gedacht, in denen "der Absicht nach der spezielle soziologische Ansatz von Leopold von Wiese ausgearbeitet werden sollte" (Alemann 1976, S. 358). Da v. Wiese sich nach dem Zweiten Weltkrieg an läßlich des Wiedererscheinens der Kölner Zeitschrift ausdrücklich auf den zum Abschied geschriebenen Artikel im letzten, 1934 erschienenen Heft beruft, sei auf diesen hier kurz eingegangen: v. Wiese betont in diesem Artikel, daß er die Aufgabe der Zeitschrift als noch nicht beendet ansieht und spricht von einer "geistige(n) Atmosphäre, in der es der Wissenschaft unmöglich gemacht wird, der Praxis gerade die Hilfe zu gewähren, deren sie so dringend bedarf." (1933/34, S. 229) Als für die Durchsetzung seiner, in der Beziehungslehre niedergelegten Erkenntnisse besonders hinderlich sieht er die Ideologien des Sozialismus und Liberalismus an 71 , die seiner An3icht nach "überreif zur Austilgung" (S. (S. 228) wären. Geradezu programmatisch für von Wies es Ansichten ist folgender Absatz: "Jetzt wäre gerade auch in Deutschland die Zeit für eine kraftvoll wirkende realistische Gesellschaftslehre gekommen! Biologie, Erb- und Rassenlehre, sowie politische Ethik können es nicht allein machen; ein sehr großer, der größte Teil der von der praktischen Entwicklung aufgeworfenen Fragen gehört der Soziologie an. Aber gerade in einer Stunde, die die Fruchtbarkeit und den mannigfachen weiter wirkenden Nutzen einer lebensnahen Lehre vom Zusammenleben und -wirken der Menschen beweisen könnte, häufen sich die Mißverständnisse und Verkennungen in einem verhängnisvollen, ja - ich stehe nicht an zu sagen - tragischen Maße. Das Unglück, das im Unterlassen und im Nicht-Tat-Werden liegt, läßt sich nicht messen und denen, die die Zusammenhänge nicht schauen können, nicht augenfällig dartun. Aber wer ein halbvollendetes Werk in einem solchen Augenblicke aufgeben soll, in dem die Fortführung den Bedürfnissen des Zeitalters am dringendsten entspricht, der muß ein übermaß stoischer Entsagungsfähigkeit und Weltverachtung besitzen, wenn er darilber nicht schmerzhaft beunruhigt ist." (S. 228) Man könnte diese Anbiederung an den Faschismus übergehen und vergessen, wenn v. Wiese sie nicht ausgerechnet in der Einleitung zum ersten Heft 71 Hierin ähnelt seine Argumentation dem Argumentationsmuster faschistischer Soziologie. die sich stets gegen Liberalismus und Sozialismus wandte. (Siehe Bergmann 1981, S. 29 f.: vgl. auch Freyer 1931).

2. Kurzdarstellung der DGS bis 1960

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der ab 1948 wieder erscheinenden Kölner Zeitschrift für Soziologie wörtlich wiederholt 72 und mit dem ausdrücklichen Zusatz versehen hätte: "Wir nehmen den Faden des Wirkens dort, wo wir ihn fallen lassen mußten, ungebrochen wieder auf." (l948/49a, S. 1). Das Forschungsinstitut und die Zeitschrift wurden ebenso wie die DGS nach altem Muster wieder aufgebaut; der inhaltliche Aufbau der Zeitschrift blieb ebenso wie der Kreis der Autoren im wesentlichen unverändert. 73 Schon nach drei Jahren sah sich v. Wiese allerdings zu Klagen über die mangelnde Resonanz der neuen Kölner Zeitschrift veranlaßt 74 ; er glaubte, die Entwicklung durch eine Modifikation im Aufbau der Zeitschrift aufhalten zu können. In der Zeitschrift wurde eine Sparte ,Soziologisches Laboratorium' eingerichtet, mit der die empirische Soziologie stärkl,;r berücksichtigt werden sollte; v. Wiese dachte hierbei besonders an eine "Soziologie der Atombombe" (l953/54a, S. 349). Als dann wenige Jahre später von Frankfurter Seite aus Planungen für ein eigenständiges Zeitschriften-Projekt in Gang gesetzt wurden, versuchte v. Wiese, dieses durch weitgehendes Entgegenkommen in die Kölner Zeitschrift zu integrieren und somit die Etablierung eines möglichen Konkurrenorgans zu verhindern. 7s 1954 mußte v. Wiese, obwohl nach eigenen Aussagen keineswegs amtsmüde, im Zusammenhang mit seiner Emeritierung und der damit verbundenen Aufgabe des Postens als Institutsdirektor auch die Leitung der Kölner Zeitschrift an seinen Nachfolger König abgeben.7 6 v. Wieses ursprünglicher Plan, seinem amerikanischen Schüler Becker die Kölner Professur zu übertragen 77 , war demnach offensichtlich gescheitert. König würdigte zwar die Verdienste seines Vorgängers, doch veränderte er schon bald die Konzeption der Zeitschrift, was ihm die Kritik v. Wieses eintrug. 78 König forderte eine Trennung von den Ideen der Vergangenheit und eine Neuorientierung insbesondere auf die empirische Sozialfor1948/49a, S. I f. Neu in die Redaktion kamen H. Hoffmann und K. G. Specht. In finanzieller Hinsicht ist erwähnenswert, daß die Kölner Zeitschrift jährliche ZuschUsse von der DFG erhielt. Siehe Berichte der DFG. 74 1950/51d, S. 405. 75 v. Wiese an Horkheimer 06.07.1953. Ob daraus die ab 1955 erschienenen ,Frankfurter Beiträge' geworden sind, ist nicht nachprüfbar; zumindest ist keine eigenständige Frankfurter Zeitschrift entstanden. 76 v. Wiese 1957, S. 98 f. 77 v. Wiese an König 21.10.1949. 7M v. Wiese 1957, S. 61. 72

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schung. 79 Im neuen Konzept der Zeitschrift sollten "alle Richtungen vertreten" (1967, S. 3) sein und nur die ausgeschlossen werden, die für die Einstellung der Zeitschrift verantwortlich waren. Eine inhaltliche Festlegung des Programms der Zeitschrift lehnte König ab und versuchte stattdessen, ein "möglichst vollständiges Bild von der Entwicklung der Soziologie in ihren verschiedenen Lebensbereichen zu geben" (ebd.). Dieser "Pluralismus der systematischen Ansätze für die Soziologie" (König 1955, S. 3) schlug sich zum einen im geänderten Aufbau der Zeitschrift und der Abänderung des Titels in ,Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie' nieder; zum anderen orientierte König damit stärker auf die sogenannten Bindestrich-Soziologen. Dies wurde durch die 1956 begonnene Herausgabe von Sonderheften (1956: Soziologie der Gemeinde) zu einzelnen thematischen Schwerpunktsetzungen zusätzlich verdeutlicht. Man kann also für die Entwicklung der Kölner Zeitschrift Mitte der 50er Jahre eine deutliche Zäsur feststellen; auch die Analyse der inhaltlichen Schwerpunkte - die hier in einem knappen Überblick vorgenommen wird - bestätigt dieses Ergebnis: Die von v. Wiese editierten ersten sechs Jahrgänge der Kölner Zeitschrift waren in thematischer Hinsicht weitgehend uneinheitlich; Steiner spricht sogar in diesem Zusammenhang von "Konzeptionslosigkeit" (1967, S. 205). Versucht man jedoch eine summarische Zusammenfassung, so kann man eine gewisse Dominanz der politischen Soziologie, zumeist allerdings stark spekulativen bzw. geschichtsphiIosophisehen Charakters, behaupten. Im Bereich der Methoden ist ein Vorherrschen der v. Wiese'schen Beziehungslehre feststell bar. Nach dem Wechsel in der Redaktion erlebten Industriesoziologie und Politische Soziologie eine kurze, aber intensive Blüte, wurden ab 1957 aber fast völlig in den Hintergrund gedrängt. Neben einem wachsenden Interesse an der Soziologie der Entwicklungsländer und Ethnosoziologie waren die dominierenden Themen gegen Ende der 50er Jahre: I. Schichtung, Mobilität, Sozialstruktur; 2. Theorie der Soziologie, darunter eine relativ breite Rezeption soziologischer Klassiker wie auch der amerikanischen Soziologie (u. a. Parsons); 3. der Stand der Soziologie, ihre Selbstverortung. Besondere Schwerpunkte wurden zudem durch die Sonderhefte (Gemeinde, Jugendkriminalität, Medizin, Schule) gesetzt, deren Themen allerdings in der Zeitschrift selbst nicht Gegenstand intensiver Diskussion waren; eine Ausnahme bildete hier nur das - 1961 erschienene - Sonderheft ,Soziale Schichtung und Mobilität'. 79

Zu Königs theoretischem Konzept siehe Abschnitte 6.1.4 und 6.3.

3. Organisationspolitische Aktivitäten in den 50er Jahren

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2.6 Fazit Mit der Darstellung der Kölner Zeitschrift ist der überblick über die Organisationsgeschichte und die institutionelle Struktur der DGS abgeschlossen; im folgenden Abschnitt werden einzelne ,Brennpunkte' organisationspolitischer Aktivität noch einmal aufgegriffen und vertieft diskutiert. Hier läßt sich nunmehr das Zwischenresümee ziehen, daß die DGS als Organisation zumindest bis 1955 einen stark esoterischen Charakter hatte und dabei an ihre Traditionen vor 1945 anknüpfte. Dieses weitgehend bruchlose Anknüpfen geschah trotz ungeklärter Umstände der Auflösung der DGS nach 1933 und trotz teilweise zwielichtiger Haltung ehemaliger DGSMitglieder gegenüber den faschistischen Machthabern. So ist nicht nur in institutioneller, sondern auch in personeller Hinsicht eine weitgehende Kontinuität zu erkennen. BO Als zweites wichtiges Ergebnis kann festgehalten werden, daß es in der institutionellen Entwicklung der DGS in der Mitte der 50er Jahre eine deutliche Zäsur in der Weise gab, daß die Kräfte, die 1946 den organisationspolitischen Kurs festgelegt und die Institution DGS im wesentlichen getragen hatten, abgelöst wurden und sich damit neue organisationspolitische Konzepte - etwa in Bezug auf die organisationsinterne Arbeitsstruktur oder die Gestaltung der Kölner Zeitschrift - durchsetzten. Es wird in späteren Kapiteln zu diskutieren sein, ob dieser Zäsur auch ein Einschnitt in der kognitiven Entwicklung entspricht.

3. Organisationspolitische Aktivitäten in den 50er Jahren 3.1 Probleme der Professionalisierung

Die DGS entwickelte in den 'iOer Jahren an mehreren Brennpunkten organisationspolitische Aktivitäten, deren wesentlichste im nun folgenden Kapitel beleuchtet werden sollen.! In der Mitte der 50er Jahre gab es für die DGS ein vorrangiges organisationspolitisches Thema: die Frage der Professionalisierung der Soziologie. Bereits Ende der 40er Jahre hatte man sich vereinzelt Gedanken über die 80 Einzig Leute wie Freyer, Ipsen u. Pfeffer fehlen in der Mitgliederliste der DGS von 1950 (KZS 1949/50, S. 503 ff.); Freyer war später DGS-Mitglied. 1 Eine gewisse Ausführlichkeit der Darstellung erscheint da geboten. wo die Darstellung sich auf bisher unbekannte Archivrnaterialien stützt.

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Etablierung eigenständiger sozialwissl'nschaftlicher Fakultäten und die Integration der Sozialwissenschaften in den Schulunterricht gemacht,2 1950 kam kurzfristig das Problem auf, daß die Soziologie sich gegenüber den Bestrebungen, die Politische Wissenschaft zu etablieren und zu fördern, benachteiligt fühlte und daher in einer sehr scharfen Resolution gegel die Politische Wissenschaft Stellung bezog, Dies war gleichzeitig Schelskys erster größerer Auftritt bei der DGS. Die 1950 auf dem 10. Soziologentag verabschiedete Resolution spricht zwar von einer Gemeinsamkeit der Zi, le und Interessen beider Wissenschaften und verlangt eine gleichwertige Förderung. Doch sind die Versuche der Subordination unübersehbar, etwa wenn die Frage angeschnitten wird, ,.ob eine Wissenschaft von der Politik nur eine spezielle oder angewandte Soziologie sei" (KZS 1950/51, S. 263 f.). oder wenn behauptet wird, die Politische Wissenschaft baue auf der Grundlage der soziologischen Erkenntnisse auf. Die Politische Wissenschaft wird also auf jeden Fall als ein Teil der Soziologie betrachtet, und es heißt in der Resolution, daß sie ,.ohne den Untergrund einer breiten sozialwissenschaftlichen Tatsachenforschung und einer umfassenden allgemeinen Gesellschaftslehre" (S.264) problematisch und gefährlich sei. Es ist kaum von da Hand zu weisen, daß die Soziologie mit solchen Forderungen die Politische Wissenschaft unter Kontrolle bekommen undwenn schon nicht gänzlich als Konkurrenz aussch:dten - so doch wenigstens an deren institutionellem Ausbau partizipieren wollte, indem sie ihr eine eigenständige wissenschaftliche Legitimität absprach. Dieses Argumentationsra··ter war für die Zeit bis 1950 typisch, verschwand dann aber vÖllig:1 3.1.1 Die Kölner Konferenzen Umfassende Beratungen über die Professionalisierung der Soziologie kamen allerdings erst in Gang, als seitens der UNESCO der Zustand der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik bemängelt wurde. Auf einer UNESCO-Fachtagung, die vom 16.-19.09.1952 in Paris stattfand und sich mit dem Thema ,Unterricht in den Sozialwissenschaften' ~ v. Wiese 1948/49c: KZS 1948/49. S. 100 f.: Solms 1949/50. , Vgl. dazu Abschnitt 6.2.

