Wertungsprobleme des Begriffs der finalen Handlung: unter besonderer Berücksichtigung der Struktur des menschlichen Verhaltens [1 ed.] 9783428405107, 9783428005109


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German Pages 134 Year 1966

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Wertungsprobleme des Begriffs der finalen Handlung: unter besonderer Berücksichtigung der Struktur des menschlichen Verhaltens [1 ed.]
 9783428405107, 9783428005109

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KARL·HEINZ GÖSSEL

Wertungs probleme des Begriffs der finalen Handlung

Schriften zum Strafrecht Band 5

Wertungsprobleme des Begriffs der finalen Handlung unter beeonderer Berückeichtigung der Struktur dei menechlichen Verh.ltene

Von

Dr. Karl-Heinz Gössel

DUN C K E R

&H

U M BL 0 T I

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten &: Humblot, Berlln U Gedruckt 1966 bei Alb. Sayffaerth, Berlln 61 Printed in Germany

© 1966 Duncker

Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität, München, als Dissertation angenommen. Herrn Professor Dr. Reinhart Maurach, meinem verehrten Lehrer, schulde ich für seine Hilfe beim Zustandekommen und für seinen wertvollen Rat für den Fortgang der Arbeit großen Dank, den ich an dieser Stelle nur unvollkommen abstatten kann. Auch der Hilfe des MaxPlanck-Instituts für Psychiatrie in München, dessen Büchereibestand mir freundlicherweise frei zugänglich gemacht wurde, gedenke ich gerne. Die Arbeit wurde im Herbst 1963 abgeschlossen. Von der bis zur Drucklegung erschienenen einschlägigen Literatur konnten die wichtigsten Arbeiten in Anmerkungen noch berücksichtigt werden. Die Arbeit von JÜTgen AmbTosius, Untersuchungen zur Vorsatzabgrenzung (Luchterhand, Berlin 1966), konnte keine Berücksichtigung mehr finden. Diese Untersuchung kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß der Vorsatz aufgrund seiner vorgegebenen Finalstruktur dem Unrecht zugehört (S. 86 ff.) und schon dort von der Fahrlässigkeit unterscheidbar ist (S.95). Auf Einzelheiten kann nicht eingegangen werden, zumal sich die Arbeit von AmbTosius darauf beschränkt, im wesentlichen nur die Untersuchungen von LeTsch zur Lösung lediglich des Abgl1enzungsproblems zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit heranzuziehen. KaTl-Heinz Gössel

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitende Bemerkungen zu Ausgangspunkt und Gang der Dar-

stellung ........ ...... ........................ . ....................

13

Erster Hauptteil § 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung ..........................

15

I. Das Verhältnis der Rechtsbegriffe zu den durch sie umschriebenen Erscheinungen ..................... . ...................

15

a) Die positivistischen Lehren und ihr philosophischer Hintergrund......................................................

15

b) Kritik dieser Lehren. ..... ... .. . . . ... . ... . . .. .. ... . .. . . .. . ..

18

II. Die Erkenntnis der von den Rechtsbegriffen umschriebenen Erscheinungen .............. .. ............. ...... ................ 20 a) Wirklichkeit und Geartetsein juristischer Gegenstände ......

20

1. Allgemeine erkenntnistheoretische Fragen .... ... ........

21

2. Das natürliche Weltbild und die Bedeutung fachwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Bildung der Rechtsbegriffe ............................. '. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 b) Die Bindung der Rechtsbegriffe an die Gegenstände ........

30

c) Folgerungen für den Handlul)gsbegriff ..... .. ...... . .......

32

Zweiter Hauptteil § 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

34

I. Der juristische Ausgangspunkt und die Fragestellung in der

Psychologie ...................................................

34

II. Einführender überblick über die psychologischen Systeme . .....

36

III. Das menschliche Verhalten nach den älteren Systemen der Bewußtseins- und Elementenpsychologie ............. . . .. ..... ... 38

8

Inhaltsverzeichnis a) Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle als Elemente des Seelenlebens: Herbart, Spencer, Ziehen, James, Münsterberg, Bain, Ribot, Wundt, Wentscher, Ebbinghaus ................ 38 b) Reflexe als Elemente des Seelenlebens. . .. . .. ... .. . .. . . . . ...

45

1. Reflexologie .... ~ ........... '. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

45

2. Der Behaviorismus ......................................

47

e) Endstadium und überwindung der ,Bewußtseins- und Elementenpsychologie: die Würzburger Schule.................. 48 VI. Das menschliche Verhalten nach den neuen personpsychologischen Systemen ..................................................... 52 a) Einführendes zur Personpsychologie .................... . ...

52

1. Zum Wesen der Personpsychologie .... .. ................

52

2. über die zur Personpsychologie führende Entwicklung .... 55 (a) Die Bedeutung des Unbewußten und die Tiefenpsychologie ................ .. ..... .... ..... '................. 55 (b) Die Ganzheits- und Gestaltpsychologie.. . . . .... .. .. . .. 59 b) Die verschiedenen personpsychologischen Systeme ...... .. ..

60

1. Allgemeines zur Einteilung der Systeme ..................

61

2. Die Systeme einer horizontalen Persönlichkeitsstruktur . . ..

62

3. Die schichtentheoretischen Systeme ...................... (a) Die Entwicklung zu einer Schichtentheorie der Person unter besonderer Berücksichtigung des philosophischen Aspektes ............ . ............... '. . . . . . . . . . . . . . . .. (b) Das System Rothackers ............................. (e) Das System Welleks ........ ... ....................... (d) Das System Lerschs .............. , .... ;.............. (1) Die Personschichten .............................. (2) Der Funktionskreis des Erlebens .................. (3) Die gegenseitige Verflechtung und Durchdringung der seelischen Vorgänge und der Personstrukturen (e) Das System Thomaes ................................ (f) Weitere Schichtentheoretiker und' Einwände gegen die Schichttheorie ........................................

63

63 65 68 69 69 73 79 80 81

e) Die das Verhalten konstituierenden realen Vorgänge nach den personpsychologischen Systemen ............................ 83 1. Die Antriebserlebnisse ...... .. ....................... . ...

84

2. Vorgänge der Richtung und Steuerung....................

85

3. Begriffsbestimmung des menschlichen Verhaltens ...... ..

89

Inhaltsverzeichnis

9

Dritter Hauptteil § 4 Verhaltensstruktur und der Begriff der finalen Handlung

1. Wertungsfrage und Tatsachenfeststellung ......................

91 91

II. Die Wertung der aufgereigten Verhaltensstruktur durch das Strafrecht .................................................... 93 a) Funktion des Handlungsbegriffes im Strafrecht ..... . . . . . . . ..

93

b) Kriterien der Wertung .....................................

94

1. Kriterien nach der Basisfunktion ........................

94

2. Kriterien nach der Selektionsfunktion .................... 101 c) Die Wertung des Begriffs der finalen Handlung .............. 103 1. Die zulässige Wertung durch den "finalen Handlungsbegriff"

der finalen Handlungslehre (im Sinne von Webers, Welzels, Maurachs, Nieses, Arm. Kaufmanns, Strathenwerths u. a.) im Gegensatz zu anderen als final bezeichneten Handlungsbegriffen ................................................ 103 2. Der Mangel des Begriffs der finalen Handlung ............ 110 IU. Die strafrechtliche Tauglichkeit des Begriffs der finalen Handlung im Hinblick auf die Funktion des Handlungsbegriffs im Strafrecht ..................................................... 111 a) Die Tauglichkeit im Hinblick auf die Basisfunktion .......... 111 1. Die Tauglichkeit hinsichtlich der Erfassung der Unter-

lassung .................................................. 112 2. Die Tauglichkeit hinsichtlich der Erfassung der fahrlässigen Handlung ................................................ 112 3. Die Tauglichkeit hinsichtlich der Erfassung der vorsätzlichen Handlung, insbesondere im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Handlung 114 b) Die Tauglichkeit im Hinblick auf die Selektionsfunktion ...... 118 § 5 Ergebnisse der Arbeit ............................................ 120

Literaturverzeichnis ................................................... 121

Ahkürzungsverzeichnis Im allgemeinen werden nur gebräuchliche und verständliche Abkürzungen verwendet; im besonderen: A.T.

Allgemeiner Teil

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

DRiZ

Zeitschrift "Deutsche Richterzeitung"

GS

Zeitschrift "Der Gerichtssaal"

JR

Zeitschrift "Juristische Rundschau"

Jur.Diss.

Dissertation in einer juristischen Fakultät

JZ

Zeitschrift "Juristenzeitung"

Lb.

Lehrbuch

MDR

Zeitschrift "Monatsschrift für deutsches Recht"

NJW

Zeitschrift "Neue Juristische Wochenschrift"

Phil.Diss.

Dissertation in einer philosophischen Fakultät

RG

Reichsgericht

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen; amtliche Sammlung

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

Stub.

Studienbuch

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZStrW

"Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft"

§ 1 Einleitende Bemerkungen zu Ausgangspunkt und Gang der Darstellung1 Wörter bezeichnen. Wörter bezeichnen Begriffe, Vorstellungen oder Gegenstände. Vorstellungen sind im Bewußtsein auftretende Bilder eines früher Wahrgenommenen oder eines noch-nicht-Wahrgenommenen. Begriffe sind seelische Gebilde eigener Art - sie stellen auch ohne Verbindung mit Vorstellungen klare Wissensinhalte dar: Begriffe sind Gedanken. Begriffe haben einen Gegenstand; die in dem Begriff zusammengefaßten Merkmale des Gegenstandes bilden den Begriffsinhalt. Gegenstand ist jedes gestaltete Seiende; Vorstellungen, Begriffe und Wörter können Gegenstände sein - auch das Subjekt. Das Subjekt tritt den anderen Gegenständen gegenüber und stellt durch Vorstellungen, Begriffe und Wörter Beziehungen zwischen sich und den Gegenständen her - es bezeichnet sie und stellt sie sich vor. Das Subjekt erkennt und urteilt. Wissenschaft ist Erkenntnis. Die Wissenschaft bezeichnet ihre Gegellstände, ruft Vorstellungen dieser Gegenstände hervor, macht sie zu Wissensinhalten, Gedanken, und bezeichnet sie. Die Wissenschaft bedient sich der Wörter und der Begriffe. Wissenschaft wird von Wissenschaftlern getragen, von Menschen, von Subjekten. Daraus erklärt sich, daß verschiedene Wissenschaftler den gleichen Gegenstand anders bezeichnen, andere Wissensinhalte, andere Gedanken über diese Gegenstände haben. Da Wörter und Begriffe auf den Gegenstand bezogen sind, ist es aber möglich, an Hand des Gegenstandes zu entscheiden, ob eine Bezeichnung, ein Begriff falsch gewählt ist, ob der gemeinte Gegenstand bezeichnet, begriffen ist. Das menschliche Verhalten ist ein Gegenstand der Strafrechtswissenschaft. In dieser Arbeit soll untersucht werden, ob der Begriff dieses Gegenstandes seinen Gegenstand zutreffend bezeichnet; der Inhalt des straf1

Literatur: Wittgenstein (255); Hatz (92); Schischkoff (208); Lersch (138).

§1

14

Einleitung

rechtlichen Begriffes soll mit dem Gegenstand des Begriffes! verglichen werden, und zwar am Beispiel des Begriffes der finalen Handlung. Dabei wird zunächst zu untersuchen sein, ob solch ein Verfahren zulässig ist. Das ist es nur dann, wenn es ein denkunabhängiges Objekt gibt. Würde mit der Begriffsbildung zugleich der Gegenstand erschaffen, so wäre es allein sinnvoll, die Zweckmäßigkeit der Begriffsbildung an Hand bestimmter Werte zu untersuchen. Weil der theoretische Akt den Gegenstand in dem Begriff entstehen ließe, müßten sich Begriffsinhalt und Gegenstand decken. Existiert aber ein denkunabhängiges Objekt, so kann der BegrifIsinhalt auf seine übereinstimmung mit diesem Objekt, dem Begriffsgegenstand, überprüft werden. In diesem Fall muß auch geklärt werden, wie ein Objekt erkannt werden kann. Die bisher angeschnittenen Probleme werfen eine Fülle schwieriger Fragen auf, die in einer kaum absehbaren Zahl VOn wissenschaftlichen Abhandlungen erörtert wurden. Eine umfassende Darstellung dieser Problematik würde daher eine besondere Untersuchung erfordern. Im Rahmen dieser Arbeit kann dieser Problemkreis nur als eine Vorfrage behandelt werden, deren Erörterung den Weg frei macht für das Hauptanliegen dieser Untersuchung: die Darstellung der Verhaltensstruktur und deren Bedeutung für den strafrechtlichen Handlungsbegriff. Um dorthin vorzudringen, können nur die wesentlichsten Fragen und die für den Fortgang der Arbeit wichtigsten Schriftsteller behandelt werden; dabei wird es sieb. als notwendig erweisen, auch auf zusammenfassende Darstellungen einzugehen. Danach gilt es, an Hand der gefundenen Wege den Gegenstand, hier also das menschliche Verhalten, genau zu bestimmen: begrifflich zu erfassen. Sodann wird der in der 8trafrechtswissenschaft bereits vorzufindende Begriff der finalen Handlung daraufhin untersucht, inwieweit der Inhalt dieses Begriffes mit dem Gegenstand übereinstimmt. Hier ist auch auf den wissenschaftlichen Streit einzugehen; die jeweiligen Argumente sind dabei ebenfalls im Hinblick auf den Vergleich des Inhalts des Begriffs mit dessen Gegenstand sowie im Hinblick auf die zur Bezeichnung des Begriffs verwendeten Wörter zu untersuchen. . Nachdem zuerst die Abhängigkeit des Begriffsinhalts vom Gegenstand festgestellt wurde, kann sodann abschließend geklärt werden, ob der zu untersuchende Handlungsbegriff der vorgefundenen Abhängigkeit entspricht. 2.

liatz (92), S. 45, 48.

Erster Hauptteil § 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung I. Das Verhältnis der Rechtsbegriffe zu den durch sie umschriebenen Erscheinungen a) Die positivistisdlen Lehren und ihr phllosophisdler Hintergrund

Das Recht ist ein Gegenstand der Rechtswissenschaft - das Verbrechen als bestimmt geartetes menschliches Verhalten ist ein Gegenstand des Strafrechts~ Die Frage nach der Erkenntnis dieser Gegenstände wird verschieden beantwortet. Im Rechtspositivismus wird das Recht durch und durch als Produkt des Gesetzgebers angesehen1 ; die Erkenntnis des Gegenstandes "Recht" ist die Erzeugung dieses Gegenstandes durch das Subjekt (bzw. die Subjektsmehrheit) Gesetzgeber. Als hervorragendstes Beispiel hierfür sei die Rechtsauffassung des Marxismus-Leninismus genannt, nach dem das Recht der Gesetz gewordene Wille des Volkes ist2 • Danach ist das Recht von menschlicher Willkür abhängig; eine subjektsunabhängige Realität des Rechts wird verneint'. Es war somit nur konsequent, wenn Staatsanwalt v. Ki1'chmann zu seinem berühmten Wort von der Unwissenschaftlichkeit der Jurisprudenz kam: der Rechtswissenschaft fehle im Gegensatz zu den Naturwissenschaften das von menschlicher Willkür unabhängige Erkenntnisobjekt4• Auch andere Gegenstände der Rechtswissenschaft werden in dieser Weise bestimmt, z. B. das verbrecherische Handeln im Strafrecht. So löst KeZsen das Recht wohl am radikalsten von einer diesem unabhängig gegenüberstehenden Realität: für ihn gibt· es nur juristische Personen', alle Begriffe sind als reine Rechtsbegriffe zu bilden8 • Auch Erik Wolf 1 Welzel, Strafrechtsprobleme (248), S. 4; Arthur Kaufmann, Situation (123), S.138. . ! Entwurf des Programms der SED 2. Teil, IV 2. in: Neues Deutschland v. 23.11.1962; vgl. dazu Arndt: "Gesetzesrecht und Richterrecht" in: NJW 63, S.1273ff. a VgI. hierzu etwa Arthur Kaufmann, Situation (123), S.138. 4 Welzel, Strafrechtsprobleme (248), S.4. 6 Engisch, Weltbild (59), Anm. 11 zu S, 13. G Vgl. Arthur Kaufmann, Situation (123), S. 14l.

16

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

wendet sich dagegen, daß sich der Handlungsbegriff aus empirischen Elementen aufbaue; dieser sei vielmehr ein juristischer normativer Begriff7. Nach Binding schafft sich das Recht seine eigenen Begriffe8 ; was außerhalb des Rechts Handlung ist oder heißt, sei für den Bereich des Rechts gleichgültig'. Man wird Welzel1° folgen dürfen, wenn er Belings berühmtes Wort von der Handlung als "blutleerem Gespenst"ll auch hierher rechnet. In Belings Handlungs- und Tatbestandslehre12 zeigt sich, daß die Gegenstände der Jurisprudenz als durch begriffliche Akte erschaffen angesehen werden1'. Aus der neueren Literatur wendet sich Maihofer 14 dagegen, daß ein strafrechtlicher Handlungsbegriff einen durch sinnliche Wahrnehmung gegebenen Stoff als Rechtsstoff vorfände. Für das Strafrecht sei eine solche Abstraktion von Tatsachen ungenügend, weshalb auch der Handlungsbegriff durch normative Kriterien bestimmt werde15 • Handlung sei deshalb kein realer Gegenstand, sondern ein konkreter Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt16 • Ebenso hält es Jescheck für möglich, den Handlungsbegriff rein strafrechtlich zu verstehen17 ; er kommt zu dem Ergebnis 18, daß der Aufbau des strafrechtlichen Systembegriffs "Handlung" durch die Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren nicht präjudiziert werde. Damit hält auch er den Handlungsbegriff für ein Produkt des Gesetzgebers bzw. der Strafrechtswissenschaft Treibenden. Auch Bockelmann folgt dieser Ansicht, wenn er die ontische Struktur der Handlung nicht für die strafrechtliche Betrachtung maßgebend sein läßtll • Nun ist aber nicht jeder hierher zu rechnen, der juristische Begriffe, insbesondere den Handlungsbegriff, als Wertbegriff ansieht. Man kann den Handlungsbegriff durchaus als normativen oder Wertbegriff anWolf, Typen (257), S. 6. Binding, Normen II 1 (24), S. 86, 88. I Engisch, Weltbild (59), S.14. 10 Welzel, Naturalismus (243), S.66. 11 Beling, Verbrechen (15), S.17. 12 Beling, Verbrechen (15), S. 111: "Der Tatbestand ist ein reiner Begriff ..." 13 Welzel, Um die ... (246), S.10, weist darauf hin, daß auch Max-Ernst Mayer beim Teilnahmebegriff dieser "Fehler" unterläuft. Indes lehnt dieser einen besonderen juristischen Handlungsbegriff aufs entschiedenste ab und bezeichnet es als durchaus irreführend, den "juristischen" Handlungsbegriff bestimmen zu wollen; "ein solcher müßte irgendwie von dem natürlichen abweichen und würde sich dadurch selber richten" (M. E. Mayer, Handlung [156], S. 16). 14 Maihofer, Verbrechenssystem (146), S.1. 16 Maihofer, Verbrechenssystem (146), S.3. 16 Maihofer, Verbrechenssystem (146), S.6. 17 Jescheck, Handlungsbegriff (112), S. 139. 18 Jescheck, Handlungsbegriff (112), S.154. 11 Bockelmann, Verhältnis (31), S.31. 7

8

I.

