Entkörperungen: Von der Lebendigkeit des menschlichen Geistes 9783495825198, 9783495491928


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Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation
2. Die These und ihre Ausarbeitung
I. Die Ausgangslage
1. Die Frage nach dem Ganzen
2. Rätsel und Probleme
3. Philosophie und Wissenschaft
4. Lebensbezug
II. Strukturzusammenhang
1. Verkörperungen: Leibgebundenheit und Artikuliertheit
2. Leibessynthesen
3. Grenzverhältnisse
4. Der Vollzug des Philosophierens
5. Das Prinzip der Hiatusgesetzlichkeit und seine anschaulichen Varianten
6. Außenweltliche, innenweltliche und mitweltliche Brüche
III. Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung
1. Das Prinzip der ›Körperausschaltung‹
2. Körpereinsatz
3. Orientierung an einem (Vor-)Bild
4. Der Schauspieler als Bild des Menschen – der Mensch als Bild für den Schauspieler
IV. Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit
1. Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung
2. Verkörperung und Entkörperung bei den Sinnesleistungen
3. Verschränkungen produzieren Abhebungen
4. Unbegreiflichkeit der Überwindung des Hiatus
5. Rätsel der Lebendigkeit: Das Zugleich antagonistischer Momente
V. Expressivität und dualer Modus
1. Das Ausdrucksverhältnis zwischen Körper und Leib. Die Sprache
2. Selbstdarstellung
3. Geistige Lebensform
4. Die Verbindung von Körper und Geist: der duale Modus der Verkörperung
VI. Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist
1. Bühlers Verwendung des Schematismus-Begriffs für die Sprachtheorie
2. Die Funktion des dualen Modus (Bühlers Beispiel). Geltung
3. Die Verschränkung von Individuum und Person (Kleists Beispiel)
4. Sphärentheoretische Deutung
5. Wirsphäre, Geist, Menschheit
6. Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache
VII. Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung
1. Der duale Modus und die anderen Verkörperungsmodi
2. Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit
3. Überindividualität der Wirsphäre
4. Differenzierungen: Schema, Syntax, Syntagma
5. Artikulation: Sinn im Widersinn
6. Verkörperungsmodi, Expressivität und Klang
VIII. Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit
1. ›Den Wohlklang verschwinden machen‹ (Kleist)
2. Verkörpern und Entkörpern. Die Stimme
3. Die Paradoxie der menschlichen Lebendigkeit
4. Das Ineinander von Stoff und Form
5. Die Verschränkung von Körper und Leib bei der Lautgebung
IX. Sprechen
1. Sprechen: Atmen und Hervorrufen
2. ›Durch den (Sprach-)Körper hindurch‹
3. Spontaneität beim Sprechen
4. Der Laut: Schall, Ton, Klang
5. Sprechmelodie und Bedeutung
X. Sprache und Verkörperungsmodi
1. Sprachliche Sinneinheit
2. Der schematische Modus
3. Der thematische Modus
4. Der syntagmatische Modus
5. Der duale Modus
XI. Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit
1. Artikulation der Lebendigkeit
2. Die Relation der Abhebung und die Transzendenz
3. Prozesse des Sich-Abhebens
4. Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus
XII. Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis
1. Leer- und Ordnungsformen
2. Sinngeltung und Sinn-Apriori
3. Entkörperung und Verkörperung ›im Kleinen‹ und ›im Großen‹
4. Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren
5. Die metaphysischen Fragen
6. Der metaphysische Sinn der menschlichen Form von Lebendigkeit: Transparenz und Transzendenz
7. Die Metaphysik der Sprache
8. Die Sphäre des Unsichtbaren: der Gesamtsinn und die Moral
Literatur
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Entkörperungen: Von der Lebendigkeit des menschlichen Geistes
 9783495825198, 9783495491928

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Richard Breun

Entkörperungen Über die Lebendigkeit des menschlichen Geistes

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825198

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B

Richard Breun Entkörperungen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Richard Breun

Entkörperungen Über die Lebendigkeit des menschlichen Geistes

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Richard Breun Disembodiments. On the liveliness of the human spirit We perceive the human being through his (linguistic) body, for we do not look at the matter of his appearance, but first perceive him as a whole, in his soul-spiritual sense. Sense thus appears in embodiments that must be disembodied in order to hear it. This relation between body and spirit is traced in the book, not least in order to understand the necessity of metaphysical questioning with the doubling of embodiment and disembodiment.

The author: Richard Breun, doctorate on Helmuth Plessner’s Philosophical Anthropology, habilitation with a thesis on the embodiment of morality, retired senior academic councillor at the Philosophy Department of the University of Erfurt, lives in Freiburg i. Br.

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Richard Breun Entkörperungen Über die Lebendigkeit des menschlichen Geistes Wir fassen den Menschen durch seinen (Sprach-)Körper hindurch auf, denn wir schauen nicht auf die Materie seiner Erscheinung, sondern nehmen ihn zunächst als Ganzen, in seinem seelisch-geistigen Sinn, wahr. Sinn erscheint somit in Verkörperungen, die entkörpert werden müssen, um ihn zu vernehmen. Dieser Relation zwischen Körper und Geist wird in dem Buch nachgegangen, nicht zuletzt, um mit der Doppelung von Verkörperung und Entkörperung die Notwendigkeit des metaphysischen Fragens zu verstehen.

Der Autor: Richard Breun, Promotion über Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie, Habilitation mit einer Arbeit über Verkörperung von Moral, Akademischer Oberrat i. R. am Philosophischen Seminar der Universität Erfurt, lebt in Freiburg i. Br.

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Print) 978-3-495-49192-8 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82519-8

https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation . . 2. Die These und ihre Ausarbeitung . . . . . . . . . . . .

15 15 22

I. 1. 2. 3. 4.

Die Ausgangslage . . . . . . Die Frage nach dem Ganzen . Rätsel und Probleme . . . . . Philosophie und Wissenschaft Lebensbezug . . . . . . . . .

. . . . .

30 30 32 34 35

II. 1. 2. 3. 4. 5.

Strukturzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkörperungen: Leibgebundenheit und Artikuliertheit . Leibessynthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vollzug des Philosophierens . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip der Hiatusgesetzlichkeit und seine anschaulichen Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . Außenweltliche, innenweltliche und mitweltliche Brüche .

39 39 40 42 43

Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung Das Prinzip der ›Körperausschaltung‹ . . . . . . . . Körpereinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orientierung an einem (Vor-)Bild . . . . . . . . . . Der Schauspieler als Bild des Menschen – der Mensch als Bild für den Schauspieler . . . . . .

. . . .

50 50 52 54

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6.

III. 1. 2. 3. 4.

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7 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Inhalt

IV. 1.

Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit . . . . . Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkörperung und Entkörperung bei den Sinnesleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschränkungen produzieren Abhebungen . . . . . . Unbegreiflichkeit der Überwindung des Hiatus . . . . Rätsel der Lebendigkeit: Das Zugleich antagonistischer Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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59

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64 66 70

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72

Expressivität und dualer Modus . . . . . . . . . . . . Das Ausdrucksverhältnis zwischen Körper und Leib. Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistige Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verbindung von Körper und Geist: der duale Modus der Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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76

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76 80 83

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84

VI. Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist . . . . 1. Bühlers Verwendung des Schematismus-Begriffs für die Sprachtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Funktion des dualen Modus (Bühlers Beispiel). Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verschränkung von Individuum und Person (Kleists Beispiel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sphärentheoretische Deutung . . . . . . . . . . . . . 5. Wirsphäre, Geist, Menschheit . . . . . . . . . . . . . 6. Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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87

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90

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92 94 98

VII. 1. 2. 3. 4.

. . . . .

2. 3. 4. 5.

V. 1. 2. 3. 4.

Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung . . . . . Der duale Modus und die anderen Verkörperungsmodi Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit . . . . . . . . Überindividualität der Wirsphäre . . . . . . . . . . . Differenzierungen: Schema, Syntax, Syntagma . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

. 102 109 109 110 111 112

Inhalt

5. 6.

Artikulation: Sinn im Widersinn . . . . . . . . . . . . Verkörperungsmodi, Expressivität und Klang . . . . . .

114 116

VIII. 1. 2. 3. 4. 5.

Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit . . . . . »Den Wohlklang verschwinden machen« (Kleist) Verkörpern und Entkörpern. Die Stimme . . . . Die Paradoxie der menschlichen Lebendigkeit . . Das Ineinander von Stoff und Form . . . . . . . Die Verschränkung von Körper und Leib bei der Lautgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

119 119 120 122 124

IX. 1. 2. 3. 4. 5.

Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen: Atmen und Hervorrufen . ›Durch den (Sprach-)Körper hindurch‹ Spontaneität beim Sprechen . . . . . Der Laut: Schall, Ton, Klang . . . . . Sprechmelodie und Bedeutung . . . .

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129 129 132 134 136 138

X. 1. 2. 3. 4. 5.

Sprache und Verkörperungsmodi Sprachliche Sinneinheit . . . . Der schematische Modus . . . Der thematische Modus . . . . Der syntagmatische Modus . . Der duale Modus . . . . . . .

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141 141 142 144 145 149

XI. 1. 2. 3. 4.

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit . . . Artikulation der Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . Die Relation der Abhebung und die Transzendenz . . . Prozesse des Sich-Abhebens . . . . . . . . . . . . . . Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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154 154 158 162

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XII. Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Leer- und Ordnungsformen . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Sinngeltung und Sinn-Apriori . . . . . . . . . . . . . . 178 9 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Inhalt

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Entkörperung und Verkörperung ›im Kleinen‹ und ›im Großen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren . . . . . . . . . . . . Die metaphysischen Fragen . . . . . . . . . . . Der metaphysische Sinn der Lebendigkeit . . . . Die Metaphysik der Sprache . . . . . . . . . . . Die Sphäre des Unsichtbaren: der Gesamtsinn und die Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . 186 . . . .

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192 198 202 207

. . . . 216

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

10 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Vorwort

Sofern es Neues gibt in der Philosophie, liegt es nicht im Fortschritt, sondern in einer erneuten Rückbesinnung auf die alten Fragen, für die sich keine beruhigenden, ›endgültigen‹ Antworten finden lassen. Das ist in der Struktur des Lebens begründet. Es generiert ein Wissen über sich selbst, das aber unvollständig bleibt, weil zum Leben die deutungsoffene Vergangenheit, die sich dem reflektierenden Bewusstsein entziehende Gegenwart und die dem Wissen unzugängliche Zukunft gehören. Das Leben ist sich aufgrund dieser bestimmt-unbestimmten Struktur 1 selbst dann ein Rätsel, wenn es technisch eingehegt wird; und die Lebensführung ist auch dann noch eine Aufgabe und nicht bloß Anwendung einer ›Theorie‹, wenn sie einer ›höheren‹ Intelligenz, sei es einer göttlichen oder einer künstlichen, einer religiös oder wissenschaftlich legitimierten, überlassen wird und deren Vorgaben folgt. Woran aber kann sich die Lösung der Aufgabe orientieren, wenn es kein Schema und kein Verfahren gibt, an das man sich dabei halten kann? Trotz aller Philosophie, Lebensweisheit, Traditionen und Kulturgeschichte ist es jeder Generation in ihrer Zeit und jedem Einzelnen in seiner Lebenslage aufgetragen, sich über ›sein Leben‹ wie auch über ›das Leben‹ Klarheit zu verschaffen, dabei Rechenschaft abzulegen vor sich und anderen. Ohne solche Klarheit stochert er im Nebel, wie Kant über die Metaphysik vor dem Aufkommen seiner Kritik sagt. Auch die Selbstverständigung des Lebens rührt an die Metaphysik, denn von der Sache selbst ist es gefordert, eine Distanz zum eigenen Leben und zum Leben überhaupt zu gewinnen, die die physis,

1 Vgl. dazu Misch 1994, 483. In diesem Abschnitt seiner Vorlesung über den Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens erläutert Misch das ›BestimmtUnbestimmte‹ als das ›Ursprüngliche‹, »aus dem her die Bedeutungsgliederung sich vollzieht« (ebd., 484). Das betrifft sowohl die Bedeutungssetzungen und Sinnstiftungen des Lebens als auch die der Sprache.

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Vorwort

d. h. die naturale Basis weit übersteigt, auch wenn ein solcher ›Blick des Geistes‹ diese Basis gerade nicht übergehen darf, sondern seine eigene Möglichkeit in Verbindung mit ihr zu begründen hat. Eine solche Metaphysik des Lebens darf allerdings nicht als Theorie konstruiert werden. Mit welchem Recht auch sollte jemand den Anspruch erheben wollen, in den Dingen des Lebens und im Hinblick auf die daraus resultierenden metaphysischen Fragen mehr zu wissen oder sagen zu können als diejenigen, die Millionen und Abermillionen, die sich in extremen Situationen von Gewalt, Grausamkeit und Tod behaupten oder angesichts der vergeblichen Auflehnung untergehen mussten, einsam, verloren und dennoch Mensch bleibend im Augenblick des tödlichen Schlages? In der Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Menschen das Leben ›genommen‹ wird, ob schicksalhaft oder böswillig, liegt das große Ärgernis, mit dem eine Metaphysik zu kämpfen hat, solange sie sich als Theorie, als eine wissensbasierte Antwort auf die metaphysischen Fragen versteht. Denn eine solche Theorie müsste ja auch die Sinnfrage angesichts eines offensichtlich sinnlosen Verlusts des Lebens beantworten. Dieses der Thematik unangemessene Selbstverständnis bzw. Selbstmissverständnis der Metaphysik hat letztlich zur Ausrufung des Endes der Metaphysik geführt, zur Forderung ihrer Abschaffung oder Überwindung und zu ihrer Verunglimpfung als sinnloses Unternehmen. Im Folgenden wird demgegenüber der Versuch gemacht, das sogenannte Metaphysische in der Anthropologie zu verankern, präziser: in der philosophischen Anthropologie, die von der leibgebundenen Sinnlichkeit des Menschen ausgeht und die geistig ausgreifenden Sinngebungsversuche, die damit einhergehen, ernst nimmt. Die Leitfäden, an denen sich der Versuch orientiert, sind die Begriffe der Verkörperung und Entkörperung. Die ihnen entsprechenden Akte der menschlichen Lebendigkeit vermitteln die Polarität von Körper und Geist im leiblichen Vollzug zu einer in sich differenzierten Einheit, die sie immer schon sind. So wie diese Begriffe hier verwendet werden, stammen sie aus der Anthropologie Plessners, ihre Eignung für die Ausarbeitung der Fragestellung wird jedoch sachlich zu begründen sein. Ihre Bedeutungen sind, wie es philosophischen Begriffen meistens zukommt, nicht in einfache Definitionen zu fassen. Es wird darum gehen, sie schrittweise zu klären, ohne ihre ebenso sachlich begründete Ambivalenz über Bord zu werfen; und dabei wird es sich allmählich herausstellen, dass Verkörperung und Entkörperung eine 12 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Vorwort

Vielfalt von Aspekten, Funktionen und inneren Bezügen aufweisen, die dem Strukturzusammenhang der Lebendigkeit jeweils andere Schattierungen und Nuancierungen verleihen. Im Zuge dieser Klärung kann dem metaphysischen Bedürfnis eine Stelle zugewiesen werden, aus der heraus seine Notwendigkeit für die menschliche Lebensführung und seine grundsätzliche Unhintergehbarkeit verständlich werden. Daraus wird die Möglichkeit resultieren, die metaphysischen Fragen in das Zusammenspiel von Verkörperung und Entkörperung einzuordnen und in diesem Rahmen zu artikulieren. Die Möglichkeit der Metaphysik unterliegt der Bedingung, das menschliche Leben mit seinen eigenen Mitteln aufzufassen, d. h. aus einer solchen Distanz heraus in ›Augenschein zu nehmen‹, die eine möglichst unverfälschte Naheinstellung auf seine wesentlichen Elemente zulässt und dabei das Ganze, das der Sonderung in Teile vorausgeht, nicht aus den Augen verliert. So setzt das Verfahren mit einer Betrachtung zum metaphysischen Bedürfnis, das dem menschlichen Leben entspringt, ein und führt über einige der vielen Verzweigungen, die die Verkörperungsleistungen bilden, ineins mit den zugehörigen, mehr widerfahrenden als intendierten Entkörperungen, zurück zu den metaphysischen Fragen. Mit anderen Worten: Es wird der Weg von einer leibphänomenologisch grundierten, dabei die Sprache als spezifische Verkörperungsform auszeichnenden Anthropologie zur Metaphysik beschritten. Intendiert wird also nicht eine Metaphysik des Seins oder des Nichts, sondern eine Metaphysik des Verkörperns und Entkörperns, in der das Sein und das Nichts einen je bestimmbaren Ort erhalten können, anders gesagt: eine Metaphysik des Lebens, die von dessen Lebendigkeit mit dem Zug zur Verlebendigung des Geistes und zur Transzendierung des Körpers ausgeht. Diese Transzendierung dokumentiert sich in den vielerlei Varianten eines möglichen Erkennens ›durch‹ den Körper, den Stoff, das Material, auch das der Sprache, ›hindurch‹. Das wird sich leib- und sprachphänomenologisch erweisen. Es war Wilhelm von Humboldt, der die Sprache als eine in Vielfalt ausdifferenzierte Einheit nicht nur einer wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich gemacht, sondern seine weit ausgreifenden Untersuchungen in den Dienst der Philosophie gestellt hat. In seinem Vortrag Über den Dualis (1827) sagt Humboldt, dass jeder »Theil wissenschaftlicher Untersuchung«, so auch das Sprachstudium, zwar »um sein selbst willen« zu bearbeiten sei, jedoch »seinen letzten 13 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Vorwort

Zweck« nicht in sich selbst trage, »sondern […] sich mit allen andren dem höchsten und allgemeinen Zweck des Gesamtstrebens des menschlichen Geistes unter[ordnet], dem Zweck, dass die Menschheit sich klar werde über sich selbst und ihr Verhältnis zu allem Sichtbaren und Unsichtbaren um und über sich.« 2 Eine solche Klärung kann niemals endgültig sein. Sie muss immer von Neuem in Angriff genommen werden, denn die geistige Lebendigkeit des Menschen zeichnet sich gerade durch ihre schöpferische Tätigkeit aus, mit der sie das Sichtbare und Unsichtbare im Dienste nicht einer bestimmten Theoriegestalt, sondern einer unbestimmten, aber gestaltbaren Lebenspraxis in ein produktives Verhältnis zu sich selbst setzt.

Humboldt 1963, 115. Bereits Herder hatte an verschiedenen Stellen, besonders in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) die Notwendigkeit von sprachphilosophischen Untersuchungen betont und in Angriff genommen (vgl. Herder 1966).

2

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Einleitung

1.

Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation

Das metaphysische Bedürfnis des Menschen kommt nicht zur Ruhe, und es ist nicht zur Ruhe zu bringen. Es hat sich in symbolischen Formen Befriedigung zu schaffen versucht, deren wohl unerschöpfliche Quelle das Numinose ist, das als Übermächtiges, Gewaltiges, Faszinierendes, Schrecken Erregendes, Erhabenes erscheint und, wenn schon nicht gegenständlich erkennbar, zumindest atmosphärisch spürbar wird. 3 In Mythen und Religionen drückt sich aus, worauf die Fragen nach den Rätseln des Seins und des Daseins zielen. Kant hat sie in drei wesentlichen Fragen zusammengefasst: Unsterblichkeit (der Seele) und, nicht-kantisch gesprochen, ewiges Leben als Überwindung von Tod und Endlichkeit; Gott und das Göttliche als das in Vollkommenheit Existierende und, in nicht-kantischer Diktion, das über alle Maßen Gewaltige und alles Beherrschende; Freiheit als Unabhängigkeit von äußeren (Natur-)Bedingungen und, wiederum nicht-kantisch gesagt, schöpferisches Anfangenkönnen und Selbstwirksamkeit. Es geht um das, was kein Gegenstand innerhalb der Welt ist und vom Menschen selbst wie von seiner die eigenen Lebensbedingungen gestaltenden Schaffenskraft nicht vergegenständlicht werden kann, weil es jenseits des Horizonts liegt, in dem mögliche Gegenstände erfahren werden können. Dennoch rückt es in den Horizont des menschlichen Fragens. In solchem Fragen äußert sich das Bedürfnis, das keinen Anhaltspunkt in gegenständlichen Untersuchungen gewinnt und eben deshalb als metaphysisches bezeichnet Das Numinose atmosphärisch und in seinem Gehalt religionsphänomenologisch näher bestimmt zu haben, ist das Verdienst Rudolf Ottos (2004, erstmals 1917). Ernst Cassirer hat sich dies in seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen für die Erörterung des Mythos und der Religion sowie des Ursprungs des Bedeutens in der anfänglichen Unterscheidung zwischen dem Heiligen und Profanen zunutze gemacht. 3

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Einleitung

werden muss, weil es den Horizont der Erfahrung, die Gegenstände zum Inhalt hat, übersteigt. Denn das Numinose ist kein Gegenstand, der einen objektivierenden Zugriff erlaubt; allerdings lässt sich das Verhältnis des Menschen zum Numinosen in den Blick nehmen, auch in einen wissenschaftlichen und insofern vergegenständlichenden, wenn darauf geachtet wird, dass unter diesem Blick das in Frage stehende Phänomen nicht verschwindet. Um das zu vermeiden, kann man versuchen, das hier in Frage Stehende von einer anderen Seite, gleichsam von einem anderen Blickwinkel aus anzugehen. Es gilt einmal auszuprobieren, ob nicht ein Zugang von philosophisch-anthropologischen Denk- und Verfahrensweisen zur Metaphysik möglich ist, d. h. von der Struktur des menschlichen Daseins aus zu den obigen Fragen durchzudringen; oder: von einem anthropologisch zu gewinnenden und zu begründenden Selbstverständnis des Menschen hinüberzugehen zu dem, was außerhalb von ihm liegt. Eigentlich war das bereits die Vorgehensweise Kants. Er ging von der Vernunft aus, und diese beschrieb er in ihrer menschlichen Form. Das führte zu der kritischen Systematik, in der er die Grenzen des Erkennens, Wissens, Glaubens und Sollens bestimmen konnte. Außerdem ließ er alle Fragen der Philosophie in die Frage nach dem Menschen münden. Nimmt man nun noch hinzu, dass er sich an dem Tun des Naturwissenschaftlers orientierte, das für ihn den Inbegriff methodischer wissenschaftlicher Praxis verkörperte, dann liegt der Schluss nahe, noch einen Schritt zurück und grundsätzlich von dem Sachverhalt der Verkörperung auszugehen. Für eine Untersuchung des Verhältnisses, das der Mensch zur Metaphysik hat und damit zu den Fragen, die sich nicht gegenständlich-wissenschaftlich beantworten lassen und dennoch gestellt werden müssen, bietet sich die Relation seiner Verkörperungen zu dem an, was er nicht mehr verkörpern kann, sich ihm jedoch als Entkörperung aufdrängt und möglicherweise eine Art von Hintergrund auch für die Verkörperungen abgibt. Denn es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass das, worauf die metaphysischen Fragen zielen – in Kants Systematik die Ideen der Vernunft (Freiheit, Unsterblichkeit, Gott) –, die Aktivität und Produktivität des Menschen in irgendeiner Form berührt oder mitbestimmt, bei Kant in der Form als regulative Ideen, die sogar der davon konstitutiv nicht betroffenen Erkenntnis zum Orientierungspunkt dienen. Kurz gefasst lässt sich sagen: Mensch und Welt bilden das Reich der Verkörperung; was außerhalb dessen liegt – jedoch auf dieses 16 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation

einen wie immer gearteten Einfluss hat –, ob man es das Nichts, die Leere, das Jenseits im Verhältnis zur Horizontgrenze oder, religiös gewendet, das Göttliche oder Gott nennt, das Reich der Entkörperung. Plessner, dessen Philosophie sich an Kants Kritizismus als Verkörperung kritischen selbstbegrenzenden Denkens orientierte, um es weiterzuführen, stößt auf diese Unterscheidung zwischen Verkörperung und Entkörperung, gerade auch im Hinblick auf das Numinose, an der Stelle, wo er in seiner Vorlesung zur Philosophischen Anthropologie von 1961, die in weiten Teilen seiner Einleitung in die Propyläen Weltgeschichte unter dem Titel Die Frage nach der Conditio humana 4 entspricht, auf das Leben in dessen Bestimmung als »Werden und Vergehen« 5 eingeht und es als eine »Urerfahrung des eigenen Lebens« 6 bezeichnet, dass sich Lebens- und Todeserfahrung gar nicht voneinander trennen lassen 7, geradezu eine »Einheit« 8 bilden, was zugleich bedeutet, dass wir an der Verkörperung, diesem Zwang, mittels unseres Körpers etwas tun zu müssen, (uns) auszudrücken und (etwas) darzustellen, um zu sein, immer auch »den Gegenzug der Entkörperung« 9 erfassen. Was bedeutet dieses Erfassen für den Menschen, und wie lässt sich diese Erfahrung des Zusammenhangs, der inneren Verbindung von Verkörpern und Entkörpern beschreiben? Gibt es Anhaltspunkte in den Verkörperungen selbst, die von sich aus auf die Entkörperung (en) hinweisen? Lässt sich von daher näher bestimmen, was Entkörperung eigentlich ist, und welchen Sinn sie hat? Der Sinn, der im Verkörpern liegt, lässt sich ja für jeden seiner Modi aufweisen; sollte das hinsichtlich des Entkörperns nicht auch möglich sein? Und wenn man von einem Sinn der Verkörperung überhaupt reden kann, dann liegt er in der Befähigung zur Lebensführung, wozu gehört, dass der Mensch sich an verkörperten Lebenskonzepten – Plessner spricht von Bildentwürfen 10 und der »bilderschaffenden Lebendigkeit« 11 – orientiert. In dieser Richtung müsste auch der Sinn der Entkörperung Vgl. Plessner, VIII, 136–217. Plessner 2019, 199. 6 Ebd. 7 Vgl. dazu auch Scheler (19572) und Denker wie Kierkegaard, der sich das in seinen Schriften wie kaum ein anderer zur eigenen Angelegenheit gemacht hat. 8 Plessner 2019, 200. 9 Ebd. 10 Vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, VII, 401–418, hier 410, 414. 11 Ebd., 417. 4 5

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Einleitung

überhaupt zu suchen sein, dann jedoch in präziser Hinsicht auf solche Aspekte der Lebensführung verweisen, die sich, selbst wenn man nichts mit ihnen zu tun haben möchte, nicht aus dem Leben tilgen lassen: auf das Vergehen, das Verschwinden, die Leere, das Nichts und das Nichtige, das Ende und, nicht zu vergessen, den Anfang (und damit auf das Freiheitsproblem) sowie auf das, was jenseits, also vor dem Anfang und nach dem Ende als bestimmbare Grenzen, im Unbestimmten und wohl auch Unbestimmbaren liegt – auf alles, was sich der verkörpernden Aktivität entzieht, jenseits derer liegt und zwar nicht immer mit dem Numinosen in Zusammenhang stehen mag, aber durch sein unbestimmbares und dennoch nicht wegzuleugnendes Dasein einen Fingerzeig gibt auf dieses ›Andere‹ und – manchmal vorschnell – als numinos, also geheimnisvoll, gleichwohl übermächtig und faszinierend, jedenfalls als rätselhaft Eingestufte. Aufgrund dieser Verwechslungs- und Täuschungsgefahr wird zu unterscheiden sein zwischen unterschiedlichen Formen des Nichts bzw. der Leere und ebenso verschiedenen Formen des Nichtigseins. 12 Jedenfalls gilt es festzuhalten: Soweit man, korrelativ zu den Akten des Verkörperns, zumindest analog und metaphorisch von Akten des Entkörperns sprechen darf, beziehen diese sich auf das, was der Mensch nicht ausschließlich in seiner Hand hat: Sterben und Tod, das Außer- oder Überweltliche, das keiner Bedingung unterliegende Anfangen, allgemein das, was er nicht bestimmen kann und für ihn (zunächst jedenfalls) unbestimmbar bleibt, auch das Vergehen überhaupt, das Verschwinden und auch das Nichtigwerden. Der Mensch hat es nicht in seiner Hand, hieß es gerade, aber er kann möglicherweise ein solches Verhältnis dazu gewinnen, dass er aus der jeweiligen Entkörperung, auch wenn er sie, als etwas, das ihm widerfährt, nicht in Gang gesetzt hat, eine Art von Verkörperung gestaltet, die seiner Lebensführung oder Lebendigkeit zustattenkommt. Dann rückte das ›Reich der Entkörperung‹ in ein neues Licht. Figur und Grund werden gleichsam umgedreht, die Entkörperung wird neu beleuchtet vor dem Hintergrund der Verkörperung. Den Entkörperungen jedenfalls ist gemeinsam, dass keine materielle Entsprechung, d. h. nichts Stoffliches sich anbietet, in dem es sich in ähnlicher Weise verkörpern könnte wie das, was der Mensch durch seine Aktivität in Objektivationen des Geistes fasst, in solche ›Produkte‹ also, in denen ein ›geistig‹ intendierter Sinn direkt in sinn12

Darauf verweist auch Henrich 2016, z. B. 73, Anm. 93.

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Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation

licher Anschauung körperlich daseiend zum Ausdruck gebracht wird und eine in sich weiter auszudifferenzierende Entsprechung zwischen Sinnlichkeit und Sinngebung vorliegt wie etwa zwischen der Erscheinung eines Hundes, ihrer gegenständlichen Wahrnehmung als Hund, dem vorgestellten oder gemalten Bild eines Hundes und dem Wort ›Hund‹ sowie dem biologischen Begriff ›Hund‹. Doch es ist offensichtlich: was nicht in dieser Weise direkt wahrgenommen, angeschaut, dargestellt, gestaltet, in Worte gefasst werden kann, bahnt sich einen anderen Weg – zum Ausdruck, zur Darstellung und Gestaltung in solchen Symbolen, für die keine direkte Entsprechung zwischen Sinnlichem und Sinngebung namhaft gemacht werden kann, sondern, zieht man einmal das außerhalb der weltlichen Verkörperungen im ›Reich der Entkörperung‹ liegende Numinose in Betracht, eine indirekte sich entweder anbietet, wie in einem die ›majestas‹ 13 des Göttlichen ausdrückenden Berg, etwa dem biblischen Sinai bzw. Horeb und dem Kailash im Himalaya, als Symbol der ›Erscheinung‹ des Göttlichen, oder Gestalt bekommt, wie in einer Kathedrale als symbolische Darstellung der unermesslichen Größe Gottes. Dem korrespondiert dann doch eine gewisse Form der Sinnlichkeit, nämlich Atmosphäre und Gefühl des Numinosen, die in einer Entsprechung stehen zur auf die metaphysischen Rätsel verweisenden Sinnrichtung des Numinosen. Allerdings ist diese spezielle Weise der Korrelation von Sinnlichkeit und Sinngebung nicht in der gleichen, direkten Weise belegbar wie die anderen Korrelationen. 14 Und weil das so ist – weil solche Symbole der Entkörperung mangels einer direkten Entsprechung oder systematisch-wissenschaftlichen Kohärenz nicht den gleichen Verfahren der Bestätigung oder Verwerfung, Nachvollziehbarkeit oder gar Beweisbarkeit unterliegen können wie die Symbole im Bereich von Wahrnehmung (Gegenständlichkeit der Dinge), alltäglicher Erfahrung (Reden und Sprechen) und Wissenschaft (Begriffe und Schlüsse), hat sich an das metaphysische Bedürfnis der Zweifel geheftet, das Zweifeln daran, dass die mythischen und religiösen Riten, Bilder und Erzählungen wahr seien, und es hat sich von der Skepsis Zügel anlegen lassen. Das war auch notwendig, um der Schwärmerei und überschießenden Spekulation Grenzen zu setzen. Kants kritische Philosophie hatte sich Vgl. Otto 2004, 22. Vgl., in kritisch-weiterführendem Anschluss an Plessner und Cassirer, Breun 2003, 144–157; ders. 2014a, 134–138.

13 14

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Einleitung

dies zur Aufgabe gemacht. Sie hat das Wissen begrenzt, um zum Glauben und zur Moral Platz zu bekommen. Die Philosophie insgesamt hat sich, in Abgrenzung von Mythos und Religion, auf den Weg begeben, das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden, Kriterien dafür zu finden und den blinden Glauben durch ein mehr oder weniger methodisches Denken und Nachforschen abzulösen. Insofern nimmt sich die Philosophie die Wissenschaft als Verkörperung der Suche nach dem Wahren oder Richtigen zum Vorbild, wenngleich diese aus jener hervorgegangen war. Philosophie und Wissenschaft traten und treten an, um die intellektuellen Bedürfnisse des Menschen, die sich immer auch ganz pragmatisch aus der Lebenspraxis und ihrer Verbesserung heraus geltend gemacht haben, zu stillen. Sie systematisieren und methodisieren die Suche nach Wissen und dessen Gültigkeit. Die Forschungsarbeit der Wissenschaft, ihre analytische Fähigkeit, pragmatische Orientierung und technische Ausrichtung tragen jedoch nicht dazu bei, dem metaphysischen Bedürfnis irgendwie festen Boden unter den Füßen zu verschaffen, sondern verdrängen es nur, so dass es nach Auswegen sucht, sich anderweitig zu äußern, und sich, statt sich klar und deutlich zu artikulieren, dem Okkulten nähert. Die Philosophie hatte sich anfangs der Aufgabe verschrieben, der Metaphysik – der dem grundlegenden, die Vielfalt ordnenden und auf das Ganze, Eine oder Vollkommene zielenden Fragebedürfnis entsprechenden symbolischen Form – eine allgemein nachvollziehbare Gestalt zu geben, ist dann im Zuge dessen mehr und mehr der Idee der Wissenschaftlichkeit gefolgt, die jedoch zunehmend auf die Verfahrensweisen einer mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft eingeschworen wurde. So hat das metaphysische Bedürfnis keinen renommierten Anwalt mehr, dem man zutrauen könnte, sich seinem berechtigten Anliegen anzunehmen. Berechtigt ist das Anliegen aus zweierlei Gründen. Erstens sind die metaphysischen Fragen einzig mit den Mitteln der Wissenschaft und einer sich ausschließlich als Wissenschaft verstehenden Philosophie nicht beantwortbar und können dennoch nicht zum Schweigen gebracht werden, ja sie dürfen gar nicht abgewiesen werden, wenn man die Perspektive auf Mensch und Welt nicht von vornherein beschneiden und diese nicht vorweg auf das an ihnen Berechenbare und Verfügbare reduzieren, sondern als Ganze einschließlich ihres Verhältnisses zum ›Außerhalb‹ ihrer selbst in den Blick nehmen will. 20 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das metaphysische Bedürfnis und seine Artikulation

Zweitens lässt sich der Bereich der Entkörperung nicht einfach folgenlos streichen oder von dem der Verkörperung ohne Verlust abziehen, da in jedem Verkörpern das Entkörpern mit enthalten ist: als gegenläufige Bewegung, Gefahr des Verfallens, notwendiges Widerlager des Verkörperns, als dessen Bedrohung und, so ist zu vermuten, als die Bedingung, unter der allein die Lebendigkeit des menschlichen Daseins möglich ist und ohne die es sich zum Automaten- oder Maschinendasein wandelte – zu einem allzu matten Bildentwurf vom Menschen und seiner völlig missverstandenen Lebendigkeit, dem man heute, posthumanistisch, allzugerne nachgeht, weil man sich davon wohl eine ›Vereinfachung‹ des Lebens im Sinne einer technischen Veränderbarkeit und Herstellbarkeit verspricht, um nicht die mühselige Arbeit an sich selbst und dem eigenen Selbstverständnis auf sich nehmen zu müssen; missverstanden schon deshalb, weil ein auf Intelligenz reduziertes Wesen weder einen Bildentwurf noch ein Selbstverständnis benötigt, um zu sein. Es braucht bloß seine Funktionalität im Hinblick auf ein Verhaltensschema auf der Basis des bloßen Sammelns, Verknüpfens und geschickten, pragmatischen Verwertens von Informationen. Allerdings rechnet man dabei nicht mit der Kraft der Entkörperung. Ihrem mächtigen Sog kann man sich nicht einfach dadurch entziehen, dass man den ganzen Bereich der Entkörperung technisch auszuradieren sucht. Dann macht er sich anders – unkontrolliert und aus dem Dunklen heraus – geltend. Das Entkörpern lässt sich im menschlichen Leben nicht beseitigen. Es geht, so die Annahme, in jegliche Verkörperung des Geistigen bzw. jede Form der Vergeistigung des Körpers ein – in jede Art von Versinnlichung des Geistes und Vergeistigung des Sinnlichen. Man kann sogar mit Plessner von der »verkörpernd-entkörpernde[n] Existenz des Menschen« 15 sprechen; und wenn man Anhaltspunkte für den zweiten Part in diesem »Doppelverhältnis« 16 sucht, bieten sich die »Sphäre des Traums« und die »Sphäre des Todes« 17 an. In ihnen manifestiert sich, dass der Mensch sogar im Bereich der Entkörperung ohne eine Welt nicht auskommt. In Korrelation zur Welt der Verkörperung kann man sie mit Plessner als »Gegenwelt« bezeichnen; und er fügt hinzu, dass er hier »von 15 16 17

Plessner 2019, 208. Ebd., 203. Ebd.

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Einleitung

Innen- und Überwelt […] zugleich« 18 spricht. Wie diese Gegenwelt konzipiert ist, hängt davon ab, wie der Mensch die Relation zwischen Verkörperung und Entkörperung tätig fasst und denkend erfasst, anders gesagt: die Relation zwischen sich und dem Numinosen, zwischen seinem Dasein und dem Nichtsein, zwischen seiner innerweltlichen Sinn-Geltung und seiner Nichtigung zu einem sinnlosen, in den Weiten des Weltraums oder in der Masse der Menschen verlorenen Etwas, oder: das Grenzverhältnis zwischen dem ›sichtbaren‹ Horizont und dem ›unsichtbaren‹ Jenseits des Horizonts. Die Geschichte des Denkens und die des Glaubens kennen mannigfaltige Beispiele dafür, in welche praktische und theoretische Fassung diese Relation gebracht werden kann.

2.

Die These und ihre Ausarbeitung

Die These, die aus der Philosophischen Anthropologie Plessners folgt, sie hinsichtlich ihres metaphysischen Potenzials weiterzuführen sucht und den folgenden Überlegungen zugrundeliegt, knüpft an einen weiteren, mit der Kategorie der Verkörperung einhergehenden Grundgedanken Plessners an: Der Mensch muss sich mit einem Gegenüber identifizieren, um zu sein. Das gelte wie im Kleinen (1), d. h. in der individuellen Entwicklung der »Personifikation«, 19 so auch im Großen (2), d. h. für den Menschen bzw. die Menschheit. Dieser Grundgedanke sei zunächst erläutert, um dann die These näher ausführen zu können. (1) Der erste Punkt ist in vielen Theorien und empirischen Untersuchungen zur psychosozialen Entwicklung bestätigt worden; der einzelne Mensch braucht einen anderen, an den er sich halten und an dem er, in Gleichsetzung, Vergleich und Auseinandersetzung, überhaupt erst eine Identität ausbilden kann. 20 Diese Rolle des anderen können zeit- und ersatzweise, wie man aus der Entwicklungspsychologie weiß, auch Übergangsobjekte wie Tiere, Puppen, Teddybären und dergleichen spielen. Ego und Alter Ego stehen in Korrespondenz Ebd. Ebd., 207; ders., VIII, 196. 20 Vgl. dazu auch die in vielen Schriften ausgearbeitete mimetische Theorie von René Girard, z. B. 19993. 18 19

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Die These und ihre Ausarbeitung

zueinander. Das lässt sich in ganz verschiedener Weise formulieren, wie es z. B. Piaget und Freud je anders vorgeführt haben, in der Struktur ist es dieselbe Relation. Die eigene Verkörperung muss sich an einer Verkörperung orientieren, in der das Leben eine annehmbare, anziehende und für den eigenen ›Lebensplan‹ – die Idee, die man von einer guten Lebensführung hat – überzeugende Gestalt gefunden hat; oder, freudianisch gesagt, der Einzelne kann gar nicht anders als sich mit seiner Verkörperung zunächst in das vorgegebene Muster geschlechtlich geprägter Verkörperungen einzupassen, um sich von da aus, in Anpassung oder Revolte, weiter zu entwickeln. (2) Der zweite Punkt lässt sich nicht in der gleichen Weise belegen, sondern leitet den Blick auf historisch-kulturelle Phänomene, die sich anders kaum verstehen oder gar erklären lassen. Der von der Natur nicht mit instinktgebundenem Halt und ebensolcher Sicherung begünstigte, in der Unendlichkeit von Raum und Zeit verlorene Mensch brauche, so Plessner, ein Höchstes und Fernstes, das ihm gegenübersteht und mit dem er sich identifizieren kann »als eben der Macht, durch die er lebt«, 21 um seiner konstitutionellen Unsicherheit und Verunsicherung etwas entgegenzusetzen. Wenn das so ist, und der Mensch in seiner beschränkten Macht und letzthinnigen Ohnmacht in einem »Verhältnis der Korrespondenz« 22 zu jener Macht steht, mittels der er seine eigene Unterlegenheit auszugleichen sucht, so der Grundgedanke Plessners, dann darf folgende These formuliert werden: Das Korrespondenzverhältnis von Mensch und Gott bzw. Göttlichem läuft parallel zu dem Korrespondenzverhältnis zwischen Verkörperung und Entkörperung, oder umgekehrt: die Aufeinanderangewiesenheit oder wechselseitige Bezogenheit von Verkörperung und Entkörperung ist zumindest analog zu derjenigen von Mensch und Numinosem, wenngleich noch nicht ausgemacht ist, worin dieses Aufeinander-angewiesen-Sein oder der Wechselbezug genau besteht und wie die Korrespondenz näher zu beschreiben ist. Jedenfalls gilt: Nicht ist das Numinos-Göttliche die bloße Erfindung des Menschen, um eine selbstgebaute Stütze zu haben, sich selbst zu beruhigen und aus sich selbst heraus etwas zu kreieren, woraus er sein Selbstverständnis gewinnt; und ebenso genügt es nicht, dem 21 22

Plessner 2019, 207; ders., VIII, 213. Ebd.

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Einleitung

Menschen einzureden, dass ›diese‹ Welt und sein Dasein in ihr mit seiner materiellen Gebundenheit alles ist, woraus er besteht und worüber er nicht einmal in Gedanken hinausgehen soll – eine Tendenz, die sich immer stärker durchsetzt 23 und eine Gegentendenz zu Esoterik und Eklektizismus in der Religiosität in Gang setzt. Das ›Andere‹ der Welt und des Menschen, das seit Rudolf Otto das Numinose genannt wird, ist vielmehr das Gegengewicht zu Mensch und Welt, das es braucht, um die Waagschale einigermaßen ins Lot zu bringen. Beiden Seiten der Waagschale kommt dabei ein Eigengewicht zu. Beide Zonen, die des Profanen von Mensch und Welt und die des Numinosen von ›Gott‹ und ›Überwelt‹ (inklusive das, womit sich die Innenwelt jedes einzelnen Menschen, auch die des Traums, im Hinblick auf die höchste Macht bevölkern kann), »sind füreinander, beide halten sich die Waage. Aber um das Waageverhältnis kommt der Mensch nicht herum.« 24 Zwar kann der Mensch auch einen die Möglichkeit der Negation bedingenden Abstand legen zwischen sich und seiner Welt einerseits zu dem, was nicht zu dieser Welt gehört (›was nicht von dieser Welt ist‹), andererseits, es genauso wie sich selbst in Frage stellen und nichtigen. Dennoch bleibt es bei dessen Funktion, den Platz auf der anderen Seite der Waagschale zu besetzen. Unleugbar ist es doch, dass der Mensch nicht alles in seiner Hand hat. Schon dadurch erhält sich jenes machtvolle Gegenüber, auch wenn man es außer Sichtweite zu bringen und als Märchen abzuqualifizieren versucht. Ohne ein solches Gegenüber gerät, ebenso wie in der individuellen Existenz, die Waage aus dem Gleichgewicht. Die entsprechende Seite der Waagschale füllt sich dann mit Bildern des Menschen selbst, der sich auf narzisstische, technische, politische oder gewalttätige Weise zu erhöhen sucht, um sich dann in seinem eigenen Hergestellten – einer Maschine, einem Roboter, einer Staatsmaschinerie, einem künstlich ausstaffierten Idol etc. – zu spiegeln. Sein Selbstverständnis gewinnt er aus einem Spiegelbild, in das er lediglich in seiner abgespeckten Variante als homo faber blickt. Dann ist es kein Verhältnis der Korrespondenz mehr, sondern ein solches der einfachen Identität. Der Mensch identifiziert sich mit sich selbst, aber mit seinem reduzierten Bild. Diese Identifikation desselben mit demselben hat fatale Folgen für sein Handeln gemäß dieser verfehlten Selbstauffassung.

23 24

Vgl. dazu bereits Kierkegaard 1843: Furcht und Zittern, 19882, 15. Plessner 2019, 207; vgl. ders., VIII, 213.

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Die These und ihre Ausarbeitung

Es fehlen die Möglichkeiten kritischer Distanz und behutsamer Korrektur. Innerhalb der hier ins Spiel gebrachten Relation bleibt bei Plessner der Begriff der Entkörperung im Unterschied zu dem der Verkörperung allerdings unterbestimmt. Plessner selbst trifft dreierlei Feststellungen, um ihn einer Bestimmung näherzubringen, ohne ihn wirklich zu präzisieren. Erstens ist es der ganze Bereich des Negativen, der auf den der Entkörperung bezogen wird – die »Modi des Nicht-Seins, des NichtDaseins, des Fehlens«, 25 das sich dem Menschen »als Leere, als Hohlform« 26 zeige, und nicht zuletzt der Tod im Verhältnis zum Leben, 27 woran Plessner das Phänomen der Entkörperung hauptsächlich erschließt. Zweitens ist es das ›offene, überschießende Plus‹ jedes Verhaltens, das auf ein Noch-nicht oder Anders-sein-können aufmerksam macht – die sich verschiebende Horizontlinie, die ungewisse Zukunft, die verdeckte Möglichkeit an den Dingen und dem Umgang mit ihnen, also »das nicht Gegebene«, »das Verborgene«, 28 d. h. wiederum das Negative im Verhältnis zum Positiven der Verkörperungen innerhalb des Horizonts, der Gegenwart und Vergangenheit, der wirklich gewordenen Möglichkeiten. Drittens ist es, wie bereits erwähnt, explizit und im Zusammenhang mit den ersten beiden Kategorien das Numinose, das der Entkörperung zuzuordnen ist; es ist im Laufe der Geschichte mit unterschiedlichen Gehalten gefüllt worden – vom Typus des Zoomorphismus über den Theomorphismus bis zum Anthropomorphismus, 29 wobei letzterer »die Begegnung des Menschen mit sich selbst bedeutet«, 30 von der man eigentlich nicht weiß, was das heißt: sich mit sich selbst zu identifizieren, außer dass es ein ungesundes narzisstisches Selbstverständnis mit sich bringt. Viertens und die drei von Plessner genannten Kategorien ergänzend bildet im Anschluss sowohl an das Negative als auch an das Überschießende das »Nichts der Unwissenheit« 31, das Kierkegaard in 25 26 27 28 29 30 31

Plessner 2019, 201; vgl. ders., VIII, 210. Ebd. Vgl. Plessner 2019, 198; vgl. ders., VIII, 209. Plessner 2019, 204; vgl. ders., VIII, 212. Vgl. ebd., 202, 206. Ebd., 203. Kierkegaard 19883, 42.

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Einleitung

seiner Interpretation der biblischen Erzählung vom Sündenfall herausarbeitet, eine eigene Kategorie von Entkörperung, deren Grad und Gehalt – von dem wir nichts wissen können – mit dem Grad und Gehalt des Wissens sowie des Bewusstseins von der eigenen Kenntnis sich wandelt, denn es ist gleichsam das überschießende Plus des Wissens und der Sprache, in der das Wissen aussagbar, aufbewahrt und mitteilbar ist. Wie also kann und muss das Korrespondenzverhältnis beschrieben werden? Es kann nur im Rahmen der menschlichen Lebendigkeit seinen Ort haben, da es hier, wenn anders es keine bloße Schimäre ist, zu einem Ausdruck finden muss, der auch die Transzendierung der innerweltlichen Lebendigkeit einschließt. Die menschliche Lebendigkeit ist gekennzeichnet durch eine spezifische Ausdruckshaftigkeit, anders gesagt, durch ihre besondere Form der Verkörperung. Nun kommt hinzu: Die Sprache ist »eine Expression in zweiter Potenz«, 32 demnach sollte in ihr und in der Art, wie sie im Sprechen, Reden, Schreiben verkörpernd tätig ist, das fragliche Verhältnis einen näher bestimmbaren Ort haben und in ihr zu einem gesteigerten Ausdruck kommen, der zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden kann. Von hier aus sollten dann weitere Rückschlüsse möglich sein. In der Sprache verweist jenes überschießende Plus auf das, was in ihr nicht gesagt, was in jedem Wort an Konnotationen mittransportiert, was außerdem noch gemeint wird, was überhaupt unsagbar bleibt, wenngleich es durch das Gesagte bzw. Nichtgesagte hindurchschimmert. Das heißt: in der Sprache läuft jenes Negative mit, das dann unter bestimmten Umständen zum einen auf das Nichts der Unwissenheit, zum anderen und damit verknüpft, auf das Numinose verweist, unter anderen Umständen auf das nicht-numinos zu verstehende Ersterben, Nichts oder Nichtige, und dieses Negative kann eigens zu einem wenngleich unzureichenden Ausdruck gebracht oder sonstwie bewusst gemacht werden. Um den Bezug der Sprache und ihres Gebrauchs zur Relation zwischen ›Setzung‹ und Negation, ›Blühen‹ und ›Vergehen‹, Leben

32 So Plessner in den Stufen, IV, 417; vgl. auch Bühler 1999, 252: »[…] Sprache potenziert die Leistungen der natürlichen Signale und Symptome, die wir wahrnehmend den Dingen und Verkehrspartnern auch unformuliert abnehmen und verdanken.«

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Die These und ihre Ausarbeitung

und Tod wenigstens allegorisch anzuzeigen, kann als Beleg aus der Poetik eine Betrachtung von Horaz angeführt werden: Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wortveteranen, so blühen eben geborene Wörter und sind kräftig wie Jünglinge. Wir schulden dem Tode uns und das Unsre. […] So werden viele längst schon untergegangene Wörter von neuem geboren, es werden vergehn, die heute geschätzt sind, falls es der Sprachgebrauch will […]. 33 Man muss davon ausgehen, dass die Entkörperung, die bei Horaz in historisch-diachronischer Sicht auf die Semantik angedeutet wird, analog zur Verkörperung ganz verschiedene Bedeutungen und Funktionen haben kann, je nach dem Bereich, in dem sie eine Rolle spielt. So stehen die Verkörperungsmodi der Sinne 34 in einem jeweils ihnen eigenen Verhältnis zum Gegenzug der Entkörperung. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass Plessner in einer 1956 gehaltenen Vorlesung ausführlich auf seine Einheit der Sinne von 1923 zu sprechen kommt und deren recht komplexe Terminologie, die in seinen Schriften ansonsten nicht mehr auftaucht, ausgiebig verwendet. 35 Diese bietet sich für die weiteren Überlegungen an. Deshalb wird im Folgenden immer wieder auf den schematischen Modus des Sehens, den thematischen Modus des Hörens und den syntagmatischen Modus der Zustandssinne (des Schmeckens, Riechens, Tastens) eingegangen, außerdem auf den die Sprache fundierenden dualen Modus, der sich überhaupt als Basis für die Wirksamkeit der Verkörperung und ihrer Modi erweisen wird. 36 Die Philosophische Anthropologie ist darauf angelegt, von vornherein den Blick zu weiten auf die Geschichtlichkeit und kulturelle Vielfalt in der Einheit des Menschseins. Gibt es im Denken bestimmter Kulturen, etwa der indischen mit ihren Traditionen vedischen, vedantischen und buddhistischen Denkens, Hinweise, wie der Horaz 1998, 9. Vgl. Plessner: Anthropologie der Sinne, III, 317–393, hier 370. 35 Vgl. Plessner 2019, 225–246, hier 237–244. 36 Vgl. zur Erörterung des dualen Modus im Verein mit dem syntagmatischen als Ergänzung der Architektonik von Sinnlichkeit und Sinngebung Breun 2003, 144– 162, und zu dessen Verwendung in der Interpretation von Mythos, Religion und Moral ebd., 394–397. 33 34

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Einleitung

Mensch mit dem Bereich der Entkörperung kreativ und produktiv umgehen kann, möglicherweise im »Eigenbereich der Verkörperung«, 37 den Plessner selbst mit Blick auf den Tatbestand der körperlichen Existenz, 38 das sinnliche Empfinden und speziell die Erotik 39 in Betracht zieht? Auch bemerkt er diesbezüglich, dass das Spektrum der Verkörperungsformen die »spezifischen Konkretisierungsmodi der Verleiblichung unseres eigenen Körpers«, 40 darunter solche der Entkörperung, einschließt, denn sie reichen von »der schauspielerischen und tänzerischen Verkörperung bis zur verhüllend-enthüllenden Betonung durch Anzug und Schmuck, von den Eß- und Trinksitten bis zu den Konzentrationstechniken der Selbstbeherrschung und Entkörperung, vom simpelsten Spiel bis zum spezialisierten Sport […]«. 41 Es ist offensichtlich, dass in der indischen Praxis des tätigen Philosophierens Verkörperungen abgebaut werden bis hin zur Entkörperung des Bewusstseins bzw. Denkens von allen Inhalten, um einer Lebensform Raum zu verschaffen, die dem Bereich der Entkörperung, sprich der Loslösung von allen Bindungen, und damit auch dem Tod und was man ihm zuschreibt, einen ganz anderen Stellenwert und Sinn gibt. 42 Auch das chinesische Denken und seine meditative Praxis in der Tradition des Daoismus haben der Wechselbeziehung zwischen Verkörperung und Entkörperung, Sein und Leere, in Texten und Konzentrationstechniken bzw. Übungen zur Beeinflussung und Wandlung des Bewusstseins eine zentrale Stelle eingeräumt. Es ist klar, dass mit einem philosophisch-praktisch initiierten Wandel der Todeserfahrung und der Inhalte des Bewusstseins bzw. der Entleerung des Denkens von allen zufällig auftauchenden Bildern und Assoziationen sowie von überhaupt unkontrollierten Bindungen an Inhalte auch die Lebenserfahrung, die mit der Todeserfahrung eine Einheit bildet, eine andere werden muss. Vielleicht lässt sich darauf einiges Licht werfen, wenn die oben behauptete Parallele der KorresPlessner, III, 389. Vgl. ebd., 382. 39 Vgl. ebd., 389. Vgl. zum möglichen Zusammenhang von Verkörpern und Entkörpern (ohne diese Begriffe zu verwenden) zwischen den Polen Askese und Erotik mit Bezug auf die praxisorientierte indische Philosophie Desai-Breun 2012, passim. 40 Plessner, III, 383. 41 Ebd., 383 f. 42 Vgl. dazu den leibphänomenologischen Zugang zum indischen Advaita und Tantra bei Desai-Breun 2019. 37 38

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Die These und ihre Ausarbeitung

pondenzverhältnisse näher beschrieben sein wird. Plessner sagt in der 17. Stunde seiner Vorlesung von 1961 an einer Stelle, »dieses SichVerkörpern als ein Ent-Körpern« sei nun seinen Zuhörern, so glaube er, »einigermaßen faßbar geworden«, 43 obwohl er nirgends näher darauf eingegangen ist. Dagegen hat er in der Vorlesung hauptsächlich die vielen Verkörperungsweisen des Menschen behandelt, von der Sprache über die Personifikation bis hin zu Rolle und Darstellung. Das heißt aber, dass man in diesen Inkorporationsweisen, auch in den alltäglich üblichen, die Entkörperung immer mitzudenken hat, wenngleich es alles andere als einfach ist, wie dies zu geschehen hat. Jedenfalls gibt das indische Denken in der Tat Fingerzeige, was es heißt, Akte des Verkörperns als Entkörpern durchzuführen. Ein Beispiel sei vorweg genannt: die meditative Übung mit der Silbe OM (AUM). Sie führt von einem ursprünglichen Anfangen durch das Herausholen des A aus dem Atem beim Einatmen über das U und nasale M bis hin zu dessen Ausklingen beim Ausatmen und der anschließenden Stille, 44 die, in ihrem Charakter als Nichts oder Leere, gerade das Ganze, den Einen Urgrund des Brahman repräsentiert. Insofern handelt es sich hier in der Tat um ein Verkörpern als Entkörpern bzw. um ein Entkörpern, das am Ende das Eine, Ewige verkörpert, das Numinose, das sich nicht bloß in der gesprochenen Silbe, sondern gerade auch an deren Anfang und Ende in der Stille bzw. dem Schweigen kundgibt. Zu Beginn muss jedoch weiter ausgeholt werden, um sich der philosophischen Ausgangslage zu versichern und die Fragestellung historisch-systematisch einzuordnen sowie weiter auszuarbeiten.

43 44

Plessner 2019, 199. Vgl. Desai-Breun 2019, 15.

29 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

I. Die Ausgangslage

1.

Die Frage nach dem Ganzen

Philosophie zielt auf das Ganze von Mensch und Welt. Das unterscheidet sie von den Fachdisziplinen bzw. Einzelwissenschaften. Wissenschaftlichkeit muss aber auch von der Philosophie verlangt werden. Außerdem kommt sie nicht umhin, Methoden und Resultate der Einzelwissenschaften zu berücksichtigen. Sie darf sich aber nicht unkritisch wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse zu eigen machen. Denn die Geschichte, gerade auch die des Wissens und der Erkenntnis, zeigt, dass es hier keinen ewig gültigen Bestand gibt. Gerade das ist aber eine fundamentale Problemstellung der Philosophie. Anders gewendet: in dem Problem der Geschichtlichkeit und zeitlich abhängigen Beschränkung wissenschaftlicher Geltung liegt ein Rätsel – letztlich das Rätsel der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens –, das die Wissenschaft um ihrer Leistungsfähigkeit willen übergeht. Sie stellt es der Hoffnung auf Fortschritt anheim, auch wenn nicht klar ist, welche Art von Fortschritt gemeint ist. Immerhin kann der postulierte und allgemein anerkannte Fortschritt diese Vergesslichkeit bezüglich der eigenen Historizität vertiefen und sogar vergessen machen, dass es eine Vergesslichkeit hinsichtlich der Rätselhaftigkeit menschlichen Daseins gibt. Das Dasein wird dem Vertrauen auf Fortschritt überantwortet, die Rätselfragen werden Esoterikern, religiösen Fundamentalisten, letztlich auch der Gewalt, mit der nicht wenige das Leben zu ›gestalten‹ suchen, überlassen. Die vom Rätsel nahegelegte Reflektiertheit und Steigerung an Bewusstheit weicht der Bewusstseinsferne und unreflektierten Dumpfheit der Gewaltneigung. Beide Optionen, diejenige einer vertieften und erweiterten Bewusstwerdung wie diejenige von deren Schwächung, Minderung, gar Abtötung im Verein mit Zerstreuung, Verflachung und Dekonzentrierung, entspringen der dem Menschen eigenen Lebendigkeit, die in Form und Inhalt schwer zu beschreiben ist. Sie ist 30 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Frage nach dem Ganzen

deshalb schwer zu fassen, weil sich in ihr das Rätsel verdichtet. Dilthey hat es näher bezeichnet als »das Rätsel des Ganzen von Wirklichkeit und Leben«, das »Eines, unteilbar, überall gegenwärtig« 45 ist. Obwohl die Lebendigkeit der Ausdruck dieses Ganzen ist, zugleich auch Teil in ihm, stets in einem Verhältnis zu ihm stehend, das es in ihrer unhintergehbaren Expressivität verkörpert, geht aus derselben Lebendigkeit dennoch keine vollständige Anschauung dieses Ganzen einschließlich ihrer selbst hervor. Und wiederum dennoch: sie sucht nach einer solchen Anschauung und Auffassung, selbst dann noch, wenn es ihr in einem seinerseits in der Lebendigkeit wurzelnden Denken einleuchtet, dass ihr der letzte Einblick auf immer versagt bleiben muss. Kant zufolge, der diese Relation auf den Begriff des metaphysischen Bedürfnisses gebracht hat, führt das dazu, dass wir, wie eingangs erläutert, als Menschen Fragen stellen, die wir (in theoretischer Hinsicht) nicht beantworten können. Jenseits dessen liegen Glaube und Moral, und hier haben jene Fragen mit den möglichen Antworten eine praktische Bedeutung; Kant gesteht den in Frage stehenden, theoretisch nicht beweisbaren Ideen von der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit als Unabhängigkeit von der Naturkausalität praktische Realität zu. Eine solche praktische Realität kommt den Entkörperungen generell zu, denn sie haben maßgebliche Bedeutung für die Lebensführung. Diese Lösung der wechselseitigen Begrenzung von Theorie und Praxis, Wissen und Glauben bzw. Moral, befriedigt den Erkenntnisdrang vieler Denker, Forscher und Wissenschaftler nicht. Sie hat schon Hegel nicht überzeugt, der die Grenzzäune wieder eingerissen hat. Aber auch er und seine geistigen Nachfolger konnten nicht verhindern, dass dem Menschen sein Dasein in der Welt rätselhaft bleibt und die damit verbundenen Fragen nicht in lösbaren Problemen aufgehen. Im Gegenteil: umso dringlicher stellen sich die Rätselfragen neu, je mehr man Fragen des menschlichen Lebens, der Lebendigkeit und der Lebensführung in geschlossene philosophische Systeme ohne Berücksichtigung des Spielraums für praktische Freiheit zu überführen sucht. Nicht zufällig ist deshalb aus der Hegel-Kritik sowie aus einer Kritik der kritizistischen Systematik eine Philosophie der Existenz hervorgegangen, die mit Kierkegaard anhebt, eine Philosophie des Lebens, die mit Schopenhauer beginnt und zu Dilthey, Nietzsche 45

Dilthey: Vorlage B, Begriff der Philosophie, VIII, 19916, 140–143, hier 141.

31 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Ausgangslage

und Scheler führt, und mit Marx eine Philosophie der gesellschaftlich-geschichtlichen Existenz des arbeitenden Menschen. Ein anderer Versuch besteht darin, menschliche Lebens- und Sinnfragen um der Vermeidung der quälenden Fragen nach Vergänglichkeit, Geschichtlichkeit, Entkörperung und Tod willen in theoretisierend-wissenschaftliche Problemstellungen zu verwandeln. Dann macht sich allerdings die Tendenz geltend, die Lebenswelt auch in solchen Bereichen Technologien zu unterwerfen, deren Anwendung den Sinn der lebendigen Funktionen verfehlt oder verfälscht, etwa in der alltäglichen Kommunikation, die sich in Unterhaltung, Oberflächlichkeit und Betriebsamkeit aufzulösen droht (man denke hier an die online üblich gewordenen Äußerungsformen, die Auswirkungen haben auf das Verhalten offline), und zwar so sehr, dass einem Beharren auf der gleichwohl unhintergehbaren Frage nach jenem Sinn verständnislos begegnet wird. Auch das ›Gespräch der Seele mit sich selbst‹ (Platon) droht sich in jene Bereiche zu verlagern, die schon immer die Domäne von psychologisierenden Ratgebern und Bescheidwissern waren, welche dem Nichts der Unwissenheit nichts abgewinnen können.

2.

Rätsel und Probleme

Ein Rätsel macht andere Formulierungen von Grundfragen erforderlich als Probleme. Diese zielen auf einen konkret umrissenen Gegenstand, der mit klar beschriebenen Methoden näher erforscht werden kann. Gelingt das nicht, wird das Problem neu gefasst, andere Bezüge werden hergestellt, der Rahmen wird erweitert, die Frage oder die Methode werden variiert. Das führt in der Tat zu überzeugenden, ja überwältigenden Problemlösungen etwa in den medizinischen, naturwissenschaftlichen und in technisch ausgerichteten Wissenschaften, wodurch diese alle anderen als wissenschaftlich sich verstehenden Disziplinen (Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften) in ihr Magnetfeld ziehen, die Philosophie eingeschlossen. Macht diese sich anheischig, sich dem Sog zu entwinden, gegen den Strom zu schwimmen und Rückfragen an das zu stellen, was man als Mythos der Wissenschaftlichkeit bezeichnen kann, dann läuft sie Gefahr, aus dem ›Diskurs‹ ernstzunehmender ›Forscher‹ und Gelehrter ausgeschlossen, mit dem Siegel der ›Unwissenschaftlichkeit‹ bedacht und obsolet zu werden. Sie wird in dieselbe Ecke gestellt wie Schwär32 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Rätsel und Probleme

mer, Lebenskünstler, Schwadronierer und geistige Verführer. Dabei wissen gerade auch die letztgenannten nicht um die Rätselfragen, die sich angesichts des Ganzen stellen, sondern instrumentalisieren die Rede vom ›Ganzsein‹ und von der ›Ganzheitlichkeit‹ für eigene Zwecke etwa des Auslebens bestimmter Emotionen und Sehnsüchte, des Strebens nach Gewinn oder Macht. All das bedeutet aber auch, dass Rätsel und Probleme sich nicht wechselseitig ersetzen oder verdrängen können. An die Grenze des Beantwortbaren und in propositionale Aussagen Fassbaren stoßen evozierende Redeweisen, die das nicht Aussagbare auszusprechen versuchen. 46 Und diese Grenze ist offen, das heißt, das Rätselhafte ragt in das Problematische hinein und umgekehrt; mitunter erweitert oder klärt sich der Bereich des Rätsels, wenn für einen bestimmten Teilbereich des Rätselhaften eine Problemfassung und Problemlösung gefunden worden sind, weil neue Fragen auftauchen, die nun ihrerseits eine Problemfassung nicht zulassen. Wie das Rätselhafte und das Problematisierbare miteinander verquickt sind, zeigt exemplarisch die Frage nach Leben und Tod. Das Leben kann als Problem aufgefasst und mit den Mitteln der Biologie und Chemie ›gelöst‹ werden. Die kleinsten isolierbaren Einheiten des Organismus werden in Formeln und Zahlen gefasst. Dabei bleibt allerdings Einiges zurück, das sich der Problemstellung entzieht, seinerseits jedoch ein Motiv abgibt, um überhaupt nach beantwortbaren Problemformulierungen zu suchen: das sogenannte Schicksalhafte des Lebens, etwa dass man gerade als dieser hier und jetzt geboren wurde, dass der individuelle Organismus dieses oder jenes Aussehen hat, dass es überhaupt Leben gibt mit seinem Verlauf zwischen Noch-nicht-Sein und Nicht-mehr-Sein, womit die Frage nach dem Tod bzw. dem Nichts vor der Geburt und nach dem Ende des Lebens auftaucht. Der Tod wiederum kann in wissenschaftliche Definitionen gezwängt werden, um ihn handhabbar zu machen, etwa für Organtransplantationen etc., dennoch bleibt es, einmal abgesehen von der Zeit und Art seines Eintretens, ein Rätsel, was er für das lebendige Sein eigentlich bedeutet, und zwar so sehr, dass gerade er es ist, der dem Leben des Menschen die Frage nach dessen Bedeutung aufdrängt, so dass es gar so weit kommen kann, dass der Sinn eines zu Ende gehenden Lebens in die Organspende gelegt wird, also geradewegs in das, was durch eine szientifische Definition des Lebensendes 46

Vgl. Misch 1994, bes. Kap. VIII, hier 511–546.

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Die Ausgangslage

in die Form eines Problems gebracht worden war, um so der Rätselfrage ein Schnippchen schlagen zu wollen. Überdies bestimmt der Tod maßgeblich die Planung, Sicherung und Selbstartikulation des Lebens und anderes mehr. Auch das Selbstverständnis des individuellen Menschen ist mehr oder minder bewusst durch dessen Stellung und Einstellung zum Tod grundiert. Die Zeitbedingtheit von Lebensverlauf und Lebensplanung ist ohne eine Vorstellung vom Tod, die in der Todesgewissheit wurzelt, gar nicht denkbar. Umgekehrt wird der Tod vom Leben her gedacht – als Ende des Lebens, als Nichts gegenüber dem lebendigen Dasein, als Weiterleben in anderer Form, als zu überwindender Widerstand und Widerspruch zum Leben, als Voraussetzung für ein neues, (moralisch) geläutertes Leben usw. An diesem Beispiel zeigt sich also, wie nicht bloß Verkörperung und Entkörperung ineinander ragen, sondern auch jeweils Problemstellung und Rätselfrage. Es handelt sich in anthropologischen Dingen immer und so auch hier um eine in sich gebrochene Einheit, deren Momente ineinander verschränkt sind, aber ein Ganzes bilden, das aufgrund des mit dem Bruch ausgelösten Vollzugszwangs nicht vergegenständlicht werden kann. Das Ganze ist nicht problematisierbar, sondern als Rätsel aufgegeben, und als Aufgabe ist es vornehmlich eine Angelegenheit der Praxis, möglicherweise der moralischen, wie es Kant erörtert hat, oder einer metaphysischen, wie es indischen Texten zu entnehmen ist, die immer zugleich auf eine Praxis verweisen, welche dann ihrerseits, als Folge der erarbeiteten Bewusstheit und Wahrhaftigkeit, ohne moralische Stringenz mit entsprechenden Konsequenzen in der Einstellung und im Handeln gar nicht zu verstehen ist. 47

3.

Philosophie und Wissenschaft

Das Ganze von ›Wirklichkeit‹ und ›Leben‹ ist das entscheidende Stichwort. Es impliziert Raum- und Zeitverhältnisse und damit u. a. die sich aufdrängende Frage der Geschichtlichkeit auch der Wissenschaften. Noch einmal: den Wissenschaften selbst bleibt nichts anderes übrig, als diese Frage auszuschließen, auch wenn es inzwischen Wissenschaftsgeschichte gibt. Die Geschichtlichkeit selbst rührt aber 47

Vgl. Desai-Breun 2019, 179–182.

34 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Lebensbezug

nicht an die Tatsache, dass Wissenschaften immer so tun müssen, als ob das Gefundene, Entdeckte und Erfundene eine Gültigkeit erlangt hätten, die allgemeine Anerkennung auch über die Zeiten hinweg verdient. Zwar weiß man um die Vorläufigkeit der Resultate, aber deren geschichtlicher Aufbau spielt keine Rolle: sie ziehen ihre Geschichte nicht im Schlepptau hinter sich her. Es ist die Philosophie, die demgegenüber zum einen am geistig-geschichtlichen Aufbau, zum anderen an der Vergänglichkeit auch eines solchen, mit Beweiskraft und experimentellem Nachweis untermauerten, szientifischen Bestandes, was Inhalte und Methoden einschließt, festhalten muss, wenn sie nicht selber als Einzelwissenschaft eingestuft und damit als überflüssig erklärt werden will. Denn als Fachdisziplin hätte sie keine Berechtigung, weil ihr kein Fach und keine science-analoge Fachlichkeit zukommt. Auch führt sie keine Beweise, entwirft keine der gängigen Experimente – es sei denn, man betrachtet die Menschheitsgeschichte als ein Experiment, oder man akzeptiert Kants Entwurf eines Experiments, das die Vernunft mit sich selbst anstellt, als science-adäquat; die Philosophie hat nicht einmal allgemein anerkannte Methoden. Um wenigstens letztere Forderung zu erfüllen, reduziert man Philosophie auf formale Logik und entsprechende analytische Verfahrensweisen, wozu heute nicht wenige ›Forscher‹ neigen, oder man zwingt sie unter das Joch derselben Betriebsförmigkeit wie andere Wissenschaften, die aber weniger darunter leiden. Wenn Philosophie sich nicht als reduktiv, überdies doch als Wissenschaft verstehen, gleichzeitig aber auch nicht die Rätselfrage nach dem Ganzen inklusive der Geschichtlichkeit fallenlassen will, was bleibt ihr dann?