3. Organisationspolitische Aktivitäten in den 50er Jahren

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befaßte, wurde von dem belgisehen Gutachter de Bie ein Bericht vorgelegt, der die Lage der Soziologie in der Bundesrepublik an mehreren Punkten deutlich kritisierte. In seinem Bericht bezeichnete de Bie die Bilanz des deutschen Unterrichts in Sozialwissenschaften als äußerst armselig und wies ferner darauf hin, daß es nur individuelle Forschungsarbeiten gebe. 4 Obwohl v. Wiese dieser Kritik energisch widersprach, zog die DGS auf ihrem Soziologentag in Weinheim 1952 die Konsequenz. einen Ausschuß für das Unterrichtswesen in den Sozialwissenschaften einzurichten. um .. die in Paris gegebenen Anregungen aufzugreifen und fortzuführen" (v. Wiese 1952/53b. S. 394); dieser Ausschuß wurde in zwei Kommissionen aufgegliedert. die Kommission A (sog. Universitätskomission) und die für Fragen der Gestaltung des Unterrichts an Schulen zuständige Kommission B. die hier nur insofern interessiert. als sie eine Einbeziehung der Sozialwissenschaften in den Schulunterricht (nicht aber die Schaffung eines eigenen Faches Soziologie) und die Ergänzung der Lehrerausbildung durch sozialwissenschaftliehe Studien forderte. 5 Noch vor Konstituierung dieser Kommission hatte - von Horkheimer auf Maus' Anregung hin initiiert 6 - eine informelle Aussprache über das Studium der Soziologie an Hessischen Hochschulen stattgefunden. an der die hessischen Lehrstuhlvertreter der Soziologie und v. Wiese teilgenommen hatten. Es ging dort im wesentlichen um die Besprechung der neuen Frankfurter Diplom-Prüfungsordnung für Soziologie, die die erste ihrer Art in der Bundesrepublik darstellte; auch in den folgenden Sitzungen der UniversitätsKommission spielte diese Prüfungsordnung eine wichtige Rolle. 7 Die Kommission A tagte, soweit dies aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist, lediglich zweimal, und zwar am 07.03.1953 im Rahmen der vom 06.-08.03.1953 von der DGS abgehaltenen Konferenz über die Gestaltung des Unterrichts in den Sozialwissenschaften in Köln und danach am 24.10.1953 ebenfalls in Köln. Bereits im Vorfeld dieser von der DGS veranstalteten Konferenz hatte es unterschiedliche Positionsbekundungen gegeben. v. Wieses Position war es stets gewesen, die Errichtung einer .. selbständigen sozialwissenschaftlichen Fakultät" (l948/49c, S. 109) wenigstens an einer Universität Westdeutschlands - möglichst in Köln - zu fordern und somit für die Heraustrennung Siehe dazu: v. Wiese 1952/53a; v. Wiese 1952/53b; 11. ST, S. 3. ; Protokoll der Sitzung der Unterrichts-Kommission, im Folgenden zitiert als Prot. o Maus an v.Wiese 25.12.1952. 7 Die inhaltlichen Details dieser Prüfungsordnung sind in diesem Zusammenhang unwesentlich. 4

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der Soziologie aus den Wirtschaftswissenschaften und eine separate, systematische Ausbildung für "Sozialbeamte" (S. 110) zu plädieren. Solms hingegen, der mit den auf der erwähnten Frankfurter Konferenz vorgelegten Vorschlägen nicht einverstanden war, wandte sich gegen die Einrichtung eines separaten Studienganges für Soziologie. Solms hatte zwar 1949 angesichts der Tatsache, daß der wissenschaftliche Nachwuchs "so gut wie ganz" fehlte, "die Notwendigkeit der Errichtung und des Ausbaus soziologischer Lehrstühle" (S. I) festgestellt, doch hielt er nichts von den Frankfurter Plänen: "Stattdessen ist ein Hineinwirken in die Fächer der Jurisprudenz und Nationalökonomie anzustreben." (Solms-Papier, A I) Soziologie solle als Hauptfach innerhalb der Abschlußprüfung DiplomVolkswirt geprüft werden - insofern ihre StiefkindsteIlung überwinden nicht aber zum eigenständigen Prüfungsfach werden. Daneben verwies Solms auf "die Gefahr einer allzu starken Einengung der Berufsausbildung in Richtung auf rein pragmatisch orientierte human relation, industrial relation und public opinion unter gleichzeitiger Vernachlässigung der theoretischen Soziologie" (ebd.). Seine Bedenken richteten sich also gegen ein ganz bestimmtes, nämlich das an amerikanischen Vorbildern orientierte Professionalisierungs-Konzept. Auch Maus bezog im Vorfeld der Konferenz Stellung; er schlug vor, das Thema der Konferenz ganz auf technische Fragen der Studienordnung zu fixieren und andere - in der von v. Wiese vorgelegten Tagesordnung aufgeführte - grundsätzlichere Punkte gar nicht erst diskutieren zu lassen. Maus - der an der Erarbeitung der Frankfurter Prüfungsordnung mit beteiligt war K - formulierte die von ihm anvisierte Schwerpunktsetzung der Konferenz so: .. Die Tagung sollte sich m. E. darauf konzentrieren, wie an den deutschen Universitäten und an deren Hochschulen ein Studium der Soziologie verbindlich einzurichten wäre, das mit einem Diplom abschlösse, welches seinem Inhaber bestimmte berufliche Laufbahnen erleichterte." (Maus an v. Wiese 25.12.1952) Maus plädierte für die Einbeziehung der "verschiedenen ResearchTechniken" , jedoch gegen einen theorielosen .. Fachidiotismus der Spezialisten". Es komme vielmehr darauf an, Soziologen zu erziehen, die in der Lage sind, die .. Zusammenhänge zu sehen". (ebd.) K

Prol.. S. I.

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Auch Plessner hatte sich in die Diskussion eingeschaltet; seine Überlegungen gingen in zwei Richtungen. Auf der einen Seite bemerkte er, daß man die Einordnung der Sozialwissenschaften im Fakultätssystem nicht erörtern könne, "ohne sich über die praktischen Berufsmöglichkeiten für Soziologen klar zu werden" (Plessner an v. Wiese 23.12.1952). Auf der anderen Seite warnte er vor einem überstürzten und unüberlegten Ausbau des Faches; denn ihm erschien es "im Interesse der Zukunft und des Ansehens der Soziologie richtiger, einen Lehrstuhl lieber eine gewisse Zeit unbesetzt zu lassen, als ihn mit einer noch nicht entsprechend ausgewiesenen Persönlichkeit zu besetzen ... " (Plessner an v. Wiese 04.06.1954). Auf der Kölner Konferenz selbst, zu der neben Fachvertretern aus Hochschulen und Sozialforschungsinstituten auch Vertreter von Ministerien, von Schulen etc. eingeladen worden waren, ergab sich in der Diskussion manche "Dissonanz", die mit "Kompromißformeln" beseitigt werden mußte (v. Wiese 1952/53b, S. 394). Das herausragende Thema dieser Konferenz war die Einrichtung von Diplom-Studiengängen, auf die man sich nach eingehenden Beratungen prinzipiell einigen konnte. Diskutiert wurden zwei Varianten: Soziologie als Hauptfachstudium und - verstanden als "Fachausbildung für angehende .. Sozialbeamte" (S. 394) - Soziologie als Nebenfachstudium. Die ausgearbeiteten Vorschläge sollten den "öffentlichen Instanzen" (S. 395) vorgelegt werden in der Hoffnung, daß "die Dringlichkeit unserer Anliegen gewürdigt und in die Tat umgesetzt wird" (S. 394). In beiden Fällen wurde ein acht-semestriges Regelstudium mit Zwischenprüfung (interessanterweise unter Einbeziehung der kurze Zeit zuvor noch so bekämpften Wissenschaft von der Politik) vorgesehen. Mittelbar wollte man mit der Etablierung der Sozialwissenschaften als "allgemeinbildende Fächer für Studierende aller Fakultäten" (S. 395) auch die "Vertrautheit der Lehrer mit soziologischer Denkweise" (S. 396) erreichen. Im Sinne eine Verbesserung des universitären Unterricht selbst gab es Vorschläge, neben Vorlesungen und Seminaren verstärkt andere Formen wie Rollenspiele, Gruppenarbeit und Tutorien einzurichten. Auf der ein gutes halbes Jahr später folgenden zweiten Konferenz in Köln am 24.10.1953 wurde in der Universitäts-Kommission der nach den ersten Besprechungen überarbeitete Frankfurter Entwurf einer Diplom-Prüfungsordnung nochmals diskutiert. Ziel war, ihn als offiziellen Entwurf der

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DGS festzuschreiben. Die Diskussion verlief durchaus kontrovers; während der nicht anwesende König signalisiert hatte, .. er identifizier( e) sich vollständig damit" (Prot., S. I), brachte Schelsky entschiedene Bedenken vor. Er wandte sich insbesondere gegen den in Nürnbergund Wilhelmshaven bereits eingeführten Abschluß ,Diplom-Sozialwirt' und meinte, dieser sei .. kein Diplom-Soziologe in unserem Sinn" (Prot., S. 2).~ Dementgegen forderte er: .. Wir wollen den an der Universität theoretisch geschulten Soziologen. Dort (in Nürnbergund Wilhelmshaven, J. W.) handelt es sich um einen für die praktischen Bedürfnisse der Arbeitsgerichtsbarkeit, Gewerkschaften und Verbände geschaffenen Typ." (Prot., S. 2) Schelskys Position war somit der der Frankfurter, die insbesondere die Notwendigkeit eines Bezugs auf die Praxis betonte, diametral entgegengesetzt. Und noch an einem weiteren Punkt differierte seine Einschätzung von der der Frankfurter erheblich, als er nämlich die "Richtigkeit der Feststellung eines ,Bedürfnisses nach akademisch gebildeten Soziologen'" (Prot., S. 2) anzweifelte. Er forderte daher, erst "einmal empirisch (zu) untersuchen, wer überhaupt Soziologen braucht" (ebd.). Auch Wilhelm E. Mühlmann äußerte ähnliche Zweifel: .. Ist der Diplom-Soziologe wünschenswert? Mir scheint seine Schaffung angesichts unserer wenig gefestigten Wissenschaft bedenklich und gefährlich." (ebd.). Und mit deutlichem Blick nach Nürnberg und Wilhelmshaven fügte er hinzu: .. Solange die Normalspursoziologen so dünn gesät sind. schaffen wir lieber keine Schmalspursoziologen." (ebd.) Der Antwort der Initiatoren der Diplom-Prüfungsordnungen auf diese Fragen und Einwände umfaßte zwei Aspekte. Zum einen wurde auf das Bundesbeamtengesetz hingewiesen. das den Soziologen neben andersweitigen Praxisfeldern (Betrieb, Kultur etc.) den Weg in den Staatsdienst öffne l ". zum anderen sah vor allem Adorno in der Frage des realen Bedarfs an Soziologen kein allzu großes Problem. An v. Wiese gewendet schrieb er: ..... um die Berufschancen der Diplom-Soziologen würde ich mir wenig Sorgen machen." (Adorno an v. Wiese 11.03.1954) Er vertraue -

so Adorno weiter - darauf. daß

.. Deutschland der amerikanischen Entwicklung verhältnismäßig rasch nachfolgen wird" (ebd.). '. Die Prüfungsordnung mit dem Abschluß ,Sozialwirt' war in Wilhelmshaven am 30.12.1952 in Kraft getreten: vgl. aber Lepsius 1979. S. 46. I" Wie sich später herausstellten sollte. war dies eine völlige Fehleinschätzung: dazu s. u.

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Sicher auch aufgrund seiner Erfahrungen in Amerika erwartete Adorno, daß sich das Problem von alleine lösen werde: "In Amerika erwies sich die Notwendigkeit für die Praxis tatsächlich nach Einführung durch die Hochschulen." (Prot. S. 2) Er ging also davon aus - wie Lepsius es später formulierte - "daß das Angebot sich seinen Bedarf schon schaffen werde" (Lepsius 1979, S. 46).11 Trotz der von verschiedener Seite vorgebrachten Zweifel einigte sich die Kölner Konferenz schließlich mit nur einer Gegenstimme und vier Enthaltungen auf den überarbeiteten und lediglich in Details veränderten Entwurf der Prüfungsordnung. Vorgeschlagen wurde ferner durch v. Wiese, die Kommissionen als "ständige Einrichtungen" fortzuführen, die "selbst nach außen auftreten und Stellung nehmen sollen" (Prot., S. 6). Da der DGS der dazu nötige Apparat fehle - und, wie er später in einem Briefformuliert, "zu den Aufgaben unserer Gesellschaft die Unterrichtsfragen nicht gehören" (v. Wiese an Myrdal 02.11.1954) -, wurde dem Frankfurter Institut die organisatorische Arbeit und die Vertretung dieser Kommission übertragen. 12 Sah es zunächst so aus, als sei mit diesen beiden Konferenzen ein Konsens hinsichtlich der Vorgehensweise und des Bestrebens nach Vereinheitlichung der Prüfungsordnungen und Studiengänge erzielt worden, so gab es Anfang 1954 erhebliche Konflikte wegen des Kölner Beschlusses. Schelsky regte an, den DGS-Beschluß schriftlich allen Fakultäten zugänglich zu machen, um ihn damit deutlich als eine Willensbekundung der gesamten Organisation und nicht einzelner Ordinarien hinzustellen. 13 Die DGS begann daraufhin mit den Vorbereitungen eines entsprechenden Rundbriefes. Adorno ahnte in diesem Stadium bereits kommende Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen und teilte deshalb am 03.02.1954 v. Wiese seine Bedenken mit: "Die Sache wegen der Prüfungsordnung ist wirklich sehr schwierig. Natürlich möchte ich der Verbreitung unseres Entwurfs nicht im Wege sein wohl aber möchte ich verhindern, daß durch ein zu kategorisches 11 Allerdings wiesen die Erfahrungen mit der bundesdeutschen Praxis bereits 1953 eher in die entgegengesetzte Richtung. E. Linpinsel berichtete schon kurz nach der Kölner Konferenz über die ablehnende Haltung des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums gegenüber den DGS-Plänen bezüglich einer verstärkten Einbeziehung der Soziologie in den Schulunterricht; sie stellte fest, daß .. das KUMI in Nordrheinwestfalen gar kein Verständnis für Sozialwissenschaften hätte, für Soziologie schon überhaupt nicht." (Linpinsel an v. Wiese 22.11.1953) 11 Dies hat sicher neben inhaltlichen Bedenken - den Ärger Schelskys mitverursacht. I) Schelsky an v. Wiese 21.01.1954.

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Vorgehen seine Annahme gefahrdet wird. Die Gefahr sehe ich darin, daß die Fakultäten sich von der Gesellschaft von ein fait accompli gestellt sehen, möglicherweise sogar von den Ministerien, und daß dadurch die bekannten Fakultätsempfindlichkeiten geweckt würden ... " Adorno schlug deshalb vor, der zu versendenden Muster-PTÜfungsordnung ein vorsichtig formuliertes Rundschreiben beizulegen; sein Textvorschlag wurde von v. Wiese dann auch weitgehend übernommen. Trotz aller taktischen Erwägungen kam es Adorno darauf an, daß "hinter der ganzen Sache die Autorität der Deutschen Gesellschaft für Soziologie steht, damit die Fakultäten nicht auf so weitgehende Abweichungen sich einlassen, daß die Einheitlichkeit des Plans gefahrdet wird". v. Wiese verschickte daraufhin am 17.02.1954 den von der DGS gutgeheißenen Entwurf einer Prüfungsordnung an alle westdeutschen Fakultäten und empfahl ihn in einem beigefügten Rundschreiben als Vorlage für künftig zu erstellende Prüfungsordnungen. Er hatte dieses Anliegen zwar bewußt vorsichtig formuliert, doch betonte er, daß trotz gewisser, aufgrund örtlicher Besonderheiten notwendiger Modifikationen "möglichst Einheitlichkeit anzustreben ist" (Rundschreiben v. 17.02.1954), auch wenn er die alleinige Kompetenz der Fakultäten in dieser Frage ausdrücklich anerkannte. 14 Die DGS erhielt auf diese Rundschreiben sehr promt eine äußerst negative Antwort: Der Dekan der Frankfurter (1) Wirtschafts- und Sozial wissenschaftlichen Fakultät, Karl Hax, lehnte in einem Schreiben an v. Wiese vom 18.02.1954 den vorgelegten Entwurf kategorisch ab, da er aus seiner Sicht tiefgreifende Mängel habe. Er meldete "erhebliche Bedenken" an, besonders wegen der unzureichenden Berücksichtigung der Wirtschaftswissenschaften und wegen der "noch sehr nebelhafte(n) Vorstellungen" in Bezug auf die Berufsperspektiven. Eine "nutzbringende Tätigkeit" der Soziologen in der wirtschaftlichen Praxis setze - so Hax "voraus, daß die Soziologen rechtzeitig mit den Realitäten ihres späteren Arbeitsgebietes vertraut gemacht werden; und das kann nur die Wirtschaftswissenschaft tun ...,,15 I. Auch in Bezug auf die Schulausbildung wurde die DGS nach dieser Konferenz aktiv; auf Anregung Linpinsels (Linpinsel an v. Wiese 21.11.1953) verschickte v. Wiese ein Rundschreiben der DGS (13.02.1954) an die Kultus-Ministerien "in Sachen der weiteren Ausgestaltung des Unterrichts in den Sozialwissenschaften an höheren Schulen und Fachschulen". das Konsequenzen aus den Kölner Konferenzen im Sinne einer verstärkten Professionalisierung der Soziologie zog und ihre Einbeziehung in Lehrerausbildung und Schulunterricht forderte. I; Wieso es zu diesen Komplikationen kam. ist nicht erklärbar. Es scheint so. als hätten die Frankfurter Soziologen ihren Vorstoß mit der eigenen Fakultät nicht abgestimmt. Die Prüfungsordnung wurde allerdings 1955 in Frankfurt dann doch angenommen; Adorno an Schelsky 18.11.55; Lepsius 1979. S. 46.