Inhalt der Rechtsbegrtlfe

17

sehen, ohne die von der Rechtswissenschaft unabhängige Realität der Handlung zu leugnen; so, wenn man nur bestimmte reale. menschliche Verhaltensweisen als juristisch bedeutsam ansieht. Hier ist Wertung als Auswahl von real Gegebenem anzusehen, an das bestimmte Rechtsfolgen geknüpft werden können; der begrüflich-theoretische Akt erschafft den Gegenstand nicht mehr, sondern er wählt gewisse real gegebene Gegenstände als Objekt der Rechtswissenschaft aus. In diesem Sinne ist auch der Handlungsbegrüf Welzels ein normativer Begriff, wie Maihofer 20 und Jescheck 21 zutreffend ausführen - erklärt doch Welzel, daß der Gesetzgeber frei ist in der Wahl, an welche realen Gegebenheiten er anschließen will22 • Entsprechendes gilt aber nicht für MezgerU , auch wenn er die Wirklichkeitsbezogenheit des Handlungsbegrüfs verlangt und einen wirklichen Inhalt desselben annimmt!'. Trotzdem nämlich sieht er den Handlungsbegrüf "durch und durch" als positiv-rechtlichen Begriff an. Dieser Begriff ruhe zwar auf den ontologischen Gegebenheiten des Menschendaseins, es komme aber allein darauf an, "was der Gesetzgeber aus diesen Gegebenheiten gemacht und gestaltet habe"25. Damit wird klar, daß auch er den Handlungsbegrüf ausschließlich als ein Produkt des Gesetzgebers aufgefaßt wissen will. Eine Mittelstellung nimmt Engisch!8 ein, der eine reale Welt annimmt, die für das Recht Anknüpfungspunkt ist; er wendet sich gegen ein spezifisch juristisches Weltbild27 • Indes nimmt Engisch nur eine von juristischer Begrüfsbildung unabhängige reale Welt an. Die dem Juristen als Rechtsstoff dienende reale Welt ist nach seiner Ansicht im Anschluß an Radbruch eine mittels sozialer Begrüfe vorgeformte Gegebenheit. Die Gegenstände in dieser Welt sind durch theoretische Akte, durch begriffliche Vorformung erzeugt worden - diese Gegenstände sind nicht denkunabhängig: denkunabhängig ist nur die sinnenfällige ungeordnete Gegebenheit28 • Diese Ansicht entspricht im wesentlichen auch der Ansicht Wolfs, der aber noch weitergehend die juristischen Gegenstände durch eine erneute begrüfliche Umformung der bereits sozial vorgeformten Gegenstände erzeugt sein läßt 29• 20 21 22

23 U

26

28 27 28 29

Maihofer, Verbrechenssystem (146), S.3. Jescheck, Handlungsbegriff (112), S.147. Welzel, Naturrecht (247), S. 198. Jescheck, Handlungsbegriff (112), S.145. Mezger, Wege (163), S. 12; StGB (160), Einl., S.9; Handlung (164), S. 120. Mezger, Handlung (164), S. 119 ff., 120. Weltbild (59). Engisch, Weltbild (59), S. 12 ff. Engisch, Weltbild (59), S.9. Welzel, Naturalismus (243), S.68.

2 Oö8sel

18

§ 2 Recht und Rechtsstoffbei der Handlung

Obwohl nach Engisch die Gegenstände der Rechtswissenschaft nicht erst durch theoretische Akte entstehen und damit subjektsunabhängig sind, ist er mit den Vertretern des Positivismus darin einig, daß jedenfalls grundsätzlich die Gegenstände vom Subjekt durch theoretische Akte erzeugt werden. An diesem Punkt wird nun ein altes Problem der Philosophie erreicht. Anfangs des 18. Jahrhunderts begründete BerkeLey den heute sogenannten subjektiven Idealismus. Er ging von der Fragwürdigkeit aller sinnlichen Wahrnehmung aus und versuchte, von einem wahrgenommenen Gegenstand alle an ihm haftenden Eigenschaften abzuziehen. Als Ergebnis fand er, daß dann von diesem Gegenstande nichts mehr übrig bleibt. Er folgerte daraus, daß es nur noch Vorstellungen im Subjekt gebe. Nach seiner Ansicht wird die Mannigfaltigkeit der Objektswelt zu einer Mannigfaltigkeit der Vorstellungen im Bewußtsein, die das Subjekt selbst erzeugt30. Unmittelbar gegeben ist nur ein bloßes Gewühl von Vorstellungen, das erst durch theoretisch-formende Akte Gegenständlichkeit gewinnt3 1 .Die extremste Durchführung dieser Ansicht findet sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bei Hans Driesch im sogenannten Solipsismus,nach dem auch die Person, ich selbst, bloße Vorstellung sein sollu. Diese Auffassungen dürften damit als philosophischer "Unterbau" der genannten rechtspositivistischen Theorien anzusehen sein. b) Kritik dieser Lehre

Gegen die Grundthesen dieser Auffassungen vom ungeformten Vorstellungsgewühl bestehen jedoch nicht unerhebliche Bedenken. Schon V. v. Weizsäcker wies in seinem Werk "Der Gestaltkreis"33 auf die Ordnung des real Gegebenen hin. Er ging davon aus, daß Wahrnehmung und Bewegung keine selbständigen Gegebenheiten darstellen, sondern nur innerhalb eines lebendigen Gesamtgeschehens auftreten. Diese Ansicht läßt sich aber mit der These vom Empfindungsgewühl nicht mehr vereinen. Auch Thure v. UexküZl 34 wendet sich gegen solche Auffassungen, indem er auch außerhalb des Subjekts die Existenz von Zwecken nachweist und eine denkunabhängige, gestaltete Realität bejaht. so Hartmann, Einführung (91), S. 37 H., 8I.

S1 Hume, sog. Englischer Sensualismus, vgl. bei Welzel, Naturalismus (243), S. 43 H. sz Hartmann, Einführung (91), S. 38. 33 V. v. Weizsäcker (239). 34 v. Uexküll (231), S. 95 H., 108.

1. Inhalt der Rechtsbegriffe

19

Entschiedener Gegner der idealistischen Lehren ist N. Hartmann35 • Er bekämpft vor allem das wesentliche Ergebnis dieser Lehren, wonach Erkenntnis stets im Erzeugen von Gegenständen durch das Subjekt bestehe. Zunächst einmal werde dabei der Unterschied zwischen Handlung und Erkenntnis verwischt. Im Anschluß an Fichte beschreibt Hartmann36 die Handlung als einen Vorgang, bei dem das Subjekt ein sich gesetztes Ziel realisiert und ein Objekt verändert. Erkenntnis dagegen sei ein Vorgang, der das Objekt unverändert lasse. Erzeuge das Subjekt aber in dem Erkenntnisvorgang den Gegenstand, so handele es und es erkenne gerade nichtS1• Die Vertreter des Idealismus bestreiten aber, daß die Erkenntnis das Objekt unberührt lasse und behaupten, ein Subjekt ohne Objekt sei nicht denkbar, wie auch ein Objekt ohne Subjekt nicht denkbar sei. Es sei nur sinnvoll, von einem Subjekt als von einem Erkennenden zu sprechen - es bestehe eine unlösbare Korrelation zwischen Subjekt und Objekt. Hiergegen wendet Hartmann ein, daß bei dieser Auffassung ja die gesamten Gegenstände, die unsere Welt ausmachen, ohne ein Subjekt nicht existierten. Dies aber sei nicht haltbar, wie schon die Geschichte der Wissenschaften zeige: die Wissenschaft erkenne immer mehr und neue Gegenstände 38 • Dieses Argument Hartmanns erscheint überzeugend - wird man doch nur schwerlich behaupten können, daß es z. B. die erst Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckten chemischen Grundstoffe (z. B. Gallium 1875, Germanium 1886) vorher nicht gegeben habe und diese erst in der Entdeckung theoretisch erzeugt worden seien. Vom Standpunkt eines extremen Idealismus aus müßte man auch den Richter ins Gefängnis werfen, da ja dieser das von ihm zu erkennende Objekt, das Verbrechen des Angeklagten, durch den Erkenntnisakt hervorbrächte. Das entscheidende Argument gegen den Idealismus gewinnt Hartmann aber auf anderem Wege. Er geht davon aus, daß Erkenntnis das Objekt nie vollständig erfaßt, sondern nur bis zu einer gewissen Grenze, der sogenannten "Grenze jeweiliger Objektion"s9. Dies zeige sich z. B. in der Physik, die ihre Gegenstände um die Jahrhundertwende nahezu vollständig erkannt zu haben glaubte, während die neuen Erkenntnisse der Atomphysik zeigten, daß die Gesetze der klassischen Physik noch unvollständig waren40 • Mit fortschreitender Erkenntnis werde nun der a5 38 37

38 39

40



Stegmüller (219), S. 245 U. Hartmann, Einführung (91), Hartmann, Einführung (91), Hartmann, Einführung (91), Hartmann, Einführung (91), Hartmann, Einführung (91),

S.71.

S. 78. S.71. S.75, 76. S.102.

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

20

Gegenstand genauer erfaßt: die Grenze der Objektion sei also verschiebbar - aber nur bis zu einer feststehenden Grenze, der sogenannten Erkennbarkeitsgrenze, hinter der das Irrationale liege 41 • Dieses Ergebnis widerlegt nach Hartmann den Idealismus. Würde der Gegenstand durch die Erkenntnis erzeugt, so müßte der Gegenstand vollkommen rational erfaßbar sein42 • Diesen überzeugenden Ausführungen Hartmanns wird man sich anschließen dürfen; es ist nunmehr zulässig, von der Existenz eines denkunabhängigen Objekts auszugehen. Im Erkenntnisakt werden somit keine Gegenstände erzeugt, sondern erfaßt43 • Damit kann all den Lehren nicht gefolgt werden, die die Gegenstände der Rechtswissenschaft als durch subjektiv-theoretische Akte erzeugte Objekte ansehen: Recht, Handlung sind keine Produkte des Gesetzgebers - sie sind denkunabhängig und der Rechtswissenschaft zur Erkenntnis aufgegeben. Mit Welzel 44 sind die Begriffe der Rechtswissenschaft als Beschreibungen eines gestalteten Seins aufzufassen.

11. Die Erkenntnis der von den Bechtsbegriffen umschriebenen Erscheinungen a) Wirklidakelt und Geartetsein juristischer Gegenstände

Nunmehr darf gefragt werden, wie die Gegenstände der Rechtswissenschaft erkannt werden können. Hier unterscheidet Engisch die Frage nach der "Wirklichkeit" juristischer Gegenstände von der E'rage, wie geartet diese juristischen Gegenstände vorzustellen sind1, und behandelt beide Fragen getrennt in zwei verschiedenen Untersuchungen2 • Die Fragen nach der Wirklichkeit und nach dem Geartetsein juristischer Gegenstände treten an zwei verschiedenen Stellen auf. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß nur in wenigen Fällen Statisches Gegenstand der Rechtswissenschaft sein wird - in den meisten Fällen sind dynamische, Prozesse Gegenstand der Jurisprudenz, Vorgänge, die einen Anfang und ein Ende haben, Vorgänge, die sich wiederholen, die an verschiedenen Orten zu gleicher Zeit oder umge-

'1 Hartmann, Einführung (91), S. 84 ff.

Stegmüller (219), S. 249 Anm. 1. Stegmüller (219), S. 245. 44 Welzel, Naturalismus (243), S.74; ebenso Arthur Kaufmann, Situation (123), S. 144 ff. 1 Engisch, Weltbild (59), S.15 Anm.18. I Engisch, Studien (57), und Weltbild (59). 42

43

H. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

21

kehrt stattfinden können, wie z. B. das Handeln eines Menschen. Es ist möglich, jeden dieser Vorgänge in seiner konkreten Individualität zu beschreiben - es ist aber ebenso möglich, die für alle Vorgänge gleiche Verlaufsform, ihre Struktur zu beschreiben: den Vorgang an sich. Soweit Vorgänge Gegenstände der Jurisprudenz sind, ist stets der Vorgang an sich Objekt der juristischen Begriffsbildung. Dieser Vorgang an sich wird nicht erst durch die begriffliche Erfassung erschaffen - er ist unabhängig davon als gemeinsames gestaltendes Prinzip aller Einzelvorgänge gegeben. Bei der Beschreibung der Objekte durch die Rechtswissenschaft also bei der Begriffsbildung - begegnet man zum ersten Mal den erwähnten Fragen nach der Wirklichkeit und dem Geartetsein juristischer Gegenstände. Sie treten aber noch ein zweites Mal auf. Sind die Objekte einmal beschrieben, sind die Gegenstände begrifflich erfaßt worden, so knüpft das Recht an das erkannte Objekt, an das im Begriff beschriebene reale Geschehen bestimmte Rechtsfolgen. Sollen diese Rechtsfolgen eintreten, dann muß ein reales Geschehen vorliegen, das in dem bereits gebildeten Begriff beschrieben, das auch Gegenstand des Begriffes ist. Dabei stellt sich die zu der Begriffsbildung umgekehrte Frage, ob ein bestimmtes reales Geschehen das in dem Begriff beschriebene, ob es Gegenstand dieses Begriffes ist. Es steht hier nicht das Dasein des Geschehens selbst in Frage, wohl aber die Beschaffenheit dieses Geschehens, also das Sosein des Daseins dieses Geschehens und ·das Dasein dieser Beschaffenheit, dieses Soseins3 . 1. Allgemeine erkenntnistheoretische Fragen

Um die Lösung beider hier auftretender Fragen bemüht sich die Philosophie, und zwar in der Erkenntnistheorie. Bekaimtlich gibt es hier verschiedene Standpunkte, die diese Fragen verschieden lösen. Als selbstverständlich darf vorausgesetzt werden, daß ein bestimmtes reales Geschehen nur dann Gegenstand des juristischen Begriffes sein kann, wenn es dem im Begriff umschriebenen Geschehen entspricht. Daraus folgt aber, daß die Frage nach der Wirklichkeit und dem Geartetsein eines realen Geschehens in beiden auftretenden Fällen von dem gleichen erkenntnistheoretischen Standpunkt aus beantwortet werden muß. Würde z. B. der Begriff "Geisteskrankheit" ein reales Geschehen zum Gegenstand haben, das vom Standpunkt des naiven Realismus aus beschrieben wird, so ist sehr wohl ein Geschehen denkbar, das dieser Beschreibung zwar nicht entspricht, wohl aber einer anderen begriff3

Engisch, Studien (57), S. 91.

22

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

lichen Beschreibung, die vom Standpunkt des kritischen oder wissenschaftlichen Realismus aus erfolgt. Würde nun bei der Begriffsbildung der naive Realismus als Ausgangspunkt gewählt, bei der Subsumtion eines Geschehens unter diesen Begriff aber vom Standpunkt des kritischen Realismus ausgegangen werden, so würde ein vom Begriff nicht erfaßtes Geschehen unter diesen Begrilf subsumiert werden! Aus diesem Grunde ist es gleichgültig, an welcher der beiden aufgezeigten Stellen die Fragen nach der Wirklichkeit und dem Geartetsein der Gegenstände juristischer Betrachtung untersucht werden. Die erste Frage nach der Wirklichkeit juristischer Objekte erörtert Engisch in seinen "Logischen Studien"4, während er die zweite Frage nach dem Geartetsein der Objekte in seinem "Weltbild"s behandelt6 • Im "Weltbild" setzt Engisch mit seinen Untersuchungen über die Wirklkhkeit der Objekte an der ersten aufgezeigten Stelle bei der Begriffsbildung ein7, während er in seiner Erörterung über das Geartetsein der Gegenstände in seinen "Logischen Studien" an der zweiten Stelle ansetzt, bei der Frage, ob ein bestimmtes reales Geschehen dem begrifflich bezeichneten Geschehen entspricht8 • Nach dem oben Ausgeführten stellen sich die genannten Fragen an beiden Stellen, und das an einer Stelle gefundene Ergebnis muß auch für die andere Stelle gelten. Aus diesem Grunde ist es berechtigt, wenn Engisch in seinem "Weltbild" wegen der Frage nach der Wirklichkeit auf seine "LogisChen Studien'" verweist, obwohl sich die logischen Studien nicht mit der Begrüfsbildung selbst befassen.