4.

Lebensbezug

In der Moderne macht man sich verdächtig, wenn man in diesem Sinne vom Ganzen redet. Da es nicht als lösbares Problem gefasst werden kann, lässt man es lieber gleich bleiben, überhaupt noch davon zu sprechen. Andererseits kommt man nicht umhin, des Ganzen gewahr zu werden. Denn bereits Empfindungen und Wahrnehmungen liefern auf je andere Weise trotz ihrer ›Abgeschattetheit‹, Singularität, Partikularität und Perspektivität etwas, das als Ganzes bezeichnet werden muss – als Ganzes, das im jeweiligen Teil aufscheint bzw. dieses gerade deshalb so und so aussehen lässt, weil es vom Gan35 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Ausgangslage

zen Teil ist und dieses Ganze irgendwie (re)präsentiert. So z. B. sehen wir den einzelnen Menschen als ganzen, ja in ihm die Menschheit 48 und damit die Welt, und wir müssen von diesem Ganzen, das wir wahrnehmen und auf das wir in Interaktion und Gespräch reagieren, erst absehen – wie dieses Absehen bewerkstelligt wird, verläuft je anders und hängt auch von individuellen und kulturellen Rahmenbedingungen ab –, um am Menschen einzelne Stücke wie die Farbe der Augen oder die Falten um den Mund eigens zu sehen, dann wiederum ins Ganze zu fügen. Diese Konstellation verweist darauf, dass das Ganze, ob das eines Menschen oder das ›Ganze überhaupt‹, das unter verschiedenen Namen, ob All, Kosmos, Welt, Leben oder Allleben, thematisiert wird, das Aufgefasste und das Auffassen umschließt; jeder Mangel, der innerhalb dieser Konstellation existenziell oder anderswie spürbar ist, zeigt an, dass das Auffassen nicht zu einer Übereinstimmung mit dem Aufgefassten gelangt bzw. eine Entsprechung in Form und Gehalt verfehlt, weil es nur gestückelte Teile zum Gegenstand der Untersuchung macht, ohne das Ganze, das den Teilen vorausliegt und diesen ihre Eigenart als Stücke jenes Ganzen verleiht, zu berücksichtigen. 49 Man kommt der Sache näher, wenn man an dieser Stelle Dilthey folgt und einerseits die Begriffe der Struktur und des Zusammenhangs einführt, andererseits die als Prinzipien einzustufenden Kategorien des Lebens und der Lebendigkeit. Das Ganze ist ein strukturiertes Ganzes. In der Dilthey-Forschung wird die Struktur des geschichtlich aufgebauten Ganzen in den Rahmen dessen gestellt, was Dilthey je verschieden »Lebenszusammenhang«, »Strukturzusammenhang« und »Wirkungszusammenhang« genannt hatte. Dilthey selbst hatte diesen Komplex einerseits unter dem Stichwort einer zergliedernden und beschreibenden Psychologie, 50 andererseits mit den Mitteln einer an der Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen ansetzenden und historisch aufgeklärten Hermeneutik 51 untersucht. Auch die Philosophie nahm er Vgl. Schiller 2000, 49, 85; Kierkegaard 19883, 28: der Mensch ist Individuum »dergestalt, daß das ganze Geschlecht am Individuum und das Individuum am ganzen Geschlecht teilhat«. 49 Vgl. dazu für die Seite des Auffassens Kants Begriff einer »Vernunfteinheit«, KrV, B 673, A 645; IV, 566: in ihr ist vorausgesetzt die »Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht«. 50 In Band V der Gesammelten Schriften. 51 In Band VII der Gesammelten Schriften. 48

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Lebensbezug

unter diesen Aspekten ins Visier und erörterte ihre Struktur als Ausdruck von sich einander ablösenden und bekämpfenden Weltanschauungen. 52 Im hier gewählten Rahmen einer philosophisch-anthropologischen Fragestellung und Verfahrensweise muss sich ein Strukturund Lebenszusammenhang aus der Parallelfassung des oben erläuterten Korrespondenzverhältnisses beschreiben lassen. Was bei Dilthey zwar lediglich peripher, aber immerhin schon andeutungsweise in den Blick gekommen war, ist die Bezogenheit des Strukturzusammenhangs auf den Leib, denn zugrunde lag für Dilthey der Lebensbezug überhaupt, der als unhintergehbar und nicht auf anderes zurückführbar, gleichsam als das Urphänomen per se, ausgezeichnet worden war. Der Bezug von allem, was wahrgenommen, gedacht, gefühlt und gewollt, was als wirklich erkannt, als wertvoll bestimmt, als Norm gefordert und als Zweck gesetzt wird, auf das Leben, sowohl das individuelle als auch das gemeinsame und jedenfalls immer auch geschichtlich verfasste, ist aber ebenso unhintergehbar an den Leib gebunden. Was am Leib erfahren wird und erfahren werden kann, ist der Index des Wirklichen. Zwar löst sich das sogenannte geistige Leben sukzessive von dieser Bindung, indem es die Welt des Objektiven, des unabhängig von leiblich fundierten Lebens- und Erlebensbedingungen Geltenden schafft; 53 aber selbst und gerade das Geistige lässt sich ohne den Rückgriff auf den Leib nicht verstehen (wie insbesondere Cassirer und Plessner in vergleichbarer, aber je anderer Weise gezeigt haben). Plessner zufolge erweist sich der Mensch im Lachen und Weinen, den beiden Ausbrüchen an den Grenzen des Verhaltens, »als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art« 54 aber auch hier, im Verlust der Selbstbeherrschung, in seinem Außer-sich-sein, zeigt sich die Bindung an den Körperleib, der anstelle der Person auf die Situation antwortet. Und weder die Abwendung vom Leben, die Verneinung jeglichen Bezugs zum Leben noch die Leugnung der Leibgebundenheit können eine daraus resultierende Rückwirkung auf Leib und Leben nicht vermeiden. Gerade eine alles umfassende und beherrschende mathesis universalis hätte einen weitreichenden Einfluss auf die menschliche Selbstauffassung und damit auf die Lebensführung sowie die Artikulation des Leibes, In Band VIII der Gesammelten Schriften. Vom geistigen Leben in diesem Sinne handeln vor allem die Schriften von Georg Simmel und Max Scheler. 54 Plessner, VII, 235. 52 53

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Die Ausgangslage

ebenso jede Art von Unterordnung des Lebens und seiner Gestaltung unter lebensferne oder das Leben negierende Prinzipien und Normen, seien sie religiöser, politischer oder gesellschaftlicher Herkunft. Es ist aber bereits deutlich geworden, dass die Beschreibung eines Strukturzusammenhangs, dessen Netz vom Lebensbezug zusammengehalten wird und dessen mögliche Gehalte unter der Bedingung der leiblich-geistigen Existenz mit all ihrer Transformationsfähigkeit und Transzendierungsausrichtung stehen, die Frage nach dem Verhältnis des Lebens zum Tod, allgemein zum Negativen oder Nichts, nicht außer Acht lassen darf und damit die Prägung des Lebensverhaltens und der Lebendigkeit durch dieses Verhältnis zu thematisieren hat. Der Lebensbezug impliziert die Relation zur Selbstartikulation des Lebens in seinen Verkörperungen, damit aber zugleich das Verhältnis zur Entkörperung, die vom Hintergrund her beständig ihre Wirkung entfaltet und sich zuweilen in den Vordergrund spielt, sei es als Störung oder gar Aufhebung der Sinnorientierung oder, andererseits und möglicherweise in grundsätzlicher Fundierung, als Bedingung der Entfaltung von Sinn. Der schier unentwirrbar verästelte Strukturzusammenhang lässt sich am Leitfaden des Lebensbezugs – all das eingeschlossen, was mit ihm mitlaufend verwoben wird –, so auseinanderlegen, dass sich seine Hauptlinien im Farben- und Formenreichtum der unzähligen Konkretionen und Erscheinungen der Lebendigkeit als deutliches Muster abzeichnen.

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II. Strukturzusammenhang

1.

Verkörperungen: Leibgebundenheit und Artikuliertheit

Der Sachverhalt der Leibgebundenheit wird heute vielfach traktiert, nicht nur in der philosophischen Leibphänomenologie, sondern auch in der Psychologie, Psychopathologie, Soziologie und Kunstwissenschaft, unter dem Stichwort der embodied cognition inzwischen auch in der analytisch-szientifisch geprägten Philosophie. Diese Vielfalt ist kaum noch überschaubar. Was angesichts der Rätselfrage nach dem Ganzen, das strukturiert und geschichtlich ist, festgehalten zu werden verdient, ist das den Leib in all den genannten Aspekten auszeichnende Merkmal, dass er Synthesen vollzieht, und zwar nicht solche, die erst nachträglich analytisch getrennte Teile zusammensetzen – das wäre eine technische Art des Synthetisierens wie heute etwa in der Biogenetik –, sondern solche Synthesen, die eine ursprünglichsynthetische Einheit in einem zeitlichen Verlauf mit geschichtlich aufgebauter Artikuliertheit konkretisieren und praktisch wirksam werden lassen, d. h. in schöpferischer Tätigkeit und, um es vorwegzunehmen, nicht zuletzt auch mit moralisch-praktischer Ausrichtung. Es sind also Synthesen, die in Erscheinungen da sind, welche sich am Leib entzünden, in ihm anschaulich und darstellbar werden, sich aber verflüchtigen, wenn man die entsprechenden Erscheinungen immer schon unter nachträglicher analytischer Perspektive betrachtet, in Einzelteile zerlegt, um sie dann, allerdings nicht mit dem gewünschten Erfolg, wieder zusammenführen zu wollen. M. a. W.: was der Leib mit allem, was zu ihm gehört an Beziehungen nach ›innen‹ und ›außen‹, zeigt, was ihn zu einem geschichtlich und kulturell zwar unendlich diversifizierten, formal jedoch vergleichbaren Verhalten in vielgliedrigen Verhältnissen führt, verdankt sich ursprünglichen Synthesen, die als solche wahrgenommen und aufgefasst werden müssen. Es hat sich eingebürgert, diesbezüglich von Verkörperungen zu 39 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

sprechen. Humboldt hat diesen Begriff bereits in einem Vortrag von 1824 und in einem Text von 1824–1826 verwendet; 55 Moritz Lazarus benutzt ihn 1865 56 in ähnlicher Bedeutung wie Dilthey den von Hegel entlehnten Begriff des objektiven Geistes oder, präziser, der Objektivationen des Lebens. Auch Cassirers Rede von symbolischen Formen zielt auf diesen Sachverhalt. Plessner wiederum verwendet den Begriff der Verkörperung in umfassender Weise, 57 so etwa im Hinblick darauf, was die Sinne als Verkörperungsmodi geistig sinngebend leisten; optisch, akustisch, geschmacklich ergeben sich je andere Konstellationen von verstehbarer Bedeutung im Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, Spüren. Unabhängig von der jeweiligen Bezeichnung, die man wählt, sind es die Leibessynthesen in ihrer unterschiedlichen Ausprägung zufolge der Verkörperungsmodi, die, unter Einbeziehung der jeweiligen, den spezifischen Verkörperungen als Gegenströmung zugehörigen Entkörperungstendenzen – man kann hier von dem Zwillingsphänomen der Lebendigkeit sprechen –, das ›Ganze von Wirklichkeit und Leben‹ strukturieren und für dessen geschichtlichen Aufbau sowie kulturelle Diversifizierung verantwortlich zeichnen und diese nachvollziehbar machen.

2.

Leibessynthesen

Leibessynthesen 58 liegen ganz unterschiedlichen Erscheinungen, Gestalten und schöpferischen Tätigkeiten zugrunde. Einige davon seien in vier Gruppen kursorisch genannt. (1) So beruhen die eben genannten sinnlichen Verkörperungsmodi (der optische, akustische, olfaktorische, gustatorische, taktile Modus) darauf, dass in ihnen je anders körperliche Voraussetzungen Humboldt bezeichnet den Laut als »Verkörperung einer geistigen Zeugung« (1968, 427), das »tönende Wort« sei »eine Verkörperung des Gedanken, die Schrift eine des Tons« (1963, 84). 56 Vgl. Lazarus 2003, 179 f. 57 Explizit von der Verkörperungsfunktion der Sinne spricht Plessner allerdings erst in seiner späten Schrift zur Anthropologie der Sinne (1970), IV, 317–393, hier Kap. 7, 370–384. Zuvor (1948) fasst er die Bandbreite der schauspielerischen Leistungen unter dem Begriff der Verkörperung zusammen (Zur Anthropologie des Schauspielers, VII, 399–418, hier 407). 58 Der Begriff stammt von Paetzold 1984, 144; vgl. Breun 2014a, 123. 55

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Leibessynthesen

des Wahrnehmens (Anschauens) beim Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten mit dem geistigen Zugriff (Auffassen) leiblich verbunden werden; erstens zum schematischen Modus des Sehens und daran anschließend des Handelns, zweitens zum thematischen Modus des Hörens und daran anschließend des Ausdrucks in der Musik und im Tanz, drittens zum syntagmatischen Modus der Zustandssinne im leiblichen Selbsterleben und dessen Artikuliertheit sowie darauf aufbauend in der Artikulation von Sprache und Schrift. 59 Daneben gibt es solche Modi, in denen sich die Möglichkeiten des Handelns, Ausdrückens und Artikulierens verbinden, etwa in der Malerei, Architektur oder Technik. Für die Sprache kann gesagt werden, dass in ihr in einer Art von Steigerung der Ausdruckshaftigkeit, die näher beschrieben werden muss, Handlung, Zeichengebrauch und Ausdruck auf einer höheren Ebene zusammenfließen. Das Sprechen (als ein Handeln, Kundgeben und Sichausdrücken) wurzelt zwar in jenem Modus, den Plessner als syntagmatischen der Zustandssinne herausarbeitet – denn die ›Kundgabe durch Zeichen‹ geht durch das leiblich-zuständliche, Welt vermittelnde Selbsterleben hindurch und artikuliert es –, der aber hinsichtlich seiner Quelle und Funktionsweise als dualer Modus identifiziert werden kann, 60 weil er der Zwischenleiblichkeit von Ich und Du, der Mitwelt oder Wir-Sphäre des Geistes entspringt und deren Strukturprinzip, die Reziprozität der Perspektiven, gleichsam in Worte fasst: der Austausch geht in den Wortwechsel über. (2) Des Weiteren wird der ursprüngliche Zusammenhang von Leben und Tod als deren Verschränkung im konkret existierenden Leib sichtbar – einerseits im Altern und Sterben wie auch in bestimmten Lebensformen und -einstellungen, andererseits in der Würde des Toten, der Unantastbarkeit des Leichnams und in bestimmten Formen bzw. Motiven der Ausübung von Gewalt (gegen sich und andere).

Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne (1923), III, 7–315, hier bes. der Vierte Teil; vgl. dazu Breun 2003, 128–133. Zu einer ausführlichen Untersuchung der komplexen Genesis und Struktur der Ästhesiologie Plessners vgl. Lessing 1998. 60 Vgl. Breun 2003, 144 f.; 2014a, 132 f.; der Begriff des dualen Modus stammt von Binswanger (19644) und wurde, im Anschluss an Tellenbachs ästhesiologische Untersuchungen zum Geschmack (1968), von Max Herzog (1995, 154) als Ergänzung der Ästhesiologie Plessners hinsichtlich einer sachlich notwendigen Erweiterung des syntagmatischen Modus eingeführt (vgl. dazu Breun 2014a, 132 f., Anm. 47). 59

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(3) Die Scham lässt sich als Verkörperung der Einheit von Körper und Selbst verstehen, in welcher der Körper den Selbstverlust in einer Weise wettmacht, dass es zum unabsichtlichen Erröten oder anderen leibgebundenen Indizien für eine Selbstdarstellung im Selbstverlust, eine (noch zu erläuternde) Verkörperung in der Entkörperung also, kommen kann. 61 (4) Würde kann als Inbegriff von Haltung überhaupt gelten, und zwar der Einheit von ›äußerer‹ und ›innerer‹ Haltung, welche sich leiblich kundgibt und zum geistig-kulturellen Prinzip wird: zur Form des Menschseins überhaupt mit festlegbaren normativen Inhalten. 62 (5) Darüber hinaus handelt es sich bei allen Haltungen um Leibessynthesen; nicht zufällig verwendet Plessner den Begriff der Haltung, um die konkreten, kulturelle Leistungen generierenden Vollzugsformen der Verbindungsmodi zwischen Körper und Geist – Handlung, Zeichengebrauch, Ausdruck – zu bezeichnen. 63

3.

Grenzverhältnisse

Allgemein lassen sich Leibessynthesen bestimmen als vorgängige Verbindungen zwischen Sinnlichkeit (Körper) und Sinngebung (Geist) in leiblichen Aktivitäten. Vorgängig deshalb, weil sie Erfahrung ermöglichen, Erfahrung von Lebendigkeit und all den Tätigkeiten wie auch pathischen ›Vollzügen‹ oder Widerfahrnissen bzw. ›passiven Synthesen‹ (Husserl), die an den Leib gebunden sind. So kann gesagt werden: Menschliche Lebendigkeit wurzelt in spezifischen, der menschlichen Daseinsform eigenen Leibessynthesen. Ihre Spezifik liegt darin, dass ihnen eine nicht von Anfang an und nicht ständig bewusste Reflexion innewohnt, eine ›Zurückbeugung‹ von sich weg auf sich hin, welche jede Tätigkeit prägt, und zwar biographisch wie historisch je anders, wenngleich die Reflexionsform allen zugrundeliegt. Das zeigt sich z. B. an den Bewegungen, die der Mensch zu vollziehen hat, etwa wenn er einen Fuß vor den anderen setzt oder eine Hand hochhebt. Zwar muss er dabei nicht überlegen, wie er das macht, aber er muss es eingeübt haben, um nicht mehr überlegen zu 61 62 63

Vgl. Breun 2014a. Vgl. Breun 2014a, ders. 2017. Vgl. Plessner, III, 209–221.

42 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Vollzug des Philosophierens

müssen. Bei diesem Üben gilt es, die Distanz zu überwinden, die das Individuum, das Leibselbst, zu seinem Körper hat, zugleich jedoch ohne diese Distanz aufzugeben, denn das hieße die Beherrschung über den Körper zu verlieren. Hier macht sich der ursprüngliche Widerspruch zwischen Körper und Leib geltend, dessen ›Überwindung‹ durch Vollzug (etwa von Bewegungen) der menschlichen Lebendigkeit eigen ist. Solche Vollzüge gehen bis in das Philosophieren hinein als einer bewussten und das Selbstbewusstsein zur Erscheinung bringenden Reflexionsbewegung, die den ganzen Lebens-, Struktur- und Wirkungszusammenhang zu erfassen sucht, und zwar nicht von außen beobachtend, sondern selbst mittendrin stehend. Das ist mit Diltheys Wort vom Lebensbezug gemeint. Es ist wichtig festzustellen, dass ein solches philosophisches Erfassen nicht um der Theorie und des müßigen Theoretisierens willen erfolgt, sondern um das Leben zu verstehen in dem Maße, dass es sich meistern lässt. 64 Hier waltet wiederum die gleiche Struktur wie beim Körper-Leib-Verhältnis: Distanz zum Körper, um ihn als Instrument zu verwenden unter dem Regiment des leiblichen Selbst; Distanz zum Leben, um es zu orchestrieren und zu dirigieren unter dem Regiment des lebendigen Leibselbst. Und so wie man dem Körper ausgeliefert sein kann, so auch dem Leben und seiner dschungelhaften Üppigkeit, wenn man es nicht schafft, sich ihm gegenüber zu verhalten, d. h. Grenzen zu ziehen, sie zu verschieben, um Horizonte zu öffnen, und Grenzen neu zu setzen, wenn es erforderlich ist. Leibessynthesen implizieren Grenzverhältnisse, und das ursprüngliche Grenzverhältnis ist das des organischen Körpers zu seiner Grenze, wie Plessner gezeigt hat.

4.

Der Vollzug des Philosophierens

Der Vollzug des Philosophierens richtet sich auf das Ganze und damit auf das Grenzverhältnis zwischen dem Auffassen und dem Aufgefassten, dem Wahrnehmen und dem Wahrgenommenen, dem Erkennen und dem Erkannten, dem Denken und dem Gedachten, kurz und allgemein: zwischen dem Leben und dem System als dem Inbegriff der erkannten Ordnung des Lebens. 65 Ein synthetisches Phi64 65

Vgl. Breun 2006c. Vgl. die frühe Krisis-Schrift Plessners, I, 143–310; vgl. dazu Breun 2006c.

43 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

losophieren, das sich das zu Erkennende nicht vom Leibe hält, es aber auch nicht mit Haut und Haar verschlingt, sondern die leibessynthetische Praxis mitvollzieht, zwingt zu folgendem Schluss: Die Form des Auffassens muss mit der Form des Aufgefassten vereinbar sein; 66 das ist eine Konstellation, der bereits Kant mit dem Schematismus als Vermittler zwischen Anschauung und Begriff gerecht zu werden versucht hat. Der philosophische Vollzug muss getragen sein von der Lebendigkeit des Menschen und der Dynamik seiner Welt, er darf nicht davon absehen im Sinne einer analytisch-szientifischen Abstraktion und Reduktion auf das letztlich Messbare und zahlenmäßig Erfassbare. Das bedeutet, dass sich die philosophische Reflexion der Singularität und sinnlichen Sättigung des Angeschauten anzuschmiegen hat, andererseits jedoch die Distanz einnimmt, die es zu wahren gilt, damit überhaupt etwas erscheint und anschaulich wird, und zwar so, dass es weder durch den Blick ›von außen‹ verfälscht noch durch eine zu aufdringliche Naheinstellung verbogen wird. Dieser erkenntnistheoretischen Problematik mit ethischen Implikationen war sich Kant bewusst, als er seine kritische Denkart ins Werk setzte; Dilthey wusste ebenso darum, als er die eigene Geschichtlichkeit in die Geschichtlichkeit des hermeneutischen Objekts einbezog, um dennoch an der Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen festzuhalten; und nicht zuletzt legt Husserl Zeugnis davon ab, wenn er den phänomenologischen Zugang ›zu den Sachen selbst‹ unablässig neu zu bestimmen sucht. Plessner setzt die Reihe dieser Denker fort. Bei ihm hat die besagte Konstellation Eingang gefunden in seinen spezifisch philosophischen Zugang zum Rätsel des Lebens, zu den Grenzen der Problematisierung von ›Lebendigkeit‹ und zu einer Hermeneutik, die sowohl die Naturgrundlage als auch die Kultur in ihrer geschichtlich aufgebauten Vielfalt angemessen berücksichtigt. Plessners Philosophie kann Hinweise liefern, wie sich mit der Frage nach Leben und Lebendigkeit, die unlösbar bleibt, solange man sie als Problem formuliert, so umgehen lässt, dass ihre Fassung als Rätsel – man kann es als ›Rätsel der Synthesis‹ 67 formulieren – neue Wege zwar nicht zu einer Problemlösung, so doch zu einem sinnvollen Umgang mit der Rätsel-

Vgl. Breun 2006c, 541 f. Als solches habe ich es in Breun 2014a, 11, bezeichnet und im Hinblick auf Scham und Würde weiter ausgeführt.

66 67

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Das Prinzip der Hiatusgesetzlichkeit und seine anschaulichen Varianten

frage erschließt, letztlich zu einem metaphysisch aufgeklärten Selbstverständnis des Menschen und seiner Welt.

5.

Das Prinzip der Hiatusgesetzlichkeit und seine anschaulichen Varianten

An dieser Stelle ist ein kurzes Wort zu Plessners Werk notwendig. Nach einer langen Zeit der Vernachlässigung bzw. des Ignorierens ist es inzwischen vielfach gewürdigt worden. Seit es eine Renaissance erfährt bzw. überhaupt erst in seiner philosophischen Bandbreite zur Kenntnis genommen wird, sind sowohl Einzelstudien zu bestimmten Fragen anthropologischer, ästhetischer, historischer, geschichtsphilosophischer und soziologischer Art als auch Einführungen und Gesamtdarstellungen erschienen. Kaum aber werden der genuin philosophische Zugang, seine Systematik und sein möglicher Ertrag für daran anschließende philosophische oder gar metaphysische Versuche thematisiert und einer Prüfung unterzogen. Das mag an der schier unüberschaubaren inhaltlichen Fülle und dem formalen Variantenreichtum des Werks und seiner so unterschiedlichen Zugänge zu Einzelfragen liegen. Dennoch lassen sich bestimmte philosophische Grundsätze ausmachen. Bei näherem Hinsehen schält sich überdies ein philosophisches Prinzip heraus, das eine Denkstruktur bzw. Auffassungsweise leitet, die es sich nicht leicht macht mit Widersprüchen oder Paradoxien; denn sie versucht nicht, diese logisch-analytisch oder dialektisch zu beseitigen. Da jenes Prinzip gemäß der Forderung nach Kompatibilität, schärfer noch: Isomorphie, von Auffassen und Aufgefasstem auch dem letzteren, also dem, ›was ist‹ bzw. für das Auffassen erscheint, zukommt und dessen Struktur bestimmt, handelt es sich um eine metaphysische Kategorie. Zwar erscheint es für das Auffassen, aber in einer eigenständigen, von diesem unabhängigen Weise, wenn anders das Auffassen nicht bloß um sich selbst kreisen soll und nur sich selbst auffasst. Plessner hat diesem Prinzip den Namen der Hiatusgesetzlichkeit gegeben. 68 Was damit ausgesprochen und gemeint ist, regiert den Strukturzusammenhang der menschlichen Lebendigkeit. Daraus resultieren verschiedene Wirkungszusammenhänge, die als Varianten der Grundstruktur eingeVgl. Plessner, IV, 208. Vgl. zur philosophischen Systematik Plessners in Verbindung mit diesem Prinzip Breun 2006c.

68

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schätzt werden können, denn in allen macht sich der Hiatus geltend und bedingt eine je verschiedene Anschauung und Erfahrung, d. h. er geht in das Erleben und Selbsterleben des Menschen ein mit all den Brechungen und antagonistischen Tendenzen, die es aufweist: die Entkörperung als Gegenzug der Verkörperung; die Verschränkung, insbesondere zwischen Körper und Leib, aber auch zwischen Umwelt und Welt. 69 Der frühe Plessner spricht im Hinblick auf die Grundstruktur im Anschluss an Kant auch von der höchsten Form der Synthesis, nämlich der (vorgängigen, apriorischen) Verbindung von einander widersprechenden Momenten, die sich wechselseitig voneinander abheben, gestalttheoretisch gesprochen wie die Figur vom Grund und umgekehrt. So steht Abhebung als weiterer Begriff für dieses Strukturprinzip und betont die der menschlichen Lebendigkeit eigene Relation von Nähe und Ferne (Fernnähe), die auch das Verhältnis von Mensch und Welt in seinen vielen Facetten bestimmt. Es sind verschiedene Aspekte desselben Strukturzusammenhangs und deshalb verschiedene Bezeichnungen: Hiatusgesetzlichkeit bzw. Bruch, Verkörperung und Entkörperung, Verschränkung, ursprüngliche Synthesis antagonistischer Momente, Abhebung; systematisch-anthropologisch steht dafür der Name der exzentrischen Position. Was ist damit gemeint? Und lassen sich die verschiedenen Aspekte des Strukturzusammenhangs so aufeinander beziehen, dass sie sich wechselseitig und damit die metaphysischen Fragen näher beleuchten?

6.

Außenweltliche, innenweltliche und mitweltliche Brüche

Am besten, man schaut sich zunächst an, was aus der Struktur der Hiatusgesetzlichkeit resultiert, um dann Schlüsse für den Strukturzusammenhang ziehen zu können. Zunächst einmal lässt sich im Anschluss an Plessners Deduktion der Lebenskategorien in den Stufen feststellen: Es sind Akte der Verschränkung über einen außen-, innen- und mitweltlich beschreibbaren Bruch hinweg, die in Leibessynthesen anschaulich und für jeden Einzelnen spürbar werden, weil der Leib der Gebrochenheit Herr zu werden versucht, indem er gestaltet, ausdrückt und darstellt – ver69

Der Begriff Verschränkung stammt von Hegel 19773, 145; vgl. Breun 2014a, 116 f.

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Außenweltliche, innenweltliche und mitweltliche Brüche

körpert und dabei gegen die starke Strömung der Entkörperung arbeitet. Er kann sich diese zunutze machen oder sich ihr überlassen. Denn wie leicht ist es und wie leichtfertig ist man schnell bei der Hand, sich dem Sog des Entkörperns zu überlassen, indem man sich der Anstrengung entledigt, den richtigen Ausdruck für das präzise Bedeuten zu finden oder immer besser verstehen zu wollen; indem man sich dem Nichtigen und Sinnlosen anheimgibt, einer Art von ›süßem Nichtstun‹, bei dem man sich der mühseligen Tätigkeit des Sinnschaffens und Initiativwerdens, des kein Ende findenden Selbstwerdens und Selbstseinkönnens enthoben glaubt? Allerdings wird man dann feststellen, dass auch noch im Entkörpern (etwas) verkörpert wird, und die Geschichte der Menschheit zeugt von allerlei Proben, dieses Verkörpern im Entkörpern nicht bloß in Bilder des Vergeblichen und Vergänglichen eingehen zu lassen und als Scheitern zu fassen, sondern aktiv zu gestalten, nicht zuletzt mit dem Ziel, dem Tod – als Inbegriff der Endgültigkeit des Verschwindens und des Zerstörerischen überhaupt – den Charakter eines bloßen Widerfahrnisses zu nehmen und ihn stattdessen in die Vollzugsformen eines aktivproduktiven Umgangs hineinzuzwingen. Für einen verkörpernden Eintritt in die Dimension der Entkörperung – die bewusste, das Leben und das Sterben formende Überschreitung der Schwelle – hat vor allem die indische Philosophie in Theorie und Praxis Wege gewiesen. 70 Die in die Leibessynthesen eingehenden und zuweilen offenbar werdenden Brüche lassen sich im Hinblick auf die Außenwelt, die Innenwelt und die Mitwelt beschreiben. Außenweltlich ist es die Gebrochenheit, Verschränkung und Synthese zwischen Körper und Leib 71 – bemerkbar zum einen in Störungen der Bewegung und des Körpereinsatzes, was das Üben notwendig macht, um mittels der Instrumentalisierung des eigenen Körpers ein leibliches Selbst werden zu können, zum anderen, korrelativ dazu, an der Erscheinung der Dinge, die niemals vollständig ›für uns‹ da sind, sondern immer mehr als das, was lediglich ›abgeschattet‹ (Husserl) erscheint, ›an sich‹ haben. Die Dinge sind in unserer Wahrnehmung ebenso prismatisch gebrochen wie wir selbst mit unserem Körper.

70 71

Vgl. dazu Desai-Breun 2015; dies. 2019. Vgl. Plessner, IV, 366–368.

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Innenweltlich ist es die Gebrochenheit, Verschränkung und Synthese zwischen Seele und Erlebnis 72 – bemerkbar am Einfluss, den Erlebnisse auf das Seelenleben haben können, und umgekehrt an der (Vor-)Prägung der interpretativen Art des Erlebens durch ein mehr oder weniger stabiles seelisches Konzept, etwa bestimmte ›Komplexe‹ und traumatische Verfestigungen, aber auch positive Vorstellungen und Erwartungen. Mitweltlich ist es die Gebrochenheit, Verschränkung und Synthese zwischen Ich und Wir 73 – bemerkbar daran, wie das Ich im Wir einer Gemeinschaft oder Gruppe aufgehen kann, und umgekehrt an der Identifizierung des Wir mit dem eigenen Ich oder auch der Einbeziehung des Wir ins eigene Ich. Überdies sind sowohl das Ich (1) als auch das Wir (2) keine jeweils ungeschiedene Einheit bzw. mit sich ungebrochen identisch, sondern fallen auseinander: (1) zum einen in das Ich, das sich distanzierend abhebt, auch sprachlich im pronominalen Gebrauch der ersten Person Singular, und das Ich, das jeder selbst ist und mit dem er zusammenfällt; (2) zum anderen in das eine Distanz einnehmende Wir der ersten Person Plural und das Wir einer Gemeinschaft oder Gruppe, mit der sich der Einzelne identifiziert. Das generiert eine im Sozialleben und in der psychosozialen Entwicklung sich auswirkende Oszillation zwischen Abstoßung und Anziehung, Trennung und Identifizierung, Individualität und Sozialität, Nachahmung und Neuschöpfung, die sich historisch-kulturell je anders auswirkt. Die Gebrochenheit macht eine Verschränkung erforderlich, deren lebendiges Ineinander aus dem Gleichgewicht geraten kann, so dass die im Vollzug avisierten Synthesen misslingen oder auch in einer neuen, intentional regulierten Weise gelingen. So kann der Körper ungewollt an die Stelle des ohnmächtig gewordenen, depersonalisierten Leibselbst treten (z. B. in der tiefen Scham); die Seele kann in einer Art Verlängerung des Vergangenen in die Gegenwart hinein dem Erleben den Raum verengen oder nehmen (wie z. B. im Trauma); das Ich kann das Wir nicht bloß repräsentieren, sondern es regelrecht minimieren oder gar ausradieren (z. B. im tyrannischen Charakter, der sich an die Stelle aller anderen setzt, die für ihn nichts mehr gelten). Und jeweils umgekehrt: das Leibselbst beherrscht die Körpermechanismen vollständig und sucht seine Körpergebundenheit zu 72 73

Vgl. Plessner, IV, 368–373. Vgl. Plessner, IV, 373–382.

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Außenweltliche, innenweltliche und mitweltliche Brüche

überwinden (so etwa das Bestreben des Yogi); 74 das Erleben füllt den Zeitverlauf ohne Rest und lässt die Seele nicht zu sich kommen, um sich zu ordnen (so im Taumel beschleunigten Aktivismus oder eines unablässigen passiven Sich-Unterhalten-Lassens); das Wir überflutet das Ich (z. B. in der Masse, wie es Canetti beschrieben hat). 75 Es stellen sich zwei Fragen, die an die obige These anknüpfen. Erstens: Lässt sich das Verhältnis zwischen Verkörperung und Entkörperung als deren Verschränkung fassen, für die dann auch gelten müsste, dass der Bruch die Einheit sei? Das wurde bereits in den obigen Überlegungen zur Kategorie des Lebensbezugs in Rede gestellt, und das hieße: das Entkörpern wirkt in das Verkörpern hinein und umgekehrt, so wie der Körper in den Leib und umgekehrt, das Erleben in die Seele und umgekehrt, das Wir in das Ich und umgekehrt. Zweitens: Lässt sich diese Verschränkung auf das Verhältnis zwischen Mensch und Welt einerseits und dem Numinosen und Göttlichen, d. h. dem Jenseits der Welt oder Überwelt, andererseits abbilden? Das hieße: wir müssten über dieses Verhältnis, vermittelt über jenes, einigen Aufschluss erhalten können, um festzustellen, ob und wie das je eine in das je andere hineinwirkt. Um nun in einem weiteren Anlauf den Strukturzusammenhang zwischen der Gebrochenheit der exzentrischen Position in all ihren Dimensionen, der Verschränkung zwischen Körper und Leib, der damit notwendig werdenden Verkörperung und ihrem Pendant, der Entkörperung, sowie den Abhebungen von ›Schichten‹ und Ebenen, die daraus resultieren, näher zu beleuchten, soll zunächst Paul Alsbergs Prinzip der Körperausschaltung erläutert werden, vor dessen Folie der in Frage stehende Strukturzusammenhang umso deutlicher hervortreten kann.

74 75

Vgl. Eliade 2004. Vgl. Canetti 1996.

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III. Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung

1.

Das Prinzip der ›Körperausschaltung‹

Paul Alsberg sucht in seinem Buch über das von ihm so bezeichnete Menschheitsrätsel 76 nach einem Prinzip, wonach sich der Mensch vom Tier unterscheidet und eine Entwicklung einschlägt, die ihn, ohne ihn vom Reich der Natur auszuschließen, zugleich über diese erhebt, weil es ihm möglich ist, mittels Technik, Sprache und Vernunft sein Leben zu ordnen und zu führen. Er findet dieses »›Menschheitsprinzip‹« 77 in dem Vorgang der »›Körperausschaltung‹«. 78 Diese tritt an die Stelle der tierischen »›Körperanpassung‹« 79 und bedeutet, dass statt Teilen des Körpers Werkzeuge eingesetzt werden; so verwendet man, um ein einfaches Beispiel zu nennen, statt der Hand einen Hammer. Zwar ist der Körper nicht ausgeschaltet, insofern er das Werkzeug verfertigt und bedient, aber die Leistung, auf die es ankommt, ist die des Werkzeugs. 80 Aus dem ›Rückschritt‹ des Körpers, der ja als Folge des Werkzeuggebrauchs bestimmte Teile aufgrund der Nichtverwendung zurückbildet, resultiert zugleich ein Fortschritt, so etwa bei der Ausbildung der Hand in ihrer Feingliedrigkeit und Beweglichkeit. 81 Analog gilt das auch für Sprache und Vernunft. Die Sprache ersetzt die Sinnesorgane, denn wir müssen nicht selbst etwas wahrnehmen und körperlich anwesend sein, um über etwas informiert zu werden und Erfahrungen machen zu können. Alsberg bringt hier das Beispiel des Reiseberichts, in dem wir viel von anderen Ländern ›er-

76 77 78 79 80 81

Alsberg 1937. Ebd., 57. Ebd., 49. Ebd. Vgl. ebd., 53. Vgl. ebd., 56.

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Das Prinzip der ›Körperausschaltung‹

fahren‹ können, ohne selbst dort gewesen zu sein. 82 Zugleich ergeben sich aus dieser Art von Körperausschaltung weitere ›Fortschritte‹ : der Sprechapparat bildet sich aus und das Gehirn entfaltet sich weiter. 83 Außerdem ist an die Sprache die Fähigkeit der Begriffsbildung geknüpft und damit die Vernunft als das Vermögen, unanschaulich-abstrakt Allgemeinvorstellungen mit ihren Auswirkungen in Wissenschaft, Moral und Ästhetik 84 hervorzubringen. Gerade hierin zeigt sich dann, wie das Prinzip der Körperausschaltung zugleich Körperbefreiung bedeutet: der Mensch wird »von der Naturbeschränktheit des Körpers erlöst«. 85 Die »Grundformel« lautet: »Das Tier steht unter dem Entwicklungsprinzip des ›Körperzwangs‹, der Mensch unter dem der ›Körperbefreiung‹«. 86 Denn der Mensch befreit sich vom Zwang der Triebe – im wissenschaftlichen Streben nach dem Wahren um seiner selbst willen, 87 vom Zwang der Bedürftigkeit – im moralischen Streben nach dem Guten um seiner selbst willen, 88 und vom Zwang des gegenständlichen Begehrens – im ästhetischen Streben nach dem Schönen um seiner selbst willen. 89 Die Frage stellt sich: Handelt es sich bei der Körperausschaltung um einen Modus der Entkörperung, durch den die Verkörperung der kognitiv-geistigen Intention – repräsentiert im Werkzeug und seinem Gebrauch – möglich wird, ähnlich, wie Edgar Wind 90 den Verkörperungsbegriff verwendet? Wind sieht z. B. in Apparaturen der physikalischen Forschung die geistige Intention verkörpert, die der Wissenschaftler mit seinen Experimenten verfolgt. Und: Verweist nicht vielmehr die Instrumentalisierung des Körpers beim Menschen auf die Spezifik seiner Leibposition, in der der Körper dasselbe wie der Leib und doch absolut verschieden von ihm ist?

82 83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. ebd., 62. Vgl. ebd., 68. Vgl. ebd., Kap. 11, 79 ff. Ebd., 55. Ebd., im Orig. gesperrt. Vgl. ebd., 80. Vgl. ebd., 80 f. Vgl. ebd., 81. Vgl. Wind (1934), veröffentlicht 2001; vgl. Breun 2014a, 54 f., Anm. 21.

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Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung

2.

Körpereinsatz

Nun erschöpft sich die Palette der menschlichen kulturellen Leistungen aber nicht im Werkzeuggebrauch oder in der Weitergabe von Informationen, auch wenn sie sich bei der Suche nach dem ›Menschheitsprinzip‹ aufdrängen. Wie steht es mit Vollzügen, in welchen der Körper eingesetzt werden muss, um ihn in der Darstellung und Anschauung selbst vergessen zu machen und übersehen lassen zu können? Es sind Prozesse des unablässigen Übens, z. B. beim klassischen europäischen Ballett oder indischen Tanz (Bharatanatyam), die das ermöglichen. In der Präsentation des Körpers wird beim Anschauen der Körper übersehen, und man sieht ›durch ihn hindurch‹ das, was dargestellt – was im Tanz inhaltlich-formal zum Ausdruck gebracht werden soll: die geistige Sinngebung, zumal im indischen Tanz, bei dem jede Mimik und Gestik eine symbolische Bedeutung mit metaphysisch-religiöser Intention hat. 91 Das ist möglich unter der Bedingung des Ineinanders von Ding und Selbst, von Körper und Geist im Leib. Dann tritt zweierlei in Kraft: (1) die geistige Intention wird mittels des Körpers verkörpert; (2) der Körper wird vom ›Träger‹ der Intention, das heißt vom Leibselbst, entkörpert, da er sich doch für den Dienst an der sachlichen Intention gleichsam aufopfert. Beides erfolgt zugleich auf der Basis der Körper-Leib-Verschränkung. Selbst beim Sprechenlernen sowohl der Muttersprache als auch einer Fremdsprache müssen die Sprachwerkzeuge so in Gebrauch genommen werden, dass am Ende nicht mehr daran gedacht werden muss, (1) wie die Laute mit Zunge, Lippen, Gaumen etc. gebildet werden; und (2) dass ich es selbst bin, der dies tut. Beides kann dem Vollzug in die Quere kommen, sowohl (1) das körpereigene Werkzeug, wenn man darauf aufmerksam wird, als auch (2) das Selbst mit seinem Leib, der es ist, wenn es sich in den Vordergrund spielt. Dann misslingen die Verkörperung des geistigen Sinns oder die Entkörperung des leiblichen Sinnträgers. Gerade an solchen Beispielen zeigt sich der doppelte paradoxale Prozess, wobei die Paradoxien bereits dadurch vorgezeichnet sind, dass Körper und Leib, obwohl sie nicht zusammenfallen, dasselbe sind. 92

91 92

Vgl. Desai-Breun/Breun 2010. Vgl. Plessner, IV, 367.

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Körpereinsatz

Erstens die Verkörperung: Der Körper tritt in den Hintergrund, obwohl er es ist, der durch sein Stehen im Vordergrund allererst die Sichtbarkeit bzw. Hörbarkeit ermöglicht, und das Geistige tritt materialisiert und objektiviert in Erscheinung. Zweitens die Entkörperung: Auch das Leibselbst tritt in den Hintergrund, obwohl es für die Intention einsteht, und der geistig gemeinte ›Gegenstand‹, das Darzustellende, wird zur Figur im Vordergrund. Im Ganzen genommen handelt es sich also nicht um den Vorgang der Körperausschaltung; dagegen um eine Doppelung im Vollzug, mittels derer Geistiges ›sichtbar‹ wird: eine Entkörperung in der Verkörperung – die Selbstzurücknahme des ›Darstellers‹ – sowie eine Verkörperung in der Entkörperung – die Sinnfälligkeit des instrumentalisierten Körpers bei seinem Darstellen. Denn der Mensch muss ja mit seinem Körper in solchen Fällen ›etwas‹ verkörpern und zugleich, um diesem ›Etwas‹ Raum zu gewähren, sich selbst zurücknehmen bis hin zur Nichtigung seines Leibselbst, mit dem er doch diese Verkörperungsleistung erbracht hat. Ein Indiz für diese (außermoralische) Art von Nichtigung ist, dass bei gelingenden Vollzügen dieser Art der Ausführende ›sich selbst‹ und die Zeit ›vergisst‹, wie es gerne formuliert wird. Verkörperung und Entkörperung sind unauflösbar aneinander gebunden, und diese Interdependenz, 93 die sich ganz besonders in der Leibessynthese von Leben und Tod bekundet, aber auch in allen anderen Leibessynthesen nachweisbar sein muss, ist das Prinzip, unter dessen Leitung solche Möglichkeiten der Verlebendigung überhaupt erst realisiert und verstanden werden können. Kann es die Stelle des Menschheitsprinzips einnehmen, die Alsberg der Körperausschaltung zuweist, deren Reichweite und Aussagekraft aber begrenzt ist, wenn man Leistungen einbezieht, in welcher sich der Körperleib selbst instrumentalisieren muss? Und lässt es sich als metaphysisches Prinzip begreifen, weil es eine jener Kategorien ist, unter welcher sowohl das Anschauen und Auffassen als auch das Erscheinen und Ausdrücken (im weitesten Sinne) stehen, um in eine Haltung und einen Vollzug, so z. B. die Performanz des Tanzes, zu münden?

93

Vgl. Breun 2014a, 170.

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Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung

3.

Orientierung an einem (Vor-)Bild

Alsberg möchte alles Kulturelle, vom Menschen Geschaffene, kunstvoll-künstlich Erzeugte, aus der Körperausschaltung ableiten. Dabei parallelisiert er jedoch all dies mit der Technik, die ihm als Urbild zum Vorbild dient, und präferiert ohne weitere Begründung den optischen Modus der Verkörperung, den Schematismus, der in Geometrie und technischem Handeln gipfelt; er nimmt gleichsam das Verfahren Kants, das an Mathematik und Naturwissenschaft ansetzt, zum Vorbild. Gerade aber bei Alsbergs Bestimmung der Sprache als Information macht sich das grundsätzliche Ungenügen dieser Auffassung bemerkbar. Denn: Was hat es mit dem Klang (als Repräsentanten der Bedeutung) 94 auf sich, wie ist die poetische Sprache einzuordnen, wie verhält es sich mit den sprachlichen Elementen, die nicht bloß Informationsträger sind, etwa in alltäglichen Gesprächen, die gar keinen sachlichen Inhalt haben, sondern bloß höflichkeitshalber den Verständigungswillen dokumentieren sollen? Können all diese sprachlichen Funktionen als Folgeerscheinungen der auf Körperausschaltung basierenden Informationsfunktion erklärt bzw. begreiflich gemacht werden? Oder gibt es einen ›tieferen‹ Grund, aus dem die verschiedenen Möglichkeiten des ›Körpergebrauchs‹, so auch die an der Sprache offensichtlich werdenden, ›gleichursprünglich‹ hervorgehen? Zunächst einmal lässt sich eine Parallele zu Kants Vorgehensweise ziehen, und zwar im Verfahren der Nachahmung oder Analogie. Der grundlegendere Sachverhalt ist doch der, dass Alsberg sich an einem Bild orientiert und orientieren muss, genauso wie Kant, der sich auf der Suche nach einer Metaphysik, die als Wissenschaft möglich sein soll, das Bild des mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaftlers vor Augen hält. Alsberg hat, was die Sprache anbelangt, das Bild eines Menschen vor Augen, der etwas weitergibt, d. h. eine Information mitteilt, ohne die Hände zu benutzen und ohne auf den direkten Augenschein angewiesen zu sein. Das hieße aber, die menschliche Sprache nicht anders zu verstehen als die sogenannte Bienensprache (und andere ›Tiersprachen‹). Der Naturwissenschaftler repräsentiert aber nicht die ganze Palette menschlicher Lebendigkeit. Sollte es nicht vielmehr der Schauspieler, der Darsteller von Szenen und letztlich des Menschen in sei94

Vgl. Stenzel 1958; darauf wird später noch näher eingegangen.

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Der Schauspieler als Bild des Menschen – der Mensch als Bild für den Schaus-

nen vielen Variationen, Verhaltensweisen und Verhältnissen sein, der als Urbild des ›Menschheitsprinzips‹ zu gelten hat und als Vorbild für die Künstlichkeit der menschlichen Natur? Er verkörpert nicht nur einen partiellen Bereich der menschlichen Lebendigkeit, sondern diese selbst, weil sich in ihm zeigt, wie das Selbst sich selbst präsentiert, um sich gleichsam abspalten und in eine Rolle schlüpfen zu können, auf die es ankommt, um, von sich selbst absehend, dem Betrachter etwas ›zeigen‹ zu können, sei es tatsächlich in der Zeigegeste selbst oder in der Funktion des Anführers, des Lehrers, überhaupt allen gesellschaftlichen Rollen, und nicht zuletzt in der Funktion des Technikers und Machers, denen auch ein Rollenbild zukommt. Der Mensch instrumentalisiert sich selbst und weiß, dass er sich und seinen Körper instrumentalisiert, gerade auch beim Sprechen. 95 Und für diese Leistung ist Voraussetzung, sich von sich unterscheiden und distanzieren zu können – es ist Bedingung des Machenkönnens, d. h. sich bzw. einen Teil seiner selbst ›mit anderen Augen‹ anschauen, wie einen fremden Gegenstand zum Instrument und Werkzeug machen zu können.

4.

Der Schauspieler als Bild des Menschen – der Mensch als Bild für den Schauspieler

Der Mensch ist Schauspieler, insofern er sich verkörpern muss, und der Schauspieler macht die Situation des Menschen durchsichtig, weil er diesen Sachverhalt der Verkörperung nutzt und zeigt. 96 So bündeln sich in der Verkörperungsleistung des Schauspielers alle sinnlichen Modi, vermittelt im syntagmatisch geordneten Selbsterleben, das kunstvoll in den schauspielerischen Ausdruck mündet; und dieser wiederum ist auf den dualen Modus angewiesen, den Austausch nicht nur zwischen Ich und Du, sondern auch zwischen mir und mir, dem Ich als Wir mit sich selbst als einem anderen, einem Du, dem ich im stillen oder vernehmbaren Selbstgespräch gegenüberstehe und das mir erlaubt, mir selbstkritisch Rede und Antwort zu stehen, um Klarheit zu erlangen. Manchmal ist gar ein Zwiegespräch mit einem anderen nur dazu da, solcher Selbstkritik Raum zu geben, d. h. den anVgl. Plessner 2019, 59. Vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, VII, 399–418; vgl. dazu Breun 2003, 243–251.

95 96

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Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung

deren als alter ego einzusetzen, um zu überprüfen, ob die eigenen Gedanken haltbar sind. Gerade in der Aktivität des Schauspielers werden die vielen Variationsmöglichkeiten des Zwillingsprozesses deutlich. Im Schauspieler vollzieht sich das Verkörpern ineins mit dem Entkörpern, und in ihm wird offensichtlich, in wie vielen Arten dies möglich ist, d. h. welche Optionen offenstehen, das Verhältnis zwischen Selbst und Rolle konkret werden zu lassen, so zum Beispiel: (1) mit dem Selbst im Vordergrund (der Schauspieler, der in jeder Rolle sich selbst spielt), (2) mit dem völligen Aufgehen des Selbst in der Rolle (der Schauspieler, der sich der Rolle völlig anverwandelt), (3) als Abspulen der Rolle (wie auswendig gelernt), (4) in starrer, am Ende destabilisierender Identifikation mit der Rolle, (5) in ironischer Distanz zur Rolle u. v. m. So ist es die Maske oder Rolle der Person, in der sich der Vollzug der menschlichen Lebendigkeit am deutlichsten zeigt. Das lässt sich wohl in allen Kulturen nachweisen, auch wenn nicht in allen die gesellschaftliche Funktion der Rolle in der gleichen Weise ausdifferenziert ist wie in den modernen industrialisierten und bürokratisch durchorganisierten Staaten; 97 Bemalung und Maskierung, auch Verstellung und Inszenierung waren und sind Teil des menschlichen Alltagslebens wie auch der sakral herausgehobenen Zeiten, und sie zwingen dem Menschen immer wieder die Frage nach der Authentizität auf, einmal mehr eine der Fragen, die aus seiner paradoxen Lage hervorgehen. Eine weitere Überlegung spricht dafür, dass der duale Modus, der allererst das Selbstverhältnis als Bedingung des schauspielerischen Vollzugs ermöglicht, auch und ineins mit diesem Selbstverhältnis die grundsätzliche Möglichkeit des homo faber bedingt. Denn auch für den schematischen Modus des Sehens und des darin gründenden Auge-Hand-Feldes mit der Fähigkeit des Handelns (statt bloßen instinktgebundenen Verhaltens) ist die Annahme begründet, dass die Unterlage, auf der seine Funktion, Einsatzbereitschaft und Wirksamkeit sich in Regelmäßigkeit entwickeln kann, im dualen Modus be97

Vgl. Plessner, VIII, 200–203.

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Der Schauspieler als Bild des Menschen – der Mensch als Bild für den Schaus-

steht. Erst die mit diesem einhergehende Reziprozität und das Sichin-sich-selbst-Unterscheiden des Individuums lässt es zu, dass sich ein Körperteil vom Leibselbst so abhebt, dass es in der Folge davon instrumentalisiert, ›ersetzt‹ und ausgeschaltet werden kann. Überdies können Spekulationen über das Werden des Menschen aus der Tierwelt heraus, wie sie etwa Claessens 98 auf empirischer Grundlage und im Anschluss an Alsberg angestellt hat, die Annahme bestätigen, dass auch die technisch orientierte Körperausschaltung beim Kampf ums Überleben in einem dual organisierten Bezug des Menschen zu anderen (Tieren oder Menschen) gründet bzw. nicht ohne dessen Einschluss möglich ist. Denn dem Ausschalten eines Körperteils und dem Einsatz eines Werkzeugs, etwa eines Steins zur Distanzierung des Gegners beim Stehenbleiben und drohenden Sichumwenden, geht eine Hinwendung voraus, die man, was die Vorannahmen über den Widerpart und den Anfangsschritt angeht, als dialogisch bezeichnen kann, weil es eine explizite Kontaktaufnahme ist ineins mit einer unter der Bedingung eines Selbstverhältnisses zustande gebrachten Selbstdistanzierung, und dieser Vorgang unterliegt seinerseits der Bedingung des dualen Verkörperungsmodus. Diese Hinwendung tritt an die Stelle des Fluchtversuchs, der angesichts der körperlichen Fähigkeiten zum Scheitern verurteilt ist. Eine andere Form der Hinwendung war für das Jagen obligatorisch; es war immer mit Ritualen verbunden, die der engen Beziehung zwischen Jäger und Gejagtem Tribut zollten. Das erlegte und verspeiste Tier wurde in Opferritualen verehrt und besänftigt, es wurde sakralisiert. Setzt man den dualen Modus als die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Lebendigkeit überhaupt, dann wird grundsätzlich klar, dass er Voraussetzung der schematischen, thematischen und syntagmatischen Haltungen und ihrer Bündelung im Verhalten sein muss, zumal für die Selbstpräsentation des Menschen in allen seinen Performanzen und Rollen bis hin zur Darstellung dieser anthropologischen Situation in der Leistung des Schauspielers, ganz zu schweigen vom Reden und Sprechen. Der Vollzug des Philosophierens hat hier und nicht lediglich an der Körperausschaltung anzusetzen. Hielte sich die Philosophie ausschließlich das Bild des ingeniösen Menschen, des Werkzeugerfinders, Ingenieurs und Naturwissenschaftlers vor Augen und machte es sich zum Urbild für das eigene ›Forschen‹, dann schränkte sie die 98

Vgl. Claessens 1993.

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Körperausschaltung, Verkörperung und Entkörperung

mögliche Erfahrung und das Selbstverständnis des Menschen wiederum so ein, dass Kunst, Poesie, Religion u. a. in ihrer Eigenheit als autonome symbolische Formen und Verkörperungen ausgeschlossen würden. Es ist aber der Mensch gerade in seiner Rolle als Philosoph, der nicht nur wie der Schauspieler bzw. die Person als Rollenträger sein Selbst sich präsentiert, sondern um diese unhintergehbare Situation weiß und sie sich in allen Konsequenzen bewusst zu machen sucht, um das Rätsel des Menschseins in einer solchen Weise transparent werden zu lassen, dass das metaphysische Bedürfnis zwar nicht gestillt – denn das wäre das Ende der menschlichen Lebendigkeit –, sondern der Lebensführung zum Wegweiser und dem individuellen Leben zu einem Halt wird, statt es zu verwirren und nach falschen Auswegen zu suchen.

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IV. Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

1.

Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung

Nochmals zur Vergewisserung über das hier eingeschlagene Verfahren: Die Relation zwischen Verkörperung und Entkörperung, die die Lebendigkeit des Menschen historisch und kulturell in einer kaum überschaubaren Vielfalt prägt, wird nach und nach unter je verschiedenen Perspektiven und in ihren je unterschiedlichen Aspekten betrachtet. Zuletzt handelte es sich um eine Gegenüberstellung mit Alsbergs Prinzip der Körperausschaltung. Das hat dazu geführt, dass sich das Bild des Schauspielers, der den Menschen verkörpert, ineins mit dem Bild des Menschen, der sich als Schauspieler, d. h. in Rollen, Masken, personiis, verkörpern muss, als tiefer gelegene Grundlage der menschlichen Lebendigkeit erweist. Die Körperausschaltung ist eine der zwingenden Folgen, die aus dem Strukturzusammenhang resultieren; und dieser, so hatte es geheißen, wird von der Hiatusgesetzlichkeit maßgeblich bestimmt, oder strenger formuliert: unter seine Regie genommen. Der Hiatus manifestiert sich als Verschränkung. Es ist klar, dass sich die Verschränkung in den verschiedenen Bereichen und Lebensverhältnissen, in denen sie statthat, je anders auswirkt. Jedoch weist Vieles darauf hin, dass sie sich immer als ein »Ineinander von Verkörperung und Entkörperung« 99 realisieren muss. So wird es von Plessner bezeichnet, aber, wie erwähnt, nicht nach seinen verschiedenen Formen differenziert. Das kann dann manchmal verwirrend sein, weil das Verkörpern im Verhältnis zum Entkörpern je anders beschrieben werden müsste, was Plessner aber versäumt. Wie das Ineinander, »dieses Sich-Verkörpern als ein Ent-Körpern« 100 und umge99 100

Plessner VIII, 213. Plessner 2019, 199.

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Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

kehrt, das Entkörpern als ein Sich-Verkörpern, sich vollzieht und in welchen Akten, hängt davon ab, wo der Schwerpunkt zu setzen ist, damit aus dem Ineinander Bedeutung und Sinn hervorgehen können. Auch weist es eine je unterschiedliche existenzielle Gewichtung auf, abhängig davon, welcher Lebensbereich betroffen ist. Ein bloßes Fehlen oder Verschwindenlassen ist existenziell weniger bedeutend als das Vergehen bei Sterben und Tod; das gilt vergleichbar für eine Pause (und damit ›Stille‹), die durch die Suche nach dem richtigen Wort entsteht, im Unterschied zur Stille, die in einem rituellen, religiösen oder meditativen Zusammenhang herbeigeführt wird und, je nach philosophischer oder religiöser Rahmung, auf das nicht aussagbare ›Eine‹, ›Ganze‹ oder ›Göttliche‹ verweist. Bereits diese Beispielen zeigen, welche unterschiedlichen Bedeutungen Phänomene wie ›Vergehen‹ oder ›Stille‹ aufweisen können. Nicht nur am Paradigma des Schauspielers, sondern auch an den Beispielen der Scham, des Verhältnisses zwischen Leben und Tod sowie der Sprache kann deutlich werden, wie der Vorgang des Verkörperns an seinen Widerpart, das Entkörpern, gebunden ist, 101 und auf welche spezifische Weise. Es ist ein Aspekt des anthropologischen Strukturzusammenhangs: Das Verkörpern resultiert daraus, dass es dem Menschen nicht gewährt ist, bloß körperlich ›da‹ und präsent zu sein, sondern er muss sich, um zu sein, mittels seines Körpers und dessen Teile tätig werden, tun, etwas machen und sich zu ›etwas‹ machen, sich ausdrücken, darstellen, repräsentieren, dabei sich in sich selbst unterscheiden, symbolisieren und damit Sinn schaffen, der sich am Körperleib und all dem, was er liefert – bis hin zur Sprache – ablesen lässt; es ist das, was die Dinge zu handhabbaren Gegenständen, Werkzeugen und den Körperleib seinerseits zu einem handhabbaren Instrument und, korrelativ dazu, zu einem Selbst macht, das sich, den Bruch im Vollzug überwindend, um sich zu verlebendigen, vor anderen und sich selbst präsentiert. Das Selbst ist ein tätiges und deshalb ›sichtbar‹ in seinem Tun und in der Art, wie es darin erscheint. Es zeigt sich und möchte vorzeigbar sein, um Geltung zu erlangen. Psychologisch spricht man von Selbstwert und Selbstwertgefühl. Erst die Geltung holt das Selbst mit seinem Selbstseinkönnen aus dem diffusen Nichts heraus, in dem es ohne Geltung in seiner Unbestimmtheit gleichsam feststeckt.

101

Vgl. Breun 2014a, 164–169.

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Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung

Von hier aus lässt sich der Vorgang des Entkörperns als Negativabzug der Verkörperung verstehen – und zwar immer auch da, wo es dem leiblich verkörperten Selbst aus irgendwelchen, zumeist existenziell tiefgreifenden Gründen nicht mehr gestattet oder möglich ist, sich zu präsentieren, so dass es seiner Sinnorientierung beraubt und gleichsam entkernt – entkörpert – ist. Terminologisch wäre es hier wohl besser zu sagen: entleiblicht; denn der Körper tritt in seiner ›bloßen‹ Materialität für das entleerte, ›genichtigte‹ Selbst ein, d. h. für das nun zerbrochene Ganze, das sich in diesem Zustand im Selbst und seinem Leib je verschieden repräsentiert: (1) im Schamgefühl, z. B. des Im-Boden-Versinken-Wollens oder der Unvermeidlichkeit des unbeabsichtigten Errötens; (2) im Tod als Leichnam; (3) in der Sprache als Sprachverarmung, die sich etwa in sinnlosem Geschwätz und Geplapper kundgibt, oder als Sprachverlust mit den unterschiedlichen Formen des Verstummens, die nicht mit den auf Sinn hinweisenden Formen des Schweigens oder der Stille zu verwechseln sind. ›Je verschieden‹ heißt hier: das Nichtigen des Selbst tritt in ganz unterschiedlichen Formen auf. (1) Mal fühlt es sich in der tiefen Scham selbst als ein Nichts und möchte am liebsten nicht mehr da sein; (2) mal ist es abwesend in Anwesenheit des bloßen Körpers; 102 (3) und es kann so sehr seine zentrale Position und damit die Steuerungskraft verlieren, dass sein Sprechen zerfällt oder sich bloß noch an reduzierte Jargons klammert. Plessner spricht aus dem Grund vom »Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung«, 103 weil im Entkörpern wiederum ja zugleich verkörpert wird; der verfehlte Sinn konturiert sich mitunter deutlicher als im gelingenden Verkörpern, bei dem die Negativfolie (zunächst) unsichtbar bleibt bzw. in den dunklen Hintergrund geschoben wird. Zwar bezieht Plessner, wie bereits erläutert, den Gedanken, dass »in die Verkörperung […] der Gegenzug der Entkörperung mit eingeschlossen ist«, zunächst auf das »Werden und Vergehen«, 104 auf Leben und Tod und die entsprechenden Erfahrungen, die mit der Todesgewissheit einhergehen. Er ergänzt das aber allgemein um den »Zugang zur Negativität als solcher«, wobei sich das Fehlen dem Menschen als »Leere« oder »Hohlform« 105 zeige. Diese 102 103 104 105

Vgl. Landsberg 2009, 36. Plessner 2019, 203. Plessner 2019, 199; vgl. ders., VIII, 210. Plessner 2019, 201.

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Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

trachtet danach, mit Verkörperungen gefüllt zu werden. Das gilt wiederum im Kleinen – in den Dingen des Alltags, z. B. in Gesprächspausen – wie im Großen, so etwa in der Leere des Unendlichen von Raum und Zeit, in der Stille des im Schweigen zur Ruhe gekommenen Bewusstseins; hier treten die symbolischen Gestalten bzw. alle Symbolik ausschließenden ›Vorstellungen‹ des Numinosen ›in Erscheinung‹. Das Selbst ist geradezu ein Paradigma für diese Relation der Verkörperung zur Negativität. Es lässt sich in der Tat von einer Hohlform des Selbst sprechen, die ausgefüllt werden muss, um Seinsgeltung zu erlangen. Im Gebrauch der Maske wird diese Hohlform sinnfällig und anschaulich, nicht bloß im antiken Theater. Das Gesicht selbst ist eine ›Maske‹ ; 106 mit ihr stellt sich das Selbst dar und schützt sich zugleich vor dem möglichen Selbstverlust. Man hütet sich davor, ›das Gesicht zu verlieren‹, man möchte ›das Gesicht wahren‹, denn es ist das Gesicht, in dem das Selbst sich exponiert und zum Ausdruck bringt, und zwar in einer Form, in der die Mimik und die Expressivität des Gesichts der Kontrolle unterliegen, einer Steuerung durch die Zentrale, die das Selbst ist. Das Gesicht ›maskiert‹ sich mit seinem Ausdruck und verstärkt dies mitunter nicht nur durch eingespielte Züge der mimischen Bewegung, die dann auch festgefahren sein können (so dass zurecht von einer Maske die Rede ist), sondern auch durch Schminke und allerlei Schmuck. Das Selbst muss sich auch da verkörpern, wo ein Begriff oder Bewusstsein vom eigenen Selbst und vom Selbst überhaupt noch fehlt, und das scheint eine der Ursachen dafür zu sein, dass in den meisten Kulturen das Maskieren eine große Bedeutung hatte und noch hat (und neuerdings wieder, etwa in Japan oder Deutschland, in Mode kommt), und sei es in außeralltäglichen Festzeiten, zu denen der Karneval zu zählen ist. Was man selbst spürt, ist, wie die Rückseite einer Maske, gleichsam die Hohlform des eigenen Gesichts, und dieses wird zum Leben erweckt, wenn ihm ein anderes Gesicht (oder das eigene im Spiegel) entgegenblickt; in die hohle Form tritt die Skulptur der ausdrucksvollen Mimik, die aus dem dialogischen Austausch resultiert, voller Geschichte, Erfahrungen und kultureller Aneignungen, gefüllt mit Rollenerwartungen – oder eben die echte Maske, deren Ausdruck die Rolle vorgibt, die man unter ihr zu spielen hat. Das Selbst lässt sich nur gewinnen, wenn es gelingt, es dem Nichtsein zu entreißen, d. h. 106

Vgl. Antelme 1990; vgl. dazu Breun 2006b.

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Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung

in Rollen tätig, persona, zu sein, m. a. W. sich in Masken zu verkörpern, ohne sich darin erneut zu entkörpern, d. h. in einer Maske zu erstarren (man kann sich dann ›ausgehöhlt‹ fühlen). 107 Die in Frage stehende Relation zwischen Verkörperung und Entkörperung macht sich nicht nur, wie erwähnt, im Großen, in den existenziell wichtigen Bereichen geltend, wo es um Leben und Tod, Sein und Nichts geht, sondern auch im Kleinen, wo, existenziell in der Regel weniger wichtig oder bedrohlich, einfach nur etwas fehlt, das mit seinem Fehlen die Sinngebung und Bedeutung durchkreuzt, um zugleich auf diese aufmerksam zu machen, oder auch in Bezug auf das alltäglich erlebbare »Kommen und Verschwinden, Machen und Zerstören«. 108 Wie nun stellt sich diese Relation bezüglich der Scham, des Todes und der Sprache dar? (1) In der Scham wird das Selbst darauf gestoßen, sich in einem neuen Anfang der Nichtigkeit zu entreißen, um sich wieder zu ›finden‹ und als ›etwas‹ bzw. ›jemand‹ zu gelten, sei es im gelungenen Ausdruck, sei es in einem Wiedergutmachen der verfehlten Norm oder, mithilfe der anderen, in einer Erneuerung des Selbstwertgefühls. (2) Angesichts des Todes tut sich eine unendliche Leere oder ein abgründiges Nichts auf, das menschheitsgeschichtlich mittels einer Orientierung am Numinosen, das nicht zufällig in Leere, Dunkel und Stille spürbar wird, 109 mit göttlichen Gestalten und Symbolen, mit einer jenseitigen Welt voll neuen Lebens gefüllt worden ist, und dem man in der Moderne mit technischen Mitteln beizukommen sucht. (3) In der Sprache kann sich eine bestimmte Bedeutung gerade dadurch verkörpern, dass eine andere Bedeutung über-, verlagert oder entzogen wird, sowohl in diachronischer als auch in synchronischer Hinsicht. Auch können z. B. Pausen je nach ihrer Setzung mit Bedeutung aufgeladen, umgekehrt Bedeutungen von Wörtern durch ständige Wiederholung entkörpert werden; und das Schweigen kann ge-

107 Die hierin liegenden Ambivalenzen habe ich andernorts ausführlicher erörtert und auf die Situation des Lehrens bezogen (Breun 2006a, 2006b); vgl. zum gesamten Komplex von Maske und Person Weihe 2004, 2006. 108 Plessner, VIII, 210. 109 Vgl. Otto 2004, 88–90.

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Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

rade durch aktives Setzen einer Entkörperung eine Vielfalt von Bedeutungen annehmen. Formal-allgemein lässt sich feststellen: Es gibt die Fälle, in denen sich Verkörperung als Entkörperung (z. B. eine wohlgesetzte bedeutungsvolle Pause beim Sprechen), und solche, in denen sich Entkörperung als Verkörperung (z. B. im Selbstverlust der Scham) realisiert; der Akt des Verkörperns kann im Entkörpern (etwa beim Sterben), und der Akt des Entkörperns kann im Verkörpern (so z. B. im Ritual, in bestimmten Formen der Meditation und in der Poesie) sinngebend wirken. Dieses Ineinander muss dann sachbezogen jeweils anders beschrieben werden können. In der Mannigfaltigkeit seiner Formen konturiert es die Physiognomien der unterschiedlichen Kulturen und in seiner Wandelbarkeit deren Traditionen und Geschichte.

2.

Verkörperung und Entkörperung bei den Sinnesleistungen

Ein weiterer Aspekt sei hier betont, der bereits unter dem Namen der sinnlichen Verkörperungsmodi Erwähnung fand. Das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung oder die Verschränkung konfiguriert die Vorgänge der Verschmelzung von Körper und Geist im Rahmen der Sinnesleistungen. Daraus resultieren die Versinnlichungen von Ideen und Vergeistigungen des Materials in den symbolischen Formen, die die Kultur ausmachen. Denn die Paradigmen der Verkörperung – all die Leistungen der Artikulation und des Symbolisierens, die sich in der alltäglichen Lebenswelt und den kulturellen Objektivationen niederschlagen – sind bei diesen Verschmelzungsprozessen stets auf die Paradigmen der Entkörperung bezogen. Das expressive Verlebendigen mit dem Beanspruchen und wechselseitigen Realisieren von Geltung dessen, wofür sich ein Ausdruck gefunden hat, spielt sich ja vor dem Hintergrund bestimmter »Leerformen« 110 ab, die ausschließlich einer solchen Lebendigkeit zugehören können, in welcher sich das einzelne Leben fortschreitend vom Lebensfluss so abzuheben vermag, dass jene Leerformen allererst gleichsam in Sichtweite gelangen: »Zeit, Raum, Ich und Tod«, 111 Vergänglichkeit und alle Formen des Geltungsverlusts – die Möglichkeiten der Desymbolisierung, Nichtigung, Entleerung von Sinn und Be110 111

Plessner, IX, 258. Ebd.; vgl. dazu unten, Abschnitt XII.1.