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v. Wiese replizierte auf diese Kritik nach Rücksprache mit Adorno, der ihn mit umfassender Argumentationshilfe versorgte. 16 Dieser Vorgang verdeutlicht, wie sehr v. Wiese auf die Unterstützung der Frankfurter angewiesen war, ja wie sehr die Institutionalisierung des Diplom-Studiengangs Soziologie fast ausschließlich von dort ausging. Auch seitens des Standesorganisation der Volkswirte, des Vereins für Socialpolitik (VfS), wurden prinzipielle Bedenken angemeldee 7; im Mai 1953 lud Gerhard Albrecht, der VfS-Vorsitzende, Horkheimer, v. Wiese, Hans Achinger, Alexander Rüstow und die Rektoren der Hochschulen Nürnberg und Wilhelmshaven zu einer Besprechung über eine Prüfungsordnung für Sozia1wirte für den 06.06.1953 nach Frankfurt ein. Die Ergebnisse dieser Besprechung stellte Albrecht in einer wenige Tage später (18.06.1963) verschickten Stellungnahme dar: Die Anwesenden hätten zwar den Wilhelmshavener Versuch begrüßt; seitens der Volkswirte seien aber prinzipielle Bedenken formuliert worden. Vor allem verlange der VfS, daß die Gestaltung der Prüfungsordnungen für Sozialwirte in gemeinsamer Abstimmung mit dem VfS und der DGS zu erfolgen habe und die Entwicklung neuer sozialwissenschaftlicher Studiengänge "im Rahmen des volkswirtschaftlichen Studiums" (S. 3) stattfinden müsse. Diese Forderung einer Einordnung der Soziologie in die Volkswirtschaftslehre wurde mit der Androhung konkreter Pressionen verbunden (Nicht-Aufnahme in die Westdeutsche Rektorenkonferenz, Nicht-Anerkennung des Diploms), die auf die Abänderung der Wilhelmshavener Prüfungsordnung im Sinne des VfS abzielten (S. 3). Die Kritik der Volkswirte ging also teils so weit, die Berechtigung einer eigenständigen Disziplin Soziologie grundlegend infragezustellen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die DGS nicht mit so energischem Widerstand der Volkswirte gerechnet hatte, in deren ,Terrain' die Soziologie ja vornehmlich eindrang.

Im Laufe des Jahres 1954 wurde es in der DGS immer offentlichtlicher, daß ihr a) die notwendige innere Geschlossenheit und b) die Kraft zur Durchsetzung ihrer Absichten in der Öffentlichkeit fehlten. Ingesamt hatten die Bemühungen um die Professionalisierung der Soziologie lediglich zur Folge gehabt, daß die Soziologen sich untereinander immer stärker zerstritten und einzelne Fakultäten im Alleingang voneinander differierende Prüfungsordnungen erließen. 1H Zwar reduzierte v. Wiese in gewisser Weise den Anspruch der DGS, in Professionalisierungsfragen richtungs weisende Leitlinien aufstellen zu können: Adorno an v. Wiese 11.03.1954. Der VfS hatte schon 1948 Pläne zur Errichtung einer eigenständigen sozialwissenschaftlichen Fakultät energisch abgelehnt. (KZS 1948/49. S. 101). lK Vgl. Lepsius 1979. S. 46. 16

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie "Da zu den Aufgaben unserer Gesellschaft die Unterrichtsfragen nicht gehören, mußten wir uns auf bloße Anregung beschränken und im übrigen die weiteren Verhandlungen den Verbänden, z. B. der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute, überlassen." (v. Wiese an A. Myrdal 02.l1.l954)1~

Doch er bemühte sich auf der anderen Seite um einen neuen Anlauf zur Integration der unterschiedlichen Bestrebungen: "Um nun nichts im Keime ersticken zu lassen, bemühe ich mich gegenwärtig, in Zusammenhang mit unserer Gesellschaft für Soziologie eine Vereinigung der Dozenten der Soziologie ins Leben zu rufen, die sich u. a. den Unterrichtsfragen widmen soll. Sie ist als eine Fachvertretung der Hochschullehrer der Soziologie gedacht. Ich hoffe, daß es gelingen wird, in den nächsten Monaten die Erbschaft an Problemen und Material, die diese Fragen anbetreffen, an diese Fachvertretung übertragen zu können." (ebd.)"" Interessant an diesem Punkt ist die Tatsache, daß einige Jahre zuvor, nämlich 1948, v. Wiese sich dezidiert gegen die Einrichtung einer besonderen Vereinigung der Hochschullehrer innerhalb der DGS ausgesprochen hatte, weil er eine Differenzierung in Lehrstuhlinhaber und andere für unerwünscht hielt. 21 Wie es dazu kam, daß er 1954 anderer Meinung war, ist nicht rekonstruierbar: offensichtlich gingen in dieser Richtung starke Bestrebungen von Schelskv aus, der - wenn auch mit v. Wieses Einverständnis - die Initiative ergriff22': Mit der offensichtlichen Absicht, den DGS-Beschluß von Köln zu revidieren 2.1 , regte Schelsky von sich aus in einem Rundschreiben an alle westdeutschen Soziologie-Ordinarien vom 23.11.1954 die Gründung eines Fachverbandes der Hochschullehrer der Soziologie an.

3.1.2 Der Hochschullehrer-Ausschuß Schelsky verband diese Einladung mit einer grundsätzlichen Kritik an der DGS, die - so seine Einschätzung - auf ein Stadium des Umbruches I" Was die ASI damit zu tun hat. bleibt unklar. ~" Wieso v. Wiese die DGS für inkompetent erklärte und die Absicht artikulierte. selbst eine Konkurrenzorganisation zu bilden. bleibt ebenfalls unklar. ~I v. Wiese an Stoltenberg 01.03.1948. ~~ Schelsky-Rundbrief 23.11.1954 . .!.1 Adorno ,In Schelsky 18.11.1955.

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zusteuere, weil v. Wiese sich mit "dezidierten Rücktrittsabsichten" (Rundbrief v. 23.11.1954) beschäftige und dadurch - so Schelsky "gewisse organisatorische Fragen in und außerhalb der Gesellschaft in Fluß gebracht" worden seien. Schelsky hatte auf v. Wiese Rücktritts-Ankündigung hin - nach eigenen Angaben - folgende Vorschläge zur künftigen Organisationsweise gemacht: l. Ein neuer Modus der Vorstandswahl sollte einen "stärkeren Wechsel 0 im Vorsitz" mit sich bringen; 2. eine Wahl nach Listen, nicht wie bisher nach Personen, sollte gewährleisten, daß

"bei der Vorstandswahl eine gewisse Repräsentanz aller gegenwärtig in der deutschen Soziologie arbeitenden Kräfte erreicht wird, was mir bisher nicht der Fall zu sein schien". Bezüglich dieses Punktes kritisierte er besonders das Fehlen einiger wichtiger Repräsentanten der westdeutschen Soziologie (Gerhard Mackenroth, Ludwig Neundörfer, König) und wesentlicher Institute (Sozialforschungsstelle Dortmund, Institut für Sozialforschung, Frankfurt) im alten DGSVorstand. Schelsky zog daraus prinzipielle Konsequenzen: "Die mißliche Folge der Tatsache, daß alle diese Kräfte in der Leitung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie nicht zur Auswirkung kamen, schien mir notwendig in dem Verlust ihrer Rolle als zentraler gesellschaftlicher Organisation unserer Disziplin bestehen zu müssen." Persönlich verband Schelsky damit folgenden Schritt: "Um die Diskussion dieser Fragen und die Neuwahl des Gesamtvorstandes auf der Mitgliederversammlung zu ermöglichen, erkläre ich Herrn v. Wiese meinen Rücktritt als Vorstandsmitglied der Gesellschaft.,,24 Schelsky kritisierte in seinem Rundschreiben weiterhin auch die inhaltliche Arbeit der DGS, der er ankreidete, "sich bisher vor allem zu einer Diskussions- und Tagungsgesellschaft für das Gesamtgebiet der Sozialwissenschaften entwickelt" zu haben, die überwiegend den Diskurs mit den Nachbarwissenschaften suche und deren Tagungen zu einer "interdisziplinären Diskussion allgemeiner soziologischer Fragen geworden" seien. Dementgegen hätte - so Schelsky ~4 Völlig erklärlich ist dieser Schritt nicht; er läßt sich aber so interpretieren. daß Schelsky auf diese Weise seinen Forderungen den nötigen Nachdruck verleihen wollte.

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"die besonderen Fach- und Forschungsprobleme und -ergebnisse und die erforderliche. Aussprache unter den engeren Fachgenossen bisher kein angemessenes Forum gefunden". Er meinte, daß seitens der im engeren Sinne soziologischen Lehrstuhlinhaber ein großes Interesse besteht, "zu einer organisatorischen Vertretung unseres Faches zu gelangen", wie es von der DSG bisher nicht geleistet worden sei. Eine solche Organisation stände vor der - von der DGS nicht bewältigten - "Doppelaufgabe" , sich um die "besondere Förderung der Lehrstühle oder des Nachwuchses" und die "Diskussion spezifisch soziologischer Studiengänge" zu kümmern. Schelsky stellte daher an seine Adressaten die Frage, ob es anzustreben sei, eine solche Interessenvertretung der DGS zu überlassen, "oder ob es nicht zweckvoIl ist, sie (die DGS, J. W.) ihrer gegenwärtigen Aufgabe zu erhalten und daneben die anderen Aufgaben einem besonderen Fachverband zu übertragen ... ", und schlug vor, diese Frage auf der geplanten Zusammenkunft zu diskutieren. Abschließend berief Schelsky sich darauf, daß v. Wiese ihm nach einer ausführlichen Unterredung "voIles Verständnis und Billigung" seines Vorhabens zugesichert habe. 25 Die erste Sitzung des von Schelsky einberufenen Gremiums fand am 02.03.1955 in Frankfurt statt 26 ; Schelsky trat im Herbst desselben Jahres auf der DGS-MV in Göttingen als dessen Sprecher auf. 27 Eine der ersten Aktivitäten dieses Gremiums war es, sich mit einem eigenen Vorschlag in die Debatte um die neue DGS-Satzung einzuschalten. Die DGS hatte die Einsetzung eines Satzungsausschusses beschlossen, der unter Heinz Sauermanns Leitung am 01.03.1955 in Frankfurt tagte und einen Satzungsentwurf ausarbeitete. Schelsky war auf der MV, die diesen Beschluß geHillt und die Kommission eingesetzt hatte, nicht anwesend gewesen 2X und hatte sich offenbar auch deshalb für den hier beschriebenen Weg, seine Ansichten in den Entscheidungsprozeß einzubringen, entschlossen. Schelsky erreichte mit dieser ,Machtprobe' , daß ein Kompromißvorschlag für die neue Satzung angenommen wurde, der als wichtigste Neuerung "die 1j Merkwürdig ist allerdings die Tatsache. daß v. Wiese zu den geplanten Treffen nicht eingeladen wurde. 10 Über Teilnehmer und Diskussionsverlauf ist mangels Dokumenten keine Aussage möglich. 17 KZS 1955. S. 649. l' Schelsky-Rundbrief 23.11.1954.

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Begründung eines ständigen ,Ausschusses für Hochschullehrer- und Studienfragen' im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie" vorsah, womit der von Schelsky etablierte Gegen-Zirkel in die DGS "eingeschmolzen" (KZS 1955, S. 649) wurde. Die Interpretation dieses Vorganges ist kaum von der Hand zu weisen, daß Schelsky sich a) mit diesem Vorgehen eine ,Hausmacht' in der DGS sichern wollte, indem er mit einer Abspaltung drohte, und b) günstige Voraussetzungen bzw. Startbedingungen für die auf dieser MV stattfindenden Vorstandswahlen schaffen wollte. Auch in anderer Hinsicht hatte Schelsky im Vorfeld der Vorstandswahl versucht, sich mit spektakulären Aktionen als ein Kandidat zu präsentieren, dem besonders an der Förderung des soziologischen Nachwuchses gelegen war: Er veranstaltete am 06./07.06.1955 in Hamburg ein in seiner Art einmaliges Norddeutsches Soziologen-Nachwuchstreffen, eine Arbeitstagung, auf der - laut Einladung - ,jüngere wissenschaftliche Kräfte mit ihren unveröffentlichten Forschungen und Untersuchungen zu Wort kommen sollen" (Programm, in: A I). In drei Gruppen mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten referierten dort unter der Leitung von Schelsky, Carl lantke und Plessner die Nachwuchs-Soziologen Karl-Martin Bolte, Heinz Kluth, Heinrich Popitz, Hans-Paul Bahrdt, Christian v. Ferber u. a. Es ist unzweifelhaft, daß diese Initiative nicht nur werbewirksam für die jungen Soziologen, sondern ebenfalls für Schelsky war und ihm gewiß Sympathien sicherte. Bei den Vorstandswahlen wurde Schelsky dann zwar zum Schriftführer gewählt, erreichte aber damit das von ihm offensichtlich anvisierte Ziel nicht vollständig. Es ist zwar nicht mit Sicherheit nachweisbar, daß Schelsky tatsächlich DGS-Vorsitzender werden wollte, doch wenn Plessner später schreibt, Schelsky hätte sich vor allem deswegen nicht durchsetzen können, weil er "unter den Älteren keine Anhänger" (Plessner an Bergsträsser 29.04.1957) hatte, so spricht doch vieles für diese Vermutung. Nach diesen Angaben Plessners hatte offenbar auch König Ambitionen auf die v. Wiese-Nachfolge gehabt, doch wurde mit "Rücksicht auf Herrn v. Wiese" ein für alle Seiten tragbarer Kandidat gewählt, weil v. Wieses "gespanntes Verh~i1tnis zu seinem Nachfolger" (ebd.) bekannt war. Nach Königs eigener, 1982 publizierter Darstellung dieser Vorgänge war zunächst er selbst als DGS-Präsident vorgeschlagen worden, hatte aber zugunsten Plessners, der an sich weniger ambitioniert gewesen sei, abgelehnt und sich lediglich zum Vizepräsidenten wählen lassen. 2~ 2.