Engisch kommt zu dem Ergebnis, daß das wesentliche Merkmal des Wirklichen die äußere oder . innere Wahrnehmung ist. Entscheidend ist aber nicht die Wahrnehmung durch ein bestimmtes Subjekt, etwa durch den Richter, sondern die grundsätzliche Wahrnehmbarkeit, z. B. durch ein Subjekt mit größerer Sinnesschärfe bei Vorhandensein geeigneter Gegenstände 10• Wirklichkeit besitzen danach die der Außenwelt angehörigen Gegenstände einschließlich der körperlichen physiologischen Vorgänge. Auch die im Inneren des Menschen ablaufenden psychischen Prozesse sind danach wirklichu . Engisch benutzt in dieser Abhandlung die Begriffe "Wirklichkeit", "Realität" und "Tatsächlichkeit" als Synonyma, da er davon ausgeht, « Engisch, Studien (57), S. 37 fi.

Engisch, Weltbild (59). , Engisch, Weltbild (59), S. 12, S. 15 Anm. 18. 7 Engisch, Weltbild (59), S. 9 ff., 12. 8 Engisch, Studien (57), S. 37. • Engisch, Weltbild (59), Anm. 18 zu S. 15 auf S. 16. 10 Engisch, Studien (57), S. 55, 58, 60. U Engisch, Studien (57), S. 41.

11

II. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegrüfe

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daß sich diese Begriffe im allgemeinen decken. Dieses Verfahren wird man jedoch nicht für zulässig halten dürfen. N. Hartmanni! weist zutreffend darauf hin, daß bei der Gleichsetzung von Realität und Wirklichkeit Seinsweise und Seinssphäre miteinander verwechselt werden: die Seinssphäre der Realität trage auch die anderen Seinsweisen der Möglichkeit und der Notwendigkeit in sichlI, zum anderen gebe es auch eine Idealwirklichkeit14 • Da Engisch aber den von ihm benutzten Begriff der Wirklichkeit gegen das Zukünftige, gegen ideal seiende Werte 15 und gegen Sinnestäuschungen, gegen Scheinl6, abgrenzt, wird man die Schrift Engischs dahin auslegen dürfen, daß untersucht wurde, wann ein Gegenstand für die Rechtswissenschaft als vorhanden gilt: es geht hier also um das Dasein der juristischen Gegenstände.

Engisch zeigt nun auf, daß die Antwort auf die Frage, ob ein reales Geschehen dem im Begriff umschriebenen entspreche, eine Eigenschaft dieses Geschehens ist und also zu deren Sosein rechnet17 • Demgemäß muß auch die Frage nach dem Sosein, nach der Beschaffenheit der juristischen Gegenstände geklärt werden: dabei ist mit Hartmann davon auszugehen, daß es kein Seiendes gibt, das nur Dasein, aber kein Sosein hat l8•

Engisch kommt in seiner Arbeit "Vom Weltbild des Juristen" zu dem Ergebnis, daß die Gegenstände, an die der Jurist anknüpft, der Welt des modernen Kulturmenschen angehören; es sei die Alltagswelt "in der sich auch die Geschichte abspielt", es sei "der menschliche LebensHartmann, Möglichkeit (89), S. 54. Hartmann, Möglichkeit (89), S.197; Schischkoff (208), S.497: Realität. 14 Hartmann, Möglichkeit (89), S. 54. . 111 Engisch, Studien (57), S. 42. 18 Engisch, Studien (57), S. 54. 17 Bei der Ermittlung dieses Soseins behandelt er die schwierige Frage der Abgrenzung zwischen Tatsachenfeststellung und Rechtsfrage (Wertung), und er kommt zu dem Ergebnis, daß es eine Reihe von Fällen gibt, in denen eine solche Abgrenzung nicht möglich ist (Studien [57], S.113, ebenso Eb. Schmidt, StPO [213], Rand-No.4 zu § 337 StPO). Eine Tatsachenfrage liegt danach dann vor, wenn "die Frage, ob ein Fall den vom Gesetz gemeinten Fällen gleichzuachten ist,' aUf GruIid einer· ... · Beschreibung in TatsachenbeIlriffen ... beantwortet werden kann" (Studien [57], S. 113) --'- eine Rechtsfrage dann, wenn die gleiche Frage "nicht ohne Vergleich mit den vom Gesetz gemeinten Fällen" (Studien [57], S. 93, 95) beantwortet werden kann. Damit wird aber die an dieser Stelle allein interessierende erkerintnistheoretische Frage nach der ErkenIitnis des Soseins nicht beantwortet - aber darüber hat Engisch in seiner bereits erwähnten Arbeit vom "Weltbild ..." ausführliche Erörterungen angestellt (59, S. 15, Anm. 18). Im übrigen wird dieses von Engisch aufgeworfene Problem der Abgrenzung von Tatsachenfeststellung und Wertungsfrage an späterer Stelle (im § 4 unter I) noch behandelt werden. . 18 Stegmüller (219), S.257. l!

18

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§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

und Tätigkeitsraum in der Geschichte"19. Die juristischen Gegenstände gehören damit nach Engisch keineswegs "der naturwissenschaftlich gesehenen Welt der Atome, Protonen, Elektronen" an, und" ... auch nicht der Welt physiologischer und biologischer Prozesse, nicht der Welt der einfachen Empfindungen im Sinne der wissenschaftlichen Psychologie"zo. Der Jurist könne es sich leisten, "die wissenschaftliche Auflösung dieses (natürlichen!1) Weltbildes durch die moderne Naturwissenschaft nicht mitzumachen"!!; deshalb sei es auch ganz verfehlt, "sich in die Subtilitäten der wissenschaftlichen Vorsatz- und Willenspsychologie zu verlieren, um die Sachverhalte genauer in den Blick zu bekommen, die durch die entsprechenden Rechtsbegriffe gemeint sind"!s. Da die vorliegende Arbeit sich die psychologische Durchleuchtung des juristischen Handlungsbegriffes zum Ziel gesetzt hat, müßte die Arbeit an dieser Stelle abgebrochen werden, wenn diese Ansicht Engischs zuträfe. Indes sind dagegen erhebliche Bedenken vorzubringen. Zunächst ist festzuhalten, daß Engisch die Frage nach dem Sosein der Gegenstände vom Standpunkt der natürlichen Weltanschauung eines modemen Kulturmenschen aus lösen will, also vom Standpunkt des sogenannten "naiven Realismus"u. Andererseits spricht Engisch einem Gegenstand bereits dann Dasein zu, wenn er irgendwie wahrnehmbar ist. Es gibt nun aber viele Gegenstände, die der modeme Kulturmensch nicht wahrnimmt und auch nicht wahrnehmen kann, sehr wohl aber der Wissenschaftler (als Beispiel sei eine Geisteskrankheit im Frühstadium genannt). Nach Engisch käme diesem Gegenstand zwar Dasein, aber kein Sosein zu, weil er die Frage nach dem Sosein vom Standpunkt des naiven - die Frage nach dem Dasein aber vom Standpunkt des kritischen oder wissenschaftlichen Realismus aus lösen will. Hier muß jedoch beachtet werden, daß jedem Sosein auch ein Dasein zukommt nach dem bei Stegmüller zitierten Beispiel N. Hartmanns 25 ist z. B. das Sosein einer roten Kugel das Dasein der Röte an ihr. So ist die Be18 Engisch, Weltbild (59), S.16 H. 20 Engisch, Weltbild (59), S. 16; Hatz (92), S. 59 U. Z1 Eigene Einfüg. ZI Engisch, Weltbild (59), S. 15. 23 Engisch, Weltbild (59), S.39. So auch in seinen "Untersuchungen U (55, S.27). Zwar gesteht Engisch hier zu, daß der Gesetzgeber die Vorgänge, an die er anknüpft, mit psychologischen Begriffen beschreiben darf (55, S. 28), damit weicht er aber nicht von seiner Grundauffassung ab, daß die Psychologie jedenfalls zur Erkenntnis juristischer Gegenstände nicht herangezogen werden darf. zc Engisch, Weltbild (59), S.19 Anm.25. u Stegmü1ler (219), S. 258.

11. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

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schaffenheit, das Sosein eines Gegenstandes gleichzeitig auch das Dasein dieser Beschaffenheit. Bejaht man also die Existenz eines Soseins, so ist gleichzeitig die Existenz eines Daseins mitbejaht worden und umgekehrt. Da nun aber verschiedene erkenntnistheoretische Auffassungen die Frage nach dem Dasein eines Gegenstandes verschieden beantworten, müssen Dasein und Sosein von den gleichen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkten her betrachtet werden: sonst käme dem gleichen Gegenstand einmal ein Dasein in seinem Sosein zu, ein andermal aber nicht. Daraus ergibt sich die Unzulässigkeit, die Frage nach dem Sosein und die Frage nach dem Dasein von verschiedenen erkenntnistheoretischen Standpunkten aus zu beantworten. 2. Das n a tür I ich eWe 1 t bild und die B e d e u tun g fachwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Bildung der Rechtsbegriffe Engisch kann weiter nicht zugestimmt werden, wenn er der Wissenschaft vorwirft, die natürliche Welt in eine Welt der Empfindungen und Atome aufzulösen26, so daß sich daraus jede Wissenschaft ihre eigene Welt neu zu konstruieren hätte27 mit der Folge, daß spezialwissenschaftliche Ergebnisse für die Erkenntnis der Struktur juristischer Gegenstände weitgehend unbrauchbar wären.

Diese Ansicht beruht auf der Annahme, daß jedenfalls die Naturwissenschaften und die Psychologie nur ein zusammenhangloses Gewühl von Empfindungen oder Atomen vorfinden, aus dem erst durch theoretische Akte, begriffliche Umformung, die Gegenstände der jeweiligen Wissenschaft konstruiert werden. Diese Ansicht wurde bereits oben aus philosophischen Gründen abgelehnt - sie muß hier aber erneut behandelt werden; beim Verhältnis der Rechtswissenschaft zum Rechtsstoff konnte Engisch der Problematik dadurch entgehen, daß er den Rechtsstoff bereits aus dem Chaos der Atome und Empfindungen vorgeformt sein ließ und damit durch Zwischenschaltung einer neuen Schicht eine von den Begriffen der Rechtswissenschaft unabhängige Gegenstandswelt annahm. Dadurch wurde das Problem indes nur verschoben, wie das Beispiel zeigt: stellt es sich doch bei der Frage nach der Erkenntnis des Rechtsstoffes erneut. Während Engisch in seinem "Weltbild"28 die Ansicht vom ungeordneten Chaos des unmittelbar Gegebenen zugrunde legt!9, läßt er in seiner Abhandlung über "Die 28 27 28 29

Engisch, Engisch, Engisch, Engisch,

Weltbild Weltbild Weltbild Weltbild

(59), S. 15 ff. (59), S. 19. (59). (59), S.1.

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

26

Idee der Konkretisierung ... "30 die Frage, ob der realen Welt bereits eine Ordnung zukommt, ausdrücklich dahingestellt. Diese Frage hält er für eine Frage des philosophischen Glaubens; der Jurist müsse "versuchen, ohne dergleichen Hypothesen auszukommen" und von "philosophischen Spekulationen" sei Abstand zu nehmen 31 • Schon Welzel3! wendet sich wegen der sich daraus ergebenden Konsequenzen entschieden dagegen, dieses Problem in der Schwebe zu halten; mit ihm muß eine Beantwortung gefordert werden - wäre es richtig, daß unmittelbar nur ein Empfindungs- oder Atomchaos gegeben ist, so wäre es in der Tat sinnlos, den Handlungsbegriff im Strafrecht an Hand fachpsychologischer Untersuchungen durchleuchten zu wollen: wird doch das unmittelbar Gegebene durch den Naturforscher anders theoretisch geformt als durch den modernen Kulturmenschen Engischs, an dessen Gegenstandswelt der Jurist anzuknüpfen hätte. Es wird Engisch nicht gefolgt werden können, wenn er die Frage nach den immanenten Ordnungen im Leben dem Bereich der philosophischen Spekulation zuweist. Schon die erwähnten Arbeiten Viktor v. Weizsäckers 33 und Th. v. Uexkülls 34 sowie die dort zitierte Arbeit J. v. Uexkülls, "Der Funktionskreis", auch von Bergmanns: .,Funktionelle Pathologie" weisen darauf hin, daß solche Ordnungen im Rahmen fachwissenschaftlicher Untersuchungen auffindbar sind, und daß die modernen Wissenschaften vom Menschen und von der Natur keineswegs ihre Gegenstände in eine Art pulverisiertes Gemenge von Atomen und Empfindungen zerlegen. Vielmehr werden mit fortschreitender Erkenntnis immer mehr Gestalten, Strukturen und Formen sichtbar. Man nehme nur einmal das Werk Adolf Portmanns "Neue Wege der Biologie"35 zur Hand - man wird feststellen, daß das Leben durchgehend geordnet und strukturiert ist ~ von einem ungeordneten Chaos von Zellen und dergleichen kann keine Rede sein. Gleiches gilt von anderen Wissenschaften, jedoch würden hier Einzelheiten zu weit führen. Im Rahmen dieser Arbeit muß der Nachweis genügen, daß die neuen fachpsychologischen Untersuchungen38 über das menschliche Handeln keinesfalls eine Welt von Empfindungen ergeben, sondern eine Welt wohlstrukturierter Gegenstände - aber diese Fragen werden im § 3 dieser Arbeit erörtert werden. so 31 3! 33

34 85 38

Engisch, Idee (60). Engisch, Idee (60), S. 101. Welzel, Besprechung (250), S.627, 633. V. v. Weizsäcker (239). Th. v. Uexküll (231). Sammlung Piper, München 1960. Anders: die alten Lehren, vgl.: u. § 3, III; Haensel (85), insbes. S.80.

II. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

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Nun ist es zwar richtig, daß die Fachwissenschaften auch Zellen, Atome, Empfindungen und dergl. behandeln - diese Elemente sind aber ihrerseits strukturiert und ergeben je nach ihrem Aufbau wiederum bestimmt strukturierte andere Gegenstände. Diese aus Zellen oder Atomen aufgebauten Gegenstände sind nun nicht in Zellen oder Atome auflösbar: vielmehr handelt es sich stets um ganzheitliche Strukturen, die bei Herausnahme einzelner Zellen oder Atome zerbrechen bzw. umgeformt werden37 • Hier ist auf das vielzitierte Beispiel von V. Ehrenfeis von der Melodie und ihren Tönen hinzuweisen38 • So haben die Fachwissenschaften viele Gegenstände und nicht nur Atome, Zellen und Empfindungen und dergleichen: daher ist es durchaus möglich, daß ein Gegenstand der Rechtswissenschaft zugleich ein Gegenstand z. B. der Psychologie ist. Da die Psychologie in diesem Fall die Struktur dieses Gegenstandes erforscht und ihn nicht etwa in Empfindungen oder ähnliche Elemente zerlegt und damit zerstört, können auch die psychologischen Erkenntnisse bei der juristischen Betrachtung und Erfassung desselben Gegenstandes herangezogen werden. Hier tritt nun die Frage auf, inwieweit neben den empirischen Einzelwissenschaften die Philosophie noch berechtigt ist, spezifisch philosophische Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Leugnet man mit einem Teil der modernen Philosophen (der sog. Wiener Kreis, Schlick, Carnap) die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori, so wird man diese Frage verneinen müssen39 • Die zunehmende einzelwissenschaftliche Erkenntnis unabhängig von der Philosophie und die Widerlegung mancher apriorischer Urteile scheint dafür zu sprechen - auch Hartmann scheint dieser Ansicht zuzuneigen40 • Diese Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, hier genügt es, nachgewiesen zu haben, daß es 37 T. v. Uexküll (231), S.69; Rothacker (196), S.21: "Methodisch ist es für die theoretische Biologie, die in den letzten Jahren in eine ganz neue Phase umfassender Gesamtdarstellungen getreten ist, geradezu grundlegend festzustellen, ... daß ... alles Lebendige sich uns phänomenOlogisch von vornherein als ein eigentümlicher Seinsbereich darbietet und schlicht gibt. Dem Mechanisten genauso wie dem Vitalisten geben sich Lebewesen als Ganzheiten, die durch ,Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung (in räumlicher und zeitlicher Hinsicht)' und Gleichgewicht mit ihrer Umgebung charakterisiert sind". Vgl. auch die dort zitierten Autoren. 38 z. B. D. Katz, Richtungen (117), S. 85; Lersch (138), S. 372. 38 Stegmüller (219), S. XXII; Wittgenstein (255), S.91, 5.634. 40 Hartmann, Aufbau (90), S.2; besonders ausdrücklich aber Wittgenstein (255), S.115: ,,6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer MetaphysiSches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. ... 7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

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zulässig ist, andere einzelwissenschaftliche Erkenntnisse zur Erkenntnis der Struktur juristischer Gegenstände heranzuziehen. Engisch könnte indes diese Argumentation nicht gelten lassen, da er von seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus gehindert ist, die Ergebnisse solcher wissenschaftlicher Untersuchungen zu verwenden: geht er doch bei der Frage nach dem Sosein vom Standpunkt des naiven Realismus aus.

Der Auffassung Engischs, die Welt des Juristen sei die des modernen Kulturmenschen, kann ebenfalls nicht gefolgt werden. Der Jurist verläßt sich gerade nicht auf die natürliche Sinneserkenntnis. In einem Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche muß im Hinblick auf die verschiedenen Folgen des Entmündigungsgrundes - z. B. § 114 BGB - geprüft werden, ob die Fähigkeit vernünftiger Willensbildung der eines Kindes unter 7 Jahren oder der eines Minderjährigen über 7 Jahren entspricht41 • Diese Frage nach der Beschaffenheit der Willensbildung wird vom Richter nicht nach der natürlichen Sinneserkenntnis entschieden, sondern auf Grund der Erkenntnisse spezifischer fachwissenschaftlicher Untersuchungen von Sachverständigen, die der Richter nach §§ 655/671 ZPO hinzuziehen muß. Zwar entscheidet der Richter selbständig - aber er verläßt sich dabei eben nicht auf seine natürliche Sinneserkenntnis, sondern auf die wissenschaftliche Erkenntnis. Hier ist auch der Ausweg nicht mehr möglich, daß sich das natürliche Weltbild diese Art der Feststellung einer Geisteskrankheit zueigen gemacht hat - außer dem Wissenschaftler ist diese Feststellung niemandem sonst möglich. Ist es in einem Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Gesetz über den Verkehr mit 'Unedlen Metallen fraglich, ob der Ang,eklagte mit Messing oder mit einer Gold- oder Platinlegierung gehandelt hat, steht also die Sobeschaffenheit des gehandeltenMetalls in Frage, so werden wissenschaftliche Methoden herangezogen, die eine Unterscheidung auf Grund der verschiedenen atomaren oder molekularen Struktur und der sich ' daraus ergebenden verschiedenen chemischen Reaktionen ermöglichen. Auch hier kann nicht gesagt werden, daß der moderne Kulturmensch auf Grund natürlicher Anschauung den Unterschied feststellen könne. Gleiches gilt in den Fällen der §§ 1591 und 1717 BGB, in denen die Abstammung ,eines Kindes, also erneut die Sobeschaffenheit, das Sosein, in Frage steht. Hier werden ebenfalls fach wissenschaftliche Untersuchungen angestellt - und sogar ein Dritter hat Untersuchungen zu dulden - "soweit die Untersuchung nach den anerkannten Grundsätzen 41

Palandt (180), Anm.2a zu § 6 BGB.

II. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

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der Wissenschaft ,eine Aufklärung des Sachverhalts verspricht"42. Weiter muß in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des BGH hingewiesen werden, in dem technisch-physikalischen Erkenntnissen der absolute Vorrang vor menschlichen Beobachtungen eingeräumt wird - nur beim Versagen der technischen Apparatur darf menschliche Beobachtung herangezogen werden43 • Die Gegenstände in der Welt von Engischs Kulturmenschen sind aber auch viel zu unbestimmt, als daß sie Gegenstände der Wissenschaft vom Recht sein könnten - abgesehen davon, daß es schwierig sein dürfte, ,eine einheitliche Gegenstandswelt der Kulturmenschen festzustellen. So wäre z. B. bei dem Gegenstand des menschlichen Verhaltens auf die Begriffe der sogenannten Vulgärpsychologie zurückzugreifen, was Hellmuth Mayer4 4 mit Recht ablehnt, weil dieser Sprachgebrauch zu unbestimmt sei; statt dessen fordert er eine wissenschaftlich exakte Definition des Vorsatzes. Hier ist insbesondere auch WeZzeZ zu nennen, der schon im Jahre 1941 45 gefordert hat, daß sich die Strafrechtswissenschaft an den Ergebnissen der Psychologie orientieren soll. Zwar hielt WeZzeZ damals46 eine Berücksichtigung psychologischer Einsichten allein nicht für ausreichend, da diese eine nach seiner Ansicht erforderliche Gesamtschau des Menschen nicht ermöglichen würde47. Insbesondere fordert er zusätzlich die Berücksichtigung der von Gehlen und Rothacker herausgearbeiteten Ergebnisse. In der modernen Psychologie von heute sind 42 § 372a ZPO. 43 BGH in NJW 63, S. 586 H. In dem angeführten Urteil stand die Messung eines Fahrtenschreibers den übereinstimmenden Aussagen zweier Zeugen gegenüber. Der Fahrtenschreiber hatte zwischen bestimmten Ereignissen bestimmte Geschwindigkeiten gemessen, die nach den Zeugenaussagen niedriger waren. Der BGH führt auf S.587 a.a.O. wörtlich aus: " ... der Fahrtschreiber ein eigens zu dem Zweck konstruiertes Gerät ist, die erhebliche Unzuverlässigkeit menschlicher Geschwindigkeitsschätzung auszuschalten ...". Die Feststellung der Höhe - also einer Eigenschaft - der Geschwindigkeit erfolgt also auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Beispiele mögen genügen. Engisch scheidet aber auch die Welt des Erzählers von der Welt des Naturwissenschaftlers (Weltbild [59], S.16). Angesichts der Ausführungen Gottfrieds Benns in seinem "Gespräch", der auch in der Kunst vom Dichter eine naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt verlangt (poeta doctus), muß auch diese Ansicht Engischs angezweifelt werden (Gottfried Benn, Lyrik und Prosa, Briefe und Dokumente. Eine Auswahl. Limes-Verlag, Wiesbaden 1962, S. 6, 8, 10). 44 H. Mayer, A. T. (155), S.246. 45 Welzel, Persönlichkeit (245). 48 Welzel, Persönlichkeit (245), S.429. 47 Welzel, Persönlichkeit (245), S. 429 U.

30

§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

diese Gedanken nunmehr weitgehend berücksichtigt, wie unter § 3 dieser Arbeit ausführlich gezeigt werden wird; dieser Einwand Welzels kann daher keine Geltung mehr beanspruchen. Ebenso wie WeZzeZ forderte Stanciu 1963 auf der Jahrestagung der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft eine naturwissenschaftliche Betrachtung des Verbrechens48 • Auf den gleichen Standpunkt stellt sich auf psychologischer Seite Voigt, der fordert, daß die psychologischen Ergebnisse auch von der Rechtswissenschaft beachtet werden, und sich im Hinblick auf die Gefahr richterlicher Fehlurteile scharf gegen die unwissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Verhaltens wendet49 • Auch diese überlegung führt damit zu dem bereits bekannten Ergebnis, wonach die Einzelwissenschaften befragt werden dürfen, wenn ermittelt werden soll, ob gewissen Gegenständen des Rechts eine Ordnung zukommt und welcher Art diese Ordnung ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es von juristischer Begriffsbildung unabhängige Gegenstände gibt, die der Rechtswissenschaft als Objekte zur Erkenntnis aufgegeben sind. Soweit diese Gegenstände auch Objekte anderer Wissenschaften sind, dürfen und müssen zwecks möglichst präziser Bestimmung die Ergebnisse dieser Wissenschaften herangezogen werden60 • Nunmehr kann die Frage nach der Bindung der juristischen Begriffsbildung an das reale Objekt behandelt werden. b) Die Bindung der RechtsbegrIffe an die Gegenstände

Jeder reale Gegenstand besitzt eine kaum absehbare Menge von Merkmalen. Wenn auch der Begriff den Gegenstand beschreibt, so muß der Begriffsinhalt doch nicht alle Merkmale dieses Gegenstandes enthalten. Vielmehr brauchen nur die Merkmale erfaßt zu werden, die gerade diesem Gegenstand wesentlich sind61 : das sind einmal alle diejenigen Merkmale, ohne deren Vorhandensein der Gegenstand selbst nicht mehr vorhanden wäre und zum andern solche, durch die sich 48 NJW 63, S.575; Diese Forderung scheint in der Kriminologie bereits weitgehend verwirklicht; vgl. H. Kaufmann (124), S. 193 ff. 49 Voigt (232), S.148: "Aus Denkbequemlichkeit und in Anpassung an unkritisches Massendenken sind in Bezug auf die Beurteilung der Jugend überhaupt und der jugendlichen Rechtsbrecher im besonderen Denknormen entstanden, durch die das Individuum vor dem Richter so in die Masse eingeschmolzen wird, daß es gar nicht mehr zu erkennen ist, und es direkt zu Fehlbeurteilungen kommt, welche die Gefahr der ungerechten Verurteilung durch den Richter in sich tragen." 60 Welzel, Naturalismus (243), S.76; Persönlichkeit (245), S.429; Hatz (92), S.ll. 61 Hatz (92), S. 61 ff.

II. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

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der zu erfassende Gegenstand von anderen, ähnlichen Gegenständen unterscheidetu. Entschließt sich also der Jurist, an einen bestimmten realen Gegenstand bestimmte Rechtsfolgen zu knüpfen und zu diesem Zweck diesen Gegenstand begrüflich zu erfassen, so muß der Inhalt dieses Begrüfs diese soeben herausgestellten wesentlichen Merkmale des Gegenstandes umfassen - tut er es nicht, so ist nicht dieser Gegenstand, sondern etwas anderes beschrieben worden. In diesem Sinne ist der Jurist bei der Begrüfsbildung an die Gegenstände gebunden - darin besteht die Bindung der Rechtswissenschaft "an die Natur der Sache". Der Jurist ist jedoch frei in der Wahl seiner Gegenstände - er kann die Gegenstände, an die er Rechtsfolgen anknüpfen will, frei auswählen und sie beschreiben - er muß sie allerdings in dem erwähnten Sinne richtig bezeichnen. Dieser Vorgang darf nun als "juristische Wertung" bezeichnet werden: der Jurist bewertet gewisse reale Objekte als rechtlich bedeutsam. über diese Art der Bindung und der Freiheit des Juristen bei der Begrüfsbildung besteht nun weitgehend Einigkeit. Hier ist schon Max-Ernst MayeT zu nennen, der einen Unterschied zwischen juristischer und natürlicher Handlung ablehnt. Ganz im Sinne der hier angeführten juristischen Wertung läßt er nur zu, daß man die rechtlich erhebliche von der rechtlich unerheblichen Handlung trennt53 . Kempermann fordert, daß der Jurist die Gegenstände so erfassen soll, wie sie sich ihm darbieten5'. Auch LOTenz weist darauf hin, daß es die Jurisprudenz mit "offenkundigen Lebensvorgängen" zu tun55 hat. In gleicher Weise darf auch die Außerung Germanns verstanden werden, wonach Handlung "der an sich wertindifferente ... Gegenstand ... rechtlicher Wertungen"56 ist. Auf diesem Standpunkt stehen vor allem die Vertreter der sog. "finalen Handlungslehre"; es wird hier genügen, beispielhaft auf Armin Kaufmann 51, Welzel 58 und u Wittgenstein (255), S. 14 i., 2.02331. 53

M. E. Mayer, Handlung (156), S. 16.

5' Kempermann (126), S. 6. 55 Lorenz (144), S.373, S.375: "Was vor dem Tatbestand liegt, darin hat der Gesetzgeber keine Wirksamkeit; er kann es auch nicht entscheiden. co . 56 Germann (79), S. 488. 51 Armin Kaufmann, Dogmatik (121), S. 20 U. 68 Welzel, Bild (252), S. XI; Naturalismus (243), S. 76 i. und Naturrecht (247), S.198: sog. ,relative Bindung': die "ewigen Wahrheiten der sachlogischen Sphäre können den Gesetzgeber gewiß nur ,relativ' binden, nämlich bedingt dadurch, welche von ihnen er als Grundsatz wählt, binden ihn dann aber nicht minder streng als jede sonstige sachlogische Notwendigkeit ... "

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§ 2 Recht und Rechtsstoff bei der Handlung

Maurach 51 zu verweisen60 • Im wesentlichen steht auch Engisch auf diesem Standpunkt, wenn er auch in einigen Fällen eine andere Ansicht als die genannten Vertreter der finalen Handlungslehre über die Struktur der Gegenstände vertritt, an die das Recht anzuknüpfen hat61 . In einer früheren Arbeit6! stellt Engisch nur die Frage, "ob der Wirklichkeit eine bestimmte Ordnung immanent sei" alternativ der anderen Frage gegenüber, "ob das Recht selbst souverän darüber entscheidet, welche Rechtsfolgen an welche Realitäten angeschlossen werden"63. Nach dem Gesagten ergibt sich aber, daß die letztgenannte Frage auch dann positiv beantwortet werden kann, wenn der Wirklichkeit eine bestimmte Ordnung immanent ist. Nach der freien Entscheidung des Juristen über den als rechtserheblich auszuwählenden Gegenstand bleibt allein die Frage nach der sachlogischen Struktur des Gegenstandes. c) Folgerungen für den Handlungsbegriff

In einem speziellen Fall soll nun einmal dem Problem der sachlogischen Struktur nachgegangen werden. Das geltende Strafgesetz·· buch verwendet an vielen Stellen die Wörter "Handlung" und "Tat", :.1:. B. in den §§ 1; 2 Abs.2 und 3; 3; 43; 47; 51; 52 Abs.l; 54; 59; 73; 74 Abs.l; 79; 101; 361 Nummer 1 und 366 Nummer 1 StGB. Daneben werden in den meisten Bestimmungen des besonderen Teils des StGB Tätigkeitswörter benutzt, die bestimmtes menschliches Handeln beschreiben: z.B.: "Töten" in den §§ 211, 212, 217 StGB; "Einsperren" im § 239 StGB; "Wegnehmen" in den §§ 242, 249 StGB; "Herstellen" im § 267 StGB usw.

11. Maurach, A. T. 3. Auf!. (152), S. 136, 156. In diesem Sinne muß auch G. Strathenwerth (Natur [222], S.17) verstanden werden: wenn er davon ausgeht, daß sich die sachlogischen Strukturen nur "unter einem bestimmten Gesichtspunkt als wesentlich herausheben", so geht er davon aus, daß diese Strukturen unabhängig von begrifflicher Erfassung bestehen, denn sonst würden sie sich nicht herausheben können. Der Hinweis auf die ,Blickrichtung' darf wohl so verstanden werden, daß nur die im oben erwähnten Sinne als wesentlich erkannten Merkmale gemeint sind; die gewählten Beispiele erscheinen indes insofern als unglücklich gewählt, als bei Fehlen gewisser physiologischer oder psychologischer Vorgänge durchaus ein reales Geschehen vorliegen kann, das nicht mehr dem Gegenstand des juristischen Handlungsbegriffs entspricht. 61 Da Engisch die juristischen Begriffe auch nicht unmittelbar an das Chaos des unmittelbar Gegebenen anschließt, sondern an eine mittels sozialer Begriffe bereits vorgeformte Gegebenheit, mußte er auch wie die erwähnten Finalisten auf dieses Problem stoßen. Im übrigen vgl. Engisch, Natur (66), S. 93 ff; Idee (60), S. 101 11. 82 Engisch (Idee), 60. 63 Engisch (Idee), 60, S. 102. 80

H. Erkenntnis des Inhalts der Rechtsbegriffe

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In all diesen Fällen werden an das menschliche Verhalten Rechtsfolgen geknüpft - es ist unschwer zu erkennen, daß "Handlung" ein Zentralbegriff der Rechtswissenschaft ist.

Dieser Zentralbegriff ist nun im geltenden StGB nirgends näher beschrieben, aber in der Wissenschaft ist sein Aufbau äußerst heftig umstritten, so daß mehrere Handlungsbegriffe gebildet wurden. Nach der hier vertretenen Ansicht beschreiben Begriffe denkunabhängige Objekte - daher ist es zur Klärung erforderlich, den realen Gegenstand "Handlung" zu ermitteln. Dies soll im folgenden Paragraphen geschehen.

Zweiter Hauptteil § 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens I. Der juristische Ausgangspunkt und die Fragestellung in der Psychologie Die Erforschung des realen Gegenstandes "Handlung" müßte Hauptanliegen einer "Wissenschaft vom menschlichen Verhalten" sein. Dem Namen nach gibt es keine solche Wissenschaft - indes befaßt sich die Philosophie schon seit der Antike mit diesem Gegenstand. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts verselbständigte sich die wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Verhaltens, und es entstand die Psychologie als neue, eigenständige Wissenschaft1, die nach McDougall dem Inhalte nach die "positive Wissenschaft von den Verhaltensweisen lebender Wesen" ist!. Noch immer ist das menschliche Verhalten Gegenstand der Philosophie - auch ohne hier zu dem in anderem ZusammenhangS erörterten Problem, ob die Philosophie neben der Psychologie zu Aussagen über die Wirklichkeit berechtigt sei, Stellung zu nehmen, darf jedenfalls so viel gesagt werden, daß auch die Psychologie einer philosophischen Fragestellung nicht entraten darf und kann. So verzichtet die Psychologie nicht darauf, die Fragen zu behandeln, worin der seinsmäßige Sinn und Rang des Wollens und Handelns liege und ob der Mensch sein Dasein in den seelischen Erlebnissen als biologisches oder als geistLges Wesen verwirkliche4• Diese anthropologischen und echt philosophischen Fragen stehen neben den anderen nach der Erfassung der realen Sachverhalte Handlung und menschliches Verhalten.

Lersch unterscheidet in seinem "Aufbau der Person"5 diese beiden Fragen. So nennt er einmal das Feststellen und Klären seelischer Tatsachen als Aufgabe weiter Gebiete der Psychologie, zum anderen fordert Lersch (138), S. 73. McDougall (49), S. 19. 3 §2 IIa2, S.27. " Lersch (138), S.70, 74. 11 Lersch (138). 1 !

I. Juristischer Ausgangspunkt und psychologische Fragestellung

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er mit einem Worte WindeZbands, wonach Philosophie das "Zu.-EndeDenken" der Tatsachen sei, das Zuendedenken der aufgefundenen seelischen ~atsachen und damit eine echt philosophische Betrachtung8 • Ebenso trennt Miinsterberg die erkenntnistheoretische, philosophische Frage nach der "absolut wirklichen Ursache" der Willenshandlung von der Frage, wie uns diese Willenshandlung in innerer und äußerer Erfahrung gegeben seF. KeHer stellt die Notwendigkeit der beiden Fragen nach der verlaufsmäßigen Erscheinung des Wollens und nach dessen seinsmäßigem Sinne heraus 8• Die erste Frage nach der Struktur des Wollens und nach den empirisch aufweisbaren Erscheinungen und Zusammenhängen weist er aabei einer "objektivistischen und kausalgenetischen Psychologie zu", die er als zu eng ablehnt. Er fordert ein rein psychologisches Erkennen, "in dem sich beides, Empirie und Wissen um die letzten Voraussetzungen des Erlebens als Erleben innig durchdringen"'. Es ergibt sich somit, daß die naturwissenschaftlichen Fragen nach dem "Erfahrungsbereich des Erlebens" und die geisteswissenschaftlichen, hier philosophischen Fragen nach "Motivations- und Sinnzusammenhängen" zwar getrennt behandelt werden können, aber doch in der Psychologie auf eine spezifische Weise miteinander verbunden sind, so daß Lersch von einer "Schlüsselstellung" der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften spricht!O und D. Katz die Psychologie zu Recht als denjenigen Teil der Anthropologie bezeichnet, der sich mit dem menschlichen Verhalten beschäftigtu . Der um Klärung des Handlungsbegriffs bemühte Jurist muß von der bereits gewonnenen Erkenntnis ausgehen, daß er die Erkenntnisse anderer Wissenschaften berücksichtigen muß, soweit diese den gleichen Gegenstand erforschen!!. Der Aufgabenstellung entsprechend, soll der Gegenstand der Handlung in seinem konkreten Dasein und zugleich Sosein ermittelt werden; es geht um die Feststellung der Tatsachen des menschlichen Seelenlebens, um die gegenständlich nachweisbaren Merkmale und Strukturen, um das menschliche Verhalten "in der Tatsächlichkeit seines Daseins und Soseins innerhalb der Erfahrung"!3. Lersch (138), S. 70. Münsterberg (168), S.3; ebenso D. Katz, Richtungen (117), S.72: ..Es ist das Ideal der psychologischen Forschung, die Prozesse, mit denen sie sich beschäftigt, durch Auffindung der hinter ihnen liegenden allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu erklären." 8 Keller (125), S. 8, 16. t Keller (125), S. 27. 10 Lersch (138), S. 92 ff., 93. U Katz, Gegenstand (118), S. 9. 8 7

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s. O. § 2 II b.