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Verkörperung und Entkörperung bei den Sinnesleistungen

deutung, Beschämung, Demütigung, Entwürdigung, das Erstarren in leeren Formen (etwa von Bildungsgehalten) – bilden zum anthropologisch unhintergehbaren Zug zur Verkörperung jenen ›Gegenzug‹, der dem Gemälde der individuellen, soziokulturellen und menschheitlichen Selbstartikulation eine Leinwand bietet und es in einen Rahmen fasst. Es ist schon merkwürdig, dass die Negation und das ›Leere‹, da sie doch als Boden und Einfassung zu dienen haben, den Menschen in seinen ihm auferlegten Gestaltungsversuchen ständig begleiten, zugleich aber jegliche geschaffene Gestalt in den Abgrund zu ziehen und dem Unbegrenzten, Schrankenlosen, Unbestimmten, dem ›Fassungslosen‹ anheimzustellen drohen; denn Zeit, Raum, Ich, Tod haben wie alle Arten der Entleerung keine Kontur, Grenze oder präzise Bestimmtheit. So ist es kein Zufall, dass die systematischen Ausarbeitungen sowohl der Metaphysik, in denen die Suche nach dem Grund nicht selten im Abgrund landet (man denke etwa an die ›Fassung‹ des Grundes als Ungrund bei Schelling) und der Versuch, Grenzen zu bestimmen, damit enden können, alle Schranken niederzureißen (so die Entwicklung nach Kant), als auch die der antimetaphysischen Kritik bis hin zur geradezu selbstverständlich gewordenen und die Selbsterkenntnis leitenden Ausrufung des nihilistischen Zeitalters (bei Nietzsche) von der Bedeutung dieser Negation zeugen. Jede Generation hat sich die Frage zu stellen, wie die Gratwanderung der Selbstartikulation zwischen Selbstüberhebung und Selbstzerstörung gelingen kann. Die beiden Paradigmenreihen der Verkörperung und der Entkörperung sind jedenfalls aufeinander verwiesen. Am deutlichsten und schmerzlichsten zeigt sich das wohl am Verhältnis zwischen Leben und Tod. Das Verlebendigen überhaupt ist ohne die Gegenläufigkeit des Zunichtewerdens und der Todesdrohung nicht möglich. Wir leben im Angesicht des Todes, heißt es bei Scheler, 112 und können gar nicht anders leben, es höchstens verdrängen; diese Grundstruktur ist es zugleich, die dem spezifisch menschlichen Lebendigsein, das ein geistig durchdrungenes, symbolisch geformtes ist, seine charakteristische Färbung verleiht. Die beiden Paradigmenreihen sind in der Geschichte der Menschheit einer besonderen Nutzung unterworfen worden, die von einem gesteigerten Bewusstsein ihres Zusammenwirkens zeugt: Beispiele sind Meditation, Askese, letztlich alle Formen der Dezentrierung vom Zentrum aus und solche der Konzentra112

Vgl. Scheler 1957, 36–49.

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Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

tion, die immer das Moment der Stille enthalten (selbst wenn es laut zugeht wie etwa beim Musizieren). Nahezu zeitgleich, 1923, haben Plessner (in der Einheit der Sinne) und Cassirer (im ersten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen mit dem Titel Die Sprache) die Artikulationsprozesse im Spannungsfeld von Sinn und Sinnlichkeit zwar auf je andere Weise, aber im philosophischen Gehalt durchaus vergleichbar und wechselseitig erhellend beschrieben. Und beiden ging es am Ende um die aus philosophischer Sicht, d. h. von einem verallgemeinerbaren, universalen, menschheitsgeschichtlichen Standpunkt aus gesehen, bedeutsamste Leerform: um eine Befreiung bzw. Freiheit, bei Cassirer die Befreiung von der falschen Gebundenheit, den der Zwang symbolischer Formen in ihrer Fehlanwendung, Vermischung und gegenseitigen Verdrängung, im Streitigmachen der jeweiligen Zuständigkeit, ausüben kann, bei Plessner um die Freiheit und Souveränität, die man gewinnt, wenn man die rechte Distanz auch zu sich selbst aufbaut statt falschen Identitätsbildungen aufzusitzen. Auch darin liegt auf ganz bestimmte Weise ein Moment der Entkörperung, das insbesondere in der indischen Philosophie in der Form einer Befreiung vom Körper ausgearbeitet worden ist. Nebenbei: Beide eben genannten Fehlentwicklungen und Arten des Freiheitsverlusts, die der Usurpation von symbolischen Formen durch eine andere (etwa die der Religion oder auch die der Wissenschaft) und die der unreifen Identitätsbildung durch distanzlose Identifizierung, lassen sich aktuell und seit geraumer Zeit diagnostizieren. Zugleich lässt sich feststellen, dass es an einem kreativen Umgang mit Entkörperungen mangelt. Ein Symptom dafür ist die ununterbrochene und flächendeckende Versorgung mit oberflächlicher, zu Passivität zwingender Unterhaltung.

3.

Verschränkungen produzieren Abhebungen

Die Hiatusgesetzlichkeit erzwingt einen Vollzug, der sich in Verschränkungen antagonistischer Momente realisiert. Allgemein gilt deshalb: Das Verkörperte verschränkt sich in das Entkörperte hinein (und umgekehrt) – so das Leben in den Tod, das Individuelle in das Allgemeine, das konkret-Erscheinende in die ›Formidee‹, nicht zuletzt: das je aktualisierte Sprechen in die Sprache. Das wird geradezu plastisch in den damit jeweils verknüpften 66 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Verschränkungen produzieren Abhebungen

Vorgängen der Abhebung, gleichsam als Sprung von einem der Momente der Relation zum anderen – und zumal als Bedeutung generierendes Sich-Abheben des Verkörperten vom Entkörperten sowie als Hin- und Her-Springen zwischen diesen beiden Momenten –, und es lässt sich zunächst an zwei die conditio humana prägenden Konstellationen zeigen, die bereits Simmel in seinen ›vier metaphysischen Kapiteln‹ unter dem Titel ›Lebensanschauung‹ thematisiert 113 und die Plessner in den Stufen erörtert hat, um die Eigentümlichkeit der Abhebungsrelation herauszuarbeiten, sodann an dem Verhältnis von Sprache und Sprechen, in der sich jene Relation in ganz eigentümlicher Weise realisiert. Ein Blick auf diese Konstellationen kann gut veranschaulichen, worum es hier geht und welche Weiterungen sich aus der grundsätzlichen hiatusgesetzlichen Struktur ergeben, zumal im Hinblick auf die nicht in generalisierbare Urteile zu fassende Lebendigkeit und ihre rätselhafte Orientierung auf Sinn hin. (1) Zum einen ist es auffallend, wie sich das Allgemeine des Typus und die individuelle Erscheinung so voneinander abheben, dass das Eine zwar im je anderen, dennoch aber davon ablösbar ist, obwohl sie regelrecht zusammenfallen. Das ist ja die Ursache für die Schwierigkeiten des Differenzierens: manchmal wird voreilig typisiert, dann wieder unangemessen individualisiert; und die Verschränkung geht sogar so weit, dass Simmel – der hier von einer ›großen‹ »Wendung« oder »Achsendrehung« 114 spricht, in der das Leben selbst die Formen (Ideen, Typen) hervorbringt, denen es dann dient – jeden einzelnen Menschen als dessen eigenen Typus bezeichnen kann, von dem er allerdings jeweils bloß ein Fragment sei, das durch den »Blick des Anderen« 115 ergänzt werde. Das Differenzieren wie das Überwinden von ›Vorurteilen‹ angesichts solcher ›Drehungen‹ und möglicher Verdrehungen ist die Kunst der präzisen Wahrnehmung und Beurteilung (in Kants Kritik der Urteilskraft thematisch geworden), die im Zuge von Bildung, Wissenserwerb und Erfahrung zu erlernen ist. Zwar mag das Individuelle mit seinem Typus zusammenfallen, dennoch hebt sich die »Formidee« 116 von der lebendigen Erscheinung ab, die ›unter ihr steht‹, und die Frage danach, was zuerst sei, ist falsch gestellt, weil das Eine nicht ohne das je Andere sein kann. Cassirer hat 113 114 115 116

Vgl. Simmel 1999, bes. Kap. II und III. Ebd., 243 bzw. 244. Ebd., 280. Plessner, IV, 209.

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Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

diese Relation als symbolische Prägnanz gefasst. Auch darin kann weder die Form noch die Materie ohne einander überhaupt eine Bedeutung oder Funktion haben. Der Bezug ist gleichsam das Apriori, 117 und der Bezug, der den Hiatus einschließt, ist es, der dem Typischen von Erscheinungen vorausliegt und diese entsprechend beurteilbar macht. (2) Für die andere, hier zu erwähnende, philosophisch und anthropologisch grundlegende Abhebungsrelation lässt sich Cassirers Begriff allerdings kaum verwenden, diejenige nämlich zwischen Leben und Tod – ein Indiz dafür, dass die Begriffe Plessners in dieser Hinsicht weiter gefasst sind und strukturell mehr abdecken als Cassirers symbolische Prägnanz. Das Leben schafft zwar die Eintretensbedingungen für den Tod, dieser steht ihm aber »als das absolut Andere des Lebens« 118 genauso entgegen wie die Form ihrer eigenen Realisierung im Erscheinungsding. Zwischen den jeweiligen Momenten gibt es kein vermittelndes Glied, auch keine Berührung oder ein bruchloses Übergehen des Einen ins Andere. Es lässt sich kein höheres Prinzip ausmachen, so dass sie wie zusammengehörige Begriffe unter einem sie vermittelnden Oberbegriff stünden. Es besteht ein Bruch, ein Hiatus zwischen beiden dennoch aufeinander bezogenen Momenten, der sich nur als Paradox formulieren lässt: »ein Kontakt mit dem absolut Anderen […], der kein Kontakt, sondern ein voneinander Abheben, ein dazwischen Leerlassen, ein Nichtberühren zweier Größen ist«, 119 wobei man nicht einmal von zwei Größen sprechen darf, da doch die eine (die Formidee, der Gestalttypus, der Tod) nur ›ist‹ bei Gelegenheit des Erscheinens des lebendigen Dinges, in dem die Form, der Typus sich realisiert, bzw. des zu Ende gehenden Lebens, in dem der Tod wirksam wird. 120 Diese fundamentale Relation ist letztlich verantwortlich dafür, dass der konkrete Lebensprozess ein Sichabarbeiten am Widerstand ist, den der für diesen Prozess notwendige Gegenpol (die Form, der Typus, der Tod) nun einmal bietet. Es ist ein Kampf um den immer wieder zu aktualisierenden Sinn im und gegen den Widersinn, der sich durch einseitige Schwerpunktverlagerung an einem der Pole breitzumachen sucht – am zerfallenden Körper, am 117 Eine Verhältnisbestimmung, die sich später dann auch bei Buber (1962) und Watzlawick u. a. (19908) in der Beschreibung des Dialogs bzw. der Kommunikation findet. 118 Plessner, IV, 209. 119 Ebd., 210. 120 Vgl. ebd., 210 f.

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Verschränkungen produzieren Abhebungen

depersonalisierten Selbst, an der Generalisierung des Individuums zum bloßen Typus etc. (3) Auch im Verhältnis des Sprechens zur Sprache manifestiert sich die hier aufgewiesene Abhebungsrelation. Ist ›Sprache‹ etwas Allgemeines, dem ganzen Menschengeschlecht Zugehöriges, oder ist sie so individuell, dass jeder Mensch auf seine Weise spricht? Was ist das Allgemeine, das allen Sprachen zukommt, wo sie doch so verschieden sind, dass man von der einen Sprachform gar nicht reden kann? Und wie steht die Sprachform einer bestimmten Sprache zu der individuellen Realisierung im jeweiligen Sprechen? Man erkennt ja einen Sprecher in seiner ganz besonderen Art zu sprechen gerade daran, wie sich seine spezifische Artikulation von der Sprachform der verwendeten Sprache abhebt, und diese in ihrer Besonderheit daran, wie sie sich von verwandten Sprachen und von Sprache überhaupt abhebt. Humboldt beantwortet die Fragen dahingehend, dass er sagt, das Sprechen sei individuell und ganz subjektiv, insofern es gerade durch die Sprache beschränkt und bestimmt ist; und die Sprache werde gerade deshalb zum Objekt mit einem allgemeinen Bestand, weil sie subjektiv immer »aufs neue« 121 hervorgebracht wird. Die Sprache habe ein »eigentümliches Dasein, das zwar nur in jedesmaligem Denken Geltung erhalten kann, aber in seiner Totalität von diesem unabhängig ist.« 122 Humboldt sieht die Lösung des Gegensatzes in der »Einheit der menschlichen Natur«. 123 Denn das Wesen des einzelnen Menschen bestehe geradezu darin, teilzuhaben am ganzen Menschengeschlecht, und diese Teilhabe zeige sich so, dass jeder Einzelne das realisiert und in jeder Situation konkretisiert, was der Menschheit innewohnt, gleichsam ›menschlich‹ ist: das »Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter«. 124 Der Hiatus zwischen den Polen der allgemeinen Sprache und des individuellen Sprechens wird überwunden im Vollzug, im »Akt dieser Erzeugung«, 125 in der das Anheben des Sprechens in der Tat wie ein Sprung erscheint; zwar bedient sich der Sprecher des Bestandes, ohne diesen aber zuvor wie einen Werkzeugkasten zu durchsuchen und zu ordnen, sondern in einem freien Zugriff, der von seiner Individualität zeugt, die sich al121 122 123 124 125

Humboldt 1963, 226. Ebd., 225. Ebd., 226. Ebd. Ebd.

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lerdings von der Form der Sprache und d. h. der Menschheit einschränken lässt; umgekehrt ist die Realität der Menschheit und die der Sprache auf die jeweilige Aktualisierung angewiesen. Das je individuelle Sprechen hebt sich von der Sprache ab, und es neigt dazu, schematisch zu werden, wenn es sich nicht in seiner Kreativität an der Vielfalt des Bestandes schult; und umgekehrt wird durch den individuell schöpferischen Umgang mit Sprache deren Bestand ergänzt, umgebaut und mit neuen Varianten angereichert. Ganz allgemein lässt sich der absolute Widerspruch zwischen den Momenten der Einheit mit Plessner auch als Ferne bezeichnen. Denn jede hiatusartige »Abhebung ist […] wesensmäßig Abhebung wovon und damit Konstitution einer Ferne, die nicht vage bleibt, sondern nur ein Konkretum sein kann.« 126 Das gilt allgemein auch für die Entkörperung, von der sich die Verkörperung abhebt. Der lebendige Zusammenhang bleibt trotz der ›absoluten‹ Ferne immer gewahrt, diese ist überhaupt Bedingung der Möglichkeit jener Lebendigkeit, welche nur Konturen gewinnt im Verhältnis zu den ihr widersprechenden Momenten. Fragen wie etwa die, was der Tod, was die Form sei, sind falsch gestellt bzw. unlösbar, wenn man beide nicht von vornherein in ihrer Verbindung, ja Verschmelzung mit dem Leben bzw. seiner Erscheinungsdinge sieht. Wovon sich etwas abhebt, ist keine behelfsmäßige Konstruktion um der Konsistenz einer Theorie willen – die Form, der Typus, der Tod, die Sprache –, sondern konkret, aber nur in seinem Bezug zum sich abhebenden Moment ›da‹. Jedes der beiden Momente der in sich widersprüchlichen ›Einheit‹ gewinnt seine »Sichtbarkeit« 127 allererst vor dem Hintergrund des je anderen. Wiederum hat das allgemein für die sich der Wahrnehmbarkeit eigentlich entziehende Entkörperung zu gelten, das, wovon sich die Verkörperung abhebt. Sie kann in der Tat nur ›sichtbar‹ werden vor deren Hintergrund.

4.

Unbegreiflichkeit der Überwindung des Hiatus

Damit ist aber nicht alles erklärt. Denn letztendlich bleibt es, so Plessner, trotz der notwendigen Relation zwischen den beiden Momenten »unbegreiflich«, wie dieses Verhältnis jeweils real ausgestaltet wird, 126 127

Plessner, IV, 211. Ebd., 209, 210.

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Unbegreiflichkeit der Überwindung des Hiatus

d. h. »wie das jeweilige Schicksal sich vollziehen kann« – das ›Schicksal‹ der lebendigen Erscheinung als ein bestimmter Typus, das ›Schicksal‹ des Lebens beim Empfangen des Todes –, es sei denn, man gehe von einer Vermittlung beider »Komponenten« auf demselben »Niveau des Seins« aus. Das versuche die Dialektik, insofern sie alles auf einen »Generalnenner« 128 bringt, auch wenn das nur gewaltsam möglich ist, ohne Rücksicht auf den Status der jeweils zum Einsatz gebrachten Kategorie des Auffassens, der man sogleich eine Realität oder ontologische Qualität zuweist. Statt eines solchen Generalnenners und eines Dritten, in dem der Antagonismus vermittelt wird, gelte es am Hiatus festzuhalten; dafür setzt Plessner gegebenenfalls auch die Worte vom Bruch, von der Leere, vom Nichts – sie sind, als Entkörperungen, Schattierungen des Hiatus als eines Abgrunds; und es ist unbegreiflich, wie aus dem Ineinander von Verkörperung und Entkörperung jeweils Sinn und Bedeutung konkret, d. h. situationsangemessen und kontextsensitiv, hervorgehen. Im Letzten ist es die Unbegreiflichkeit des Schöpferischen. Das wird besonders auch beim Sprechen deutlich, das die Sprache und ihren Bestand nicht bloß stereotypisch anwendet (auch wenn man Fremdsprachen zum Teil zunächst auf diese Weise lernt), sondern mit jedem Einsatz einen Sprung aus dem ›Nichts‹ wagt, ohne im Vorhinein wissen zu können, ob und wie die Landung gelingt. Kant hat übrigens dasjenige, wovon wir theoretisch nichts wissen können, also auch etwas gleichsam Leeres, nämlich die intelligible Welt, an diese Stelle gesetzt, um zwei Größen zu vermitteln, so in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den guten Willen und das allgemeine Gesetz. 129 Auch Kant stößt hier letztlich auf die Unbegreiflichkeit, und zwar des kategorischen Imperativs bzw. freien Willens, deren letzten Grund wir nicht begreifen können. Uns bleibt nur, wenigstens diese Unbegreiflichkeit zu begreifen, d. h. aber, statt an einer zu schiefen oder falsch gestellten Fragen führenden Problematisierung (von Freiheit, allgemeinem Gesetz usw.) an der Rätselfrage festzuhalten und diese sachgerecht zu formulieren.

128 129

Alle Zitate ebd., 209. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 99; VII, 82.

71 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

5.

Rätsel der Lebendigkeit: Das Zugleich antagonistischer Momente

Es bleibt also unbegreiflich, wie der Hiatus konkret überwunden bzw. in Anspruch genommen werden kann, um zwei widersprüchliche Momente im Vollzug zu vermitteln, ohne dass eine dritte Größe dafür in Einsatz gebracht werden kann. Hier ist das Rätsel des Lebens, des Menschseins und seines Verhältnisses zur Welt, letztlich der Lebendigkeit als dem Inbegriff solchen gelungenen Vollziehens angesiedelt. Mit dieser Unbegreiflichkeit und Rätselhaftigkeit gilt es philosophisch umzugehen. Das gelingt, wie gezeigt, nicht in den Bahnen des Szientismus oder der analytischen Philosophie. Was es heißt, auf diese Grenzlage möglichen Wissens, hermeneutischen Erschließens und Denkens ernsthaft einzugehen, hat Dilthey exemplarisch vorgemacht, etwa in dem Abschnitt »Das Rätsel des Lebens« in dem Text über »Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen« 130 oder in »Vorlage B« der nachgelassenen Texte mit dem Titel: »Handschriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung«. 131 Hier wird erkennbar, wie Diltheys Denken grundsätzlich von der Frage ausgeht, wie sich der Philosoph zu dem Rätsel des Lebens (das sich in mehreren Rätseln kundgibt, die Dilthey kursorisch aufzählt) überhaupt verhalten kann, woraus sich dann verschiedene Typen der Weltanschauung ergeben. Dieser Begriff steht als Kürzel dafür, dass es, auch in Abgrenzung zur Wissenschaft, um eine umfassende ›Schau‹ geht, eine Insichtnahme des Ganzen und Einen, die trotz oder entgegen diesem Anspruch auf die ›Totale‹ nicht darum herum kommt, perspektivisch und geschichtlich bedingt zu sein. Dilthey erhofft sich, ähnlich wie später der diesen Punkt weiterführende Cassirer, einen Überblick durch die bewusste Einsicht in die Geschichtlichkeit aller Weltanschauungen, einschließlich der eigenen. Setzt man tiefer an, d. h. nicht bloß kultur-, sondern naturphilosophisch grabend, stößt man auf das Problem des Unterschieds zwischen belebten und unbelebten Körpern. Das war der inzwischen vielzitierte und breit diskutierte Ansatzpunkt Plessners, ohne die Rätselhaftigkeit des Lebens dabei übersehen oder durch naturalistische Verkürzung verschwinden machen zu wollen. Mithilfe eines 130 131

Dilthey, Ges. Schr. VIII, 73–118, hier 80 f. Ebd., 119–165, hier vor allem 140–149.

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Rätsel der Lebendigkeit: Das Zugleich antagonistischer Momente

phänomenologischen Verfahrens gelingt es Plessner, das Verhältnis des organischen Körpers zu seiner Grenze genauer zu bestimmen und dabei bereits die für die Konstitution von Lebendigkeit maßgebliche Relation der Ferne im Sinne einer Hermeneutik des Organischen verständlich zu machen, d. h. von vornherein in das Selbstverhältnis des Körpers einzubauen. Im Unterschied zum anorganischen Körper, der nur an eine von außen auf ihn treffende Grenze stößt, realisiert nämlich der organische Körper seine Grenze in den Formen seiner Lebendigkeit, d. h. er vollzieht seine Begrenzung stetig selbst, indem er sich bewegt, ruht, wächst, sich entwickelt, fortpflanzt, altert und stirbt – kurz: wird und vergeht, in der reflexiven Position des Selbstverhältnisses auf der Stufe des Menschen: verkörpert und entkörpert. Das beinhaltet eine Distanz, deren Auswirkungen bei der Bewegung beginnen und mit der Gestaltung des Selbstverhältnisses auf verschiedenen Ebenen wohl noch nicht enden. Auch ermöglicht es die Distanznahme dem Lebewesen allererst, Dinge und sich selbst in den Blick zu nehmen und zum Gegenstand machen zu können. Dabei zeigt sich, dass es aber zugleich die Distanz ist, die den Gegenstand nahebringt. Eine Nähe ohne Distanz erschwert oder verhindert den klaren Blick auf den Gegenstand. Auch gelingt die Bewegung nicht, wenn die Distanz zum instrumentalisierten Körper so gering wird, dass er seinen Werkzeugcharakter verliert. Und geht die Selbstdistanz in Richtung Nullpunkt, dann wird das Selbstverhältnis so eingeschmolzen, dass es zwischen mir als Betrachter und mir als Betrachtetem keine Differenz mehr gibt und damit der Bezug zwischen mir und mir verschwindet. Letztendlich ist es die exzentrische Position, die sich hier in allen Dimensionen und Richtungen der menschlichen Lebendigkeit zur Geltung bringt. All das impliziert aber, dass zwischen dem lebendigen Körper und dem distanzierten Ding, das irgendein Gegenstand oder er selber sein kann, eine Lücke entsteht, und zwar in vielerlei Formen, Ausprägungen und mit z. T. schwerwiegenden Konsequenzen. Das ist es primär, was mit dem lateinischen Wort hiatus (Öffnung, Kluft, Schlund) bezeichnet zu werden sich aufdrängt. Um nun mit einer präziseren Bestimmung an Früheres anzuschließen: Der Hiatus wirkt sich aus in solchen Lebensvollzügen, in denen sich zwei sich widersprechende Momente so aufeinander beziehen, dass sie ihre Ansprüche zugleich geltend machen, und zwar so, dass sich der je eine Anspruch ohne den je anderen gar nicht ins Werk setzen, d. h. erfüllen kann. Das Spezifikum der menschlichen Lebendigkeit liegt geradezu 73 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Hiatus und die menschliche Lebendigkeit

darin, sich im Zugleich zweier antagonistischer Momente 132 mit ihren zentrifugalen und zentripetalen Kräften verkörpern und vergeistigen zu müssen bzw. zu können, was immer zugleich heißt, sich auf die Gegenkräfte der Entkörperung einzulassen. Mehr noch: es sind die mit dem Verkörpern unlösbar verflochtenen Kräfte des Entkörperns, die durch die allmähliche Abhebung des Einzellebens vom Lebensfluss allererst die Leere bzw. das Nichts freischaufeln, das Nichts als »Hintergrund« und ›Medium‹, das es braucht, damit sich, davor heraustretend, das »Realitätsbild« 133 gliedern kann, und so zugleich das freie ›Spiel‹ zulassen, ohne die weder das sogenannte ›Geistige‹ noch die diesem zuinnerst zugehörende wirklichkeitskonstituierende Distanz möglich ist. Erst in solcher Leere, die nicht mit geistiger Leere als Folge etwa exzessiven Medienoder auch Drogengebrauchs verwechselt werden darf, kann die Einbildungskraft als Voraussetzung des Gestaltens und symbolischen Formens ihre Wirkung entfalten und Zugang zur Wirklichkeit gewinnen. 134 Die Bedingung tätiger Konkretisierung der lebendigen Vollzüge in ihrer erstaunlichen Vielfalt und Differenziertheit liegt in den unzähligen Variationsmöglichkeiten der Leibessynthese, denn es ist der Leib in seiner gleichzeitigen Verfassung als Körper und ›Träger‹ des Geistes, der die fragliche Verbindung – eine immer erneut zu bewerkstelligende lebendige Synthese als Einheit von Widersprüchen – in vielerlei Richtungen und Ausprägungen stetig schafft und an sich zeigt. Daraus resultieren die Artikulationen und Expressionen in ihrem unüberschaubaren Formenreichtum und mit ihrer inhaltlichen

132 Humboldt (1963, 137) zufolge ist diese ›Zweiheit‹, die in die grammatische Form des Dualis eingeht, nicht bloß Ausdruck der natürlichen Dualitäten wie Tag und Nacht, sondern tieferliegender dualer Strukturen, in die sich die ursprünglich-synthetische Einheit teilt: »In dem unsichtbaren Organismus des Geistes, den Gesetzen des Denkens, der Classification seiner Kategorien aber wurzelt der Begriff der Zweiheit noch auf eine viel tiefere und ursprünglichere Weise: in dem Satz und Gegensatz, dem Setzen und Aufheben, dem Seyn und Nichtseyn, dem Ich und der Welt. […] Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seyns ist Einheit.« Man kann die hier gegebene Aufzählung noch um die anthropologisch gewonnene und die sinnlich-geistige Tätigkeit betonende Dualität von Verkörperung und Entkörperung erweitern. (Vgl. unten den Abschnitt über die Metaphysik der Sprache.) 133 Plessner, VIII, 210. 134 Vgl. zur Rolle der produktiven Einbildungskraft Kant, KrV, B 152, A 116 (III, 149, 173); Schiller 2000, 98, 103; Cassirer, PsF 3, 11–17, 155.

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Rätsel der Lebendigkeit: Das Zugleich antagonistischer Momente

Vielfalt, Artikulationen vorsprachlicher und sprachlicher Art, in denen sich das Wechselspiel zwischen Verkörpern und Entkörpern in immer neuen Variationen bekundet.

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V. Expressivität und dualer Modus

1.

Das Ausdrucksverhältnis zwischen Körper und Leib. Die Sprache

Dass in Artikulationen sich etwas von etwas anderem abhebt, ist die Voraussetzung für ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹. Das Abhebungsverhältnis wird verstärkt durch die Modifikationen des Ausdrucks. Ein schwacher Ausdruck lässt die Bedeutung nicht so klar hervortreten wie ein kraftvoller, in dem sich das Verkörperte deutlich ausprägt. Da die menschliche Lebendigkeit sich verkörpern muss, ist die Ausdruckshaftigkeit oder Expressivität eines ihrer konstitutiven Merkmale. Plessner hat es aus dem anthropologischen Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit abgeleitet. 135 Man kann aber getrost davon sprechen, dass es bereits in der antagonistischen Einheit von Körper und Leib beschlossen liegt, die ja auch eine vermittelt-unmittelbare ist. Kurz gefasst lässt sich sagen: das Verhältnis zwischen Körper und Leib ist ein Ausdrucksverhältnis. Ein, wie immer schiefer, Vergleich sei erlaubt: der Körper ist das leere Blatt Papier, das vom Leib beschrieben wird; der Leib ist das vollgeschriebene Blatt, das, radiert man alles aus, zum Körper wird. Es handelt sich aber immer um dasselbe Blatt Papier. Anders gesagt: der Leib ist die ausdrucksvolle Variante des Körpers; der Körper ist das ausdrucksfreie Gliederungsmedium des Leibes, das entkörperte, besser: entleiblichte, Medium – zumal angesichts seines zunehmenden Schwindens und endgültigen Verschwindens (auch für Plessner ein Rätsel) 136 nichts von Bedeutung –, mit dessen Hilfe – und so von entscheidender Bedeutung – sich der Leib in Verkörperungen artikuliert. Und diesem Gliederungs- oder Artikulationsmedium, dem menschlichen Körper, in135 136

Plessner, IV, 396–419. Vgl. Plessner, VIII, 210.

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Das Ausdrucksverhältnis zwischen Körper und Leib. Die Sprache

härieren die oben genannten Leerformen – Zeit (1), Raum (2), Ich (3), Tod (4), damit überhaupt Vergänglichkeit und die Formen möglicher Nichtigung und Entleerung von Sinn. So zeichnen sich am Körper in der Tat die Leerformen ab und werden geradezu sinnfällig. Der Leib bzw. das Leibselbst hat in seinen Artikulationen Umgang mit diesen Leerformen zu pflegen, ob es ihm passt oder nicht. Der Mensch muss (1) Zeit und (2) Raum gestalten, d. h. begrenzen; das lässt sich an der Gliederung des Zeitverlaufs und der Einteilung des Raums in Abschnitte ablesen, deren Ursprung interessanterweise in der Regel ein sakraler war, die Einteilung in profane und heilige Zeit bzw. in profanen und heiligen Raum (die gemeinsame griechische, dann latinisierte Wortwurzel von tempus und templum ist tem-, schneiden, kreuzen). 137 Er muss (3) ›sein‹ Ich präsentieren, ihm Eigenschaften zukommen und es für sich und andere erkennbar werden lassen. Er muss (4) dem jederzeit lauernden Tod und der unüberwindlichen Vergänglichkeit eine ›Lebensdauer‹ abringen, d. h. etwas Dauerhaftes – insofern Sinnhaftes –, dem doch keine ›endgültige‹ Dauer beschieden ist, wodurch es allen Sinn zu verlieren droht; so flüchtet er sich in Surrogate eines sinnhaften Bestands: in Gewohnheiten und Wiederholungen, versucht sich, dies durchbrechend, am Wechsel und an der Abwechslung. All das gelingt nur ausdruckshaft, darstellend und selbstdarstellend. Das Verhältnis zwischen Körper und Leib muss ein Ausdrucksverhältnis sein, weil der in der Einheit des Körperleibs ursprünglich wirksam werdende Hiatus nicht anders überwunden werden kann als in einem expressiven Artikulationsprozess, bei dem materielle Elemente auf geistige Formung treffen, und zwar so, dass ihre Verbindung nur nachträglich analytisch getrennt werden kann, wobei dann jedoch ihre sinnvolle Artikuliertheit verlorengeht. ›Überwinden‹ meint hier: nur in einem stetigen Vollzug lässt sich überhaupt ein Umgang mit dem Hiatus pflegen, mit dem absoluten Widerspruch, der in ihm gegeben ist, der zugleich aber aus einer synthetischen Einheit hervorgeht. Denn Körper und Leib sind dasselbe und einander entgegengesetzt, so dass sie sich wechselseitig einen produktiven Widerpart bieten. Sie sind identisch und fallen zugleich antagonistisch auseinander. Das ist die Voraussetzung für Ausdrucksphänomene jeglicher Art (in Mimik, Gestik, Haltung überhaupt, Sprache). Der Hiatus ist Bedingung der Möglichkeit jeder sich vollziehenden Syn137

Vgl. Eliade 1990, 68; nach Usener 19202, 191 f.

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Expressivität und dualer Modus

these, und solche Synthesen liegen allen Artikulationsformen zugrunde, sie gehen in die Erfahrung ein, ohne dass sie selber erfahren werden können. Das heißt: wir erfahren die Ausdrücke, Darstellungen und Gestaltungen sowie das Ausgedrückte, das Dargestellte und das Gestaltete, nicht aber das vorausliegende Ausdrucksverhältnis selbst, das sich darin bemerkbar macht. Wir erfahren die Resultate aller Vollzüge, nicht aber deren synthetisches Apriori, das sie ermöglicht. (Die gleiche Konstellation bei Kant: die ursprünglich-synthetische Einheit zur Ermöglichung aller Erfahrungen und ihrer Gegenstände ist das Selbstbewusstsein, das seinerseits nicht erfahren oder gegenständlich werden kann; wir ›haben‹ es nur im Vollzug, deshalb die Formulierung Fichtes, dass das Ich sich setzt und nur im Sichsetzen ›ist‹ ; davon leitet sich Plessners Begriff der Position bzw. Positionalität ab.) In schärfster Zuspitzung der Paradoxie: Der Hiatus ist die ursprünglich-synthetische Einheit selbst und damit Quelle aller mit dem Leib anhebenden und an ihm sich abzeichnenden Artikulationen. Plessners Kurzformel dafür lautet: Die Einheit ist der Bruch. 138 Das dokumentiert sich außerdem in dem widersprüchlich-einheitlichen Vorgang des Verkörperns und Entkörperns, auch wenn im Strudel der einander entgegen laufenden Strömungen nicht immer ohne Weiteres das eine Moment im anderen sichtbar wird, sondern verborgen bleibt. Das ist letztlich der Grund dafür, dass es in der Region der menschlichen Lebendigkeit paradox zugeht. Symptomatisch dafür sind der Bedarf an und das Bedürfnis nach Sinn in einer widerspenstigen, strukturell widersinnigen und inhaltlich teils sinnfreien, teils sinnlosen Welt (zu der, nebenbei, auch das Leibselbst in seiner körperlichen Daseinsform gehört, die sich als ebenso widerspenstig erweisen kann). Darin kulminiert geradezu die paradoxe Struktur (und Paul Watzlawick hat mit viel Witz vorgeführt, welche Auswirkungen das sowohl für das Zusammenleben als auch für das individuelle Selbstverständnis haben kann). Es hat sich bereits an der Relation der Abhebung gezeigt, dass Sinn im und gegen den Widersinn gewonnen werden muss. Im letzten Kapitel meines Buches »Scham und Würde« sind, unter der Überschrift »Der Sinn der Paradoxie«, acht Paradoxien aufgelistet, in denen sich Sinn gerade im und in der

138

Vgl. Plessner, IV, 365.

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Das Ausdrucksverhältnis zwischen Körper und Leib. Die Sprache

Arbeit am Widersinn der antagonistischen Momente kundgibt. 139 Wenn es stimmt, dass diese Struktur anthropologisch und metaphysisch fundierend ist – denn sie betrifft die Erfahrbarkeit und Gestaltbarkeit ebenso wie die Gegenstände der Erfahrung und die Produkte der Gestaltung, den Menschen ebenso wie die Welt sowie alles, was damit zusammenhängt, etwa die anthropologisch wie ontologisch unterscheidbaren Regionen von Immanenz und Transzendenz –, dann muss sie sich in besonderem Maße dort nachweisen lassen, wo sie sich gleichsam potenziert wiederfindet und wo die Fäden, in denen Mensch und Welt, Selbst und Körper ineinander versponnen sind, so zusammenlaufen, dass das gesponnene Gewebe seinerseits ein Bild der Welt und des Menschen darin abgibt: in der Sprache – so dass, nach Humboldt, Sprachansichten Weltansichten sind. Denn das sprachliche Gewebe setzt sich zusammen aus einem materiellen, sinnlichen Anteil (dem Laut) und einem ideellen, sinntragenden Anteil (der Bedeutung), und zwar so, dass nur die richtige Mischung von Stoff und Form im Sprachleib eine zureichende Wirkung in einem belangvollen, d. h. wirklichkeitsbezogenen, verständlichen Sprechen und hörenden, sinnvernehmenden Verstehen entfalten kann. Es wird sich zeigen, dass sich gerade in der Feinabstimmung zwischen Laut, Syntax und Semantik, zwischen sinnlicher Darbietung und intendierter Bedeutung, zwischen Verkörperung und Entkörperung mit ihren unterschiedlichen Relationen, letztlich zwischen Körper und Geist, Paradoxien verbergen und enthüllen, an denen z. B. ein Dichter wie Kleist, der sich der Sprachproblematik wie kaum ein anderer bewusst war, nahezu verzweifelte, obwohl oder gerade weil er sie auf höchstem Niveau bewältigte. Die Sprache macht das Ausdrucksverhältnis, in denen die paradox strukturierte Lebendigkeit unweigerlich steht, auf einer höheren Ebene explizit. Sie drückt die Expressivität gleichsam noch einmal aus, löst sich aber auch von ihr, weil es ihr auf den Gegenstandsbezug auch unabhängig von einer gegebenenfalls und zumeist mit ausgedrückten Gefühlslage und Gestimmtheit ankommt; so kann sie auch gerade dies, das Gefühl und die Stimmung, eigens zum Gegenstand machen, außerdem sich selbst metasprachlich thematisieren. Die Annahme liegt nahe, dass Sprache gerade aufgrund der Dynamik eines im Widersinn sich entwickelnden Sinns möglich wird. Oder: Sprache unterliegt der Dynamik im Wechselverhältnis von 139

Vgl. Breun 2014a, 213–215.

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Expressivität und dualer Modus

Entkörperung und Verkörperung, sie macht sich dieses selbst in ihren diachronischen und synchronischen Formen zur Produktion von Bedeutung zunutze und bringt es zum Ausdruck. In der Sprache kulminiert die Hiatusgesetzlichkeit oder gebrochene Einheit insofern, als sich in ihr die Brüche – zwischen Lauten, Silben, Worten, Satzteilen, Sätzen etc. – im Übergehen zwischen den Momenten zu einem Ganzen fügen, dessen Sprachlichkeit auf Verstehen und Verständlichkeit zielt. Deshalb ist sie, so Plessner, ein Wesensmerkmal der exzentrischen Position – und was noch hinzukommt: sie drückt nicht nur aus wie das schon der Leib tut, sondern sie bringt diese exponierte »Situation im Verhältnis zur Wirklichkeit«, 140 die gleichzeitige Binnen- und Außenlage, die geprägt ist durch die Verknotung von Exzentrizität und Expressivität im Körperleib, eigens zum Ausdruck; so entsteht ein Bewusstsein von dieser Situation und ein bewusster, mehr oder weniger sprachlich induzierter Zugang zu dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, inklusive der Wirklichkeit des leiblichen Selbst in seinem Bewusstsein. Was im Bewusstsein ist, wozu das in die wahrnehmend-erkennende Sicht gebrachte Bewusstsein selbst gehören kann, erhält gerade deshalb den Index des Wirklichen, weil es als außerhalb des Bewusstseins Liegendes bewusst ist. 141 Eine solche Volte kann nur einem Lebewesen gelingen, dessen Lebensform eine ausdruckshafte ist und das seine eigene Ausdrücklichkeit explizit machen, also in Ausdrücke fassen kann.

2.

Selbstdarstellung

Ein Blick auf die philosophisch orientierte Biologie von Adolf Portmann 142 kann verdeutlichen, wie die Expressivität auf der Ebene des Menschen, über das ›Sichzeigen‹ jeglicher Erscheinung des Lebendigen hinausgehend, die Möglichkeit der Sprache bedingt. Im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Biologie nimmt Portmann die Erscheinungsweise lebendiger Formen ernst und legt ihr einen besonderen Wert bei. So hat er in seinen phänomenologischen Analysen der Erscheinung von Tierkörpern in Gestalten deren Funktion der 140 141 142

Plessner, IV, 417. Vgl. Plessner, IV, Kap. 7.4., bes. 407 f. Vgl. Portmann 1956, 1965a, 1965b, 19712.

80 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Selbstdarstellung

Selbstdarstellung herausgearbeitet, die er neben die der Selbsterhaltung und Arterhaltung stellt. Denn jeder lebendige Körper bringt sich in einer bestimmten Form zur Erscheinung. Er stellt sich dar und ist nur auf diese Weise lebendig. Was Portmann als ursprüngliche Selbstdarstellung des Lebendigen einstuft, 143 geht beim Menschen ein in die Ausdruckshaftigkeit seiner ganz speziellen Lebensform. Expressivität korreliert bei ihm mit der Exzentrizität, das Sichausdrücken mit dem Außerhalbstehen. Die spezifische Lebendigkeit des Ausdrucks beim Menschen verdankt sich seiner Stellung außerhalb seines eigenen Zentrums, so auch gegenüber der Welt (der Dinge und der anderen Menschen) und damit zugleich mit einer internen Distanz zu sich und seinem Zentrum, ohne dies hinter sich lassen zu können: ineins leibgebunden und aus der Ferne eines Blickpunkts von außen gleichsam ›geistig‹ darüber schwebend – als Basis der Möglichkeit des spezifisch menschlichen Vollzugs der Lebendigkeit, so auch des philosophischen Vollzugs, in dem die Distanz ihrerseits noch einmal in distanzierter Weise zu Bewusstsein gebracht wird. (Wie diese Korrelation von körperverhaftetem Ausdruck und geistigem Drängen ins Freie, Körperlose, das Wider- und Zusammenspiel von zentripetalen und zentrifugalen Kräften, sinnesspezifisch je anders bewerkstelligt wird und zu bestimmten kulturellen Leistungen – so Wissenschaft, Kunst, Sprache – führt, hat Plessner in seiner Einheit der Sinne gezeigt.) Wie aber verhält sich dieser Sachverhalt zu der von Portmann herausgearbeiteten Selbstdarstellung? Der Zusammenhang ist mit dem Verhältnis des Organismus zu seiner Grenze gegeben. Der lebendige Körper begrenzt sich selbst und hat seine Grenze als Eigenschaft. So kommt es, dass seine Gestalt in den verschiedenen Möglichkeiten, die die Seinsregion des bios bietet, sich selbst bzw. ihn, den Organismus, selbst darstellt (ähnlich wie die Grenze eines Landstücks dieses selbst als eingegrenztes, möglicherweise eingezäuntes Gebiet darstellt, wenngleich dieses sich im Unterschied zum Organismus nicht bewegen kann, weil die Grenze eben nicht seine Eigenschaft ist). Der Organismus ist ja nichts anderes als was er darstellt. Die Erscheinung stellt ihn und damit er selbst sich dar. Die Leibessynthese besteht hier zunächst in dem noch ungebrochenen Verhältnis zwischen Körper und Leibselbst. Der Körper und das Leibselbst bilden für den

143

Vgl. Portmann 19712, 50.

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Expressivität und dualer Modus

Organismus keinen Widerspruch, der im Vollzug gelöst werden müsste. Sobald aber eine reflexive Distanz eintritt, weil – als weitestreichende Möglichkeit des bios, die sich auch biologisch, mit der Entwicklung des zentralen Nervensystems und des Gehirns, beschreiben lässt – das Ganze sich noch einmal eigens (auch sich selbst gegenüber) repräsentiert, muss der Körper die Funktion übernehmen, das Leibselbst, das nicht mit dem Körper ungebrochen zusammenfällt, zur Erscheinung zu bringen (und nicht mehr bloß sich selbst als Körper bzw. Organismus), bzw. der Leib oder das Selbst drückt sich in seinem Körper aus und wird von diesem (re)präsentiert. (Im Zeitalter der digitalen Medien lässt sich besichtigen, was der Sachverhalt der Repräsentation des Selbst durch den Körper im Umgang mit sich selbst heißen und zu welchen Übertreibungen und Verwerfungen das führen kann, wenn man dabei von einer einfachen Identität – ›ich bin mein Körper‹ – ausgehen zu können glaubt.) Die lebendige Gestalt stellt nicht mehr nur sich selbst in einer mit sich selbst identischen Einheit dar, sondern in ihr drückt sich, die einfache Identität mit sich als Körper durchbrechend, das Selbst aus und dieses sein Verhältnis zur Welt wie auch zu sich selbst. Darin liegt ein weiterer Aspekt des in vielen Kulturen üblichen, teils rituellen, teils spielerischen Umgangs mit Masken: die jeweilige Selbst- und Weltauffassung wird in einer Art von Verdoppelung der basalen Struktur anschaulich gemacht und zur Schau gestellt. 144 Körper und Leib stehen in einer Beziehung wie Welt und Selbst, und dieses Verhältnis wiederum drückt sich sprachlich aus. Da der Körper zu den Gegenständen der Welt gehört, seinerseits zugleich Leib ist, hat sich damit der Raum geöffnet, um alles, was zur Welt überhaupt zählt, in Ausdruck zu verwandeln, d. h. ›in einem Ausdrucksverhältnis mit der Welt zu leben‹ 145 – so als ob die Welt Leib wäre. 146 Die Welt und ihre Gegenstände drücken gegenüber dem menschlichen Leib etwas aus. Dieser gewinnt einen Eindruck von der Welt, verleiblicht sie und verwandelt sie in Sprache. Das »Ausdrucksverhältnis« wird, so Plessner, auf einer zweiten Ebene in Form

Vgl. Weihe 2004; Breun 2006a. Vgl. Plessner, IV, 417. 146 Vgl. Merleau-Pontys Rede vom Leib als der »Symbolik der Welt«, 1966, 275; vgl. ebd., 377. 144 145

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Geistige Lebensform

der Sprache »zum Gegenstand von Ausdrücken« 147 gemacht. Damit hebt sich deutlich die Ebene ab, die über das kognitive oder intelligente Element, über das auch Tiere verfügen, nicht nur hinausreicht, sondern kategorial scharf davon abweicht: die des Geistigen; diese entfaltet sich ineins mit dem Blick von außen und der Distanz zu sich, und es öffnet sich, in Cassirers Worten, der Raum für die symbolische Welt.

3.

Geistige Lebensform

In einem Ausdrucksverhältnis mit der Welt (und sich selbst) leben; sich die Welt von sich fernhalten können, um ihr nahe zu sein; in Cassirers, die symbolische Aktivität illustrierende, Formulierung: ›die Welt beseitigen‹, »um die Welt an sich zu ziehen«; 148 diese und sich selbst zum Gegenstand machen können, um sie zum geistigen Inhalt werden zu lassen; die Welt bzw. die ›gegenständliche Wirklichkeit durchgeistigen‹ ; 149 über Sprache verfügen, sprechen können; entkörpern (d. h. hier: die Welt nichtigen), um zu verkörpern (d. h. entsprechend: die Welt mit Bedeutung füllen, sie in Symbole eingehen lassen und ihr damit Sinn verleihen) – das sind verschiedene Bezeichnungen für denselben Sachverhalt der geistigen Lebensform. Er kann eingeebnet werden, indem man ihn in eine Reihe mit Kognition und Intelligenz stellt, was zumeist unter dem Obertitel des Mentalen geschieht. Es ist interessant zu sehen, wie die Sprache selber dafür genutzt bzw. missbraucht werden kann, um solche Nivellierungen zustande zu bringen und Abstufungen verschwinden zu machen. Damit werden dann auch Phänomene geleugnet bzw. anders gedeutet, denen das Geistige anhaftet. Dieses wird umgewidmet zu einer Größe, die irgendwie experimentell erfassbar oder anderweitig messoder zählbar sein soll. Im Zuge dieser Materialisierung oder Naturalisierung, und d. h. zugleich Suspendierung, des Geistes verwandeln sich auch die Geisteswissenschaften. Sie gehen in solchen Wissenschaften auf, die mit statistischem Material arbeiten können oder den Vorgang des Vergegenständlichens dahingehend missverstehen, dass der zu untersuchende Gegenstand zum Material des Zerglie147 148 149

Plessner, IV, 417. Cassirer 1995, 36. Vgl. Stenzel 1964, 36.

83 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Expressivität und dualer Modus

derns im Sinne des Zerkleinerns und Abstrahierens wird, so etwa in weiten Teilen der Sozial-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Und der Geist selber wird zu einer Art Gehirnmaterie erklärt, die analytisch erfasst werden könne, entweder in neurologischen Untersuchungen oder in Verfahren, die den Geist vorschnell in einen handhabbaren Gegenstand umwidmen, etwa in einen Begriff wie ›Meme‹. Der Geist lässt sich aber weder in Materie übersetzen noch zerkleinern. Er bürgt für die Einheit in der Vielfalt synthetischer Vollzüge, die den Bedingungen der Hiatusgesetzlichkeit unterliegen; diese Bedingungen lassen sich in die antagonistische Struktur von Verkörperung und Entkörperung fassen, und das macht die menschliche Lebendigkeit in ihrer Rätselhaftigkeit aus. Alle Leibessynthesen, wiewohl auf den Körper angewiesen, sind geistig grundiert und auf diese Bedingung ihrer Möglichkeit angewiesen, schon weil sie für ihre Tätigkeit der Distanz bedürfen, mit der sie in je verschiedener Weise hantieren. Diese Schaffens-Bedingung des Geistigen hat ihre Quelle im dualen Modus, dem umgreifenden, der Wir-Sphäre zugehörigen Verkörperungsmodus.

4.

Die Verbindung von Körper und Geist: der duale Modus der Verkörperung

Wie ist die Relation zwischen Körper und Geist auf die Relation (Verschränkung) zwischen Körper und Leib, auf die Körper-Leib-Differenz, die zugleich eine Einheit ist, zu beziehen? Die Beantwortung dieser Frage verweist auf die Funktion des dualen Modus. Dazu muss etwas weiter ausgeholt werden. Traditionell ist die Verbindung zwischen Körper und Geist mit der Verschmelzung von Anschauung und Begriff identifiziert worden; und diese wiederum gilt als Antwort auf die Frage, wie sich das Besondere in der sinnlichen Anschauung, dem (auf den ersten Blick ausschließlich) körperlich-materiellen Moment also, mit dem Allgemeinen des Bedeutung verleihenden oder Sinn gebenden, in der Regel als geistiges Moment ausgezeichneten Begriffs, so verknüpfen kann, dass Erkenntnis möglich wird. Kant hat dafür einen Vorgang kenntlich gemacht, in dem das sinnliche Bild mit dem Sinn der Wortoder Begriffsbezeichnung vermittelt wird; dieses Mittel (eine Art von Schnittmenge beider Mengen, der des Besonderen und der des Allgemeinen) hat er als Schematismus bezeichnet. Für Husserl war eine 84 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Verbindung von Körper und Geist: der duale Modus der Verkörperung

solche Vermittlung, ähnlich Platon, bereits in einer Anschauung (Wesensschau) geleistet, die beide Seiten von vornherein im intentional-phänomenologischen Blick zusammenfasst und die er deshalb, im Unterschied zur sinnlichen, kategoriale Anschauung nennt. Cassirer bezeichnet die dem entsprechende Leistung als symbolische Prägnanz; in ihr kommen bereits beim Wahrnehmen Stoff und Form so zur Deckung, dass ein mit Bedeutung belegter Gegenstand im Rahmen eines Sinngefüges, einer Art geistiger Gerichtetheit, identifiziert werden kann. Worin liegt das Gemeinsame dieser doch recht unterschiedlichen Beschreibungen mit ihren je verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Aspektbetonungen? An zwei allgemein bekannten, aber in der Regel kaum ins Bewusstsein rückenden oder explizit reflektierten Vorgängen, von welchen der eine von Karl Bühler, der andere von Heinrich von Kleist geschildert wird, lässt sich paradigmatisch zeigen, dass der entscheidende Punkt aller Vorschläge zur Lösung der Frage einer (vorgängigen) Verbindung von Körper und Geist die mitweltliche Verfasstheit des Menschen ist, wie sie nicht nur Plessner, sondern, etwa zeitgleich (1928), Löwith eingehend beschrieben hat. Der Kern der Lösung, die weder dualistisch in einer vorgängigen Spaltung von Körper und Geist noch in deren monistischen Ineinssetzung entweder im Begriff der Materie oder in dem der Idee (bzw. des Ideellen) gefunden werden kann, liegt im Dialogischen bzw., tiefer, das Vorsprachliche einbegreifend, angesetzt, im dualen Modus der Verkörperung auf der Basis des Zusammenspiels von Körper und Leib wie auch des Aufeinandereinspielens der individuellen Leiber mit ihren expressiven, am Körper ablesbaren Außendarstellungen. Dieser ›Dialog‹ der Leiber als dualer Verkörperungsmodus geht ein in die Leibsymbolik und ergänzt die sinnlichen Modi nicht nur, sondern erweist sich als conditio sine qua non, um mit diesen Modi des optischen und akustischen sowie des Kreises der Zustandssinne geistige Leistungen zu erbringen, d. h. die Aktivität der Sinngebung in Gang zu setzen. Dabei ist das Sinngeben nicht ein auf die Sinnesleistung zusätzlich draufgesetzter Akt, sondern vollzieht sich ineins damit: die sinnliche Leistung (Sehen, Hören, auch Schmecken, Riechen, Tasten, leiblich Spüren) geht von vornherein konform mit dem Sinngeben. Oder umgekehrt: der sinngebende Akt ist der Aktivität der Sinne inhärent. Das eine ist nicht ohne das andere. Und die Sinne selbst erhalten ihre geistige Orientierung, die sich von Geschmacksfragen über Kunstformen bis hin zum alltäglichen und dichterischen Sprachgebrauch er85 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Expressivität und dualer Modus

streckt, vom dualen Modus der Verkörperung. Das vor allem unterscheidet die menschliche Lebensform von anderen Lebensformen, einschließlich solcher, die der menschlichen im Erscheinungsbild (z. B. in Laborexperimenten mit Primaten) ähneln und die man heute vorschnell mit ihr gleichzusetzen neigt. Das mag daran liegen, dass der duale Modus nicht mit den Mitteln einer auf Messbarkeit und Mathematisierbarkeit setzenden Empirie erforscht, sondern seinerseits wiederum ausschließlich mitweltlich-geistig erschlossen werden kann – im fragenden Rückgang auf die Bedingung der Möglichkeit geistiger Leistungen und im phänomenologischen Beschreiben des entsprechenden Erlebens. Bühler und Kleist haben einen solchen Rückgang beispielhaft vorgeführt; das wird im nächsten Abschnitt erläutert. Es sei an dieser Stelle vorausgeschickt: Zugleich liegen im dualen Modus und seiner Verbindung mit den anderen Verkörperungsmodi diejenigen Momente, die das so schwer Fassbare Geistige überhaupt konkret werden lassen und so einen Zugang zur Metaphysik ermöglichen, so dass die metaphysischen Fragen einen neuen Zugriff erlauben, um sie sinnvoll bearbeiten zu können. Denn im dualen Modus wird das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung in einer Weise wirksam, dass darin die menschliche Lebendigkeit mit ihrer schöpferischen Kraft zur Deutlichkeit gebracht werden kann, so dass die Verankerung sowohl ihrer Welthaltigkeit und ihres Wirklichkeitsbezugs – kurz: das Vergegenständlichenkönnen – als auch ihrer transzendenten Ausrichtung – kurz: das Vergeistigenkönnen – im ursprünglichen Strukturzusammenhang offenbar wird. Dann wird sich auch erweisen müssen, ob den entkörperten Formen von Nichts und Leere eine Funktion zukommt, um das metaphysische Bedürfnis stillen, und eine Bedeutung, um die metaphysischen Fragen entsprechend artikulieren zu können.

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VI. Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

1.

Bühlers Verwendung des Schematismus-Begriffs für die Sprachtheorie

Bevor auf die Funktion des dualen Modus im Zusammenhang mit zwei Beobachtungen bei Bühler und Kleist weiter eingegangen wird, soll zunächst Bühlers Verständnis des Schematismus-Begriffs erläutert werden. Plessners Einheit der Sinne war, wie auch Cassirers erster Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, der sich mit der Sprache befasste, 1923 erschienen; beide hatten dabei u. a. kritisch an Kant angeknüpft und den Schematismus-Gedanken neu konzipiert und erweitert, insbesondere in seiner Anwendung auf andere Wissenschaftsformen als Mathematik und Physik sowie auf die Erfahrung überhaupt. Elf Jahre später veröffentlichte Karl Bühler seine Sprachtheorie. Was in der Rezeption dieses wegweisenden Werks noch kaum gewürdigt wurde, ist der von Bühler lapidar mit »Ein kritischer Rückblick« 150 überschriebene, relativ knapp gehaltene Paragraph 16. Hier gibt er seine »Leitidee« preis, an der sich seine Grundgedanken orientieren. Er schreibt: »Der Zentralbegriff ›Symbolfeld der Sprache‹ ist beseelt und getragen von einer Leitidee, deren erstes Aufdämmern in mir persönlich mit Studien an Kants Kritik der reinen Vernunft zusammenhängt. Dort ist expressis verbis an verschiedenen Systemstellen ein Mittler eingeführt und dieser Mittler wird regelmäßig als Schema charakterisiert und bezeichnet.« 151 Bühler bezieht sich damit nicht nur auf das Schematismus-Kapitel (das ihm viel zu dunkel sei, was aber, laut Kant selbst, in der Natur der Sache liegt), sondern vor allem auf Abschnitte der transzendentalen Deduktion der Kategorien (in der Erstauflage), wo es um die Verbindung des Mannigfaltigen zur 150 151

Bühler 19993, 251–255. Ebd., 251.

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

Einheit des Gegenstandes geht, und zwar gleichsam in drei Stufen: um die Synthesen der Apprehension in der Anschauung, der Reproduktion in der Einbildung und der Rekognition im Begriff; schließlich braucht es noch die Einheit der Apperzeption im Verstand, um überhaupt Synthesen in einem Bewusstsein zustandezubringen. Was dabei den empirischen Synthesen vorausgeht, sind die transzendentalen apriorischen Synthesen, die, wie die Strahlen eines Fächers vom zentralen Punkt, an dem sie alle verbunden sind, von der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption zusammengeschlossen werden. Wenn Bühler nun darauf rekurriert, dann ist es ihm wohl darum zu tun, auf die Analogie der von ihm beschriebenen Sprachstrukturen, in denen es ja um Verbindungen des Mannigfaltigen zur Einheit einer Bedeutung geht, zu den von Kant beschriebenen Verbindungsweisen hinzuweisen, die im Verfahren des Schematismus kulminieren; dieser ermöglicht die Anwendung der Begriffe (Kategorien) auf Erscheinungen 152 bzw. bezieht die Begriffe auf Objekte, d. h. er verschafft ihnen Bedeutung. 153 Darin liegt der entscheidende Hinweis: ohne Anschauung bleiben Begriffe leer, Bedeutung erhalten sie allererst vermittels des Schemas, in dem Wort, Bild und zu bezeichnender Gegenstand zusammenfinden. Kant betont, 154 dass das Schema vom Bild zu unterscheiden sei, denn es sei zwar ein Produkt der Einbildungskraft, aber eher eine Art geregeltes Verfahren, z. B. sich die Menge Tausend zu vergegenwärtigen, von der man kein Bild hat, oder vom Gegenstand ›Hund‹, das dann jedoch in zweiter Linie zu einem Bild führen kann, wenn man einen konkreten Gegenstand vor Augen hat (vor dem sinnlichen oder geistigen Auge). Worauf es Bühler nun ankommt, ist vergleichbar mit einem Grundgedanken bei Cassirer, der an die Gestaltpsychologie und die darin enthaltene Wahrnehmungsphänomenologie anschließt: das Bedeuten gehe dem Zeichensetzen voraus. 155 Damit wird die Bedeutung eines Wortes oder Begriffs nicht bloß nachträglich durch seinen notwendigen und wie immer gearteten Bildbezug erklärt, sondern bereits im Gebrauch der Sinne, d. h. in der Wahrnehmung verankert. In Bühlers Worten: »Sprache potenziert die Leistungen der natürlichen Signale und Symptome, die wir wahrnehmend den Dingen 152 153 154 155

Vgl. Kant, KrV, A 139, B 178 (III, 189). Vgl. ebd., A 146 f., B 185 (III, 191). Vgl. ebd., A 140 f., B 179 f. (III, 189). Vgl. Cassirer, PsF 1, 42.

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Bühlers Verwendung des Schematismus-Begriffs für die Sprachtheorie

und Verkehrspartnern auch unformuliert abnehmen und verdanken«. 156 Es seien »dieselben semantischen Funktionen«, nämlich »die Signal-, Anzeichen- und Symbolfunktion«, die »den Sinnesdaten des Menschen auch dort und unter solchen Umständen zukommt, wo eine Intervention des Sprachapparates nicht in Frage steht.« 157 Hier kann man mit Cassirer von der natürlichen Symbolik sprechen, auf der die bewusst eingesetzte künstliche Symbolik aufbaut. 158 Die natürliche Symbolik entspringe der für das menschliche Bewusstsein typischen Relation zur einzelnen Erscheinung, mit der das zugehörige Ganze ›aufscheint‹ und symbolisch angezeigt wird, so im Jetzt die Zeit, im Punkt der Raum oder in bestimmten Eigenschaften das Ding. In der künstlichen Symbolik wird diese Relation für das willkürlich gestaltete und kontrollierte symbolische Formen genutzt. Das gilt in gesteigertem Maße für die Sprache als einer künstlichen Symbolik in zweiter Potenz. Sie nutzt die besagte Relation nicht nur, um die natürlichen und künstlichen Symbole erster Ordnung mit sprachlichen Mitteln abzubilden, sondern in spezifisch sprachliche Symbole, d. h. in die biegsamen Gelenke grammatischer Formen und in begrenzt variable Bedeutungen umzumünzen. Die Kategorien, die Bühler für seine Sprachtheorie verwendet, resultieren aus seinem Organon-Modell der Sprache, in dem er das im Sprechereignis bzw. Sprechakt verwendete Sprachzeichen der Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion der Sprache gemäß dreifach einordnet: als »Symbol« steht es in Bezug zu Gegenständen und Sachverhalten (die es bezeichnet bzw. darstellt), als »Symptom« drückt es die »Innerlichkeit« des Sprechers aus (sprich: sein Meinen einschließlich der darin enthaltenen Gefühlslage, Stimmung und Situationsrelation des Senders), als »Signal« ist es eine Aufforderung an den Hörer, die Äußerung aufzunehmen, zu verstehen, zu antworten oder etwas zu tun. 159

Bühler 19993, 252. Ebd., 251. 158 Vgl. Cassirer, PsF 1, 41 f. 159 Vgl. Bühler 19993, 28. In etwa lässt sich hier eine Analogie bilden zu Austins Differenzierung des Sprechakts in den lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akt (vgl. Austin 1972). 156 157

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

2.

Die Funktion des dualen Modus (Bühlers Beispiel). Geltung

Die Funktion des dualen Modus lässt sich erhellen, wenn man nun Bühlers Verwendung des Schematismus-Begriffs in einem von ihm selbst gegebenen Beispiel eines konkreten Vorgangs, den jeder aus eigener Erfahrung kennt, näher betrachtet und diesen mit Kleists sehr präzisen Beschreibung der allmählichen Verfertigung von Gedanken beim Reden konfrontiert. Was Bühler hier zu Kants Schematismus exemplarisch parallelisiert, ist »das Erlebnis der syntaktischen Schemata«. 160 Er hatte in kleinen Experimenten mit Kollegen und Studenten etwas zu bestätigen versucht, was ihm an eigenen Denk- und Sprecherlebnissen aufgegangen war und nach und nach klarere Konturen gewann. Es ist etwas, was »jeder aus dem Leben kennt, wo es oft so ist, daß man zu einem vorgelegten Text, den man grammatisch vollkommen durchschaut, den schweren Gedanken oder umgekehrt zu einem eigenen Gedanken geeignete Worte und die prägnante Satzform sucht.« Und bei dieser Suche zeigt sich, »daß dies oder jenes ganz oder teilweise leere syntaktische Schema der eigentlichen Formulierung einer Antwort vorherging und das faktische Sprechen irgendwie erkennbar steuerte«. 161 Zum Beispiel fordert im Deutschen ein Zwischensatz mit ›als‹ einen Hauptsatz; die entsprechende Erwartung einer Ergänzung ist nicht bloß sachbezogen, sondern grammatisch induziert und verdankt sich dem leeren Satzschema. Bühler zitiert an dieser Stelle aus einem eigenen Aufsatz: »›Wenn wir einen schwierigen Gedanken ausdrücken wollen, dann wählen wir erst die Satzform für ihn, wir werden uns innerlich des Operationsplanes bewußt, und dieser Plan ist es dann, der erst die Worte meistert.‹« 162 Und wenn die Erwartung nicht sogleich erfüllt wird, dann »›kommt uns das gesondert zum Bewußtsein, was nebenher und, ohne besonders beachtet zu werden, stets oder fast stets zwischen Gedanken und Wörtern vermittelt, ein Wissen um die Satzform und das Verhältnis der Satzteile unter sich,

Ebd., 252. Ebd., 253. 162 Ebd. (Zitat in Bühler: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge, Arch. Psychol., 12, 1908, 84 ff.). 160 161

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Die Funktion des dualen Modus (Bühlers Beispiel). Geltung

etwas was als direkter Ausdruck der grammatischen Regeln, die in uns lebendig sind, zu gelten hat.‹« 163 Die Vermittlungsleistung wird also durch etwas vollbracht, was Allgemeingut ist, d. h. was in einer Sprachgemeinschaft allgemein gilt und wovon ein Sprecher im Laufe seines Spracherwerbs Gebrauch gemacht und mehr oder weniger bewusst Kenntnis erlangt hat. Es ist eine Art von leiblichem Wissen, das in Fleisch und Blut übergegangen ist, denn man schaut ja nicht bei grammatischen Regeln und im Formenkatalog nach, um dann die entsprechende Form bzw. das Schema anzuwenden, sondern das, was im Rahmen der Mitwelt, hier konkretisiert in einer Muttersprache oder durch Lernen sekundär erworbenen Sprache, Geltung hat, stellt sich ein, einmal spontan und auf der Stelle, ein andermal nach längerem, manchmal geradezu verzweifeltem Suchen nach der passenden syntaktischen oder semantischen Lösung. Geltung als gemeinsam produzierte Wirkung des dualen Modus ist unabdingbar für Interaktionen, insbesondere für Sprechen, Hören und Verstehen; sie ist ein Bestand des geistigen Vermögens, der sinnfällig, gleichsam handgreiflich und anschaulich, aber auch sinnstiftend geworden ist, ohne dass er ständig eigens thematisiert werden müsste, sondern erst dann, wenn es zu Störungen kommt. Deshalb kann Leo Weisgerber Geltung in einer Sprachgemeinschaft als die geistige Seite der Sprache bezeichnen. 164 Neben dem Inhaltlichen der Sprache, d. i. dem Welthaft-Wirklichen, wie es in Sprache verwandelt und inhaltlich in Wortfeldern gegliedert ist – Weisgerber spricht vom »Worten der Welt« 165 als einem ›geistigen Zugriff‹ bzw. ›Ausgriff‹ 166 und dessen »Gerichtetheit« 167 –, gehört dazu auch die Syntax. Die Formel Weisgerbers für die Bestimmung des geistigen Moments lautet: »[g]eltender Zugriff (Ausgriff) als Erscheinungsform von Geist«. 168 Das betrifft sowohl den Wortschatz als auch die Satzbaupläne, d. h. das, worauf sich der Bühlersche Schematismus bezieht.

163 164 165 166 167 168

Ebd., 253 f. Vgl. Weisgerber 1971, 93. Ebd., 155. Vgl. ebd., 160. Vgl. ebd., 170. Ebd., 167 (im Orig. gesperrt).

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

3.

Die Verschränkung von Individuum und Person (Kleists Beispiel)

Wie aber muss man sich die Konkretisierung dieses geistigen Moments – das Richten, Zugreifen, Gelten – vorstellen? Es handelt sich ja offensichtlich um ein Verkörpern, das in der Mitwelt angesiedelt ist, und irgendwie scheint es mit einem Moment der Entkörperung zusammenzuhängen, auf den in Bühlers Beispiel das leere Schema verweist; denn leer kann es ja nur sein, weil (noch) kein Akt der Verkörperung stattgefunden hat, der andererseits aber im entkörperten Moment gleichsam schlummert. Es ist an dieser Stelle zunächst wichtig, die anthropologische Lebenskategorie der Mitwelt mit Plessner richtig zu fassen, ohne hier ihre kategoriale Deduktion aus dem Begriff der Positionalität heraus ausführlich wiedergeben zu wollen, eine Deduktion, die einen Großteil der Stufen einnimmt. Mitwelt ist die Ursprungsgemeinschaft der Individuen – der unteilbaren, gegeneinander abgrenzbaren, unvertretbaren Einheiten –, die zugleich Personen sind – das Allgemeine der Menschheit vertretende und insofern als Individuen ersetzbare, in Rollen nach außen tretende, aber zugleich mit Würde ausgestattete Einheiten. 169 Um sich dies verständlich zu machen, genügt es zunächst, sich alltägliche Begegnungen vor Augen zu halten und zu sehen, wie jeweils das Allgemeine der Personen in ihren Rollen und den darin mitgegebenen Erwartungen hinsichtlich des Gewährens und Bezeigens von Achtung mit dem Besonderen der jeweiligen individuellen Eigenart vermittelt wird, eine hochkomplexe Vermittlungsleistung, die immer am Rande des Misslingens balanciert und deren Gelingen ein hohes Maß an Erfahrung voraussetzt, ja geradezu das ausmacht, was wir Lebenserfahrung nennen. Vor allem Erving Goffman hat dies hinsichtlich der Alltagserfahrung soziologisch thematisiert. 170 Die Voraussetzung dafür, dass die paradoxe Lage jedes Glieds der Mitwelt, d. h. jedes einzelnen Menschen, überhaupt in sinnvolles Agieren übersetzt werden kann, ist nun in der Tat die allem solchen Tun (Handeln, Sprechen, Gestalten) vorausliegende und deshalb kaum zu Bewusstsein kommende Vermittlung zwischen dem Allgemeinen (der Menschheit in jeder Person) und dem Besonderen (der 169 170

Vgl. Breun 2014a, 81–86; ders. 2017. Vgl. Goffman 19943; ders. 200310.

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Die Verschränkung von Individuum und Person (Kleists Beispiel)

individuellen Person). Man sieht den Bezeichnungen in den Klammern bereits an, dass es sich um eine recht komplexe Verschränkung handelt, deren mögliches Scheitern zwar geradezu programmiert ist, die zugleich aber auch das Schöpferische menschlicher Akte bedingt. Vor allem bei Heinrich von Kleist findet man Hinweise auf diese Verschränkung. Seine Schilderung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden 171 verweist auf die Funktion der Mitwelt für bestimmte Aktivitäten, in welchen eine Verbindung von Geist und Körper erforderlich ist, und zwar so, wie sie sich in leiblichen Haltungen verkörpert, zugleich jedoch in Entkörperungen verborgen und vorgezeichnet ist, zu welchen es ein Verhältnis zu finden gilt, aus dem der Anstoß, die Initiative oder auch Initiation zum Formschaffen hervorgehen kann. Es ist nicht leicht, hierfür die richtigen Formulierungen zu finden, weil es ja gerade darum geht, das im Dunkeln Liegende ans Licht zu bringen, ohne dass es der Scheinwerfer zu grell beleuchtet oder in einen nebelhaften Schimmer taucht. Kleists Vorschlag ist folgender. Er hat den Vorgang anschaulich erhellt, den auch Bühler zum Ausgangspunkt genommen hat, um die Funktion des leeren syntaktischen Schemas einzuführen und verständlich zu machen. Kleist schildert, wie wir beim Reden und Suchen nach Worten einen noch undeutlichen Gedanken überhaupt erst zu Ende denken, indem wir ihn zum Ausdruck bringen, d. h. ihn mit dem Material der Sprache verkörpern; m. a. W.: indem wir dem Geistigen im Leib Raum verschaffen, und zwar auf der Basis leiblicher Haltung, in der sich die Form materialisiert – oder: der Stoff geformt wird, was zugleich heißt, dass sich das Geistige verlebendigt und der lebendige Körper vergeistigt. Kleist hat nämlich eine Beobachtung gemacht, die jeder nachvollziehen kann, der nach sprachlichen Lösungen sucht. Beim Versuch, treffende Worte für einen Gedanken zu finden, ist seine Schwester anwesend: »Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganz andere Hälfte desselben. […] Ein solches Reden ist ein wahrhaft lautes Denken.« 172 »Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern 171 172

Vgl. Kleist 20133a. Ebd., 320.