Siehe König 1982. S. 544.

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Immerhin hatte Schelsky für den Hochschullehrer-Ausschuß (abg.: HSLAusschuß) eine bis dahin unbekannte Sonderstellung innerhalb der DGS erreicht. In § 14 der neuen Satzung heißt es: "Dieser Ausschuß kann als Berufs- und Fachvertretung der deutschen Hochschullehrer für Soziologie gegenüber der Öffentlichkeit selbständig auftreten." (KZS 1956, S. 533) Über die Interpretation dieses Passus, der Schelsky ungewöhnliche Kompetenzen sicherte, gab es vermutlich Auseinandersetzungen, denn später wurde er auf einer Vorstandssitzung dahingehend präzisiert, daß die Formulierung - die man unverändert beließ - sich "auf die Handlungsfreiheit des Ausschusses gegenüber der Mitgliederversammlung bezieht, keineswegs aber seine Unabhängigkeit gegenüber dem Vorstand bedeutet." (Prot. der VS v. 10.12.1955) Im Interesse der Einhelligkeit fügte man hinzu, daß eine laufende Unterrichtung des Vorsitzenden über Aktivitäten des Ausschusses angebracht sei ..1O Schelsky selbst hatte, nachdem er die Widerstände seitens Frankfurt und Berlin gegen dieses Gremium feststellen mußte, eine KompromißFormulierung angeboten, die allerdings seine Kompetenzen weit weniger beschnitten hätte: "Der Ausschuß kann zwar selbständig handeln; es scheint mir aber in diesem Falle sinnvoll, daß die Beschlüsse des Ausschusses bei dieser günstigen Gelegenheit doch erst dem Vorstand zur Kenntnis gebracht werden." (Schelsky an Plessner 30.11.l955) Über die Professionalisierungs-Strategie des HSL-Ausschusses gab es sehr bald verbandsinterne Streitigkeiten. weil dieser bereits in seiner ersten Sitzung sich programmatisch von den Beschlüssen der alten UniversitätsKommission lossagte. Die Auseinandersetzungen sind allerdings nur vor dem Hintergrund zu verstehen. daß um 1955 herum in wesentlichen Zentren der Soziologie. nämlich Frankfurt. Berlin und Köln. eigenständige DiplomPrüfungsordnungen verabschiedet wurden. die die Hoffnung auf eine einvernehmliche und einheitliche Lösung zunehmend schwinden ließen. Der HSL-Ausschuß faßte auf seiner ersten Sitzung im Oktober 1955 einen Beschluß. der zwar die durch das .Vorpreschen' einzelner Universitäten entstandene Desorientierung kritisiert. die Prüfungsordnungen an sich jedoch "als erfreuliche Initiative begrüßt". da sie "zum großen Teil ihre Berechtigung in dem speziellen Charakter der sie tragenden Hochschulen" (KZS 1956. S. 703) hätten. ,,, Dies ist eine sehr restriktive Interpretation; im mehr Spielraum.

*14 selbst hat der HSL-Ausschuß

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Mit dem Blick auf eine möglicherweise später doch noch zu findende "einheitliche Lösung" "schlägt der Ausschuß eine Regelung der sozialwissenschaftlichen Abschlußprüfung innerhalb der Diplom-Volkswirts-Prüfung anstatt der Einführung eines selbständigen neuen sozialwissenschaftlichen Diploms ... vor." (ebd.) Schelsky hatte es also damit erreicht, den Beschluß der alten UniversitätsKommission in seinem Kernpunkt zu revidieren, indem nunmehr die Integration der Soziologie in die Volkswirtschaftslehre als Priorität angesehen würde. Diese "Lösung einer sozialwissenschaftlichen Modifizierung der Diplom-Volkswirt-Prüfung" (S. 704) wurde mit dem Hinweis auf ihre größere Praktikabilität und leichtere Durchsetzbarkeit insbesondere von Bergsträsser, Plessner und König unterstützt. Unabhängig davon sollte die Möglichkeit zur Promotion auch in der Philosophischen Fakultät erhalten bleiben und erweitert werden. Jl Man kann diesen Beschluß mit Recht als einen programmatischen Wechsel in der Professionalisierungs-Strategie der DGS bezeichnen, da v. Wieses Konzept stets darin bestanden hatte, die Selbständigkeit der Soziologie zu behaupten und auszubauen, ja sie sogar als Grundwissenschaft aller anderen Wissenschaften zu etablieren. 32 Davon wurde nun Abschied genommen. Man sieht daran, daß sich Schelsky mit dem HSL-Ausschuß eine zentrale Rolle in der Professionalisierungs-Debatte der 50er Jahre gesichert hatte. Allerdings war das Votum des HSL-Ausschusses keineswegs einheitlich. Schon kurz nach dem Göttinger Beschluß des HSL-Ausschusses kam es zu sehr kontroversen Auseinandersetzungen vor allem mit Adorno, in denen u. a. auch alte Streitigkeiten über die Arbeit der Universitäts-Kommission von 1953 wieder aufbrachen. Am 18.11.1955 schrieb Adorno an Schelsky bezüglich des Göttinger Beschlusses; er verwies auf "gewisse Mißverständnisse" insbesondere in Bezug auf die Frankfurter Diplom-Prüfungsordnung. Er erinnerte Schelsky an die Beschlüsse von 1953, denen zufolge die Frankfurter Prüfungsordnung nicht als "eine Art Sonderlösung" aufgefaßt werden könne, sondern vielmehr "eben aufs genaueste mit dem von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kundgegebenen Willen entspricht". Adorno wies Schelsky ferner daraufhin, daß im gemeinsamen Interesse einer Stärkung der Soziologie und einer Durchsetzung deren Interessen an den Universitäten eine "verbindliche .11 Dies war ein .Schlag' gegen die Frankfurter. bei denen die Diplom-Prüfung in der Philosophischen Fakultät abgenommen wurde. Dazu s. u .. .12 Siehe dazu Abschnitt 6.2.

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Lösung" der anzustrebende Weg und nicht eine "unmaßgebliche Ausnahme" sei. Und es wäre - so Adorno "denkbar ungeschickt ... wenn nun die Deutsche Gesellschaft, oder ihr akademischer Ausschuß, sich von ihrem eigenen Beschluß distanzierte". Den Passus des Göttinger Beschlusses, der nach Adornos Interpretation lediglich bedeutete, daß "die Frankfurter Lösung unter Hinweis auf eine mögliche Revision toleriert wird", kritisierte Adorno ebenso wie die - der Frankfurter Praxis widersprechende - Klausel, daß das Diplom nicht als Voraussetzung zur Promotion anzusehen sei. Daher richtete Adorno die Bitte an Schelsky, "die einschlägigen Stellen des Protokolls abzuändern". Für den Fall, daß Schelsky nicht dazu bereit sei, kündigte Adorno ein "Sondergutachten zu der Frage" an, in dem er auch "die Vorgeschichte des ,Diplomsoziologen'" behandeln und auf die initiative Rolle der Frankfurter in dieser Frage hinweisen würde. Auch mit König gab es eine ähnliche Auseinandersetzung; König drückte in einem Brief an Adorno vom 06.12.1955 seine "Verwunderung" darüber aus, daß die Frankfurter "jetzt auf einmal so stark gegen unseren Vorschlag sind". Im Hinblick auf die von Adorno erwähnte Sitzung der UniversitätsKomission von 1953 bezeichnete er es als nicht richtig, "im jetzigen Moment auf diese durchaus ungenügende Tagung zurückzugreifen", da nach seiner Auffassung "die Zusammensetzung des damaligen Gremiums alles andere andere als repräsentativ war". Ganz im Sinne eines Interesses an weiterer Zusammenarbeit betonte er ausdrücklich, daß durch den Beschluß des HSLAusschusses "andere Ordnungen in keiner Weise beeinträchtigt werden sollen", wies allerdings - ähnlich wie der Beschluß dies tat - auf die berufspraktischen Vorteile des auch in Köln eingeführten DiplomVolkswirts soziologischer Richtung hin, die darin beständen, daß er in die existierenden Ordnungen hineinpasse und insofern keine zusätzliche Verwirrung stifte, durch die "das soziologische Diplom diskreditiert" werden könnte. König schloß mit folgender Bemerkung: " ... vor allem aber würde ich es aus taktischen Gründen für dringend erforderlich halten, wenn wir nach außen hin jeden Anschein einer Meinungsverschiedenheit vermeiden." Kurze Zeit später allerdings stellte es sich bereits heraus, daß diese Auseinandersetzung völlig an den Realitäten vorbeigegangen war. Zum einen machte das Bundesinnenministerium aus seiner Ablehnung gegenüber der durch die DGS repräsentierten Soziologie kein Hehl. 33 Da dieses Ministerium nicht nur für die Bewilligung von Bundeszuschüssen für " Siehe dazu Abschnitt 3.2.

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Kongresse und Auslandsreisen zuständig war, sondern auch die Ausbildungsverordnungen für Bundesbeamte erstellte, kam ihm für die Professionalisierung der Soziologie in gewisser Weise eine Schlüsselrolle zu. Der von der DGS unternommene Versuch, die Laufbahnvorschriften des Bundesbeamtengesetzes zugunsten einer stärkeren Integration der Sozialwissenschaften zu ändern, schlug vollkommen fehl, da das Innenministerium am Juristenmonopol festhielt, sich weigerte, mit Fachvertretern der verschiedenen Wissenshaften darüber zu diskutieren, und lediglich gewillt war, "für den im Gesetz überhaupt nicht vorgesehenen ,höheren wirtschaftlichen Verwaltungsdienst' eine Sonderlaufbahn vorzubereiten - diese aber auch nur für Wirtschaftswissenschaftler unter Ausschluß der anderen Sozialwissenschaften, wie Soziologie und Politologie" (v. d. Gablentz an Plessner, 07.05.1957). Zum anderen bemühte sich die Standesvertretung der Volkswirte, die Bestrebungen der Soziologie um jeden Preis zu verhindern. Der HSL-Ausschuß hatte Gespräche mit Volkswirtschaftlern, v. a. aber mit ihrer Standesvertretung, dem Verein für Socialpolitik (VfS) angestrebt, um in der Frage der Studien ordnung "zu einer einheitlichen Empfehlung zu kommen".34 Man hätte nach den Erfahrungen des Jahres 1953 zwar gewarnt gewesen sein müssen, als der VfS die neue Wilhelmshavener Studienordnung unter Androhung von Sanktionen schlichtweg abgelehnt hatte, begingjedoch auch diesmal denselben Weg. Schelsky nahm am 18.08.1957 an einer Sitzung des Ausschusses volks- und betriebswirtschaftlicher Hochschullehrer teil, in der sich fast alle Teilnehmer "gegen eine Veränderung der bestehenden Diplomprüfungsordnung für Volkswirte in der von den Soziologen gewünschten Weise aus(sprachen)"35. Daraufhin gab Schelsky dem ursprünglichen Plan des HSL-Ausschusses keine Chance mehr und empfahl seinen Kollegen, "den anderen Weg einer selbständigen Diplomprüfung" (ebd.) zu gehen. Diese Empfehlung wurde auf der nächsten Sitzung des HSL-Ausschusses am 01.11.1957 angenommen. Man beschloß, eigenständige sozialwissenschaftliche Diplomprüfungsordnungen einzurichten, dabei aber möglichst eine gewisse Einheitlichkeit zu wahren. Schelsky wurde trotz dieses Scheiterns seiner Strategie als Vorsitzender des HSL-Ausschusses wiedergewählt. Damit verschwand der HSL-Ausschuß für einige Zeit aus dem Blickpunkt der (fachinternen) Öffentlichkeit; die eigenständige Professionalisierung der H

.I;

Prot. der Sitzung des HSL-Ausschusses vom 04.11.1956. in: KZS 1956. S. 705 . Prot. der Sitzung des HSL-Ausschusses v. 01.11.1957. in: KZS 1957. S. 709.

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

Soziologie nahm ihren Lauf. Erst gegen Ende der 50er Jahre wurde die Debatte fortgesetzt, als sich zunehmend Mißmut unter den bundesdeutschen Soziologen über den eingeschlagenen Weg breitrnachte. Die Lage der Soziologie wurde zu diesem Zeitpunkt als mißlich empfunden 36 , woran nach unterschiedlichen Einschätzungen auch die zu frühe Professionalisierung ihren Anteil hatte. Dahrendorf etwa meinte 1959, die Soziologie hätte "Nebenfach par excellence" (S. 153) bleiben und sich "dem gefährlichen Sog der Professionalisierung noch eine Zeitlang entziehen" (S. 152) müssen. Die Streitigkeiten über den richtigen Weg der Institutionalisierung der Soziologie hielten weiter an, spielten sich aber überwiegend zwischen Schelsky und König ab. König, der nach dem am 02.04.1959 erfolgten Rücktritt Schelskys aus allen DGS-Funktionen die Nachfolge als Vorsitzender des HSL-Ausschusses 1960 übernommen hatte, gelang es nicht, die seit langem angestrebte Vereinheitlichung der Ansichten führender Fachvertreter zu Fragen des sozialwissenschaftlichen Studiums zu erreichen, weswegen das Protokoll der DGS-Vorstandssitzung vom 06.03.1961 von einer "mißliche(n) Lage des Fachausschusses für Hochschul- und Studienfragen" (S. 2) spricht. 37 Auch die Frage der Berufsperspektive blieb - zumindest bis zum ,Bildungs-Boom' der 60er Jahre - ein immer wieder dringlich auftauchendes "heikle(s) Problem" (Stammer 1961a, S. 14). Aber auch durch die ständigen individuellen Lösungen an verschiedenen Universitäten war die Arbeit des HSL-Ausschusses immer wieder gefährdet; die Einführung des sozialwissenschaftlichen Doktorgrades an der Universität Münster durch Schelsky ohne vorherige Informierung des HSLAusschusss wollte König zum Anlaß nehmen, diesen Anfang 1961 aufzulösen3~, was nur durch eine Intervention von Stammer verhindert werden konnte 39 - allerdings unter Preisgabe des Ziels ,Vereinheitlichung': "Es ist festzustellen, daß zur Zeit keine generellen Lösungen möglich sind. Der Fachausschuß soll aber deswegen nicht aufgelöst werden ... " (Prot. der VS vom 06.03.1961, S. 4) Hatte der HSL-Ausschuß damit seine inhaltliche Legitimation eingebüßt, so trat er dennoch im Herbst des gleichen Jahres noch einmal auf, als auf der Siehe dazu Abschnitt 6.2. " Der HSL-Ausschuß war nach Schelskvs Rücktritt als Fach-Ausschuß in die DGS reintegriert worden. 1962 übernahm K. E. Francis den Vorsitz von König. Zu den Entwicklungen in den Jahren nach 1959 siehe: Schelsky an Plessner 02.04.1959: Stammer-Rundbrief 08.06.1960. S. 3: Stammer 1961b. S. 4: vgl. auch Abschnitt 3.2. " Aktennotiz 21.01.1961. ,., Stammer an König 15.03.1961. \c,