13 Lersch (138), S. 52, 70.

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§

3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

Damit 'e ntspricht die juristische Fragestellung der aufg·ezeigten naturwissenschaftlichen Fragestellung in der Psychologie. Zur Beantwortung der juristischen Frage sind daher die Gebiete der Psychologie heranzuziehen, die sich mit der Erforschung der seelischen Tatsachen befassen: die allgemeine Psychologie, die Entwicklungspsychologie und Charakterologie als Zweige der Psychologie 14 •

An den Stellen aber, an denen erst die Frage nach dem "letztgültigen Rang und seinsmäßigem Sinn"15 des Gefundenen die Bedeutung der ermittelten Tatsachen aufscheinen lassen, an denen ein Zuendedenken der Fakten erforderlich ist, müssen auch diese der Psychologie zugehörigen philosophischen Erörterungen in die Untersuchung miteinbezogen werden. Im Rahmen dieser Arbeit interessieren nun allein die das menschliche Verhalten bestimmenden Tatsachen. Vor allem in der neueren Psychologie aber werden diese Tatsachen nur aus dem Zusammenhang des gesamten seelischen Lebens heraus verständlich, so daß es hier notwendig werden wird, das Ganze des psychischen Geschehens darzustellen, und erst dann, soweit noch erforderlich, Einzelheiten der Verhaltensstruktur zu erörtern. Ähnlich ist auch bei der älteren Psychologie von deren Menschenbild auszugehen - indes erlaubt gerade dieses eine isolierte Betrachtung des Verhaltens. 11. Einführender überblick über die psychologischen Systeme Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft. Dennoch hat sie in der relativ kurzen Entwicklungszeit seit dem Anfang des vorigen J ahrhunderts zwei Menschenbilder geschaffen, von denen eines bereits als überwunden, als geschichtlich angesehen werden darf. Als echtes Kind ihrer Zeit versuchte auch sie sich am Ideal der Naturwissenschaften zu ol'ientieren. Man zerlegte das Seelenleben in kleine und kleinste Elemente und versuchte, nach Art der Physik allgemeine Gesetze zu finden, "nach denen sich das seelische Leben in seiner Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit aus solchen Elementen zusammensetzen läßt"l. . Dabei wurde häufig ausschließlich mit der Kategorie der Kausalität gearbeitet - die der Finalität dagegen durchweg abgelehnt!!. 14 15 1 I

Lersch (138), S. 52, 70. Keller (125), S. 8. Lersch (138), S. 36. Katz, Richtungen (117), S. 83.

II. Einführender überblick über die psychologischen Systeme

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Diese Auffassung hatte zunächst einmal zur Folge, daß man sich von der angeblich unfruchtbaren Spekulation löste und die Erfahrung befragte, wie das seelische Leben beschaffen sei - man fand zum Experiment in der Psychologie3• Vom Boden dieser GrundeinsteIlung von der Zusammengesetztheit des seelischen Lebens aus wurde nun eine überaus reiche und intensive Elementenforschung betrieben, die naturgemäß zu recht verschiedenen Ergebnissen und Systemen führte. So betrachteten einige das Seelenleben unter dem Aspekt des menschlichen Verhaltens und fanden als Elementarbestandteil den mechanischen, rein kausal ablaufenden Reflex; andere wiederum untersuchten das Seelenleben unter dem Aspekt des Erlebens und fanden als Elemente die Bewußtseinsfaktoren der Empfindungen und GefÜhle 4• Gegen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geriet dieses Menschenbild jedoch ins Wanken -' vornehmlich von drei Seiten her wurde die Unzulänglichkeit der bisherigen Betrachtungsweise dargelegt. Zunächst einmal wies die Tiefenpsychologie (Freud, Adler) auf die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit des Unbewußten für das Seelenleben hin und stellte sich damit in Gegensatz zu denjenigen, die die Gesamtheit des Seelenlebens aus Bewußtseinsfaktoren erklären wolltenli • Der entscheidende Stoß wurde der atomistischen Elementenpsychologie jedoch durch die Ganzheitspsychologie und Gestaltpsychologie versetzt, als deren bedeutendste Vertreter Wertheimer, Köhler und Koffka genannt werden müssen. Sie waren der Auffassung, daß die Vorgänge des Seelenlebens nicht mehr allein aus Elementen zu erklären sind; vielmehr müssen neben den Elementen noch besondere aus ihnen nicht mehr ableitbare Ganzheitseigenschaften angenommen werden6 • Auf den Ergebnissen dieser Gestaltpsychologie aufbauend, wendet sich drittens die heutige Personpsychologie g,e gen diie EI'ementenpsychologie. Sie fügt der bisher vorgebrachten Kritik der Gestaltpsychologie aber nichts Neues hinzu - sie verlangt vielmehr in Wahrheit von der Gestaltpsychologie, noch die letzten Konsequenzen zu ziehen und die seelischen Bereiche, in denen die Gestalthaftigkeit bereits nachgewiesen wurde (Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Handeln) wiederum als Glieder einer Ganzheit aufzufassen - nämlich der Ganzheit Person 7• Wenn sich auch im Lauf der Untersuchung eine gewisse Überlegenceit des neuen, ganzheitlichen Menschenbildes über das überkommene mechanistische und elementenhafte feststellen lassen wird, wäre es verKatz, Richtungen (117), S.52. Vgl. Sander (198), S. 1; Lersch (138), S.45; Steinemann (220), S.37. I Lersch (138), S.45; Heiß (96), S.44, 90. s Steinemann (220), S. 67 ff. T Lersch (138), S. 640.

3

4

§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

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fehlt, die von den Anhängern des überkommenen Bildes erzielten Forschungsergebnisse restlos zu verwerfen. In der Erforschung der seelischen Tatsachen haben sie wesentliche Resultate erzielt, die auch heute noch Geltung beanspruchen. Wenn auch die Ganzheitsstruktur selbst nicht untersucht wurde, so doch die Elemente, die die Ganzheit bilden - deren Eigenschaften aber bleiben neben den neu aufgefundenen Ganzheitseigenschaften bestehen. Daher ist zunächst ein kurzer Überblick über die auf dem überkommenen Menschenbild beruhenden Forschungen zulässig und erforderlich.

m. Das menschliche Verhalten nach den älteren Systemen der Bewußtseins- und Elementenpsychologie a) Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle als Elemente des Seelenlebens: Herbart, Spencer, Ziehen, James, Mfinsterberg, Baln, Ribot, Wundt, Wentscher, Ebbinghaus

Die ältere Psychologie läßt sich in etwa in vier große Gruppen aufteilen. Als erste wäre die zu nennen, die von Empfindungen und Gefühlen als letzten Elementen des Seelenlebens ausgeht und auch kompliziertere seelische Vorgänge meist durch assoziativ verknüpfte Empfindungen erklärte. Zu dieser Gruppe sind z. B. Herbart, Spencer, Ziehen, James, Münsterberg, Bain, Ribot, Ebbinghaus und zuletzt noch Wundt zu zählen, der aber schon den Weg über die Elementenpsychologie hinaus weist. Am Anfang der Elementenpsychologie steht Herbart (1776-1841). Er geht davon aus, daß die vielfältigen Erfahrungen des Menschen zur Bildung von Vorstellungen und ganzen Vorstellungskomplexen mehr oder minder dichten Zusammenhangs führen. Diese Vorstellungen sieht Herbart als die eigentlichen Träger des geistigen Lebens an, sie werden "aufgefaßt als kleine mechanische Wirkungssysteme im Menschen, die von sich aus die weiteren seelischen Prozesse bestimmen"l.

Nach Spencer (1820-1903)1 ist zunächst nichts anderes gegeben als äußere Eindrücke, auf die der Organismus reagiert - also ein einfacher Reflexmechanismus, der vorerst unbewußter Natur ist. Im Laufe der Entwicklung wird die Reaktion des Mechanismus, die Bewegung, bewußt. Diese Bewußtseinsvorgänge differenzieren sich immer weiter aus, bis Gedächtnis, Vernunft, Gefühle und Wollen als differenzierteste besondere Zustände auftreten: das gesamte Seelenleben ist hierauf Bewußtseinsvorgänge - ,Empfindungen und Vorstellungen 1 1

Stern (221), S. 285 H., 286; Flugel (71), S. 18; Hillebrand (100), S. 56. Tegen I (224), S.7.

III. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

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reduziert. Bei gewissen Empfindungen können weitere Empfindungen gleichzeitig auf den Organismus einströmen und damit eine unmittelbare Reaktion auf die erste Empfindung verhindern. Dadurch tritt der automatische Reflexmechanismus nicht unmittelbar in Kraft, was stets beim Wollen der Fall ist. Es kommt dann zur Ausbildung einer Vorstellung der auszuführenden Bewegung, auf die dann die Bewegung selbst folgt. Das Wollen besteht also nach Spencer im wesentlichen darin, daß zwischen Empfindung und Bewegung ein bewußter psychischer Vorgang - nämlich die Vorstellung dieser Bewegung - zwischengeschaltet wird: "In a voluntary 'act of the simplest kind we can find nothing beyond amental representation of the act, followed by a performance of its." Die Auffassung Ziehens (1862-1950) ist aufs engste verwandt mit der Ansicht Spencers. Er sieht das Wesentliche bei den Handlungen in den physiologischen Vorgängen und kommt zu dem Ergebnis, daß "jede Handlung rein physikalisch-chemisch verständlich"4 sei und daß nur gewisse Handlungsarten von psychischen Parallelvorgängen begleitet werden - die Bewegung selbst aber verlaufe ohne "psychologisches Korrelat, rein physiologisch"5. Darauf aufbauend, unterscheidet er die ohne nachweisbaren psychischen Parallelvorgang verlaufenden Handlungsarten des Reflexes (auf Reize erfolgende konstante Bewegung) und des Defiexes {auf Reiz·eerfolgende Bewegung, die durch weitere interkurrierende Reize in ihrem Ablauf modifiziert wird) von den eigentlichen Handlungen oder Aktionen mit einem nachweisbaren psychischen Parallelvorgang. Wie Spencer baut auch Ziehen die Handlung auf der Grundform des Reflexes auf. Ein Reiz löst dabei eine Empfindung aus, die mit den von früheren Empfindungen stammenden Erinnerungsbildern, den Vorstellungen und den "interkurrent hinzutretenden Empfindungen'" in Verbindung tritt. Damit beginnt die Tätigkeit der Ideenassoziation, die man auch als Spiel der Motive oder als Überlegung bezeichnen kann. Daraufhin wird ein motorisches Zentrum erregt, das über die Nervenbahnen die entsprechenden Muskeln zur Ausführung der nunmehr modifizierten Bewegung anregt7. Die Elemente des psychischen Prozesses sind' demnach nichts anderes als Empfindungen und Vorstellungen - "andere Elemente des psychischen Prozesses anzunehmen, liegt kein Grund vor"8. Es gibt demgemäß auch Tegen I (224), S.7. Ziehen (259), S. 26. I Ziehen (259), S. 28. • Ziehen (259), S. 34. '7 Ziehen (259), S. 27 ff. 34. 8 Ziehen (259), S. 35. :I

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§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

keinen Grund, ein besonderes Willensvermögen anzunehmen, der Wille besteht in nichts anderem als einer "ganz bestimmten Verknüpfung der uns schon bekannten Elemente und Prozesse"9. In nahezu gleicher Weise wie Spencer kommt James (1842-1910) zu dem Ergebnis, daß die unbewußten Reflexe und Gewohnheitsvorgänge durch Einschaltung von höheren Bewußtseinsvorgängen in der Erinnerung an bereits erfolgte Bewegungen zwischen Reiz und Reaktion zu zweckbewußten Willenshandlungen werden10. Nach James wird der Mensch seiner Fähigkeiten auf dem Wege der Erfahrung inne. "When a particular movement, having once occured in a random, refI,ex or involuntary action, has left an image of -itself in the memory, then the movement can be desired again, proposed as an end, and deliberately willed. - A supply by experiences of their involuntary performance is thus the first prerequisite of the voluntary lifel l ." Auch hier wird also der Wille auf Vorstellungen zurückgeführt.

Münsterberg (1863-1919), 1892 von James nach Harvard berufen, kommt zu dem gleichen Ergebnisi!. Bei seinen Untersuchungen ging er davon aus, daß die Empfindung das Element aller Bewußtseinserscheinungen und der Wille auch eine Bewußtseinserscheinung sei. Daher gab es für ihn nur die Frage, "welche Qualität, Intensität und Gefühlsfärbung den unseren Willen zusammensetzenden Empfindungen zukomme und in welcher Anordnung sie miteinander verbunden seien"13. Als Ergebnis findet er, daß zunächst ein Reiz eine Empfindung bedingt, die das psychische Korrelat zu der physiologischen Nervenreizung darstellt. Physiologisch wird durch die Reizung ein Erregungsimpuls ausgelöst, der ohne psychisches Korrelat bleibt und zur Bewegung führt. Sobald die Bewegung ausgeführt wird, tritt im Bewußtsein eine Bewegungsempfindung auf. Erfolgt dieser Vorgang mehrmals, so werden Reizempfindung und Bewegungsempfindung derart eng miteinander assoziiert, daß die Bewegungsempfindung vermittels der Assoziation direkt durch die Reizempfindung ausgelöst wird und damit schon vor der eigentlichen Bewegung auftritt. Diese assoziierte Bewegungsempfindung ist also die Erinnerung an die frühere Bewegungsempfindung und wird von Münsterberg Innervationsgefühl genanntl4 • "Es ist damit klargelegt, weshalb unser Innervationsgefühl der Bewegung vorangeht; in ihm, als dem konstanten Signal der Bewegung ... glauben wir nun 9

Ziehen (259), S. 574.

10 Hehlmann (94), S. 220 f.: James.

Zit. b. Tegen II (225), S. 100. Hehlmann (94), S.307: Mßnsterberg. 13 Münsterberg (168), S. 62, Zitat wurde im Satzbau leicht verändert. 14 Mßnsterberg (168), S. 144 ff. 11

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IH. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

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unwillkürlich auch die Ursache derselben zu sehen: dies ist der Typus der Willenshandlung, aus dem sich alle anderen Formen entwickeln lassen I6 ." Innerhalb dieser ersten Gruppe lassen sich nun von den bereits genannten Forschern eine Reihe von Wissenschaftlern unterscheiden, die das Seelenleben weniger allein aus Empfindungen, als aus Gefühlen oder aus Gefühlen und Empfindungen zusammengesetzt sehen. Wenn auch eine klare Abgrenzung nicht möglich sein dürfte, so sind hierher jedenfalls alle die zu rechnen, die anders als die genannten den Nachdruck auf die Gefühle als Elemente des Seelenlebens legen. Als erster ist hier der schottische Psychologe Bain (1818-1903) zu nennen, der den WäHen als vornehmlich aus Gefühlen zusammengesetzt ansieht und Vorstellungsmomenten eine untergeordnete Rolle zuweist18. Ausgangspunkt sind die sog. spontanen Bewegungen, die ohne jeden äußeren Anlaß direkt auf Grund irgendeiner im Organismus aufgespeicherten Energie erfolgen. Die Willensbewegung wird im Gegensatz zur spontanen Bewegung reguliert - und zwar von Unlust- oder Lustgefühlen. Aber genau wie bei der Spontanbewegung dient auch die Willensbewegung keinem im Wollen selbst gesetzten Zweck - vielmehr dient das Wollen einem von diesem unabhängigen Zweck: dem Abbau von Unlust oder dem Aufbau von Lustgefühlen17 , die die Motive des Wollens sind; treten mehrere Gefühle auf, so entsteht ein Motivkonflikt, der dadurch beendet wird, daß sich das stärkste Gefühl durchsetzt und eine Handlung hervorruft18. Die Bewegung wird dabei mit in die Handlung einbezogen. Mit besonderer Klarheit stellt Bain diese Gefühlstheorie des Wollens auf: "The will ... is shown in the presence of some p]easure or pain, followed by an activity - in the one case, to retain, husband, or increase the pleasure, and in the other, to subdue or diminish the pain, in short, will is made up of an antecedent motive, resolvable into pleasure or pain, and a consequent movement or series of movements; the movements having reference to the great end (= Zweck)19 of contributing to our enjoyment20 ." Eine ähnliche Auffassung vertritt Ribot (1839-1916), dem das Verdienst zukommt, die pathologischen Formen des psychischen Lebens für die psychologischen Erkenntnisse fruchtbar gemacht zu haben21 • 15 Münsterberg (168), S.145. 18 Tegen I (224), S. 26. 17 Tegen I (224), S. 14 ff., S.15. 18 Tegen I (224), S. 31. 111 Eigene Einfügung. 20 Tegen I (224), S. 13. tl Tegen I (224), S. 49 ff; Hehlmann (94), S.399: Ribot.