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.« 173 Zur Versprachlichung des schwer ausdrückbaren Gedankens, der auch nur dadurch klar wird, dass die richtigen Worte sich einstellen, nutzt Kleist, folgt man seiner Beschreibung, jene Mittel der Sprache, die inhaltlich eigentlich nicht relevant sind und deshalb Merkmale von Entkörperungsformen an sich tragen: eher wenig artikulierte Laute und Lautverbindungen, in die Länge ziehen, Redundanz, Ausschmückung. Sie ermöglichen dem Redner ein Verständnis für seinen eigenen Gedanken, obwohl sie inhaltlich nichts dazu beitragen. Und sie zwingen die Zuhörerin zu einer Art von Aufmerksamkeit, die so weit geht, dem Redner beispringen zu wollen; sie beteiligt sich an der intellektuellen Suche und »macht eine Bewegung, als ob sie ihn unterbrechen wollte«. 174 Der Ansporn, die Anstrengung noch zu verschärfen, kommt von der sicht- oder spürbaren, vom Gegenüber intendierten Durchkreuzung der eigenen Rede, einem Moment der Gegenläufigkeit, des Widerstands, der ›heilsam‹ 175 ist; denn der Modus, in dem es sich äußert, zeigt eine Spontaneität an, die genau die gleiche ist, mit der das Denken laut einsetzte: darin ist noch nichts Gewusstes, bloß noch Wiederzugebendes, sondern die unfertige, noch entkörperte Skizze eines möglichen, vorläufig nur geahnten Wissens, dessen Aktualisierung das gegenüberstehende Antlitz und seinen konspirativen Blick braucht, den ›Blick, der den halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt‹ und ›den Ausdruck für die ganz andere Hälfte desselben schenkt‹.

4.

Sphärentheoretische Deutung

Was Kleist hier schildert, ist sehr präzise die Funktion der Mitwelt, konkreter: des dualen Modus, hier in Gestalt der noch vorsprachlichen, aber den Sprachraum aufschließenden Zwischenleiblichkeit, beim Entstehen schöpferischer Akte. Das kann für jegliche geistige Tätigkeit verallgemeinert werden. Interpretiert und versteht man Kleists Beschreibung weder bloß als subjektives Empfinden und Erleben noch als objektive Erklärung eines Kausalzusammenhangs, son173 174 175

Ebd., 322. Ebd., 320. Vgl. ebd.

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Sphärentheoretische Deutung

dern »[s]phärentheoretisch«, 176 dann legt man das Augenmerk nicht einseitig auf ein von vornherein isoliertes Moment des realen Geschehens, etwa den Redner, der nach Klarheit sucht, noch die beteiligte Person, noch auf die zur Rede stehende Sache, sondern betrachtet die all das umgreifende Sphäre der Mitwelt, denn nicht nur die Seinsstellung der Personen, sondern auch die vorausgesetzte, angenommene oder bestätigte Realität des zu Besprechenden resultiert aus der geteilten gegenständlichen Intention der Personen als Gliedern der Mitwelt. 177 Plessner und Buytendijk beziehen den Begriff der Sphäre in der frühen Schrift über den mimischen Ausdruck auf das Verhalten. Denn im Verhalten zeigt sich die ursprüngliche Verbindung von Organismus und Umwelt, Bewusstsein und Außenwelt – auf der Ebene des Menschen: von Selbst und Welt, Ich und Anderem, Subjekt und Objekt des Handelns, Denkens und Sprechens – in einer Weise, in der die Pole der Verbindung nicht getrennt sind, sondern als vorgängige Einheit den Spielraum für das Lebendige allererst aufspannen, prismatisch gebrochen durch die in der Einheit liegende antagonistische Relation; diese Brechung ist auch der Grund dafür, dass die Wirklichkeit nicht einfach ist, gleichsam etwas Erratisches, sondern erscheint, und zwar in dem jeweiligen, der intentionalen Gerichtetheit entsprechenden, Bewusstseinsaspekt, in dem die Erscheinung nicht bloß als Schein, sondern als Erscheinung von Wirklichkeit erscheint, die mehr ist als Erscheinung, 178 welches Mehr aber in und mit der Erscheinung »›zur‹ Erscheinung kommt«. Dieses »Überschußmoment«, 179 das Verborgene an den Dingen, das, was außerdem noch möglich ist, hatte Plessner unter dem Aspekt des Verhaltens zu den Formen der Entkörperung gezählt. 180 – Diese sphärentheoretische Betrachtung kann nun den anfangs erörterten Strukturzusammenhang des Menschlich-Lebendigen, dessen wesentliches Merkmal das Verkörpern ineins mit dem Gegenzug des Verkörperns ist, weiter erhellen. Der Spielraum ist beim Menschen mitweltlich, unter den Bedingungen des dualen Modus der Verkörperung, konstituiert; es ist dieses Verkörpern zwischen den Leibern, ihrer Welt und ihrer geistigen 176 Plessner, Buytendijk: Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925), VII, 67–129, hier 116. 177 Vgl. Plessner, IV, 378, 405. 178 Vgl. Plessner, IV, 403–407. 179 Ebd., 403. 180 Vgl. Plessner 2019, 204 (vgl. oben, 12).

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

Intention, zu dessen Bedingung zugleich das darin unausweichlich liegende Entkörpern gehört, in welchem – weil es eben ein Entkörpern im Verkörpern ist und nicht bloß eine abseits stehende sinnlose oder sinnfreie Leere – der Sinn vorgezeichnet ist und antizipiert werden kann – als ein Verkörpern im Entkörperten. Aus diesem Grund kann Plessner, wie bereits zitiert, von der ›verkörpernd-entkörpernden Existenz‹ 181 des Menschen sprechen. Stets sind dabei entkörperte ›Leere‹ und verkörperte ›Fülle‹ aufeinander zu beziehen, genauso wie es kein Werden ohne das Vergehen bzw. Verschwinden gibt, auch kein Enthüllen ohne ein Verhüllen, und je beide in ihrer Konkretisierung auf das je andere bezogen sind. Eine Analogie zum Schachspiel lässt sich ziehen, um das hier beschriebene Verhältnis zu verdeutlichen. Das Schachbrett mit seiner Anordnung in weiße und schwarze Quadrate ist das noch entkörperte Feld, das auf den Einsatz der bedeutungstragenden Symbole, die Schachfiguren mit den jeweils zugehörigen Regeln für die ihnen möglichen Züge, wartet. Leeres, entkörpertes Feld und verkörperte Bedeutung sind so aufeinander bezogen, dass sie nur zusammen den Sinn des Spiels ergeben, der aber bereits mit dem Schachbrett selbst vorgezeichnet ist und durch denjenigen antizipiert werden kann, der die in den Figuren verkörperten Regeln kennt. Aber selbst jemand, der gar nichts vom Schachspiel weiß, kann, sobald er das Schachbrett sieht, zumindest vorwegnehmen, dass mit ihm der inhaltlich noch nicht verstandene Sinn eines Brettspiels angezeigt wird. Analog dazu ist in der gebrochenen Existenzform des Menschen eine solche Vorwegnahme bereits damit ›gegeben‹, dass jeder Mensch einen Leib hat, der er zugleich ist. 182 Mit der synthetisch-antagonistischen Einheit des Körperleibs ist die Vorzeichnung von Sinn und Bedeutung und damit deren wie auch immer geartete, ob präzise oder dunkle, Antizipation gegeben. Das ist die Grundlage der Hermeneutik und des sprachlichen Phänomens, dass beim Sprechen und Hören jeweils ein Sinn ›geahnt‹, erwartet oder gar ›gewusst‹ wird und sich mit jedem Laut, jeder Silbe, jedem Wort bis zur Fertigstellung des Satzes und der ganzen Äußerung zunehmend erfüllt, entweder die Erwartung Vgl. ebd., 208. Vgl. dazu bereits Scheler 1916; Plessner hat diese Gebrochenheit in der Zuspitzung zur Verschränkung schärfer gefasst und die anthropologischen Konsequenzen daraus systematisch erörtert. Ein wesentliches Merkmal dieser Gebrochenheit, das die körperleiblichen Akte und Widerfahrnisse durchzieht, ist das antagonistisch-komplementäre Verhältnis zwischen Verkörperung und Entkörperung. 181 182

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Sphärentheoretische Deutung

voll bestätigend oder sie variierend, auch zuweilen enttäuschend, immer aber mit Bezug auf den antizipierten Sinn. 183 Diese Konstellation hat sich in den Beispielen Bühlers und Kleists fallweise je verschieden geltend gemacht. Die Sinnvorwegnahme manifestiert sich in Bühlers Beispiel im Satzschema, in Kleists Beispiel in der leiblichgeistigen Zugewandtheit eines ›Dialog‹-Partners, d. h. in einem je anderen Moment der ganzen Sphäre. Es stehen noch weitere, zeitlichhistorisch bedingte Möglichkeiten der Sinnvorwegnahme zur Verfügung, etwa dass man sich an etwas Ähnliches erinnert, das das Intendierte aufgrund der Assoziation stärker hervortreten lässt, zumal wenn diese mit einem Wort verbunden ist, oder dass sich ein bestimmtes Wort aufdrängt, um das herum sich der auszudrückende Gedanke gruppiert. In dieser Sinn-Struktur liegt auch der hermeneutisch ausgestaltbare Bezug zwischen dem Einzelnen und Ganzen und damit letztlich zu den metaphysischen Fragen, die, vom Rätsel des je einzelnen Lebens und seiner Gestaltung ausgehend, auf das Ganze, Eine, Vollständige, Vollkommene zielen. Es bestätigt sich eine der Annahmen der These, dass diese Fragen einer weiteren Klärung nähergebracht werden können, wenn man dafür das Zusammenspiel von Verkörperung und Entkörperung in Betracht zieht. Doch zunächst soll es um eine nähere Kennzeichnung des Spielraums der mitweltlichen Sphäre – oder »Wirsphäre« 184 und »Sphäre des Geistes« 185 – gehen. In ihm ›spielen‹ sich Empfinden, Wahrnehmen, Mimik, Gestik, Bewegen ab, und zwar so, dass darin die erst nachträglich isolierbaren – immer aber zugleich im Leib vermittelten – Momente den Spielraum ausloten, mit Leben erfüllen und mehr oder weniger störungsfrei, einem Tanz gleich, ausgestalten. Wer oder was da miteinander tanzt, manchmal gegeneinander vorwärts dringt, kann je nach eingenommener Perspektive und betontem Aspekt unterschiedlich bezeichnet und beschrieben werden. Es ist der Organismus, der sich auf ›seine‹ Welt einzulassen hat, und es ist die Welt, die durch die Einwirkungen des Organismus ihre Textur gewinnt. Der menschliche Organismus ist ein sich verkörpernder; die mit dem Leib getätigten Verkörperungen konturieren im reziproken Zusammenspiel der individuell getätigten, sozial und kulturell-geschichtlich ver183 184 185

Zu dieser Art von Antizipation vgl. Misch 1994, 198 f. u. a. O. Plessner, IV, 377. Ebd., 378 f.

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

mittelten Leibessynthesen – auch und gerade in Relation zu den Entkörperungen, zu dem, was seine Bedeutung verloren, vermindert, gewandelt, noch nicht gefunden hat, oder was aus irgendwelchen Gründen in den Hintergrund gedrängt worden ist oder auch, was auf der dem jeweils aktualisierten Bewusstseinsaspekt abgewandten Seite im (noch) Verborgenen liegt – die Abmessungen der mitweltlichen Sphäre und ihren (verschiebbaren) Horizont, und sie entwerfen die möglichen Inhalte sowie wesentlichen Gehalte. Wie können solche Entwürfe und Horizontverschiebungen unter der Bedingung der Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen zustande kommen? Anders gewendet: wie ist das Schöpferische von Verkörperungen möglich?

5.

Wirsphäre, Geist, Menschheit

Um diesen sphärentheoretischen Fragenkomplex anzugehen, ist ein entscheidender Punkt festzuhalten, der immer wieder übersehen, ins Lächerliche gezogen oder in ihm nicht angemessene Kontexte gestellt wird. Er fand bereits an der Stelle Erwähnung, wo es um die Bezogenheit von Individuum und Person ging. An der Sphäre des ›Verhaltensspiels‹ mit seinen Verkörperungen zufolge der sinnlichen Modi haben zunächst die jeweils konkret beteiligten Personen mit ihrer situationsspezifischen Umgebung teil, im weiteren Sinne jedoch alle Menschen, ob sie nun faktisch in der Situation hinzutreten oder einander völlig unbekannt bleiben. Denn alle Menschen, auch die, die bereits gelebt haben oder noch leben werden, werden letztlich von dieser Sphäre umschlossen. Nur langsam entwickelt sich ein Bewusstsein davon, z. B. in der Ethik, die inzwischen die Zukunft des Menschen überhaupt in den Blick nimmt, etwas, das in den großen Religionen immer schon eine zentrale Rolle gespielt hat. Und was das Vergangene bzw. Gewordene betrifft: Sowohl in die Sprache als auch in Haltungen und Einstellungen gehen nicht nur je unterschiedliche Traditionen und historisch verfestigte, als Träger von Kulturen fungierende Bestandteile ein, sondern auch universale anthropologische Strukturen wie etwa die unhintergehbare, wenngleich kulturell je verschieden gestaltete Reziprozität der Perspektiven zum einen im Austausch der Blicke, 186 zum anderen beim Sprechen, wo jeder in 186

Vgl. Plessner, VII, 251.

98 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Wirsphäre, Geist, Menschheit

der Verwendung des Sprachkorpus – seinerseits eine Verkörperung der mitweltlichen Sphäre – mit dem je anderen austauschbar wird; 187 auch verlangt es die Pietät, Verstorbenen gegenüber eine Achtung zu erweisen, als ob sie noch in konkreter Interaktion beteiligt wären oder sein könnten. Es kann nicht genug betont werden, dass es die Mitwelt und damit die Sphäre des Geistes ist, die all dem zugrundeliegt; in ästhesiologischer Hinsicht ist es der duale Modus, unter dessen Bedingungen sich Sehen, Blicken, Hören, Vernehmen, Sprechen, Verstehen etc. vollziehen. Und nun kommt hinzu – wiederum etwas, das leichthin abgetan wird, weil es vorschnell religiösem und das heißt unter philosophischem Gesichtspunkt eingeschränktem, vorurteilsbehaftetem Denken zugeschrieben wird: Jeder einzelne, da er ja auch sich selbst gegenübersteht, insofern sich selbst ein anderer ist, 188 die anderen wie sich selbst situations- und kontextbezogen je verschieden einbezieht und überdies sein Ich entwicklungs- wie individualpsychologisch nur von dem Wir her verstehen kann, sei es in Identifikation oder in Abgrenzung –, jeder einzelne ist diese Sphäre, die ihn zugleich umgibt und die an ihm erschaubar ist; 189 wir sehen in jedem Menschen einen Repräsentanten der Menschheit, jeder verkörpert den Menschen und das Menschsein. Plessner scheut sich nicht, diese »sphärische Struktur der Mitwelt« als »absolute Punktualität« zu bezeichnen, denn »die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen […], wenn auch die vitale Basis in Einzelwesen auseinandertritt«. 190 Das ist eine der rätselhaftesten Formulierungen in Plessners Anthropologie, die aber die so schwer verständliche und in allgemeinen Sätzen kaum bestimmbare Struktur des Menschseins auf den Punkt bringt. Die hier in wenigen Worten namhaft gemachte Konstellation zeigt sich u. a. darin, dass ›der‹ Mensch ›Sprache‹ hat, dass es zugleich jedoch ›die‹ Sprache gar nicht, sondern nur in unzählig vielen Sprachen gibt und überdies jeder einzelne Mensch auf seine eigene, unterscheidbare Weise spricht; er schöpft aus dem Bestand der Sprache und verändert diesen, indem er mit jeder Äußerung schöpferisch tätig wird, 191 zwar im Rahmen des (noch) Verstehbaren, aber in individuVgl. Plessner, VIII, 223. Vgl. Plessner, IV, 403. 189 Vgl. dazu auch Kierkegaard 19883, 29: »In jedem Augenblick ist es so, daß das Individuum es selbst und das Geschlecht ist.« Vgl. oben, 21, Anm. 47. 190 Plessner, IV, 378. 191 Vgl. dazu Sprachforscher wie Humboldt, Stenzel, Voßler, Coseriu. 187 188

99 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

eller Gestaltung von Klang, Phonologie, semantischer Auswahl und syntaktischer Variation. Darin eben wirkt sich die vitale Basis aus, die ihrerseits von dem allgemeinen, aber an sich leblosen bzw. unlebendigen, ›entkörperten‹ – weil (zunächst) sinnfreien – Fundus profitiert. Sinnfrei ist der Fundus, weil ja Alphabet und Lautbestand, Lexikon und Grammatikstruktur per se noch keinen Sinn geben. Sie heischen allgemein Geltung, die sich dann realisiert und bewährt, wenn jemand spricht, d. h. sich individuell am Reichtum der Formen bedient. Diese besondere Art der Vermittlung von Allgemeinem (Geltung) und Besonderem (schöpferischer Gebrauch) macht den menschlichen Geist oder den Geist des Menschen aus. Das ist es, was den Begriff der Menschheit auszeichnet. Sie ›verfügt‹ eben nicht nur über Kognition, Intelligenz und das sogenannte Mentale, sondern über Geist; sie ›ist‹ Geist, und insofern »ist der Mensch Geist, hat er Geist«. 192 Dieser ist allerdings nicht einfach ›da‹ wie eine Eigenschaft, sondern muss immer neu – situations- und kontextbezogen, historisch und kulturell auf je andere Weise – konkretisiert werden; 193 und das gelingt nur, indem er als »die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben«, 194 lebendig wird: im Austausch zwischen Menschen, in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen, in denen sich der Geist objektiviert hat, im Sprechen und Vernehmen, im Denken und Ausdrücken. ›Menschheit‹ ist gleichsam die – entkörperte – Leerstelle, die sich je nach Bedarf, Kontext und Mitspielern füllt – mit Verkörperungen –, angereichert mit geistigen Formen, die in expressiv-symbolischer Aktivität auf der Basis des dualen Modus geschaffen und gestaltet werden. Es liegt nahe, den Begriff der Menschheit (und was an ihn ethisch und rechtlich geknüpft wird) zu leugnen und damit die in ihm mitgegebene und inhaltlich so schwer bestimmbare Universalität über Bord zu werfen, weil man glaubt, dadurch vermeintlich vielen Komplikationen entgehen zu können. Begreift man ihn aber in seiner relativen Unbestimmtheit als die Leerstelle, die er zunächst anzeigt, dann zwingt er jeden Einzelnen zu gewissen Anstrengungen und Mühen, um der Entkörperung, die angesichts dieser Leerstelle vor-

Plessner, IV, 377. Vgl. Humboldts (1963, 225) bereits oben (50) zitierte Beschreibung, dass die Sprache dem ganzen Menschengeschlecht angehöre, aber nur in jedesmaligem (und je geäußertem) Denken Geltung erhalte. 194 Ebd., 378. 192 193

100 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Wirsphäre, Geist, Menschheit

schnell unter unzutreffenden Vorannahmen über das menschliche Selbstverständnis und über das, was den Geist ausmacht, als nicht weiter bedenkenswert akzeptiert werden mag, Verkörperungen abzuringen und entgegenzusetzen – und den Begriff in fortlaufendem Bemühen um eine aus der conditio humana zu gewinnende und zu erkämpfende Lebenspraxis bestimmbar zu machen. Menschsein ist als Menschwerden mit Lernen, Üben und geistiger Konzentration verbunden. Menschheit und menschlicher Geist zeigen sich in den geleisteten Verkörperungen inklusive dem produktiven Umgang mit Entkörperungen, und nur darin ›sind‹ sie. Außerhalb dessen sind sie nicht als Faktum oder naturwissenschaftlich bestimmbarer Gegenstand da. Schränkt man das, was ›ist‹, auf diese Art von Gegenständlichkeit ein, d. h. verdinglicht man ›Menschheit‹ und ›Geist‹, dann ›gibt es‹ sie nicht. Eine solche Auffassung macht sich neuerdings auch da geltend, wo in Mensch-Tier-Vergleichen die spezifische Differenz verwischt wird, weil man bei äußerlichen Beschreibungen stehenbleibt und bestimmte Relationen der Abhebung, die sich letztlich der Verkörperungs-Entkörperungs-Struktur verdanken, nicht mehr wahrzunehmen imstande ist, so etwa die Abhebung des Ich vom Individuum und seinem Körperleib oder die Abhebung der Mitwelt von den konkreten Sozialformen, vom bloßen Mitsein und Mitmachen, auch die Abhebung der Sprache und ihrer Mittel, d. h. des sprachlichen Ausdrucks, sowohl von der Bedeutung als auch von dem zu bezeichnenden Gegenstand. 195 Im Zuge einer Suspendierung des Geistes nimmt man nicht mehr die Anstrengung auf sich, auf die jeweilige Abhebungsrelation aufmerksam zu werden und sie als Bedingung zu beschreiben, unter der allererst die ganz spezifischen Verhaltensformen in der besonderen Daseinsweise des Menschen möglich werden und damit dessen Form der Lebendigkeit kennzeichnen.

195 Vgl. zu den verschiedenen Paradigmen des Sich-Abhebens Plessner in seiner Vorlesung von 1961, 2019, passim.

101 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

6.

Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache

Die mitweltliche Leerstelle wird gefüllt, ganz allgemein gesagt, mit menschlicher Lebendigkeit. Deshalb kann Plessner die »Lebendigkeit […] in ihrer höchsten, der exzentrischen Form«, als »Spezifikum« 196 dieser Sphäre bestimmen. Deren Verlebendigung erfolgt in Bewegungen, in Haltung, Blick, Stimme u. a. m. Im Besonderen und im Wesentlichen wird sie darüber hinaus in der Leistung der Sprache explizit. ›Im Besonderen‹ : es muss etwas geben, das über das tierische Leben hinaus der Stellung des menschlichen Leibes bzw. des dazugehörigen Bewusstseins in Relation zur Welt (differenziert in Außen-, Innen- und Mitwelt) und, als Ausweis des dualen Modus in seiner Gerichtetheit auch auf die Welt, dem atmosphärischen Charakter einer solchen Welt (die verschiedene Attributionen erhält wie All, Kosmos, Universum, aber auch Heimat, ›meine‹ Welt etc.) gerecht werden kann, und zwar inhaltlich wie formal-strukturell. ›Im Wesentlichen‹ : was dieses, der Stellung des Menschen und der Leerstelle ›Menschheit‹ gerecht Werdende, ausmacht und ihm nicht nur kontingent zukommt oder beliebig zugesprochen wird, ist die Fähigkeit, das, was (wie Bühlers leeres syntaktisches Schema und Kleists noch unfertige Gedanken) zunächst als leer (entkörpert) erscheint, (verkörpernd) zu füllen, in einer Art von Sinnvorwegnahme, die mit der menschheitlich-mitweltlichen Sphäre gegeben ist; das aber heißt: diese überall, wo Menschen sind, aufgespannte Sphäre mit ihren Richtungen, Strebungen, Intentionen so zu strukturieren, dass das spürbare Leere mit Sinn erfüllt wird. Diese Leere kann sich je nach Kontext ganz unterschiedlich manifestieren. In den Beispielen von Bühler und Kleist ging es jeweils um einen noch nicht bereitgestellten Ausdruck von Gedanken, um eine sprachliche Verkörperung, deren Inhalt von der grammatischen (Bühler) bzw. zwischenleiblichen (Kleist) Interaktionsform bestimmbar gemacht wurde, um eine Verkörperung also, die im Zusammenspiel mit der von jeglicher inhaltlichen Bedeutung entkörperten, einem Statthalter gleichen Leerstelle hervorgebracht werden konnte. Der noch leere, aber vorläufig geahnte Gedanke wird mit der leeren, aber die Bestimmbarkeit

196

Plessner, IV, 375.

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Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache

des Gedankens sichernden Form so verknüpft, dass dessen relative Unbestimmtheit in eine sinnvolle Bestimmung übergehen kann: der Gedanke findet seinen angemessenen Ausdruck, und diese Angemessenheit kann, je nach Qualität des Austauschs im Rahmen der grammatischen und interaktiven Formen, stetig gesteigert werden. Dabei ist kein Ende absehbar, denn es lässt sich zu jeder Zeit eine jeweils bessere sprachliche Fassung denken, die noch klarer, deutlicher, stilvoller und verständlicher ist. Welche Art von Leere man wie spürt, hängt vom Kontext, den beteiligten Personen und den Intentionen ab, auch vom individuellen Zugang zur Sprache und zu anderen symbolischen Formen, die situationsgemäß ins Spiel kommen können. Betrachten wir eine alltägliche Situation. Deutlich und unangenehm spürbar kann die Leere etwa da sein, wo Menschen beschäftigungslos (z. B. wartend oder um einen Esstisch versammelt, zumal in feierlicher Erwartung) zusammen sind und nicht gesprochen wird. Peinlichkeit breitet sich aus, Schamgefühle steigen hoch (ohne dass nun irgendeine soziale und verpflichtende Norm verletzt würde, sieht man einmal von der Gewohnheitsregel ab, sich unter einander bekannten Anwesenden grundsätzlich auszutauschen), das betretene Schweigen kann kaum noch durchbrochen werden, obwohl jeder darauf hofft; tiefe Erleichterung folgt, wenn dies doch jemandem gelingt, der seinerseits das Risiko der Beschämung auf sich nimmt, weil sein rednerischer Einsatz danebengehen kann. Eine solche Szene stellt deshalb ein Paradigma der mitweltlichen Leere dar, weil sie Anzeige gibt auf das bislang in immer neuen Anläufen umrissene, nun sich klarer abzeichnende Apriori, unter dem der Mensch steht im Sinne des Einen Menschen, der die Menschheit ist, und jedes individuellen Menschen, der in seiner Person die Menschheit verkörpert: das Apriori des dualen Modus. Seine Funktion macht sich vor allem dann bemerkbar, wenn sie gleichsam außer Kraft gesetzt wird und Betretenheit, Peinlichkeit oder Scham erzeugt. Die Möglichkeit der Scham besteht also darin, dass der Mensch – anlass- und situationsbedingt sowie abhängig vom sozialen und normativen Kontext – in jener Leere, weil er sie als Nichts und sich selber, der den Sinn des dualen Modus verfehlt (wie ein Sehender in einer Flut von Bildern den Sinn des optischen Modus oder wie ein Hörender in übertäubendem Lärm den akustischen Modus), als nichtig wahrnimmt, zu versinken droht und damit zugleich aufgerufen ist, initiativ zu werden. Das individuelle Selbst schämt sich seiner eigenen Nichtigkeit und 103 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

kehrt gleichsam um: es schafft Sinn und sich selbst wieder Geltung, 197 indem es spricht. Kommt solcher Rede aber keine für die anderen nachvollziehbare Bedeutung zu, trifft sie nicht auf das Verständnis der Hörer, d. h. korreliert der Sprechakt nicht mit einem Verstehensakt, sondern zielt (wiederum) ins Leere, dann ist die darauf folgende Scham umso tiefer. Die hier beschriebene Konstellation resultiert daraus, dass, wie erläutert, die Einheit als Bruch konzipiert ist. Die Einheit ›gibt es‹ ebenso wenig als einen festen Bestand wie die Menschheit oder die Mitwelt. Deren Brüchigkeit kann sich unterschiedlich zeigen und empfunden werden, in sozialer Hinsicht z. B. als Desintegration, Segregation und in den vielen Ausdrucksweisen der Feindseligkeit, in grundsätzlicher Hinsicht und in der individuellen Wahrnehmung als eine leere bedeutungslose Form, dann wiederum als Abgrund oder als Nichts und Nichtigkeit. Verkörperung in der Einheit steht in einem antagonistischen und doch zugleich auch relationalen Verhältnis zur Entkörperung im Bruch. Die sich verkörpernde Einheit wird ausdrücklich in den Erscheinungen einer gelungenen Identitätskonstruktion; die schöpferischen Symbolisierungen, die das Selbst tragen, leisten dabei eine Gratwanderung den Entkörperungen entlang. Wie sehr das schiefgehen kann, zeigt sich in den Manifestationsweisen der entkörperten Einheit. Diese, d. h. der Bruch, kann ausdrücklich werden in Erscheinungen disproportionaler Formen der Identität bis hin zur Depersonalisation des Selbst. Das Verhältnis zwischen Verkörperung und Entkörperung ist einerseits der Garant für eine Sinnvorwegnahme, andererseits die schwankende Unterlage aller menschlichen Artikulation und Symbolisierung von der Zeigegeste bis zur Sprache. Die symbolische Welt ist deshalb in ihrer Geltung so schwach verankert, dass sie Sicherungsmaßnahmen benötigt, um nicht in Teilen verworfen oder getilgt zu werden. Und der duale Modus ist in seiner undeutlichen Wahrnehmbarkeit der Gefahr der Nichtbeachtung ausgeliefert. Das lässt sich auch daran ablesen, wie sehr man es versäumt, sich wechselseitig in einfachen Alltagssituationen zu bestätigen (was vor allem Martin Buber in seiner dialogischen Philosophie thematisiert hat), und wie nachlässig man mit der Sprache als der expliziten Erscheinungsform des dualen Modus umgeht, wenn man glaubt, sie im Zuge der Digitalisierung Technologien und den daraus hervor-

197

Vgl. Breun 2014a.

104 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache

gehenden Simplifizierungen überlassen zu können. Der sprachliche Schöpfungsakt wird den Computerprogrammen geopfert. Der duale Modus ermöglicht die von der Struktur des Menschseins geforderte Verbindung der Einzelwesen im Hinblick auf die Ausgestaltung der Sphäre der Mitwelt, d. h. des Geistes. Anders gesagt: Mitwelt und Geist verwirklichen sich unter der Bedingung des dualen Modus. Aus diesem Grund ist das Geistige atmosphärisch spürbar – in den Erscheinungsweisen des Sozialen, im Umgang der Glieder der Mitwelt, d. h. der individuellen Personen, miteinander, in den Produkten der symbolisch-kulturellen Tätigkeiten und in der Art ihrer Rezeption, und nicht zuletzt in den jeweiligen Raum- und Zeitordnungen. Das Geistige bewegt sich erscheinungsmäßig und atmosphärisch auf einer Skala, die von den Abgründen des Geistlosen bis hinauf zu den Höhen des Geistreichen und des sogenannten reinen Geistes reicht. Gerade hier zeigt sich, wie Nichts und Leere differenziert werden müssen. Denn das Nichts oder die nichtige Leere, die auf der extremen Stufe der Geistlosigkeit feststellbar ist und die einen, um es vorsichtig zu sagen, unangenehm berührt, ist geradezu der kontradiktorische Gegensatz zu der Leere, die sich auftut, wenn der Geist im Durchgang durch seine Manifestationsweisen bis dahin gelangt, wo er in der Loslösung von allen gegenständlichen Inhalten der Einheit des Ganzen inne wird, der er sich schweigend, alle Objekte des Denkens, Vorstellens, Redens ausschaltend, in höchster Einsicht zuwendet 198 – um dann des ›ganzen‹, in der Vorwegnahme ›geahnten‹ Sinnes gewahr zu werden. In der buddhistischen Lehre wird diese, in der Meditation anzustrebende Leere mit dem Sanskrit-Wort shunyata (Pali: sunnata) bezeichnet, im taoistischen Denken hat es seinen sprechenden Ausdruck im elften Kapitel des Tao-te-King (auch: Dao-te-Ching) von Lao-Tse gefunden: Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: / Auf dem Nichts darin beruht es, / Daß man den Wagen brauchen kann. / Man bildet Ton und macht daraus Gefäße: / Auf dem Nichts darin beruht es, / Daß man die Gefäße brauchen kann. / Man durchbricht die Wand mit Fenstern und Türen, um Zimmer zu machen: / Auf dem Nichts darin beruht es, / Daß man das Zimmer

198

Vgl. Desai-Breun 2019, 164–166, 181.

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Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

brauchen kann. / Darum ist das Sein von Nutzen, / Aber das Nichtsein macht seinen Gebrauch erst möglich. 199

Nach der Übertragung von O. Sumitomo unter dem Titel »Der leere Raum« lautet der Text: Dreißig Speichen / münden in die Nabe – / der Raum zwischen ihnen / macht sie erst zum Rade. / Zum Formen knetet man / den Ton – / der leere Raum darin jedoch / macht erst die Vase. / Tür und Fenster / muß man brechen / um ein Haus zu bilden. / Der Stoff macht den Besitz daran, / das Nichts jedoch / das Wesen. So entsteht aus Nichtsein / Sein. 200

Es mag nahezu wie ein Kategorienfehler anmuten, wenn man aus der Beschreibung des anthropologischen Strukturzusammenhangs heraus zu solchen, Phänomenologie und Empirie vermeintlich außer Kraft setzenden Schlussfolgerungen mit den entsprechenden Versuchen der Versprachlichung kommt, deren Kennzeichen nicht der propositionale Satz ist, sondern die dichterisch-evozierende Rede, nicht das Sprechen über etwas, sondern das behutsame, allegorische Zur-Sprache-Bringen dessen, worüber nichts ausgesagt werden kann und wovon man eigentlich schweigen müsste. Denn das Schweigen im Sinne der Sanskrit-Bezeichnung para, das aus der Rede (vaikhari) hervorgeht, 201 ist auf Seiten der Erkenntnis und Auffassung das Pendant zum Erkannten und Aufgefassten. Die Allegorie ist ein ›Anderssagen‹. Was hier anders gesagt wird, kann ›eigentlich‹ nicht gesagt werden. Es werden Worte zum Einsatz gebracht für etwas, wofür es keine Worte gibt, weil es in ganz ursprünglicher Weise entkörpert ist. Es handelt sich um eine Entkörperung im engeren Sinne, weil es in keine Verkörperung eingehen kann, es sei denn in eine solche, in der die Entkörperung als solche ›etwas‹ verkörpert, ein ›Etwas‹ jedoch, das leer ist, weil nichts Objektivierbares darin enthalten ist. Diese Paradoxie an der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem nicht Sagbaren wirft ein Licht auf die Leistung der Sprache selbst, ihre Struktur und ihr ›Wesen‹. Sie ist nicht bloß Information und Mitteilung, wie etwa Alsberg meint und wovon viele Sprachtheoretiker ausgehen, sondern 199 200 201

Wilhelm 19482, 96. Lao-Tse, 1945, 21. Vgl. Desai-Breun 2019, 164, 181.

106 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Mitweltliche Leere, Lebendigkeit und die Leistung der Sprache

hat einen primären Bezug zum nicht aussagbaren Ganzen der Wirklichkeit oder des Lebens (Dilthey), zur Einheit in der Vielfalt der Lebendigkeit, deren Ausdruck sie ist. Das lässt sich auch daraus ersehen, wie im Sprechen und vernehmenden Hören stets der intendierte Sinn vorweggenommen wird, ähnlich wie bei einer Melodie, bei der die einzelnen Töne, solange man sie nicht isoliert, auf den thematischen Sinn verweisen. Damit spielen solche Formen der Musik, die die gewohnte Hörerwartung disharmonisch durchbrechen, um auf eingefahrene Muster aufmerksam zu machen und neue ästhetische ›Haltungen‹ zu erzeugen. Auch die Dichtung arbeitet mit dem Durchkreuzen von Erwartungen und legt so bisher nicht gesehene Zusammenhänge frei, etwa hinsichtlich der Bedeutung eines Wortes, wenn es in eine neue, ungewohnte Verbindung tritt. Die Sprache drückt also die spezifisch menschliche Lebendigkeit aus, diese wird in jener explizit, weil die Sprache sich nicht bloß der entsprechenden Strukturmomente, insbesondere desjenigen der regelhaften Gegenläufigkeit von Verkörperung und Entkörperung, bedient, sondern diese kontrolliert einsetzt; überdies steht sie selbst als Sprache unter dieser Regelhaftigkeit: sie bildet das Feld expliziter Verkörperung, grenzt an das Feld der Entkörperung – des Nichtsagbaren, Unaussprechlichen, des Schweigens und Verschweigens u. a. m. – und setzt sich stetig ins Verhältnis zu beiden Feldern, d. h. in der Sprache verschränken sich auf immer neue und nicht selten überraschende Weise Verkörperung und Entkörperung. Das wirkt zurück auf die Lebendigkeit selbst, aus der sie kommt, und auf die Auffassung vom Ganzen der Wirklichkeit und des Lebens. Die Formen des Redens und des Schweigens spiegeln das jeweilige Selbst- und Weltverständnis. Trotz aller berechtigten Vorbehalte kann nun der Versuch gemacht werden, die Erfahrungen, die sich mit Redeweisen und Stilmitteln wie den im zitierten elften Kapitel des Tao-te-King verwendeten einen Ausdruck zu verschaffen suchen, und das Erleben, das damit einhergeht und sich angesichts der kulturhistorischen Zeugnisse nicht leugnen lässt, in ihrem Grunde, dem anthropologischen Strukturzusammenhang, zu verankern. Dazu wird der Weg einer Beschreibung der Verkörperung-Entkörperungs-Relation eingeschlagen, die, wie gezeigt, auf deren in sich gebrochene Einheit verweist und in ihrer Wirksamkeit für den lebendigen Vollzug aus dieser hervorgeht. Kurz gefasst ist es der Weg von der Anthropologie zur Metaphysik. Er führt über die Sprache. Wenn es so ist, dass, wie gezeigt, die Sprache die ausdruckshafte Grundstruktur ausdrücklich macht, 107 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Ausdruck des Gedankens: Bühler und Kleist

dann müssen in ihr Verkörperungen aufgefunden werden, die auf Entkörperungen verweisen, und Entkörperungen, die als Verkörperungen fungieren können, anders gesagt: Bedeutungen, die nur deshalb zustandekommen, weil sie auf entkörperten Leerstellen ruhen, und leere Bedeutungen bzw. Bedeutungslosigkeiten, die aus Verkörperungen resultieren. Damit kann die Funktion der VerkörperungEntkörperungs-Relation näher bestimmbar werden, um dann ein besseres Verständnis für die Entkörperung als Gegenzug der Verkörperung gewinnen zu können, für das also, was unter den Stichworten Leere, Nichts, Nichtigkeit philosophisch in einer Weise Schwierigkeiten bereitet, dass man aus wissenschaftlicher und empirischer Sicht deren Thematisierung in der Metaphysik als Unsinn abzutun bereit ist. Der Leitfaden, den man dabei nicht aus der Hand geben darf, ist der atmosphärisch und syntagmatisch wirkkräftige, damit auch sinnstiftende duale Modus sinnlicher Verkörperung. Im Folgenden werden, ausgehend vom dualen Modus, der Zusammenhang zwischen den Verkörperungsmodi und die Potenzierung des Ausdrucks in der Sprache näher betrachtet.

108 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

VII. Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

1.

Der duale Modus und die anderen Verkörperungsmodi

Der duale Modus ist unhintergehbar und für alle weiteren Verkörperungsmodi fundierend. Alle Sinne sind verkörpernd tätig. Wer hört, lauscht einem Klang nach, einem zeitlich bedingten Rhythmus im Wechsel von Gleichmaß oder Diskontinuität, er hört Gleichklang oder Missklang – die Bedingung der Möglichkeit von Musik. Wer sieht, unterscheidet Formen und Farben, zieht Linien und teilt den Raum ein – die Bedingung der Möglichkeit von Geometrie und Mathematik. Wer tastet, empfindet Weiches und Rauhes, Kantiges und Rundes – die Bedingung der Möglichkeit ästhetisch-räumlicher Gestaltung. Wer schmeckt, goutiert Süßes und Bitteres, Scharfes und Fades, oder er verschmäht es, weil es zu süß oder zu bitter, zu scharf oder zu fade ist – die Bedingung der Möglichkeit der Kochkunst und kulinarischen Raffinesse. Wer riecht, ist belästigt von schlechtem Geruch, von stickiger oder abgestandener Luft, von Gestank oder angetan vom aromatischen Duft – die Bedingung der Möglichkeit der Parfümerie. Der Kreis der zuletzt genannten Zustandssinne ist, zusammengefasst, vornehmlich die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass und wie sich die Person in ihrer Stellung zur Welt selbst erlebt und damit zu guter Letzt auch der Sprache. Denn in die Sprache bzw. Rede geht das Selbsterleben so ein, dass das im Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen Strukturierte zu Inhalten mit Bedeutung werden kann. Der in Verkörperungen generierte Sinn wird versprachlicht. Sinn ist ja zunächst Richtungssinn und wandelt sich mit dem Zeigen, Hinsehen, Benennen zu einem Deutungssinn, zu Bedeutungen, die den Dingen, dem Gesehenen und überhaupt Wahrgenommenen und atmosphärisch Gespürten, zukommen und die sprachlich ausgedrückt werden. Das geht so weit, dass die Elemente der Sprache selbst zu solchen Dingen werden und ihrerseits atmosphärisch wir109 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

ken. Sprache ist das Kondensat dieser Sphäre und ihr Ausdruck. Aus diesem Grund bestimmt sie die mitweltliche Sphäre – den Geist – maßgeblich atmosphärisch.

2.

Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit

Das Sprechen kann überhaupt nur beginnen auf der Basis der ›Körpersprache‹, insbesondere der deiktischen Bewegungen (Zeigegesten), und sich entfalten bis hin zur Ausbildung einer Sprache mit festen, das ›dialogische‹ Spiel konstituierenden, zugleich aber spielerisch variablen Beständen aus phonetischen und grammatischen Formen, weil die Wir-Sphäre selbst eine Quelle ist nicht nur für primär gegenständliche Modi des Schauens, für Blicke und Spiegelungen (mit den dazugehörigen Formen der Wechselseitigkeit, des Anziehens und Abstoßens, der Faszination und des Schreckens), sondern auch für primär zuständliche Klänge, Laute, Tonlagen und Volumina sowie für Friktionen, Abspaltungen, Verschmelzungen und Verdichtungen, die sich dabei Bahn verschaffen können – um Bedeutung zu tragen und Sinn zu produzieren. Da sich all dies innerhalb des aufgespannten und in seinen Grenzen beweglichen Spielraums zuträgt, besteht immer ein Bezug zur Außenwelt bzw. ›Wirklichkeit‹ (selbst in Dichtungen, die, von der Präferenz für einen erkennbaren Gegenstandsbezug absehend, den poetischen Mitteln und genuin literarästhetischen Formen den Vorrang einräumen) und zugleich zum Bewusstsein bzw. Selbst, in dem sich die Laute der Sprache den Weg bahnen – d. h. zum individuellen Menschen, der ›sich‹ äußert. Das Sprechen hat einen Inhalt und gibt sich eine Form. Schon für das Bewegen und Wahrnehmen trifft dies zu. Auch dieses ist expressiv. Das Sprechen aber bringt diese Expressivität noch einmal zum Ausdruck, so dass das Ausgedrückte selbst wiederum gegenständlich werden kann und mit der Zuständlichkeit der konkreten Expression eine Verbindung eingeht. Ein solcher Zusammenhang – nichts anderes als die Objektivierbarkeit des Geistes – ist die Voraussetzung für das von Kleist geschilderte Geschehen, das wohl alle Menschen aus eigener Erfahrung beim Suchen nach dem, »was auf der Zunge liegt«, kennen.

110 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Überindividualität der Wirsphäre

3.

Überindividualität der Wirsphäre

Je nach Perspektive kann die hier umrissene Sphäre, die in Kleists Beispiel Bruder und Schwester gemeinsam ist, unterschiedlich aufgefasst und benannt werden. Betont man den Sachverhalt, dass sich zwei Personen gegenüberstehen und in einen Austausch treten, dann zielt man auf die dialogische Bedingung des Versprachlichens, die Sphäre des ›Zwischen‹ Ich und Du (so Humboldt oder Buber). Legt man Wert auf die mit Ich und Du gegebene und gelebte Präsenz zweier Leiber, kann mit Merleau-Ponty von der ›Zwischenleiblichkeit‹ gesprochen werden. Wählt man die Bezeichnung einer Sphäre des Geistes, dann ist damit hervorgehoben, dass ein Sinn entsteht, der sich in der Tat erst dem Zusammenwirken beider verdankt, so dass schließlich, wie gezeigt, legitimerweise von der Sphäre des Wir oder der Mitwelt die Rede sein darf. Schärfer gefasst: die Schwester Kleists hat nicht nur teil an derselben Sphäre wie Kleist selbst, sondern beide sind Individuationen und, als Personen, Repräsentanten des einen Geistes, Glieder der Mitwelt, die jeder für sich ist und die zugleich beide durchzieht wie die Atemluft wiederum beide durchweht und zugleich jeder für sich atmet. Nur so ist es möglich, dass individuell realisierte leibliche Momente (Antlitz, Blick, Bewegung) eine derart überindividuelle Wirkung entfalten können. Das ist nun auch eines der wesentlichen Elemente der Sprache: es handelt sich hier um »die individuelle Realisierung eines überindividuellen Systems«. 202 Was in den außersprachlichen Verkörperungen erfolgt, nämlich die Nutzung der materiellen Ressourcen des Leibes, um interindividuelle Verständigung über den (manchmal als Umweg empfundenen) Vermittlungsweg des Ausdrucks zu erzielen – und nicht nur das, sondern noch mehr darzubieten als für die Verständigung beabsichtigt war –, ereignet sich auch in den sprachlichen Verkörperungen: Geist realisiert sich, indem er sich in individuellen Ausdrucksleistungen verkörpert, die das gemeinsame ›System‹ verlebendigen. Solche Verkörperungen können sich dann in objektiven Gebilden verfestigen, in denen die gesprochene und gehörte Rede in Texten und Dokumenten gerinnt, so wie nichtsprachliche Verkörperungen in Gemälden, Musikstücken, Skulpturen etc.

202

Weisgerber 1971, 103.

111 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

In Kleists Schilderung spielt sich überdies der viel beschworene Vorgang des Bestätigens ab, der, in Zustimmung wie in Widerspruch, ein zentrales Moment des Geistigen bzw. der Mitwelt in ihren ganz unterschiedlichen Realisierungsweisen (sozialen Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaften) ist. Bestätigung vermittelt sich, wie Kleist zeigt, nicht primär über den sprachlichen Inhalt, sondern vornehmlich leiblich, in Mimik, Gestik und den materialen – tonalen und analogen – Modi der Äußerung, in Kleists Schilderung zu finden als Blick, der den Gedanken als begriffen ankündigt, als Antlitz und als Bewegtheit, die die Verständlichkeit des noch unfertigen Gedankens einerseits unterstellt, andererseits mit herbeizuführen sucht. Nebenbei: Die Sphäre des Geistes oder der Mitwelt selbst kann federleicht oder erdenschwer anmuten. Das hängt ab vom Grad der Unausdrücklichkeit und Unaufdringlichkeit, mit der ihr ›Auftrag‹ realisiert, von der Diskretion, mit der die Künstlichkeit ihrer ›Natur‹, die ja lediglich am unstofflichen Geltungsphänomen hängt, verschwiegen wird. Diese paradoxe Struktur – die Kunstform des natürlichen Benehmens und Sichbegegnens – zeigt sich darin, dass der intendierte Gehalt in explizit performativen Sätzen wie ›Ich bestätige dich‹ oder ›Bestätige mich bitte‹ verloren geht. Das Spektrum, innerhalb dessen sich diese Kunstform manifestiert und in einer Poetik des Verhaltens auszuloten wäre, verläuft zwischen den Polen der Schwerfälligkeit und der Grazie, der taktlosen Aufdringlichkeit oder Herablassung und der von Takt geprägten Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Höflichkeit. Es ist der taktvolle Umgang, der den anderen implizit in seinem Sein bestätigt.

4.

Differenzierungen: Schema, Syntax, Syntagma

Es ist offensichtlich geworden, dass der Schematismus, wie ihn Bühler beschreibt, aus der Mitwelt und ihrem Zug zur expressiven Verlebendigung hervorgeht, die sich vornehmlich als Sprache konkretisiert und artikuliert. Allerdings zeigt sich nicht zufällig gerade hier, an der Verwendung des Schematismus-Begriffs und an der systematischen Aufarbeitung der Problematik bei Plessner, wie verschlungen das Geschehen um die möglichen Verbindungen von Körperleib und Geist ist, die, was nicht vergessen werden darf, durchgängig dem Apriori des dualen Modus unterliegen, das seinerseits in der leiblich sich konstituierenden und im Leib anschaulich werdenden ursprüng112 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Differenzierungen: Schema, Syntax, Syntagma

lich-synthetischen, doch in sich gebrochenen Einheit wurzelt. Um den Pfaden jener Verbindungen zu folgen, empfiehlt es sich, den Beschreibungen nachzugehen, die verschiedene Autoren in dieser Hinsicht liefern, sowohl in philosophischer als auch in dichterischer Absicht. Was bei Kant noch ein Mittler zwischen der in der Anschauung gewonnenen, aber noch nicht zum Gegenstand geronnenen, Stofflichkeit und dem Begriff (dem Element, das man gemeinhin mit dem ›Geistigen‹ identifiziert) war und dadurch erst gegenständliche Erkenntnis ermöglicht, ist bei Bühler der Mittler zwischen den Wörtern als dem ›Sprachmaterial‹ und den Gedanken, die in der Regel als genuines Element des ›Geistigen‹ ausgezeichnet werden. Bei Weisgerber entspricht das geistige Moment wiederum dem, was er in seiner inhaltbezogenen Grammatik als sprachinterne, Wortfelder erzeugende wie auch syntaktisch vorgeprägte Inhalte bestimmt in Differenz zu den sachbezogenen Bedeutungen (für die bei Kant der Schematismus Voraussetzung ist). Für die Verbindung zwischen sprachlichem ›Material‹ und Gedanken bzw. Erleben überhaupt (Weisgerbers ›Inhalte‹) verwendet nun aber Plessner nicht den Begriff des Schemas, sondern den des Syntagmas, wie ja auch Bühler näherhin von syntaktischen Schemata spricht und damit die sinngerichtete und den Ausdruck von Sinn unterstützende Vorzeichnung mittels einer innersprachlichen Größe, dem Satzbau, meint. Plessner seinerseits unterscheidet scharf den Modus der syntagmatischen Sinngebung (1) von der syntaktischen Formgebung (2). Die erste (1) steht im Dienste der Artikulation von Welt durch ›syntagmatisches Bedeuten‹, 203 insofern sie im individuellen Erleben wie durch einen Filter, der den Erlebnisstrom gliedert, hindurchgeht; Plessner spricht diesbezüglich von der »Präzisierung des Stoffs der innewerdenden Anschauung« 204 – das entspricht Weisgerbers Wortfeldern, deren Inhalte sprach- und kulturrelativ sind, zuweilen gar individuelle Varianten aufweisen können, d. h. das Erlebte und Angeschaute wird je verschieden artikuliert. Die zweite (2) gießt diese Artikulation in Formen, wie sie u. a. in den flektierenden, agglutinierenden und isolierenden Sprachformen vorliegen. Inhaltlich artikulierter Sinn wird syntaktisch-grammatisch geformt. Daraus resultiert das von Bühler beschriebene Erlebnis, dass 203 204

Vgl. Plessner, III, 166. Ebd., 163

113 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

ein leeres syntaktisches Schema ein Prägezeichen sein kann für eine gesuchte inhaltliche Füllung, m. a. W.: eine Verkörperung, die etwas bedeutet, setzt an einem entkörperten Bereich an, der für sich gesehen nichts bedeutet. Entkörperung und Verkörperung, Form und Inhalt, stehen in einer sinnstiftenden Relation. Dabei ist es offensichtlich nicht gleichgültig oder vollkommen willkürlich, welchem Inhalt welche mögliche Form zukommen kann, so dass die Syntax bzw. Grammatik den Ausdruck des Gedankens vorprägt. Das ruft einerseits den Eindruck von Zwang und Nötigung hervor, andererseits vermag es die Suche nach dem Ausdruck, d. h. der Objektivation des Geistigen, in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Die konkrete Artikulation beim Reden folgt den sprachlichen Gesetzen, die das freie schöpferische Reden erst ermöglichen, indem sie es beschränken. Auch hier gilt in guter kantischer Manier: Freiheit ohne Gesetzmäßigkeit ist Willkür, die der Verständigung entgegensteht; die Freiheit des sprachlichen Ausdrucks ist an die Sprachregeln gebunden und unterwirft sich diesen in mehr oder weniger bewusster Gestaltung – gleich dem Maler, der bestimmte Farben, Malgeräte und einen Malgrund benötigt, übrigens eine von Bühler gerne benutzte Analogie und zugleich eine Folie für Differenzierungen, etwa hinsichtlich der ›Darstellungsgeräte‹ bzw. des Unterschiedes zwischen geographischer Karte, Notenblatt des Musikers, Malfeld, Darstellungsfeld des Schauspielers und Symbolfeld der Sprache. 205

5.

Artikulation: Sinn im Widersinn

fPlessners Bezeichnung des sinnlichen Verkörperungsmodus als ›syntagmatisch‹ (in Ergänzung zum optischen und akustischen Modus) bezieht sich auf den Kreis der Zustandssinne (olfaktorisch, gustatorisch, haptisch) und damit auf die Sensorik des Leibes überhaupt, in der dieser sich selbst in seinem Selbsterleben auffasst und damit der Welt so gegenübertritt, dass diese und jenes, Welt und Leibselbst, sich zu einer gemeinsamen Sphäre zusammenfinden. Der Niederschlag dieser Sphäre im Leib ist der spürbare Zustand. Genau darin siedelt Kleist das Wissen an, für das der Redner die richtigen Worte sucht: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand

205

Vgl. Bühler 1999, 179–184.

114 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Artikulation: Sinn im Widersinn

unsrer, welcher weiß.« 206 Deshalb können wir davon sprechen, dass man sich etwas Gelerntes einverleibt. Überdies ist das vortheoretische oder implizite Wissen, mit dem man sich in der Welt zurechtfindet, ein leibliches Wissen, das versprachlicht werden kann. Vermittels von Stoff und Form der Zustandssinne, d. h. des Schmeckens, Riechens, Tastens, erfolgt das Artikulieren (Gliedern und Ordnen) von Selbst und Welt; 207 eine sphärenspezifische Verständigungsbasis wird möglich. Man kann hier erneut von der Atmosphäre sprechen, die beide übergreift, und von der aus die Welt sich ebenso deuten lässt wie das Leibselbst sich selbst auslegt. Darin wurzelt die Metaphorik: Wahrnehmungsbilder und ihre Ähnlichkeiten gehen in Sprachbilder ein. Wie Syntagma und Syntax, inhaltlicher Sinn und gesetzmäßige Struktur, dazuhin Bedeutung und Ausdruck, ineinander verwoben sind und deshalb auch in ganz verschiedene Konstellationen der Auffassung hineingestellt werden können, zeigt sich daran, dass sowohl die inhaltlichen Formen, wie sie sich in den Abgrenzungen, Überschneidungen, Ähnlichkeiten, Synonymen und Antonymen der Wortfelder niederschlagen, als auch die grammatischen Formen – beide Formen unterscheidet Weisgerber als Inhalte von den sachbezogenen, dem Schematismus unterliegenden Bedeutungen, was wiederum auf die vielen möglichen Terminologien in diesem labyrinthischen Bereich hinweist – gerade jenen Filter bilden, der die syntagmatische Sinngebung je nach kultureller, historischer, gruppenspezifischer und individueller Artikulation steuert. So dient das grammatische Material zwar zunächst der Bedeutung, dem in der Sprache ausgedrückten Sinn: die Darstellung eines Sachverhalts, aber auch der Ausdruck einer Stimmung oder die Aufforderung an den Hörer können durch syntaktische Variationen verdeutlicht werden; und das Syntagma arbeitet der Gliederung der Welt in Inhalte zu, die sich dem erlebnismäßigen und geistigen Zugriff verdanken (beispielhaft in den Wortfeldern). Aber beide verschränken sich so ineinander, wie Körper (das Dinghafte, insofern Widersinnige, das sich der Entkörperung andient, dem Opakwerden und Verstummen) und Leib (das Symbolisch-Ausdruckshafte, insofern Sinngebende, das verkörpert werden will, ob in Bildern, Symbolen oder Worten) ineinander verschränkt sind, so dass man an dem grundsätzlichen Sachverhalt der menschlichen Lebendigkeit, der letztlich rätselhaft bleibt, 206 207

Kleist 20133a, 323. Vgl. Plessner, III, 267–274; vgl. Breun 2003, 128–133, ders. 2014a, 131–134.

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Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

nicht vorbeikommt: Sinn ›wohnt‹ im Widersinn und umgekehrt; Sinn wird dem Widersinn abgetrotzt, und Widersinn macht sich im Sinn breit. Anders gesagt: Verkörperungsakte wurzeln in der Entkörperung, und Entkörpern kann der Verkörperung dienen. Es ist, wie erörtert, ein Ineinander, das in analytischer Auflösung immer zu Paradoxien führen muss. Dieses Ineinander hat auch Folgen für das Sprechen selbst: man kann sich am Sprachmaterial stoßen bzw. das Material sperrt sich gegen den Ausdruck der geistigen Intention; es drängt in Richtung Entkörperung und muss geknetet, zurecht gestutzt und kreativ bearbeitet werden, immer allerdings im Rahmen möglicher Verständlichkeit. Man ›kämpft‹ um Worte, ›ringt‹ um das richtige Wort, ›macht‹ sich verständlich, man gebraucht redundante Wendungen, redet auch zuweilen sinnloses ›Zeug‹ ; man ›bahnt ein Gespräch an‹, denn man kann nicht ›mit der Tür ins Haus fallen‹ und den Leerraum (der insofern bereits gegliedert ist, als er voller syntaktischer Schemata und interaktiver Muster steckt) ›plötzlich‹ mit Bedeutung füllen; und man muss sich zurückziehen, um sich nach langen, vielen oder anstrengenden Gesprächen zu erholen. Die Sphäre der Mitwelt ist voller Fallstricke, und es kostet Mühe, sie zu umgehen. Alle Verbindungen, die je nach Sinneskreis zwischen Körper und Geist zu leisten sind bzw. dem Sinnverstehen und Bedeutungsverleihen immer schon vorausgehen, sind so ineinander verschlungen, dass Stoff und Form schwerlich voneinander zu trennen sind, es sei denn, man verzichtet überhaupt auf die Möglichkeit des Sinnverstehens, etwa wenn man geometrische Linien in Punkte oder Melodien in einzelne Töne oder Gesprochenes in gegeneinander abgeschlossene Laute auflöst zu dem Zweck, des ›Materials‹ vermeintlich habhaft werden zu können, indem man es isoliert. Dann nimmt man auch die Fallstricke nicht mehr wahr und kann sich getrost im selbstgemachten Prokrustesbett der formalen Logik zurücklehnen.

6.

Verkörperungsmodi, Expressivität und Klang

Es gilt an dieser Stelle, auf etwas aufmerksam zu machen, das, wie sich zeigen wird, weitere Konsequenzen auch über die Sprachauffassung hinaus nach sich zieht. Da die Sprache eine Expression in zweiter Potenz ist, die die Ausdruckshaftigkeit des Leibes noch einmal steigert, geht diese Ex116 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Verkörperungsmodi, Expressivität und Klang

pressivität insgesamt in die Sprachbildungsprozesse und die kulturell je verschiedene und historisch sich wandelnde innere Sprachform ein. 208 Das heißt, alle Verkörperungsmodi werden im Versprachlichen aktiv, so dass eine umfassende Betrachtung der Sprache und des Sprechens alle diese Modi einbeziehen muss: den thematischen, schematischen, syntagmatischen und dualen Modus, m. a. W. das Hören, das Sehen, die geschmacklich-atmosphärischen Anschauungen und Auffassungen sowie das aus der Wir-Sphäre hervorquellende geistig-aktive Vollziehen mit seiner Korrelation zum leiblichzwischenleiblichen Spüren. Dabei lassen sich in der Betrachtung und Beschreibung je andere Schwerpunkte setzen, was etwa im Vergleich von Bühler und Kleist deutlich wurde. Es darf aber nicht der Fehler gemacht werden, Schema, Thema und Syntagma austauschbar zu machen, gar jeweils an die Stelle des dualen Modus zu setzen und diesen vollständig zu übergehen, wie es häufig geschieht und selten bemerkt wird, weil diese Differenzierungen nicht geläufig sind. Ohne die basale Wirkung des dualen Modus ist nicht ersichtlich, wie die um die Sache selbst gesponnenen Fäden von Stoff, Form, Inhalt und Bedeutung – und, nimmt man Bühlers Terminologie hinzu, von Darstellungsgerät, Zeigfeld und Symbolfeld – so zusammenlaufen können, dass sowohl ein sinnvoller Ausdruck als auch gleichermaßen ein Sinnverstehen möglich sind. Es ist jedenfalls aufgrund unterschiedlich möglicher Schwerpunktsetzungen kein Zufall, dass das Suchen nach einem sprachlichen Ausdruck für einen noch unfertigen Gedanken von Bühler und Kleist je anders beschrieben werden konnte. Als Sprachwissenschaftler betont Bühler den Anteil der Grammatik bzw. Syntax, als Poet legt Kleist das Augenmerk auf das sprachlich schwer zu fassende und nur dunkel oder flüchtig wahrnehmbare Phänomen der expressiven Leibsymbolik, in der sich die Mitwelt vorsprachlich und redebegleitend konkretisiert, jene Ausdrücklichkeit des Lebens, des Leibes und der Welt, die dem Dichter den Stoff liefert für Form und Inhalt seiner Poesie. Zumal Kleist exemplarisch für den poetischen Einsatz und die stilistische Durchbildung von Syntax und Zeichensetzung

208 Man muss wohl kaum darauf hinweisen, dass der Begriff der inneren Sprachform von Humboldt (1963, 463–473) stammt und vielfältige Interpretationen gefunden hat; Coseriu (19793, 177–185) bestimmt die Form bei Humboldt als »›das, was etwas anderes gestaltet‹, ›das Gestaltende‹ in bezug auf das Gestaltete« (177).

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Die Verkörperungsmodi und ihre Verbindung

steht, überdies als Dramatiker für die Rolle, die der bislang noch außer Betracht gebliebene Klang der Worte spielt. Im Klang spiegelt sich nämlich die Einheit des Sinns, den der Sprecher mit seiner Äußerung zum Verständnis bringen will. Unter Verwendung der Weisgerberschen Unterscheidung lässt sich zunächst Folgendes sagen: Ob das Verstehen adäquat gelingt, hängt davon ab, wie der Klang der Worte in ihrer syntaktischen Reihung die Bedeutung der Sache, um die es geht, und den artikulierten Inhalt, d. h. die wortfeldspezifische Variabilität, so miteinander vermittelt, dass der gemeinte (syntagmatische) Sinn im Hören durch den Klangkörper, das Material der Sprache hindurch, gleichsam unmittelbar, ohne am Stoff zu kleben, aufgenommen werden kann. Damit erweist sich der Klang (und seine verkörpernd-entkörpernden Formen: das Anklingen und Verklingen mit dem, was davor und danach liegt) als Repräsentant des dualen Modus oder der Wir-Sphäre. Das wird etwa dann deutlich, wenn man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie der gleiche gesprochene Satz je nach Raumgröße, Zuhörerschaft, Anzahl der Angesprochenen, eigener Gestimmtheit u. a. m. in seinem Klang variiert wird, oft ohne dass es dem Sprecher bewusst ist, es sei denn, er gestaltet das Sprechen professionell, etwa als geübter Schauspieler; oder er kennt die bedeutungsvermittelnden Klangvariationen aus Erfahrung und wendet sie an; oder er richtet sein besonderes Augenmerk darauf, sei es, weil er überzeugen oder Nachdruck auf seine Wahrhaftigkeit legen möchte u. a. m. Und es ist der Klang, der je verschieden, abhängig von Textsorte, Intention, Leserschaft u. a. m. in die Verschriftlichung einer Äußerung eingeht, in deren Satzbau, Wortstellung, Wortwahl und schriftlich fingierte Prosodie einschließlich lyrischer Formen wie Alliteration, Reim, Rhythmus, Pausen, Verstummen usw. Wie der Laut mit seinem sprachspezifischen Klang und seiner buchstäblichen Wiedergabe in der Schrift einen metaphysischen Sinn gewinnen, sich dabei die Rede in aufeinander aufbauenden Stufen anordnen kann bis hin zum Verklingen in einem als numinos auszuzeichnenden Stillwerden, dem sogenannten mystischen Schweigen, in dem sich das Ganze, Eine, Vollkommene und dessen Auffassung in höchster Einsicht ›kundgibt‹, zeigt sich im altindischen Sanskrit und im daran anschließenden, sich in meditativer Praxis manifestierenden Denken. 209 209

Vgl. dazu Desai-Breun 2019, Kap. VI.2., 163–179.

118 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

VIII. Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

1.

›Den Wohlklang verschwinden machen‹ (Kleist)

Was bedeutet dieses ›durch den Klangkörper bzw. das Sprachmaterial hindurch‹-Gehen beim gestaltenden Sprechen und verstehenden Hören? Kleist war sich der Schwierigkeiten bewusst und hat sie in seiner Poetik auf unübertroffene Weise gemeistert (gerade auch, wenn man an seine unkonventionelle Zeichensetzung und Satzstellung denkt); und mindestens an einer Stelle hat er sie zum Ausdruck gebracht, um mit seinem eigenen Schreibstil zu hadern. In dem Brief eines Dichters an einen anderen 210 schildert Kleist eine ihn beschämende Situation. Der Dichterfreund lobt Kleists Gedichte, was ihre Form anbelangt: Metrum, Rhythmus, Wohlklang, »Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache überhaupt«. 211 Kleist schämt sich nicht des überschwänglichen Lobes, sondern weil er darin einen Tadel sieht. Es gelinge ihm wohl nicht, seinen Gedanken ohne eine diesen entstellende Verpackung zu übermitteln. Es wäre besser gewesen, der Freund hätte die sprachlichen Vorzüge gar nicht bemerkt, weil sie dann »ihren größesten Wert […] bewiesen haben würden«. 212 Kleists Begründung: […] dem Durstigen kommt es, als solchem, auf die Schale nicht an, sondern auf die Früchte, die man ihm darin bringt. Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren, chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß: / nur darum bediene ich mich, wenn ich mich dir mitteilen will, und nur darum bedarfst du, um mich zu

Veröffentlicht in den Berliner Abendblättern am 5. Januar 1811, in: Kleist 20033b, 347–349. 211 Ebd., 347. 212 Ebd. 210

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Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

verstehen, der Rede, Sprache, Rhythmus, Wohlklang usw., und so reizend diese Dinge auch, insofern sie den Geist einhüllen, sein mögen, so sind sie doch an und für sich, aus diesem höheren Gesichtspunkt betrachtet, nichts, als ein wahrer, obschon natürlicher und notwendiger Übelstand; und die Kunst kann, in bezug auf sie, auf nichts gehen, als sie möglichst verschwinden zu machen. Ich bemühe mich aus besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben zu geben: aber bloß, damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschließen, erscheine. Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, daß der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel gebunden hält, und uns an nichts erinnert, als an sich selbst. 213

Kleist neigt hier zu einer idealistischen Betrachtung; er schildert, wie der Stoff – in seinen Worten: die Form des Sprachmaterials, sich verdichtend im Wohlklang – sich vorschiebt und, was die Aufmerksamkeit betrifft, an die Stelle des Sinns, d. h. des auszudrückenden Gedankens setzt, ihn dadurch verunstalten, dem Missverständnis anheimgeben, dem Verständnis entziehen, ihm am Ende den Garaus machen kann, und zwar gerade dann, wenn das in Form gebrachte Materielle des Ausdrucks schön, anmutig und gewandt ist.

2.

Verkörpern und Entkörpern. Die Stimme

Was jedoch wäre der Gedanke ohne das, worin er sich ausdrückt? Das wusste auch Kleist, dessen Verfertigungs-Aufsatz vom mit dem Denken gleichlaufenden Rad der Sprache handelte. Eine idealistische Auffassung wie die im Brief nahegelegte verkennt jedoch den unverzichtbaren Beitrag des Stofflichen. Auch im inneren Denken heften sich sogleich Bilder, Wörter, Sätze an das zu Denkende oder Gedachte. Und wenn sie das nicht tun, wenn uns nichts in noch so rudimentärer sinnlicher Weise vorschwebt, das wir denken, bleibt es in einer derart diffusen Konsistenz – entkörpert –, dass von einem Gedanken oder etwas Geistigem kaum die Rede sein kann. Es steht gleichsam vor der Tür, und der Zutritt in den Raum des Geistigen wird erst gewährt, 213

Ebd., 347 f.

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Verkörpern und Entkörpern. Die Stimme

wenn es sich halbwegs anständig mit Stoff bekleidet – verkörpert – hat, und sei es doch nur eine Hülle von unansehnlichen Fetzen, ohne ordentliche Nähte und geeignete Passform. Hier kommt – gegenüber der eben ins Spiel gebrachten – eine weitere Variante von Verkörperung und Entkörperung ins Spiel, die deren unauflösliche Verknotung belegt. Es ist offensichtlich und paradox: Der Vorgang des Bekleidens mit Stoff – das Verkörpern – macht komplementär den Vorgang des Absehens vom Stoff – das Entkörpern – erforderlich. 214 Ist der erste primär notwendig für die Erscheinung des Geistigen überhaupt, so der zweite primär für das Verdichten und Verstehen geistiger Erzeugnisse. 215 Das Sein des geistig Intendierten, des Gemeinten, prägt sich aus und sticht heraus vor dem Hintergrund des Nichts oder der Leere, die nicht nur die Gliederungsmedien des Realitätsbildes, 216 sondern auch die des zu Realisierenden sind: Geistiges kann nur wirklich und wirksam werden, wenn es sich von dem Körper, in dem es erscheint (sich verkörpert), zugleich abheben, ihn regelrecht negieren kann, und zwar so, dass dieser für das Ins-Sein-Treten des Geistigen unverzichtbare Körper gleichsam entleert (entkörpert) wird von allem, was vom Gemeinten, vom Sinn ablenkt. Man muss allerdings zunächst den Stoff wahrnehmen, erfassen und in seiner Bedeutung richtig einordnen können, um von ihm abzusehen. Die Bedeutung verstehen heißt aber bereits, den Stoff nicht mehr zu sehen. Und um die Paradoxie auf die Spitze zu treiben: Je gelungener nun die stoffliche Einkleidung ist, desto eher können wir sie übersehen, wenngleich sie sich doch anheischig macht, ins Auge (bzw. ins Ohr) zu fallen. Das gelingt am besten mit der Stimme und ihrem Klang als Voraussetzung für den Klang der Worte; Plessner bezeichnet die Stimme als »Resonanzboden des Ausdrucks«. 217 Denn der Stimme kommt etwas zu, das anderen Organen fehlt: sie erklingt, klingt ab, verklingt und klingt nach; auch lässt sie anklingen und bringt dabei das geistige Moment der Sinngebung zur Deutlichkeit. Auf der Seite des Vernehmenden: Er hört sie, hört ihr zu und überhört sie zugleich. In der Stimme Vgl. Plessner, VIII, 209–214; vgl. Breun 2014a, 152, 164–166. Vgl. Misch 1994, 136: hinsichtlich der Struktur des Sprechens und Hörens handele es sich um »[…] die Verkörperung des Gedankens im Ausdruck beim Reden, die Entkörperung beim rezeptiven Verstehen […]«, und das heißt, wir »blicken durch sie [die sinnliche Gestalt, R. B.] hindurch […] auf den Sinn, der da ausgedrückt ist.« 216 Vgl. Plessner, VIII, 210; vgl. oben, 54. 217 Plessner, VII, 251. 214 215

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Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

kommen die Fähigkeiten des Verkörperns und Entkörperns sowie beide in ihrem Ineinander zu einer Vollendung, die anderen Organen und artifiziellen Werkzeugen nicht gegeben ist. (Wo man der Stimme ausschließlich den Vorrang einräumt und ihr lauscht, handelt es sich um Gesang, also Musik.) Im Schreiben wird versucht, diese Fähigkeit in ein anderes Medium, das Sicht- und Lesbare, zu übersetzen; und dabei wiederholen sich die Vorgänge des Verkörperns und Entkörperns, was zu Deutungen wie derjenigen Kleists über sein eigenes Dichten führen kann. Kleist möchte den entkörperten, ›reinen‹ – beide Ausdrücke nun im Sinne des Körperlosen – Gedanken haben, kommt jedoch wie jeder andere Denker und Dichter nicht um die Notwendigkeit des Verkörperns herum, er bringt dieses gar zur freien Entfaltung. Es scheint, als ob im Sprechen und in der Sprache das Doppelverhältnis von Verkörperung und Entkörperung in einer Weise gesteigert wird, dass diese Relation auf das hin durchsichtig werden kann, auf das es wohl in der menschlichen Lebendigkeit in höchstem Maße ankommt: den Vorgang der Vergeistigung, d. h. der Verlebendigung des Geistes. Denn körperhaft ist das menschliche Dasein ohnehin; das hat es mit dem tierischen und pflanzlichen Leben gemein. Wenn nun aber, darüber hinaus, dem Körperlich-Sinnlichen die eben bezeichnete Aufgabe gestellt ist, dann ist zu fragen, mit welchen Mitteln sie ›gelöst‹ werden kann und woraufhin diese Aufgabenstellung überhaupt zielt, wenn sie nicht lediglich ein müßiges Spiel der Natur mit sich selbst sein soll, ein weiterer Farbtupfer in der bunten Vielfalt der evolutionären Möglichkeiten. Das Leben aber ist zu ernst, als dass wir jene Aufgabe – und sei sie einem Spiel gleich – auf die leichte Schulter nehmen könnten.