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internen Arbeitstagung der DGS in Tübingen über Probleme der Berufsperspektive diskutiert wurde. Es kann also zusammenfassend festgehalten werden, daß drängende Fragen der Professionalisierung der Soziologie von der dafür zuständigen Standesvertretung nur unzureichend gelöst wurden. Schelskys Versuch, über diese Fragen sich Macht und Einfluß innerhalb der DGS zu sichern, hatte nur bedingt Erfolg. Immerhin gelang es ihm, sich binnen kurzer Zeit eine starke Stellung innerhalb der DGS zu sichern, statt -wie die IIS-Soziologen 411 - eine erfolglose Gegenorganisation aufzubauen. 3.2 Organisationsinterne Auseinandersetzungen in den 50er Jahren41

In den 50er Jahren kam es zweimal, nämlich 1950/51 und 1958/59 zu Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Fraktionen in der bundesdeutschen Soziologie, und zwar zwischen der - der ISA angehörenden - DGS einerseits und dem Institut International de Sociologie (IIS) und dessen Deutscher Sektion andererseits. Das 1893 von R. Worms gegründete IIS war bis zur ISA-Gründung 1949 die einzige internatinale Soziologengemeinschaft gewesen. Über den Fortbestand dieses Instituts während des Zweiten Weltkrieges herrscht jedoch Unklarheit; während der italieniche Soziologe Corrado Gini, unter dessen Führung das IIS 1949 reaktiviert wurde, die Kontinuität des IIS behauptete, standen v. Wiese und König auf dem Standpunkt, daß das IIS zwischenzeitlich aufgelöst worden sei. 42 König hatte zudem schwerste Bedenken gegenüber Gini - denen sich die DGS dann auch weitgehend anschloß - nicht nur wegen dessen politischer Vergangenheit, sondern auch wegen den Auseinandersetzungen, die Gini bei der ISA-Gründung provoziert hatte, als er der ISA ihre Legitimität absprechen wollte. 43 Da zwischen ISA und IIS zunächst kein Konsens hergestellt werden konnte, existierten 1950 also zwei internationale Soziologengesell." Siehe dazu Abschnitt 3.2. 41 Die Konflikte zwischen IIS und DGS/ISA werden im Folgenden in einem knappen Überblick geschildert. Aus verschiedenen Gründen ist es nicht möglich. an dieser Stelle eine ausführliche. alle Aspekte berücksichtigende Darstellung der Ereignisse vorzunehmen und eine detaillierte Auseinandersetzung mit den polemischen (wenn auch meist zutreffenen) Äußerungen Königs (1982) zu führen; siehe dazu Weyer 1984e. 4~ Dazu: IIS-Selbstdarstellung 1959. S. 3. All; König an Müller-Armack 31.01.1958. All; v. Wiese 1950151c. S. 260 u. a .. 4, König 1980. S. 160 f.

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schaften, die kurz hintereinander mit internationalen Kongressen an die Öffentlichkeit traten; v. Wiese und König bedauerten dies sehr. In den Jahren nach 1950 konnten die Spannungen jedoch soweit beigelegt werden, daß sich ein Klima des gegenseitigen Akzeptierens und der partiellen Zusammenarbeit herstellte. 44 44 IIS, XVI" Congres 1954. S. I; IIS-Selbstdarstellung, S. I. A 11. Eine Kurz-Charakterisierung des Nachkriegs-I1S bereitet - trotz intensivsten Quellenstudiums - erhebliche Schwierigkeiten. Die Relevanz dieser Organisation für die Geschichte der westdeutschen Nachkriegssoziologie hat sich offensichtlich weniger durch ein dezidiert ausformuliertes und in entscheidenden Punkten von der DGS abweichendes wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Programm, als vielmehr durch den vom IIS eingeschlagenen organisationspolitischen Kurs ergeben. Fest steht lediglich, daß das IIS bis in die 30er Jahre die allgemein anerkannte internationale Soziologenorganisation war. Wieso Gini diese Organisation nach dem Krieg wiederbelebte, muß ungeklärt bleiben; es scheint nahezuliegen, daß dieser Vorgang zu einem großen Teil persönlich motiviert war, weil Gini seine Autorität (als Nachlaßverwalter des IIS) nicht an die ISA abgeben wollte. Daß erdabei aufeinen breiten Konsens überwiegend konservativer Soziologen stieß, die sich gegen eine US-amerikanische Überfremdung wehrten, mag ein sekundäres Phänomen gewesen sein. Es ist zumindest symptomatisch, daß es zwischen IIS und ISA nie wissenschaftliche Kontroversen gab; ihr Profil unterschied sich lediglich in Nuancen, die keine unversöhnlichen Widersprüche darstellten (anders wäre es auch kaum zu erklären, daß die überwiegende Zahl der bundesdeutschen Soziologen Mitglied in beiden Organisationen war). Versucht man dennoch eine gewisse Abgrenzung der beiden Organisationen, so könnte man sie - trotz aller Vorsicht - anhand der Linien Tradition/Fortschritt vornehmen. Das IIS war eine traditionelle Gelehrtenrunde; die ISA bemühte sich hingegen um die Repräsentation von Nationen und den Fortschritt der Wissenschaft (nach USamerikanischem Muster). Man kann zudem feststellen, daß das IIS sich überwiegend auf konservative und z. T. durch ihre politische Vergangenheit belastete Kräfte stützte und sich gegen Versuche der Instrumentalisierung der Organisation für eine ,konservative Erneuerung' keineswegs zur Wehr setzte. während es in deriSA immer gewisse progressiv-antifaschistische Regulatoren (wie z. B. König oder Friedmann) gab. Allerdings wäre es völlig verfehlt, das IIS als Sammelbecken der Alt-Nazis, die ISA als Sammelbecken des progressiven Spektrums charakterisieren zu wollen; denn auch die ISA und die DGS duldeten Soziologen, deren Vergangenheit zweifelhaft war. Es müssen also gewisse Ungereimtheiten bestehenbleiben, die möglicherweise durch weitere Forschungen geklärt werden können. Auch in Bezug auf die Person Ginis muß sich die vorliegende Darstellung aufunvollständige Angaben beschränken: Gini (1884-1965) war Professor für Statistik und Soziologie zunächst in Cagliari und Bologna, dann ab 1923 in Rom, wo er auch Leiter des von Mussolini eingerichteten Zentral instituts für Statistik wurde. Vor 1933 war er einer der Vizepräsidenten des IIS gewesen, das er dann 1949/50 wiedergründete. Er war in den 50er Jahren Präsident der italienischen soziologischen Gesellschaft und verschiedener anderer soziologschen Gesellschaften. Er genoß zu dieser Zeit ein großes nationales und internationales Renommee. Soweit die - meist akklamierenden - Beschreibungen in einschlägigen Lexika (World Who's Who 1968. Internationales Soziologenlexikon 1980). Demgegenüber stehen die Auffassungen von König und Plessner, Gini habe sich durch seine faschistische Vergangenheit so weit ins Abseits begeben. daß er nach 1945 in Italien um seinen Ruf kämpfen mußte. Nach Königs Auffassung war Gini .. die rechte Hand Mussolinis" (König an Plessner 19.02.1958) gewesen und habe sich dadurch auch im Nachkriegsitalien unmöglich

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Auf die bundesdeutsche Soziologie kamen in den Jahren 1950/51 insofern besondere Schwierigkeiten zu, als die DGS zwar einerseits Mitglied der ISA war, andererseits aber umfassende Werbungsversuche für die Konkurrenzorganisation erleben mußte, die teils auf sehr fruchtbaren Boden fielen. Selbst v. Wiese konnte seine Sympathien für das IIS - dem er vor 1939 als führender Funktionär angehört hatte 45 - kaum verbergen; er war in seiner Haltung völlig gespalten und trat daher den Bestrebungen des IIS nicht energisch entgegen. 46 Dennoch vertrat er im offiziellen Rahmen eine ablehnende Haltung, da spätestens zu dem Zeitpunkt eine definitive Entscheidung von ihm verlangt wurde, als 1950 der 14. Kongreß des IIS im Rom vorbereitet wurde und eine Anzahl bundesdeutscher Soziologen daran teilnehmen wollte. v. Wiese bezog die - später von der DGS gebilligte - Position, daß die Teilnahme an diesem Kongreß Privatsache sei, die DGS als Organisation jedoch nicht teilnehmen könne. 47 Bereits ein Jahr später wurden die Probleme jedoch wieder akut, als bundesdeutsche IIS-Mitglieder begannen, eine Deutsche Sektion des IIS zu gründen. Von neuem begannen Werbungsversuche, auf die v. Wiese wiederum mit sehr halbherzigen Absagen reagierte. Seine Situation war dadurch besonders problematisch, daß er sich gezwungen sah - obwohl mit dem IIS sympathisierend - energischer gegen dessen Bestrebungen vorzugehen, als die ISA dies tat, die zu dieser Zeit einen Kurs des ,Stillhaltens und Abwartens' vertrat. 48 Am 21./22.04.1951 wurde dann in Wiesbaden die Deutsche Sektion des IIS gegründet; an der Gründungsversammlung hatten u. a. teilgenommen: gemacht. Plessner ermittelte darüber hinaus in Ginis Publikationen antisemitische Schriften, so daß er in seinem Rechenschaftsbericht gegenüber der DGS 1959 sich auffolgende drei Argumente stützen konnte: I. Gini sei "als wissenschaftlicher Exponent der faschistischen Bevölkerungspolitik in Italien hervorgetreten"; 2. er habe "sich im November 1939 nicht gescheut, eindeutig antisemitische Hetzschriften des Dritten Reiches ... in einem positiven Sinne zu besprechen"; 3. er habe "in Aufsätzen in deutscher Sprache in den Jahren 1937-44 die faschistische Bevölkerungspolitik vertreten und die kriegerische Expansion der Achsenmächte befürwortet". (KZS 1959, S. 570) Der offensichtliche Widerspruch zwischen diesen beiden Darstellungsweisen kann nicht hinreichend geklärt werden; es erscheint allerdings nicht undenkbar, daß es einem Exponenten der faschistischen Soziologie in Italien gelungen sein sollte, auch im Nachkriegsitalien zu Ruhm und Ehren zu gelangen . •; v. Wiese an Plessner 28.12.1957 . • 6 Stegmann an v. Wiese März 1950; König an v.Wiese 18.10.1949. 47 Prot. der DGS-MV vom 16.10.1950; v. Wiese an Bülow 09.05.1950; zu v.Wieses Haltung gegenüber ISA und IIS vgl. auch Abschnitt 2.4 . •• Rinde an v. Wiese 24.02.1951.

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

Brepohl, Freyer (er wurde Sprecher der Sektion), Arnold Gehlen, Ipsen, Mackenroth, K. V. Müller, Neundörfer, Schelsky und Kurt Stegmann von Pritzwald (er wurde Sekretär der Sektion).49 Innerhalb dieser Deutschen Sektion gab es zwei Fraktionen: Die von Stegmann geführte Mehrheitsfraktion verfocht einen Kurs der Kooperation mit der DGS; die Minderheitsfraktion um Ipsen und K. V. Müller war jedoch ganz auf Konfrontation aus. Die durch v. Wiese signalisierte Nichtanerkennung der Legitimität des IIS veranlaßte Ipsen 1951, in scharfen Worten den "Bürgerkrieg in der Soziologie" (Stegmann an Ipsen 02.04.1951, A 11) zu proklamieren, der jedoch zunächst nicht offen ausbrach. Auch in der DGS gab es eine Minderheit, die gegen v. Wieses Kurs opponierte und das IIS offen favorisierte; in beiden Organisationen setzte sich jedoch 1951 die Linie der gegenseitigen Respektierung und informellen Kooperation - trotz der formell vollzogenen Abgrenzung - durch; die Legitimität der DGS als maßgeblicher Standesvertretung wurde damit nicht infragegestellt. Erst 1958/59 kam es zur offenen Eskalation der Konflikte, wobei seitens des IIS als treibende Kraft der Nürnberger Soziologe K. V. Müller, zu der Zeit Generalsekretär des IIS, auftrat. Die DGS fühlte sich provoziert, als sie Ende 1957 davon erfuhr, daß das IIS ohne Abstimmung mit der DGS seinen 18. Kongreß 1958 in Nürnberg zu veranstalten beabsichtigte und dies augenscheinlich mit Unterstützung offizieller Stellen (Bundesregierung, Bundespräsident) geschah. Der DGSVorsitzende trat daraufhin mit Müller in Kontakt, um möglicherweise eine informelle Verständigung zu erzielen. Plessner - der in seinem Vorgehen maßgeblich von König unterstützt wurde - wandte sich nach dem Scheitern seiner Versuche, mit Müller zu einer frühzeitigen Kooperation zu gelangen, am 20.12.1957 in einem Rundschreiben an den DGS-Vorstand, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Haltung des DGS-Vorstandes war sehr uneinheitlich; Gegner und Sympathisanten des IIS waren zahlenmäßig etwa gleich stark. Trotz der von Schelsky u. a. vertretenen Position, keine gegen das IIS gerichteten Aktivitäten zu unternehmen, entschlossen sich König und Plessner zu einer Doppel-Strategie, dem IIS einerseits den Rückhalt zu entziehen, andererseits eine thematische Abstimmung zwischen IISKongreß und dem 14. Soziologentag anzustreben. 50 So nahm ein DGSVertreter am 18.01.1958 an einer IIS-Besprechung in Nürnberg teil, die in der DGS aber die Befürchtung verstärkte, der IIS-Kongreß könne eine echte Konkurrenz werden. 51 ." Liste der Teilnehmer in A 11. Vgl. auch Lebensläufe im Anhang. ~" König an Plessner 14.01.1958: KZS 1959. S. 569. ~l Plessner an Bergsträsser 08.01.1958.