§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

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Nach ihm ist das Wollen eine Form, eine Funktion des Reflexes2!, und darin stimmt er mit SpenceT überein. Aus irgendeinem Anlaß taucht im Bewußtsein eine Zweckvorstellung auf, die durch Assoziation andere Vorstellungen, andere Ideen hervorruft. Daran schließt sich eine Überlegung an, die häufig im Kampf der Zweckvorstellung mit den anderen eingetretenen Ideen besteht. Schließlich erfolgt eine Wahl, ein "ich will", das aber in nichts anderem als dem bloßen Konstatieren der inzwischen eingetretenen Situation besteht - ein Konstatieren, daß sich diese oder jene Vorstellung durchgesetzt hat2s • Die überlegung und die Wahl sind gefühlsbestimmt und gefühlsbetont - die Gefühle rufen dann die Handlung hervor!4, die wie bei SpenceT mit zum Wollen gerechnet wird. Diese Bewußtseinserscheinungen sind jedoch bloße Parallelerscheinungen zu den physiologischen Vorgängen - so sind die Gefühle als ein Anhang zu der physiologischen Handlungsauslösung zu verstehen25 • W. Wundt (1832-1920) nimmt ebenfalls an, daß sich das psychische Geschehen aus psychischen Elementen zusammensetzt!8. Vorstellungen und Gemütsbewegungen sind bei ihm Grundformen psychischer Erlebnisse, die stets aneinander gebunden sind und deshalb "als die einander ergänzenden Teilinhalte des Bewußtseins"!7 angesehen werden. Aber auch diese Grundformen sind aus Elementen zusammengesetzt: Empfindungen sind Elemente der Vorstellungen, Gefühle die der Gemütsbewegungen. Einen Komplex von Gefühlen, der "einen mehr oder weniger in sich geschlossenen Zeitverlauf bildet", nennt Wundt dann Affekt. Willensvorgänge sind nichts anderes als bestimmt geartete Affekte. Die Besonderheit dieser Affekte liegt darin, daß sie durch ihren Verlauf ihre eigene Lösung herbeiführen: der diese Lösung herbeüührende Affektbestandteil ist wiederum kein spezifisches Erlebnis, sondern lediglich ein Gefühl, das von einer Vorstellung begleitet ist und Motiv genannt wird!8. So darf man also die Natur des Willensvorgangs nicht darin sehen, "daß man ihn als ein von Gefühl und Affekt spezifisch verschiedenes Geschehen auffaßt. Vielmehr ordnet er sich zunächst ganz und gar unter den Begriff des Affektes. Er erscheint Tegen I (224), S. 36. Tegen I (224), S. 44. 14 Tegen I (224), S. 38 und 40. 16 Tegen I (224), S. 38. Tegen weist auf S. 45 ff. auf manche Widersprüche hin - da es hier nur um die Darstellung der Lehren von Ribot geht, darf diese Kritik hier unberücksichtigt bleiben. !8 Wundt (258), Bd. 1, S. 399 ff. 17 Wundt (258), Bd. 1, S. 409. 18 Wundt (258), Bd. 3, S. 221 ff. I!

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III. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

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lediglich als eine besondere durch spezielle Merkmale ausgezeichnete Verlaufsform des letzteren"!'. Je nach der Art des Auftretens der Motive unterscheidet Wundt verschiedene Formen der Willenshandlung: liegt von Anfang an nur ein einzelnes Motiv vor, so ist eine Triebhandlung anzunehmen; liegen zwar mehrere Bewußtseinsinhalte vor, aus denen aber allein ein Motiv zu deutlicher Wirksamkeit gelangt, so ist eine Willkürhandlung anzunehmen - bei der Wahlhandlung endlich treten verschiedene Motive miteinander in Streit, bis das entscheidende Motiv die übrigen verdrängt30.

Wundt vertritt damit eine reine Gefühlstheorie des Willens - indes weist schon er über die Elementenpsychologie hinaus. Zunächst einmal sah Wundt das psychische Geschehen unter dem Gedanken der Kontinuität; alle psychischen Erscheinungen sind innerlich gleich strukturiert und entwickeln sich von der einfachsten bis zur kompliziertesten Form. Das berechtigte ihn, alle diese Erscheinungen als Wollensvorgänge anzusehen31 und damit wie Schopenhauer und Nietzsehe das eigentliche Wesen des Menschen im Willen zu sehen, der "hinter allen Vorgängen unserer Wahrnehmungen und unseres Denkens steht"3!. Davon ausgehend, nahm er an, daß das seelische Leben durch zentrale Akte gesteuert werde33, und er trat damit schon der Assoziationspsychologie entgegen. Indes brauchen diese Gedanken Wundts hier nicht weiter verfolgt zu werden - wenn er auch über seine Zeit hinaus wies, so war er doch noch der Elementenpsychologie verhaftet". E. Wentscher trat vor allem Spencers und Münsterbergs Ansicht, wonach das Entscheidende des Wollens lediglich im Vorhersehen des auszuführenden Handelns bestehe, deswegen entgegen, weil der Mensch sein Handeln wählend und wollend mitbestimme und ursächlich für sein Handeln sei35 • Bei der Willenshandlung schiebe sich zwischen Antriebs- und Bewegungsauslösung ein Stadium der Reflexion, der Billigung und der Entscheidung38 . Diese Autorin entwickelt damit ebenfalls eine durchaus modeme Auffassung des Willensvorgangs und überschreitet die Grenzen der Elementenpsychologie. Dennoch bleibt auch sie im wesentlichen der Elementenpsychologie verhaftet37, da sie das Ent28 Wundt (258), Bd.3 S.223; Lersch (138), S.483. 30 Wundt (258), Bd. 3, S. 233 fi. 31 Tegen I (224), S. 270. 32 Lersch (138), S. 45. 33 Hehlmann (94), S. 535 f.: Wundt. 34 Haensel (85), S.14, 16 fi. 35 Wentscher (253), S. 2 U. 38 Wentscher (253), S.44, 75. 37 Haensel (85), S. 80.

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scheidende des Wollens vor allem in auftretenden Wertgefühlen sieht und zu dem Ergebnis kommt, "daß das Wesen des Wollens in einer charakteristischen Synthese unserer Bewußtseinsinhalte, nicht aber in einem Hinzutreten eines neuen, im übrigen seelischen Leben unerhörten Elementes besteht"s8. Zur gleichen Gruppe ist auch Max Kauffmann zu zählen, der im Anschluß an Erdmann das Eigenartige des Willensbewußtseins "in einem verwickelten Komplex von Gefühlen und Vorstellungen"39 sieht und sich auch im übrigen stark an Wundt anlehnVo. Auch Ebbinghaus (1850-1909) muß denen zugerechnet werden, die eine Gefühlstheorie des Willens vertreten41 • Nach ihm ist der Wille "der vorausschauend ,g,ewordene Trieb. Er enthält zunächst ... eine irgendwelchen Ursachen ,entstammende Lust oder Unlust nebst den sie begleitenden Tätigkeitsempfindungen, außerdem aber noch ein Drittes, beides V,erbindendes: die geistige Vorwegnahme eines Endgliedes der empfundenen Tätigkeiten, das zugleich als lustvolle Beendigung der gegenwärtigen Unlust oder als lustvolle Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Lust vorgestellt wird"42. Dem Einwand, das bloße Dasein der Vorstellungen könne nicht allein das Ausführen von Bewegungen konstituieren, da der Mensch sich Bewegungen ohne deren Ausführung vorstellen könne, begegnet Ebbinghaus mit der Annahme einer Vorstellungsänderung: "das, was noch geschieht, wenn die Bewegungsvorstellung zum Bewegungsentschluß wird, ist eine Änderung an der Vorstellung, nicht ein besonderes Erlebnis, das zu ihr hinzukommt43 " ; auch scheidet Ebbinghaus jedes bewußte Geschehen aus dem Willensvorgang aus. "Das Wollen selbst ... besteht in nichts anderem als in irgendwelchen Bewußtseinsgeschehnissen ... " - "was neben ... Motiven ... für das Wollen und die Willenshandlung hauptsächlich charakteristisch ist, das ist einerseits ein Akt des Kausalbewußtseins, andererseits ein Aufmerksamkeitserlebnis"." Man erkennt mühelos die Verwandtschaft zu den Lehren Spencers, worauf schon E. Wentscher hinweist45 • Wenn auch Ebbinghaus wie dieser das Seelenleben als aus Elementen zusammengesetzt ansieht, so kann man doch schon bei ihm Anfänge einer gestaltpsychologischen Wentscher (253), S.76. Max Kauffmann (119), S. 7. 40 Max Kauffmann (119), S. 8, 12. 41 Lersch, (138), S. 483. 42 Zitiert bei Tegen 11 (225), S. 226. 43 Ebbinghaus (52), S.587. 44 Ebbinghaus (52), S. 794 ff. 45 Wentscher. (253), S.3.

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!II. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

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Auffassung nachweisen48 : Sieht er doch die Willensvorgänge bereits als "ungeteilte Ganze" an. Die Willensakte sind "nicht Grunderscheinungen des Seelenlebens in dem Sinne, in dem es Empfindungen oder Vorstellungen sind. '" sie sind '" in ihrer einfachsten Gestalt - die Grundformen eben der Einheiten, in denen Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle ursprfuiglich allein real vorkommen", es sind "ungeteilte Ganze"t7. Damit ist die Besprechung der ersten Gruppe abgeschlossen. Als Ergebnis darf festgehalten werden, daß neben der heute nicht mehr haltbaren Auffassung von dem elementenhaften Aufbau des Seelischen schon ein noch heute anerkanntes Merkmal der Willenshandlung gefunden wurde: die zwischen dem Anreiz zu einer Bewegung und der Bewegung selbst eingeschobenen seelischen Vorgänge 48, die allerdings zumeist noch assoziativ und ausschließlich als Bewußtseinsvorgänge erklärt werdeIL b) Beßexe als Elemente des Seelenlebens

1. Reflexologie In einer zweiten Gruppe lassen sich nun diejenigen zusammenfassen, die die auf einen Reiz hin erfolgenden Reaktionen eines lebendigen Wesens als letzte Elemente ansehen49 und das Verhalten des Menschen aus einem Komplex reflektorischer Vorgänge zu erklären suchen50 • Diese Auffassung bildete sich gegen Anfang dieses Jahrhunderts vornehmlich in Rußland heraus - als bedeutendste Vertreter sind Bechterew, IschLondsky und vor allem Pawlow zu nennen51 • Diese Richtung der Psychologie wird auch häufig "Reflexlehre" oder "Reflexologie" genannt. Während in der ersten Gruppe Empfindungen (Vorstellungen und Gefühle) als letzte Elemente des Seelischen angenommen werden, wird in der Reflexologie diese Rolle den Reflexen zugewiesen52 • Unter Reflex wird dabei eine auf einen äußeren Reiz hin erfolgende Eigentätigkeit des Organismus verstanden. Dabei hat man nach Pawlow drei Elemente zu unterscheiden. Das erste dieser Elemente ist ein sensorisches, das in der Reizung eines sensorischen Nerves und der Weiterleitung .des 48

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Darauf weist auch Lersch (138), S. 378 in anderem Zusammenhang hin. Zitiert bei Tegen!I (225), S. 225. Am deutlichsten bei E. Wentscher (253), S.44. Sander (198), S.4. Katz, Richtungen (117), S. 79 ff. Hehlmann (94), S. 391: Reflexologie. Sander (198), S. 4..

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3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

Reizes besteht. Beim zweiten Element, dem sog. zentralen, wird der Reiz aufgenommen und der entsprechende motorische Nerv erregt. Das dritte motorische oder sekretorische Element besteht nun in der Erregung des entsprechenden Muskels durch den motorischen Nerv und die erfolgende Bewegung oder den Sekretfluß selbst53 . Als Beispiel für diesen Reflexmechanismus ist auf Pawlows berühmten Hundeversuch hinzuweisen: hält man einem Hund ein Stück Fleisch vor, mit dem er gefüttert wird, so erfolgt als angeborener Reflex eine Sekretion der Speicheldrüse. Den Nachweis erbrachte Pawlow durch eine operativ angebrachte Kanüle, die das Sekret nach außen abfließen l.ieß54. Pawlow fand aber nun weiter heraus, daß dieser Reflex nicht nur durch diesen Primärreiz, sondern auch durch andere Reize ausgelöst werden kann, die mit dem Primärreiz assoziiert sind. So hat er bei der Fütterung zugleich einen bestimmten Ton erklingen lassen und festgestellt, daß auch dann das Sekret abgesondert wird, wenn nur der Ton, aber kein Futter dargeboten wird65. Pawlow bezeichnete diese Verhaltensform als bedingtes Reflexverhalten. Nach diesem Schema der Reflexe und der bedingten Reflexe wird das gesamte Verhalten eines Lebewesens, auch das des Menschen, erklärt - sogar entwicklungsgeschichtlich versucht man, das individuelle Verhalten nach dem Prinzip des Reflexes zu erklärenli. Durch assoziative Koppelung mit den Primärreizen, dann mit den Sekundärreizen usf. kann "jeder beliebige Reiz zum Signal werden, der ein reflektorisches Geschehen auslöst ... Beim Menschen kommt hinzu das sog. zweite Signalsystem, die Sprache, in dem Worte in bedingt reflektorischer Weise fest verbundene Zeichen werden für die Umweltdinge, stellvertretend für die Reize bzw. Dinge, Signale von Signalen werden"1I7. Bewußtseinsvorgänge werden in der Reflexologie nicht behandelt es kann alles aus den zugrunde liegenden nervenphysiologischen Vorgängen erklärt werden. Der Mensch wird zu einer reinen Reflexmaschine, bei der auf einen bestimmten Reiz hin bestimmte Reaktionen erfolgen: das Verhalten des Menschen wird rein kausal erklärt58• 63 Vgl. Katz, Richtungen (117), S.79. 114 Nach Lersch (138), S. 459 f. 111 Nach Lersch (138), S. 459 f. M Katz, Richtungen (117), S. SO. 117 Sander (198), S. 4 U. M Katz, Richtungen (117), S.83; Lersch (138), S. 469 ff. gibt überzeugende Beispiele aus der neueren Forschung, die diese Theorie widerlegen. Auch W. Stern (221), S.517 wendet sich mit eindrucksvollen Argumenten gegen diese Lehre.

111. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme 2. Der B eh a V i

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r i s mus

Die Reftexlehre übte einen starken Einfluß vor allem auf nordamerikanische Forscher aus, die in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts den sog. "Behaviorismus" als eigene Richtung der Psychologie begründeten. Hier sind vor allem Hull, ThoTndike, Tolman und Watso71 zu nennen'·. Die Behavioristen gehen davon aus, daß die Wissenschaft nur von solchen Tatsachen und Geschehnissen ausgehen kann, "die von allen Menschen in gleicher Weise beobachtet und kontrolliert werden können"8o. Obwohl nicht geleugnet wd.rd, daß es ein Bewußtsein gibt, so ist dieses doch nicht allen zugänglich, vielmehr lediglich "Privatsache"61. Watson erklärt: "der Behaviorismus hält ,Bewußtsein' weder für einen erklärbaren noch brauchbaren Begriff" - ",in dem Bemühen, Einheitlichkeit der Hauptbegriffe und Methoden zu erlangen, wurden sofort alle mittelalterlichen Begriffe vom Behaviorismus fortgeräumt. Alle subJektiven Bezeichnungen wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Wunsch, Zweck und selbst Denken und Fühlen wurden aus seinem Wörterbuch gestrichen8!." Das einzige nach den Behavioristen zulässige Verfahren ist demnach die Fremdbeobachtung - beobachtet werden kann aber nur, daß auf gewisse Reize bestimmte Reaktionen erfolgen. Unter einem Reiz hat man dabei alles zu verstehen, was den Organismus auf dem Wege über die Sinnesorgane beeindruckt6S , unter einer Reaktion die daraufhin erfolgende Antwort des Körpers, die stets unmittelbar erfolgtß' • Auf dem Wege von Versuch und Irrtum, Erfolg und Mißerfolg, Lohn und Strafe bildet sich so allmählich ein sinnvolles und zweckmäßiges Reaktionssystem heraus: der Mensch reagiert auf die von der Umwelt ausgehenden Reize richtig - er ist angepaßt85• Daher ist auch die Umwelt entscheidend für das Verhalten des Menschen 68, und daraus folgert Watson die allgemeine Voraussehbarkeit des menschlichen Verhaltens87• Hehlmann (94), S.45: Behaviorismus. Katz, Richtungen (117), S. 76. •1 Katz, wie Anm. 60 und Lersch (138), S. 54. • ! Watson (233), S.19, 24. a Watson (233), S. 34. " Watson (233), S.36, 38. ee Sander (198), S. 4. 11 Hehlmann (94), S. 45: Behaviorismus . • 7 Ihm selbst blieben allerdings Fehldiagnosen nicht erspart; so warf er der russischen Revolution vom Oktober 1917 vor, durch die Zerstörung der russischen Monarchie eine Situation blind gehandhabt zu haben, ohne zu berücksichtigen, welche Änderungen der Verhaltensweisen dadurch bedingt 19

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§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

Katz,68 Lersch69 und Rohracher70 wiesen nun mit Recht darauf hin, daß bei dieser Einstellung eine Reihe menschlicher Verh.altensweisen unerklärt bleiben müsse; überdenkt man ein schwieriges Problem, so kann man dabei sowohl äußerlich tätig im Zimmer herumgehen und eine Zigarette rauchen,als auch äußerlich untätig im Sessel sitzen das äußere Verhalten gibt keinen Anhaltspunkt für das, was wirklich im Menschen vorgeht. Indessen -ist der Behaviorismus bei dieser Betrachtung nicht stehengeblieben. So unterscheidet Skinner von den reaktiven Reaktionen die selbst ausgesendeten wirkenden Aktionen, ohne jedoch eine Selbstbestimmung des Menschen im Gegensatz zum Reflexmechanismus anzunehmen 71 • Auch E. C. ToLman erkennt gewisse dynamische Momente im Verhalten 'an, wie z. B. Erwartungen, Bedürfnisse und Zielvorstellungen7!. c) Endstadium und Vberwindung der Bewußtseins- und Elementenpsycbologie: die Würzburger Schule

Zu den genannten Gruppen kommt nun als letzte eine weitere, die von denjenig-en gebildet wird, die im Willen bereits ein eigenartiges und nicht auf andere seelische Elemente rückführbares seelisches Erlebnis sahen. Hier wurde bereits die Abkehr von der Elementenpsychologie insofern -eingeleitet, als man das seelische Leben nicht mehr ausschließlich aus "letzten" seelischen Elementen kunstvoll zusammensetzte und die assoziative Deutung der Willensvorgänge überwand 73 • Andererseits blieb man aber noch bei der isolierten Betrachtung der seelischen Vorgänge stehen, sah sie nicht im Zusammenhang mit anderen Vorgängen, und die Einsicht in die Gestalthaftigkeit und Ganzheit der seelischen Prozesse war noch llIi.cht gefunden7'. iDamit gehörte diese Gruppe noch nicht zu den Vertretern des neuen psychologisch-en Menschenbildes - sie hat sich aber auch von dem alten Bild bereits weitgehend gelöst und muß daher als eine Art übergangsgruppeangesehen werden. Hierzu sind vor allem A. E. Michotte seien. Deshalb sei der intellektuelle und wissenschaftliche Aufstieg des russischen Volkes um Hunderte von Jahren zurückgeworfen worden (233, S. 71). Ferner sagte er voraus, daß die Philosophie verschwinde und sich zu einer Geschichte der Wissenschaften entwickeln werde (233, S. 42). 68 Katz, Richtungen (117), S. 78. 69 Lersch (138), S. 54 f.; vgl. auch Klages, Ausdruck (128), S.26. 70 Rohracher, Einführung (194), S.64. 71 Bergius (19), S. 475 ff. 516. 7! Hehlmann (94), S. 45: Behaviorismus. 73 Hehlmann (94), S. 537: Würzburger Schule. 74Steinemann (220), S. 44 H., 66.

In. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

49

van den Berck und aus der Würzburger Schule N. Ach, J. Lindworsky, A. Messer und O. Selz zu rechnen.

N. Ach unterscheidet Willensvorgänge verschiedener Intensität und Stärke. Bei seinen Untersuchungen will er die spezifischen Kriterien des W ollens an dem bewußten Erlebnis aufzeigen, bei dem man sich mit größter Deutlichkeit dieses Erlebnisses als eines Wollens bewußt ist75 • Dieses Erlebnis ist für Ach im energischen Entschluß gegeben, den er auch als primären Willensakt bezeichnet78 • Er unterteilt den Willensvorgang in drei Abschntitte: die Motivation, den Willensakt und schließlich die Willenshandlung77 , wobei er aber ausdrücklich darauf hinweist, daß alle drei Abschnitte ein einheitliches Ganzes bilden und nur aus Gründen der Darstellung getrennt werden. Der Abschnitt der Motivation umfaßt alle bewußten und unbewußten Faktoren, die das Denken und Handeln zustande kommen lassen, jedoch nur, soweit sie "psychonom" sind, soweit sie innerhalb des Zusammenhangs der seelischen Erscheinungen, nicht aber außerhalb derselben nachweisbar sind, wie z. B. Gefühle, Affekte, Empfindungen USW. 78 • Am Willensakt unterscheidet Ach eine phänomenologische Seite und eine dynamische. Bei der phänomenologischen Betrachtung ist der Willensakt im wesentlichen durch vier Momente gekennzeichnet. Am eindringlichsten fand Ach intensive Spannungsempfindungen, die sich über ganze Partien des Körpers erstrecken und das erste Moment, das sog. ,anschauliche Moment des Willensaktes, ergeben. Als zweites Moment stellt Ach das gegenständliche heraus, in dem das künftige Tun des Individuums - meist anschaulich - vergegenwärtigt wird79 • In dem dritten sog. ·aktuellen Moment sieht Ach das wesentliche Merkmal des Willensaktes. Dieses Moment besteht in einer intentionalen Tätigkeit des Ich, bei der das kommende Verhalten in einer jede andere Verhaltensmöglichkeit ,ausschließenden Weise als wirklich gesetzt wird. Diese Tätigkeit wird unmittelbar erlebt, was durch die Bewußtheit "ich wrl.ll wirklich" - z. B. das vorgestellte Verhalten ausführen - zum Ausdruck kommt80 • Als letztes ist das zuständliche Moment zu nennen, worunter Ach eine besondere Bewußtseinslage der Anstrengung versteht, die den Willensakt während der gesamten Dauer des Verlaufs begleitet81 • Wie Ach nun das aktuelle Moment als das erlebnismäßig 75

78 77

78 79

80 81

Ach, Ach, Ach, Ach, Ach, Ach, Ach,

Willensakt (5), S. 238. Willensakt (5), S.238. Willenslehre (2), S. 125. Willenslehre (2), S. 125 U. Willensakt (5), S. 238 f.; Willen (4), S.ll. Willensakt (5), S. 240 ff.; Willen (4), S. 11 f. Willensakt (5), S.245; Willen (4), S. 11.

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§3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

wesentliche Merkmal des Willensaktes herausstellt, so ist das wesentliche Merkmal des gesamten Willensvorgangs aber die dynamische Seite des Willensaktes, die von Ach besonders herausgestellten und umfassend nachgewiesenen "determinierenden Tendenzen". Diese sind von der Zielvorstellung ausgehende Nachwirkungen, die im Unbewußten wirken und den geordneten Ablauf des Handelns im Sinne der Zielvorstellungen 'ermöglichen und steuern - und damit den dritten Abschnitt des WiHenvorogangs, die .Willenshandlung, entscheidend beeinflussen. Es sind eigenartige Erscheinungen, die völlig selbständig neben Assoziationen, Perseverationen und Reproduktionstendenzen bestehen82 • Die determinierenden Tendenzen entspringen einer dem Menschen eigenen determinativen Veranlagung, an der eine dynamische und eine finale Seite unterschieden werden kann. Die finale Seite zeigt sich an dem Steuerungsvermögen der Determination, welches Ach sehr hoch veranschlagt. Die dynamische Seite dagegen betrifft die Energie, die KraftenUaltung der Determination8s • Obwohl diese Merkmale zunächst nur für den primären Willensakt gelten, so gelten sie doch im wesentlichen auch für die anderen von Ach unterschiedenen Formen des Wollens, das geübte, abgekürzte und schwache WoHen 84• In allen diesen Fällen liegen die Besonderheiten auf der phänomenologischen Seite - nämlich in der abgestuften Intensität des gegenständlichen bzw. des ,a ktuellen Moments. Besonders bemerkenswert ist, daß Ach die vier phänomenologischen Momente als unselbständige Teile eines Ganzen ansieht, die nur in ihrer Gesamtheit den primären Willensakt kennz,eichnen8ll •

LindwoTsky nimmt die Kritik Michottes und PTums an der Existenz des aktuellen Moments auf und weist darauf hin, daß sich Willensakte auch ohne das aktuelle Moment experimentell nachweisen lassen86 • Ach weist demgegenüber zu Recht auf seine Ausführungen zum schwachen Wolleri hin - indes wird dieser Frage keine wesentliche Bedeutung zuzumessen sein, da das Wesentliche des Willensaktes ja in den determinierenden T,endenzen zu sehen ist. Diese determinierenden Tendenzen aber erkennt nun LindwoTsky an - auch wenn er sie nicht für eigenartige Erscheinungen des Seelischen hält, sondern glaubt, diese auf bereits bekannte seelische Tatsachen zurückführen zu können 87• Ach, Willensakt (5), S. 4 ff., 249 ff.; Lersch (138), S. 445 f. Steinemann (220), S. 54 ff. 84 Ach, Willensakt (5), S. 275 (§ 19). 811 Ach, Willensakt (5), S. 247. 88 Lindworsky (140), S.67; auch: ·Geyser (80), S. 448 ff.mit kritischer Stellungnahme. 87 Lindworsky (140), S.87, 103. 62

83

III. Bewußtseins- und elementenpsychologische Systeme

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Während Ach nun aber der Determination eine eigene Kraftentfaltungzuschreibt, kommt LindwoTsky zu dem Erg,e bnis, daß der Wille eine bloß formale Steuerungseinrichtung darstellt, die von sich aus gar nichts schaffen kann und mit einem bloßen Weichensteller vergleichbar iist88• Mit der Darstellung der wesentlichen Ergebnisse dieser beiden großen Experimentalpsychologen ist die gesamte letzte Gruppe hinlänglich charakterisiert. Die große Leistung der dieser Gruppe angehörigen Wissenschaftler bestand darin, das Wollen als eigenständiges seelisches Ereignis erkannt und damit als erste eine ,a utogenetische Theorie des Wollens im Gegensatz zu den heterogenetischen Theorien der anderen drei ,g enannten Gruppen gebildet zu haben88 • Andererseits' hält man aber im wesentlichen an der isolierten Betrachtung des W ollens fest, und bei Ach erinnert die Rede von den "Faktoren" des Wollens noch allzusehr an die heterogenetischen Theorien. Als bedeutsam im Hinblick auf die moderne Willensauffassung ist weiter herauszustellen, daß Ach mit der Annahme der im Unbewußten wirkenden determinierenden Tendenzen die Beteiligung unbewußter Prozesse beim Wollen anerkennt und darüber hinaus mit der Rede von der dynamischen und der finalen Seite der determinierenden Tendenzen schon Energie- und Steuerungsfunktionen beim Wollen unterscheidet, wenn er sie a'Uch noch als zwei Seiten desselben Vorgang'es ineins setzt. Schließlich begegnet man bei Ach schon einer ganzheitlichen Betrachtung: werden doch die vier phänomenologischen Momente ganz im heutigen Sinne als eine Ganzheit aufgefaßt. Der endgültige Durchbruch zum heutigen ganzheitlich erfaßten Menschenbild ist indes noch nicht 'e rfolgt, da das Wollen selbst noch nicht im Zusammenhang des gesamten leibseelischen Geschehens gesehen wurde. Ein erster Ansatz dazu findet sich indes ·b ei LindwoTsky, wenn er dem Wollen - der heutigen Auffassung entsprechend90 - eine bloße Steuerungsfunktion beimißt, die nur im Zusammenspiel mit den anderen seelischen Kräften ihre Wirksamkeit entfalten kanns1 • LindwoTsky gibt damit die bei Ach schon gelockerte Identität zwischen Energieund Steuerungsvorgang beim Wollen auf, ohne die Bedeutung beider nunmehr selbständiger Prozesse für den Wollensvollzug zu verkennen. Damit ist nachgewiesen, daß diese Gruppe zu Recht als übergangsgruppe bezeichnet wird'2. Lindworsky (140), S.106 H.; Lersch, (138), S.485. Hehlmann (94), S. 533 H.: Wollen. Bericht (20), S. 3l. Lersch (138), S. 485. • 2 Die Ergebnisse dieser Gruppe sind auf experimentellem Wege gefunden worden. Hier gilt es nun, einem Einwand zu begegnen, der grundsätzlich 88 89 80

.1

••

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§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

IV. Das menschliche Verhalten nach den neuen personpsychologischen Systemen a) Einführendes zur Personpsycltologie

1. Zum W,esen der Personpsychologie Ein völlig neues Menschenbild wurde nun in der Psychologie der Person geschaffen. Hier wird der Mensch als Sonderwesen im Ganzen der Welt begriffen, als komplexe Einheit seiner seelischen Vollzüge und seiner seelischen Entwicklung unter Berücksichtigung der 'i ndividu,ellen Ausprägung jedes einz-elnen Menschen: d-er Mensch wird als Person gesehen1 • Die !Person ist somit als "eine geschlossene leiblich-seelisch-geistige Einheit" zu v-erstehen. Danach umfaßt die Betrachtung der P-erson zunächst -einmal die Gesamtheit aller seelischen Vollzüge und Inhalte, wodurch der Mensch sein Dasein in der Welt verwirklicht (sog. a11gegen die Experimentalpsychologie erhoben wird und zuletzt bei W. Keller (125), S. 40 ff., erneut in aller Schärfe erhoben wurde: "Das klassische Willensexperiment arbeitet mit Instruktionen, die der Versuchsperson gegeben werden und ihr eine Aufgabe stellen. Aber hierdurch werden gerade die entscheidenden Momente des Wollens: die Spontaneität, die Selbstursprünglichkeit des Antriebs, die eigene Zielwahl oder Zielgebung, sowie die Motivation, zum vornherein aufgehoben bzw. sie werden dem Subjekt zum Voraus abgenommen. Darum kann das Experiment bestenfalls über beiläufige Eigentümlichkeiten des Wollensvollzuges oder sogar nur der Wollensverwirklichung (Willenshandlung) Aufschluß geben, nie aber über einen originären Willensakt in ursprünglicher Entstehung. '" Die Tatsache einer Instruktion, die im Experiment nicht zu vermeiden ist, oder die Prüfung von vorgebahnten Arbeitsvollzügen aller Art, reduziert den beobachtbaren Tatbestand unvermeidlich gerade um das Wesentliche, um den inneren Ursprung oder Anstoß zu einem eigenbestimmten Wollen." Dieser Vorwurf ist im wesentlichen schon von O. Selz gegen N. Ach erhoben worden, den nicht nur Ach selbst (Replik [6], S. 32 f.), sondern auch J. Lindworsky (140, S. 65 ff.) schon mit Recht zurückgewiesen haben. Das entscheidende Argument gegen die Berechtigung dieses Vorwurfs wird man daraus herleiten dürfen, daß sich die "eigentliche willensmäßige Wahl aus zwei Willensakten" zusammensetzt. Der erste Willensakt bezieht sich dabei auf die Bereitschaft zur Ausführung einer noch zu wählenden Alternative - hier mag der Vorwurf allenfalls berechtigt sein. Ihm folgt jedoch erst die eigentliche Entscheidung, die Wahl einer der gebotenen Alternativen, auf die der Vorwurf jedoch nicht mehr auszudehnen ist, da die Instruktion eben nicht die Wahl einer bestimmten Alternative beinhaltet (Lindworsky [140], S.73). Damit dürfte die Allgemeingültigkeit dieses Vorwurfs jedenfalls nicht mehr aufrecht zu erhalten sein - ob er bei einem speziellen Experiment einmal zutrifft, sei dahingestellt. In der modernen Psychologie wird deshalb auch das Experiment als legitimes Erkenntnismittel gefordert und angewandt: Katz, Richtungen (117), S. 72 ff., insbesondere S. 65 ff.; Lewin (139), S. 11; Bericht (20), S. 31; Lersch (138), S.87; Fuchs (74), S.154. 1 Lersch (138), S. 76.

IV. Personpsychologische Systeme

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gemein-psychologischer Aspekt nach Lersch)2. Zum anderen gehört hierher die Betrachtung der Differenzierung und Entwicklung des seelischen Geschehens, die gleichzeitig eine Entwicklung, das "allmähliche Werden der menschlichen Person" (entwicklungspsychologischer Aspekt)3 darstellt4 • Schließlich muß drittens noch die spezielle Prägung des Seelenlebens des einzelnen Menschen in seiner Eigenart berücksichtigt werden, wodurch er sich von anderen Menschen unterscheidet (charakterologischer Aspekt)". Im diametralen Gegensatz zu dem vorher behandelten Menschenbild wer.den hier die einzelnen seelischen V.orgänge nicht mehr isoliert gesehen, sondern stets im Zusammenhang des gesamten personalen Geschehens. Eine isolierte Betrachtung ist .aber auch nach der Personpsychologie gar nicht mehr möglich: würde irgend ein seelischer Vorgang aus dem personalen Gesamtgeschehen herausgenommen, so würde er damit sein Wesen -als seelisches Geschehen verlieren. So wird nach Stern, einem der Begründer der Personpsychologie, eine Reizsituation stets mit einer Totalreaktion unter Beteiligung des Gesamtorganismus beantwortet. Bewußtseinsvorgänge und Wollen 'allein als isolierte Vollzüge sind nicht möglich8 • Lediglich aus darstellerischen oder didaktischen Gründen können bestimmte seelische Vollzüge isoliert betrachtet weroen - ·aber immer ist zu beachten, daß sie nur im Gesamtzusammenhang der Person Existenz besitz,e n. Danach bleibt es auch weiterhin möglich, einzelne seelische Vollzüge und Inhalte g,etrennt zu untersuchen und zu beobachten - nur muß hierbei berücksichtigt werden, daß diese Vollzüge und Inhalte nur bestimmte Ausprägungen eines Geschehens sind, an dem die ganze P,erson beteiligt ist7. Diese Auffassung vom Menschen z Lersch (138), S. 75 ff,;. auch Kaila (115), S.201 beschreibt die Persönlichkeit als ein System angeborener Anlagen, ererbter Dispositionen und Triebkräfte - allerdings ist Katlas Personenbild enger als das hier vorgetragene. a Wie Anm.l. 4 Hehlmann (94), S. 337: Person. /) Darauf legen vor allem. Allport (8), im Vorwort und Gemelli, zit. bei Roser (195)~ S.94 Wert. Der Vorwurf Allport's, daß die Wissenschaft das Individuum in der Regel nur als unbequeme Zufälligkeit betrachten würde, und deshalb allenthalben an einem Portrait der verallgemeinerten menschlichen Psyche gearbeitet werde, trifft für die moderne Personpsychologie jedenfalls in ihrer Gesamtheit nicht mehr ·zu - dagegen spricht eindeutig der von Lersch berücksichtigte charakterologische Aspekt, der auch von anderen Wissenschaftlern nicht vernachlässigt wird (Hehlmann [94], S.337: Person). Vgl. auch Wellek (Zugang), 241, S. 223 zur besonderen Bedeutung der Charakterologie. . 8 Steinemann (220), S.76; Stern (221), S. 550 ff. 7 Lossen/Schott (145), S.5 definieren das Verhalten des Menschen in 'Ober-

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§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

als Person wird jetzt allgemein in der heutigen Psychologie vertretenwenn es auch eine Fülle verschiedenartiger personwissenschaftlicher Systeme gibt, was sich durch den außerordentlich weiten Blickwinkel erklären läßt, unter dem der Mensch hier betrachtet wird. Schon L. Klages muß hier erwähnt werden; sah er doch in den seelischen Zuständen Ausprägungen der gesamten Person: "Im Verhältnis zum wirklich existierenden Eigenwesen und somit zum persönlichen Eig,enwesen sind die wechselnden Zustände, eingerechnet solche, die ein Wollen ermöglichen, bloß wechselnde Gestalten seiner selbst und ist folglich das tatsächlich Ausgedrückte ein persönliches Ganzes8 , obschon in der Form seiner augenblicklichen Lebensverfassung9 ." Auch Pfänder ist hier zu nennen, der einen lebendigen seelischen Organismus mit 'eigenen Organen annahm, um die seelischen Vorgänge zu erklären1o • Vor allem ist aber W. Stern zu nennen, der mit als einer der ersten eine umfassende Persönlichkeitstheorie aufstellte - ,aber der Begriff der "Person" wird ,bei ihm noch für alles Lebendige verwandt, während er heute überwiegend für das menschliche Individuum reserviert bleibtU. W,eiter sind zu erwähnen Rothacker1!, WeZlek 13 , AZlport14 , Thomae 15 , Mathe y 16, Arnold17 , Rohracher1B und als wohl bedeutendster Vertreter Philipp Lersch in seinem bereits mehrfach zitierten Werk: "Der Aufbau der Person" 1'. Aber auch Lewin 20 und Helm sind anzuführen, die zwar von den Genannten in einigen Punkten erheblich abweichen - immerhin aber mitthnen darin übereinstimmen, daß die seelischen Geschehnisse nicht isoliert erklärbar sind, sondern stets nur aus einem seelischen Gesamtzusammenhang unter Berücksichtigung der Umwelt!l. einstimmung damit unter. Berufung auf Heiß als einen "Ablauf von Äußerungen und Bewegungen in Raum und Zeit, in dem das seelische Wesen und die seelische Beschaffenheit eines Menschen sich ausdrücken". 8 Hervorhebung von Klages. , Klages, Ausdruck (128), S. 28. 10 Pfänder (182), S. 215 H., 308 H. U Steinemann (220), S. 80; ebenso auch Hehlmann (94), S. 341: Personalismus. 12 Rothacker (196), z. B. S. 7. 13 Wellek, Polarität (242). U Vgl. Anm. 5. 1& Thomae, Persönlichkeit (228), z. B. S. 9. 111 Mathey (150), z. B. S. 1. 17 Arnold (10), z. B. S. 29. 18 Rohracher, Theorie (192), S. 125 H. 11 Lersch (138), S. 74 H.; Weitere Nachweise b. Hehlmann (94), S. 341: Person. 10 Lewin (139), S. 13 U. 21 Helm (97), S. 375.