3.

Die Paradoxie der menschlichen Lebendigkeit

Erneut hat sich hier die Paradoxie geltend gemacht, die der menschlichen Lebendigkeit eigen ist. Jetzt schält sich deutlicher heraus, was unter Vollzug zu verstehen ist. Der Hiatus in der Daseinsweise des Menschen überhaupt, hier zwischen Körper und Geist im Gebrauch der Sprache, konkretisiert sich als Kluft zwischen Lautmaterial und geistigem Inhalt, zwischen dem Sinnlich-Stofflichen, das man hört, und dem Gedanken, dessen Bedeutung man versteht. Eine solche Kluft macht zwingend einen Sprung erforderlich, 122 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Paradoxie der menschlichen Lebendigkeit

um überhaupt hervorbringen zu können, was die zugrundeliegende synthetische Einheit mittels ihrer antagonistischen Momente zu leisten imstande und – wenn man die Kategorie der Zweckhaftigkeit hier noch ohne weitere Begründung in Betracht ziehen darf – wozu sie eingerichtet ist. Nur im Vollzug kann diese Leistung erbracht werden und sich dokumentieren. Es ist derselbe »Sprung«, 218 den Cassirer ganz allgemein für den zwar aufweisbaren, »aber nicht mehr kausal« erklärbaren »Übergang von der Natur zur ›Kultur‹« 219 in Rechnung stellt, und man muss sich mit Cassirer deshalb im Klaren sein, »daß die Frage nach der Entstehung der Symbolfunktion mit wissenschaftlichen Mitteln nicht lösbar ist«. 220 Diese Frage gehört in den Bereich der Rätsel der Lebendigkeit, die das metaphysische Bedürfnis wecken und andere Mittel benötigen, um der Konfrontation mit ihnen standzuhalten. Man kann geradezu sagen: die Verwendung ausschließlich wissenschaftlicher, dem Kausalitätsprinzip abgewonnener Mittel verstärkt das Versagen angesichts des Rätsels und reduziert die Lebendigkeit sowie die damit intern verknüpfte Selbstauffassung auf Fragen des Lebens und Überlebens sowie der daraus resultierenden Vorstellung, dem Tod ausweichen zu können. Kleist interpretiert die Kluft zwischen den widersprüchlichen Polen, indem er dem einen Pol, dem Geistigen, Priorität einräumt gegenüber dem anderen, der lautlich-buchstabenmäßigen Äußerung, die an die ›Geräte‹ (Bühler) des Sprechens bzw. Schreibens gebunden ist, und er stuft diese, auch wenn er ihre Notwendigkeit nicht übersieht, als letztlich überflüssig und störend ein. Ähnliche Äußerungen lassen sich etwa bei Schiller und Hamann finden. Umgekehrt ist heute die Neigung groß, den Gerätschaften und allem, was mit ihnen zu tun hat – Messbarkeit, empirische Erforschbarkeit, Manipulierbarkeit etc. –, Priorität zu geben und von daher das Geistige unter denselben Maßgaben beschreiben und bestimmen zu wollen. Damit wird man seiner Eigenart aber nicht gerecht, auch nicht dem Beitrag des Sinnlichen. Beide zusammen bilden das Fundament für ein Wesensmerkmal der menschlichen Lebendigkeit: das Schöpferische, das freie Anfangenkönnen, aus der anthropologischen Notwendigkeit eine Tugend, d. i. eine willentliche Bestrebung zu machen.

218 219 220

Cassirer: Formproblem und Kausalproblem, in: ders. 2011, 92–107, hier 106. Ebd., 107. Ebd., 105.

123 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

Es ist nun einmal schwierig, diese Konstellation nicht als lösbares und auflösbares Problem zu behandeln, sondern als aufgegebenes Rätsel, das in seiner Rätselhaftigkeit auch dann noch Bestand hat, wenn man die Hiatusgesetzlichkeit in Anschlag bringt, um der Sache dieses Rätsels gerecht werden zu können. Und die Sache besteht eben darin, dass der Sprung vom einen zum anderen Pol nötig ist, um die geistige Aktivität zu vollziehen und dem darin liegenden Schöpferischen Raum zu geben. Dabei ist es aber so, dass man die Polarität hinter sich lässt, allerdings ohne dass die Pole verschwinden. Darin liegt gleichsam das Wesen des Vollzugs: er lässt den Antagonismus ›unsichtbar‹ werden, indem er ihn fruchtbar macht, und er übermalt die Paradoxie, indem er sie verlebendigt.

4.

Das Ineinander von Stoff und Form

Mit der hier von Anfang an verwendeten Kategorie des Verkörperns und deren Pendant, der des Entkörperns, lässt sich der paradoxe Vorgang angemessen auffassen. Ansonsten zerrinnt er in seiner Eigenart unter dem forschenden, analytisch und szientifisch geschulten Blick. Um diese Eigenart näher zu beschreiben, kann es von Nutzen sein, nicht nur eine Analogie wie die der Bekleidung mit Stoff zu bilden, sondern die Grenzen der Analogie zu bestimmen, um weitere Einsichten in den Bereich zu gewinnen, dessen Aufhellung der Vergleich dienen soll. Wie die meisten Metaphern ist diejenige von der Einkleidung nicht ganz zutreffend, denn diese wird ja nachträglich vorgenommen; im Gegensatz dazu wird der Bedeutungsgehalt dem Stoff, in dem er erscheint, der Gedanke dem Wort, in dem er sich äußert, der Geist dem Material, in dem er sich offenbart, der Sinn dem Sinnlichen, in dem er sich verkörpert, nicht nachträglich hinzugefügt. Während ein Körper unbekleidet sein kann, lässt sich das von dem geistigen Gehalt (dem Gedanken, der Idee) gar nicht sagen. Er ist ohne das Kleid des Stoffes eben nicht, er braucht es, um überhaupt zu sein. Und der Stoff verlangt nach Formung (durch den Gehalt, den Gedanken, die Idee), ohne die er, ein bloßes Durcheinander, gar nicht in das Gebiet des Wahrnehmbaren, Erfassbaren und Verstehbaren fallen würde. Das Verhältnis ist im Bereich des Verkörperns explizit geistiger Gehalte ein anderes als das Verhältnis zwischen der körperlichen Nacktheit und der Bekleidung, obwohl auch in diesem Fall eine Ver124 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Ineinander von Stoff und Form

körperung stattfindet, ja der Mensch überhaupt sich ständig zu verkörpern hat, unabhängig davon, ob und wie er sich kleidet. Er ist nicht nur Körper, sondern er tritt auf mit seinem Körper und all dem, worin er sich kleidet und was ihn kleidet. Das schließt nun aber auch ein, dass solches Auftreten a priori eine geistige Komponente hat, wenngleich nicht explizit. Denn der Auftritt unterliegt den Bedingungen des dualen Modus, er geht aus dem mehr oder weniger bewussten Bedenken der Wirkung hervor, die man mit seiner Präsentation erzielt, auch unter der Berücksichtigung der jeweiligen Gepflogenheiten und der Rücksichtnahme auf mögliche Billigung oder Missbilligung. Ein Unterschied lässt sich jedoch ausmachen. Nicht nur ist das Bekleiden ein Vorgang, der zum Sichverkörpern des Menschen, jedes einzelnen Menschen, noch hinzukommt, dieses unterstützt, in mannigfacher, etwa ästhetischer, statusbezogener Hinsicht steigert und damit geradezu sichtbar macht, sondern es erfolgt mittels eines Nacheinanders und Übereinanders wie auch das geordnete Ablegen der Kleider zu einem Übereinander und Nebeneinander führt. Niemals auch lässt sich das Entkleiden als Entkörperung verstehen. Es wurde bereits davon Gebrauch gemacht, dass sich das Verkörpern explizit geistiger Gehalte dagegen einem Ineinander verdankt, das dem Durcheinander entgegensteht bzw. dieses gar nicht erst zulässt. Selbstverständlich kennen wir auch den Fall, dass die Kleidung durcheinanderliegt oder durcheinander geraten ist; es herrscht ein Durcheinander im Schrank. Aber das ist gerade nicht das Gleiche wie ein etwaiges Durcheinander im Geistigen, in der Sinngebung und Formung, bei dem, um das Bild weiter zu verwenden, das Ineinander von Stoff und Form Webfehler enthalten kann. Fasst man, wie bereits erläutert, dieses Ineinander als ein Zugleich von Verkörperung und Entkörperung auf, dann zeigt sich, dass mögliche ›Webfehler‹ in diesem Ineinander der Fäden damit zu tun haben, dass dieses Zugleich einem Nacheinander oder Gegeneinander gewichen ist. In solchen Fällen kann das Sich-Verständlichmachen und das Verstehen durch den Stoff hindurch nicht mehr gelingen. Bereits der sprachliche Laut ist ein Ineinander von Stoff und Form, nicht ist hier der Stoff, da die Form, die ihm angezogen oder übergestreift werden muss. Isolieren wir nachträglich das, was dann Stoff ohne Form genannt werden kann, dann ist es eben nicht mehr der sprachliche Laut, sondern eine Abfolge analytisch zum Zwecke physikalischer Untersuchung getrennter Geräusche mit Messzahlen 125 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

wie Frequenzen etc. Selbst Geräusche bieten sich uns aber nicht als ein Durcheinander dar, sondern als etwas akustisch Geformtes, das wahrgenommen und gedeutet sein will. Das heißt, das Wahrnehmen auch als Durcheinander empfundener Geräusche verlangt nach einer Form, um das Wahrgenommene in die Vorzeichnung des Sinns, die überall Voraussetzung menschlichen Lebens zu sein scheint, einzubinden. Wenn wir vom Klang reden, meinen wir nicht das bloße Geräusch, das technisch vereinzelt werden kann oder etwa durch ungewollte Reibung entstanden sein mag. Klang ist geformte Lautgebung.

5.

Die Verschränkung von Körper und Leib bei der Lautgebung

Fundierend dafür, wie für jede Konstellation von Verkörperung und Entkörperung, ist das Verhältnis von Körper und Leib. Beide sind, wie erörtert, identisch und zugleich scharf geschieden. (Nebenbei: Ein solcher Satz, der für Plessners Deduktion in den Stufen zentrale Bedeutung hat, mag aus analytischer Sicht Unsinn sein, er trifft aber genau jene Ausgangslage, die die spezifische Erfahrung des Menschen mit sich selbst ermöglicht; es ist der Boden, in dem die zu vollziehende mögliche Einheit der widersprüchlichen Momente entspringt, die der Mensch erleben kann, wenn er z. B. im Tanz oder Sport seinen Körper beherrscht, wenn ihm eine schwierige Bewegung gelingt, oder wenn er beim Reden seine Gedanken angemessen zum Ausdruck zu bringen sucht. Die analytische Perspektive ist sekundär, auch sie ist allererst durch jene ursprüngliche Synthesis ›absoluter‹ Gegensätze bedingt, die sie ihrerseits szientifisch missversteht. Denn eine vorgängige Analysis, aus der allererst Synthesen möglich werden sollen, ist ihrerseits Unsinn.) Leib und Körper: Die ›absolute‹ Mittelpunktsbezogenheit des Leibes, seine Zentralität im Sinne des initialen, nicht auswechselbaren Hier-, Jetzt-, Ich-Punktes (›Selbststellung‹), und – zugleich wirksam – die ›relative‹ Gegenseitigkeitsbezogenheit des Körpers unter Körpern, seine Dezentralität im Sinne von wechselnden Positionen in Raum und Zeit und in Abhängigkeit von anderen Körpern (›Gegenstandsstellung‹), 221 spiegeln und exponieren sich im Phäno221

Vgl. Plessner, VII, 240.

126 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Verschränkung von Körper und Leib bei der Lautgebung

men der Sprache bzw. des Sprechens. Das zeigt sich in zweierlei Hinsicht: zum ersten bei der sprachlichen Formenbildung und zum zweiten bei der Selbstinstrumentalisierung des Körperleibs 222 zum Zwecke der Lautbildung. Zum ersten: Es ist gerade diese antagonistische Struktur des Körperleibs, die u. a. die Differenz zwischen Zeigwörtern und Nennwörtern ermöglicht, etwa in der Sprachtheorie Bühlers. Die Zentralität entspricht der »Origo«, womit Bühler den Nullpunkt bzw. »Koordinatenausgangspunkt« des sprachlichen Zeigfeldes bezeichnet, wobei die »drei Zeigwörter« die zentrale Position des Leibselbsts markieren: ›hier‹ dient als »Ortsmarke«, ›jetzt‹ als »Zeitmarke« und ›ich‹ als »Sendermarke«. 223 Die Dezentralität entspricht den sprachlichen Bezeichnungen für die Dingwelt (Bühlers Nennwörter), in die sich das Leibselbst durch bestimmte Benennungen einordnen lässt; deren formal dinglicher Charakter wird zumeist abgeschwächt in höflichen Umgangsformen (›die Dame‹, ›der Herr‹) oder kann in betont herablassender oder gar herabsetzender Rede (›dieses Frauenzimmer‹, ›das sind ja feine Herren‹) und Anrede (etwa im Tonfall der zweiten Person Singular oder Plural) verstärkt werden. Zum zweiten: Der Leib instrumentalisiert sich als Körper; er schafft sich damit unzählige Artikulationsmöglichkeiten und einen großen Gestaltungsspielraum mit einer Vielfalt an Gestalten. So nimmt er auch sich selbst in Gebrauch als Werkzeug zur Erzeugung von Sprache. Die Leibposition ist ja eine solche der Distanz zu den Dingen, wodurch sie dem Leib gegenüberstehen – zu Gegenständen werden. Sein Standpunkt muss sich demzufolge in scharfer Unterscheidung zu dem des Körpers bestimmen lassen und als solcher eigens abheben; eben darin liegt seine vorgängig-synthetische Leistung: das Körpermaterial, das er verwenden muss (er hat kein anderes, und es ist der Stoff, aus dem er selbst gemacht ist), in einer Weise zuzurichten, zu gestalten und zu formen, die dieses formende Tun und am Ende die Formen selbst vom ›bloß‹ Stofflichen unterschieden sein lässt, ohne sich gänzlich von diesem zu trennen – in der Unterscheidung die verbindende Einheit festzuhalten, aufgrund derer die Trennung erfolgt, ohne das Auseinanderfallen der Momente zu begünstigen, sondern diese zu gleichsam organischen Momenten einer synthetischen Einheit zu machen. Es ist genau diese Konstella222 223

Vgl. ebd., 241. Bühler 1999, 102.

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Lautgebung: Klang, Stimme, Lebendigkeit

tion, die, von Hegel 224 und Plessner als Verschränkung bezeichnet, jene Durchlässigkeit des Stofflichen auf das Geistige hin ermöglicht, indem sie das Material dehnbar und flüssig genug macht, um der geistigen Intention, dem Meinen, dienlich sein zu können, und ihm doch zugleich eine Festigkeit zugesteht, die dem zum Verwehen und Verschwinden neigenden geistigen ›Hauch‹ Halt genug gibt, um in Erscheinung treten zu können. Diese Konstellation ist für das Reden und Sprechen unabdingbar vorausgesetzt. Das wird an Beispielen deutlich, von welchen ausgehend die Sprachstruktur sich erhellen kann. So bedient sich der Klang beim Sprechen des körperlichen Materials, das sich in Zunge, Gaumen, Lippen, Zähnen, Stimmbändern etc. findet, so dass Labial-, Palatal-, Guttural- und andere Lautbildungen wie auch Friktionen und Hemmungen, wie sie bei Konsonanten vorliegen, möglich werden. Aber wie dieser Klang erzeugt und eingesetzt wird, um zum Ausdruck von Bedeutung und zum Herbeiführen von Verstehen beizutragen, ist keine Leistung des Materials selbst. Denn der Körper allein brächte lediglich Geräusche hervor, die, obwohl sie ihrerseits zu einem möglichen Verstehen aufforderten (so etwa in Krankheitszuständen), in einer Art von Monotonie oder Kakophonie und Arhythmik am Bedeuten und Zuverstehenbringen vorbeizielten. Man spreche einen sinnvollen Satz aus und wiederhole ihn in völliger Monotonie, ohne Rhythmik und Intonation. Die intendierte Bedeutung schwindet zusehends, er meint nichts mehr, sondern ist nur noch bloße Lautierung bzw. Lautwerden; auch etwa dann, wenn man die Laute unverbunden aneinanderreiht, wie bei einer Melodie, deren Töne man ohne Zusammenhang (und damit ohne Zusammenklang) Stück für Stück spielt.

224

Vgl. Hegel 19773, 145.

128 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

IX. Sprechen

1.

Sprechen: Atmen und Hervorrufen

Grundlegend für jegliches Sprechen als klangvolles Lautgeben ist etwas, das die antagonistische Position des Körperleibs in eine Art von Bewegung und Bewegtheit umsetzt, die einerseits zentral steuerbar ist und insofern vollzogen werden kann, andererseits sich doch nur der Stellung des Körpers als ein lebendiges Ding, als biologischer Gegenstand verdankt und insofern geschieht. Das ist die Atmung. Atmung als Geschehen: sie setzt ein und kann aussetzen; Atmung als Vollzug: sie kann unter der bewussten Leitung des Subjekts zu den durch lange Übung erworbenen Fähigkeiten der Selbstbeherrschung, Konzentration und bestimmten Lebensformen führen, die wegen ihrer Entfesselung von der Bindung an den Körper nicht zufällig ›geistig‹ genannt werden – sie kann aber auch das Individuum zum Objekt einer Beatmung machen. Die Atmung kann zum einen als Analogon für den Vorgang des Verkörperns und Entkörperns beim Sprechen, von Auffüllen und Leeren, stehen, zum andern als biologische Grundvoraussetzung für Lautgebung und Klangerzeugung: das Ein- und Ausatmen, das eine Vielfalt von Variationen zulässt, vom weit Offenen bis hin zum gepresst Geschlossenen. Ein und Aus ergänzen sich wie Systole und Diastole, wirken mit- und gegeneinander, das eine verkürzt das andere, bricht es ab, verlängert jeweils sich selbst, um dem jeweils anderen Raum und Zeit zu beschneiden. So entstehen die gleichsam unendlichen Möglichkeiten der Lautbildung. Man darf an dieser Stelle wiederum nicht den Fehler machen, die grundlegende Voraussetzung für die Lautbildung im vermeintlich ›rein‹ Materiellen anzusiedeln. Denn vorgängig auch dafür ist der duale Modus zusammen mit der geistigen Sensibilisierbarkeit des Atmens. Exemplarisch für die geistige Bedeutung des Atmens stehen die oben angedeuteten Praktiken der Meditation, in Verbindung mit der Lautgebung bei der Sprach129 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sprechen

meditation, etwa mit Hilfe von Mantras oder im Gebet, aber auch die Möglichkeiten des Gesangs und des Vortragens von Lyrik. Das Hervorbringen eines Lautes, der etwas meint und zu verstehen geben will, wurzelt in der mitweltlich-apriorischen Verbindung, der geistigen oder Wir-Sphäre als der Einheit von Ich und Du, wie sie Humboldt gerade mit Bezug auf die Sprache beschrieben hat; so bezeichnet er erstens beide ganz im Sinne einer synthetischen Einheit als einen »Verhältniss-Gegensatz« und zweitens den Raum ganz im Sinne einer sinnlich-formalen Akkordanz als die »Eine Sphäre«, 225 welche das Ich und das Du umschließt. Folgerichtig kann er »Luft« und »Licht« als die ›Stoffe‹ kenntlich machen, in denen sich zum einen der Laut, die »Verkörperung einer geistigen Zeugung«, 226 d. h. des Gedankens, als Schall und Klang ausbreitet – wobei die Luft durch ihre »scheinbare Unkörperlichkeit dem Geiste auch sinnlich entspricht« – und zum anderen der an den Laut sich bindende Gedanke, in eben jenem Stoff, der überdies »das Licht der Sterne herbeiführt«, »aus dem Dunkel nach dem Licht« strebt und sich »in die Unendlichkeit ausdehnt«. 227 Ohne diese sphärisch-mediale Voraussetzung bliebe es beim bloßen Aufnehmen, Durchlaufenlassen und Abgeben des Luftstroms, das Atmen könnte nicht im Sinne des ›Hervorrufens‹ eingesetzt werden, angefangen beim einfachen, aber zwischen vielerlei Bedeutungen changierenden Seufzer (den außer dem Menschen keine andere Kreatur kennt) bis hin zur reflektierten Rede. Nicht zufällig hat ›Hervorrufen‹ zum einen die Bedeutung des nach außen gerichteten Lautgebens, zum anderen diejenige des ›Zustandebringens‹, Schaffens, Erzeugens unter Einschluss des angesprochenen und aufgeforderten Anderen, 228 und die daraus resultierende Stimme »[e]rfüllt die Bedingung des Entspringens«, 229 Plessner zufolge eine Voraussetzung für die Lautproduktion des Menschen; und Entspringen heißt Anfangenkönnen, gerade auch im Sinne des Schöpferischen. Bedeutungsvollen Klang zu erzeugen, das ist ein leiblich initiiertes schöpferisches Tun, das man klassischerweise ein geistiges nennt. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen: Von diesem Schöp-

225 226 227 228 229

Humboldt 1963, 208. Humboldt 1968, 427. Ebd., 377. Vgl. ebd., 377, 421. Plessner in seiner Vorlesung von 1956: 2019, 236.

130 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sprechen: Atmen und Hervorrufen

ferisch-Geistigen wird viel Aufhebens gemacht, oder es wird geleugnet. Seine auch außersprachlich wirksame Eigenart, die sich einem objektivierenden Erfassenwollen entzieht, kommt eher da zum Vorschein, wo es, einem Relief gleich, von dem Untergrund, aus dem heraus es skulptiert ist, sich abhebt, so beim Sprechen und in der Sprache; hier kann es in seiner Anlage und seiner Entfaltung nachverfolgt werden. Geräusche, Schall, Volumen, Tonhöhe, Lautstärke, Hemmung und Lösung sind das Material des Sprechens. Das Meinen, Bedeuten und das Verstehen bezeichnen die Form, das in Syntax gefasste Sinngebende bzw. Sinnauffassende. Wie gesagt: das eine ist nicht ohne das andere. Die Form gestaltet das Material. Dieses ist der Formung offen wie jene einer gewissen Sättigung mit Material bedarf. Das eine lässt sich vom anderen nur unter den Bedingungen einer entstellenden Verkürzung isolieren. Trotz ihrer synthetischen Einheit spricht man das Geistige primär der Tätigkeit des Formens zu, und dem Material spricht man es ab. Das gilt allerdings nur für eine nachträgliche Betrachtung, die zu spät kommt, um diese die Erfahrung menschlicher Lebendigkeit ermöglichende Einheit zu gewahren. Es ist richtig, dem Formen das schöpferische Moment zuzusprechen, das aber auch nur mittels des Materials zu seiner Produktivität gelangt. Da es nicht gelingt, diesen Zusammenhang kausal-szientifisch bestimmen zu wollen, gilt das schöpferische geistig-Formende als nicht fassbar und wird entweder als nichtseiend und nichtig oder als Wunder und aus szientifischer Sicht sinnloses Rätsel gekennzeichnet. Das ist aber die falsche Perspektive, aus der heraus das Geistige von vornherein unzugänglich bleibt. Die einzige Perspektive, in der das Geistige in der ihm angemessenen Weise gleichsam ›sichtbar‹ wird, ist seine Beschreibung aus dem Grund heraus, in dem es entspringt, und das ist der Leib, der dem Körper, der er zugleich ist, so gegenübersteht, dass er ihn zum Medium des Geistigen machen kann – in Verkörperungen, die, zwar in medialer Funktion, doch eine Atmosphäre erzeugen, die man, mehr als ein Medium, eher ein Fluidum, eben nicht zufällig als eine geistige bezeichnet: anregend, das Denken beflügelnd, das Schöpferische begünstigend, deshalb kreativ; ohne zu verdinglichen objektivierend, deshalb sachlich; Getrenntes verbindend, Vermischtes auseinanderhaltend, Zusammenhänge offenbarend; sehen lassend, expressiv, und das alles mit einem starken Zug zu einer Schönheit und Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks, die auch dort noch 131 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sprechen

wirken, wo Dissonanzen aufgedeckt oder wo unzulässige Harmonien aufgelöst werden müssen, kurz: in einem Stil, der präzise der Sache so entspricht, dass sie ihrem ›Wesen‹ entsprechend offenbar wird. So kann man etwa von einem falschen Ton beim Reden sprechen, und ebenso vom treffenden Wort, vom richtigen Ton, den man gefunden hat, sowohl hinsichtlich der Sache als auch der konkret am Gespräch Beteiligten. All das fordert Behutsamkeit und Sorgfalt beim Reden und Sprechen, die darauf angelegt sind, nicht dem eigenen Selbst, sondern der Sache den Vortritt zu lassen, und dem Selbst nur dann, wenn es seinerseits zur Sache gemacht wird. Darin liegt die Kunst der Rede und des Gesprächs. In höchster Konzentration und Versammeltheit bedient sich das Leibselbst seiner körperlichen Instrumentarien, verkörpert damit Bedeutungen und produziert Sinn, immer auch mit Blick auf den ›Empfänger‹, den es in seine Verkörperungsaktionen so einbezieht, dass ein sinnadäquates Vernehmen möglich wird, und es entkörpert dabei zugleich alles andere einschließlich seiner selbst – alles, was ›nichts zur Sache tut‹.

2.

›Durch den (Sprach-)Körper hindurch‹

Und nun wird aufs Neue klar: Gelingt das sprachliche Gestalten mittels des körpereigenen Materials, dann wird das Gemeinte bzw. die Bedeutung oder der Sinn des Ausgesprochenen durch den Körper hindurch offenbar. Der Gedanke, dass die Auffassung von Sinn »durch die Körperauffassung hindurchgeht«, 230 stammt aus der Phänomenologie Husserls und bezieht sich an der zitierten Stelle auf die »Menschenauffassung« 231 in ihrem Sinn, und er erhellt den Vorgang, der sich beim Wahrnehmen eines Menschen abspielt. Der Mensch kann nicht mit dem Sinnlich-Stofflichen identifiziert werden, sondern wird in seinem Sinn durch den Körper hindurch sichtbar – und nicht, indem man das Material, aus dem er besteht, das Körperliche eben, in den Blick nimmt (das wäre die Einstellung der »›Naturalisierung‹« 232 des Menschen). Umgekehrt aber ist der Körper die Voraussetzung dafür, dass der Mensch in Erscheinung tritt. Die Wahrnehmung aber, die nicht auf das Registrieren des Stoffs und seiner 230 231 232

Husserl 1969, 240. Vgl. dazu auch Misch 1994, 136 (vgl. oben, 91, Anm. 215). Ebd. Ebd., 242.

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›Durch den (Sprach-)Körper hindurch‹

physischen oder physikalischen Eigenschaften zielt, löst sich von diesem Stoff, ohne ihn hinter sich zu lassen, denn ohne ihn wäre eben kein Wahrnehmen, auch ein sinngebendes und deutendes nicht, möglich. So ist es auch beim Sprechen. Zielte es ausschließlich auf den phonologischen Anteil, das Sprachmaterial, das Voraussetzung für das Erscheinen des Klangs, der Worte und Sätze ist, ginge es an der Bedeutung vorbei. Ein Verstehen wäre unmöglich. Umgekehrt aber braucht das Verstehen den Stoff der Sprache, um zum Ziel zu gelangen, d. h. die Intention zu erfüllen. Nun darf aber die Sprache ihrerseits nicht den Blick verstellen. Das tut sie etwa dann, wenn man auf sie fixiert ist wie auf den menschlichen Körper, der sich nach vorne schieben und den Menschen selbst mit seinem ›geistig-seelischen‹ Wesen verdecken kann. Analog zu Husserls Satz gilt: Wir nehmen das, was ist – die ›wirkliche‹ Welt – durch die Sprache (einschließlich anderer Symbolsysteme) hindurch wahr. Genauso wie man den Menschen nicht mehr sieht, wenn der Körper das Sinn-Bild, das etwas ›meint‹ und bedeutet, verstellt und den Blick gefangennimmt – genauso sieht man die Sache bzw. die Welt nicht mehr, wenn man auf die sprachlich-symbolischen Mittel fixiert ist, d. h. einzelne Wörter, Satzteile, Satzrelationen etc. betrachtet, und aus dem Blickfeld gerät, was sie ›bedeuten‹ oder ›meinen‹. Wie auf den Körper kann man auch auf die Sprache stieren. Die Nase sticht hervor und wird immer größer oder unansehnlicher, wenn man intentional-aufmerkend ausschließlich auf sie gerichtet ist, und das einzelne Wort wird immer unansehnlicher, wenn man sich darauf richtet (es z. B. hundertmal wiederholt), und verliert seine Bedeutung. Was folgt daraus für das Verhältnis zwischen dem Sprachkörper und dem sachlichen bzw. Weltverständnis? Der Mensch ist nicht mit seinem Körper identisch, obwohl er ihn braucht, um überhaupt zu sein. Die Welt ist nicht mit dem Sprachkörper identisch, obwohl sie ihn braucht, um überhaupt zu sein, d. h. als Welt so zur Erscheinung zu kommen, wie wir sie als Menschen kennen: voller Gegenstände, raumzeitlich gegliedert, das Chaos gebannt durch symbolische und sprachlich verfasste Ordnung.

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Sprechen

3.

Spontaneität beim Sprechen

Nicht nur die Beispiele zur Verkörperung von Gedanken, die von Bühler und Kleist jeweils so unterschiedlich beschrieben und gedeutet wurden, verweisen darauf, dass menschliche Lebendigkeit und Leib (der zwischen Organismus und Welt vermittelt und diese Vermittlung zugleich unmittelbar ausdrückt) einen sphärischen Charakter haben. Das geht auch in alltägliche Erfahrungen ein, die jeder beim Reden und Hören machen kann. Und darin liegt eben die strukturell unüberwindliche Schwierigkeit, die Wissenschaft und Forschung mit der Lebendigkeit und dem Leib des Menschen haben: sie sind nicht bloß unter dem Prinzip der Gegenständlichkeit zu verstehen. Zwar lassen sie sich vergegenständlichen, verlieren damit aber ihre wesentlichen Merkmale: die Momente des stetigen Vollzugs, der Dynamik, des ›Lebensbezugs‹ (Dilthey), der Wechselseitigkeit beim Aufeinanderwirken expressiver Formen – und ihre zuständliche Expressivität wird auf den privativen Modus einer vermeintlich neutralen emotionsfreien Position reduziert. (Nebenbei: selbst das objektivierende Beobachten kann der Expressivität zugerechnet werden, es hat einen ihm eigenen Ausdruck, und der Beobachtete wird, sobald er diesen bemerkt, entsprechend reziprok darauf reagieren.) Dem reduzierend-abstrahierenden Zugriff wird überdies, wie gezeigt, das Schöpferische geopfert. Denn die oben beschriebenen Momente der Lebendigkeit sind in ihrer Wirksamkeit nicht kausal erklärbar. Sie folgen stattdessen den Bedingungen einer Spontaneität, die in der Sprachverwendung in besonderem Maße deutlich wird und sich ganz konkret darin abzeichnet. Jedes Sprechen hebt neu an, und der Sprecher weiß nicht, was insgesamt folgt. Zwar bewegt sich der spontane Akt innerhalb eines Rahmens, der von der Grammatik der Sprache und den Sprechkonventionen der Sprachgemeinschaft gebildet wird – und es ist gerade dieser Rahmen, der sowohl Regelhaftigkeit als auch Spontaneität ermöglicht; ein Sprechen wäre aber gar nicht möglich, das sich der jeweiligen Sprachstruktur mechanisch eingliedern oder unterwerfen würde. In bestimmten Diktaturen wird auch das versucht, und die offiziellen Sprachbeschränkungen lassen sich an einer gewissen Art von Mechanik des Sprechens erkennen, aber die Sprachbenutzer, Sprecher wie Hörer, wissen um diesen Effekt. Dauert der Sprachzwang jahrzehntelang an, dann entsteht daraus allerdings eine Sprachverarmung, die sich in Semantik, Syntax und selbst in der Intonation äußert. Daraus resultiert ein ähnlicher Effekt, wie er die 134 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Spontaneität beim Sprechen

Lebendigkeit von Organismen betrifft, die gefangen gehalten werden und ihre ursprüngliche Vitalität nicht mehr ausleben können. Eine Mechanik des Sprechakts überhaupt ließe sich nur konstruieren, wenn man ihn atomisierte, wie man das aus naturwissenschaftlicher Sicht auch mit anderen Dingen des Lebens macht, und die kleinsten Laut- und Strukturpartikel isoliert von den jeweils anderen untersucht. Dann geht es aber nicht mehr um die Sprache und das Sprechen, sondern um Geräusche, die vom Mund als einem bloßen Körperteil ausgehen. Der Vollzugscharakter, die Artikuliertheit des Sprechens und damit die Artikulation von Sinn – das, was die spezifisch menschliche Lebendigkeit ausmacht – gehen dabei verloren. Sprechen ist ein lebendiger, spontaner Akt, in dem das Verkörpern und Entkörpern zugleich erfolgt, und deshalb eignet sich das Sprechen (und mit ihm die Sprache) als Untersuchungsgegenstand für einen metaphysischen Zugang zum Rätsel der menschlichen Lebendigkeit. Hinzu kommt: Die Sprachverwendung vereinigt Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit wie keine andere Manifestation menschlicher Expressivität. Davon leben selbst religiöse oder dichterische Äußerungen. Diese mögen sich auf einen Gegenstand beziehen, und sei er bloß gedacht, aber für sie entscheidend ist der Klang (im primären mündlichen Gebrauch) oder die klanganaloge Form; letztere kommt der eigentlich sekundären schriftlichen Umsetzung zu, die, wenn sie in den Vordergrund rückt, eigens bestimmte Formen kreiert, welche der zu spiegelnden oder intendierten Zuständlichkeit Ausdruck verleihen – etwa einer religiös-numinosen bzw. spezifisch künstlerisch wiederzugebenden Stimmung. Davon zeugen dann die Verwendung von Endreimen und Alliterationen, die Häufung bestimmter Buchstaben in der Wiedergabe von Vokalen oder Konsonanten, der Einsatz von Rhythmen, speziellen Wörtern und ungewöhnlichen Wortbildungen, unüblichen syntaktischen Formen, schließlich auch von bestimmten Schriftbildern, wie man sie aus der Kalligraphie etwa des Arabischen (hier wiederum mit Bezug auf die das Erhabene ›veranschaulichende‹ Darstellung koranischer Verse) oder Chinesischen und Japanischen kennt.

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Sprechen

4.

Der Laut: Schall, Ton, Klang

Von dieser Leistung der Sprache, sich auf Gegenstände zu beziehen und (zugleich) dem Zustand eine Form zu geben, die den Gegenstandsbezug möglicherweise noch unterstreicht, kann man sich überzeugen, wenn man wiederum die sprachliche Basis, den Laut, betrachtet. Der sprachliche Laut lebt zuallererst vom Klang. Man hätte Schwierigkeiten, einen Laut ohne Klang als Bestandteil des Sprechens zu identifizieren. Man kann dies tun, wenn man weiß, dass da gerade gesprochen wird, und interpretiert dann den Mangel an Klang als Ausdruck einer emotionalen Einschränkung oder Deprivation. Der Grund für eine solche Deutungsmöglichkeit und zumeist Deutungsnotwendigkeit ist der sphärische Charakter des Klangs. Da sich der Laut als Schall ausbreitet, auch nachklingt und mehr oder weniger langsam verklingt, hat er, ohne räumlich im engeren Sinne zu sein, ein Volumen. Als Ton hat er, ineins mit dem Schall, einen zeitlichen Verlauf, eine bestimmte Länge, welche auch die Bedeutungsvarianten eines Phonems anzeigen kann (etwa in ›Mus‹ und ›muss‹), außerdem einen Lagewert, d. h. eine variable, tiefe oder hohe, Tonlage, die mit der Stimmlage korreliert und in Sprachen wie dem Chinesischen bedeutungstragend sein kann. Man spricht vom Tonfall und vom Klang der Stimme. Der erste kann herablassend bis anerkennend, emotionslos bis pathetisch sein mit jeweils unzähligen feinen Variationen dazwischen, der zweite kann u. a. hell oder dunkel, belegt oder unbeschwert, gehemmt oder beschwingt, besorgt oder lebhaft sein. Beim Sprechen lassen sich Teile durch Betonung hervorheben. Wie das geschieht, hängt auch von der sprachspezifischen oder individuellen Akzentuierung ab. Außerdem lässt sich der Klang, der jeder Stimme individuell zukommt, vom Klang der Sprache unterscheiden. Italienisch klingt anders als Deutsch, und Englisch anders als Russisch; auch verwandte Sprachen wie etwa die romanischen unterscheiden sich deutlich im Klang. Das hängt vor allem vom Gebrauch der Vokale ab; dominieren Vokale wie e, i, a über die Konsonanten, auch über die dunkleren Vokale o und u, dann besitzt die Sprache von vornherein einen helleren Klang, im Unterschied etwa zu einer Sprache mit einem Übergewicht von Reibelauten (Frikativen). So gehen in den Klang des Sprechens individuelle und allgemeine Voraussetzungen ein. 136 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der Laut: Schall, Ton, Klang

Jeder Laut zieht mit seiner individuellen klanglichen Färbung und unter den allgemeinen Voraussetzungen der Sprache, der er entstammt, eine Grenze im Hörraum, der zugleich die Sphäre des Verstehens umreißt. Als Ton zieht er eine vertikale Grenze zwischen hoch und tief, eine horizontale Grenze zwischen kurz und lang anhaltend; als Klang zieht er Grenzen zwischen hell und dunkel, voll und dünn, als Schall zwischen laut und leise. Das Verstehen dessen, was gemeint ist, hängt von der möglichst deutlichen Grenzziehung in diesen Richtungen und Dimensionen ebenso ab wie von der Wortwahl und der Satzakzentuierung. Ein reflektierter Sprecher setzt diese Möglichkeiten bewusst ein, um sich klar und verständlich zu äußern. Jenseits dieser Grenzen ist der entkörperte Hörraum, dessen Elemente jedoch ihrerseits etwas verkörpern, entweder weil sie bewusst genutzt werden als wohlgesetzte Pausen, Unterbrechungen, Zäsuren etc., oder die ›absolute‹ Stille auf das verweist, was das Reden der Menschen transzendiert, und zwar in verschiedenen Richtungen, die auf einen Sinn verweisen oder jegliche Sinngebung (zunächst) von sich abweisen. Hinduistische und buddhistische Praktiken arbeiten mit diesen Grenzziehungen und versuchen, die hier angedeutete entkörperte Dimension, den Übergang vom Diesseits zum Jenseits der Grenze intendierend, für ›religiöse‹ bzw. spirituelle Verkörperungen in ›Gebrauch‹ zu nehmen (z. B. bei der Wiedergabe von Mantras, bei Rezitationen und bei der Erzeugung von Stille). Überhaupt ist es der Bereich des Numinosen, der hier in Frage steht und der mit der Oszillation zwischen Entkörperung und Verkörperung künstlerische und religiöse Bearbeitungen kennt. Innerhalb des Sprechens selbst werden Grenzen gezogen und überschritten, von Laut zu Laut, Wort zu Wort, Satz zu Satz. Wie sich diese immanenten Grenzvollzüge zur Transzendierung der Grenze des Hörens und Verstehens in die Richtung des Außer- oder Überweltlichen, d. h. des Numinosen verhalten, hat Wittgenstein mit einigen Hinweisen zur Grenze angedeutet, etwa in folgenden beiden Sätzen des Tractatus: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« 233 Hier aber muss man das Unaussagbare von dem unterscheiden, was doch in anderer Weise ausgesprochen werden kann, und sei es in einem qualitativen Schweigen. – »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt.« 234 233 234

Wittgenstein 2003, Satz 5.6. Ebd., Satz 5.632.

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Sprechen

Das Subjekt manifestiert sich in einem Körperleib. Als Körper gehört es zur Welt, als Leib bildet es die ›Origo‹ seiner selbst und der Welt. Das eigentlich unlösbare Problem 235 liegt, wie wir wissen, in deren Verschränkung. Als Rätsel ist es das der Lebendigkeit mit ihrem Zugleich von Verkörpern und Entkörpern. Hier, im Zugleich der Verschränkungsmomente, liegt auch der Schlüssel zur Lösung. In den Akten des Verschränkens werden die im Vollzug gesetzten Grenzen zugleich überschritten. Indem sich das Geistige verkörpert, wird der Körper zugleich transzendiert, und das Eine hebt sich vom Anderen ab. So ist der Satz Wittgensteins zu verstehen. Das Subjekt als Grenze gehört zur Welt und ist insofern Körper, wie es zugleich nicht zur Welt gehört und insofern Leibselbst, geistiges Zentrum, ist, als Mitwelt doch wiederum Teil der Welt, aber der geistigen Sphäre zugehörig. Die Durchlässigkeit des Stofflich-Weltlichen auf das Geistige hin impliziert von vornherein die Bewegung des Transzendierens, des Übersteigens des Weltlich-Materiellen in Richtung auf das, ›was nicht von dieser Welt ist‹. Das kulminiert in der Sprache. Ihre Bewegung ist eine transzendierende, sich von der Körperbindung zunehmend lösende, wenn möglich befreiende. Die Sprache zeugt, insbesondere in der Sprachmelodie, von jener geistigen Durchlässigkeit, ja von der Verwandlung des Stofflichen ins Geistige, und sie selbst erzeugt ständig neue Abhebungen bis hin zur Selbsttranszendierung, ihrer Selbstaufhebung im einsichtigen Schweigen.

5.

Sprechmelodie und Bedeutung

In der Fülle von Möglichkeiten, sprachimmanent lautlich zu nuancieren, manifestiert sich das mitweltliche Verhältnis, m. a. W. die Sphäre des Geistes, der Quellgrund des Schöpferisch-Wandlungsfähigen, aber auch Maßstab- und Normsetzenden; und jene Vielfalt der Lautierung ineins mit den semantischen Variierungsoptionen bringt ein Vgl. Plessner 2019, 230: »Echtes, aber unlösbares Problem der Verschränkung. Unlösbarkeit kein Schein. Anthropologie rechnet mit ›gewachsenen Fragen‹ aus der menschlichen Situation des ›Zwischen‹«. Und solche Fragen sind eben die der Metaphysik, für die die Verschränkung bzw. das Zugleich von Verkörperung und Entkörperung rätselhaft bleibt. Sie reduziert das Rätsel nicht zum Problem, sondern versucht, sich dem Rätsel zu stellen. Im Grunde genommen tut das jeder Mensch mit seiner Lebensführung, die dem Rätsel in mehr oder weniger angemessener Weise ›antwortet‹. 235

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Sprechmelodie und Bedeutung

je spezifisches Verhalten zu diesem Verhältnis zum Ausdruck, und zwar sowohl ein dauerhaftes, aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sowie gewisser Begebenheiten und Ereignisse zur Gewohnheit gewordenes – was mit Bourdieu als Habitus bezeichnet werden kann, der sich ja in vielerlei kulturell-sozialen Tätigkeiten und Objektivationen Bahn verschafft, vor allem aber auch in der Sprechweise –, als auch ein situativ bestimmtes und mit den aktuellen Bedingungen je sich wandelndes Verhalten. Klang und Ton sind die Basis der Sprachmelodie, besser Sprechmelodie, oder Prosodie (wörtlich Hinzugesang); zu ihr gehören die Betonung, der Rhythmus und die Intonation (z. B. das Auf oder Ab bei Frage- oder Aussagesatz) sowie der Wort- und Sprachakzent, der von Bedingungen der Herkunft, der Kultur, der Muttersprache und den situativen Emotionen abhängig sein kann. Jeder Laut muss jedoch einerseits diskriminierbar sein, andererseits offen für den Anschluss an den vorhergehenden, den Übergang zum nächsten und den möglichen Abschluss der ganzen Äußerung. Die Sprechmelodie nun vereint im Vollzug die grenzbestimmenden mit den grenzüberschreitenden Momenten der lautlichen Äußerung. Das heißt, die Sukzessivität (Kontinuität der Lautfolge) wird mit den Bruchlinien (lautlichen Zäsuren) des Sprechens so vermittelt, dass die Übergänge und Zusammenhang schaffende Verbindung (Synthesis) mit der die Teile isolierenden, abgrenzenden Vergegenständlichung (Analysis) eine übergeordnete Einheit bildet: eine Sinneinheit, wie sie bereits in Ausrufen zum Tragen kommt. So wird in der Lautierung sprachliche Bedeutung verkörpert (ähnlich wie die Sinneinheit des musikalischen Themas in der Melodie). Gleiches gilt für das Wort und den Satz. Auch das Wort zieht eine Grenze. Das einmal gewählte Wort schließt andere Wörter aus, verweist aber zugleich auf das Wortfeld, dem es zugehört, einschließlich der Antonyme. Die feinen Unterschiede zwischen den Wörtern sind Abgrenzungen zwischen den möglichen Relationen des Meinens und Intendierens zum Sagbaren. Das tatsächlich Gesagte begrenzt die schier unendliche Fülle expressiven Verhaltens zu den mitweltlichen Verhältnissen, ein Verhalten, das die innenweltlichen und außenweltlichen Bezüge (das Erleben und die Gegenstände) insofern einschließt, als diese den Raum des Ausdrücklichen durchlaufen müssen, selbst wenn sie nur gedacht werden; der Ausdruck seinerseits steht unter den Bedingungen des Selbsterlebens der Person und der Aussagbarkeit (in propositionaler Form) der gegenständlichen und inte139 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sprechen

rindividuellen Welt, auf die sie sich bezieht, sowie der Aussprechbarkeit (in evozierender Rede) all dessen, was sich nicht in die propositionale Form des Aussagens bringen lässt, weil es sich gegen eine Vergegenständlichung sperrt, dennoch aber in Sprache gefasst werden kann. Es mag an dieser Stelle erlaubt sein, den berühmten Satz 7 aus Wittgensteins Tractatus abzuwandeln: Nicht zuletzt aus dem Bedürfnis heraus, das auszudrücken, worüber man eigentlich nur schweigen kann, weil es die Welt der Erscheinungen transzendiert, haben sich in allen Kulturen und zu allen Zeiten die Sprachen der Poesie entwickelt. Das ist wohl auch der Hauptgrund dafür, dass nicht nur die religiöse, sondern auch die philosophische Sprache notwendigerweise literarische und poetische Qualitäten an den Tag legen muss und in ihren prägnantesten Beispielen aufweist, sobald sie die metaphysischen Fragen thematisiert.

140 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

X. Sprache und Verkörperungsmodi

1.

Sprachliche Sinneinheit

Laut, Klang und Ton spiegeln die komplexe Lage wider, aus der sich die Formen des Versprachlichens herausbilden, auf die sie reagieren und zugleich Einfluss ausüben, ebenso wie die Wortwahl und der Satzbau. Der Satz und die Satzreihe schließlich begrenzen den sprachlichen Ausdruck als ein Ganzes, das in seiner Abgeschlossenheit eine offene Grenze bildet zu dem, was nicht gesagt wurde, was anders hätte gesagt werden können und was gar nicht gesagt werden konnte. Offen ist diese Grenze in Hinsicht darauf, dass das NichtGesagte thematisiert, das Gesagte anders gesagt werden kann und das sich dem Sagenkönnen Entziehende doch auf das möglicherweise erlösende Wort wartet oder sich stetig in den Raum des nicht Sagbaren zurückzieht, um gleichsam taktvoll beschwiegen zu werden. So bildet sich eine Sinneinheit, die auf Verstehen zielt und angewiesen ist. Damit ist die Sphäre des versprachlichten Geistes umrissen. In ihr wirken Momente räumlich und zeitlich bestimmter Modi der sinnlichen Verkörperung mit dem dualen Modus der zwischenleiblichen Wechselwirkung zusammen. Dabei hinterlässt der duale Modus in allen Momenten der Lautgebung und syntaktischen Strukturierung seine Spuren: er bestimmt wesentlich Klang, Tonfall, Intonation, Rhythmus, auch die Wahl der Wörter und deren Stellung im Satz. Sprache steht in Relation zu den anderen Modi der Verkörperung. In die Leibessynthese der Sprache gehen alle Verkörperungsmodi so ein, dass sich eine neue sphärisch gestaltete Dimension bildet, die nun ihrerseits die anderen modalen Dimensionen durchzieht. Wahrnehmung (im optischen, akustischen, taktilen, gustatorischen Modus), Gefühle, Denken, Erkennen, Wollen werden von der sprachlichen Dimension geleitet, vorgezeichnet und wesentlich mitbestimmt. 141 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sprache und Verkörperungsmodi

Jedem Verkörperungsmodus lässt sich bei genauerer Betrachtung eine spezifische Funktion für das Sprechen und Vernehmen zuordnen.

2.

Der schematische Modus

In der Geschichte der Sprache, der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, gerade auch in Verbindung mit der Logik, lässt sich ein starker Zug zu einer als bloßes Schematisieren verstandenen Sprache bis hin zur mathematischen reinen Zeichensprache ausmachen, zumal neuerdings in Anbetracht der Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche. Das hat eine seiner Ursachen im Vorrang des optischen Modus. Wir ›fassen etwas ins Auge‹, 236 ›nehmen es in den Blick‹, ›ziehen es in Betracht‹ und geben damit unwillkürlich der Sehfunktion ein Vorrecht, deren »Strahligkeit« 237 mit der Richtung auf punktgenaue Eindeutigkeit sich geradezu aufdrängt und auch im Sprachgebrauch durchsetzt. Denn beim Reden heben wir durch Benennung, Bezeichnung und andere Mittel das heraus, was vor allem anderen Bedeutung erhalten soll und verhüllen bei diesem »Entbergen« 238 zugleich anderes, vielleicht ebenso Bedeutsames. Wir heben es ans Licht, visualisieren es gleichsam und lassen auf anderes einen Schatten fallen, und das nicht nur durch die Bevorzugung bestimmter Wörter, sondern durch den Versuch, solchen Wörtern eine möglichst lineare und Ambivalenzen ausschließende Bedeutung zu geben. Mit diesem Wechselspiel liegt ein weiteres Beispiel für das Ineinander von Verkörpern (im Entbergen durch Bezeichnen) und Entkörpern (im Verbergen durch Absehen, Weglassen oder Verzeichnen) vor. Exemplarisch dafür sind sprachliche Vorgänge, in welchen eine »Bedeutungserfüllung« mittels oder während einer »Bedeutungsentleerung« 239 stattfindet, so etwa die Verwandlung des Nomens ›heit‹ in ein Suffix wie in Kindheit, Torheit usw. Im älteren deutschen Sprachgebrauch hatte es die Bedeutung von ›Person, Wesen, Rang‹ ; es wurde seines selbständigen Sinnes allmählich entleert, um einen anderen 236 Vgl. Plessner, III, 367. Bereits in der Antike war die Sehfunktion philosophisch prägend, man denke an Begriffe wie eidos und idea. Das ist angesichts dessen, dass uns die Dinge erscheinen, auch naheliegend. 237 Ebd. 238 Ebd., 366. 239 Stenzel 1964, 65.

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Der schematische Modus

Sinn in Verbindung mit einem Grundwort zu bezeichnen. 240 Stenzel spricht von einer Entleerung der Bedeutung von Anschauung, 241 denn es fehlt in der neuen Bedeutung an einer Erfüllung durch Anschauung, die man mit der vormals bestehenden Verbindung zu ›Person‹ oder ›Rang‹ noch hat und von der man dann nach und nach, je mehr der neue Gebrauch sich durchsetzt, abgeschnitten wird. Das Suffix fügt allerdings dem Grundwort etwas hinzu, von dem man sich eine anschauungsadäquate Vorstellung machen kann, so dass hier zurecht von einer Verkörperung in der Entkörperung die Rede sein darf. Schon Humboldt kennt den Vorgang der Bedeutungsentleerung, gerade auch im Zusammenhang mit dem syntaktischen Schema. Er beschreibt, wie die grammatische Form aus Wörtern sich bildet »[…] durch verloren gehende Bedeutung der Elemente, und Abschleifung der Laute in langem Gebrauch […]« sowie »durch den Accent«. 242 Die Bedeutung der grammatischen Form erfüllt sich darin, dass das in Umbildung begriffene Wort seine ursprüngliche Bedeutung verliert, um eine syntaktische Funktion auszuüben, und zwar für das Syntagma, d. h. dem Gedanken Ausdruck zu verleihen bzw. den geistigen Sinn anzuzeigen. Das gilt ebenso für Wortstellung, Flexionen und weitere Mittel, etwa solche der Akzentuierung in Klang und Betonung. 243 So hat die grammatische Form einen erheblichen »Einfluss auf die Ideenentwicklung«, 244 und umgekehrt ist das Bestreben, Gedanken vertiefend und präzisierend zu äußern, an der Form selbst interessiert, weil diese es ihm allererst gestattet, der Aufgabe der Artikulation von Sinn nachzukommen. Zum Funktionsbereich des Schematismus gehört also das syntaktische Schema, wie es Bühler beschreibt und das Mehreres umfasst: Schemata wie Parataxe und Hypotaxe, Reihenfolge im Satzbau u. a., kurz alle Strukturelemente, die man analog setzen kann zu den Vgl. ebd., 52 (nach Finck 19614, 19). Vgl. ebd., 53. 242 Humboldt 1963, 55. 243 Vgl. zu einer genaueren Beschreibung für den Bereich der indoeuropäischen Sprachen, hier besonders des Germanischen, Polenz 1972, 12: »Die syntaktischen Beziehungen der Wörter zueinander werden vornehmlich durch Endungen oder Vorsilben ausgedrückt, die wohl dadurch entstanden sind, daß nach- oder vorangestellte Wörter durch Akzentabstufung mit dem Wortstamm zu festen Flexionsformen verschmolzen […].« So verweist etwa die Konjugationsendung der 2. Pers. sg. in gibst auf den anlautenden Konsonanten des ehemals nachgestellten Pronomens du. 244 So heißt es im Titel des Vortrags, den Humboldt (1963, 31) 1822 in der Akademie der Wissenschaften gehalten hat. 240 241

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Sprache und Verkörperungsmodi

Strukturelementen des Sehens wie etwa Linien, Konturen, geometrische Figuren, Überlagerungen u. a. Zur Bildung der grammatischen Form und des mit ihr transportierten Sinns wird die syntagmatische Funktion mit der schematischen zusammengeschlossen, und die Syntax kann in dieser Hinsicht als Schema beschrieben werden, das im Dienste des Syntagmas der Sinngebung durch Artikulation steht, wie dieses umgekehrt sich den historisch geronnenen und kulturell geltenden syntaktischen Formen einpassen muss; ein Sinn kann nicht an diesen vorbei gegeben, d. h. ausgedrückt werden, wenn er (als etwas) gelten, d. h. verständlich sein und damit die Bedeutungsfunktion des aus der formal begrenzten Vielfalt von Möglichkeiten geschöpften Ausdrucks erfüllen will.

3.

Der thematische Modus

Das Sprechen ist auf das Vernehmen angewiesen, d. h. an das Hören und damit an den Thematismus des Akustischen gebunden. Der sprachliche Ausdruck bedient sich des akustischen Materials, und dieses ist akkordant zur thematischen Form. 245 Das trifft auf jeden Ausdruck zu. Seine ›reine‹, d. h. unvermischte Form ist derjenige der Musik, in welche sich die körperleibliche Haltung des Tanzes einfügt; und hier macht sich in hohem Maße eine solche Akkordanz zwischen Stoff und Form bemerkbar, etwa wenn man darauf achtet, wie Rhythmus, Takt, Tonhöhe und Volumen, ja selbst die Wahl und die Bespielung des Instruments, mit dem thematischen Gehalt, d. h. dem intendierten – und im Tanz oder auch in der inneren wie äußeren Bewegtheit des Körperleibs sichtbar oder spürbar werdenden – Ausdruckssinn korrespondieren. Wegen dieser thematischen Akkordanz ist es eben kein Zufall, dass als Mittel für die Darstellung von Sinn und Bedeutung »Laute und Töne« 246 bevorzugt werden sowie die »Stimme als Material der Sprachbildung«, 247 d. h. als Instrument, dessen sich der Leib mittels bestimmter Teile seines Körpers, hier der Stimmwerkzeuge einschließlich des inneren Resonanzraums, bedient. Auch ist dies die Bedingung der Möglichkeit des Dramatisierens, d. h. den Lauten und 245 246 247

Vgl. Plessner, III, 236; vgl. Breun 2003, 130 f. Plessner, III, 245. Ebd., 247.

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Der syntagmatische Modus

Tönen Bewegungen und Handlungen zuzuordnen oder jene gar durch diese zu ersetzen, um eine sinnvolle Szenerie aufzubauen. Außerdem kann der thematischen Funktion, wie bereits erläutert, der »Rhythmus des Atmens« 248 hinzugerechnet werden; er verbindet sich in einer ›handhabbaren‹ Form mit den Rhythmen der Syllabierung, des Bildens von Zäsuren im Kontinuum. Der Schall ist das in die sprachlichen Formen hineinverwobene Material, so dass mit dem Webmuster (der Töne und Klänge) Sinn angezeigt und verständlich wird. Das wird insbesondere an der Phonematik, dem Klangbild der Wörter, den ›Lautmalereien‹ und den musikalischen Möglichkeiten des Sprechens (den prosodischen Mitteln wie Intonation, Akzentuierung, Sprachmelodie, Tonlage) deutlich, wie sie etwa in der Lyrik, aber auch in der Rhetorik in expliziter Weise Verwendung finden.

4.

Der syntagmatische Modus

Wenn wir eine Gebärde machen, d. h. eine gestische oder auch mimische Bewegung mit einer Bedeutung, ist bereits mit der darin gegebenen räumlichen und zeitlichen Gliederung ein Sichabheben angezeigt. Etwas wird hervorgehoben und schon dadurch mit einem mehr oder weniger deutlichen Sinngehalt versehen, dessen Inhalt aus der selbst erlebten Sache – dem Vorgang, der Situation, dem Ereignis – sprießt. Jemand sieht etwas, er zeigt hin, und der Andere schaut in dieselbe Richtung, um es zu erblicken und möglichst ein gemeinsames Verständnis hervorzubringen. Solche Deixis ist eine der Grundlagen der Sprache; so haben Misch und Bühler mit den deiktischen Gesten und Ausdrücken die Anfänge der sprachlichen Kommunikation bestimmt – mit dem Hinzeigen wird etwas gemeint. 249 Daran schließen die mannigfachen Gliederungsweisen in Sprache und Schrift an, wie sie vornehmlich Bühler mit dem Zeigfeld der Sprache und dem von der konkreten Situation sich lösenden Symbolfeld ausführlich beschreibt. 250 Man hat diesbezüglich schon früh von einem ›sprachlichen Feld‹ gesprochen, 251 das sich sowohl in der Syntax und den Wortformen als auch in der Phonologie und in 248 249 250 251

Ebd. Vgl. Misch 1994, 236 ff.; Bühler 1999, 79 ff. Vgl. zum Feldbegriff Bühler 1999, 168–179 u. a. O. Vgl. Trier (1934), in: Schmidt (Hg.) 1973, 129–161; Weisgerber 1971, 105.

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Sprache und Verkörperungsmodi

der Semantik, d. h. in den Wortfeldern, 252 niederschlägt. Später wird dies auch als »Feldstruktur grammatischer Erscheinungen« 253 und als »Feldsystem« 254 bezeichnet. Hinzu kommt, dass dieses sprachliche Feld sowohl syntagmatische Beziehungen wie Oppositionen, Komplementaritäten, Verkettungen, Bindungen u. a. m. als auch paradigmatische grammatische Einheiten wie Wortklassen, Kasus, Personalformen 255 und Beziehungen wie Überlagerungen, Verdrängungen usw. umfasst. 256 Worauf es hier nun ganz besonders ankommt, ist die Sinngebungsfunktion des Syntagmas und die darin implizierte Relation zwischen Wort und Sache. Es ist, wie bereits erörtert, die Leistung der Sprache, das Gemeinte durch die Sprache hindurch offenbar werden zu lassen. Kleist hat das thematisiert, um ein reines Selbstgeben des Gedankens, also des sachlich Gemeinten ohne jede verstellende Übermalung durch Wörter, als ideales Ziel vorzustellen. Allerdings braucht, wie auch Kleist zugesteht, der Gedanke das Wort, um sich ausdrücken und gerade dadurch das Ziel erreichen zu können: eine möglichst klare Darstellung seiner selbst und seines Sachbezugs. Er artikuliert sich, d. h. gerade weil er sich gliedert und abhebt vom ungegliederten Strömen noch unausgegorener Ideen, auch von einem vernebelnden Wortgeklingel, kommt er zur angestrebten Klarheit und Deutlichkeit, 257 mit der er die Sache selbst vorstellig macht. In seiner späten Schrift zur Anthropologie der Sinne (1970), in der Plessner die Terminologie der Einheit der Sinne (1923) nicht mehr verwendet, die Grundstruktur von der Zuordnung der Sinneskreise zu Sinngebungen aber beibehält, formuliert Plessner die syntagmatische Relation, auf der die Sinngebungsfunktion beruht, wie folgt: »Die gemeinte Sache kann nur mit Hilfe von Abhebungs- und Gliederungsweisen, d. h. durch ihren Sprachschleier hindurch sichtbar werden. Zum anderen ist sie an dem begrenzt, was sich in der betreffenden Sprache nicht sagen läßt. Das Gesagte deckt sich also nicht mit der gemeinten

Vgl. dazu Schmidt (Hg.) 1973, darin z. B. Trier (1931), 1–38, Weisgerber (1939), 193–225, hier 219. 253 Admoni 1971, 68. 254 Bühler 1999, 76. 255 Vgl. Admoni 1971, 31. 256 Vgl. zu dieser Differenzierung der Feldbeziehungen Admoni 1971, 30–42. 257 Vgl. zur Regel, dass das, was wir klar und deutlich begreifen, wahr ist, Descartes 19972, 54 (frz.) u. 55 (dt.). 252

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Der syntagmatische Modus

Sache, noch abgesehen davon, daß sie ihm gegenüber ihr Eigengewicht behält.« 258 Genau aus dieser Konstellation rühren Kleists Bedenken und Selbstzweifel. Alles Erfasste geht durch das Selbsterleben der Person hindurch, wird entsprechend verarbeitet und artikuliert, so dass die Sprache nicht zufällig als eine Art Filter begriffen werden kann oder als ein über die Wirklichkeit geworfenes und diese gliederndes Netz, in dem die Sache selbst nur zum Teil, eben sprachlich vermittelt, eingefangen wird. Zugleich aber ist es allererst die Sprache, die das Netz so knüpft, dass mittels ihrer Knotenpunkte und Leerstellen Gegenständlich-Wirkliches überhaupt zur Darstellung kommen kann, und zwar möglichst ›unmittelbar‹, d. h. so, als ob die sprachliche Vermittlungsebene durchsichtig wäre und der Schleier das, was darunter liegt, gar nicht mehr verdeckt, sondern um so besser zum Vorschein kommen lässt, je feiner und durchlässiger er gewoben ist. Wiederum erfolgt diese Leistung, mit der Kleist haderte, in einem Ineinander von Verkörperung und Entkörperung, von Bezeichnen als Auszeichnen durch Weglassen. Die geistig intendierte Bedeutung verkörpert sich syntagmatisch-syntaktisch im Wort, in der Wortstellung, in Klang und Ton. Das Gemeinte hebt sich somit ab von dem, was mitgemeint oder nicht gemeint ist, auch von dem, was man anders meinen könnte; insofern dies alles gleichsam übermalt oder außerhalb des Rahmens gestellt wird, bleibt es aktuell ohne Verkörperung, es wird, obwohl es doch irgendwie, mitunter auch körperlich-gegenständlich, ›da‹ ist, entkörpert und unterstützt gerade durch diesen ›Gegenzug‹ die Verkörperung im Meinen. Exemplarisch dafür ist der ironische Sprachgebrauch. Verkörpert wird durch den Tonfall ein Sinn, der sich abhebt von der zugrundeliegenden ›ernst gemeinten‹ Bedeutung des Gesagten, die aber gerade durch den ironischen Tonfall entkörpert wird. Die ironische Verkörperung kann gar nicht gelingen ohne die gleichzeitige Entkörperung des ›eigentlichen‹ Sinns und der ihn transportierenden Wortbedeutung und Syntax. Solche Möglichkeiten bieten auch Wortwahl, Wortstellung, Syntax, Intonation u. a. Es ist ein Unterschied, welches Wort aus ›Haus‹, ›Gebäude‹, ›Heim‹, ›Bruchbude‹ u. a. man auswählt und welches man weglässt, etwa um mitzuteilen, wo jemand wohnt; ebenso liegt z. B. eine Differenz darin, ob man sagt ›da bin ich‹ oder ›ich bin da‹, wobei hier die Wortstellung jeweils bereits die Intonation 258

Plessner, III, 364.

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Sprache und Verkörperungsmodi

nahelegt oder gar erzwingt. Und eine Äußerung wie ›Das hast Du wieder mal richtig gut gemacht‹ kann ein echtes Lob meinen, je nach Tonfall und Stimmhöhe aber auch einen geradezu vernichtenden Tadel. Außerhalb der Ironie gibt es weitere Beispiele für solche Bedeutungsentleerungen durch Entkörperung; so hat etwa die Geschlechtsbezeichnung im Artikel ihren ursprünglichen Sinn verloren und wird zu einem formalen Mittel 259 der Unterscheidung generischer Wortklassen, wobei dem Genus eigentlich gar keine inhaltliche Bedeutung mehr zukommt, er übt lediglich eine syntaktische Funktion aus, einen Anpassungsdruck, die grammatische Struktur der Deklination einzuhalten. Hier liegt ein Fall dafür vor, wie sich ein sprachliches Element von der Bindung an das zugrundeliegende sinnliche Moment (das Geschlecht) löst und zum Symbol in dem engeren Sinn eines formalen Repräsentanten wird, der sich vom Materiellen abhebt, um eine sprachliche Form zu kreieren – das, was in der Summe die innere Sprachform ausmacht. Stenzel spricht hier (mit Blick auf die Rolle der mathematischen Symbolsprache bei Leibniz) davon, dass die ›Symbolsprache‹ die einzelnen Worte von einem Zuviel an Bedeutung entlastet; 260 das ist mit ›Bedeuten als Weglassen‹ und ›Absehen‹ gemeint. Nur so lässt sich ein Sinn verkörpern, der sich nicht von einem vermeintlich reinen Material abkopieren lässt – das wäre ja gerade jenes Zuviel, das in jedem wahrnehmungsmäßig, gedanklich oder sprachlich unbearbeiteten Stoff liegt –, sondern der das Material sich zunutze macht und es als ›bloßen‹, opaken, nach allen Seiten überbordenden Stoff gleichsam ›beseitigt‹ (Cassirer), indem er es ›zuschneidet‹ und in Form bringt. Darin liegt die ureigenste Aufgabe der Sprache, die man (mit Cassirer und Plessner) als Vergeistigung des Sinnlichen oder, mit Stenzel, als »Durchgeistigung der gegenständlichen Wirklichkeit« ineins mit dem Gegenzug der »Verleiblichung des Geistes« 261 bezeichnen kann. Es ist der Sprache geradezu wesentlich, sich vom ›Kleben am Körper‹ (Cassirer) zu befreien, um mit syntaktisch-semantischen Mitteln die Last einer überzeichneten und damit verzeichnenden anschaulichen Bedeutung – wenn man z. B. alle Konnotationen eines Wortes unabhängig vom Kontext immerzu in der Vorstellung parat hat – zu vermindern und Sinn zu 259 260 261

Vgl. Stenzel 1964, 56. Vgl. ebd., 66. Ebd., 36.

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Der duale Modus

›geben‹, umgekehrt aber auch mit ihren eigenen Mitteln eine neue Art von Anschaulichkeit zu kreieren, eine ›geistige Anschauung‹, in der, durch das Sprachmaterial, den Klang- oder Schrift-Körper der Sprache hindurch, die gegenständliche Welt transparent wird für das ›Gemeinte‹, die intendierte Bedeutung, die jeweilige Sinngebung im Kontext von Alltag, Wissenschaft, Poesie u. a. m., am Ende transparent auf das hin, was man den ›Gesamtsinn‹ 262 dessen bezeichnen kann, was Sprache überhaupt bis hin zu ihrem Verstummen im Ansichtigwerden des ›Ganzen‹ von Wirklichkeit, Welt und Leben darzustellen fähig ist.

5.

Der duale Modus

Anders gesagt: die in den sukzessiven Abhebungsprozessen des Entund Verkörperns entstehende und immer im Entstehen begriffene Artikulation, Gliederung und Ordnung erzeugt Sinn – als Vorwegnahme schon im Ansetzen der Rede und bei deren sukzessivem Entfalten, als Erwartung eines verständlichen Gehalts, als Orientierung und schlussendlich Sinngebung, die für weiteren Sinn (als Zuschreibung, Deutung, Umdeutung, auch Fehldeutung etc.) offen bleibt. (1) Dabei wirkt der syntagmatische Modus zugleich als dualer: die verkörpernd-entkörpernde Artikulation erfolgt und bemisst ihre Sinn-Geltung – auch da, wo jemand mit sich allein ist und sich im (stillen) Gespräch mit sich selbst in zwei Rollen artikuliert – immer nur ›im Duett‹, an dem nicht bloß eine (in der Sprecher- und HörerRolle) und zwei, sondern mehrere Personen beteiligt sein können (im Terzett, Quartett etc.), ja an dem, wie gezeigt, im Hintergrund, gleichsam als leeres Gliederungsmedium, aber auch als Voraussetzung für mögliche Geltung, die ganze Menschheit teilhat, mit all den historisch gewordenen Sprachen und soziokulturell wie individuell gefärbten Sprechweisen, die trotz ihrer unüberschaubaren Vielfalt die eine Sprache des Menschen sind; auch eine zuvor nie gehörte Sprache oder eine individualisierte Geheimsprache, wie sie Kinder zuweilen erfinden, können wir von anderen Lauten unterscheiden und als der menschlichen Sprache zugehörig identifizieren, weil wir, wenngleich inhaltlich nicht sofort nachvollziehbar, mit ihrer syntag262

Vgl. ebd., 53.