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Daraufbin unternahm die DGS - unter Federführung Königs 52 - verschiedene Interventionen bei den Stellen, die die IIS-Pläne ideell und materiell unterstützten. Der offensichtlich bewußt irregeleitete Bundespräsident zog seine Schirmherrschaft für den IIS-Kongreß sofort zurück; das Wirtschafts-Ministerium entschloß sich zu einer moderaten Haltung, die beiden Seiten Genüge tat; das Bundesinnenministerium jedoch stand uneingeschränkt auf der Seite des IIS und arbeitete mit Müller eng zusammen, indem es ihm z. B. den Schriftwechsel mit König zur Verfügung stellte und so detaillierte Gegendarstellungen ermöglichte. 53 Königs - von der Furcht vor Sezessions- und RefaschisierungsBestrebungtm innerhalb der bundesdeutschen Soziologie geleiteten - Interventionen brachte ihm den Ärger Schelskys ein, der sich gegen politisch motivierte Diskriminierungen aussprach. 54 Dennoch faßte der DGSVorstand am 08.03.1958 in Göttingen einen Beschluß, daß die DGS mit dem IIS "nichts zu tun hat" (Plessner an DGS-Mitglieder 15.03.1958); damit sollten sowohl verbandsinterne als auch in der Öffentlichkeit bestehende Unklarheiten beseitigt werde. Zugleich wurde die Gangart der DGS gegenüber dem IIS entschiedener. Schelsky sah aufgrund dieser Haltung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im DGS-Vorstand als nicht mehr gewährleistet an und erklärte seinerseits, "mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun haben" (Schelsky an König 27.03.1958) zu wollen. Zusätzlich verschärft wurde die Situation wenig später dadurch, daß Gini am 15.04.1958 ein Schreiben an Plessner richtete, in dem er auf der Rücknahme der gegen seine Person gerichteten Vorwürfe bestand und indirekt mit juristischen Schritten drohte. Die DGS änderte daraufbin ihre Strategie und versuchte nunmehr offensiv, den IIS-Kongreß zu verhindern - auch diesmal unter Protest Schelskys. Die Versuche, das Innenministerium umzustimmen, blieben jedoch wiederum erfolglos; im Gegenteil: Müller erreichte, daß ihm nunmehr offiziell im Namen der Bundesregierung "volle Unterstützung gewährt" (Selbstdarstellung des IIS, S. 4, A 11) wurde. Die Fronten im ,Bürgerkrieg' waren zu diesem Zeitpunkt vollkommen verhärtet; für den Nürnberger Kongreß blieben allerdings die Probleme trotz der Unterstützung durch das Innenministerium weiterhin akut, da es sich als recht schwierig erwies, prominente Soziologen zur Teilnahme zu gewinnen. 55 52 Königs Ausführungen, Plessner habe in der Debatte um das IIS .. mit großem Geschick und Weitblick die Diskussion gelenkt ... , viel besser, als ich es jemals hätte tun können" (1982, S. 544), sind insofern etwas beschönigend, als König zumindest in dieser Angelegenheit den Kurs der DGS maßgeblich steuerte. 5J Hans Bott an König 29.01.1958; IIS 1961. S. 23; Darstellung der Konflikte, A 11. ,4 Plessner an Bergsträsser 10.03.1958. j j Müller an Ipsen 09.06.1958; Ipsen an Müller 18.06.1958. A 11.

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In der DGS wurde die Strategie nach dem Mißerfolg beim Innenministerium ein zweites Mal geändert; angestrebt wurde nunmehr, durch "zielbewußte Instruktion der Presse und es Rundfunks" (Lütkens an Plessner 16.07.1858) einen öffentlichkeitswirksamen Erfolg des - nicht mehr zu verhindernden - Kongresses zu vereiteln. Im Juli/August 1958 kam es aber zu einer regelrechten ,Presseschlacht', weil die F.A.Z. eine aufIIS-Informationen beruhende Kongreßankündigung veröffentlicht hatte, die so provozierend formuliert war, daß die DGS sich zu einer Richtigstellung veranlaßt sah. Diese am 05.08.1958 publizierte Notiz entsprach dem Vorstandsbeschluß vom 08.03.1958; seinerseits provozierend war ein von der F.A.Z.-Redaktion verfaßter Anhang, in dem auf Müllers faschistische Vergangenheit verwiesen wurde. Da die Replik Müllers auf diese Darstellungen ziemlich ungeschickt ausfiel, gab sich die DGS nach dieser ,Presseschlacht' recht optimistisch; Plessner ging davon aus, daß Müller sich nunmehr "selbst ausreichend dekuvriert" (Plessner an König 26.08.1958) habe. Dies war der Stand der Dinge, als vom 10. bis 13.09.1958 in Nürnberg der 18. IIS-Kongreß stattfand, der weniger wegen seines inhaltlichen Profils, sondern mehr wegen der vorangegangenen organisationspolitischen Auseinandersetzungen von Interesse ist. Freyer, Gehlen und Sorokin hielten die Hauptreferate, deren Hauptcharakteristikum der Irrationalismus und die Absage an eine rational konstruierbare Gesellschaftstheorie war. 56 Nach dem Nürnberger Kongreß gab es 1959 auf dem 14. Soziologentag in Berlin noch ein Nachspiel, als Müller der DGS-MV einen Mißbilligungsantrag vorlegte, der Plessners und Königs Verhalten rügte. 57 Trotz äußerst kontroverser Debatte unterlag Müller in der Abstimmung deutlich. Er war in dieser Situation bereits völlig isoliert und zog sich resigniert zurück, da er von seinen früheren Mitstreitern keine öffentliche Unterstützung mehr erfuhr. Eine Polarisierung und Spaltung der DGS war somit verhindert. Das Verhältnis zwischen DGS und IIS entspannte sich aber erst Jahre später, nachdem es zwischendurch immer wieder zu kleineren Konflikten gekommen war. Sah es also zunächst so aus, als hätte die Sezzessionsbestrebungen des IIS verhindert und Spaltungstendenzen innerhalb der DGS aufgehalten werden können, so spitzte sich die Situation kurz vor dem Berliner Soziologentag 1959 dramatisch zu, als Schelsky am 02.04.1959 seinen Rücktritt aus dem DGS-Vorstand erklärte und damit zugleich sein angekündigtes Referat (die '" Vgl. Kongreßakten (IIS 1961). " KZS 1959. S. 568: Antrag des IIS in A 11.

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spätere ,Ortsbestimmung') zurückzog. 58 Er begründete dies mit der - ihn benachteiligenden und den DGS-Vorstandsbeschlüssen angeblich widersprechenden - Programmgestaltung des Soziologentages, gab aber sehr bald zu erkennen, daß dies zwar "Anlaß" sei, der"eigentliche Grund" (Prot. der VS vom 26.04.1959, S. 2) aber in der Vorgehensweise des DGSVorstands gegenüber dem IIS zu sehen sei. Geradezu prekär wurde die Lage für Plessner, als König - der zuvor Schelsky eher mißtraut und mit Plessner eng kooperiert hatte - sich nunmehr Schelskys Argumente zueigen machte und ebenfalls die Absicht äußerte, sein Referat zurückzuziehen. 59 In unermüdlichen Versuchen, das Gespräch wieder in Gang zu setzen, konnte Plessner zwar König zur Rücknahme seines Schrittes bewegen; Schelsky hingegen lenkte nicht ein. Er ließ vielmehr die Gefahr der Sezession wieder aufleuchten, als er gegenüber König dementierte, ihm liege nicht daran, "die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu spalten, sei es auch nur in Form eines öffentlichen Überritts zum ,Institut International de Sociologie'" (Prot. der VS vom 26.04.1959, S. 3). In den Diskussionen dieser dramatischen Wochen bis zum 14. Soziologentag wurde zwar deutlich, daß Plessner sichtlich Fehler gemacht hatte, die auch vom DGS-Vorstand gerügt wurden, der allerdings schließlich Plessners Verhalten mehrheitlich billigte. Plessnersah sich jedoch seinerseits zur Kritik an der DGS und vor allem den Fachausschüssen veranlaßt, die ihm bei den Vorbereitungen zum Soziologentag nur wenig Unterstützung gewährt hätten. 6t> Mit der Neuwahl Stammers zum DGS-Vorsitzenden 1959 und der NichtKandidatur Schelskys und Königs hatten die Probleme zunächst an Schärfe verloren, wenn es auch immer wieder zu verbandsinternen Auseinandersetzungen kam. Es sei hier stellvertretend nur die ,Pfeffer-Affäre' genannt, die zu eskalieren drohte, als König in der DGS vergeblich dagegen intervenierte, daß mit Schelskys Unterstützung der politisch schwerstens belastete Soziologe Pfeffer - der selbst nach Schelskys Überzeugung "ein überzeugter Nazi gewesen" (Prot. der VS vom 04.01.1962, S. 6) war - nach Münster berufen wurde. Stammers Anliegen in den Jahren nach 1959 war es vorrangig, Schelsky an Plessner 02.04.1959. König an Plessner 10.04.1959. Vgl. aber König 1982, S. 548, Anm. 23. Dort hat es eher den Anschein, als wolle König sich von Schelsky (nachträglich?) distanzieren. wenn er dessen Verhalten folgendermaßen einschätzt: "Das Ganze war aber wohl von Schelsky als Theater-Coup gedacht, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sein neues Buch zu lenken." "" Erklärung des Vorsitzenden zu TOP I. S. 4 ff. 5' 59

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie "separierte und teilweise verärgerte Mitglieder (der DGS, J. W.) dazu zu bringen, daß sie überhaupt miteinander sprechen" (Stammer 1961b, S. 2).

Die DGS zog sich daher für einige Jahre in die interne Selbstbesinnung zurück und bemühte sich primär, zunächst einmal die verbandsinternen Streitigkeiten zu klären. Zudem unterbrach sie den Turnus der Soziologentage bis 1964, weil sich Unmut und Enttäuschung über den Verlauf des 14. Soziologentages breitgemacht hatte. Stammer deutete die Situation sicherlich zurecht - als eine Umbruchsituation der Soziologie. 61 Dem Versuch, die Kommunikationsstrukturen innerhalb der DGS zu verbessern bzw. wiederherzustellen, diente die im Oktober 1960 anberaumte interne Zusammenkunft im Schloß Niederwald. Der Erfolg dieser Zusammenkunft ist unter den Beteiligten strittig. In einem zweiten Schritt versuchte man daher, die Konflikte in Form einer wissenschaftstheoretischen Debatte zu verobjektivieren und berieffür den Oktober 1961 in Tübingen eine Interne Arbeitstagung der DGS ein, die den sog. Positivismusstreit einleitete. Es ist also deutlich feststellbar, daß in der organisationspolitischen Entwicklung der DGS um 1960 eine Zäsur und Neuorientierung stattfand, mit der von althergebrachten Formen der Verbandspolitik endgültig Abschied genommen wurde; zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte der DGS traten unterschiedliche Strömungen in eine inhaltliche Auseinandersetzung ein. 3.3 Fazit

Versucht man ein Fazit über eineinhalb Jahrzehnte Organisationspolitik der DGS, so kann man feststellen, daß das Organisationsleben in der Zeit bis 1953 sich im wesentlichen auf die Abhaltung von Soziologentagen und die internationale Vertretung bei der ISA beschränkte. Der innerverbandliche Willensbildungsprozeß war sehr gering ausgeprägt; v. Wiese führte die DGS im autokratischen Stil. Es gab zu dieser Zeit weder hervorstechende wissenschaftliche Debatten zwischen führenden Fachvertretern - dies wird im Folgenden zu zeigen sein - noch umfangreiche Bemühungen um Berufsmöglichkeiten, Ausbildungsfragen oder den Komplex der gesellschaftlichen Anwendung soziologischer Erkenntnisse. Erst 1953 wurde die Frage der Professionalisierung akut, von v. Wiese aber als außerhalb der Kompetenzen der DGS liegend definiert, woraufhin der stärker auf Professionalisierungsfragen bedachte Sche1sky versuchte, diese Probleme im ,Alleingang' anzugehen. Die neue Satzung von 1955 zeigt das gewandelte Selbstverständnis der DGS, die sich nunmehr als Fachvertre1>1

Stammer 1961a. S. 11.

3. Organisationspolitische Aktivitäten in den 50er Jahren

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tung auch in berufspolitischen Fragen begriff; ein konsistentes Professionalisierungskonzept fehlte aber auch in der Folgezeit. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre kam also ein Prozeß langsam in Gang, die DGS zu einer genuinen Fachvertretung weiterzuentwickeln, der aber durch die organisationsinternen Auseinandersetzungen in einem zu frühen Stadium unterbrochen wurde, als daß er bereits deutliche Früchte hätte tragen können. Zumindest für die Zeit bis 1955 kann man kaum Initiativen des DGS-Vorstandes feststellen, die DGS über eine Gesprächsrunde von universell gebildeten Gelehrten hinauszuentwickeln; innovativ für die Entwicklung des Faches hat die DGS zu dieser Zeit keineswegs gewirkt. 62 Statt dessen kann man konstatieren, daß die DGS in den 50er Jahren fast pausenlos mit oppositionellen Strömungen und innerorganisatorischen Querelen beschäftigt war, die sie lähmten und sowohl an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wie auch der Vertretung originärer Fachfragen hinderten. In mehreren Situationen wurde die Gefahr einer Sezession heraufbeschworen, so daß die Kräfte der DGS-Funktionäre oft von Bemühungen um Beilegung der Konflikte absorbiert wurden. Die Auseinandersetzungen mit dem IIS werfen allerdings auch ein deutliches Licht auf den Charakter der DGS und ihre personelle Zusammensetzung. Es gab nur wenig fortschrittliche Traditionen in der DGS, so daß Königs dezidiert antifaschistische Position deplaziert wirkte. Er selbst beschreibt dies folgendermaßen: "Ich muß noch hinzufügen, daß es für meine deutschen Kollegen nach dem Krieg völlig rätselhaft war, warum einer freiwillig das Deutsche Reich verlassen hatte. Das war für mich die vielleicht deprimierendste Erfahrung nach dem Krieg in Köln." (König 1980, S. 122) So wird es verständlich, daß mit den ,Rechts'-Kräften in der DGS keine offensive Auseinandersetzung gesucht wurde, sondern unter dem Mantel einer instrumentellen Geschlossenheit die Konflikte mehr verdrängt als gelöst wurden. Hinzuzufügen ist allerdings, daß ohne den gesellschaftlichen Kontext (etwa die l3ler Gesetzgebung, den gesamtgesellchaftlichen "Ruck nach rechts" (Schwarz 1981, S. 134) etc.) und ohne das ideologische Klima des Kalten Krieges, das Leute wie Müller sicherlich bestärkt hat, die geschilderte Entwicklung hin zur Eskalation des ,Bürgerkriegs in der Soziologie' nicht denkbar gewesen wäre. 62 Sie ist somit nicht vergleichbar mit dem VfS der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, der die ersten umfassenden empirischen Studien auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften in Deutschland initiierte.

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Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

4. Kurzchronik der Soziologentage 1946 bis 1959

Nachdem nun die wesentlichsten Stationen der Organisationsgeschichte der DGS abgehandelt sind, soll im Folgenden eine Institution vorgestellt werden, die für die DGS ein zentrales Selbstdarstellungs- und Diskussionsforum bildet: die Institution des Soziologentages. Zu den - von der DGS meist im zweijährigen Turnus - veranstalteten Soziologentage gib es zwar einige überblickshafte Darstellungen 1, die aber für die hier verfolgten Fragestellungen nicht als ausreichend angesehen werden können, weil sie zumeist sehr tabellarisch und partiell unvollständig sind, zudem sehr selektiv verfahren. Da es nicht legitim wäre, im Rahmen der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung nach der Entwicklung der Soziologie in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext diese - zumindest im Bereich der DGS -zentrale Institution lediglich mit knappen Hinweisen auf wenige Referate zu streifen, es vielmehr darauf ankommt, den Charakter der Soziologentage und die wesentlichen Trends herauszuarbeiten, wird im Folgenden eine Chronik der Soziologentage entwickelt, die einen knappen Überblick über die Zeit von 1946 bis 1959 bieten soll.2 8. Soziologentag 1946 (Frankfurt) Der erste Nachkriegssoziologentag fand 1946 in Frankfurt statt; angeregt durch den wenige Tage zuvor ermordeten amerikanischen Universitätsoffizier Hartshorne (S. 5, 7 u. a.), dem alle Redner ihre Referenz erwiesen, versuchte die westdeutsche Soziologie "zu dokumentieren, daß wir ,da sind'" (S. 5); v. Wiese ging in seiner Eröffnungsansprache davon aus, daß "das Verständnis für unsere Arbeit zu keiner Zeit größer sein konnte als jetzt", und hoffte darauf, daß bald "von einer allgemeinen Einwirkung unseres Schaffens auf das werktätige Leben unserer Nation (S. 10) berichtet werden könne. Er bedauerte ausdrücklich, daß der Faschismus auf die Mitwirkung der Soziologie verzichtet habe, indem er seine Worte von 1936 wiederholte: "Das, was hier als Schaden gemeint ist, betrifft lediglich die Frage, ob der Aufbau des deutschen nationalen Volks- und Staatslebens die Mitarbeit der allgemeinen Soziologie entbehren kann." (S. 3)3 I Meurer 1979. Karger 1978. Lepsius 1979. ~ Nicht gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich auf die jeweiligen Verhandlungsprotokolle. Die Verhandlungen der Soziologentage werden dabei mit dem Kürzel ST zitiert.