IV. Personpsychologische Systeme

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Auch in den größtenteils philosophisch· orientierten Anthropologien von Grebe 22 und Gehlen!3 findet sich diese Auffassung. Daß die gesamte Person an den seelischen Vollzügen beteiligt ist, drückt Grebe eindrucksvoll dadurch aus, daß er das "Menschsein" des Menschen in seinem "Tätigsein" bestehen läßt!4. 2. übe r die zur Per s 0 n p s y c hol 0 g i e f ü h ren d e Entwicklung Nun ist diese Auffassung vom Menschen als Person schon zur Zeit der Herrschaft der Elementenpsychologie hier und dort vertreten worden, wenn auch noch nicht im Sinne der heutigen Personpsychologie. So spricht schon Lotze (1817-1881) von der Seele als einem einheitlichen Agens, einem realen Subjekt, das in Wechselwirkung zum Körper stehe und die seelischen Erscheinungen selbsttätig hervorbringe, die keineswegs nur bloße Parallel erscheinungen dei" physiologischen oder physischen Erscheinungen seien25 • In dieser Rede von dem einheitlichen Agens darf man eine Vorstufe zu der heutigen personalen Betrachtung erblicken. Schon 1879 verlangte Sigwart (1830-1904) zum Begriff des Wollens eine "Reflexion auf die Gesamtheit meines Ichs" und eine Stellungnahme "der Totalität meines wirklichen Ich"!6, eine AuUassung, die der Personpsychologie von heute durchaus entspricht. Jedoch war damals die Zeit für eine Personpsychologie noch nicht reif, es mußten erst noch wesentliche, bisher auch von Lotze und Sigwart noch unbeachtete Aspekte bei der Betrachtung des Menschen herausgestellt werden.

(a) Die Bedeutung des Unbewußten und die Tiefenpsychologie Betrachtet man die bisher dargestellten Lehren der Elementenpsychologie treibenden Forscher, so zeigt. sich, daß für diese sich die Wirklichkeit des seelischen Lebens im bewußten Erleben erschöpfte27 • Wenn auch schon frühzeitig, z. B. von Leibniz, ScheUing und anderen, unbewußte Vorgänge angenommen wurden, so lehnte doch .die herrschende Meinung in der Psychologie diese Annahme unbewußten seelischen Geschehens zum Teil als Widerspruch in sich ab 2s , so daß Lersch Grebe (83). Gehlen (77), vgl. S. 34 fi. 2' Grebe (83), S. 6. 25 Tegen I (224), S. 59. za Sigwart (205), S. 4. 27 Mit Ausnahme von Ach, so. S.51 §3, ·III cl. 28 Hehlmann (94), S.498: Unbewußtes. 22

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§ 3 Die Struktur des menschlichen Verhaltens

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die Schulpsychologie lImit gutem Grund als reine Bewußtseinspychologie charakterisiert"t9. Hier kommt nun der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse das große Verdienst zu, aufgezeigt zu haben, daß das seelische Leben, insbesondere die Verhaltensweisen, nicht mehr allein durch bewußt erlebte Faktoren erklärt werden können. Es wurde vielmehr nachgewiesen, daß zur Erklärung seelischer Vollzüge, insbesondere des Verhaltens, ·auf die Annahme unbewußter Vorgänge nicht verzichtet werden kann3o • So wurde nunmehr größter Wert auf die Erforschung des "Unbewußten" .g elegt, und es ergaben sich daraufhin wesentliche Erkenntnisse vor allem über die Motivation und die Antriebsstruktur des menschlichen Verhaltens. Nun wird der Begriff "Unbewußtes" in der Literatur auf verschiedene Sachverhalte angewandt - bevor die im Rahmen dieser Arbeit wesentlichenErkenntnisse der Erforschung des Unbewußten herausgestellt werden, muß daher eine Klärung dieses Begriffs versucht werden. Mit einer beispielhaft klaren, ausführlichen und übersichtlichen Darstellung hat sich hier Lersch verdient gemacht31 •

Lersch geht davon aus, daß mit dem Wort "unbewußt" stets etwas negiert werde, was durch den Wortstamm "bewußt" umschrieben ist. Daher legt er zunächst die Sachverhalte dar, die mit dem Wort "unbewußt" negiert werden sollen und können. Nach ihm ist seelisches Leben überall da, "wo das Leben zur Wachheit des Erlebens gelangt ist"32, und er unterscheidet drei Aktualitätsstufen des Erlebens: das schlichte Erleben, das Bewußtsein und die Bewußtheit. Unter schlichtem Erleben versteht Lersch ein bloßes Innesein von komplexen Sinneseindrücken, Antriebserlebnissen oder Gefühlen, wie man es ,e twa als Regelform des Erlebens beim Säugling findet. In der nächsten Aktualitätsstufe "wird das schlichte Erlebte festgestellt und in Abstand gerückt", das Ich sieht sich einem Nicht-Ich g.egenüber. In dieser Funktion der Feststellung sieht Lersch das spezifische Merkmal des Bewußtseins. In der dritten Stufe der Bewußtheit endlich wird zu 29 Dagegen schon Sigwart (205), S. 2 ff., der mit seiner Auffassung, daß die Grundbedeutung des Verbums "wollen" oder ähnlicher Wörter immer etwas "in einem bestimmten Moment zum Bewußtsein Kommendes" meinen müsse, jedenfalls nicht zum Bewußtsein gekommene Vorgänge vorausgesetzt und unbewußte Tätigkeiten ausdrücklich anerkannt hat. Vgl. auch Lersch

(138), S. 638.

Lersch (138), S. 638. 31 Lersch (138), 6. Abschn., S. 594 ff. 3! Lersch (138), S. 595. 30

IV. Personpsychologische Systeme

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dem im Bewußtsein Festgestellten StelLung genommen, das Ich verhält sich ~u seinen Erlebnissen33 • Nunmehr ist es möglich, den Begriff "unbewußt" zu klären. Am engsten wird der Begriff bei Palcigyi und Klages benutzt, die als unbewußt nur das noch nicht in die Wachheit des Erlebens gelangte Leben ansehen, das sich nach Klages auf die vitalen gegenwärtigen Lebensvorgänge beschränkt. Rier werden mit "unbewußt" alle drei Aktualitätsstufen des Erlebens (nach Lersch) geleugnet - sowohl die stellungnehmend~ Bewußtheit als auch das feststellende Bewußtsein und das schlichte Erleben.

Lersch bezeichnet diese Art des Unbewußten als das BewußtlosUnbewußte. Er weist jedoch nach, daß daneben noch weitere von Klages nicht herausgestellte Erscheinungen hierher zu rechnen sind. Zunächst erinnert er an die sogenannten Gedächtnisvorgänge. Hier werden bestimmte Sachverhalte wieder gegenwärtig, die früher einmal erlebt. in der Zwischenz·e it aber "v,ergessen" wurden. Hiervon ·a usgehend, bestimmt Lersch als Sondergruppe des Bewußtlos-Unbewußten das Dispositionell-Unbewußte (als "die Seinsweise des einmal Erlebten während der Zeit, die zwischen dem aktuellen Erlebt-werden und seinem Wieder-gegenwärtig-werden gelegen ist"34). Neben dem Gedächtnis, das ,bereits Erlebtes bewahrt, zählen hierzu auch die im Menschen schlummernden Anlagen, gleichsam als Fähigkeit zum Erleben des Noch-nicht-Erlebten. Somit kommt Lersch zu folgender Gliederung des Bewußtlos-Unbewußten: einmal die aktuell und gegenwärtig verlaufenden Vitalprozesse, zum anderen das "Dispositionelle, das im Gedächtnis die Vergangenheit gelebten Lebens bewahrt und in den Anlagen künftiges Erleben und Verhalten mitbestimmt"35. Bei der Erforschung der Vorgänge, die dem Dispositionell-Unbewußten zuzurechnen sind, kommt nun der Tiefenpsychologie zum ersten Mal ein großes Verdienst zu. 33 Lersch (138), S. 596 ff.; auf S.599 erläutert Lersch diese Stufen am Beispiel des Erwachens; so "erfahren wir beim Erwachen zunächst nur ein schlichtes Erleben bildhafter Eindrücke und diffuser Zustände, Farben und Formen, Geräusche, Gefühle der Müdigkeit oder der Frische. Indem wir uns dann zurechtfinden, uns orientieren, d. h. feststellen, wo wir sind, gelangen wir aus der Wachheit des schlichten Erlebens in diejenige des bewußten Erlebens (im Sinne des Bewußtseins) und indem wir uns dann einen Ruck geben und uns sagen, wir müssen aufstehen, indem wir ferner ein Gefühl der Müdigkeit überwinden und uns aufraffen, vollziehen wir den Schritt in die Haltung der Bewußtheit". 34 Lersch (138), S. 620. 35 Lersch (138), S. 623.

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§3

Die Struktur des menschlichen Verhaltens

c. G. Jung

wies nach, daß es ein gewisses Erbgut an Vorstellungen allgemein menschlicher Art gibt - eine Art Gattungsgedächtnis. "Die in ihm investierten und bereitliegenden Vorstellungen sind die bildhafte übersetzung und anschauliche Vergegenständlichung von stark gefühlsbetonten Urerfahrungen des Menschen"36, und so gibt es Urbilder religiöser Art, der Geburt, des Todes, der Zeugung, der Sexualität. Diese Urbilder sind für den neuzeitlichen Menschen unter d~e Stufe des schlichten Erlebens abgesunken sie werden als das "Kollektiv-Unbewußte" bezeichnet, das dem Dispositionell-Unbewußten zuzuI"echnen ist37 • Jung unterschied davon das Persönlich-Unbewußte, bei dessen Erforschung sich vor allem Freud verdient gemacht hat. Hierher sind alle die Strebungen und Neigungen zu rechnen, die der Mensch als unwerthaft verwirft, ohne sie indes auslöschen zu können - es ist das weite Feld der Verdrängungen. Diese abgelehnten Regungen können derart intensiv verorängt werden, daß sie noch unter die Stufe des schlichten Erlebens absinken. In diesem Fall sind sie ebenfalls als verdrängt Unbewußtes dem Dispositionell-Unbewußten zuzurechnen.

In aller Regel indes erfolgt keine so weitgehende Verdrängung. Die Regungen werden lediglich von der stellungnehmenden Bewußtheit und dem feststellenden Bewußtsein negiert, abgelehnt und wirken auf der Stufe des schlichten Erlebens weiter. Damit ist nun eine zweite und gleichzeitig weitere Bedeutung des Begriffs "Unbewußtes" erreicht worden, die Lerschals das UngewußtUnbewußte bezeichnet38 • Hier wird der Bereich des Unbewußten über die bisher behandelten unbewußten Vorgänge (des Bewußtlos - Unbewußten) hinaus auf die Vorgänge des schlichten Erlebens erweitert: Negiert weI"den das kenntnisnehmende und feststellende Bewußtsein und die stellungnehmende Bewußtheit. Hierher gehören neben den bereits genannten verdrängt-unbewußten Vorgängen auch sinnliche Eindrücke, Motive, Wünsche und Gefühle, die die Schwelle des feststellenden Bewußtseins im Augenblick ihres Auftretens nicht überschritten. Auch Verhaltensvollzüge können auf diese Weise unbewußt erfolgen, so z. B. das sogenannte gedankenlose und zerstreute Handeln, bei dem man erst nach einer gewissen Weile erstaunt feststellt, daß man selbst dies oder jenes tat39 • Aber "unbewußt" wird noch in einer dritten und gleichzeitig weitesten Bedeutung als Negation der stellungnehmenden Bewußtheit 38 37

88 D

Lerseh Lerseh Lerseh Lerseh

(138), (138), (138), (138),

S. 631. S. 629 ff. S. 604 U. S. 607.

IV. Personpsychologische Systeme

59

verwandt; hier werden also neben den bisher beschriebenen Vollzügen auch noch die Vorgänge des feststellenden Bewußtseins dem Unbewußten zugerechnet, was Lersch als "unreflektiert-unbewußt"40 be~eichnet. Hierher sind nun vornehmlich Handlungsvollzüge bestimmter Art zu r,echnen, d~e noch ohne Beteiligung der stellungnehmenden Bewußtheit verlaufen: so die erlernten und die automatisierten Handlungen41 und weiter auch das Verhalten, das auf Grund eines lediglich festgestellten Antriebs ,i n der Art abläuft, daß man es geschehen läßt, ohne dazu Stellung zu nehmen. In diesem weitesten Sinne versteht Rothacker das Unbewußte: "Verhaltungen, die wir nicht mit wachem Bewußtsein begleiten oder steuern, nennen wir unbewußte .... Alle ... Vorgänge, die weder vom wachen Bewußtsein mitvollzogen noch gesteuert sind, sind unbewußt42 ." Das im Gegensatz zum Unbewußten stehende "wache Bewußtsein" hat dabei die Funktion einer Kontrolle und Steuerung43, woraus erhellt, daß Rothacker damit eben das meint, was Lersch als "stellungnehmende Bewußtheit" kennzeichnet44 • Der Tiefenpsychologie kommt hier ein doppeltes Verdienst zu: einmal das der Entdeckung und Erforschung der dargelegten unbewußten Vorgänge, wie es bereits mehrfach herausgestellt wurde, zum andern bei der Entdeckung der inneren Dynamik dieser Vorgänge. Energie und Richtungstendenzen der Vorgänge des verdrängt Unbewußten auf der Stufe des Dispositionell-Unbewußten und des Ungewußt-Unbewußten waren wesentliche Gegenstände psychoanalytischer Forschung; damit war zum ersten Male ein umfassender genetischer Aspekt (zwar schon angelegt bei Achs determinierenden Tendenzen) aufgezeigt worden45 • Indes darf nicht verschwiegen werden, daß auch diese psychologische Sicht ihre Einseitigkeit mit sich brachte, indem vor allem bei Freud und Adler das gesamte seelische Leben vorwieg,e nd auf die Wirkung verdrängten Sexual- und Machtstrebens reduziert wurde. Noch ein weiterer Schritt war nötig, um zur Persönlichkeitspsychologie im heutigen Sinne zu finden.

(b) Die Ganzheits- und Gestaltpsychologie Dieser Schritt wurde in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie vollzogen. Man nahm die schon in der Antike bekannte Unterscheidung zwischen einer additiven Summe und einer konstruktiven Ganzheit 40

Lersdl (138), S. 608 ff.

Davon wird später bei der Behandlung der Verhaltensfonnen ausführlich die Rede sein, S. 72 f. 42 Rothacker (196), S. 7 f. 43 Rothacker (196), S. 10, 12, 15. 41

44 45

Lersdl (138), S. 611. Steinemann (220), S. 73.

60

§3

Die Struktur des menschlichen Verhaltens

(Platon, Aristoteles) wieder auf48 , die darin Hegt, daß eine additive Summe mühelos in ihre Einzelfaktoren zerlegt werden kann, ohne daß der Charakter des Gebildes "Summe" verändert wird, während eine strukturelle Ganzheit durch die Zerlegung in ihre Teile zerstört wird. Ganzheitliche Vorgänge lassen sich nicht allein durch die Wirkungen und Eigenschaften der Teile erklären: es müssen besondere gestaltende Ganzheitseigenschaften zur Erklärung angenommen werden. Als berühmtestes Beispiel für 'eine Ganzheit wird immer wieder eine Melodie genannt, bei der eine Zerlegung in die verschiedenen Töne ohne Charakteränderung der Melodie nicht möglich ist. Auch ist die Melodie tr,ansponierbar: während jede Einzelempfindung eine andere geworden ist, ist aber die Melodie, die Gestalt, dieselbe geblieben47 • Daraus folgerte Lersch mit Recht, daß schon daraus der Ganzheitscharakter der menschlichen Wahrnehmung folgt: wäre '