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Sprache und Verkörperungsmodi

matischen Artikulation ihre dialogisch orientierte Sinnintention vernehmen. (2) Und der duale Modus wirkt syntagmatisch: die in sich differenzierte Einheit von Ich und Du bzw. des Wir – die dialogisch strukturierte Mitwelt, die Sphäre des Geistes, zu der prinzipiell alle Menschen gehören – steuert das Erleben und Selbsterleben so, dass sie sprachspezifische syntagmatische Möglichkeiten eröffnet, in diesem Feld einen Rahmen setzt und innerhalb dessen mittels der phonetischen, syntaktischen und semantischen Formen, d. i. der Grammatik, Bedeutungen konkretisiert und verwirklicht. Dabei hängt der Variantenreichtum der tatsächlich verwirklichten Möglichkeiten davon ab, wie sich die Relation von Nähe und Distanz in der Sphäre des Gliederungsmediums ›Menschheit‹ jeweils ausprägt, so dass das Spektrum von der affektiv gesättigten familiären Sprache über den örtlichen Dialekt und die öffentlich gebräuchliche Alltagssprache bis hin zu bürokratischen und rationalisierten Formen reicht, die man im Geschäftsverkehr oder im Rechtswesen benötigt, ganz zu schweigen von der wissenschaftlichen Sprache, die auf Generalisierung und weltweite Zugänglichkeit setzt. Die erste Richtung des internen Bezugs der beiden modalen Aspekte schildert Bühler (1), die zweite Kleist (2). Bühler spricht vom leeren syntaktischen Schema, Kleist vom unfertigen Gedanken. Gefüllt wird die Leere zum einen (1) mittels der geistigen Formen phonetischer, semantischer und syntaktischer Art, die durch die Sprachgemeinschaft, das zum Ausdruck drängende Wir, Geltung erlangen, zum anderen (2) im Gefolge der leiblich-geistigen Haltungen des Du (in Kleists Beispiel die Schwester), das mit dem Ich (Kleist selbst) eine Einheit, die sinnstiftende Konkretisierung des Wir, bildet, so dass im Zusammenspiel von Ich und Du die syntagmatische Funktion, die gliedernde Artikulation des Gedankens, zur Erfüllung kommt. An dieser Stelle trifft man auf die Quelle des menschlichen Schöpfertums und geistigen Schaffens. Sie entspringt im dualen Verkörperungsmodus, dessen syntagmatisch-ordnende Sinngebungsfunktion sich, nehmen wir obige Beispiele, im Druck der Wir-Geltung des leeren ›Schemas‹ (1) oder in der auffordernden und antizipierenden Wir-Haltung des leiblichen oder literarisch-historisch exponierten Gegenübers (2) manifestieren und entfalten kann. Sie sind die auslösenden Momente, die die Verkörperung des Sinns im Ausdruck 150 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Der duale Modus

wirklich werden lassen. Zugleich liefern sie dem Sprecher, der ›nach Worten sucht‹, das Angebot, all das andere, das in seinem Kopf schwirrt und ihn am ›Finden‹ hindert, zu entkörpern, denn sie setzen grammatische und dialogische Grenzen für das Syntagma bzw. die Artikulation. Die Leerstelle – das leere syntaktische Schema (1) bzw. der unfertige Gedanke (2) – ›verweist‹ also auf den dualen Modus, der dann mit syntagmatischen und sprachlich-syntaktischen Mitteln zu Hilfe eilt. Was meint hier jedoch ›verweisen‹ ? Die Verkörperungsmodi des Sehens, Hörens und der Zustandssinne (Geschmack etc.) sind an einen je bestimmten Sinneskreis gebunden. Dem dualen Modus kann kein spezifischer Sinn zugewiesen werden, es sei denn, man bezeichnete das atmosphärische Spüren als einen solchen, und insofern kann er mit dem syntagmatischen identifiziert werden. Das Atmosphärische ist allerdings vielmehr eine Funktion des ›sensus communis‹, verstanden als jene Art von sinnlich vermittelter Leistung des Empfindens, Fühlens, Wahrnehmens und Erkennens, die dem Leib als Gesamtsinn zukommt und auf eine ebensolche gesamtheitliche Sinngebung zielt. Es kann sich, wiederum obige Beispiele genommen, im einverleibten syntaktischen Schema (1) niederschlagen, oder es vermittelt sich in Haltungen (2), die situativ konkret wahrnehmbar oder ebenfalls einverleibt und gar als gesellschaftlicher Habitus spürbar sein können. Als gesamtheitliche Sinngebungen mit allgemeiner Wir-Geltung sind solche atmosphärisch spürbaren Grundhaltungen und die Auffassungen, die damit korrelieren, in Religion und Philosophie ausgearbeitet und zur Basis der entsprechenden kulturellen Bereiche bzw. symbolischen Formen gemacht worden, 263 vergleichbar damit, wie die Sinnregion von Geometrie und Mathematik im Sehsinn wurzelt, die Sinnregion der Musik im Hörsinn. Auch geht von jeder Kultur, und sei sie noch so sehr diversifiziert und ›offen‹, eine ihr entsprechende Atmosphäre aus, die sich niederschlägt in der Art, wie gebaut und gewohnt, wie der Alltag begangen wird, wie die Interaktionen gestaltet und die Dinge gehandhabt, kurz: wie die Kunstformen des menschlichen Daseins, sicht- und hörbar in ihren Objektivationen, ins Werk gesetzt werden, vor allem auch in der Sprache. 263 Vgl. Breun 2003, 156–162. Es wird immer noch übersehen, dass dem dualen Modus spezifische Sinngebungen zugeordnet werden können, so z. B. auch in einem Artikel von Berteau (2016, 326), in dem die Sprachauffassungen von Plessner, Cassirer und Bühler aufeinander bezogen werden.

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Sprache und Verkörperungsmodi

Das syntagmatisch-syntaktisch geformte Sprechen erfolgt im dual geformten Gespräch, und die Sprache als syntagmatisch-syntaktisches Gebilde ist nur als Resultat des Dialogischen denkbar; jede einzelne Person ist immer zugleich Sprecher und Hörer. 264 Im Sprechen und in der Sprache wird nicht die Welt (bzw. ihre Objekte) abgebildet bzw. repräsentiert, sondern das Verhältnis des Menschen zur Welt (zu seiner Welt einschließlich der anderen Menschen und seiner selbst als eines anderen) mit den Mitteln des Sprechens erfasst und gestaltet (energeia) – und insofern daraus ein Gebilde, ergon, entsteht, doch auch ›abgebildet‹ oder gespiegelt, da man darin eine Entsprechung zur ›Welt‹ sehen möchte; und dieses Verhältnis ist leiblich geprägt, es verkörpert sich auf der Basis des Leibes (seiner Gesten, der Mimik und überhaupt der körperlichen Haltung) im Sprechen und in der Sprache. Das macht die innere Sprachform aus, die sich zwar aus schematischen, thematischen und syntagmatischen Elementen speist, d. h. aus dem, was gesehen, gehört und zuständlich empfunden oder wahrgenommen wird, aber aus dem dualen Verkörperungsmodus hervorwächst, dessen ›Energie‹ sich hier lautsystematisch, etwa in einer Phonetik auf der Basis distinktiver Oppositionen, 265 und im jeweiligen grammatischen System, also syntaktisch und lexikalisch, und zwar in einer für Neuschöpfungen offenen Variationsbreite, manifestiert. Möchte man dem dualen Modus über den auf das Ganze des Menschen und seiner Selbst- wie Weltauffassung zielenden, dem Leib innewohnenden, sensus communis hinaus einen speziellen Sinn zuordnen, dann kann hier das eingesetzt werden, was Humboldt in Verwendung der Doppelbedeutung von ›Sinn‹ als inneren Sprachsinn 266 – »das ganze geistige Vermögen, bezogen auf die Bildung und den Gebrauch der Sprache« 267 – bezeichnet, das, was dem Stoff gleichsam den Geist einhaucht, dem Laut die Bedeutung, indem er ihn artikuliert; 268 damit erfüllt er die Sinngebungsfunktion des Leibes und macht ihn zu mehr als einem bloßen Körper – und diesen zu einem gebrauchsfähigen, geistigen Intentionen dienstbaren Instrument. So 264 Vgl. dazu bereits Humboldt mit seiner energeia-Auffassung der Sprache; Löwith 1969; Voßler 1960, insbesondere Kapitel II: Sprechen, Gespräch und Sprache, 14–26, hier 15; Coseriu 19793, 103. 265 Vgl. dazu die Phonologie Trubetzkoys, 19674. 266 Vgl. Humboldt 1973, 200. 267 Ebd., 199. 268 Vgl. ebd., 200.

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Der duale Modus

kann der duale Modus mit Fug und Recht als das Spezifikum des menschlichen Körperleibs gelten. Tiere verfügen nicht über ihn, sonst würden sie sprechen. In ihm ist sowohl die Leere – das dem Schachbrett vergleichbare entkörperte Feld, das syntaktische Schema, die leer bzw. für Sinnschöpfungen frei gelassene Mitwelt – als auch das Syntagma – die möglichen Verkörperungen in der Entkörperung, die Fülle lautlicher, grammatischer und semantischer Realisierungen – angesiedelt. Seine wesentliche Funktion ist deshalb die Sinngebung, die sich als Vorzeichnung von Sinn (wie auf den Feldern des Schachs) und Sinnvorwegnahme (im Ahnen, Erwarten, Wissen, Glauben) dokumentiert. In der inneren Sprachform manifestiert sich diese Struktur universal und individuell, 269 kulturspezifisch und in historischer Wandlungsfähigkeit, synchronisch und diachronisch.

269 Vgl. Humboldt 1973, 43: das ganze Menschengeschlecht besitzt »nur eine Sprache« und »jeder Mensch eine besondere«.

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XI. Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

1.

Artikulation der Lebendigkeit

Bis hierher sind die verschlungenen Pfade nachgegangen worden, die, vom metaphysischen Bedürfnis ausgehend, vom Körperleib über die Akte des Verkörperns und Entkörperns bis hin zur Sprache mit der Richtung auf das Vergeistigen hin führen. Fragt man nach einer Klammer, die all dies zusammenhält und die eine ganzheitliche Auffassung des Menschen und seiner Welt ermöglicht, könnte man verschiedene Antworten geben, die mit jeweils einem betonten Aspekt nicht falsch wären, so etwa Verkörperung, Expressivität, Ausdruckshaftigkeit und nicht zuletzt geistige Lebensform; es wurde auch der Begriff der Leibessynthese in Beschlag genommen, um die unübersichtliche und z. T. disparate Fülle geistig-lebendiger Vollzüge unter einen Hut zu bringen. Nun ist aber eine Kategorie gefordert, die der hiatusgesetzlich geforderten Bewegung des Vollzugs gerecht wird. Denn die gesuchte Klammer müsste sich ja auch dazu eignen, die soeben vorgeschlagenen fünf Begriffe bzw. die mit ihnen bezeichneten Momente der conditio humana sinnvoll und sachgerecht zu bündeln und ihre geschichtlich und kulturell wirksame Dynamisierung anzuzeigen. Dafür erweist sich der bereits mit Bezug auf das anthropologische Paradox eingeführte Begriff der Lebendigkeit als geeignet, zumal er erlaubt, mit ihm das ursprüngliche Rätsel des Menschseins in seinen Verzweigungen weiterzuverfolgen, ohne es zum Problem zu reduzieren. Letztlich ist es die spezifisch-menschliche Lebendigkeit, die auf Seiten einer systematisch konzipierten Auffassung wie auch auf Seiten des Aufzufassenden, seiner Anschauung und Anschaulichkeit, als Klammer dienen kann zwischen allen sinnlichen Verkörperungsmodi, dem dualen Modus (der trotz seiner Sonderung zu letzteren zu zählen ist und dessen sinnlicher Aspekt das Atmosphärische im subjektiv-geschmacklichen Wahrnehmen und objektiv-ausströmend 154 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Artikulation der Lebendigkeit

Gegebenen ist, was sich im sinnlich-geistigen Aspekt des inneren Sprachsinns wiederfindet) und der Potenzierung des expressiven Vollzugs in der Sprache; letztere ist überdies in der Lage, das Atmosphärische nicht nur anzuzeigen, sondern zugleich mit der Funktion des Bedeutens im Klang aufzunehmen, zu erzeugen und auch zu manipulieren. Es ist die so schwer fassbare Form der Lebendigkeit, mit der sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet und die im Grunde die Rätselhaftigkeit des Menschseins ausmacht. Wie sehr sehnt sich der Mensch nach dieser Lebendigkeit, und wie oft wird sie verfehlt, weil sie nicht in die festgezurrten Rahmungen passt oder sich angesichts zur Routine geronnener Abläufe und erstarrter Rituale verflüchtigt? Wie wohltuend ist jegliche Form der Tätigkeit, ob in eigener Aktivität oder aufmerksamer Rezeptivität, die von einer geistigen Lebendigkeit getragen und von einem lebendigen Geist erfüllt ist? Auf der Suche nach ihr bereichert der Mensch seine Kultur, er ›kultiviert‹ sich und sein Leben; andererseits lebt er immer mit dem Risiko des Scheiterns und unterliegt der Versuchung, das Gesuchte mit ökonomischen, technischen oder pharmazeutischen Mitteln zu ersetzen, die ihn über den Mangel an Geist hinwegtäuschen sollen. Die Täuschung gelingt dann, wenn man Geist mit Intelligenz gleichsetzt, letztere überdies auf ihre technischen Qualitäten und damit den Menschen auf den homo faber reduziert, was mit einer ebenso eingeschränkten Sprache einhergeht. Die der schöpferischen Initiative vorausgehende Leerstelle bleibt dann aber unausgefüllt und macht sich als Leere im Gemüt bemerkbar. Was macht nun eigentlich die Lebendigkeit des Menschen aus, und worin besteht der Zusammenhang zwischen Lebendigkeit und sprachlicher Verkörperung? Die Lebendigkeit der Pflanze lässt sich an ihrem Wuchs, ihrer Farbe und ihrer Blüte ablesen. Die Lebendigkeit des Tieres wird an seiner Bewegung und Körperlichkeit, auch im Modus der Ruhe, anschaulich; sie basiert auf dem instinktgeleiteten und praktisch-intelligenten, durchaus variablen Verhalten in Relation zur konkret-situativen Umgebung. Die Lebendigkeit des Menschen liegt in seiner Ausdruckshaftigkeit, die mit der Symbolfunktion der Sprache (in Benennungen, Bezeichnungen und Begriffen) die Situation, an die auch das menschliche Leben gebunden ist, transzendiert, indem sie das Zeigfeld und die deiktische Funktion der Zeigwörter überschreitet. 270 Dabei wird der Sachverhalt genutzt, dass sich a) die Zeigefunktion in 270

Vgl. Bühler 1999, 80 f., 149 ff.

155 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

die Symbolfunktion hinein verschränken kann und b) umgekehrt: a) die Zeigwörter symbolisieren auch – so benennen etwa ›da‹ und ›dort‹ einen geometrischen Ort um den Sprechenden herum 271 –, b) und die symbolisierende Sprache kennt das Zeigen, zum einen im anaphorischen Gebrauch 272 von zurückverweisenden »Zeigzeichen« 273 wie ›demnach‹, ›also‹, zum anderen in der so genannten, im Modus der Anaphora die Zeigefunktion erfüllende 274 »Deixis am Phantasma«, 275 etwa in Bezug auf Erinnertes oder Vorgestelltes, wenn sich ein Zeigwort mit einer Präposition verbindet wie in ›daneben‹, ›danach‹, ›hierbei‹, ›von jetzt an‹, ›auf mich zu‹. Es ist nach all dem klar, dass sich die Lebendigkeit des Menschen auf andere Weise als die der Pflanzen oder Tiere entfalten muss; sie artikuliert sich. Das beginnt schon beim Ausdruck des Leibes. Seine Ordnung und Rhythmik folgt nicht primär irgendwelchen Instinkten und unterliegt damit auch nicht vorderhand einem organisch-biologisch vorgegebenen Zeitraster, d. h. den Maßen von Ernährung, Fortpflanzung, Reviersicherung usw. Diese Funktionen spielen zwar eine Rolle beim Leben und Überleben, leiten aber nicht die Artikulation des leiblichen oder sprachlichen Ausdrucks. Solche Artikulation zeigt sich in geschichtlich-kulturell diversifizierten Phänomenen wie dem Ritual, dem Tanz, dem Gesang und dem Aufbau der sprachlichen Gefüge in Phonetik, Morphologie, Syntax und Semantik, kurz der Grammatik im umfassenden Sinne mitsamt der oben erläuterten Verzahnung von Zeige- und Symbolfunktion, von Situationsgebundenheit und deren Transzendierung. Die Sprache hebt sich in diesem Strukturzusammenhang allerdings nicht von der Lebendigkeit ab, sondern diese geht in sie ein. Die Sprache hebt sich von allen anderen Ausdrucksarten ab, indem sie deren Rhythmik und Organisationsformen nutzt, um diese auf einer höheren Ebene wirksam werden zu lassen und zwar so, dass sie, um diese Wirksamkeit noch zu steigern und mit einem neuen Index zu versehen, ihrerseits zum Ausdruck gebracht werden können. All das erfolgt, indem die deiktischen und damit primär die Zeitverhältnisse in zunehmend gesteigertem Maße zum Ansatzpunkt der leiblichen

271 272 273 274 275

Vgl. ebd., 90. Vgl. ebd., 80. Ebd., 106. Vgl. ebd., 107. Ebd., 80.

156 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Artikulation der Lebendigkeit

und sprachlichen Artikulation werden. Die Lebendigkeit erscheint dann als Funktion des historisch wie soziokulturell unterschiedlich ausgeprägten und individuell gefärbten Verhaltens zu den Verhältnissen, die zeitlich strukturiert sind: Nacheinander und Gleichzeitigkeit, Dauer und Intervall, Kontinuität und Bruch, Begrenzung und Übergang, Gleichmaß und Zäsur – überhaupt alles, was unter den Stichworten Metrik, Rhythmik, Takt in die Beschreibung von Musik wie auch Sprache Eingang gefunden hat, wozu dann auch Melodie und Klang(farbe) in der Lautgebung gehören. Das Entscheidende dabei ist: In der geregelten Artikulation sind diese Verhältnisse, die das Leben grundieren, strukturierbar und mehr oder weniger kreativ steuerbar, so dass ihre je verschiedene Handhabung und Gestaltung das Leben garnieren und lebendig halten können. Dabei impliziert jegliche Artikulation eine hiatische Distanz zu dem, was in Gebrauch genommen wird: zum eigenen Körper und dessen situativer Positionierung, zum ausgedrückten bzw. dargestellten Inhalt, in zunehmender Dynamik auch zum Symbolgebrauch und zur symbolischen Form selbst, zur Sinnintention der Darstellung und nicht zuletzt zu den in Dienst genommenen und ihrerseits zum Ausdruck gebrachten Zeitverhältnissen. So entfaltet sich der Hiatus zwischen Körper und Leibselbst bis in die Kunstformen aller Bewegungen hinein, ob im Gebrauch der Gliedmaßen oder der Sprechorgane. Am Ende kann dieses Entfalten, ineins mit der zunehmend feineren und bewussteren Artikulation, dazu führen, dass das lebendige Sichverhalten die zugrundeliegenden Verhältnisse, auch die der Zeit, überschreitet (man denke an Wörter wie ›einst‹ und ›dereinst‹) und in solcher Transzendenz die Zusammenhänge von sinnlicher Gebundenheit und geistiger Sinngebung, von Vergänglichkeit und Ewigkeit transparent werden, durchsichtig für Einsichten, wie sie die großen Denker und Mystiker geäußert oder (wie Wittgenstein) ins Schweigen zu retten versucht haben, sowie für Einblicke, die sich gewinnen lassen aus künstlerischen Darstellungen in der Musik, in Malerei und Bildhauerei, Tanz und Dichtung, nicht zuletzt in Sakralbauten, zumal in letzteren die enge Verbindung von Sakralität und Transzendenz, von der die Kunst eine entscheidende Prägung empfangen hat und die sich selbst in der Philosophie nur schwerlich ausradieren lässt, sinnfällig wird. Die Gestaltbarkeit der Lebensverhältnisse liegt allen Formen der Kunst zugrunde. Deshalb können wir davon reden, dass Leben eine Kunst sei und als deren naturnahes Urbild auf das Kind und seine Lebendigkeit verweisen. Allerdings ist die Lebendigkeit des Kindes 157 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

eine andere als die des erwachsenen Menschen, dem es nicht erspart bleibt, infolge der bewusst gewordenen Spiegelung im anderen – ein Charakteristikum der Wir-Sphäre – den schwierig zu begehenden Raum der Selbstreflexion zu betreten und all sein Tun davon abhängig zu machen, wie er mit der Reflektiertheit zu Rande kommt. Auch diese Differenz zwischen der Lebendigkeit des Kindes und der prekär gewordenen des Erwachsenen ist mit der Sprache verbunden. Je nach der Qualität von Erwerb und Gebrauch erlaubt oder erschwert sie ein geschmeidiges Überlegen, das sich mal als hinderlich oder förderlich, mal als notwendig oder überflüssig herausstellen kann. In diesem Zusammenhang verstärkt, modifiziert und verfeinert die Sprache die Formen der Abhebung, die wir kennen, und ermöglicht weitere.

2.

Die Relation der Abhebung und die Transzendenz

Ein Blick auf die Vielgliedrigkeit der Abhebungsrelation kann Form und Funktion des analytisch unzugänglichen Ineinanders und Zugleichs von Verkörperung und Entkörperung begreiflicher sowie ihre Richtung auf Transzendenz hin nachvollziehbar machen. Das Sichabheben fängt schon mit der Grenze an, die der belebte Körper hat und selbst ist. Auch wenn dies im Sinne einer wissenschaftlichen Erklärung nicht weiter begründet, sondern ›nur‹ phänomenologisch aufgewiesen werden kann, 276 bleibt festzuhalten, dass aus diesem Verhältnis des organischen Körpers zu seiner Grenze die Differenz und Polarität von Körper und Leib resultiert – deren Verschränkung, die Plessner, wie erwähnt, in seiner Vorlesung von 1956 als echtes, aber unlösbares Problem bezeichnet, 277 weshalb sie zu den Rätseln gezählt werden muss –, darauf aufbauend die Relation von Körper und Geist, denn das Geistige verdankt sich der Aufeinanderbezogenheit der sich gegenüberstehenden und sich austauschenden Leiber. Aus dieser Wir-Sphäre resultiert die überindividuelle Geltung von Ausdrücken körpersprachlicher wie sprachlicher Natur. Solche Geltung ist schon in der Zeigegeste und im deiktischen Sprechen einbeschlossen. Sie ist nicht bloß eine Tendenz oder ein Anspruch, der 276 Vgl. Plessners phänomenologische Erörterung der Grenze mit dem Ziel, die Fundamentalisierung des cartesianischen Dualismus zu überwinden, in den Stufen, IV, 149–156. 277 Vgl. Plessner 2019, 230; vgl. oben, 105.

158 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Transzendenz

unverbindlich im Raum steht, sondern ein wesentliches Moment der menschlichen Expressivität. Diese ist nicht mehr nur Entladung von Emotionen, sondern Äußerung, deren Möglichkeit überhaupt erst durch die allen Leibern gemeinsame Sphäre bedingt ist; und weil diese Sphäre nicht bloß mit der körperlichen gleichzusetzen ist, sondern, zwar unter Verwendung der sinnlichen Körperausstattung, diese, ohne sie zurückzulassen, verlässt bzw. durch sie hindurch lebendig wird, ist es angebracht, sie die geistige zu nennen. Aus dieser Verschränkungs-Struktur resultiert das Kleist’sche Dilemma jeglicher Äußerung, das er in seinem Brief eines Dichters seinerseits zu einem Ausdruck gebracht hatte, der hinter der Schönheit des Stils durch die Wortgestalt hindurch die Sache sehen ließ. 278 Die geistige Intention wird wahrgenommen, ohne auf die Körperlichkeit ihrer Äußerung achten zu müssen, ja man muss von dieser absehen können. Mit seinem Körper führt der Tänzer den Tanz auf, und der Zuschauer folgt den Bewegungen, lenkt seine Aufmerksamkeit aber nicht auf diese und jene Muskelkontraktion oder auf die Haarfarbe des Tänzers, sondern auf das, was, zumal musikalisch begleitet bzw. in Korrelation zur Musik, ›thematisch‹ vorgeführt wird, was also mit dem Tanz geistig gemeint ist. Es handelt sich auch hier um eine Abhebungsrelation, bei der das eine Moment nicht ohne das andere, von dem es sich abhebt, sein kann, und doch macht jenes Moment, das geistige, dieses, das körperliche, vergessen, wenn es ihm gelingt, sich seiner zu bedienen und dessen Vermittlungsleistung zugleich transparent werden zu lassen: man sieht sie, aber schaut durch sie hindurch, als ob es sie nicht gäbe. Deshalb ist es gängig zu sagen, der Geist transzendiere den Körper. Die Frage stellt sich, ob es zu allen Formen der Abhebungsrelation gehört, das eine, für die Manifestation des je anderen eigentlich unverzichtbare, Moment als verzichtbar erscheinen zu lassen; und ob in dieser Relation jener grundsätzliche Zug zur Transzendenz liegt, der aus der menschlichen Lebensform kaum weggeleugnet werden kann, ohne sie doch wieder auf das vermeintlich ›rein‹ Körperliche, Stoffliche, letztlich Messbare zu reduzieren. Letzteres gelingt jedoch nicht einmal, wenn man den Körper selbst und nur ihn in den Blick zu

278 Vgl. dazu auch Plessner 2019, 78: »Die Ablösung von der Expression ist also sozusagen ein ganz wesentliches Moment der sprachlichen Artikulation. Die Ablösung von der Situationsgebundenheit und von der Affektgebundenheit.«

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Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

nehmen versucht. Unweigerlich hebt sich – aufgrund des internen Grenzverhältnisses – der Leib von ihm ab. Und nicht zu vergessen: bei alldem bleibt stets die Frage, in welche Richtung solches Transzendieren weist; wenn etwas überschritten, hinter sich gelassen, abgelöst wird, enthält schon der Vorgang und zumal seine sprachliche Bezeichnung ein Drängen weg von diesem Etwas (dem Körper, Stoff, Material) hin zu etwas anderem, das gerade darin bestehen muss, dass es jenes Etwas nicht mehr braucht, oder das es vermeintlich nicht mehr nötig hat, um sich, in prätendierter Abwendung davon, besser, freier, gelungener manifestieren zu können. Diese Bewegung des Drängens hin zur Ablösung vom Stoff, zum Symbolisieren, das das ›Kleben am Stoff‹ (Cassirer) und ebenso die Bindung ans Symbol zunehmend löst bis zu einer Vergeistigung, der man die Attribute des Hellen, Klaren und Leichten zuschreibt, kann unter Rückgriff auf die Abhebungsrelation im Körperleib beschrieben werden. Ausschließlich deshalb, weil jeder menschliche Leib trotz seiner Identität mit einem individuellen Körper sich von diesem abhebt und auf dieser neu erzeugten Ebene, abgehoben und dennoch mit seinem Ausdruck an das (sichtbare, hörbare, spürbare) Körpermaterial – und zwar das des Leibselbsts wie das der Welt – gebunden, den anderen, ebenso abgehobenen Leibern (im dualen Modus) begegnet, wird es möglich, dass dem Material des Ausdrucks, zumal dem sprachlichen, eine Form zukommt, in der sich das Geistige dem Körper ›einschreibt‹, sich in ihm verkörpert – und umgekehrt: der Körper sich das Geistige einverleibt, sich ›vergeistigt‹. An dieser Stelle muss nochmals auf den Vorgang des Entkörperns eingegangen werden, um, auf deutlichere Weise als bislang, zwei naheliegende, aber unrichtige Auffassungen zu korrigieren, wodurch sich zugleich weitere Klärungen zur Abhebungsrelation ergeben. Erstens: Der Gegenzug des Entkörperns besteht nicht, wie man leichthin annehmen könnte, im bloßen Verlust des Körperlichen, sondern darin, dass dem Körper das Inkorporierte, ihm Einverleibte entweder entzogen wird oder ihm vorenthalten bleibt um des Verkörperungsaktes willen. So verliert das Leibselbst in der Scham seine selbstgestaltende Form, weil es in seiner Kopflosigkeit zu keinem Ausdruck mehr findet, der Körper bleibt zurück und vertritt, etwa in der Schamröte, das entkörperte – eigentlich entleiblichte, d. h. defor160 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Transzendenz

mierte, von ›allen guten Geistern verlassene‹ –, nichtig gewordene Selbst, und dieses ergreift die Chance, sich erneut zu verkörpern, im Ausdruck wieder seine Selbstbeherrschung und zu seiner Geltung zurückzufinden. 279 Die Abgehobenheit der Leiber vom Körper geht so weit, dass letzterer ›vergessen‹ werden kann, um dem Geistigen eine völlige Unabhängigkeit vom Materiellen zuzusprechen und den Geist als den Einen zu identifizieren, der sich in jeglicher Äußerung dokumentiert, seien es solche der Bewegung und Haltung (des Habitus), der Architektur, der Kleidung, der Wohnungsausstattung, des damit sich zeigenden Lebensstils oder der Mimik, Gestik und Sprache. 280 So kann vom Geist eines einzelnen Menschen, einer Gesellschaft, einer Kultur und vom Geist der Menschheit selbst gesprochen werden. Letztlich ist der Gedanke der Ablösbarkeit des Geistes von aller Materie in dem erschaubaren Sachverhalt der Abhebung des Leibes vom Körper verwurzelt; er geht schließlich ein in die Idee vom göttlichen Geist, der keiner Körperlichkeit mehr bedarf, gleichsam über allem schwebt – »und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser«, heißt es in der Genesis 281 – und seine Darstellung trotz diesem Abweisen von allem Stofflichen in sakralen Räumen, Zeiten und Symbolen findet, ja, christlich gesehen, gar in einer Inkorporation, einer Leibwerdung Gottes. Zweitens: Mit ›Entkörperung‹ ist nun aber auch nicht das gemeint, was man im obigen Sinne als ›Vergeistigung‹ bezeichnet. Denn bei letzterem wird ja nicht das zu Verkörpernde – die Form, das Gestaltete, das Geistige – entzogen, sondern zu einem ›höchsten‹ Ausdruck gebracht, so dass sich der Geist möglichst ›rein‹, also ohne Reste an übrigbleibendem, bedeutungslosem Stoff, ›verkörpert‹ – was Kleist in seinem Brief zum Ziel seines Denkens und Schreibens gemacht hatte, ohne der darin liegenden Paradoxie Tribut zollen zu wollen. In der Vergeistigung, ob nun als bloße Idee genommen oder als anzustrebendes Ziel gesetzt, geht der Zug des Entkörperns gegen Null, weil das Körperliche sich auflöst in ›reiner Bedeutung‹, in einer Fülle an Sinn, die dann – im Horizont des menschlichen Lebens – in solchen Ausdrücken manifest wird, welche frei sind von sich aufdrängender Vgl. Breun 2014a, 147–152. Das erinnert an die Bestimmung des Einen, Geistigen, als Brahman im indischen Denken. 281 1. Mose 1.2. 279 280

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Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

Stofflichkeit: Leere, Nichts, Stille, Schweigen. 282 Diese gehören nicht zufällig zu den von Rudolf Otto genannten Ausdrucksmitteln des Numinosen, 283 weil sich im Numinosen und dessen möglichen Erscheinungsweisen, die Bezeichnung ›numinos‹ wiederum in Korrelation von Auffassung und Aufgefasstem genommen, das ›Mysterium‹, 284 das Rätsel überhaupt, verdichtet.

3.

Prozesse des Sich-Abhebens

Der Mensch ist weder Gott noch Tier: er muss sich verkörpern, um zu sein. Der Gegenzug der Entkörperung läuft dabei immer mit. Es ist bereits hinlänglich klar geworden: Verkörpern und Entkörpern bilden die ineinander laufenden Fäden, an denen sich das Abheben und sukzessive Weiter- und Überschreiten orientieren. In diesen Zusammenhang hineingestellt, kann es gelingen, die Transzendenz und ihre Richtung besser zu verstehen, ohne sich in Spekulationen zu verlieren. Genauso wie die Akte des Verkörperns und Entkörperns im menschlichen Leben anschaulich gemacht und nachvollziehbar beschrieben werden können, so auch der Akt des Transzendierens. Das Rätsel oder – in religiöser Konnotation – das Geheimnis (mysterium) mag sich dabei nicht völlig entschleiern lassen, aber es sollte in eine sprachliche Form gebracht werden können, die sowohl der emotionalen Zugänglichkeit gerecht wird als auch einen rationalen Umgang mit ihm erleichtert. Um dieses Ziel weiter zu verfolgen, kann man sich den Strukturzusammenhang zunutze machen, der zwischen den hier ins Auge gefassten Prinzipien besteht. Die Prozesse des Sich-Abhebens sind vielfältiger Natur und je unterschiedlich gelagert. Das ist bereits deutlich geworden. Sie lassen sich unter anderen Hinsichten beschreiben, ohne dass man ihre Eigenart aus dem Auge verliert. Davon wurde in den bisherigen Überlegungen bereits Gebrauch gemacht; sie haben

282 Vgl. zur ›Bestimmung‹ des Einen, Ganzen, des Brahman, als Leere oder Nichts, als Unbestimmbares, im indischen Denken Desai-Breun 2019; vgl. dazu auch das elfte Kapitel des Tao-te-King, oben, 79. 283 Vgl. Otto 2004, 104 f. 284 Vgl. ebd., 13.

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Prozesse des Sich-Abhebens

verschiedentlich angeknüpft an Plessners Ausarbeitungen zur Ästhesiologie des Geistes (1923) bzw. zur Anthropologie der Sinne (1970). In der frühen Schrift ist die Rede von der Verschmelzung von Körper und Geist, von der Versinnlichung des Geistes und der Vergeistigung der Sinne, ihrer Konkordanz als einer Übereinstimmung zwischen Anschauen (Wahrnehmen) und Auffassen (Verstehen), die sich in der je zugehörigen Haltung verdichtet – wie Gesteinsschichten, die sich gleichlaufend übereinander ablagern 285 – und zu bestimmten kulturellen Leitungen bzw. symbolischen Formen führt. Verschmelzen lässt sich nur, was aufgrund seiner Zusammensetzung und Kontur so ineinander übergehen kann, dass die Bestandteile sich nicht gegenseitig zerstören oder verdrängen und so das Bild einer Fehlhaltung (analog zu einer Gesteinsverwerfung) ergeben. Das je eine muss in das je andere so eingehen können, dass etwas Neues entsteht, das vorher keinen Bestand hatte, auch nicht als bloße Summe der beiden Momente. Das hat zur Voraussetzung, dass der (akustische oder optische) Stoff und die den jeweiligen Stoff ordnende wie auch das Artikulieren ausmachende Form (die überdies dem hörenden oder sehenden Auffassen zugrundeliegt) des jeweiligen Verkörperungsmodus kompatibel sind – passgenau akkordant wie Gesteine zur umgebenden geologischen Struktur. Sie müssen sich geradezu wechselseitig suchen, um das Neue, das in ihnen gleichsam schlummerte und ohne das jeweils andere weder ist noch von sich wissen kann, durch ihre Verschmelzung oder Verschränkung zum Leben zu erwecken. Geometrie, Musik, Wissenschaft etc. wurzeln in den Verschmelzungsmodi von Körper und Geist bzw. in den Verkörperungsmodi der Sinne. Artikulation von Tönen mit der Sinngebung musikalischen Klangs (und der akkordanten Haltung des Tanzens), Gliederung des Sichtbaren in Linien, Flächen und Räumen mit der Sinngebung geometrischer Figuren (und der akkordanten Haltung des Handelns), syntaktische Fügung des Erlebnisstroms in Gesten und Sprachgesten, in Lauten, Silben und Worten mit der Sinngebung von Sprache und Schrift (und der akkordanten Haltung verständlichen Gebarens und Sich-Gebärdens, Redens bzw. Schreibens und verständigen Zuhörens bzw. Lesens) – all diese kulturellen Leistungen und Manifestationen des Geistes werden begleitet von Prozessen des Sich-Abhebens bestimmter Elemente, deren Material bereitsteht für Formung und Ge285

Vgl. Breun 2014a, 123.

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Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

staltung; dabei fungiert der duale Modus als Auslöser, Wegbereiter und Schrittmacher. Georg Misch beschreibt das – zum optisch-schematischen Verkörperungsmodus zu zählende – Hinzeigen als eine erste Form des Ausdrucks zunächst einer Gebärde, dann der deiktischen Sprache, 286 bei der sich eine Erscheinung unter anderen Erscheinungen, auch von dem hinzeigenden Ausdruck selbst, abhebt, gegenständlich wird und sich überdies der Hinzeigende in sich selbst von sich selbst abhebt, indem er, dem Anderen, dem er etwas zeigt, zugleich zugewandt, zum Subjekt des Zeigens, näheren Bestimmens, Vergegenständlichens, Ausdrückens und Sinngebens wird. Das daran anschließende Sprechen ist seinerseits gekennzeichnet von einer Fülle von syntaktischen, semantischen und vor allem, was das Verfeinern und Abstimmen von Bedeutungsnuancen angeht, von klanglichen Abhebungen, die im engeren Sinne zum akustisch-thematischen Verkörperungsmodus gehören. Diese wiederum beginnen bereits beim Ausruf des Erstaunens über eine Naturerscheinung, den Cassirer zum Exempel macht, um den Anfang des Symbolisierens spekulativ und sinnlogisch zu bestimmen, ohne ihn wissenschaftlich erklären zu können; mit dem Ausruf wird akzentuiert, unterschieden und bedeutet, 287 schließlich in mancherlei aufeinanderfolgenden und sich wechselseitig kritisch ergänzenden oder einander ablösenden Versuchen gedeutet, zunächst mythisch und religiös, dann philosophisch und wissenschaftlich. Folgt man dem historischen Verlauf, den Cassirer hinsichtlich der Entwicklung der symbolischen Formen rekonstruiert, dann stellt sich heraus, dass die Prozesse des Sichabhebens zugleich solche des Unterscheidens und der zunehmend feineren Präzisierungen sind; und so steht der duale Modus mit der anfänglichen Bezugnahme des Subjekts auf das Mitsubjekt und auf ein gemeinsam zu intendierendes Objekt zugleich am Anfang des Bedeutens und Differenzierens 288 in allen Sinnregionen, (hinzeigend) in der schematischen, (lautgebend) in der thematischen und (gliedernd-artikulierend) in der syntagmatischen. Besonders vernehmbar fungiert der duale Modus hinsichtlich der Form- bzw. Sinngebung in Gesprächen und in Reden, etwa zu öffentlichen Anlässen; der Einfluss der räumlichen Atmosphäre, des 286 287 288

Vgl. Misch 1994, 236. Vgl. Cassirer, PsF 2, 98–100. Vgl. Cassirer, PsF 2, 209; vgl. Breun 2003, 396 f.

164 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Prozesse des Sich-Abhebens

zeitlichen Rhythmus und der Gestimmtheit aller Beteiligten wird hier regelrecht greifbar. Im Alltagsgebrauch schematischer, thematischer und syntagmatischer Funktionselemente, d. h. beim Gliedern und Artikulieren jeglicher Art, mag die Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit des dualen Modus nicht so sehr auffallen, ja sie rücken nicht einmal als etwas Selbstverständliches ins Bewusstsein, sondern verbergen sich hinter dem erlebten und im Erleben aufgehenden Vollzug, dessen Gehalt bis in die sich im Unergründlichen verlierenden Tiefen und Quellen von Schema, Thema und Syntagma reicht; sie werden aber in den Fällen offensichtlich, wo die schöpferische und kalibrierende Funktion des dualen Modus durch widrige Umstände eingeschränkt wird oder in ihrem Sinn fehlgeht. Für jeden aufmerksamen Beobachter (wie z. B. Kleist) wird jedoch sichtbar, dass Verfeinerungen in Ausdruck und Darstellung, gerade auch diejenigen syntagmatisch-sprachlicher Art, von den konkreten Manifestationen des dualen Modus (wie etwa der anregenden Interaktion mit einer auf Verstehen ausgerichteten Partnerin) gespeist werden. Solche Manifestationen, zu welchen auch Erinnerungen, innere Selbstgespräche, Lektüren u. v. m. zu zählen sind, können als geistige Initialzündungen gelten; sie bedingen die möglichen präzisen Differenzierungen bis in die Sprache der Poesie hinein. In diesem Sinne ist die Funktion des dualen Modus gerade auch bei Dichtern wirksam, die all das, was durch das Selbsterleben hindurchgeht, so in Worte zu fassen verstehen, dass es nicht bloß im subjektiven Erleben steckenbleibt, sondern mittels der individuell gefärbten, kunstvoll-stilistisch ausgearbeiteten Versprachlichung ›objektiviert‹ werden und allgemeine Geltung erhalten kann; der Leser oder Hörer lässt sich von den Worten in den Sog des Atmosphärischen ziehen und tritt in einen sinnauffassenden, sachhaltigen Dialog ein – ein Paradebeispiel für die interne Verbindung des syntagmatischen Modus mit dem dualen. Das poetische Verarbeiten der Atmosphäre in einer gegliederten Ordnung geht über in das Vernehmen dieser Artikulation, in der sich die Stimmung kundgibt und die ineins damit zur Sach- und Sinnorientierung auffordert. Außerhalb der Poesie denke man an Künstler wie den Pianisten Keith Jarrett, dessen thematisierende Improvisation nuanciert und mitunter radikal atmosphärische Stimmungen oder auch die Thematik unter- bzw. abbrechende Störungen im Konzertsaal einbezieht, oder an Maler wie Vincent van Gogh und Edvard Munch u. v. a., die nicht nur der schematischen Konturierung eine neue Gestalt gegeben 165 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

haben, sondern deren Form- und Farbgebung die jeweilige, sich im Atmosphärischen der engeren Umgebung spiegelnde Lebenssituation aufnimmt. Umgekehrt beeinflussen künstlerische Leistungen in allen Sinnregionen, d. h. in den Bereichen des optischen Schematismus, des akustischen Thematismus und des sprachlichen Tagmatismus die aufnehmende und auffassende Mitwelt atmosphärisch und sachlich-inhaltlich. Das zeigt sich deutlich in der Verwendung der Sprache bis in kleinste, Resonanzen auslösende Nuancierungen, ebenso in der artifiziellen Gestaltung von Lebens- und Wohnräumen. Deshalb ist es weder überflüssig noch marginal, Kultur – Kunst, Theater etc. – und Sprache zu pflegen und der Aneignung zugänglich zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen: nicht nur das alltägliche Gebaren und Reden, sondern auch die poetische wie überhaupt jegliche künstlerische Produktion und Hermeneutik sind dual-syntagmatisch organisiert.

4.

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus

Wenn man nun fragt, welcher Art erstens die Konkordanz im Hinblick auf das Anschauen und Auffassen des Ganzen von Mensch und Welt sowie zweitens die Akkordanz im Hinblick auf die hier, das Ganze betreffende, maßgebliche Kompatibilität des gestalteten Stoffs mit der Auslösung, um nicht zu sagen mit dem Erzwingen, einer dazu gehörigen Haltung sind, dann stößt man unweigerlich und mit Notwendigkeit wiederum auf den dualen Modus; er ist, wie gezeigt, derjenige sinnliche Verkörperungsmodus, der nicht einem bestimmten Sinn, sondern der mitweltlichen oder Wir-Sphäre als der Bedingung der Möglichkeit von Artikulation überhaupt zugehört, und so kann nur er der Verkörperung des Gesamtleibes, des sensus communis, ineins mit der dazu korrelativen Welt und dem, ›was nicht von dieser Welt ist‹, den Weg ebnen, und zwar in Verbindung mit dem entsprechenden Entkörpern. Im Verkörpern des Selbst mit und in seinem Leib ist ein Moment des Entkörperns enthalten (und umgekehrt), und zwar so, dass in allem Verkörpern ein unbeabsichtigtes Abgleiten in das Entkörpern lauert. Darin bekundet sich auf besonders spürbare und riskante Weise der Bruch, der die Einheit des menschlichen Selbst in allen seinen Vollzügen und Lebensbereichen durchzieht. Das macht sich immer dann bemerkbar, wenn der jeweilige Akt, mit 166 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus

dem das Selbst seine Lebendigkeit ›vollzieht‹ – in Ausdruck, Darstellung, Gestaltung, Präsentation u. a. m. –, den Gegenzug des Entkörperns nicht in seine Bewegung mit aufnimmt, sondern auf diesen wie auf einen harten Gegenstand trifft und sich daran bricht. Dann endet der kontinuierliche Vollzug, mit dem die Gebrochenheit in Bewegung und Beweglichkeit überführt wird, und der Bruch schiebt sich in den Vordergrund. Das zeigt sich besonders an den Grenzen der anthropologischen Grundstruktur und in den damit zusammenhängenden Extremformen von Haltungen oder Einstellungen, die störungsanfällig sind, weil sie das Ganze symbolisieren (im Sinne von Cassirers symbolischer Prägnanz) – zum einen in der Schamhaftigkeit bzw. im Ausdruck der Scham, zum anderen in der Würde und ihrem Ausdruck. Da ich diese Zusammenhänge in der Monographie Scham und Würde 289 ausführlich erörtert und insbesondere auch auf die Leibessynthese von Leben und Tod bezogen habe, seien sie hier lediglich kurz auf den Punkt gebracht. Der duale Modus geht einher mit der Konkordanz von Selbst und Welt im Prozess des im zwischenleiblichen Austausch sich bildenden Selbstverhältnisses und der akkordanten Haltung der Würde, die sich, als Erscheinungsweise und Idee der ganzen Person, an die Empfindung des Heilig-Numinosen heftet. Dieses ist wie jene das Symbol der Ganzheit. Wohl in allen Kulturen der Menschheit lässt sich bezeugen, dass dem syntagmatisch-dualen Sinngeben ein Zug zur Haltung der inhaltlich zwar je anders gefassten, aber in der Form überall identifizierbaren Würde als dem Inbegriff lebendiger Ganzheit innewohnt, die mit dem Erleben des Achtung auslösenden Numinosen bzw. Heiligen akkordant ist, zunächst in Gestalt des Göttlichen, dann des Menschen selbst, ob man ihn nun dezidiert als Person versteht oder als Einzelnen, der sein Leben irgendwie zu führen hat. Im Gegenzug macht sich der Akt des Entkörperns auf je unterschiedliche, aber wiederum identifizierbare Weise geltend, denn der Orientierung am Ganzen, d. h. an der Alleinheit und Allmacht Gottes oder am Ganzseinkönnen und -wollen der Person, wohnt eine Scheu und Schamhaftigkeit inne, die zum einen das Numinos-Heilige mit einem Schutzschild überzieht, der nicht ›ungestraft‹ durchbrochen werden darf; und zum anderen bewahrt die Schamhaftigkeit davor, den Schonraum zu (zer-)stören, den jede Person braucht, um ihrer Gebrochenheit Herr zu werden und jene Art 289

Vgl. Breun 2014a, zusammenfassend Breun 2017.

167 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

von Geltung zu erwerben, die sie davor schützt, in den Abgrund der Nichtigkeit zu stürzen, an dessen Rand der Mensch immer entlang balanciert, weil seine ganzheitliche Würde eben nicht ist, sondern zu gelten hat, damit er ganz sein kann. Darin verdichtet sich auf eine Weise, die überraschen mag und zugleich das für jeden Spürbare und insofern Offensichtliche lediglich explizit macht, das bislang mehrfach und auf je andere Weise bezeichnete Rätsel von Mensch und Welt. Der Schlüssel zum besseren Verständnis des Rätsels wurde im bisherigen Gedankengang ständig verwendet: er liegt im dualen Modus und seiner Leistungskraft inmitten der Konstellation von sinnlichem Ausdruck und geistiger Sinngebung, und diese Konstellation ist geprägt von dem Zwillingsprozess des Verkörperns und Entkörperns. Zugleich wird damit neues Licht auf die Frage nach dem Zusammenhang bzw. dem Zusammenwirken der Glieder innerhalb der antagonistischen Grundstruktur des Ganzen – der in sich gebrochenen Einheit – und ihren paradoxen Folgen geworfen, denn nun ist deutlich geworden, wie sich der Einsatz des dualen Modus auf unübersehbare Weise bemerkbar macht. Immer wenn etwas ausbleibt, sei es im Wirken des optischen oder akustischen Modus und zumal der Modi des Zustandes (und damit des Selbsterlebens), ist es der duale Modus, der die Leerstelle allererst als solche, d. h. als defizitär zur Deutlichkeit bringt. Der schwindende Horizont, die eingeschränkte Perspektive, die verdunkelte Sicht, der ausbleibende Klang, der falsche Ton, das betretene Schweigen, das peinliche Verstummen, das Sichschämen bis hin zum Gefühl der absoluten Nichtigkeit, des Selbstverlusts, des Nichtswertseins und der Nichtswürdigkeit – all das bringt den dualen Modus ins Spiel, der seine Wirkung zu entfalten hat, um den Horizont wiedergewinnen, die Perspektive erweitern, die Sicht erhellen, dem Klang Fülle verschaffen, den Ton treffen, die Sprache wiederfinden, sich erneut Geltung und Selbstwert erwerben sowie sich als (mit Kant zu sprechen: der Glückseligkeit und der Menschheit in der eigenen Person) würdig erweisen zu können. Denn gerade die Würde, die dem ganzen Menschen als solchem zukommt, ist nicht bloß, sondern muss sich verkörpern, um sich in wechselseitiger Achtung und Selbstachtung ihrer Geltung zu versichern. Auch im Positiven: das Transzendieren des Horizonts, die Erweiterung oder der Wechsel der Perspektive, die klare Sicht, der volle Klang, der richtige Ton, das angemessene Schweigen, das taktvolle 168 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus

Verstummen, die schützende Scham ebenso wie die respektvolle Scheu – all dies vollzieht sich unter der Bedingung des dualen Modus und geht einher mit einer situativ-historisch je verschieden nuancierten Atmosphäre, in der sich das Subjekt auf das Objekt, das Individuum auf andere Individuen, das Selbst auf die Welt einlässt – es stimmt sich ein auf die Einstimmigkeit inmitten der vielen Stimmen, in denen sich die Wir-Sphäre kundgibt. Dazu ist alles zu zählen, woraufhin wir ›ansprechbar‹ sind und was in einem wie immer gearteten Austausch zu uns ›spricht‹. Das können konkrete menschliche Stimmen sein, aber auch solche, die aus der natürlichen oder artifiziellen Umgebung und ihren Erscheinungen kommen, etwa die des dunkellichten, von frischer Luft in harzig-grünem Duft durchwehten Waldes, in den man sich gerade begeben hat, oder die der Bilder in einer Ausstellung, die man gerade besucht, oder die einer Stadt, deren Architektur und Räumlichkeit uns ›anspricht‹ – es ist, als ob man in einen Dialog eintritt (und der Möglichkeit nach jederzeit eintreten kann), der nicht immer Worte braucht, um die Bedingung des dualen Modus zu erfüllen: im Durchgang durch das syntagmatisch organisierbare Selbsterleben geistig-sinngebend empfänglich und tätig zu werden. So ist es kein Zufall, dass sich Folgendes ereignet. Beim Spazierengehen kommen uns ›Einfälle‹, ›Ideen‹ ; beim Betrachten eines Gemäldes erhalten wir ›Anregungen‹ ; beim Hören eines Musikstücks werden wir in eine ›andere Sphäre‹ versetzt – und nicht zu Unrecht spricht man dann von der geistigen Sphäre, die ihre Wirksamkeit in Ausdehnung und Intensität gerade auch akustisch-thematisch entfalten kann. Und nicht zuletzt kennt man diese ›andere Sphäre‹ aus dem Bereich des Sakralen, in dem sich, da er explizit auf das Ganze, Vollkommene, Ewige zielt, eine besondere Sensibilität für den Ausdruck des Geistes entwickelt hat – in der räumlichen Ordnung, zeitlichrhythmischen Gliederung und sprachlich-musikalischen Gestaltung. So gilt das Sakrale regelrecht als synonym mit der ›anderen Sphäre‹, die sich aus dem ›bloß‹ Weltlich-Alltäglichen erhebt, aber auch dieses selbst verlangt danach, vergeistigt zu werden, bzw. es vermag das Geistige zu verkörpern und umgekehrt: alles Bestreben richtet sich darauf, in jeglichem Tun und Erleben dem Geist Bahn zu verschaffen, auch wenn das nicht zu jeder Zeit und für jedermann immer offensichtlich ist. Darin liegt die Befreiung, nach der der Mensch strebt: sich loszulösen von der Erdenschwere, die Bindung an lästige körperliche Vorgänge mindestens zu lockern, wenn nicht gar aufzuheben, in 169 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Relation der Abhebung und die Lebendigkeit

seiner Lebendigkeit leicht und in seiner Körperlichkeit luftig zu werden wie der Tänzer, der über den Boden gleitend im Raum zu schweben scheint. Es ist diese Leichtigkeit, die fasziniert, wenn man ihrer in der Kunst, im Sport oder im Alltag ansichtig wird. Die Voraussetzung solcher Leichtigkeit in der Verkörperung des Geistes und in der Vergeistigung des Körpers, in der Verschmelzung von Sinnlichkeit und Sinngebung, schließlich in der daraus resultierenden kulturstiftenden Leistung des symbolischen Formens, ist das geschmeidige, gleichsam bruchlose Ineinander von Verkörperung und Entkörperung zu einem Gefüge, in dem die Bruchstellen unsichtbar ›verleimt‹ sind. Das heißt nicht, dass der Bruch geleugnet oder irgendwie übergangen werden kann. Er bleibt als Hiatus und Umschlagen von einem Moment in das andere bestehen. Jedoch wird er als Antrieb für den Vollzug genutzt, ähnlich wie das Umlegen eines zu einem beweglichen Gerät gehörenden Hebels, der ohne seine Betätigung in einem aktiven Zugriff gar keine Wirkung entfalten bzw. dem Rollen des Geräts auf einer abschüssigen Bahn nichts entgegensetzen kann. Das gelingende Ineinander zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm das Umschlagen nicht abrupt und plötzlich, den Bruch betonend, sondern geschmeidig und unmerklich vollzogen wird. Dann folgt die Bewegung in ihrem Verlauf dem Zugleich von Verkörpern und Entkörpern, so wie es der eine Rolle mit seiner ganzen Person interpretierende Schauspieler vormacht. Er ist ja nicht nacheinander zunächst ein Selbst und dann die Rollenfigur, sondern beides zugleich; in seiner Kunst wird der Moment des Umschlagens nicht sichtbar, weil sein ganzes individuelles Selbst bruchlos in das Selbst der Rollenfigur eingeht, indem es sich in deren Verkörperung zugleich entkörpert, ohne zu verschwinden. Das erfordert Übung und Konzentration. Mit der nochmaligen Verwendung der Analogie zum rollenden Gerät könnte man sagen, dass etwa beim Fahrrad eine kontrollierte Bewegung in ihrer Geschwindigkeit dadurch erfolgt, dass die Bremse als Widerstand eingesetzt wird; und umgekehrt ist die das Rollen beschleunigende Schubkraft ein Widerstand für die Bremse, den sie zu überwinden sucht. Das eigene momentan präsente, aber zu entkörpernde Selbst ist der Widerstand, der einem Fortgerissenwerden in der Rolle entgegensteht und das Rollenspiel damit erst kontrollierbar macht. Und umgekehrt: das individuelle Selbst profitiert vom Rollenspiel in solcher Weise, dass es sich in und mit der Spielweise allererst als verkörpertes ausbilden kann, die jeweils verkörperte Rolle bietet 170 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung im dualen Modus

den zu entkörpernden Widerstand, den es braucht, um überhaupt ein ›beständiges‹ Selbst zu ›haben‹ bzw. ein solches sein und – in der Rollenfigur – verlebendigen zu können. Im Gebrauch der Maske, ob im antiken Theater, in den Mysterienspielen, z. B. im Fest des Dionysos, oder beim Karneval, aber auch in der kontrollierten Mimik und Miene, wird dieses ›Verfahren‹ noch gesteigert und präsentiert: die Maske zeigt das entscheidende anthropologische Momentum, nämlich, dass der Mensch sich verkörpern muss, und zwar ganz exponiert im Gesicht, und macht ihn damit als animal symbolicum (Cassirer) kenntlich; und, das Selbst des Maskenträgers entkörpernd, verhüllt sie ihn und sein Gesicht zugleich, womit sie auf sein letztlich unergründliches Wesen als homo absconditus (Plessner) verweist. 290 Im Gegenzug kann die Schamhaftigkeit als prägnante Form des homo absconditus gelten, des Menschen, der sich verbergen und am liebsten nicht sichtbar sein will, und zugleich zerrt ihn der Ausdruck der Scham ans Licht und macht ihm klar, dass er nicht darum herum kommt, sich als animal symbolicum offenbaren und deutbar machen zu müssen. 291 Nietzsche hat die psychologischen und philosophischen Aspekte der Verbindung von Maske und Scham klar gesehen. 292 In der Psychoanalyse bzw. Psychiatrie ist dieser Zusammenhang von Léon Wurmser für Diagnose und Therapie fruchtbar gemacht worden. 293 In beiden Richtungen, vom Selbst auf die Rolle hin und umgekehrt, wird der interne Widerstand ›spielerisch‹ überwunden, bleibt jedoch zugleich als Widerstand erhalten, wodurch er den Bewegungsvollzug lenkbar und gelenkig macht, andernfalls geriete dieser ungelenk oder konturenlos. Ohne den Widerstand gäbe es weder ein ausgebildetes Selbst noch ein souveränes Rollenspiel. Nicht nur in diesem Beispiel arbeiten die Akte des Verkörperns und Entkörperns gegeneinander und greifen dabei so ineinander, dass die Lebendigkeit in den unterschiedlichen Sinnregionen realisiert werden kann.

290 291 292 293

Vgl. Breun 2014a, 175. Vgl. ebd., 179. Vgl. z. B. Nietzsche 19696, Nr. 40, 603 f. Vgl. Wurmser 19983.

171 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

XII. Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

1.

Leer- und Ordnungsformen

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung kann mit einer weiteren Analogie aus einem Fragment Heraklits, einem der Lieblingszitate Cassirers, beschrieben werden: es ist gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier; 294 oder: mit Cassirers Worten aus einem Essay von 1930: »Mehr und mehr lernt der Mensch, sich die Welt zu beseitigen, um die Welt an sich zu ziehen […]«, 295 m. a. W.: er hebt sie auf eine symbolische Ebene, macht sie dadurch überhaupt erst zur Welt (als unter einem Prinzip begriffene Einheit) und vergeistigt sie, indem er sie verleiblicht – Leibselbst und Weltleib gehen eine Verbindung ein: Leben gibt sich die Form des Geistes. 296 In einer weiteren Analogie spricht Cassirer gleich im Anschluss an die zitierte Stelle von einer »in sich einheitlichen Tätigkeit, deren beide Seiten, wie Ein- und Ausatmen, einander wechselseitig bedingen«. 297 Bei diesem Vorgang verschwindet die Luft nicht oder wird zu nichts, sondern bleibt im Gegen- und Ineinander von Ein und Aus so erhalten, dass die Tätigkeit, hier des Atmens als Voraussetzung des Lebens (und überdies des Sprechens), möglich wird; ebenso ist das erste Zitat zu verstehen: Welt und Körper werden nicht beseitigt im Sinne des Verschwindens und Zunichtemachens, so dass nichts übrigbleibt und an ihre Stelle ein Nichts tritt – ein Nichts im Vgl. Heraklit: Frg. 31 (DK 22 B 10) in Die Vorsokratiker, 2007, 303: »Sie verstehen nicht, wie das Auseinandertretende mit sich selbst übereinstimmt: rückstrebige Fügung wie bei Bogen und Leier.« Ergänzend Frg. 26 (ebd., 301): »Unsichtbare Fügung […] ist besser als eine sichtbare.« 295 Cassirer: ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart, in ders. 1993, 32– 60, hier 47. In einem nachgelassenen Text (1995, 36) nimmt er dieses Wort fast wörtlich wieder auf; vgl. Breun 2014a, 151. 296 Vgl. Cassirer, PsF 1, 51; vgl. Breun 2014a, 105. 297 Cassirer 1993, 47. 294

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Leer- und Ordnungsformen

›absoluten‹ Sinne, von dem wir uns ohnehin keine Vorstellung machen können –, sondern bleiben so erhalten (entkörpert), dass die Tätigkeit des Verkörperns, des Symbolisierens und Objektivierens im Rahmen des Verleiblichens der Welt, der Vergeistigung des Sinnlichen, möglich wird. Und nun wird klar, dass das Nichts, von dem bislang unter dem Stichwort der Entkörperung die Rede war, ein qualifiziertes ist, qualifiziert wie beim Ausatmen das ›Aus‹ des Atems, der im Zwillingsprozess mit dem Einatmen nicht einfach verschwindet. Aus diesem Grund soll im Folgenden von einem qualifizierten Nichts die Rede sein. Bei dem Ineinander im Gegeneinander handelt es sich also um einen doppelseitigen, ›gegenstrebigen‹ Akt des (A) Entkörperns (›Beseitigens‹) und (B) Verkörperns (›An-sich-Ziehens‹), so dass mit gutem Grund von einem Zugleich gesprochen wurde: das Verkörpern erfolgt, indem entkörpert wird. Cassirer spricht sogar vom ›Vernichten‹ (A) geistiger Bestimmungen, die auf früheren Stufen erfolgten und auf der jeweils neuen (B) hinter sich gelassen werden. Wiederum allerdings ist dies eine Art des Vernichtens (A), in der das Frühere eben nicht bloß nichts ist, sondern ein qualifiziertes Nichts, aus dem das Neue allererst seinen Gehalt (B) gewinnt, eben eine Entkörperung, aus der die Verkörperung resultiert – eine Verkörperung in der Entkörperung; und insofern der jeweilig verkörperte Gehalt aufgehoben wird: eine Entkörperung in der Verkörperung. A ist die Gliederungsbedingung für die Möglichkeit jeglicher Artikulation, B ist die ›Erfüllung‹ und Realisierung des ›Möglichen‹ 298 bzw. möglich Gewordenen. Das gilt insbesondere für den oben erörterten anthropologischen Kern der menschlichen Lebendigkeit: das Tun des Schauspielers und damit des Menschen überhaupt; er bereitet sich das Spielfeld, indem er die Dinge aus dem Weg räumt, die ihn daran hindern zu ›spielen‹ (1), so wie der Maler das Malfeld braucht, um es thematisch sinnvoll mit Farben und Formen zu füllen (2), der Redner das Sprachfeld, um in dessen vorgezeichneten Sinnrahmen klangvolle Laute mit Bedeutung einzupassen (3). Die Struktur der Felder ist eine je andere, für alle aber gilt die eben beschriebene, dem einheitlich-doppelseitigen Akt innewohnende Relation. (3) Das Sprachfeld ist phonologisch, syntaktisch, morphologisch und semantisch strukturiert, und immer wird etwas nicht gesagt, ausgelassen oder verschwiegen, um etwas zu bezeichnen und darüber zu reden. 298

Vgl. Cassirer 1993, 48.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

(2) Das Malfeld ist nach Materialeigenschaften, Oberflächenbeschaffenheit und Seitenlänge strukturiert, und immer ist Zeichnen und Malen zugleich Weglassen, manches wird ausgelassen, so dass der thematische Sinn heraustreten kann, der durchaus im rein Farblichen oder Formalen liegen kann. (1) Das Spielfeld für den Akteur, d. h. den Menschen und Rollenspieler, sprich: den rollenspielenden Menschen, der, wie oben erläutert, erst in seinen Rollen zu einem ›beständigen‹ Selbst wird, ist gemäß den sinnlichen Verkörperungsmodi und den Vorgaben des Geistes, der Wir-Sphäre, also dual-syntagmatisch, strukturiert, und der Akteur muss sich selbst je nach Rolle und Darstellungsintention ›in den Hintergrund stellen‹, ›sich zurücknehmen‹, bestimmte Darstellungsmöglichkeiten auslassen, mimisch und gestisch ›sparsam‹ agieren, so dass die Rollenfigur, in die er gerade ›schlüpft‹, hervortreten und er sich damit selbst und als Selbst verkörpern kann. Der Vollzug im Handeln, Sprechen und Gestalten, zu dem der Hiatus zwingt und der duale Modus anregt, gelingt also dann, wenn sich Verkörpern und Entkörpern so zusammenfügen, dass das eine vom jeweils anderen profitieren kann – wie, um sich einer weiteren Analogie zu bedienen, in einem Bild Figur und Grund nur in Abhebung vom jeweils anderen deutlich werden, wobei das je eine gegenüber dem je anderen als eine leere Form erscheint, vor der sich die andere in ihren Konturen und inhaltlich ›gefüllt‹ zeigen kann. Das trifft für alle Leibessynthesen zu, auch und gerade für diejenige von Leben und Tod, die, so die Vermutung sowohl alltagsphänomenologischen als auch metaphysischen Ursprungs, als grundsätzlich synthetisierende Kraft allen anderen zugrundeliegt. Diese Fundierungsfunktion der Leibessynthese von Leben und Tod für alle Leibessynthesen überhaupt hängt mit der primären Zeitlichkeit der synthetischen Grundstruktur selbst zusammen, denn Synthesis heißt ja Vollzug und Übergang, und deren Möglichkeit ist zeitlich bedingt. Das Leben ist zeitlich bestimmt, weil es vom anderen des Lebens, vom Tod her begrenzt ist, und weil der Mensch um diese Grenze weiß. Das dokumentiert sich u. a. darin, dass es ihm immer auch darum zu tun ist, die Zeit zu ›nutzen‹, sie nicht zu ›verschwenden‹, nicht ›durch die Finger rinnen zu lassen‹ – so dass man bedauernd sagen kann: »die Zeit läuft mir davon«, »ich habe zu nichts Zeit«, »hätte ich nur mehr Zeit gehabt«, »ich habe mit meiner Zeit nichts angefangen« –, und es ist eine allgemein anerkannte Forderung und ein mehr oder weniger bewusst angestrebtes Ziel, nicht hektisch, sondern ge174 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Leer- und Ordnungsformen

lassen zu werden oder zu bleiben; andererseits möchte man nicht beklagen müssen, »etwas verpasst zu haben«. Beide, Leben und Tod, sind sich gegen- und wechselseitig ein Widerstand. Im Tod entkörpert sich das menschliche Leben, und ihm trotzend gewinnt es sich als stetig sich verkörperndes, was zugleich heißt: nur vor dem Hintergrund des Todes kann sich das Leben vergeistigen. In diesen Zusammenhang können nun Überlegungen Cassirers, mit denen er an Leibniz anschließt, und Plessners zu den Voraussetzungen der hier umschriebenen und in verschiedene Sinnregionen sich ausdifferenzierenden Ordnung und Gliederung der menschlichen Lebendigkeit, d. h. ihrer Artikuliertheit, gestellt werden. Cassirer schreibt von den »Leerformen« 299 der Zeit und des Raums, die, ebenso wie die hinter sich gelassenen geistigen Bestimmungen, nicht dem Nichts gleichkommen, sondern qualifiziert sind als »Ordnungsformen«: der Raum als »Ordnung des möglichen Beisammen«, die Zeit als »Ordnung des möglichen Nacheinander«, 300 ähnlich wie Plessner Raum, Zeit und Ich als Gliederungsmedien des Realitätsbildes bezeichnet. In eben diesem Sinne lassen sich weitere Ordnungsformen feststellen und die eben genannten präzisieren; sie bilden gleichsam das die Bewegungsrichtung vorzeichnende Magnetfeld, in dem sich die Akte des Verkörperns und Entkörperns mit den dadurch möglichen Abhebungen einzurichten haben und darin ihr Spielfeld finden, das sie ihrerseits aber auch in seinen polar ausgerichteten – durch Anziehung und Abstoßung, Antagonismen und Wechselwirkung gekennzeichneten – Beziehungen mitgestalten. Folgende Liste von Ordnungs- und Leerformen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, impliziert keine Hierarchie und ist nicht im Sinne einer geschlossenen Systematik zu verstehen: (1) das von Bühler exemplarisch kenntlich gemachte leere Schema der Grammatik, sowohl in den syntagmatischen als auch paradigmatischen Beziehungen, 301 als Ordnung des möglichen Bedeutens, wodurch die Akte der Bedeutungserfüllung im Gegenzug zur Bedeutungsentleerung bzw. in deren Wechselspiel möglich werden und damit Sprache überhaupt;

299 300 301

Cassirer, 1993, 37. Ebd. Vgl. Admoni 1971, 30–42.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

(2) Ich als Ordnung (›Nullpunkt‹, ›Origo‹) der möglichen Spontaneität mit der Initiative zum Verkörpern im Entkörpern; (3) die Möglichkeit und Gefahr der Nichtigung des Selbst durch andere (in Entwürdigung und Demütigung) oder durch einen selbst (in Verfehlung des eigenen Anspruchs) als (moralische) Ordnung der Normativität, wie sie an den Grenzverhaltungen von Scham und Würde deutlich wird; (4) damit zusammenhängend: das (qualifizierte) ›Nichts‹ des Selbst in seiner prätendierten Geltung als Ordnung von Person, Rolle und Individuum mit einer unverwechselbaren Individualität, eine Ordnung, die sich pointiert am Schauspieler zeigt und im Gebrauch der Maske verdichtet, so auch als Ordnung von Dialog und Kommunikation, letztlich als Ordnung der Menschheit selbst und der mit ihr gegebenen Aufgabe der ›Menschlichkeit‹ in ihren Anerkennungs- und Wertschätzungsverhältnissen; (5) Geltung bzw. der Anspruch auf Geltung überhaupt als Ordnung der geistigen Sphäre mit dem Zug zu Verallgemeinerung und Universalisierung ihrer Gestaltungen und Manifestationen, sowohl im epistemischen als auch moralischen und ästhetischen Gebrauch geistiger ›Fähigkeiten‹ – Geltung ist insofern ein qualifiziertes Nichts, als sie gerade nicht ist, sondern allererst und stetig ins Sein gebracht bzw. zum Leben erweckt werden muss durch aktives, wenngleich sich nicht aufdrängendes Bestätigen und Anerkennen im dualen Modus, 302 und, im Gegenzug und in der Folge davon, die Voraussetzungen schafft für das Sein des Selbst; (6) damit zusammenhängend: die ›Leerstelle‹ des eigenen Gesichts für einen selbst und die daraus resultierende, speziell entwicklungspsychologisch unausweichliche ›Nötigung‹, reziprok auf den Blick des anderen angewiesen zu sein, als Ordnung des Bezugs zwischen mir und den anderen sowie des davon abhängigen Selbstbezugs, beides zum Behufe der unabschließbaren Identitätsentwicklung;

302 Wie vielfältig die Möglichkeiten sind, den dualen Modus in seinen verschiedenen Aspekten unter dem Stichwort der Dialogik in den Blick zu nehmen, zeigt das kleine Buch von Schrey 19702. Welche Stellung dem dualen Modus in der Entwicklung und Ausprägung der Lebendigkeit des Individuums zukommt, verdeutlicht die unter den Stichworten ›Geschmack‹ und ›Atmosphäre‹ vorgenommene Untersuchung von Tellenbach 1968.