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Der hessische Minister Schramm, der Frankfurter Oberbürgermeister Kolb und der Rektor der Frankfurter Universität, Hallstein, formulierten dezidierte Erwartungen der Öffentlichkeit an die Soziologie, die die" wissenschaftliche Grundlage" (S. 14) für künftige Erziehungsaufgaben liefern und eine "politische und soziale Verantwortung" gegenüber dem Volk (S. 17) übernehmen solle. Besonders Kolb artikulierte das ungebrochene Vertrauen in die Soziologie: "Die Stadt Frankfurt ist durchdrungen von der Erkenntnis, daß, wenn die Lehren der Soziologie als richtungsgebend den Deutschen stets vor Augen gestanden hätten und stets befolgt worden wären, uns unendliches Elend und Unheil erspart geblieben wär." (S. 16) Auf diesem Soziologentag wurden sechs Vorträge gehalten, deren wichtigster ohne Zweifel der Vortrag v. Wies es "Die gegenwärtige Situation, soziologisch betrachtet" war, da er programmatisch die wesentlichen Punkte des soziologischen Nachkriegsselbstverständnisses abhandelte und die Orientierung für die kommenden Jahre festlegte. v. Wiese sprach vom "Zeitalter allgemeiner Sklaverei" (S. 20), in das die Menschheit seit dem ersten Weltkrieg versinke; die "Pest" (S. 29), die den Menschen heimtückisch von außen überfallen habe, sei "ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag" (ebd.). Dennoch sah er es als Aufgabe der Soziologie an, mittels "Beobachtung" (S. 21) der sozialen Tatsachen der Menschheit den richtigen Weg zu zeigen; die Soziologie müsse dazu "den Schritt vom Historisch-Gesellschaftlichen zum Anthropologisch-Überzeitlichen" (S. 34) tun. Er veranschaulichte diese Aufgabe der Soziologie am Bild eines "weltlichen Vatikan(s)" (S. 35), in dem die wissenschaftlichen Grundlagen zur Steuerung der Gesellschaft ermittelt werden. So verstandene Soziologie sollte damit dem Zweck dienen, den "Kollektivegoismus" zu bekämpfen (S. 38) und den "Machtwahn" (S. 39) zu brechen. v. Wiese verheimlichte dabei nicht, daß sich diese Ausführungen gegen den Marxismus richteten (S. 31 ff.), wie er auch in dem "meist große(n) Maß von demokratischer Freiheit die Hauptursache" (S. 30) für das Elend der Menschen und den Zustand der Sklaverei sah. v. Wiese mußte sich für diese Ausführungen erhebliche Kritik von Maus, Solms und Julius Ebbinghaus gefallen lassen, der er aber energisch widersprach.

~~T-d~~~ kritisch BraunreutherlSteiner 1962, S. 52. Auf eine ähnliche Haltung A. Walthers verweist Maus (1948, S. 49). Eine kritische Gesamtwürdigung des 8. Soziologentages findet sich bei Papcke (1980).

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Neben Solms, der darauf hingewiesen hatte, "daß wir gerade an dem Versuch, die heutige Situation begrifflich zu erfassen, unsere Fähigkeit erproben müssen und uns dabei nicht mit dem Glauben an ein metaphysisches Geheimnis zufrieden geben dürfen" (S.45), und Ebbinghaus, der die Vorstellung des von Soziologen zu errichtenden weltlichen Vatikans karikiert hatte (S. 112 f.), war es vor allem Maus, der auf dem Soziologentag deutlich Kritik an v. Wiese übte. 4 Maus kritisierte das Versagen der Soziologie, die den Prozeß der Faschisierung vor 1933 nicht beachtet und - trotz Existenz der v. Wiese'schen Beziehungslehre schon zur damaligen Zeit - auch nicht beobachtet habe. Maus zog somit den Nutzen der Beziehungslehre als "brauchbares Rüstzeug" (S. 43) der Wissenschaft in Zweifel. Er argumentierte aber auch gegen die Forderung v. Wieses, daß die Soziologie sich der Methode der Beobachtung bedienen solle, und plädierte für "denkende Beobachtung" (S. 43), für eine Verbindung von Theorie und Empirie. "Sonst erleben wir, daß die Soziologie wiederum versagt, versagt wie das bereits schon einmal geschehen ist." (S. 44)5 In einem späteren Zeitschriften-Aufsatz fügte er hinzu: "Der achte Soziologentag ließ jedoch völlig die Besinnung darüber vermissen, ob die herkömmlichen Arbeitsweisen noch ausreichen oder aber einer Korrektur unterzogen werden müßten." (Maus 1947, S. 97) v. Wiese wehrte sich in verschiedenen Repliken gegen Maus' Vorwurf des Versagens der Soziologie, bezeichnete dessen Verhalten als "wenig klug und wenig gerecht" (8. ST, S. 4) und versuchte, den Kritiker zu integrieren, indem er angesichts der "schweren Aufgaben" der Zeit "Meinungsverschiedenheiten der Schulen als etwas außerordentlich Nebensächliches" (S. 55) bezeichnete. Im weiteren Verlauf des Soziologentages referierte Sauermann über "Die soziale Umschichtung"; er beschäftigte sich mit dem sozialen Wandel besonders im Hinblick auf Bevölkerungsverschiebungen und kam zu dem Fazit, daß es in diesen Prozessen der anleitenden "Eliten" bedürfe (S. 103), die vor allem "eine neue Wertordnung bilden" (S. 104) sollten. "Auswahl und Kon• Er wiederholte diese Kritik kurze Zeit später in wesentlich schärferer Form in einem Artikel der von ihm herausgegebenen Zeitschrift .Umschau· (Maus 1947). auf den v. Wiese seinerseits replizierte (8. ST. S. 4). Auch in späteren Briefwechseln setzte sich diese Diskussion zwischen v. Wiese und Maus fort (s. Abschnitt 6.1.3 und 6.3.1). , Soviel Kritik hat es auf den Soziologentagen danach lange nicht mehr gegeben. Zu Maus' Kritik an der Rolle der Soziologie im Faschismus siehe ausführlicher Abschnitt5.1.

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trolle" (S. 104) dieser Eliten erschienen ihm als das Hauptproblern; auch er wandte sich deutlich gegen den "doktrinäre(n) Kollektivismus oder Sozialismus" (ebd.). In der Diskussion dieses Vortrages wurde teilweise der analytische Wert von Sauermanns Ansatz bezweifelt; die Zustimmung dominierte jedoch. Einzig Solms insistierte darauf, daß es sich beim Marxismus um eine Theorie handele, "die noch keineswegs zum alten Eisen geworfen werden kann" (S. 189). Solms stellte in einem weiteren Vortrag sein System der Soziologie, die ,Gesellungslehre', vor, zu dem hier nur angemerkt werden soll, daß Solms auf die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers hinwies und die Verankerung der Soziologie in Sozialethik forderte (S. 62, S. 82).6 Erwähnt sei hier ferner der Vortrag von J. Schiefer "Zur Soziologie der deutschen Gewerkschaften", der von der Notwendigkeit sprach, "den Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaften mit den Ergebnissen soziologischer Forschungsarbeit tatkräftig zu unterstützen" (S. 162) und die Soziologie "in den Dienst" (ebd.) der Gewerkschaften zu stellen; er plädierte somit gegen eine zweckfreie Soziologie. In einer Mischung aus marxistischem Vokabular und v. Wiese'scher Beziehungslehre analysierte Schiefer Geschichte und Struktur der Gewerkschaften, in denen er dank ihrer Integration in die Gesellschaft "aufbauende, verbindende und integrierende Sozialgebilde" (S. 182) erblickte. v. Wieses Schlußwort entschuldigte noch einmal dem improvisierten Charakter des Soziologentages, der aber auf Anraten Hartshornes in Kauf genommen worden war, um die Präsenz der Soziologie zu demonstrieren: "Wir können uns vielleicht mit Stolz darüber Rechenschaft geben, daß wir den ersten wissenschaftlichen Kongreß überhaupt nach der schrecklichen Pause veranstaltet haben." (S. 196)7 In nachträglichen Bemerkungen zu seinem Vortrag ging er noch einmal auf die an seinen Ausführungen geäußerte Kritik ein und wehrte sich gegen den in Ebbinghaus' spöttischem Beitrag (S. 112 f.) enthaltenen Vorwurf, er verspräche sich "nach dem Vorbilde mancher Nur-Statistiker in meiner vertrockneten Bürokratenseele soziale Fortschritte von einem autoritären, als Zuchtmittel gehandhabten Ausfragungssystem" (S. 198 f.). v. Wiese bekannte sich in dieser Nachbemerkung deutlicher zu einer ethischen Verantwortung der Wissenschaft, ohne allerdings die Inhalte seines Vortrages zu revidieren. • Zu Solms siehe Kapitel 6.1. 7 Vgl. dazu 10. ST, S. 143, wo v. Wiese diese Darstellung wiederholt und auf den Pioniercharakter dieses Unternehmens hinweist.

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9. Soziologentag 1948 (Worms) Der zweite Nachkriegssoziologentag hatte zwei Schwerpunktthemen, ,Jugend' und ,Terror', die von jeweils zwei Referenten behandelt wurden; ferner fand ein Rundtafelgespräch über ,,scientifizierung der Politik" statt, für das sich insbesondere Kurt Sting eingesetzt hatte 8 , der auch die Einleitung übernahm. v. Wiese eröffnete die Tagung mit Bemerkungen zum Mangel an Fachsoziologen und entsprechend ausgebildetem Nachwuchs 9 ; Christian Eckert lobte in Anwesentheit des französischen Besatzungsoffiziers Jean Vial die großen Leistungen der französischen Soziologie von Comte bis Vial lll und wies angesichts der Nichtteilnahme der Deutschen an der Londoner Olympiade 1948 auf ihre gleichberechtigte Teilnahme am "geistigen Wettbewerb einer Soziologen tagung" (S. 31) hin, die nach v. Wieses Worten internationales Format hatte. I I Theodor Litt und der amerikanische Soziologe und Besatzungsoffizier H. Becker handelten das Thema Jugend ab. Litt wehrte sich besonders gegen den falschen Naturalismus der empirischen Feststellungen und plädierte für das "Zeugnis der tätigen Bewährung" (S. 43) anstelle der theoretischen Deutung. Eine Berücksichtigung der "Wollungen" (S. 37) der Jugend zeige das Bild einer Möglichkeit, das die Wirklichkeit nicht zeige. Mit äußeren Hilfestellungen - so Litt weiter - werde die Jugend genesen, weshalb er in ihr ein "innerlich gesundes Geschlecht" sah und sich dafür aussprach, "auf die in der Tiefe waltenden Kräfte (zu) vertrauen, die in ihrem dunklen Drange doch schließlich den rechten Weg finden werden" (S. 46). Becker, der später noch einen zweiten Vortrag über "Die Entwicklung de soziologischen Forschung außerhalb Deutschlands" hielt, in dem er sich fast ausschließlich mit der US-Soziologie beschäftigte und die französische und britische Soziologie mit wenigen Worten abhandelte, referierte weitgehend über die Fehler der Jugendpolitik der US-Besatzungsmacht und forderte von der Jugendpolitik eine "Verkehrung" (S. 53) des jugendlichen Verhaltens im Sinne einer Lenkung in neue Richtungen unter Beibehaltung alter, aus dem Faschismus tradierter Verhaltensmuster (etwa des Führungsprinzips oder des Nationalismus; S. 54).

In der folgenden Diskussion hielt Ernst-Günther Geyl es für , Korrespondenz Sting/v. Wiese. A I. ., v. Wiese 1948/49d. S. 251 f. ,,, Oh Vial tatsächlich in eine Reihe mit Comte gestellt werden kann. mag zweifelhaft sein. 11 v. Wiese 1948/49d. S. 249.

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"pädagogisch ratsam, wenn man an die Stelle der absoluten Negation den Nachweis der Verfälschung an sich berechtigter Gedanken durch den Nationalsozialismus gibt ... " (S. 69), um so zu vermeiden, daß man die Jugend in die Arme des Kommunismus treibt. Kurt Nassauer forderte eine Rückkehr zum "humanistische(n) Erziehungsideal" (S. 77), und Wolfgang Kellner plädierte für die Vermittlung von "echten Kulturwerten" statt einer "popularisierten Volksaufklärung" (S. 82). Doch auch auf diesem Soziologentag gab es kritische Stimmen; Herbert Sultan stellt.! Litts methodischen Ansatz in Frage, da dieser seine "Vermutung" (S. 45) eingestandenermaßen nur aus Eindrücken über die akademische Jugend bezog (S. 73).12 Hanna Meuter rekurrierte zwar deutlich aufv. Wieses Beziehungslehre; sie war jedoch die einzige, die auf die entscheidende Rolle der materiellen Existenzbedingungen Jugendlicher hinwies. Allen anderen Rednern ging es hingegen vornehmlich um die "Wiedergewinnung sicherer innerer Orientierung" (S. 82). Kritisch äußerte sich ebenfalls Maus, als er auf die Mechanismen der alltäglichen Manipulation der Jugend hinwies und danach fragte, ob dies sie nicht "schließlich für die Mächte brauchbar macht, die sie politisch benutzen"

(S. 73).