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Leer- und Ordnungsformen

(7) Raum als Ordnung des Atmosphärisch-Syntagmatischen im mitweltlich-dialogischen und sprachlich-kommunikativen ›Beisammen‹ (Interaktionsraum), wie es Kleist beschrieben hat; (8) ›Raum‹ bzw. Raumhaftigkeit als Ordnung der paradigmatischen grammatischen Einheiten und hinsichtlich des Feldsystems der Sprache überhaupt mit den quasi-räumlichen Beziehungen von Oppositionen, Komplementaritäten, Verkettungen, Bindungen, Überlagerungen, Verdrängungen usw.; (9) Zeit als Ordnung im ›Nacheinander‹ der ›Lebensabschnitte‹ und der Lebensführung im Verhältnis zum Tod, d. h. auch im Verhältnis zu Außerzeitlichkeit, Zeitlosigkeit und Ewigkeit, sodann im Nacheinander des Sprechens (der Redeteile) und des Schreibens, wobei sich hier das Verhältnis zu Außerzeitlichkeit, Zeitlosigkeit und Ewigkeit weiter entfaltet und ausdrücklich wird, sowohl in den Wortbedeutungen und im sprachlichen Ausdruck von Zeitbestimmungen als auch an den verschiebbaren Grenzen der Sprache; (10) Tod als Ordnung der zeitlichen Bestimmtheit des Lebens, wobei einerseits, so scheint es jedenfalls, der Tod dem Leben als ein Nichts, einem schwarzen Loch oder bodenlosen Abgrund gleich, entgegensteht, und das Leben sich gegen ihn zu wappnen, an sich selbst als dem Inbegriff der Lebendigkeit festzuhalten sucht, andererseits das Leben angesichts des Todes mit dessen End- und Zeitlosigkeit als nichtig und dieser als Erlösung, Erfüllung und Voraussetzung eines ›wahren‹, ›ewigen‹ Lebens oder auch eines ›Nirvana‹, eines absoluten, nicht mehr vom Begehren und Drängen belästigten Freiwerdens von allem ›Weltlichen‹ erscheinen kann; (11) Leere, Dunkel, Schweigen als Ordnung der die Selbst- und Weltimmanenz transzendierenden und jegliches symbolische Formen seinerseits ›vernichtenden‹ Akte bzw. passivische Analoga zu Akten im Handeln, Sprechen und Gestalten – Vernichten wiederum im Sinne eines Entkörperns im Verkörpern, einer Entkörperung, in welcher sich das Eine, Ganze, Vollkommene korrelativ zur in jenen Akten gewonnenen Einsicht widerspiegeln kann. Zusammenfassend und allgemein kann formuliert werden: Entkörperung als Ordnung der möglichen Verkörperungen mit der Vorzeichnung von Sinn, und umgekehrt können sich Verkörperungen von dem jeweils transportierten Sinn ›entladen‹, ja sich davon befreien, 177 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

immer aber so, dass der interne Bezug zwischen Verkörpern und Entkörpern gewahrt bleibt.

2.

Sinngeltung und Sinn-Apriori

Von diesem Überblick ausgehend kann nun der Weg zum Rätsel der menschlichen Lebendigkeit, zu den metaphysischen Fragen und zur Aufgabe der Sinngebung auf dem Boden der Vorzeichnung von Sinn, wie sie mit der Verkörperung-Entkörperungs-Relation gegeben ist, weiter beschritten werden. Ausgangspunkt ist dabei der zunächst als selbstverständlich erscheinende und die obige Einleitung bestimmende Sachverhalt, dass Plessner die Frage nach dem Numinosen, Göttlichen und den Vorstellungen von Gott unter dem Stichwort der Entkörperung erörtert und in einen Zusammenhang mit den Fragen nach Sterben und Tod stellt. 303 Dieser Zusammenhang findet sich nahezu überall, wo über solche Fragen nachgedacht wird. Mit welchem Recht? Der Mensch wisse um seinen Tod, um sein Nichtmehrsein also, und angesichts dieser existenziellen Verunsicherung, so heißt es, verlange es ihn nach einem wirksamen Beruhigungsmittel, hilfreichen Trost oder einer Glaubensüberzeugung, die ihm die Sicherheit eines wie auch immer gestalteten Aufgehobenseins verleiht, und zwar gerade auch deshalb, weil die Wirksamkeit des Mittels, die Hilfe des Trostes oder die Überzeugung des Glaubens nicht auf einen Beweis oder eine sonstwie geartete wissenschaftlich oder anschaulich gesicherte Evidenz von der Existenz bzw. Wirklichkeit und Wahrheit dessen warten muss, das ›dem Tod den Stachel nimmt‹, um jene ersehnte Sicherheit zu erlangen. Denn jeder Beweis kann entkräftet, jede Evidenz verdunkelt werden, sei es durch neue ›Erkenntnisse‹ oder ›zwingende Argumente‹ ; diese können aber nichts ausrichten, wenn das Mittel wirkt, der Trost hilft und der Glaube fest ist. In einer ›aufgeklärten‹ Gesellschaft, die sich selbst als Wissensgesellschaft hofiert, wird überdies nahegelegt, dass sich die Wunschoder Wahnvorstellung religiöser oder metaphysischer Art, die sich an das Wissen um das Lebensende hefte, auflöse, wenn man nur genug über die materiellen Hintergründe allen Lebens, auch des ›geistigen‹, zumal der damit verknüpften Hirnvorgänge wisse. Es wird aber nicht 303

Vgl. Plessner 2019, 198–208; ders., VIII, 209–214.

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Sinngeltung und Sinn-Apriori

oder nur unzureichend gefragt, wie es sein könne, dass eine bloße Vorstellung, die empirisch nicht zu verifizieren sei, historisch gesehen über Jahrtausende hinweg kulturschöpfend und überhaupt schöpferisch, zumal für die Lebensführung, sein konnte, und ob nicht diese Verknüpfung anthropologisch-strukturell so statthaben müsse, auch wenn wir dieses Müssen nicht hinreichend erklären können und deshalb geneigt sind, jene Vorstellung leichthin als ›Illusion‹ oder ›Wahn‹ zu bewerten. Nun haben wir gesehen, dass aus gerade dieser Sicht, der anthropologisch-strukturellen, die Entkörperung nicht nichts ist im Sinne eines belanglosen Nichts ohne jede Bedeutsamkeit. Zwar ist die Entkörperung gerade keine Verkörperung mit all den daran gebundenen Vorgängen des Bedeutens und Sinngebens, sie stellt dafür jedoch den Rahmen zur Verfügung bzw. unter Verwendung der obigen Metapher: sie bereitet dafür das Feld. Das heißt aber: ihr Nicht- oder Leersein ist von jener Art, wie sie in der oben gegebenen Übersicht der Ordnungsformen in Gebrauch genommen wurde und wie es für ihr jeweiliges Exempel Bühler und Kleist zu fassen suchen, um die zunächst undeutlich bleibende und bloß dunkel geahnte Vorzeichnung in ein helleres Licht zu rücken und deren Eigenart verständlich zu machen; es ist, wie oben gesagt wurde, ein qualifiziertes Nichts. Außerdem zeigen die oben angeführten Beispiele aus der indischen philosophischen Praxis, wie ein geübtes Verkörpern als Entkörpern (etwa beim Meditieren mit der Silbe Aum) in jenen Bereich führt, dem die Merkmale des alle Verkörperungen transzendierenden Numinosen zukommen und damit bei einer – paradox genug – hinreichend verkörperten Entkörperung auf das Ganze, Eine, Vollkommene (Sanskrit: Brahman, christlich-mystisch-personalistisch: Gott, verallgemeinert: das Göttliche) verweisen. Die Entkörperungsform des qualifizierten Nichts steht in Korrespondenz mit der ›Verkörperung‹ des Numinosen, die von anderer Art ist als die Verkörperungen, die wir als Versinnlichungen des Geistes in den symbolischen Formen von Kunst und Musik, Wissenschaft und Sprache kennen. Das Numinose versinnlicht sich zwar nicht wie die kulturellen Objekte dieser symbolischen Formen, vieles deutet aber darauf hin, dass es, wie oben erwähnt, in den Eigenbereich der Verkörperung als der auf sich selbst bezogenen Artikulation des Lebens hineinwirkt, d. h. in die Verleiblichung des Körpers ebenso wie in die vielen, gerade auch alltäglichen Weisen der Entkörperung, mit denen die Vergeistigung des Leibes einhergeht, und sich deshalb nicht 179 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

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nur als Atmosphäre und Gefühl, sondern auch in den symbolischen Formen, zumal der Sprache, bemerkbar macht; anders gesagt: das Korrespondenzverhältnis zwischen Mensch und Numinosem bildet sich ab im Korrespondenzverhältnis zwischen dem sich verkörpernden Leib und dem – in je verschiedener Weise – qualifizierten Nichts. Es erzeugt eine sich ausbreitende Atmosphäre, die sich über das Gefühl und den Geschmack im weitesten Sinne legt, so dass der sensus communis, der Gesamtleib als auffassendes ›Sinnesorgan‹, sich der dual-syntagmatischen Sinngebung des zumindest affektiv erfassten ›Ganzen‹ öffnet, an der die symbolische Form der Religion und die quasi-symbolische Form der Philosophie ansetzen. 304 Aus diesem Grund lässt sich der Zugang zum Numinosen – wenn nicht über ein Widerfahrnis, das man nicht selbst initiiert hat – vom Leib ausgehend über Akte des Verkörperns als Entkörpern gewinnen, wobei hier versucht wird, alles Verkörpern hinter sich zu lassen, das Reich der Verkörperungen zu überschreiten, die ›Welt‹ mit ihren Objekten, zu denen ich das Subjekt bilde, und ineins damit eben dieses Subjekt, das individuelle Selbst, zu transzendieren. Es ist naturgemäß nicht einfach, dieses Transzendieren in Worte zu fassen, die weder den Überschwang befördern noch wilder Spekulation, die einer phänomenologischen oder hermeneutischen Prüfung nicht standhielte, anheimfallen. Bei solchem Transzendieren geht es weder um eine Utopie, zumal eine politisch konnotierte, noch um eine religiös-symbolisierend vergegenständlichte Paradiesvorstellung oder sonstwie geartete Flucht in eine ›Überwelt‹, die alles Tun und Wollen im ›Jetzt‹ und ›Diesseits‹ ad absurdum führen würden. Es geht vielmehr aus der Struktur der anthropologisch unhintergehbaren Verkörperung selbst hervor, dass sie die Richtung einschlägt, sich sukzessive aufzuheben, um immer neuen Abhebungen den Weg zu bereiten, der Abhebung des Leibes vom Körper, des Gemeinten vom Ausdruck, der Bedeutung vom Medium, des Geistes vom Körperleib, des Sinns vom Sinnlichen, endlich auch der Abhebung der Verkörperung überhaupt von – ja wovon? Zunächst: Trotz aller Abhebung bleibt ja die interne Verbindung bestehen, so dass der Leib im Körper, das Gemeinte im Ausdruck, die Bedeutung im Medium (so im Klang), der Geist im Körperleib, der Sinn im Sinnlichen gleichsam wohnt und

304 Vgl. Breun 2003, 156 f.; zur Sonderstellung der Philosophie im Rahmen der symbolischen Formen vgl. Cassirer 1995, 264 f.

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das jeweils Erste nur mit dem jeweils Zweiten zur ›Gegebenheit‹ kommt. Werfen wir nochmals einen Blick auf die oben erörterten Abhebungen, die mit der Hiatusgesetzlichkeit intern verbunden sind. Keine Abhebung ohne Hiatus, kein Hiatus ohne Abhebung. Individuelle Erscheinung und Typus bzw. Formidee heben sich voneinander ab und können nur vor dem Hintergrund des jeweils anderen bzw. in ihrer notwendigen Verbindung ins Sein treten. Das Allgemeine wäre bedeutungslos ohne die Besonderungen, und sondern lässt sich alles einzelne nur vor dem Hintergrund des Allgemeinen, von dem sich die jeweilige Individualität abhebt und ohne die es gar nicht als solche bestimmbar wäre. Insofern ›ist‹ das Allgemeine (der Typus) nicht, sondern ›gilt‹ nur als Sammeleinheit für die Besonderungen, die sich unter ihr zusammenfassen lassen. Ähnlich ist es mit Leben und Tod. Zwischen ihnen klafft eine Lücke, aber ihre integrale Bezogenheit in Abhebung voneinander lässt sie zur Gegebenheit kommen oder ›ins Sein treten‹, auch wenn es schwerfällt zu sagen, der Tod sei in irgendeiner Weise. In der Tat ist er nicht ohne das Leben – und umgekehrt. Jedoch lässt sich von ihm ebensowenig wie von der Formidee sagen, was sein Sein ohne Ansehung des antagonistisch-komplementären Moments auszeichnet. Wir wissen aber von der Formidee, d. h. vom Typus, dass er sich in den Individuen konkretisiert. Und diese verkörpern den Typus, ohne den sie ihre Individualität nicht ausprägen könnten. Könnte man Michelangelo nicht einordnen in das allgemeine Bild vom Künstlertum, zumal vom ingeniösen Künstler der Renaissance, dann würde man seine individuelle Ausprägung nicht erfassen. Gerade der Hiatus zwischen dem genialen einzigartigen Individuum und dem allgemeinen Typus ermöglicht sowohl die Sonderung des ersten als auch die Verallgemeinerung dessen, wofür es steht. Ähnlich der Bezug zwischen Leben und Tod. Stünde das Leben nicht in der festen hiatusgesetzlichen Beziehung zum Tod, dann könnte es sich in seiner Lebendigkeit nicht von ihm abheben, um als solches zu erscheinen, d. h. zu sein. Analog zur Formidee kann vom Tod gesagt werden: er ist nicht, er hat seine Stellung bzw. Funktion überhaupt nur in der Konstellation mit dem Leben. Nicht das jeweilige Moment darin hat den Primat, sondern der Bezug beider Momente ist das Apriori. Die Sinngeltung resultiert aus dem Bezug, und zwar gerade durch die Abhebung des einen Moments vom jeweils anderen. Sinnvoll vom Leben zu sprechen, heißt, die zeitlichen 181 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

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Bestimmungen und die darin wurzelnden Bedeutungen zu thematisieren; 305 das geht aber nur, wenn man das andere des Lebens, den Tod, in seinem Bezug zum Leben nicht außer Acht lässt. Das kann mehr oder weniger explizit geschehen. Diesen Bezug jedoch zu suspendieren, hätte zur Folge, dass das Leben in seiner Eigenart aus dem Blickfeld geriete und ihm völlig andere Eigenschaften bzw. Merkmale zugesprochen werden müssten, die es zu etwas anderem machten, als es in der Verbindung mit dem anderen des Lebens, dem Tod, ist; denn die Kategorien der Bedeutsamkeit und Bedeutung, von Wert und Zweck 306 fielen mit dem Verlust der Zeitbestimmtheit weg. Der »Eigenwert des Momentes« 307 könnte nicht mehr erlebt werden. Jorge Luis Borges findet dafür ein Bild; er schildert einen von Unsterblichen gebauten Palast, der den »Eindruck von Schrankenlosigkeit, von Schroffheit, von vertrackter Sinnlosigkeit« 308 macht. Wo sich das eine von einem anderen nicht abheben kann, zerstreut sich die Bedeutung, und an die Stelle der Frage nach dem Sinn tritt Verwirrung. Es ist wie das Herumirren in einer endlosen Sandwüste, die einem keine Anhalts- und Orientierungspunkte bietet. Die Verkörperung überhaupt hebt sich ab von der Entkörperung überhaupt, d. h. von jenem qualifizierten entkörperten Nichts, von dem oben die Rede war. Da der Bezug zwischen beiden das Apriori ist, resultiert die Sinngeltung der Verkörperungen aus dieser Synthesis, und das Entkörpern ist die Bedingung der Möglichkeit des Verkörperns, dessen Gliederungsmedium. Das wurde bereits gesagt. Aber wie soll man sich das konkret vorstellen? Ist das nur eine aus der Struktur heraus erschlichene Konstruktion, oder gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Beschreibung zutrifft? An dieser Stelle kommt zu Hilfe, dass der Vorgang bis in die alltäglichen Verhaltungen, Handlungen und Gestaltungsweisen hineinwirkt. Am deutlichsten macht er sich am Urbild des Verkörperns bemerkbar, beim Schauspieler. Es ist der Schauspieler und damit jeder individuelle Mensch selbst, der ein Verkörpern als Entkörpern stets durchzuführen gezwungen ist – und es sowohl in schöpferische Akte umzusetzen weiß als auch daran zu scheitern droht –, um mit seiner ganzen Person eine Rollenfigur, auch, wie Löwith gezeigt hat, die des 305 306 307 308

Vgl. Dilthey 1981, 237, 245. Ebd., 244 f. Ebd., 245. Borges 1970, 13.

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Mitmenschen, zu verlebendigen und dabei sein Selbst – mit allem, was an diesem unartikuliert bleibt und bloß mitschwingt – den Hintergrund bilden zu lassen, auf dem die Figur sichtbar wird. Und es ist geradezu das Spezifikum der menschlichen Lebendigkeit, sich in der hier bezeichneten Weise, d. h. als ein Selbst, das sich in seinen Rollen und ›Masken‹ zeigt, gleichsam ›ausprobiert‹ und – spielerisch und ernsthaft zugleich, zumal Selbstdistanz einübend – zur Persönlichkeit reift, ins Werk zu setzen und damit allererst zu sein. In der Erscheinung dieses lebendigen Seins, des Schauspielers als Menschendarsteller und des Menschen als Schauspieler, steckt verborgen die (bewusst intendierte oder implizit beanspruchte) Geltung als dasjenige Nichts, das die conditio sine qua non des Menschseins ist, gleichsam dessen entkörperter Zustand, aus dem mit der verkörpernd-entkörpernden Verlebendigung das Sein gewonnen werden muss, das Sein des Menschenlebens, das zugleich ein menschliches Leben ist – geschöpft aus dem qualifizierten Nichts in wechselseitiger Auffassung der Einzelnen von sich nicht als ›Naturobjekten‹, 309 sondern als Gliedern der Mitwelt, als Personen, die sich reziprok in ihrem Sein bestätigen, indem sie sich als solche Geltung zusprechen, d. h. Sinn geben. Husserl bezeichnet diese Art von Auffassung, die sich von der Dingauffassung kategorial unterscheidet und »nicht innerhalb der physischen Einstellung zu finden ist« 310, als »Geistesapperzeption«. 311 Sie ist ineins Artikulation des Sinns (auf seiten des wahrgenommenen Leibes) und Sinngebung (auf seiten des wahrnehmenden Gegenübers, das auch jedes Individuum in Bezug auf sich selbst sein kann). 312 Sobald man zu einem Zugestehen, Zusprechen, Gewähren dieser Geltung auffordern oder zwingen muss, verliert sie ihren Gehalt. Damit ist angezeigt, dass diese Geltung, wie erläutert, nicht ist als etwas, das einfach da ist, sie ist kein Gegebenes, sondern nichts, allerdings ein qualifiziertes Nichts, aus dem in spontaner Lebendigkeit und in der Einstellung der ›Menschenauffassung‹ das Sein des Menschen in wechselseitiger, frei übernommener, aber unausdrücklicher, d. h. nicht eigens in einem explizit performativen Akt vollzogener Bestätigung hervorgeht. 313

309 310 311 312 313

Vgl. Husserl 1969, 243. Ebd., 241. Ebd., 242. Vgl. ebd., 241. Zur dialogischen Kategorie der Bestätigung vgl. Buber 1962.

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So bildet das qualifizierte Nichts der Geltung den Hintergrund des menschlichen Seinkönnens und, dieses darstellend, der schauspielerischen Selbstartikulation in überzeugenden, den Geltungsanspruch einlösenden Rollen; das wird sinnfällig zum einen in Reden wie ›er ist der Rolle gerecht geworden‹ oder ›er ist aus der Rolle gefallen‹ und zum anderen in der gängigen anthropologischen Sentenz, der Mensch sei oder lebe nicht ›nur‹, sondern habe in einer bestimmten Weise zu sein, indem er sein Leben führt. Die Geltung, die eigentlich nicht ›ist‹, sondern ein Sollen und geradezu ein in der Logik des Menschseins liegendes, in freier Einsicht zu eigen gemachtes Müssen enthält, tritt in den Vordergrund und drängt sich als Frage bzw. Rückfrage an den Handelnden auf, sobald dieses Seinkönnen verfehlt wird, sei es in falschen Identifikationen oder Mängeln in der Persönlichkeitsbildung, etwa wenn der individuelle Mensch den eigenen Ansprüchen intellektueller oder moralischer Art nicht gerecht wird und die Verantwortung dafür sich selbst zurechnet. Die Vorzeichnung von Sinn in diesem qualifizierten Nichts der Geltung ist nicht nur eine intellektuelle und erlegt notwendig dem individuellen Menschen wie der Menschheit überhaupt die sozialkognitiven Akte der Identifikation bzw. Personifikation auf, sondern immer auch eine moralische aus dem einfachen Grund, weil sie kommunikativ-dialogisch vermittelt ist – Schamhaftigkeit bzw. Scheu und Würde leiten sich ebenso notwendig davon ab, sie sind Geltungsphänomene und in den Bezug zwischen mir und den anderen, mir und mir als einem anderen eingelagert, sie unterliegen den Regeln des dualen Modus. So ist es die dem dualen Modus zugehörige Mitwelt oder WirSphäre des Geistes, die sich als Ursprungsquelle dieser Sinngeltung erweist; schärfer: Geist, Sinn, Geltung, Mitwelt sind gleichursprünglich. Sie sind, wie bereits erörtert, die Leere, das ›irreale‹ Nichts im Unterschied zum ›realen‹ Sein, aus dem das hervorgeht, was wir ›Menschenwelt‹, ›Menschheit‹ und ›Menschlichkeit‹ nennen. Sie erscheinen nicht wie irgendein Seiendes, sondern müssen verkörpert werden. Sie manifestieren sich im lebendigen Vollzug des menschlichen Lebens und konkretisieren sich in Situationen, deren Kontexte historisch und kulturell so verschieden sind, wie es jene Lebendigkeit verbürgt und zulässt. (Nebenbei: Das kommunikative und als transzendental einzustufende Sinn-Apriori hat besonders die Diskursethik von Apel und Habermas eindrucksvoll herausgearbeitet, allerdings lediglich auf die argumentativ ausgerichteten Sprach- bzw. Diskursregeln bezogen. Es ist aber mehr. Es ist das Apriori des Lebenssinns 184 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Sinngeltung und Sinn-Apriori

unter Einbeziehung der Entkörperung des Lebens im Tod; es bedingt die möglichen Akte des Verkörperns und ineins damit die zugehörigen möglichen ›Akte‹ des Entkörperns.) Wie steht es nun mit der Sprache? Der sprachliche Ausdruck hebt sich von der Sache ab, die in ihm erfasst werden soll, und das Viele, das an der Sache ungesagt bleibt, bildet den Hintergrund für die Abhebungsrelation. 314 Auf der Ebene der Sprache wird etwas offenbar, das auf den Ebenen ›darunter‹ noch undeutlich bleibt. Allgemein lässt es sich so formulieren: Der Abhebungshintergrund des Verkörperten ist das, was (aktuell) nicht verkörpert ist, gerade weil der Akt des Verkörperns auswählt, beschneidet, weglässt durch Artikulieren, Gliedern, Ordnen. Und das nicht Verkörperte, d. h. das Entkörperte, steht eben außerhalb dieser Artikulation, macht aber gerade deshalb die Ordnung zu dem, was sie ist, und ermöglicht durch die ›leeren Stellen‹ oder ›Zwischenräume‹ die Gliederung 315 und damit Ausdruck und Geltung von Sinn. Wie in Mimik, Gestik, Haltung und leiblicher Bewegung neben dem Intendierten immer noch anderes implizit angezeigt wird, angezeigt allerdings nur in seinem Bezug zum Intendierten, kann man im Bereich der Sprache versuchen, dem Ungesagten, selbst dem (vermeintlich oder prinzipiell) Unsagbaren doch Worte zu verleihen, so in Literatur und Poesie. Dabei entstehen neue oder anders gesetzte Zwischenräume, man ›liest zwischen den Zeilen‹, man wird aufmerksam darauf und versteht das, was gerade durch das Entkörperte, die ›leere Stelle‹, ›verkörpert‹ wird. Oder man ›übersetzt‹ das sprachliche Bild, die Metapher, die Allegorie, die das Entkörperte ›vertreten‹. Verstehen lässt es sich aber nur durch den Bezug auf die expliziten Verkörperungen, das ›wörtlich‹ Gesagte; die Voraussetzung für solches Sinn-Geben und Sinn-Verstehen ist die Abhebungsrelation zwischen dem Gesagten und Ungesagten, das mitklingt. Und da es die Sprache ist, in der sich auch alles andere, was zunächst, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, nicht versprachlicht worden ist, der Möglichkeit nach artikuliert, rückt auch der Versuch in den Bereich des Möglichen, das überhaupt außerhalb der artikulierten Ordnung des Verkörperns Liegende in Worte zu fassen bzw. in den Bezug zwischen dem Artikulierten und dem Nichtartikulierten zu stellen, und zwar in einer Weise, in der selbst das, was gerade 314 315

Vgl. Plessner 2019, 64. Vgl. Laotse, oben, 79.

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durch explizite Artikulation das ihm Wesentliche und damit seine Sinngeltung verlöre, so dass es eben grundsätzlich – als das Rätselhafte – nicht artikulierbar ist, innerhalb dieses Bezugs eine solche Stelle angewiesen bekommt, dass es in der Verkörperung, in deren Form, Stil, Rhythmus, Klang etc., seinem Wesen nach angemessen entkörpert bleibt bzw. sein Entkörpern im Verkörpern ›ausgedrückt‹ werden kann, es gleichsam darin mitschwingt, ohne dass es sich zeigen oder darstellen muss. Letzteres eröffnet also die Option, dem Bezug zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren eine entkörpernde Verkörperung zu entlocken, und einen Zugang zu den Fragen, die dem metaphysischen Bedürfnis einen Inhalt geben und sich um das Unbedingte in der Reihe der Bedingungen (Kant), das Mysterium, das Numinose, das Dasein überhaupt ranken.

3.

Entkörperung und Verkörperung ›im Kleinen‹ und ›im Großen‹

Die metaphysischen Fragen kreisen um den Bezug von Leben und Tod, weil in ihm das Rätsel seine entscheidende Pointe hat. Religion und Philosophie versuchen in immer neuen Anläufen, diese Pointe auszudeuten und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die vom Rätselsteller geknüpft worden ist. Wer das ist, wissen wir nicht, wir wissen nur, dass es die Konstellation des menschlichen Lebens in der ihm fremd-vertrauten Welt ist, die die Fragen aufwirft (wie sie z. B. Dilthey formuliert hat). Die gegenstrebige Doublette von Verkörpern und Entkörpern ist in den Bezug des Lebens zum Tod eingelassen. Die Verkörperungen verleihen der menschlichen Lebendigkeit gerade in ihrer Relation zur Entkörperung Konturen, und die Sinngeltung der Verkörperungen ist offensichtlich, vom Tod als Lebensende aus gesehen, zeitlich bestimmt. Eine endlose Zeit würde die Konturen der Lebendigkeit unscharf machen und die Horizonte des Lebens und seiner ›Abschnitte‹ verschwimmen lassen. Der Tod tritt als ›Regent‹ der Lebenszeit des Menschen auf und damit, mathematisch gesagt, als Nullpunkt des Koordinatensystems möglicher Geltungen. Er ›verkörpert‹ in seinem entkörperten ›Zustand‹ das, was unter Redewendungen wie ›carpe diem‹ und ›mit der Zeit haushalten‹ fällt, sowohl das, was wir in Begriffen wie (günstiger oder entscheidender) Moment, (richtiger oder falscher) Zeitpunkt, kairos, (verpasste oder beim Schopf ergriffene) 186 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Entkörperung und Verkörperung ›im Kleinen‹ und ›im Großen‹

Gelegenheit, Augenblick, Wiederholung, Erinnerung oder Ausblick, auch Endgültigkeit zu fassen suchen, als auch das, was unserer Vorstellung von Ewigkeit wie auch Zeitlosigkeit zugrundeliegt. Denn Zeit und Zeitlichkeit des Lebens, seine Vergänglichkeit und Endlichkeit, können sich nur abheben und in ihrer Eigenart in den Blick kommen vor dem Hintergrund dessen, was außerhalb ihrer liegt: das nunc stans der Ewigkeit ohne jede Zeitbestimmung; dafür, dass uns diese Perspektive möglich ist, scheint die unbestimmte und unbestimmbare Zeit des Todes (nicht die seines Eintrittszeitpunktes), seine Zeitlosigkeit, eine Voraussetzung zu sein. 316 In diesem Konnex von Tod als Entkörperung und Ewigkeit als Negation von Vergänglichkeit liegt ein Hauptmotiv zur Bereitschaft und Fähigkeit des individuellen Menschen, sein Verkörpern als Entkörpern ›durchzuführen‹ und einzuüben, sei es in Meditation oder Entsagung, sei es in Selbstüberwindung durch Auflösung von Bindungen oder grenzenloser Nächstenliebe. Denn mehr oder weniger deutlich ist es ihm, dass er damit zumindest den Versuch wagen kann, Zeit und Vergänglichkeit zu überlisten und dem, was er für die Ewigkeit (das Unvergängliche, das Jenseitige der Welt etc.) hält, näherzukommen. Es hört sich wohlfeil und abstrakt an, der Mensch müsse bereit sein, das Verkörpern als Entkörpern durchzuführen, ebenso steht es mit dem behaupteten Zusammenhang zwischen Tod, Geltung und Zeit. All das wirkt sich aber nicht nur ›im Großen‹ (B) aus, also in der Relation zum Numinosen und zum Tod als dessen Repräsentanten oder Inbegriff, sondern auch ›im Kleinen‹ (A), in den gewohnten Verlaufsformen des Verkörperns, sowohl des Verleiblichens als auch des Entkörperns. Die Verkörperung-Entkörperung-Relation von Leben und Tod liegt als Leibessynthese allen anderen zugrunde und tönt sie in jener Weise, die wir besonders aus Poesie und Kunst, Philosophie und Religion kennen, die aber auch Sprache und Geschichte prägt sowie – mehr oder weniger offen, eher insgeheim und geradezu verschämt – Wissenschaft und Technik. Diese Leibessynthese ist es, die es, ganz allgemein verstanden, nicht zulässt, das Sein unabhängig vom Nichts in den Blick zu nehmen – das ist schon deshalb nicht möglich, weil alles, was ist, verschwinden, fehlen kann, zu Ende sein wird, stirbt etc. – oder das Nichts abzutun als das, was nicht ist, um es 316 Vgl. Plessner: Über die Beziehung der Zeit zum Tode (1952), IX, 224–262, hier 262.

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gedanklich und begrifflich als nicht weiter bearbeitbar abzulegen. Wie die Leere bzw. das Nichts zwischen den Speichen des Rades in Laotses Spruch ist es ein qualifiziertes Nichts, seine Qualität kommt aus der Relation innerhalb der Synthese. Die folgenden Beispiele beziehen sich auf Regelfälle des alltäglichen Verhaltens und gängiger Einstellungen (A) sowie auf kulturelle Praktiken im Umgang mit Leben und Tod (B). A. Wie sich die Verkörperungs-Entkörperungs-Relation ›im Kleinen‹ auswirkt und die Voraussetzungen für mögliche Geltung schafft bzw. dafür, der Geltung die Grundlagen zu entziehen, kann an einigen Beispielen ersichtlich werden. Dafür eignen sich besonders sprachliche Exempel, da in der Sprache jene Relation in zweiter Potenz ausdrücklich wird. (1) Wir wiederholen sprachlich nicht ständig dasselbe. Wir bemerken, dass es dann seine Bedeutsamkeit vermindert und am Ende seine Bedeutung verliert. Es hat keine Geltung mehr. Also entkörpern wir es bewusst in anderen Verkörperungen. Wir verwenden ähnliche Wörter, variieren den Rhythmus des Sprechens, greifen nicht immer zum gleichen Satzanfang und stellen die Sätze syntaktisch um. (2) Überhaupt sind wir in unserer Rede auf Variationen aus, auch aus Gründen der prätendierten Geltung. Wir sagen dasselbe in anderen Worten. Vieles im alltäglichen Sprechen ist Paraphrasierung der bereits verkörperten Bedeutung. Wir geben ihr eine neue Tönung, indem wir den Ton ändern und die bislang herrschende Bedeutung eines Wortes teilweise oder ganz entkörpern. Das lässt sich sowohl allgemein diachronisch im Sprachwandel nachvollziehen als auch im individuell-biographisch und kontextuell wechselhaften Sprachgebrauch. (3) Wir reden nicht pausenlos und ohne absehbares Ende; und wenn wir es doch tun, bemerken wir bald, dass daran etwas nicht stimmt. Der Raum, den es zum Verkörpern auch im verstehenden Hören braucht, ist dann zugestopft mit einem Zuviel an verkörperter Bedeutung, was einem Zuwenig an verstehbarer Bedeutung gleichkommt; er muss teilweise geleert werden, um für geistige Initiativen sowohl des Hörers als auch des Sprechers Platz zu machen. Das ist ein starker Beleg dafür, dass die Verlebendigung des Geistes auf aktives Entkör-

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pern angewiesen ist. Ohne (qualifizierte) Leere gewinnt das Geistige keine (inhaltliche) Fülle. (4) Wir reden und schweigen zwar im Wechsel, in der Sukzession, dennoch ist das Reden zugleich ein Schweigen über das, was weggelassen oder (bewusst) übergangen wird, und das Schweigen im Zuge des Miteinanderredens oder auch als Pause während eines Vortrags ist sehr häufig ein beredtes, weil das, was zu sagen wäre oder den Erwartungshorizont füllt, nicht gesagt wird oder nicht gesagt werden kann bzw. darf. – Ein analoges Beispiel aus der Musik: Miles Davis äußerte einmal, die Töne, die er nicht spiele, seien viel wichtiger als die gespielten. (5) Wir lechzen geradezu nach Bedeutung und Sinn. In der Sprache zeigt sich das u. a. daran, dass starke und übertriebene Worte gebraucht werden, wenn der versprachlichten Sache selbst gar nicht die unterstellte große Bedeutung zukommt, sondern eine solche durch schlechte Rhetorik und Missbrauch von stilistischen Mitteln erschlichen werden muss. Überhaupt stehen Rhetorik und Stil exemplarisch für das Bestreben des Menschen, Bedeutung zu schaffen, und sei es, indem durch vorsätzliches Abheben, Weglassen, Verzeichnen und Übersteigern Bedeutung wenigstens suggeriert wird. (6) Wir versteifen uns nicht auf eine einzige Art unserer Selbstdarstellung in Rollen. Stattdessen bemühen wir uns, nicht ständig dieselben Körperhaltungen einzunehmen, nicht immer dieselben Gesten auszuführen oder, was schwerer fällt, unsere Mimik nicht einem fixierten Bild zu überlassen oder gewissen Tics Raum zu geben, schon auch deshalb, um nicht mit all dem karikaturenhaft identifiziert zu werden, zumal bestimmte rollentypische Muster bei andauernder Wiederholung ihre Bedeutung, d. h. Wirksamkeit verlieren können; stetige Wiederholungen machen gar einen neurotischen oder psychotischen Eindruck. Auch der Schauspieler versucht, seine Rollenfigur variantenreich zu gestalten; oder er gibt seiner Figur gerade durch wiederholte Gesten die Züge eines Typus, den er dann im Spiel bis zur Karikatur steigern kann. (7) Wir versuchen, nicht in dem Geleisteten ›aufzugehen‹, sondern es soweit zu entkörpern, dass wir ›frei‹ werden für neue Verkörperungen. Wir binden uns nicht in der Weise an unsere Verkörperungen und symbolischen Formen, dass unsere Spontaneität eingeschränkt

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ist. Wir verlieren sogar an Geltung und Wertschätzung bei anderen, wenn wir an immer gleichen Verkörperungen festhalten. (8) Wir beharren in der Regel nicht darauf, dass eine geleistete Verkörperung zeitlich unendlichen Bestand hat, was einem Verzicht auf jeglichen Anschluss für Erweiterungen, An- und Umbauten gleichkäme; wir versuchen eher, eine distanziert-ironische Haltung zu gewinnen. Und wenn das nicht gelingt, steigt das Risiko, sich lächerlich zu machen. Prinzipiell versuchen wir, in unseren Verkörperungen das Ende aller Verkörperung vorwegzunehmen, zumindest unter der Maßgabe, dass wir in guter Erinnerung behalten werden wollen und nicht als jemand, der Schande auf sich gezogen hat und dessen Verkörperungsleistungen beschämend sind. Verabsolutieren wir unsere eigenen Verkörperungen, weil uns jeder Abstand zu diesen und zu uns selbst fehlt, erhöhen wir nicht ihre Geltung, sondern vermindern sie oder vernichten sie gar. (9) Wir wollen zunehmend besser verstehen, ohne alles und jedes bis ins letzte Detail erklärbar machen zu können. Das gilt für das alltägliche wie für das philosophische Bewusstsein und ist ein Signum der Vernunft, das zu ihrer kritischen Selbstbegrenzung gehört. Das Streben danach, alles zu entzaubern, bewegt sich nicht auf vernünftigen Pfaden, weil es Probleme und Rätsel unkritisch gleichsetzt. Und wenn sich diese Tendenz doch breitmacht, suchen wir geradezu nach dem Zauber, der vom Staunenswerten und Unerklärlichen, wissenschaftlich nicht Fassbaren ausgeht. Verstehenkönnen scheint auf das Staunenkönnen angewiesen zu sein. Denn wenn immer schon der Gestus des Erklärens oder Erklärbaren vorherrscht, schrumpft der Horizont des Verstehens und verschwindet am Ende. Die Mühe, sich auf das einzulassen, was ›an den Dingen‹ staunen macht, kann man sich dann ersparen, wenn man sich das Staunen abgewöhnt, weil ohnehin alles physikalisch, chemisch, biologisch oder auch soziologisch und psychologisch im Rahmen empirischer Forschung erklärbar sei. Dann jedoch schieben wir die Entkörperungen ins Dunkel des Unwissens ab, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir von ihm nichts wissen. Im Staunen dagegen scheint uns das Entkörperte im Verkörperten auf. B. Wir staunen, sind verwundert oder erschrocken, wenn in den Gegenständen der Betrachtung die Entkörperung überwiegt. Da ist ›etwas‹, das sich der Verkörperung entzieht. Es scheint jedenfalls ein 190 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

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Sog vom ›Reich der Entkörperung‹ auszugehen und so auch vom Tod als dessen Paradigma. Er fasziniert und schreckt ab. Es kommen ihm also die Merkmale des Numinosen zu. Wir haben respektvolle Scheu vor dem Tod, und er zieht uns gerade in seiner abweisenden Art zugleich an. So versucht man, auch ihn zu verkörpern, etwa in symbolischen Darstellungen. Primär im Umgang mit dem Tod und im versuchten Zugang zu ihm zeigt sich die Verkörperungs-Entkörperungs-Relation ›im Großen‹. Denn der Tod kann als Chiffre für das Numinose schlechthin gelten und für die Gewalt, die von diesem ausgehen kann. Das kann soweit gehen, dass das Töten oder die Todessehnsucht, auch die Nähe zum Tod in extremen Sportarten, den Platz einnehmen, der eigentlich per se der Scheu und der Achtung vor dem Numinosen als dem mysterium tremendum et fascinosum zukommen sollte. Wodurch ist die Möglichkeit bedingt, das Numinose mit dem Tod und dem Töten in bestimmten Praktiken der Gewalt zu verbinden? 317 (1) Das Sakrale oder Numinose, das dem archaischen Menschen, mit einer grandiosen Gewaltförmigkeit über ihn hereinbrechend, ein höheres Sein anzeigte, eine Seins- und Machtfülle mit einer absoluten Geltung, deren Mangel ihm schmerzlich bewusst werden musste, wurde gedeutet als ein Wink Gottes – des höheren Wesens, dem nichts mangelt –, der mit den Mitteln der Natur (z. B. endlose Weite, Stille, gewaltige Größe, konkreter: der brennende Dornbusch, der mit Wolken verhüllte Berg) gegeben wurde. Das göttliche Sein und die Allmacht können schließlich mit der Gewalt selber identifiziert werden; es genügt dann, (in Bild oder Tat, in faszinierter Bewunderung oder in eigener Ausübung) der Gewalt anheimzufallen, um an der Macht des Numinosen teilzuhaben und sich jene Befriedigung zu verschaffen, die in rein abstrakten und durchrationalisierten Lebensbezügen unweigerlich verlorengeht und in der Folge davon das Bewusstsein des Seins- bzw. Geltungsmangels und der Ohnmacht noch steigert. Und diese Gewalt wird dem Täter als vollkommen, als Ausübung absoluter Macht und endgültige Überwindung eigener Ohnmacht erscheinen, wenn er sie in totaler Manier ausüben kann, um über Leben und Tod des anderen zu verfügen. Das Töten wird zum

317 Vgl. zum Folgenden Girard 19993; Popitz 19922; Breun 2014b, 204 f.; zum Gewaltbegriff überhaupt: Heitmeyer, Soeffner (Hg.) 2004.

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Signum der uneingeschränkten Selbstverkörperung; die Entkörperung bleibt das Schicksal des anderen, der getötet wird. (2) Eine andere Möglichkeit, das Numinose, das der Tod repräsentiert, vermeintlich zu verkörpern, ist wohl in der Todessehnsucht und dem Drang zur Todesnähe zu sehen. Man glaubt, dass sich der Tod und mit ihm das Numinose in dem Gefühl verkörpert, das sich angesichts seiner Nähe einstellt, eben jenem Affekt, der sich zusammensetzt aus Angst (›Todesfurcht‹) und Faszination (für die Freuds ›Todestrieb‹ stehen kann). In Wahrheit geht es dabei jedoch darum, ›das Leben‹ zu ›spüren‹, es ›intensiver‹ werden zu lassen, gerade indem es sich vom Tod abheben soll. Was also angestrebt wird, ist eher eine Verkörperung der individuellen Lebendigkeit durch eine zumindest vorgestellte weitgehende Entkörperung des als etwas Allgemeines verstandenen Lebens, damit sich schärfere Abhebungskonturen abzeichnen können. In solcher Steigerung der Lebendigkeit glaubt man, den ›Sinn des Lebens‹ gleichsam einfangen zu können. Im Verhältnis zum Numinosen macht sich die Relation zur Entkörperung bemerkbar, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich der Sinn bzw. die Sinnsuche, die vom metaphysischen Bedürfnis veranlasst ist, überhaupt an die spezifische Verkörperung-Entkörperungs-Form des Numinosen in Gestalt des Todes und seiner ›Überwindung‹ heften kann. Aber welche Optionen gibt es für diese Sinnsuche und das Konkretisieren der Sinngeltung, die sich nicht in falsch gewählten Risiken verzetteln und auf Irrwegen verlieren?

4.

Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren

Die metaphysischen Fragen zielen auf das, was sich der Artikulation entzieht. Es ist das Rätselhafte, das Mysterium, das Numinose. Andererseits sind diese Fragen da und artikulieren damit etwas, dem keine Verkörperung entspricht. Es strahlt jedoch atmosphärisch in einer Weise aus, dass es vom Leib als ›ganzheitlichem‹ Sinnesorgan (sensus communis) mittels der Funktion des dual-syntagmatischen Modus der Verkörperung, ineins mit deren Gegenzug im Enkörpern, doch aufgefasst werden kann. Insofern ist der Leib das Organ des Numinosen bzw. der Auffassung des Numinosen. In solcher Auffas192 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren

sung kann sogar der Ursprung des Bedeutens als eines Unterscheidens gesucht werden, wie Cassirer dies getan hat, indem er diesen Vorgang an einer »Ur-Teilung« 318 festmacht, nämlich der räumlich und zeitlich wirksamen Absonderung des ›Heiligen‹, ›Numinosen‹, ›mysterium tremendum et fascinosum‹, vom ›profanen‹, gleichförmigen Dasein. 319 Zugleich wurzelt darin die Sprache bzw. das Sprechen als deiktische Geste, die aus dem ›staunenden‹ 320 Sondern durch Hinzeigen und aufmerksamen Hinsehen (auf das Abgesonderte und damit Besondere) hervorgeht. Das mag noch in den Bereich des Spekulativen abgeschoben werden. Es bleibt aber der unleugbare Sachverhalt, dass der Leib Atmosphären wahrnimmt – ›spürt‹, wie es in der Regel heißt und nicht selten unter Verlust der Begriffsschärfe für zu weit gehende psychologistische Interpretationen in Beschlag genommen wird. Abgesehen davon: auch wenn man kaum ein Gespür für atmosphärische Nuancen hat, kann man sich der Atmosphäre des Numinosen da, wo sie real sich ausbreitet, nicht entziehen. Es wurde bereits auf Rudolf Otto hingewiesen, der u. a. die Leere, das Dunkel, die Stille, das Schweigen und die majestas als Anzeichen bzw. Merkmale und »Ausdrucksmittel« 321 des Numinosen erörtert. Das kennt man aus der natürlichen Umgebung, etwa angesichts hoher, zerklüfteter oder majestätisch anmutender Berge, von ›endlosen‹ Wüsten und Wasserflächen, von der ›absoluten‹ Stille eines Waldes. Darüberhinaus werden numinose Atmosphären bewusst und in reflexiver Einstellung mit der Intention, eine entsprechende Wirkung hervorzubringen, gestaltet, räumlich etwa in Kathedralen, zeitlich in rituellen Prozessen, farblich in der Malerei, z. B. bei Mark Rothko; und sie können sich insbesondere im Klang einschließlich seinem Gegenzug, dem Ab- und Verklingen, nicht nur der Musik, sondern auch der Sprache, z. B. auf der Bühne, entfalten. Im Klang verdichtet sich die Bedeutung, sowohl der thematische Sinn, der sich in der Aufführung eines Musikstücks manifestiert, als auch die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung. Dazu gehören konstitutiv die Pausen und ›leeren‹ Zeitabschnitte, in der Musik die Stille vor dem Einsatz und nach dem Abklingen, das Schweigen an Anfang und Ende des Sprechens, überdies die tonalen Bedingungen im Hall und Nachhallen des Klangs. 318 319 320 321

Cassirer: PsF 2, 1994, 90. Vgl. ebd., 94, 99. Vgl. ebd., 99. Otto 2004, 79.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

Sind sie falsch gesetzt oder werden sie durch einen ›profanen‹, d. h. die spezifische Atmosphäre durchkreuzenden Eingriff oder Einschlag gestört, zieht sich das Numinose zurück, gerade dann, wenn es als Spur im Affekt intendiert worden war, aber auch dann, wenn es sich unversehens und ein Staunen auslösend von sich her ›gezeigt‹ hatte. Diese syntagmatischen Strukturen, die den Leib und die Welt gliedern, verweisen auf das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren. Der Leib als Ganzes wird zum Syntagma, das die syntaktischen Rhythmisierungen des Ganzen von Mensch und Welt einschließlich der diese durch Überwindung des ›Klebens am Körper‹ transzendierenden Bewegung, Entwicklung, Gestaltung sinngebend bestimmt. Die Sprache als Ganzes, als Selbstgebung des dualen Modus, wird zum Syntagma, das, nun auf einer höheren Stufe, die syntaktischen Rhythmisierungen der ausdrücklichen Artikulation des Ganzen von Mensch und Welt sinngebend bestimmt, und auch hier ist eingeschlossen deren Transzendierung, indem die Artikulation das ›Kleben‹ am Ausdrucksmittel, an Laut und Schrift, überwindet, sich vom Sprachkorpus löst und diesen als Sprungbrett nimmt, um sich von ihm abzuheben – in den Möglichkeiten metasprachlicher Betrachtung, im schweigenden Gestaltwerdenlassen dessen, was sich dem direkten sprachlichen Zugriff entzieht. Es wurde bereits darauf hingewiesen, 322 dass es ein konstitutiver Zug der Sprache ist, sich vom ›Kleben am Körper‹ zu befreien. Nur dann kann zum einen die Artikulation gelingen, die mit syntaktischsemantischen Mitteln von der zu engen Bindung an direkte, materiell gegebene Anschauung entlastet wird, um sinngebend tätig werden zu können. Zum anderen, so hieß es, schafft Sprache mit solcher Befreiung und mit ihren eigenen Mitteln eine neue Art von Anschaulichkeit, eine ›geistige Anschauung‹, in der, durch das Sprachmaterial, den Klang- oder Schrift-Körper der Sprache hindurch, die in Sprache gefasste gegenständliche Welt transparent wird auf das hin, was man den ›Gesamtsinn‹ 323 dessen bezeichnen kann, was Sprache überhaupt bis hin zu ihrem Verstummen im Ansichtigwerden des ›Ganzen‹ darzustellen fähig ist. Dieser seinerseits nur schwerlich in Worte zu fassende Sachverhalt kann nun etwas erhellt werden. Ein Gedanke Stenzels aus seinen sprachphilosophischen Überlegun322 323

Vgl. oben, 114. Vgl. Stenzel 1964, 53.

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Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren

gen kann auf den hier in Frage stehenden Vorgang bezogen werden. An dieser Stelle, wo es um die Auffassung und mögliche oder unmögliche sprachliche Artikulation des Ganzen als eines Rätsels und Mysteriums geht, tritt nämlich das ein, was Stenzel als »Sinndruck« 324 bezeichnet hat. Es sei, so Stenzel, »der zusammenfügende Druck des Gesamtsinnes« 325 ein der Sprache ›fundamentales Phänomen‹, 326 das die Entleerung der Bedeutung von Anschauung veranlasse, um die syntaktisch-semantischen Funktionen für die syntagmatische Sinngebung ausüben zu können (Stenzels oben erwähntes Beispiel ist das Suffix -heit). Dieses Paradigma für eine entkörpernde Tätigkeit zum Zwecke des Versprachlichens lässt sich analogisieren für den Zugang zum Numinosen. Der Sinndruck, der von der Rätselhaftigkeit des Daseins und der numinosen Gestalt des Todes ausgeht, ist gewaltig, viel heftiger noch als bei der alltäglichen Verwendung der Spracheinheiten, die für den Ausdruck des Sinns gefügig zu machen sind. Er zwingt die auseinanderdriftenden Bewegungen und Richtungen der Lebendigkeit und des Lebensverlaufs regelrecht zusammen, und zwar so, dass das Individuum, das sein Leben zu führen hat, entweder dem Druck auszuweichen sucht, etwa durch Verdrängen, Betriebsamkeit, Genussstreben etc., oder ihn produktiv aufnimmt, um ihn als Antriebskraft für die Verwirklichung des Geistes zu nutzen, d. h. für die Aufgaben, die einem Lebewesen gestellt sind, dem es nicht vergönnt ist, ›einfach‹ zu leben, instinktgeleitet und ohne den das Denken induzierenden Aufschub der geistig-sachlichen Distanz, sondern das aus seiner Verwurzelung im Boden der Mitwelt, und das heißt aus der Distanz heraus, eben diesen Boden, um im Bild zu bleiben, beackern und befruchten, die Sphäre der Mitwelt verlebendigen muss, mit allem, was die Verkörperungsmodi in ihren je verschiedenen Bereichen – auf der Basis des Lernens und Einübens von Musik und Tanz über Mythos und Religion bis hin zu Wissenschaft und Sprache – zulassen, und zwar im rechten Verhältnis zum Gegenzug der Entkörperung, denn in diesem Verhältnis ist der Gesamtsinn repräsentiert, der letztlich den Sinndruck ausübt. Wüssten wir nicht um den Tod, auch nicht um Verlust und Verschwinden überhaupt, dann läge dieser Druck nicht auf unserer gesamten Existenz. Das alte Wort von der Bildung und Geistes324 325 326

Ebd., 52. Ebd., 53. Vgl. ebd.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

bildung meint genau diesen produktiven und die Lebensführung leitenden Umgang mit dem Zwang zur Sinngebung. (Der Ersatz des Wortes ›Bildung‹ durch ›Kompetenz‹ ist ein Indiz für die mehr oder weniger bewusst intendierte Mechanisierung des Geistes. Es wäre eine lohnende Aufgabe, den Wandel der Sprache einmal daraufhin zu betrachten, wie technologisch-bürokratische Worthülsen nach und nach an die Stelle von Wörtern treten, die auf einen geistigen Inhalt zielten bzw. diesen ausdrückten.) Auch der im metaphysischen Fragenkomplex gesuchte Zugang zum Numinosen, zu dem, wovon wir keine theoretische Erkenntnis haben können, das uns aber weder affektiv noch kognitiv loslässt, wird durch die Entleerung der Bedeutung von Anschauung möglich – z. T. und paradoxerweise mit den Mitteln der Anschauung (paradox wie der von Kleist geschilderte Vorgang des Erzeugens von Wohlklang zur Darstellung des Gedankens), man denke hier an den indischen und heute vor allem aus dem tibetischen Lamaismus bekannten Tantrismus, das Arbeiten und Meditieren mit Mandalas, Mantras, Körperbewegungen etc. –, um die syntaktisch-semantischen Funktionen für die syntagmatische Sinngebung auszuüben, und zwar wiederum mittels des Leibes. Die Bedeutung all dessen, was Welt und ihre Gegenstände sind, muss, so das Bestreben, von Anschauung entleert werden, am Ende aller Entkörperung zeigt sich, gleichsam in geistiger Anschauung, der ›Gesamtsinn‹, dessen Druck zu solcher Entleerung zwingt. Der Leib wird zum Syntagma, vermittelt über seine ›syntaktisch-semantischen Funktionen‹, die z. B. in der Meditation, aber auch in der Sprache zum Tragen kommen. Das entkörperte Numinose manifestiert sich dann im Verkörpern, etwa als Leere in der buddhistischen Meditation oder als Schweigen im Meditieren mit sprachlichen Elementen des Sanskrit. So erweist sich die Entkörperung nicht nur im Alltag des Handelns, Sprechens und Gestaltens als Gliederungsmedium der Verkörperungen, d. h. des ›Realitätsbildes‹, sondern gerade auch in Bezug auf die leibliche Auffassung des Numinosen. Das Reich der Verkörperung findet seine Quellen, aus denen Sinn und Bedeutung sprudeln, im Reich der Entkörperung und kommt mit ihm zur Gegebenheit wie dieses sich ›enthüllt‹ im entkörpernden Verkörpern des Leer- und Stillwerdens. Letzteres ist geradezu der Inbegriff von ›glückseliger‹ Ruhe, wie sie sich auch um die majestas etwa eines Berges oder einer Kathedrale ausbreitet. Das ist der Grund dafür, dass der Mensch sich glücklich fühlt, 196 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Das Verhältnis zwischen dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren

wenn er zur Ruhe kommt – ein äußerst seltener Zustand, da er sich in der Regel auch beim ›Ausruhen‹ beschäftigt und ›ablenkt‹ – und am Ende, sofern er ›lebenssatt‹ 327 werden durfte, sogar den Tod begrüßt, der ihn von der Unruhe der Welt und Geschäftigkeit befreit. In der Rede von der ›inneren Ruhe‹ und dem Adjektiv ›lebenssatt‹ liegt nun der ganze Fragenkomplex der Lebensführung in Einheit mit der Frage nach der rechten Einstellung zum Tod, auch als dem Inbegriff des Mysteriums. In der Philosophie Kants, deren tragende Säulen nun einen neuen, die Konturen schärfenden Anstrich erhalten können, ohne die architektonische Statik zu beschädigen, hat sich dieses Mysterium in drei metaphysischen Hauptfragen ausgelegt, und die rechte Lebensführung hat sich, darin philosophischen Grundgedanken der Antike gleichend, als moralische erwiesen. Die metaphysischen Fragen gehen aus der Suche nach dem Unbedingten in der Reihe der Bedingungen hervor und münden in die Einsicht, dass dieses Unbedingte, das sich in den Ideen ausdifferenzierende Absolute, theoretisch zwar keine Bedeutung, keine objektive Realität hat, diese ihm jedoch in praktischer Hinsicht zukommt. Die Moral füllt die Leerstelle der Theorie, die deshalb entsteht, weil hier die Bedeutung von jeglicher Anschauung befreit ist, 328 d. h. die theoretisierenden Verkörperungen und damit einhergehenden Vorstellungen werden vollständig entkörpert, um mit dem so entstandenen qualifizierten Nichts einen festen Boden für eine Moral zu haben, die sich weder in schwärmerischer Eitelkeit noch in spekulativer Skepsis auflöst, sondern an etwas bindet, von dem wir zwar ebenfalls kein theoretisches Wissen haben können, jedoch die unumstößliche Überzeugung von einem Prinzip, dem Sittengesetz, und dem ein sicheres, aus der Vernunft sprießendes Gefühl entspricht, die Achtung. Das erste schreibt vor, das zweite motiviert. Insofern können sie, als qualifiziertes Nichts, das sie jeweils ›sind‹, überhaupt nur sein, wenn ihnen Geltung zugestanden wird.

So die Bibel über Abraham, Gen 25,7–9, und David, 1 Chr 23,1. Vgl. Kant, KpV, A 120 (VII, 187): »Hingegen ist das sittlich-Gute etwas dem Objekte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann […]«; vgl. zu dem daran anschließenden Problem der Unmöglichkeit schematischer Darstellung von Moral in der Urteilskraft ebd., A 125 (190). 327 328

197 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

5.

Die metaphysischen Fragen

Nun liegen die von Kant formulierten metaphysischen Fragen in der Konsequenz einer philosophisch artikulierten Suchbewegung, die eine lange Tradition und bis dahin geführt hat, dass man, da es keine theoretischen Antworten gab und geben kann, die Metaphysik destruieren, abschaffen oder für obsolet erklären möchte. Das ist aber schon deshalb nicht möglich, weil ihr und ihren Fragen die leiblich gebundene Verkörperung-Entkörperungs-Relation noch voraus liegt und auf diese Fragen hinführt. Sie ist die anthropologische Grundstruktur, die sich nicht einfach ausradieren lässt, auch wenn das posthumanistisch suggeriert wird. Kant war derjenige, der die Metaphysik nicht als Theorie weitergesponnen hat, um sie wie ein Spinngewebe über das Leben zu legen; er hat damit einen Freiraum gelassen, um die Ausrichtung des Lebens und der Lebensführung nicht an eine Theorie zu binden und damit in eine bloße Technik der Anwendung zu zwingen, sondern einer freien moralischen Praxis zu unterstellen. Deshalb eignet sich sein Zugang zur Metaphysik, der auf das richtige Fragen setzt und spekulativen Antworten eine Absage erteilt, für die hier beabsichtigte, an die Anthropologie anschließende Artikulation des metaphysischen Bedürfnisses. Wie verhält sich also die anthropologische Grundstruktur der Verkörperung-Entkörperungs-Relation zu Freiheit, Gott und Unsterblichkeit als den drei Ideen, die sich im dreifach Unbedingten verdichten? (1) Freiheit ist die unabdingbare Voraussetzung für die Spontaneität des Anfangens, insbesondere beim Sprechen als einem spezifischen Akt des dual-syntagmatischen Modus. Anders gesagt: das Anfangenkönnen in leiblichen Vollzügen, in Verkörperungen, kulminierend im Sprechen, das individuell immer neu anhebt, ist der Ausweis der Freiheit, auch wenn sich der Leib habitualisiert und das Sprechen an der jeweiligen Grammatik Halt sucht. Die Ausübung der Freiheit gelingt nicht im gesetz- bzw. regellosen Raum, sondern gestaltet den Orientierungsrahmen, an den sie sich bindet, selbst mit; und dieser zunächst entkörperte Rahmen erhält eine moralische Bedeutung, weil er die Freiheit des Anfangenkönnens, des Verkörperns und Artikulierens, sichern muss. Die Regeln bzw. Gesetze wurzeln im dualen Modus, in dem Selbst und Anderer, alle Glieder der Mitwelt in reziproker Resonanz miteinander verknüpft sind, um die geistige Sphäre zu ver198 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die metaphysischen Fragen

lebendigen. Es ist vor allem das Zusammenspiel von Nähe und Distanz, das einer alltäglich praktizierten Moral eine Form gibt, von der auch die inhaltliche Ausgestaltung profitiert. Das führt zu einer Moral des Taktes, von der die Wir-Sphäre jene Gestalt erhält, in der allein sie sich verkörpern kann. 329 Der Taktvolle lässt sich auf die Unvorhersehbarkeit von Situationen ein und wird der Individualität des Anderen gerecht, während Taktlosigkeit von einem Mangel an Geist zeugt, der sich u. a. darin ausdrückt, dass das individuelle Gegenüber mit dem eigenen Maßstab gemessen wird. 330 (2) Gott bzw. das Göttliche erweist sich als Inbegriff des Ganzen, Einen, ›Vollkommenen‹ und ›Vollständigen‹ (dem es an nichts mangelt), das sich im Abbau aller Verkörperungen ›offenbart‹ und in solchen Entkörperungen manifestiert, die sich dem dual-syntagmatischen Modus verdanken. Indirekte Verkörperungen des Göttlichen in Symbolen mit emblematisch-religiöser Bedeutung sind Annäherungen an Vorstellungen vom Numinosen und Übersetzungen des ›numinosen Gefühls‹ in konkrete Anschauungen. Bei den Versuchen, die Verkörperung überhaupt abzubauen und dabei paradoxerweise Verkörperungen wie Rosenkranz, Gebetsformeln oder Bilder zu benutzen, wird der Leib zum Medium der Entkörperung, das je nach Glaubensüberzeugung und Wahl des Weges unterschiedlich zum Einsatz kommen kann, immer aber in stetig praktizierten, den Leib wie den Geist übenden und bildenden Artikulationsprozessen (einer Sache dienend, kontemplativ, meditativ, asketisch, zugewandt in der Einstellung der agape, ›selbstlos‹ handelnd, den ästhetischen und moralischen Geschmack verfeinernd etc.). Solche Prozesse sind immer dual-syntagmatisch strukturiert. Gott bzw. das Göttliche erschließt sich nur in einer im dualen Modus erfolgenden Zuwendung. Das ist der Grund dafür, dass das Göttliche personalisiert werden und als Adressat – im Gebet, in religiöser Versenkung, im Flehen und gar im Fluchen, im Wünschen und Fordern, in Dank und Hader, im Opfern und Feiern etc. – fungieren kann.

329 Vgl. die Erörterungen zu einer Ethik des Taktes bei Plessner: Grenzen der Gemeinschaft (1924), V, 1981, 7–133, bes. das Kapitel Die Logik der Diplomatie. Die Hygiene des Taktes, 94–112, hier 105–112; vgl. zu einer bündigen Bestimmung des Begriffs Breun 2007. 330 Als eine Regel hat Goethe einmal formuliert, die anderen nach ihrem Maßstab, nicht nach dem eigenen zu messen.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

(3) Die Vorstellung der Unsterblichkeit (zumeist der Seele) geht mit Konsequenz daraus hervor, dass der Tod nicht nichts ist, sondern etwas gilt, d. h. dass er ein qualifiziertes Nichts sein muss, ein Nichts, das nicht für sich steht, sondern dessen Leibessynthese mit dem Leben allererst Sinngeltung hervorzubringen vermag. Der Mensch hat sich in seiner Geschichte und in wohl allen Kulturen den Tod nicht als absolutes Ende vorgestellt, sondern rituell, mythisch und gedanklich als Übergang zu etwas Neuem, Anderem eingestuft, an das sich, so die Vorstellung, der Sinn des Lebens und des Lebensendes heften mag. Er stellt sich den Tod selbst dann nicht als Abschluss vor, wenn er sich selbst als rein materielles Konglomerat zu sehen meint. Denn sein Stoff zerfällt und vermischt sich mit dem Stoff der Umgebung, und sei es die Asche, die dem materiellen Kreislauf zugeführt wird; in der Zugehörigkeit zum Wandel der Materie, d. h. zu allem, was ist, mag er dann einen gewissen Trost finden. Oder er stellt wie Jeremy Bentham seinen Leichnam der Wissenschaft für Forschungen zur Verfügung, oder er spendet seine Organe im Bewusstsein, dass sie im Leben eines anderen menschlichen Organismus weiterhin ihre Funktion ausüben. Außerdem neigen gerade solche Menschen, die sich atheistisch dünken oder sich jeden Glaubens entschlagen zu haben meinen, dazu, ihr ›Weiterleben‹ in den Nachkommen oder in ihren Werken sichern zu können. Die Generationenabfolge füllt das ›Nichtsein‹, dem man sich angesichts des Todes ausgeliefert sieht, und gibt dem Nichts eine biologische Qualität. Das qualifizierte Nichts, das eigentlich auf die Verwirklichung des Geistes setzt und auf die Moral einer mit der Entkörperung rechnenden, gar auf diese bauenden Lebensführung verweist, wird dann naturalistisch missverstanden. Und wer auf ein Weiterleben in seinen Werken setzt, identifiziert sich selbst mit dem objektivierten Geist bzw. mit den Gerinnungsprodukten seines symbolischen Formens, verkennt dabei allerdings, dass er sich dann mit etwas gleichsetzt, das nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen sein kann, das zu werden ihm aufgegeben war und das ihn in seiner Entwicklung und in seinen Bildungsbemühungen angetrieben hat. Die sklavische Bindung an eine symbolische Form und zumal an ein bestimmtes Werk, das man selbst geschaffen hat, konterkariert die Grundbedingung, die solches Formen und Schaffen allererst ermöglicht: die Freiheit und Spontaneität des expressiven Anfangenkönnens, der symbolischen Produktivität und Kreativität.

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Die metaphysischen Fragen

Es war Cassirer selbst, der das anzustrebende Ziel der Symbolisierung überhaupt, die »Selbstbefreiung«, 331 näherhin als Befreiung des Menschen von den Fesseln der dinglichen Welt im Durchgang durch deren symbolische Verwandlung beschrieben hat. Schon im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen wagt er eine Formulierung, die auf eine Metaphysik des Lebens verweist: »Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus: es bleibt ebensowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des ›Geistes‹«. 332 Was aber bedeutet es, dass sich das Leben – sowohl das eigene als auch das Leben überhaupt – zur Form des Geistes vollendet? Cassirer setzt den Geist in Anführungszeichen, da ja zu Anfang seines Durchgangs durch die symbolischen Formen noch nicht zureichend geklärt sein kann, was unter ›Geist‹ zu verstehen ist. Diesem zueigen ist, wie sich dann herausstellt, die Tätigkeit des Formens, deren Voraussetzung eine Distanz zwischen dem ›Ich‹ bzw. dem Leibselbst und der ›Welt‹ ist 333 und deren Wirkung Cassirer in den verschiedenen Regionen der Sinngebung vom Mythos bis zum wissenschaftlichen Erkennen erörtert; die Vollendung scheint er zum einen im Produzieren selber zu sehen, in dem sich die Einheit des Geistes ausspricht, die im philosophischen Nachvollzug erkannt und begründet wird, 334 zum anderen in dem Überblick, den sich das Bewusstsein durch die kritische Reflexion des Symbolisierens und seiner Formen verschaffen kann, um den Produkten ihren legitimen Platz anzuweisen, 335 in letzter Konsequenz aus dem Motiv, sich in philosophischer Bewusstheit der moralisch zu verstehenden »Aufgabe der Lebensgestaltung« 336 zu stellen. Cassirer wiederholt im Grunde den Weg, den bereits Kant von seiner vorkritischen Phase (des ›Theoretisierens‹) bis zur Einsicht in den kritischen Standpunkt (mit dem Primat der Moral) zu gehen hatte. Er geht in der Bestimmung des Sinns menschlicher Lebendigkeit von den Versuchen einer theoretischen Fassung sukzessive über in eine moralisch-praktische. Inwiefern lässt sich aber von ›Vollendung‹ Cassirer 1996, 345. Cassirer, PsF 1, 51. 333 Vgl. Cassirer, PsF 3, 322. 334 Vgl. Cassirer, PsF 1, 51 f. 335 Vgl. Cassirer, PsF 1, 14. 336 Cassirer 1998, XII. Cassirers Philosophie ist als ganze von der Orientierung an der Frage danach, was das Menschsein auch im Sinne der Menschlichkeit ausmacht, durchzogen. Vgl. dazu Recki 1997. 331 332

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

reden – theoretisch, praktisch, moralisch? Die Frage bleibt; in ihr bekräftigt sich das metaphysische Interesse an dem beharrenden Rätsel des menschlichen Lebens und der so schwer fassbaren, auf Vergeistigung zielenden Lebendigkeit.

6.

Der metaphysische Sinn der menschlichen Form von Lebendigkeit: Transparenz und Transzendenz

Der Mensch ist auf eine ›Vollendung‹, eine Ganzheit und Vollkommenheit hin entworfen, die er nicht ›haben‹ kann im Sinne einer gesicherten Aneignung. Was folgt daraus? Warum soll es eine lebendige Form dieser auf den ersten Blick unsinnigen Art geben? In den frühen Ritualen und Tänzen treten Menschen als Schauspieler in Rollen auf, die seine Stellung in der Welt und gegenüber dem sie Übersteigenden, ihr Transzendenten, der beeindruckenden und erschütternden Macht des Göttlichen, die man fürchtet und an der man teilhaben will, interpretieren. Der Schamane tritt unter der Maske, persona, eines Gottes auf, der Schauspieler im Theater, zunächst mit ›künstlicher‹ Maske, dann ohne eine solche, aber mit der ›Maske des Gesichts‹, 337 in der Rolle, persona, eines Helden und schließlich eines Alltagsmenschen, eines Jedermann, einer persona ›wie du und ich‹. 338 Bühler gebraucht im Anschluss an Gomperz’ quasi-ontologische Beschreibung der schauspielerischen Position – exemplarisch für Gomperz: der vormals berühmte Bassermann spielt Wallenstein – die Worte »›er ist es und er ist es doch nicht‹«, 339 m. a. W. er verkörpert die Rolle und er entkörpert sich selbst, wobei das ›und‹ das Zugleichsein der beiden Akte angibt; andernfalls wäre 337 Robert Antelme bezeichnet in seinem Bericht von seiner Deportation nach NaziDeutschland das Gesicht als »Maske des Menschen« (1990, 74); vgl. dazu Breun 2006b. 338 Auf die Struktur der Maske hat Nietzsche mehrfach hingewiesen. Vgl. z. B. 19696, Nr. 40, 603 f.: »Alles, was tief ist, liebt die Maske […]. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske […].« Und Nr. 289, 752: »Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.« Mit den in der vorliegenden Untersuchung entwickelten Begriffen: Jede Verkörperung ist auch eine Entkörperung – und umgekehrt, sonst wäre es nicht möglich, von einer verborgenen Philosophie zu reden. 339 Bühler 1999,41; Bühler bezieht sich auf die Semasiologie von Heinrich Gomperz (in der ersten Hälfte des zweiten Bandes zur Weltanschauungslehre, Jena 1908).