In seiner Einleitung des Rundtafelgesprächs sah Sting eine Verwissenschaftlichung der Politik zwecks "Vermeidung künftiger Debakel" (S. 84) als dringlich an. Aufgabe der Wissenschaft sei es dabei, "Erkenntniswidrigkeiten" (S. 86) und die "Mißachtung vorhandener Wahrheiten" (S. 87) zu verhindern. E. Schwarz konkretisierte diesen Gedanken im Plan einer politischen Akademie, die "neben der Regierung ... von erhöhter Stelle aus das Gewissen der Welt anOsprechen" (S. 94) sollte. 13 Heinrich Herrfahrdt betonte, daß das Fehlen einer so gearteten Wissenschaft "schließlich zur Katastrophe des Nationalsozialismus" (S. 89) geführt habe, und sah es als eine ihrer Aufgaben an zu entscheiden, in welchen Fällen das Mehrheitsprinzip in der Demokratie außer Kraft gesetzt werden müsse (S. 90). Ähnliches gilt für den Vortrag P. Hofstätters auf dem 13. Soziologentag. In vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist Schwarz' Hinweis, daß er .. selbstverständlich auch Kommunisten" (S. 93) als Mitglieder dieser Akademie akzeptieren würde. 12 1.1

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Die Deutsche Gesel1schaft für Soziologie

Neben Maus war einzig Litt erstaunt, "daß bei uns noch viel mehr Vertrauen zur Wissenschaft vorhanden ist, als man nach ihrer durchschnittlichen Haltung unter dem Hitler-Regime annehmen sollte." (S. 95) Die folgenden Vorträge über Terror hielten Benedikt Kautsky und Eugen Kogon, die beide lange Jahre in Kontrationslagern inhaftiert gewesen waren. Beide erklärten Terror aus der Angst der Herrschenden vor ihren Gegnern und blieben überwiegend auf einer deskriptiven Ebene, was in der Diskussion Solms zu der Bemerkung veranlaßte, daß eine Kausalerklärung des Terrors fehle (S. 132). Kautsky plädierte für einen Neuaufbau der Demokratie von unten, auch im Sinne von folgendermaßen verstandener Betriebsdemokratie: "Nach meiner Meinung kann man zu einer neuen Arbeitsdisziplin und Arbeitsfreude nur dann kommen, wenn man die Mitwirkung der Areiterschaft in den Betrieben sicherstellt." (S. 111) Kogons Vortrag kann man nicht als soziologische Analyse i. e. S. bezeichnen; er ist ein politisches Programm, das seine antikommunistische Stoßrichtung nicht verhüllt. 14 Kogon diskutierte im Hinblick auf die Beseitigung des Terrors nach dem 2. Weltkrieg die Frage einer Intervention von außen (S. 129) und sprach sich dafür aus, der "Ausbreitung des Terrors machtvoll entgegenzutreten" (ebd.). Folgende Leseart eines Kogon-Zitates drängt sich förmlich auf: "Überwältigt der Terror (sprich: Sowjetunion, J. W.) dennoch den Freien (sprich: Westeuropa, J. W.), so wird die Substanz ... dieser echten Freiheit dem Terror so lange zu schaffen machen, bis er daran erstickt oder von ihren Rachegeistern eines Tages, sei es aus den eigenen Reihen, sei es durch kühne Einzelne, sei es durch den Zusammenstoß mit der verbliebenen freien Welt der wirklichen Freiheit (sprich: USA, J. W.), erschlagen wird." (S. 131) Diesem Entwurf der politischen Strategie des Kalten Krieges wurde in der folgenden Diskussion weitgehend zugestimmt; er traf sich mit einer unverhohlenen Rehabilitation des Faschismus, als Herrfahrdt zwischen der verbrecherischen Minderheit und den "anständige(n) Nationalsozialisten" (S. 134) differenzierte. 15 I" Weswegen BraunreutherlSteiner vor allem Kautsky kritisieren. bleibt unklar (1962. S. 50). I; Der Marburger Jurist Heinrich Herrfahrdt 1933 zum Professor berufen - warfür solche Ausführungen aufgrund seiner politischen Vergangenheit prädestiniert: ein Blick in sein Schrifttumsverzeichnis zeigt folgende Titel: Aufbau des neuen Staates. 1932: Werden und Gestalt des Dritten Reiches. 1933: Führergedanke im nationalsozialistischen Staat. Aufsatz 1935: Wesens- und Werdenserkenntnis in den Wissenschaften von Rasse und Volkstum. 1937. (Quelle: Kürschner 1940/41).

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Was die Qualität der Referate betrifft, stellt sich dieser 9. Soziologentag als ein - gemessen an Kriterien der wissenschaftlichen Forschungs- und Darstellungsweise - völlig unsoziologischer Soziologentag dar. Systematische soziologische Analysen - empirischer oder theoretischer Art - wie sie noch in Ansätzen auf dem 8. ST zu verzeichnen sind, fehlen völlig. Statt dessen finden sich feuilletonistische, oft persönliche Erfahrungsberichte, deskriptive, oft völlig unsystematische Sammlungen von Alltäglichkeiten, rein spekulative Argumentationen, aller Logik widersprechende Ableitungen und schließlich offene politische Agitation. Auffällig ist auch, daß sich unter den Rednern außer den beiden Besatzungsoffizieren kein einziger (deutscher) Fachsoziologe befand. 10. Soziologentag 1950 (Detmold) Auch dieser Soziologentag stand im Zeichen zweier Oberthemen, die in Doppelreferaten abgehandelt wurden: Fedor Stepun und Schelsky sprachen über ,Heimat und Fremde', C. A. Emge und Gehlen über ,Bürokratisierung', zudem fand wieder ein Rundtafelgespräch statt. v. Wiese warf in seiner Eröffnungsansprache einen Rückblick auf die Zeit von 1946 bis 1950, in der die Soziologie es "herrlich weit" (l950/51a, S. 143) gebracht habe; aber er drückte auch angesichts der wachsenden Anforderungen an die Soziologie und ihres Abgleitens in Empirismus seine Sorge über die - noch 1946 von ihm geforderte und befürwortete - Entwicklung aus: "Und mit beängstigender Geschwindigkeit verwandelt sich Soziologie in Statistit und Verwaltungslehre." (S. 144) v. Wiese befürchtete ein Umschlagen der Entwicklung und forderte daher, daß neben den - auch von ihm als notwendig erachteten - Techniken der "schöpferische Gedanke" (ebd.) als zentrale Richtschnur der Wissenschaft stehen müsse. Fedor Stepun lieferte einen auf anekdotenhaften Schilderungen basierenden Vortrag mit antikommunistischem und paneuropäischem Impetus, der hier übergangen werden kann. Ganz im Gegensatz dazu präsentierte Schelsky einen auf einer empirischen Untersuchung der Akademie für Gemeinwirtschaft Hamburg basierenden Forschungsbericht über ,Die Flüchtlingsfamilie'. Da Schelsky diese als den "Prototyp der gewandelten deutschen Familie der Gegenwart" (KZS 1949/50, S. 499) ansah, gingen seine Schlußfolgerungen über das engere Thema hinaus und führten zu einer "entwicklungsgeschichtlichen Analyse der gesellschaftlichen Vorgänge unserer deutschen Gegenwart" (1O.ST, S. 32). Er sah eine allgemein gestiegene Mobilität und damit einhergehend eine Angleichung der Verhaltensweisen als Charakteristikum der damaligen

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Gesellschaft an. Neben solchen destabilisierenden Prozessen machte Schelsky aber auch gegenläufige Prozesse der Integration aus, u. a. in Form der Rückwendung zur Familie als Hort der Stabilität in einer in Auflösung begriffenen Umwelt und in Form einer neuen, "quer durch die alten Sozialschichtungen" (S. 35) sich erstreckenden Sozialstruktur. Die später daraus abgeleitete These der Nivellierten Mittelstandsgesellschafe 6 vertrat Schelsky auf dem Soziologentag allerdings nicht. Für die soziologische Theorie zog Schelsky aus seinen Betrachtungen folgende Konsequenzen: "Er erhebt sich dabei die Frage, ob nicht die Soziologie überhaupt gezwungen ist, für eine entwicklungsgeschichtliche Ortsbestimmung unserer Gegenwart mehrere Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung anzunehmen, will sie nicht die Tatsachen der sozialen Lage in ihrer Fülle und Widersprüchlichkeit dogmatisch vereinfachen. Diese soziologischen Theorien der gegenläufigen Prozesse würden damit ihren Charakter als Hypothesen ... deutlicher offenbaren ... " (S. 36 f.) Nach diesem Referat, das sich hinsichtlich des theoretischen Verarbeitungsniveaus und der empirischen Fundierung deutlich von anderen abhebt, sprach Emge über Bürokratisierung; sein Vortrag ist eine Mischung aus literarischen Zitaten, formalistischen Spielereien und mathematisierten Floskeln, wie es folgendes Beispiel stellvertretend illustsrieren soll: "Wir sprechen hier Simplifikation durch Identifizierung oder auferlegter Identifikation durch die Bestimmung." (S. 43) Gehlens Vortrag zum gleichen Thema artikulierte in erster Linie die Angst vor dem unbegriffenen und nicht auf seine Ursachen zurückgeführten Moloch ,Bürokratie', dem er "Allmacht und Unkontrollierbarkeit" (S. 58) attestierte. Die Autonomie der Verwaltungsapparatur erklärte er sich daraus, daß keine gesellschaftlich verbindlichen ideellen Werte mehr existieren, die die Bürokratie repräsentativ vertreten könne (S. 67). Neben dem Problem der "demokratischen Elitebildung" (S. 64) befaßte er sich besonders mit der Frage der public-relations, die er erstens unter dem Aspekt der Orientierung der Verwaltung über ihr Medium (mittels "Sozialforschungsstäbe(n)" (S. 66) bei den Ministerien) und zweitens unter dem Aspekt der Information des Volkes über die Arbeit der Bürokratie sah, wobei letzterer von Gehlen als "Erziehung der Bevölkerung" (S. 67) verstanden wurde. Die Diskussion zu den Vorträgen sind nicht protokolliert, da die DGS aus Finanzgründen keinen Protokollband veröffentlichen konnte und nur die I"

Vgl. Schelsky 1954.

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Hauptreferate in der Kölner Zeitschrift publizierte. Es kann angenommen werden, daß die Diskussion ..erstmals streng reglementiert" (Karger 1978, S. 114) verlief, da die Diskussionsteilnehmer verpflichtet waren, sich an die vorher veröffentlichten Leitsätze zu halten, und zudem ihre Wortmeldungen schriftlich vor Beginn des Soziologentages einreichen mußten. 17 Mangels Verhandlungsprotokoll kann daher nicht nachgeprüft werden, inwiefern die Klage Sauermanns über "die antiamerikanischen Äusserungen von Herrn Brinkmann und auch leider von Herrn Mackenroth" berechtigt ist. Er hielt es jedenfalls für "zweckmäßig ... , dem einzigen anwesenden Amerikaner, nämlich Herrn Rallis, ein wenig den schlechten Eindruck zu nehmen" (Sauermann an v. Wiese 19.10.1950). v. Wieses nachträglicher Kurzüberblick über das Rundtafelgespräch "Gibt es soziale Gesetze" zeigt wenig Ergiebiges zu diesem Thema, was auch der Kommentator der F.A.Z. in einem Bericht mit dem Titel "Verlegenheiten der Soziologie" monierte. v. Wiese sah sich daraufhin in einer Replik veranlaßt festzuhalten, daß bei einem Gespräch über soziale Gesetze Mißverständnisse möglich sind, "weil jeder den Terminus Gesetze anders ausleg(t)" (IO.ST, S. 71). 11. Soziologentag (Weinheim) Auch dieser Soziologentag wiederholt den formalen Ablauf der beiden vorangegagenen Kongresse mit Doppelreferaten (zur ,Berufswahl' und zum Thema ,Zellen und Cliquen') und einem Rundtafelgespräch. v. Wiese referierte in seiner Eröffnungsansprache die seitens der UNESCO erfolgte Kritik an der bundesdeutschen Soziologie und fügte ihr eigene kritische Einschätzungen hinzu. Er sah im damaligen Entwicklungsstadium der Soziologie widersprüchliche Tendenzen und wiederholte seine Warnung vor der Verwandlung von Soziologie in Statistik, in ,Research', bzw. eine bloße Schauweise in anderen Wissenschaften. Er wies mahnend darauf hin, daß es sich bei der "gegenwärtigen Lage ... mehr um den äußeren Umfang als um wahren inneren Fortschritt handelt" (S. 5). Im ersten Referat über Berufswahl gab Jürg Johannesson einen wissenschaftlichen Forschungsbericht über die der Berufswahl zugrundeliegenden Entscheidungen und unterbreitete Vorschläge für eine Verbesserung von Berufsausbildung und Berufsberatung, die eine Veränderung der individuellen Wahlentscheidungen bewirken sollten. 18 17 KZS 1949/50, S. 49 ff.; Rundschreiben 15.08.1946; Diese Regelung hatte vermutlich den Zweck, Kritiker zu bremsen. I" Seine Vorschläge könnte man in heutiger Terminologie - mit ,Flexibilität der Berufsbilder' und ,Polyvalenz der Ausbildung' umschreiben.

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Friedrich Bülow dozierte anschließend über die verschiedenen Berufsbegriffe in er Geschichte und schloß mit der Aufforderung, dem Aufstieg der Begabten mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Schelsky spitzte in der folgenden Diskussion das Problem in der Weise zu, daß er die Situation durch einen Mangel an Fachkräften in bestimmten Berufszweigen einerseits und ungenügende bzw. falsche Qualifikationen andererseits charakterisierte und für eine Anpassung der Berufswahl an das Produktionssystem plädierte (S. 57 f.). Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründe der gesamten Problematik wurden von den anwesenden Soziologen allerdings nicht diskutiert. Für das Rundtafelgespräch "Der Staat der Gegenwart und die wirtschaftlichen und außerwirtschaftlichen Interessengruppen" hatte Herrfahrdt vorab Leitsätze formuliert, in denen er die Integrationsfähigkeit von Parteien und Parlamenten in Frage stellte und nach anderen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Integration fragte. Dolf Sternberger griff diese Frage in der Weise auf, daß er als eine Möglichkeit die "Verminderung der Zahl der Parteien zur Erhöhung ihrer Integrations-Chancen" (S. 76) zur Diskussion stellte. Von der Macht der Unternehmerverbände war in diesem Rundtafelgespräch wenig die Rede; sie tauchten allenfalls als Verband der Schuhindustrie oder AG ,Knopr auf (S.72)19; statt dessen wurden die Gewerkschaften massiv kritisiert. Otto Heinrich v. d. Gablentz etwa packte das "heiße Eisen Gewerkschaft" (S. 83) an und fragte: "Ist in Recklinghausen noch das typisch Arbeiterhafte in der Kulturbewegung vertreten oder einseitige Interessen und Meinungen einer Gruppe, die sich nur subjektiv, allerdings völlig ehrlich, mit der Gesamtheit identifiziert? Auch im Punkte Mitbestimmungsrecht! ... Sind in diesem Falle diese Leute legitimiert?" (S. 83) Gegen die Identifizierung von Interessenverbänden mit den Gewerkschaften traten nur der sozialdemokratische Politiker Ludwig Bergsträsser und Wolfgang Abendroth auf. Ersterer erinnerte an die "Finanzierung Hiters durch die Großindustrie" (S. 78) und letzterer wies auf die bei seinen Vorrednern vorhandene Illusion hin, "daß ein möglichst breiter pressure-group-Kompromiß bereits jene Orientierung an demokratisch legitimem Gemeinwohl darstellt" (S. 80). Das Doppelreferat zur ,Zellen und Cliquen' von Mirko Kossitsch und v. d. Gablentz hat geringen Aussagewert, was bereits in der Diskussion moniert wurde. Max Ernst Solms kritisierte die negative Besetzung des \