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Der metaphysische Sinn der menschlichen Form von Lebendigkeit: Transparenz

Bassermann tatsächlich Wallenstein und würde nicht einmal den Namen Bassermann tragen können, außer Wallenstein käme auf den Gedanken, sich so zu nennen. Auf dieses Zugleichsein (Simultanität) und Ineinander des Verkörperns und Entkörperns ist der Gedankengang immer wieder gestoßen, sowohl bei expressiven Akten überhaupt als auch, in gesteigertem Ausmaß, bei der Sprache. Das Verhalten zu diesem Verhältnis verdichtet sich im Schauspieler, der nicht zufällig ein Sprechkünstler, auch im Sinne einer Kunst der Körpersprache, ist, damit aber auch im Menschen überhaupt, in jedem Menschen, der seine Rollen spielen muss und seine Rolle ›im Leben‹ und ›in der Welt‹ zu finden hat. Die Bedeutung der Rolle, der intendierte Sinn der Verkörperung, wird durch den spielenden Rollenträger hindurch erlebt. 340 Es ist die Durchlässigkeit des Körpers für den intendierten Sinn, die von der simultanen Aktivität des Leibselbst in Relation zu den anderen Leibern, zur kontextuellen Umgebung und zur Welt erzeugt wird, die Durchlässigkeit für das Geistige also und damit für die Befreiung im Prozess der Entwicklung des Selbst. Nochmals die obige Frage in anderem Gewand: Wie ist solche Transparenz mit der Orientierung der Entwicklung an Befreiung bzw. Freiheit möglich? Welche Bedeutung hat das, und wie kann sich darin der Gesamtsinn erfüllen? Und woran liegt es, dass das Entkörpern nicht bedeutungs- und sinnlos ist, die Entkörperung selbst nicht zu nichts führt, sondern in einem Verhältnis zur Verkörperung steht und geradezu als deren Quellgrund angesehen werden kann, zumal als conditio sine qua non der Verkörperung von Ganzheit, Vollkommenheit und Vollendung, die zwar nicht zu ›haben‹ ist, aber dem Vollzug der Lebensführung und Selbstbildung richtungweisend und Impulse gebend voraus liegt? Es muss etwas geben, das der Konkordanz zwischen Körper und Geist sowie den Akkordanzen zwischen der je verschiedenen Stofflichkeit wie Formbarkeit dessen, womit die Sinnesorgane so arbeiten, dass sich darin Sinn herausschälen kann, die Gewähr bietet, dass bei aller Verkörperung, und das heißt Verfestigung und Objektivierung, zugleich jene Transparenz möglich wird, die überdies die Bewegung des Transzendierens, das durch den Körper hindurch über ihn hinaus Gehen, antreibt, und dass zweitens der in diesem Befreiungsprozess 340

Vgl. Bühler 1999, 41.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

enthaltene Sog zum Entkörpern nicht jene Verkörperungsakte mit auflöst, die im Entkörpern so enthalten sein müssen, dass dessen Sinn, das Freiwerden von den falschen Bindungen an alles, was ohnehin dem Zeitstrom anheimfällt, die Bedeutungsentleerung, die Voraussetzung ist für das Gewahrwerden der Bedeutungsfülle des ›Ganzen‹, der Gesamtsinn also, trotz allen ›Abbaus‹ und ›Schwindens‹ immer noch im Leib als Gesamtorgan zur ›Anschauung‹ kommen und ›wahrnehmbar‹ werden kann. Die Akte des Verkörperns in ihrer Relation zu dem je darin mitschwingenden Entkörpern dürfen nicht ›ins Leere laufen‹, wie man das aus Zerstreuungen und sinnentleerten Beschäftigungen kennt, und umgekehrt dürfen sich die ›Akte‹ des Entkörperns nicht selbst in oberflächlichen Darstellungen dementieren, wie etwa in erstarrten religiösen Ritualen, die nur noch um ihrer selbst willen vollzogen werden, nicht aber mehr zur geistigen Anregung der Beteiligten beitragen, die es ihnen ermöglicht, einen Abstand zu allem Gegenständlichen und zu sich selbst zu gewinnen, der befreiend wirkt. Es muss etwas sein, das seinerseits, zum Zwecke der GesamtKonkordanz und deren Ausrichtung auf den Gesamtsinn, trotz seiner Körperlichkeit ›durchscheinend‹ ist, und zugleich, ineins damit, etwas, das trotz seiner Tendenz zum Verflüchtigen ins ›Unendliche‹ fest genug ist, um eine Art Halt zu bieten, etwas, das der Sphäre des Geistes zugehört und doch ›genug‹ an Stoff enthält, um den Wechsel von dem einen Aggregatzustand, dem sinnlich-materiellen, zum anderen, dem geistig-sinngebenden, zu ermöglichen und ihn so zu bewerkstelligen, dass, in den verschiedenen sinnesspezifischen Akkordanzen, das je eine durch das je andere nicht vernichtet wird, sondern seiner ›Funktion‹, der Sinngebung mit der Kulmination im Gesamtsinn, gerecht wird, zumal in der Sprache, die, transzendent strukturiert, wie sie ist, 341 als Expression zweiter Potenz diesem Gesamtsinn, der mit einer Vergeistigung einhergeht, nicht nur dient, sondern ihn in ihren Formen überdies ausdrücklich macht. Es war Humboldt, der diese Bedingung dafür, dass sowohl Körper und Geist insgesamt als auch Stoff und Form, zumal in Bezug auf die Akkordanz im dualen Modus – d. h. die Entsprechung zwischen Laut und Gedanke – als Grundlage des Sprechens, etwas gemeinsam haben, das sie ihren Zweck für die menschliche Lebendigkeit erfüllen lässt, näher bestimmt hat, beiläufig zwar und in jenen riskanten For341

Vgl. oben, 121.

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Der metaphysische Sinn der menschlichen Form von Lebendigkeit: Transparenz

mulierungen, die offen sind für verwegene Spekulationen, jedoch kann in dem hier entwickelten Strukturzusammenhang die richtige Stelle dafür gefunden werden. Humboldt hat den Raum als die Sphäre benannt, in der sich der duale Modus als Realisierung des Verhältnisses zwischen Ich und Du ausbreiten kann, und er hat mit Luft und Licht die ›Stoffe‹ bezeichnet, die mit ihrer ›Form‹ diese Ausbreitung ›medial‹ ermöglichen. 342 Nochmals: das muss in der rechten Weise verstanden werden, ohne ins Esoterische oder in eine vergegenständlichende Sichtweise zu verfallen, in der das Gemeinte, d. h. geistig Intendierte und die geistige Bedeutung Erfüllende, verfälscht wird. Licht und Luft sind die beiden Größen, die trotz ihrer physischen Konsistenz bzw. gerade wegen dieser besonderen Konsistenz in die geistige Sphäre ausstrahlen. Sie sind die Bedingungen dafür, dass sich die Transparenz auf dem Aktionsfeld 343 der menschlichen Lebendigkeit bereits außersprachlich und räumlich darin manifestiert, wie die dauerhafte aufrechte Haltung zu Spezifikationen der äußeren Haltung führt, in der sich die innere Haltung ›entäußert‹, schärfer noch: die doch nichts anderes ist als diese, allerdings deren nach außen gestülpte Form, die das ›Innere‹ in einer erscheinenden und insofern abgeschatteten, symbolisierten Weise anzeigt, so dass die äußere Körperhaltung durchsichtig wird für das Erschauen der inneren; 344 sodann dokumentiert sich diese Transparenz in Gesicht und Mimik, insbesondere im Blick, sprachlich in der Stimme und deren Klang. Haltung, Blick und Klang haben beim Menschen zwar einen je körperlichen Anhaltspunkt, von vornherein jedoch eine geistige Bedeutung. Sie bewegen sich in der Sphäre, die räumlich konturiert und von Licht und Luft durchdrungen ist, in welcher die Verkörperungsweisen des Geistes gleichsam Aufenthalt nehmen können. Das wird im folgenden siebenten Abschnitt anhand der Funktion von Sprache weiter präzisiert. Vgl. oben, 99. Im Folgenden wird von Aktionsfeld die Rede sein, auch wenn zum Spielfeld der menschlichen Lebendigkeit das pathische Element wesentlich gehört; denn gerade auch der Umgang mit dem Pathischen will gelernt und geübt sein, es muss aktiv ein Verhältnis dazu gewonnen werden durch ein produktives Verhalten zur Entkörperung, auch durch ein Wissen um das jederzeit mögliche Entkörpern im Verkörpern. 344 Vgl. Plessner, III, 210. Vgl. auch Zutt 1963, hier: Die innere Haltung, 1–88, Blick und Stimme, 389–405. – Z. B. lassen sich Freude, Zorn oder Niedergeschlagenheit unmittelbar daran ablesen, wie der Körperleib ›sich gibt‹, worauf viele Leibphänomenologen hingewiesen haben. 342 343

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

»Der Sinn des Lebens liegt in der Gestaltung, in der Entwicklung […]«, 345 sagt Dilthey. Die Frage ist dann immer, was bedeutet dieses Gestalten formal-inhaltlich, und woraufhin entwickelt sich das Leben bzw. soll es sich entwickeln? Im Zuge der vorliegenden Erkundungen wurde diese Richtung mit Vergeistigung benannt, und deren formal-inhaltliche Gestaltung wurde in den Rahmen von Verkörpern und Entkörpern gestellt. In diesem Zusammenhang ist die Richtung eindeutig, auch wenn sie inhaltlich je anders ausfällt: niemand wird jemals eine ›Entwicklung‹ wählen, bevorzugen oder anstreben, die ihn und sein Leben, seine alltäglich zu aktivierende Lebendigkeit, seine Spontaneität und Freiheit im Agieren und Reden, beengt, beschwert, verdunkelt oder seine Lebensführung von vornherein und im Vollzug mit dem Siegel der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit ausstattet, so dass die Lebendigkeit umschlägt in Erstarrung. Dagegen ist es allgemein das Bestreben, ob es sich erfüllt oder nicht, weit und offen, leicht und unbeschwert, hell und klar, kurz: lebendig zu werden und zu bleiben, und so sich auch noch während einer Erkrankung zu erhalten, aufrecht etwaigen Widerständen, die Körper und Seele zu schwächen drohen, zu begegnen, sich nicht niederdrücken zu lassen, selbst dann nicht, wenn die Schwächung ins Sterben übergeht, und vor allem: sich nicht kampflos der naheliegenden Vorstellung zu beugen, dass ohnehin alles vergänglich und vergeblich sei. Naheliegend ist diese Vorstellung, weil der Doppelprozess, der die menschliche Lebendigkeit ausmacht, in der eigenen Auffassung sehr schnell einseitig verengt werden kann, denn eine naturalistische oder materialistische Auffassung drängt sich auf, weil sie dem ›Augenschein‹ recht zu geben meint. Das gegenläufige Ineinanderwirken der beiden Momente des Prozesses wird dann reduziert auf den Aspekt, dass ohnehin alles verschwinde, zu Nichts und nichtig werde, und das Nichts der Entkörperung kann nicht als qualifiziertes Nichts in den Gedankenkreis geraten, weil die Sphäre, in der diese Qualifikation – durch Akte wie ›Geltung zusprechen‹, ›die Welt beseitigen‹ durch Lockerung der Bindung an Stoffliches, Symbolisieren durch Bedeutungsentleerung – unter jenem Aspekt in der Tat nichts gilt. Es ist die Aktivität und Funktion des Geistes, der Ausrichtung nach dem Hellen und Klaren, nach ›Licht‹ und ›Luft‹, Gestalt und

345

Dilthey 1981, 245.

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Die Metaphysik der Sprache

Gehalt zu geben, ohne die Ambivalenzen der körperleiblichen Form des Daseins zu leugnen. Kurz gesagt: die menschliche Lebendigkeit hat einen metaphysischen Sinn. Dieser übersteigt das bloß Physische und das Biologische, er wohnt, wie erörtert, der Mitwelt, dem Geist inne.

7.

Die Metaphysik der Sprache

Mit den Konturen des Aktionsfeldes ist der Rahmen für Verkörperungen und Entkörperungen sowie die expressive Form der menschlichen Lebendigkeit vorgezeichnet, die im Ausdruck der Sprache gipfelt; und so ist es kein Zufall, dass sich das, was sich entwickeln und was gestaltet werden soll – der Sinn dieser expressiven Form –, in dem wiederfindet, was eine ›gute‹ – eine sorgfältige, sachgerechte, präzise, luzide, anschauliche und klangbewusste – Sprache und ein ›echtes‹ – ein leichtfüßiges, aber ernstes, ein auf Verständnis zielendes, aber aufrichtiges, an Überzeugung, aber nicht Überredung interessiertes – Gespräch auszeichnet. Die geistige Ausrichtung und der Sinnhorizont des Spiel- bzw. Aktionsfeldes zusammen mit der menschlichen Expressivität zeigen sich besonders in der Poesie und in literarischen Kunstwerken, in der überzeugenden Rede und in der gewinnenden Art der Gesprächsführung, sodann im rechten Schweigen, etwa beim Meditieren und überhaupt bei jeglicher Besinnung, und in dem, was aus Schonung oder aus dem Wissen um das Nichtwissen heraus nicht gesagt oder anders, allegorisch, gesagt wird. Ein Sprechen und Schreiben in solch geistig anregender Form ist Gegenstand der Bewunderung. Es ist selten und wird, so scheint es, kaum noch gepflegt, ein motivierender Zugang wird aus Angst vor Überforderung oder aus Bequemlichkeit von vornherein verschlossen, zumal in Bildung und Unterricht, wo das Technisch-Methodische, das Präsentieren, plakative Darstellen und Schematisieren die Oberhand gewinnt vor dem gründlichen und verstehenden, überdies sprachenübergreifenden Lesen ganzer Texte, dem Vorlesen, dem Vortragen und Einüben von Gedichten sowie dem freien oder regelgebundenen Schreiben, sodann der behutsamen Gesprächsführung und der freien Rede mit der Suche nach dem richtigen Wort, dem passenden Ausdruck und einer Sprechmelodie, die das Sinnverstehen befördert. Schon aufgrund ihrer Stellung zwischen Sinnlichkeit und Sinngebung sowie ihres transzendierenden Zugs drängt die Sprache nicht 207 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

nur nach der rationalen Klarheit und Deutlichkeit, die Descartes in seiner ›Methode‹ anstrebte, sondern sie schafft Metaphern und lebt von ihnen, so dass selbst das argumentativ-diskursive Sprechen nicht ohne sie auskommt. Metaphern erreichen aber nur dann ihren Zweck, wenn sie der Sache, die sie ›übertragen‹, so entsprechen, dass der gemeinte Sinn verstanden, zumal besser verstanden wird als ohne ihre Verwendung. Gelungene Metaphern verweisen außerdem auf das ›überschießende Plus‹, das über die Sprache hinausführt und der Sache selbst zukommt, und zwar so zukommt, dass es zwar nicht direkt artikulierbar ist, aber von der ›Hintergrundstrahlung‹ her, die von der Sache ausgeht, das Bild beleuchtet; sie bringen das, was nicht gesagt werden kann, so ins Spiel, dass ihre eigene Begrenztheit ineins mit ihrer einleuchtenden Wortwahl mitgeliefert wird. Die Sprachbilder zeugen von dem stetigen Hin- und Herfließen zwischen Verkörpern und Entkörpern, zwischen Exponieren im Ausdruck und Zurücknehmen des Ausdrucks, zwischen Bildhaftigkeit und Bildvermeidung, zwischen Aussprechen und Schweigen zum Zwecke des Zur-Sprache-Bringens und In-Worte-Fassens, des Entbergens einer Bedeutung, die ohne die Metapher verborgen bliebe. Das Verblassen von Metaphern, die alltäglich gebraucht werden, dokumentiert den Vorgang der Entkörperung ihrer ›eigentlichen‹ Bedeutung von der Anschauung, einer Bedeutungsentleerung, die mit der Verkörperung einer neuen Bedeutung, einer Bedeutungserfüllung, einhergeht. Dieser Vorgang wird, wie oben erläutert, von dem Sinndruck angestoßen, der vom ›Gesamtsinn‹ dessen ausgeht, was im Meinen den mehr oder weniger deutlichen und in seinen Konturen allererst durch das Ausdrücken des unfertigen Gedankens, auch des noch dunklen Drangs und Gefühls, schärfer sich abzeichnenden Sinnhorizont bildet, der sich überdies mit den Präzisierungen und Verfeinerungen des Ausdrucks, inklusive des vom Sinn getragenen Schweigens und Stillwerdens, erweitert. Kurz: der geistige Sinn der expressiven Lebendigkeit wirkt sich druckvoll aus bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein und zeigt in der Sprache seine Wirksamkeit; selbst in der alltäglichen Verwendung strebt die Sprache in Richtung auf Befreiung und Loslösung vom Körperlich-Stofflichen im Verkörpern, d. h. in der Instrumentalisierung des Körpers für das Vergeistigen. Der Gesamtsinn drängt zur Loslösung vom Stofflich-Anschaulichen, so aber, dass im metaphorischen Sprachgebrauch Bilder genutzt werden, die die Vorstellungskraft anregen, ohne dieser den Stoff wie ein abgelegtes Kleidungsstück aufzubürden. 208 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

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Das Rätsel der menschlichen Lebendigkeit verdichtet sich, so hat es sich herausgestellt, in dem Zugleich von Verkörpern und Entkörpern. In der Sprache selbst finden sich die Spuren, die auf das oben mit Humboldt skizzierte Medium hinführen und von dem Medium selbst gelegt werden, das einerseits ›stoffhaltig‹ genug ist, um dem Vorgang des Entkörperns Halt zu bieten und das Entkörperte nicht im Abgrund eines unbestimmten Nichts verschwinden zu lassen; und das andererseits selbst genug Geist ›hat‹, um dem Vorgang des Verkörperns ein Lösemittel bereitzustellen, das das Verkörperte vom Kleben am Stoff befreit, es auf eine andere Ebene hebt, ohne dass es sich auflöst und sich in einem unbestimmten Nichts verflüchtigt, sondern es in einen anderen Aggregatzustand umwandelt; das gleichsam natürliche Festigkeit und geistige Transparenz besitzt; mit den Worten der Ästhesiologie, die im vorhergehenden Abschnitt verwendet wurden: das der Konkordanz von Körper und Geist einen Boden bereitstellt und diese Übereinstimmung geradezu ›symbolisiert‹, indem es »Anschauung, Auffassung und Haltung« 346 in sich vereinigt, um überhaupt sinngebende Aktivität im Ausdrücken, Gestalten und Handeln zu ermöglichen. Die Sprache ist ihrerseits raumhaft und zeitlich strukturiert, wie sich sowohl syntaktisch als auch syntagmatisch gezeigt hat; die sphärisch-medialen Bedingungen des Sprechens sind das mitweltliche Gegenüberstehen und der Rhythmus des Atems, von Humboldt als Licht und Luft identifiziert, gleichsam stoffliche Ingredienzen von Raum und Zeit, ›scheinbar unkörperliche‹ Medien des dualen Modus mit atmosphärischer Energie und Wirkung, die überdies der Transzendierungskraft der Sprache in Richtung auf die Unendlichkeit des Geistes eine Entsprechung bieten. Die Sprache geht den Weg des Transzendierens, d. h. Befreiens vom Körper und von der physisch bestimmten Welt der Gegenstände, von sich aus mit, weil sie ihrerseits von jenen Elementen getragen ist, die das Übergehen in einen anderen Aggregatzustand und das Abheben des geistig Geformten vom Stoff befördern; darüberhinaus stellt sie das in ihren eigenen Mitteln dar, in der diachronischen Wandlungsfähigkeit, d. h. im vom Sinndruck des Gesamtsinns ausgelösten Zusammenspiel von Bedeutungsentleerung und Bedeutungserfüllung sowie im damit zusammenhängenden Verlauf grammatischer Formungen und metaphorischer Bildungen. Kurz gesagt: sie ist nicht nur stetig vergeistigend am Werk, sondern sie präsentiert 346

Plessner, III, 220.

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

das auch in ihrem eigenen Medium. Sie ist als Ganzes eine metaphysische Größe, die mit physischen Mitteln arbeitet. 347 Das zeigt sich daran, wie sie unermüdlich nach Möglichkeiten sucht, auch das noch in Ausdrücke zu fassen, was sich jeglichem Ausdruck verweigert: (1) für das, was jenseits der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten liegt, weil es sich nicht verkörpern lässt außer in Entkörperungen, so auch sprachlichen, die ihrerseits das verkörpern, dem jeder explizite Ausdrucksversuch Hohn spricht; (2) selbstreferentiell für die Tiefen der geistigen Quellen, aus denen die Sprache selber schöpft und die an der Oberfläche eben nur in und als ›Sprachmasken‹ 348 erscheinen können. Zu (1): Solche Ausdrucksversuche mögen in Gestammel oder Schweigen enden, aber dennoch auf das verweisen, dem sie expressiv-auffassend zwar nicht gewachsen sind, möglicherweise aber gerade mit einer Entkörperung entsprechen, das in Gestammel bzw. Schweigen mündet. Zu (2): Sprachmasken, die die ›Oberfläche‹ diachronisch aufgebauter Schichten bilden und auf den Quellgrund für die Vorzeichnung von Sinn zurückdeuten, können mit etwas Zufallsglück zumindest partiell ›enttarnt‹ werden. Für das erste sei ein Beispiel von Fichte genannt, für das zweite eines, das sich bei Humboldt findet. Beide beziehen sich auf die oben erläuterten Medien des dualen Modus. (1) In seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796) erörtert Fichte die Frage, wie Menschen aufeinander einwirken können und sich als ihresgleichen sehen und anerken347 Beispiele dafür lassen sich schon bei den Vorsokratikern finden auf ihrer Suche nach der arché und, nicht zu vergessen, bei Platon. 348 Das Wort ist an Canettis Begriff der ›akustischen Maske‹ (zuerst in einem Interview mit der Zeitschrift Sonntag, 1937) angelehnt, die die hörbare Gestalt jedes Menschen ausmacht, übernimmt aber nicht weitere Konnotationen dieses Begriffs (wie etwa in Canetti 1996, 445, wo fremde Sprachen als akustische Masken bezeichnet werden, die ein Gesicht erhalten, sobald man sie versteht), sondern bezieht sich lediglich auf den Sachverhalt, dass zur Realisierung der menschlichen Lebendigkeit Rollen übernommen und Masken getragen werden müssen, die aber für den intendierten Sinn transparent sind. So auch in der Sprache und beim Sprechen. Von der Sprache und ihren Ausdrucksmitteln hebt sich die Sache selbst ab, so aber, dass die Sprache auf diese Abhebung verweist.

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Die Metaphysik der Sprache

nen, einfach dadurch, dass sie voreinander erscheinen. Wie nehmen wir uns so wahr, dass wir wechselseitig als Personen, Vernunftwesen gelten und nicht als zu manipulierende Gegenstände, ohne das ständig zu explizieren? Fichte kommt an dieser Stelle zu leibphänomenologischen Erwägungen, auch zu eher spekulativen Überlegungen bezüglich einer ›subtileren Materie‹, 349 um dann, in einem bis zum Äußersten verkürzten, elliptischen Satz, gleichsam auszurufen: »Luft, Licht.« 350 Er benennt damit die beiden ›Sphären‹ und ›Medien‹, die die Möglichkeit nicht nur des Erscheinens von Gestalten bedingen, sondern auch die des reziproken Aufeinanderwirkens, und zwar in den Modi der Verkörperung, die oben ausführlich behandelt wurden. Luft und Licht sind hier nicht lediglich spekulativ-allegorische Ausdrücke oder bloße Reminiszenzen an die Elementenlehren der Antike oder auch, im Falle des Lichts als Gegenpol zur Finsternis, Anklänge an Vorstellungen der spätantiken Gnosis, sondern stehen in Affinität zu den oben erörterten modalen Akkordanzen. In ihnen lassen sich Stoff und Form der jeweiligen modalen Akkordanz vermitteln. (2) An einem von Humboldt gegebenen Beispiel kann gezeigt werden, wie die Sprache selbst diese Affinität für Wortbildungen nutzt, die, in geradezu selbstreflexiver Einstellung, für den Bereich jener Sphäre in Gebrauch genommen werden und dadurch die Konkordanz- und Akkordanz-Relationen so vorführen, dass sie explizit gemacht werden können. Im Zuge seiner sprachgeschichtlichen und sprachvergleichenden Betrachtung zum Ursprung der Pronominalwörter der beiden ersten Personen zieht Humboldt mehrere Exempel aus verschiedenen Sprachen heran, die belegen, »wie die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, vorzugsweise geeignet sind, die in der Sprache so häufig vorkommende Übertragung abgezogener oder schwer zu versinnlichender Begriffe in concrete zu vermitteln.« 351 Nachdem er mehrfach gezeigt hat, wie Ortsbestimmungen in Pronomen übergehen, kommt er auf den Vokativ im Neuseeländischen (der Sprache der indigenen Bevölkerung, der Maori) zu sprechen. Ein längeres Zitat verweist auf den oben supponierten Zusammenhang zwischen den Akkordanzen der sinnlichen Modi, ins-

349 350 351

Vgl. Fichte 1971, 75. Ebd., 76. Humboldt 1963, 215.

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besondere des dualen Modus, und der sphärischen Bedingung ihrer Möglichkeit. Ein Ausdruck der Neu-Seeländischen Sprache kommt der Bezeichnung des du auf eine schöner anschauliche Weise sehr nahe, und enthält eine sinnliche Analogie, die in andren Sprachen zur Bildung dieses Pronominallauts hätte dienen können. Diese Sprache bildet bei mehreren Wörtern den Vocativus nicht so, dass sie den ihm eigenthümlichen Anruf e vor den Nominativus setzt, sondern braucht ein ganz eignes Wort für denselben. So ist matūa der Vater, tāma īne die Tochter, aber o Vater e pā, o Tochter e kō. Es ist dies ein in die Sprache übergegangener höchst natürlicher Redegebrauch. Der Vocativus tritt gänzlich aus der Reihe der übrigen Casus heraus. Indem diese zur objectiven, aus dem Subject hinausgestellten Rede dienen, verbindet er durch eine Handlung des Willens, oder durch eine Empfindung unmittelbar das Subjekt mit dem Gegenstand, er kann zugleich in den meisten Fällen als der Casus der zweiten Pronominalperson betrachtet werden. Es begreift sich leicht, daß man für ihn innigere, wie pā, oder kürzere, wie kō (eigentlich Mädchen) ist, braucht. Will man nun einen Menschen überhaupt, für den man keine besondre Benennung hat, anreden, so gibt es dafür ein eignes, in der Beziehung auf Menschen, allein im Vocativ gebräuchliches Wort māra. Nach Lees Erklärung heißt dies eine demjenigen, der sie anredet, gegenüberstehende Person. E māra, gebraucht wie unser rufendes du, ihr heißt also wörtlich o gegenüber. Zugleich aber, und dies ist sichtlich der ursprünglichere Begriff, heißt māra ein offener, der Sonne ausgesetzter Platz, und ist dasselbe Wort mit mārama, hell, erleuchtet, Licht. Diese Metapher ist also hier auf das im Gegenüberstehen frei entfaltet daliegende, entgegenleuchtende menschliche Gesicht gewendet. Wir könnten es ganz treu durch o Antlitz! übersetzen. 352

Der oben erschlossene Strukturzusammenhang geht hier in die Sprache selbst ein und ist Quelle von Wortbildungen. Die Bedingung der Möglichkeit solcher Metaphorik liegt in der Wirksamkeit des dualen Modus. Er selbst, in Gestalt der Sprachgemeinschaft, geht mit seiner 352 Ebd., 215 f.; Humboldt entnimmt die Beispiele aus einem Wörterbuch des Neuseeländischen von Lee (p. 176).

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Funktion als sinnlicher Verkörperungsmodus auf der Ebene des mitweltlichen Aktionsfeldes von hier aus über auf die Ebene der Sprache und arbeitet im Dienste seiner geistigen Funktion an den Wortschöpfungen und am Wortgebrauch mit, die in diesem Beispiel überdies seine eigene Verkörperung im Wort betreffen. Dieses von Humboldt analysierte Wort versammelt in sich dreierlei und hat entsprechend dreifache Geltung, je nach syntaktisch-semantischer Umgebung: zum einen die Bedeutung eines von der Sonne beschienenen freien Platzes, d. h. einer Lichtung, zugleich Grundwort für das daraus gebildete Wort für Licht, zum zweiten die Bezeichnung für den Menschen, den man gegenüber sich hat, zum dritten die Bedeutung von Gesicht bzw. Antlitz, die in die Anrede der zweiten Person eingeht. Antlitz wiederum ist auch im Deutschen nichts anderes als ›das Entgegenblickende‹, und ›Gesicht‹ bezeichnet jenen Teil des Körperleibs, aus dem heraus eine Sicht möglich ist und auf das die Sicht des anderen sich richtet, das also sieht und gesehen wird. Der Blick modifiziert sich im Lichte des Blicks des Entgegenblickenden, und das in reziprokem Aufeinanderwirken. Die Blicke kreuzen sich. Entscheidend ist nun aber, dass das kein bloß materieller Vorgang ist wie etwa die Wechselwirkung aneinander stoßender Billardkugeln, sondern ein geistiger, in dem überdies die Wir-Sphäre einen ihrer Brennpunkte hat. (Ein zweiter Fokus liegt im Klang der Stimme und der Wörter.) Der duale Modus erweist sich hier als Motor für das Übergehen vom Sinnlichen ins Sinnhafte, vom Wechsel des zunächst Stofflichen, aber Formbaren, in einen anderen Aggregatzustand, den geistigen, und für die damit einhergehende Abhebung, und sowohl dieses Übergehen als auch die Erhaltung der Aggregatzustände, des zur Trägheit neigenden fest-stofflichen wie des von Verflüchtigung bedrohten liquid-geistigen, wird in der Sprache kenntlich. 353 Gleiches gilt für die Bezeichnungen der Sphären überhaupt. Licht und Luft, desgleichen 353 Ein schlagendes Beispiel dafür, dass der duale Modus nicht nur in der beschriebenen Hinsicht wirkt, sondern seinerseits in eine grammatische Form eingehen kann, ist der von Humboldt (1827) ausführlich erörterte Dualis (Humboldt 1963, 113–143), der zwar kaum noch in lebenden Sprachen vorkommt, weil er sich abgeschliffen hat und in den Pluralis eingegangen ist, jedoch in alten Sprachen wie Sanskrit die Wurzel des Sprechens in der Wechselrede, im Ich-Du-Verhältnis aufnimmt und in eine eigene Form gießt. Diese kann dann auch die Paarigkeit von Naturgegenständen bezeichnen, verdankt sich aber letztlich dem Drang nach einem Ausdruck, in dem sich die Mitweltlichkeit der Sprache selbst und die aus ihr hervorgehende dualistisch-dialogische Struktur spiegeln. Hier wird der duale Modus in der Sprache explizit. (Vgl. oben, 54, Anm. 132.)

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Raum und Zeit, sowie nicht zuletzt die alle sinnlichen Modi übergreifende Atmosphäre bezeichnen zunächst physische ›Dinge‹ mit physikalischen Eigenschaften, sind z. T. zu den oben zusammengestellten Leer- und Ordnungsformen zu zählen, 354 werden dann aber unter den Bedingungen des mitweltlichen Aktionsfeldes und mit den Mitteln des dualen Modus in jenen Aggregatzustand überführt, der immer schon latent in ihnen da ist und der die ihnen entsprechende Sinngebung und geistige Schöpfung im Zugleich von Verkörpern und Entkörpern zulässt. M. a. W.: die Verwandlung des physisch-sinnlichen Aggregatzustands in den geistigen ist kein Hexenwerk, sondern darin manifestiert sich die Form, wie die Mitwelt bzw. WirSphäre fungiert – als jene synthetische Einheit von Sinnlichkeit und Sinngebung, die sich zwischenleiblich und sprachlich unter der unendlich variationsreichen Mitwirkung der je Beteiligten kontextuell und geschichtlich je verschieden auseinanderlegt und entfaltet. Der sinnlich spürbare Ausdruck dafür ist die Atmosphäre, in der sich das Ganze dieser Einheit widerspiegelt, und es ist offensichtlich, dass der Mensch bestrebt ist, eine Atmosphäre zu schaffen und in einer solchen sich aufzuhalten, die ihm dieses Gefühl von Ganzheit gibt, in der seine Zerrissenheit, Unsicherheit, konstitutive Gebrochenheit übergehen in eine geistig motivierte und inspirierte Ruhe, eine Ruhe allerdings in geistiger Beweglichkeit und höchster Aufmerksamkeit; sie kann als Geistesgegenwart bezeichnet werden. Die Form, in der dieses Bestreben sein Ziel findet, ist die kontemplative Haltung und Atmosphäre; 355 damit korrelieren gewisse, zum nicht direkt artikulierbaren Ganzen und Einen akkordante Formen der Dunkelheit, der Leere und des Schweigens, entkörperte Formen im Modus des Nichts, also des Fehlens, Verschwindens, Aufhebens, auch des Ab- und Ausklingens. Atmosphärisch spürbar werden Unendlichkeit, Raum- und Zeitlosigkeit, ein Vorschein von Ewigkeit. Man spricht hier auch von Selbstvergessenheit. In diesem Zustand kommt es einem so vor, als ob die räumliche und zeitliche Begrenzung aufgehoben wären. Solche Kontemplation bedeutet nicht Rückzug von jeglicher Aktivität, sondern deren Versammlung in

Vgl. oben, 136–138. Vgl. zu diesem Begriff der Kontemplation Henrich (2016, 46) im Anschluss an seine Interpretation der Beziehung Becketts zu Hölderlin: »Diese Kontemplation selbst ist in sich ganz Ruhe. Nur sie ist es aber auch, in der eine solche Ruhe gegenüber dem Ganzen des Lebenszusammenhangs überhaupt zu erreichen ist.« 354 355

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einem äußersten Punkt, auf einer höchsten Spitze gleichsam, von wo aus jene Distanz möglich wird, die das Sehen klar und deutlich, das Sprechen klangvoll und bedeutsam, das Hören vernehmend und verstehend macht, kurz: die den Überblick mit der Naheinstellung so verbindet, dass es zu einem von tiefer Einsicht und Transparenz zeugenden Erleben kommt, das in der deutschen Sprache als Erleuchtung bezeichnet wird. Es ist ein ›Lichtaufgehen‹, das nicht zufällig, sondern aufgrund des Zugleichs von Verkörpern und Entkörpern einhergeht mit dem Schließen der Augen, dem Meditieren im Dunkel einer Höhle oder in der Nacht, sodann mit dem erzwungenen Stillwerden etwa beim Lösen des im Zen-Buddhismus gängigen Kōan, der Aufgabe, über eine logisch unlösbare Paradoxie nachzudenken, desgleichen mit den vornehmlich aus buddhistisch oder daoistisch geprägten Kulturen bekannten leeren, freigelassenen Flächen auf Gemälden und Zeichnungen, auch den ›Leerstellen‹ in Gedichten sowie überhaupt mit dem Leerwerden des Wachbewusstseins von jeglichen Inhalten. Zu solchem Erleben passt der Sanskrit-Ausdruck Bodhi, der, eher als ›Erleuchtung‹, das Erwachen beim Erleben und Erkennen der ›Leere‹ anzeigt. 356 Partiell vergleichbar damit, jedoch mit Gegenstandsbezug, ist das plötzliche Auftauchen der Lösung z. B. eines mathematischen Problems gerade dann, wenn es nicht mehr in ganzer Verkörperung vor einen hingestellt ist, sondern seiner Bedeutung etwa aus Überdruss oder Überdehnung des rationalen Überlegens völlig entleert wurde. In den altindischen Texten des Veda und Vedanta ist von Turīya die Rede; das Sanskrit-Wort bezeichnet einen Zustand der Erleuchtung, der über die Bewusstseinszustände des Wachens, Träumens und Tiefschlafs hinausgeht und mit dem Schweigen korreliert; 357 in einer der Upanischaden wird er u. a. als ewige Ruhe, als schlummerloses, traumloses Ewiges, das sich selber Licht ist, beschrieben. 358 356 Bodhi (ein Sanskrit und Pali-Wort) lässt sich insofern auch als Aufhebung der Unwissenheit in vollkommener Erkenntnis und höchster Einsicht (Weisheit) verstehen, in der buddhistischen Lehre verbunden mit der Aufhebung des Leidens (vgl. Lexikon der östlichen Weisheitslehren, 42). 357 Vgl. Desai-Breun 2019, 166, 181. 358 Vgl. Mâṇḍûkya-Upanishad, in Deussen 19052, 573–605, hier 592, 602. Zwei weitere Beispiele für die sinnlich-geistige Bedeutung von ›Licht‹ stammen von Hölderlin. In einem Briefentwurf an Casimir Ulrich Böhlendorff vom Herbst 1802 berichtet er von seiner Frankreich-Reise und der Rückkehr in seine Vaterstadt und beschreibt die atmosphärisch wirkenden Kräfte der Natur, etwa das Gewitter, den Himmel, die Wäl-

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

8.

Die Sphäre des Unsichtbaren: der Gesamtsinn und die Moral

Eine Zusammenfassung der sphärentheoretischen Betrachtung führt abschließend zu einer Schlussfolgerung über die Verbindung zwischen dem Numinosen, Rätselhaften, und der Moral, die ihrerseits ›unsichtbar‹ bleibt, jedoch durch die Masken des Verhaltens und der körperleiblichen Haltungen hindurchscheint und ihre Wirkung entfaltet. Sehen braucht Licht, Hören und Sprechen benötigen Luft, ebenso, wenngleich in je verschiedener Weise, Schmecken und Riechen – das Aroma entfaltet sich raumhaft in der Luft; Tasten ist auf räumliche Ausdehnung und zeitliche Abfolge angewiesen. Licht und Luft sind, wie erläutert, in ihrer Versinnlichungs- und Vergeistigungsfunktion an die bei Humboldt als reine Formen der Anschauung erwähnten Raum und Zeit gebunden, die ihrerseits unter dem Aspekt der Verkörperungsmodi Sphären bilden und zusammen mit Licht und Luft als Bedingungen der Möglichkeit zumal der leiblichen und sprachlichen Expressivität fungieren. Räumliche Ausdehnung und Einteilung sind für das dialogische Gegenüber, aber auch als raumhafte Simultanität der paradigmatischen Beziehungen in der Sprache erforderlich, und zeitliche Folge und Rhythmik für das Atmen beim Sprechen und für die Sukzessivität syntaktischer Beziehungen sowie

der, dann »das Licht in seinem Wirken«, das er bezeichnet »als Prinzip und Schicksalsweise bildend, daß uns etwas heilig ist«, um überzugehen auf »das philosophische Licht um mein Fenster« (Hölderlin, o. J., 791), das ihm seine Freude sei. Vgl. dazu die Interpretation bei Henrich 2016, 284 u. 300 f. Im Fragment von Hyperion, auch Thalia-Fragment genannt, im Abschnitt mit dem Titel »Auf dem Cithäron«, schildert Hölderlin anhand einer an Platons Höhlengleichnis erinnernden Begebenheit die Ambivalenz des Sonnenlichts zwischen Blenden und Erhellen, und er bezieht dies auf die Anstrengung, die es kostet, das Lebensrätsel zu enthüllen: »Da sah ich neulich einen Knaben am Wege liegen. Sorgsam hatte die Mutter, die ihn bewachte, eine Decke über ihn gebreitet, daß er sanft schlummre im Schatten, und ihm die Sonne nicht blende. Aber der Knabe wollte nicht bleiben, und riß die Decke weg, und ich sah wie ers versuchte, bis ihm das Auge schmerzte und er weinend sein Gesicht zur Erde kehrte. Armer Knabe! Dacht ich, andern ergehts nicht besser, und hatte mir beinahe vorgenommen, abzulassen von dieser verwegnen Neugier. Aber ich kann nicht! ich soll nicht! Es muß heraus, das große Geheimnis, das mir das Leben gibt oder den Tod.« (Ebd., 377).

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die syntagmatische Artikulation des Erlebens – all das, was in die Funktion des Bedeutens eingeht. Greifen wir wiederum Humboldt auf, 359 um die Affinitäten, Konkordanzen und Akkordanzen des dualen Modus in fünf Punkten zusammenzufassen und noch deutlicher in den geistigen Sinn der menschlichen Lebendigkeit hineinzuführen mit ihrem Zug zur Transzendenz. (1) Die ›scheinbare Unkörperlichkeit‹ und Transparenz der Luft, ihr geistiger Aggregatzustand, korreliert mit der Stimme, in ihr realisiert sich der Laut, der eine ›geistige Zeugung‹ verkörpert, die er ›aus dem Dunkel an das Licht‹ bringt. Insofern liegt hier eine Akkordanz, eine Deckungsgleichheit zwischen Stoff und Form vor. Schall und Klang breiten sich aus, und mit ihnen dehnt sich, dank der Luft und des Atems, der Gedanke ›in die Unendlichkeit‹ aus. Selbstverständlich ist das keine mit physikalischen Erkenntnissen zu verknüpfende Vorstellung, sondern eine geistige, durch den Wechsel des Aggregatzustands ermöglichte und aufgrund der Akkordanz mit Notwendigkeit inspirierte. Und es ist diese Akkordanz, die den Klang zur Repräsentation von Bedeutung befähigt; der im Meinen intendierte Sinn der Lautäußerung kehrt mit dieser zum eigenen Ohr zurück 360 und wird in seiner Verständlichkeit am Verstehen des Hörers geprüft, so dass die Äußerung bei Bedarf variiert sowie in redundanter, aber besserer Verständlichkeit dienender Form wiederholt und bekräftigt werden kann. (2) Die Ausstrahlung und Transparenz des Lichts korreliert mit dem Gesicht, das, mir selbst nicht sichtbar, 361 dem anderen zugewandt ist, und mit dem Blick, der sich mit dem Blick des anderen in reziproker Strahligkeit zur dialogischen Einheit der Polarität von Ich und Du zusammenfindet, nicht bloß im Falle von Einstimmigkeit oder gar

359 Vgl. oben, 99. Die im Folgenden in einfache Anführungszeichen gesetzten Wendungen stammen von Humboldt. 360 Vgl. Humboldt 1963, 195. Mit dieser Rückkehr des sprachlichen Erzeugnisses zum erzeugenden Subjekt versucht Humboldt, die Frage zu beantworten, wie etwas Subjektives zugleich zum Objekt werden kann: »Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache […]« (ebd.), und nur so sei Begriffsbildung und wahres Denken möglich. 361 Vgl. oben, 44.

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Liebe, sondern auch in Auseinandersetzung, Streit und Kampf. 362 Durch diese Akkordanz im Blickstrahl erhält das mir nicht sichtbare eigene Gesicht Leben, geistige Kraft, Relevanz und einen je situationsspezifischen, an der Gemeinsamkeit zwischen mir und dem anderen orientierten, z. T. auch darstellenden und zuweilen der Täuschung, Verstellung, Verhehlung 363 dienenden Ausdruck mit ›sprechender‹ und ›lesbarer‹, auch vieldeutiger und interpretationsoffener Bedeutung. (3) Die Ausdehnung des Raums und die Merkmale von Raumhaftigkeit korrelieren mit der leiblichen Enge und Weite als den primären Momenten der innerleiblichen wie zwischenleiblichen Kommunikation. 364 So ist wiederum für Humboldt der Raum die ›Eine Sphäre‹, welche Ich und Du umschließt; 365 er ist beengender oder weitender, öffnender Raum für das Gegenüber im Dialog. Er ist zufolge der Akkordanz akustischer Raum, Klangraum, Hörraum, geistiger Raum, in dem sich das Miteinandersein und -sprechen entfaltet, desgleichen die äußere Haltung zueinander, die der inneren Haltung isotopisch entspricht. (4) Die Zeitlichkeit des Sprechens, das syntaktische Nacheinander im Rhythmus des Atems, ist Voraussetzung von Deutlichkeit und Verständlichkeit sowie, im sukzessiven Verlauf von Prosodie und Klang, für die Repräsentation von Bedeutung, selbst noch im kontemplativen Schweigen, in dem sich die Rede bedeutungsvoll aufhebt und so auf die End- und Zeitlosigkeit der Ewigkeit hindeutet. Überhaupt strukturiert die rhythmisierbare Zeitform die auf Sinn gerichtete Lebendigkeit und ermöglicht deren Artikulation. 366 362 Vgl. Jaspers’ Begriff der Kommunikation im dritten Kapitel des zweiten Bandes der Philosophie, 19734, hier 50–117. 363 Die Ausdrucksvariationen zwischen Verstellen (Simulation) und Verhehlen (Dissimulation) erfordern eine selbstständige Untersuchung, die auch das Verhältnis zwischen Moralität und ›moralischem Schein‹ (vgl. § 12 in Kants Anthropologie, BA 42BA 45; XII, 442–445) thematisieren müsste; vgl. bereits Accetto 1995 (1641), in neuerer Zeit Caillois o. J. (frz. Orig. 1958), bes. Kap. VII, 90–111. 364 Zu Enge und Weite sowie Atmosphäre vgl. Schmitz 19952, 121 f., 135. 365 Zum Raum als Voraussetzung des leiblichen Ausdrucks überhaupt vgl. Ortega y Gasset 1978. 366 Vgl. zu einer solchen Auffassung von Rhythmus die Schilderungen, die Bettina von Arnim, mit Sinclair als Mittler, in dem Briefroman Die Günderode von Hölderlin gibt, wo es u. a. heißt: »Einmal sagte Hölderlin, Alles sei Rhythmus, das ganze Schicksal des Menschen sei Ein himmlischer Rhythmus, wie auch jedes Kunstwerk ein

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(5) Die Atmosphäre ist formbarer Stoff für das Leibselbst und den Weltleib. Sie ist akkordant zum Geistigen überhaupt, so dass jede reale Manifestation der Mitwelt, ob innerleiblich, zwischenleiblich oder sprachlich, einen atmosphärischen Index trägt, und so repräsentiert sie das Geistige in seiner Wirksamkeit, die, bei äußerster Durchbildung, von dem Gesamtsinn ausgeht, der den Sinndruck auf die Expressionen ausübt. Das Organ der atmosphärischen Wahrnehmung ist der Leib. Wie unverzichtbar auch dafür der duale Modus ist, erweist sich nicht zuletzt darin, dass der – stofflich wie geistig – atmosphärisch spürende und die Konkordanz zwischen Körper und Geist in Haltungen realisierende Leib zur Ergänzung den Leib des anderen braucht, um ›vollständig‹ zu werden. 367 Und ›im Großen‹ braucht der Mensch zur Ergänzung das, was er zwar nicht als gegenständlich-körperhaft gewordenen Leib kennt, aber als ein ihm in Raum und Zeit numinos sich Zeigendes, zu dem er sich ins Verhältnis setzt, um dieses ›ganz Andere‹ als ›Vollendung des Systems‹ erscheinen zu lassen. Das Numinose, das Rätsel, wird durch die Masken von Welt und Mensch hindurch aufgefasst. Kleist wollte den Wohlklang verschwinden machen, um das Geistige, den Gedanken rein zu erhalten. Dafür, und selbst für das Hadern mit seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit, brauchte er jedoch zunächst die Lautgebung in einer Form, die phonetisch, syntaktisch und semantisch in möglichster Vollkommenheit ausgearbeitet war. Der Sinn und seine Verstehbarkeit resultieren in Klarheit, Deutlichkeit und Anschaulichkeit aus der ästhetisch gelungensten Verkörperung, weil in und zu ihr – in paradox anmutender Synthesis – die parallel laufende Entkörperung, die Entleerung von der Anschauung, in einen Gleichklang gebracht wird. Der Sinn – in der Musik der thematische, in der Sprache der syntagmatische – offenbart sich dann ineins mit Rhythmus sei […].« (in: Hölderlin, o. J., 830) Und: »[…] das sei Poesie: daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege […]. – Nur allein Dem füge sich der Rhythmus, in dem der Geist lebendig werde!« (ebd., 828) 367 Vgl. zu diesem Gedanken Merleau-Ponty 1966, 403 f.: »[…] zwischen diesem meinem phänomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als die Vollendung des Systems erscheinen läßt.« – Die entwicklungs- und sozialpsychologische Übernahme von Haltungen anderer zur Herausbildung eigener Haltungen hat G. H. Mead (199811) eingehend beschrieben.

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dem vernehmenden Hören durch den Klangkörper hindurch. Anders wäre es mit dem Sinn, der in arhythmischer Lautsetzung, holpriger Syntax und unzutreffender Semantik geradezu verlorengeht und nur noch mit Mühe aus den Trümmern herausgezogen werden kann; da müsste der Klangkörper allererst, gedanklich oder ausdrucksmäßig, rekonstruiert werden. So ist es auch mit dem Gesamtsinn, der dem Menschen rätselhaft ist, numinos bleibt und gerade dadurch einen gewaltigen Druck auf die Sinngebung ausübt. Mit Kleist müsste man bestrebt sein, die Erscheinungsweisen, ja Erscheinung überhaupt verschwinden zu machen, um das, wovon es Erscheinung ist, mit Kant zu reden: das Ding an sich, rein zu erhalten. Der Gesamtsinn, der die Prozesse der Vergeistigung als Lockerung und Aufhebung von Bindungen, die sich im Tod ohnehin auflösen, antreibt und sich aus ihnen speist, kann sich wie der Gedanke bei Kleist, der ja auch im Prozess der Vergeistigung ›produziert‹ wird, überhaupt nur ›offenbaren‹ in der Klarheit, Deutlichkeit, Schönheit und Erhabenheit dessen, was sich verkörpern lässt, insbesondere auf jener Ebene, die das Vergeistigen auf eine höhere Stufe hebt, auf der Ebene der Sprache, in der sich der gemeinte Sinn abhebt von seinem Ausdrucksmittel, und die gemeinte Sache, der Inhalt, wiederum von der Form. Dann läuft die Entkörperung ›gleichklingend‹ mit, so dass durch das Verkörperte hindurch, in der Entleerung von Anschauung, der geistige Sinn vernehmbar wird. Das ist auch die Richtung der religiösen bildhaften Anschauung: man lässt sich auf sie ein, auch in sakraler Gestimmtheit, und löst sich von ihr, sie entkörpernd, um, in geistiger ›Schau‹, den Sinn zu vernehmen; ähnlich die philosophische ›Anschauung‹, die nicht zufällig in der Phänomenologie Husserls als eine Wesensschau ausgearbeitet wurde, welche in der methodisch durchgeführten phänomenologischen Reduktion eine epoché, den Entzug der Geltung vorgefasster Meinungen über den in Frage stehenden Gegenstand, voraussetzt. Demgegenüber fällt der Gesamtsinn für den Menschen, das, worauf sich seine Lebendigkeit apriorisch richtet und der in ihr und in ihrem körperleiblich-geistigen Dasein vorgezeichnet ist, in Stücke oder Trümmer, wenn die Strukturierung gleichsam arhythmisch wird, ohne Beachtung der Maßgaben des Aktionsfeldes im Rahmen der Verkörperungsmodi und des Gleichklangs im Verhältnis zwischen Verkörpern und Entkörpern, Kommen und Schwinden, Hervorbringen und Loslassen, freiem Anfangen und Gebundenheit. Figur und Grund lassen sich hier umkehren: der Gesamtsinn ist 220 https://doi.org/10.5771/9783495825198 .

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der Grund, vor dem die Figuren der bilderschaffenden Lebendigkeit sich abheben. Dienen diese als Grund, hebt sich die Figur des Gesamtsinns davor ab. Und dann muss zunächst mit Bedauern, schließlich einsichtig zur Kenntnis genommen werden, dass das Numinose als das letztlich unanschauliche ›Gewand‹, in dem der Gesamtsinn ›erscheint‹, im Dunkel verharrt und rätselhaft bleibt. Es lässt sich nicht vergegenständlichend artikulieren. Es lässt sich lediglich beleuchten von den aus geistiger Lebendigkeit heraus gezeichneten Figuren, vor allem in Kunst, Poesie, Sprache, Religion, Philosophie, selbst in der Wissenschaft, sofern sie um ihre Grenzen und vor der Größe des Alls wie vor dem mikroskopisch Kleinen in der Natur zu staunen weiß. Hat man aber eingesehen, dass der Sinndruck, der auf der menschlichen Lebendigkeit lastet und mitunter übermächtig und grausam empfunden werden mag, so dass man die Augen verschließen, den Druck weitergeben und sich lieber bloß noch dem ›guten‹ Leben im Sinne des technisch Perfektionierbaren widmen möchte, wie das etwa der Post- oder Transhumanismus vorschlägt –, dass es also der Sinndruck ist, der mit seinem Zwang zur Bedeutungsentleerung bzw. Entkörperung die Vergeistigung und Transzendierung der menschlichen Lebendigkeit vorantreibt, dann wird klar, dass es im Leben darum geht, ebendies, die Schaffenskraft jener Lebendigkeit, zu ermöglichen, statt absichtlich oder fahrlässig ihren Sinnentzug, zumal gewaltsam bei anderen, zu befördern. In der Befähigung zu geistigem Schöpfertum liegt der Kern der Moral; 368 insofern ist in dieser der Gesamtsinn des Menschenlebens repräsentiert, und das Numinose wandert in die Auffassung von der individuellen Person, der eigenen und der fremden, hinein, die man hinter ihren Rollen nie ›vollständig‹ und ›abschließend‹ erkennen kann, der man jedoch, sie durch ihre Masken hindurch auffassend, Achtung zu zollen hat, um sie in ihrer Seinsgeltung zu bestätigen und in ihrer Freiheit zum Anfangenkönnen aktiv anzuerkennen. Der Gesamtsinn, der sich nicht verkörpern lässt und deshalb unartikulierbar bleibt, ist in der Menschenwelt als Moral repräsentiert und als solche präsent. Er geht in die Leibessynthese ein, die in ihrer Gesamtheit die Lebensführung bestimmt, in eine Haltung, der man unwillkürlich, zuweilen auch explizit, neben der körperlichen 368 Diese Befähigung umfasst vieles andere, das dafür vorauszusetzen ist; vgl. dazu die Ethik des capability approach (im Deutschen als ›Befähigungsansatz‹ bezeichnet) bei Nussbaum (1999) und Sen (2000).

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Anschaulichkeit und geistigen Bedeutung, einen moralischen Sinn zuspricht. Man spricht von körperlicher Haltung (z. B. Haltungsnoten beim Turnen) und von geistiger Haltung (»Welches ist Ihre Haltung dazu?«), darüber hinaus meint man, etwa mit dem Satz »Er hat Haltung bewiesen«, eine moralisch beurteilbare Haltung. Auch sprechen wir weniger von schöner oder hässlicher Haltung als vielmehr von guter oder schlechter; damit ist das unhintergehbare moralische Moment zumindest angedeutet, es »[…] schimmert durch Figur, Gang, Tonfall, Gesten als sinnlich-sittliche Form mit oft seltsamer Klarheit hindurch«. 369 Leibessynthesen sind verkörpernd und entkörpernd zugleich ausgerichtet, und so wird verständlich, weshalb Moral – in Gestalt der Frage nach Geltung und möglicher Nichtigung des Selbst 370 – als Leerstelle erscheint, die wiederum nur in je aktueller Verkörperung ihren notwendigen Widerpart hat, ohne dass nun in solcher Verkörperung Moral ›sichtbar‹ wird. In der Moral transzendieren wir uns selbst und bleiben zugleich bei uns selbst, weil wir uns nicht an Äußerlichkeiten orientieren; auch darin scheint der Gesamtsinn des Ganzen auf, der alles Sicht- und Wahrnehmbare der Menschenwelt übersteigt und doch in diesem ist und es trägt. Der Leib richtet sich in seiner Gesamtheit aufs Ganze und das Ganzwerden, und die dementsprechende Leibessynthese ist die moralische; sie lässt sich aber nicht ›darstellen‹, weil sie von jeglicher Anschauung entleert ist, sie erweist sich als qualifiziertes Nichts in der Form des Handelns, Sprechens und Sichgebens, am moralischen Stil, der durch die Haltung ›hindurchschimmert‹. Die Absichten sind verhüllt, sie zeigen sich auch nicht am Resultat des Handelns, sondern enthüllen sich lediglich indirekt in den Feinheiten des Stils in Verhalten, Benehmen und SichAufführen, dessen vielfältiges Spektrum sich zwischen rücksichtsloser Taktlosigkeit und taktvoller Aufmerksamkeit aufspannt; im Stil drängen Gutmütigkeit und Bösartigkeit, ja guter und böser Wille geradezu ans Tageslicht. Der vorliegende Gedankengang folgte der These, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Numinosem von einer ebensolchen Korrespondenz getragen wird wie das Verhältnis zwischen Verkörperung und Entkörperung. Mit dieser Parallelität lassen sich die Rätselfragen zwar nicht beantworten, aber es wird nachvollziehbar, weshalb sie sich aufdrängen und wie wir mit der Gestaltung unserer Leben369 370

Plessner, III, 210. Vgl. oben, 136.

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digkeit und Lebensführung darauf antworten; und der anthropologische Strukturzusammenhang wie auch das daraus hervorgehende metaphysische Bedürfnis werden verständlich. Der Tod kann demzufolge nicht das ›absolute Nichts‹ bedeuten, von dem wir, wie auch vom ›absoluten Sein‹, gar nichts wissen können. Der anthropologische Strukturzusammenhang und die Unauflöslichkeit der Verbindung zwischen Verkörperung und Entkörperung sprechen eher dafür, dass die Entkörperungsfunktion des Todes ebenso zugleich mit einer Verkörperungsfunktion einhergeht, wie es bei allen anderen Entkörperungen in jeglicher Leibessynthese der Fall ist; 371 und hier mag, entgegen aller kritischen Begrenzung möglicher Erkenntnis, eine spekulative Anmerkung erlaubt sein, für die außer der strukturellen Konsistenz keine weiteren Belege beigebracht werden können: es müsste dies eine Entkörperung sein, in der, ineins mit dem Dunkel, der Leere und dem Schweigen – und wiederum in einer paradoxen leibessynthetischen Korrelation dazu –, das Ganze in ›neuem Licht‹ sich zeigt, das hieße eher als tragender Grund denn als Abgrund, als der das Nichts des Todes, das Nichtmehrleben in theoretischer Perspektive erscheinen mag. Dass sich das Ganze in der Entkörperung in einer Weise verkörpern könne, die im Leben theoretisch unbestimmbar bleibt, jedoch durch die Abhebung der Lebendigkeit vom Leben schon im Leben und vom zu Ende gehenden Leben eine gewisse Bestimmtheit in der Artikulation dieser Lebendigkeit bekommt, wird allerdings, so die Vermutung, wodurch obige Spekulation doch immerhin eine praktische Bedeutung erhält, davon abhängen, in welcher Haltung jenem Zugleich von Verkörperung und Entkörperung im Leben begegnet und wie, sich bildend und die leiblich-geistige Haltung übend, daran gearbeitet wurde. Jedenfalls steht die geistvolle Lebendigkeit oder der verlebendigte Geist in einer engen Relation zur Entkörperung im Tod, und die Metaphysik widmet sich der Aufgabe, den Gesamtsinn, durch dessen Druck dem Sog zum Entkörpern im Verkörpern nicht zu entgehen ist, durch den todgeweihten und doch zugleich der geistigen Verkörperung dienenden Körper wie auch durch die gegenständlich-stoffliche Welt hindurch aufzufassen, der er zugehört. Mit der Leibessynthese von Leben und Tod kommt zwar jenes tragische Grundgefühl auf, das wir mit dem Sterben, zumal einem 371 Vgl. dazu das VI. Kapitel (Die Leibessynthese von Leben und Tod) in Breun 2014a, 164–210.

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frühen und unerwarteten Lebensende, verbinden; jedoch sieht es zugleich so aus, als ob Leid und Tod mit ihren Entkörperungen – Sinnverlusten, Bedeutungsabschwächungen und Entleerung von jeglicher Anschauung –, repräsentiert in den Gefühlen von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, die unabdingbare Voraussetzung seien, um den Doppelprozess von Verkörperung und Entkörperung, d. h. die Lebendigkeit überhaupt, in Gang zu halten. 372 Das mag im Kern unter dem Aspekt der Erkenntnis unverständlich bleiben, verweist aber auf die Pointe, die in der Abhebung der Lebendigkeit vom Leben liegt, mit dem Überstieg des gegenstandsbezogenen und ›innerweltlichen‹ Erkennens zum einen in der Moral, zum anderen in einer, jenseits der Alternative von Erkennen oder Nichterkennen liegenden, höchsten Einsicht, für die das indische und chinesische Denken Beispiele geben, aber auch ein Dichter wie Hölderlin mit der Intention, die in seinem gesamten Werk ablesbar wird, 373 und zwar unabhängig davon, ob diese Intention sich erfüllt oder nicht. Das Ganze ist für den Menschen theoretisch nicht fassbar, es bildet sich in der Moral ab, wie bereits Kant nahelegte 374 und Fichte weiterführte sowie, wenngleich in anderer Diktion, das Schelling zugeschriebene Älteste Systemprogramm. 375 Aus neuerer Zeit kann Hans Jonas in Anspruch genommen werden für eine solche interne Verknüpfung zwischen dem Ganzen, das er, darin dem späten Scheler 376 ähnlich, als »werdende Gottheit« 377 auslegt, und der Moralität 372 Vgl. dazu wiederum eine Stelle aus Bettina von Arnims Briefroman, wo eine der (fiktiv?) zitierten, von Sinclair aufgeschriebenen Äußerungen Hölderlins endet: »Der Tod sei der Ursprung des Lebendigen.« (Hölderlin o. J., 829) – In der zweiten Fassung des Gedichts Die Heimat, auf das Henrich (2016) in dem hier in Frage stehenden Zusammenhang mehrfach hinweist, gibt Hölderlin (in der sechsten Strophe) dem Lebensrätsel folgende Gestalt: »Denn sie, die uns das himmlische Feuer leihn, / Die Götter schenken heiliges Leid uns auch, / Drum bleibe dies. Ein Sohn der Erde / Schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden.« (Hölderlin, o. J., 82). 373 Vgl. dazu insgesamt Henrich 2016. 374 Vgl. oben, 155. 375 Vgl. Das sogenannte »Älteste Systemprogramm«, in Frank, Kurz (Hg.) 1975, 110 f., das keinen Verfassernamen trägt, in der Handschrift von Hegel vorliegt, wohl aber aus den Gesprächen zwischen Hegel, Hölderlin und Schelling hervorgegangen sein mag, wo es gleich zu Anfang heißt: »Da die ganze Metaphysik künftig in d. Moral fällt – wovon Kant […] nur ein Beispiel gegeben, […] so wird diese Ethik […] ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate […] seyn.« (Ebd., 110). 376 Vgl. Scheler 19789, 91. 377 Jonas 20112, 389.

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des Menschen, die in Gewissen, Entscheidung, Tat und Reue erlebt werde. Das Ganze oder Göttliche ist das Vollständige und Vollendete, der Mensch kann, mit Kant zu reden, nur in einem unablässigen Bestreben bemüht sein, moralisch vollkommen zu werden, nicht in einer von Wissen gespeisten und das Leid besiegenden Macht, denn die Allmacht und technisch handhabbare Perfektion ist ihm verschlossen, auch als Möglichkeit einer zur Vollendung gebrachten Wissenschaft und ihrer technischen Anwendung, es sei denn, der Mensch hebt sich selber auf, bringt sich um seinen Sinn und überstellt seine Lebensführung einer anderen ›Intelligenz‹. Eine Moral des Taktes, die der ›verkörpernd-entkörpernden Existenz‹ entspringt, macht es sich dagegen zum Prinzip, Sinnentzug und insofern überflüssiges Leid, das dem Menschen durch den Menschen zugefügt wird, 378 zu vermindern oder zu vermeiden, denn ein solcher Sinnentzug schädigt die mitweltliche Sphäre und damit die Menschheit überhaupt. Ohne Verluste, Mängel, Leid und Tod ginge der Mensch seiner starken Neigung nach, die Entkörperungen in ihrer Bedeutung zu unterschätzen und als technisch überwindbar beiseite zu tun, damit aber auch seine Verkörperungen jener Geistlosigkeit zu überlassen, die man inzwischen von dem Einfluss der gleichsam atemlosen digitalen ›Kommunikation‹ auf den gesellschaftlich-öffentlichen und politischen Bereich kennt. Die Entkörperung nicht zuzulassen, sondern sogleich mit Bildern der eigenen – technisch-praktischen, beschränkten – Welt zu füllen, und diese Bilder zum narzisstischen Abbild seiner selbst zu machen, betrügt den Menschen letztlich um seine ureigensten Möglichkeiten; er wird zum Handlanger dessen, was mechanisch-maschinell, auch unter der Ägide künstlicher Intelligenz, vorgegeben wird. Der Entkörperung ihren Raum zu lassen, und zwar im rechten Verhältnis zum Korrelat der Verkörperung, d. h. im Sinne 378 Ein solches Leid, das zumeist aus Akten der absichtlichen Einschränkung von Möglichkeiten hervorgeht und deshalb hier als überflüssig bezeichnet wird, auch wenn es den Verkörperungen des Täters dient, muss dennoch von dem Betroffenen in den Gang seines Lebens integriert werden können. Das verlangt außerordentliche Mühen und bedarf zumeist der Hilfe anderer. Die absichtsvolle gewaltsame Tötung richtet sich, wie auch die absichtliche Zufügung von Leid, gegen die Verwurzelung des Menschseins in der Mitwelt und kann in keiner Weise wiedergutgemacht werden. Die hier notwendige Differenzierung des Begriffs ›Leid‹ bedarf einer eigenen Untersuchung im Rahmen einer Moral des Taktes.

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einer schöpferischen Lebensgestaltung, bedeutet, den transzendenten Sinn der verkörpernd-entkörpernden Existenz des Menschen zu erfüllen – in Dichtung, Kunst, selbstkritischer Wissenschaft, Religion und Philosophie sowie einer Ethik, die den Prinzipien einer Moral des Taktes folgt, als Leitplanken der Lebensführung. Beide Optionen, das Vermeiden und Leugnen sowie das Zulassen und Gestalten von Entkörperung, bilden sich je verschieden in der Sprache ab, und der Umgang mit der Sprache, ob sorgsam oder nachlässig und gar verächtlich, ist ein Indiz für das Selbstverständnis des Menschen und für die jeweilige Lage, in die er sich damit bringt. In dieser Hinsicht lässt sich die Sprache mit dem Licht analogisieren, wie Stenzel das ausgeführt hat. 379 Wie die Dinge ihre Farbe und Gestalt vom Licht erhalten, so das Geistige, das Gemeinte, die Gedanken, der Sinn vom sprachlichen Ausdruck. Es ist das Licht, das dazu befähigt, das Grün oder Blau als Farbe, auch unabhängig von den Bäumen oder dem Himmel, zu sehen, sie von der Dinglichkeit, auch die Gestalt von der Sache selbst zu lösen; und es ist die Sprache, die dazu befähigt, das Gesagte und Gemeinte in ihrer Bedeutung auch unabhängig vom Ausdruck zu verstehen, sie von dieser Stofflichkeit zu lösen. So können wir zu der Ansicht gelangen, die Farbe gebe es ›an sich‹, ohne die Wirksamkeit des Lichts, und den Sinn gebe es ›an sich‹, ohne die Wirksamkeit des sprachlichen Ausdrucks, und wir neigen dazu, diese als Bedingung des möglichen ›Erscheinens‹ und Aufnehmens der Sinngestalt zu vergessen. Wie aber alles optisch Wahrnehmbare das Licht braucht und ins rechte Licht gesetzt werden muss, um sichtbar zu werden und es sehen zu können, so benötigt auch alles Artikuliert-Sinnvolle die Sprache und muss in einen prägnanten Ausdruck gefasst werden, um überhaupt gelten und es verstehen zu können, selbst das Nichtsagbare, das sich hinter die Masken des Schweigens, der Stille und der Ruhe zurückzieht. Es kann (1) sich in deren Prägnanz bekunden oder (2) im Nichts jener Unwissenheit verschwinden, von der man nicht einmal weiß. Ob sich (1) die erste Perspektive eröffnet oder (2) der Zugang zu ihr verschlossen bleibt, hängt davon ab, wie der Mensch seine Expressivität einsetzt, mit der 379 Vgl. Stenzel 1964, 110. Stenzel (ebd.) verweist in drastischer Weise auf die möglichen Folgen eines zunehmend nachlässigen Sprachgebrauchs: »[…] mit dem Verfall der Sprache geht der geistige Verfall eines Volkes zusammen […].« Das trifft auf vergleichbare Sprechweisen zu, die gruppenspezifisch gebraucht werden, sowie auf eine Sprachverwendung, die sich aus Bequemlichkeit den Bedingungen der digitalen Medien anpasst.

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sich der Leib als sensus communis im dualen Verkörperungsmodus dem Rätsel seines Daseins stellt und ihm, nach Maßgabe der Korrelation von Auffassung und Aufgefasstem, sinnvoll antwortet: in der gegenläufigen Arbeit am stets nach vorne drängenden Widersinn, in einer neuen Belichtung der Welt und einer Erhellung ihrer opaken Dinglichkeit durch Vergeistigung. 380 Es ist die widersinnige Vergänglichkeit, womit sich der Mensch schwer tut. Sein Tun und Schaffen, Wirken und Gestalten scheint am Ende vergeblich zu sein. Die ›Resultate‹, die Werke und Objektivationen des Geistes, haben keinen ›ewigen‹ Bestand. Man sichert sie gegen materielle Zerstörung, digitalisiert und speichert sie. Zerstörte Monumente werden wieder aufgebaut. Aber auch sie sind dem kosmischen Werden und Vergehen unterworfen und werden dem planetarischen Zerfall nicht entgehen können. Alles scheint vergeblich zu sein. Wenn aber jeder Bedeutungsentleerung durch Entkörperung eine verkörperte oder noch zu verkörpernde Bedeutungserfüllung entspricht, dann gilt das auch für die eben unter den Stichworten Vergänglichkeit und Vergeblichkeit beschriebene; und diese ›letzte‹ Bedeutungs- oder Sinnerfüllung kann nur eine geistige und, wie gezeigt, zugleich moralisch grundierte sein, da ausschließlich eine solche nicht an die Materie des Körpers gebunden ist. Zwar unterliegen die Handlungen, ebenso wie die individuelle moralische Entwicklung, sinnlich-materiellen Bedingungen, aber der Sinn allen menschlichen Tuns kulminiert im Moralischen, 381 in dem, was der duale Modus verlangt; er ist, in der Form der Artikulation, immer schon vorweggenommen, wird jedoch erst im Entwicklungsverlauf deutlich: in der Verlagerung von Moralität in das Geistige, d. h. in die Intention, den (guten) Willen, das Wohlwollen, die Achtung u. a. m. 382 Er dient zwar, etwa mit den gleichermaßen affektiven wie kognitiven Konzepten von Scham und Würde, dem Schutz des Körperleibs und dessen Verletzlichkeit, entzieht sich aber dem körperVgl. ebd., 35. Das bedeutet nicht, dass alles mit moralischen Maßstäben gemessen und jederzeit moralisiert werden muss, sondern dass für den Umgang der Menschen als Glieder der Mitwelt die oben genannten moralischen Prinzipien leitend sind, was sich z. B. in zurückhaltender Höflichkeit und Rücksichtnahme gerade auch unter einander Fremden manifestiert. 382 Vgl. dazu die einschlägigen Forschungen der Moralpsychologie und Moralpädagogik in der Traditionslinie von Piaget und Kohlberg, die auch der Theoriebildung von Habermas entscheidende Impulse gegeben hat. 380 381

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Die Ordnung der menschlichen Lebensform und das metaphysische Bedürfnis

lichen Dasein und übersteigt – theoretisch nicht nachweisbar, aber die praktische Realität bestimmend – dessen Ende. Wie er das tut, kann nicht mehr anschaulich gemacht werden, aber unsere Anschauung vom Menschen hält sich zuletzt doch an diese Unanschaulichkeit, an das, was ›durch den Körper‹ und ›durch die Sprache hindurch‹ geistig erfasst werden kann; und das sind nicht die Konzepte von Erfolg und Selbsterhaltung oder auch Arterhaltung – dafür genügt die Auffassungsweise der technisch-praktischen Intelligenz –, sondern das, was in der fortwährend je zu aktualisierenden Selbstdarstellung aufscheint, 383 die im Hintergrund immer auch einen, wenn erforderlich thematisierbaren, moralisch-praktischen Aspekt aufweist. Die in jedem Aktvollzug mitgegebene Selbstdarstellung des Menschen in seiner Erscheinung ist auf eine höchst mögliche Durchlässigkeit auf das hin angelegt, was nicht auf den Körper angewiesen ist und ihn doch braucht, um ihn hinter sich lassen zu können. Im Gebrauch von Masken ist dieses mitweltlich angelegte Verhältnis des menschlichen Selbst zu sich und seiner Darstellung vor den anderen gegenständlich geworden; und es ist der Schauspieler, der die Leistung der Menschendarstellung zu seiner Profession gemacht hat, aber jeder Mensch hat sie in seinen Rollen zu erbringen, um im Zusammenspiel mit den anderen das Selbst zu werden, das sich geistig, nach und nach sich befreiend, zu dem entwickeln kann, was es immer schon ist. Wie ihm das gelingt, hängt davon ab, wie er seine mitweltliche Sphäre pflegt: in Inhalt und Stil seiner Expressionen, nicht nur, aber besonders seiner sprachlichen.

383 Zu Portmanns Differenzierung dieser drei Funktionen der lebendigen Formen (Selbsterhaltung, Arterhaltung, Selbstdarstellung) vgl. oben, 59.

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